id
stringlengths
2
8
url
stringlengths
33
123
title
stringlengths
1
69
text
stringlengths
328
347k
84773
https://de.wikipedia.org/wiki/Teotihuac%C3%A1n
Teotihuacán
Teotihuacán im Zentralen Hochland von Mexiko/Bundesstaat México ist eine der bedeutendsten prähistorischen Ruinenmetropolen Amerikas, die vor allem für ihre Stufentempel wie die große Sonnenpyramide bekannt ist. Die archäologische Stätte, die seit 1987 zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört, liegt in der Nähe der heutigen Stadt Teotihuacán de Arista, etwa 45 Kilometer nordöstlich von Mexiko-Stadt. Das Gebiet von Teotihuacán war bereits seit dem sechsten Jahrhundert v. Chr. permanent bewohnt. Zwischen 100 und 650 n. Chr. bildete die Stadt das dominierende kulturelle, wirtschaftliche und militärische Zentrum Mesoamerikas. Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung hatte sie möglicherweise bis zu 200.000 Einwohner. Sie war zu ihrer Zeit die mit Abstand größte Stadt auf dem amerikanischen Kontinent und eine der größten der Welt. Ab etwa 650 schwand ihre Bedeutung, bis sie um 750 aus nicht vollständig geklärten Gründen weitgehend verlassen wurde. Ihre kulturellen Einflüsse prägten Zentralmexiko aber noch bis zur spanischen Eroberung Mexikos. Weil Teotihuacán keine geschriebene Sprache kannte, sind Erkenntnisse über diese Kultur nur aus der Interpretation von archäologischen Funden ableitbar. Die Azteken fanden Teotihuacan bei ihrer Einwanderung ins Hochland von Mexiko bereits als Ruinenstadt vor, die seit Jahrhunderten verlassen war. Sie sahen in ihr einen mythischen Ort und gaben ihr den bis heute fortlebenden Namen Teotihuacan (Tēotīhuacān), der so viel bedeutet wie Wo man zu einem Gott wird. In der Stadt wird seit Ankunft der Spanier im 16. Jahrhundert gegraben. Ab etwa 1900 fanden professionellere, wenn auch zunächst archäologisch laienhafte Ausgrabungen statt. Am 30. März 2015 wurde die Gedenkstätte in das Internationale Register für Kulturgut unter Sonderschutz der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten aufgenommen. Lage und naturräumliche Voraussetzungen Die Ruinenstätte befindet sich in Zentralmexiko, nordöstlich des Tals von Mexiko im Tal von Teotihuacán. Dieses umfasst ein Gebiet von gut 500 bis 600 Quadratkilometern und wird im Norden durch mehrere erloschene Vulkane sowie im Süden durch eine Gebirgskette mit Bergen von bis zu 2800 Metern Höhe begrenzt. Durchflossen wird das Tal vom Río San Juan, der saisonal durch mehrere kleinere Quellen gespeist wird und heute in den Xaltocan-See mündet. Im Tal von Teotihuacán herrscht ein warmgemäßigtes Klima; zwischen 1921 und 1968 wurde ein durchschnittlicher Jahresniederschlag von 550 Millimetern und eine Jahresdurchschnittstemperatur von 14,8 Grad Celsius gemessen. Der Winter beginnt üblicherweise im Oktober und kann bis in den Mai hinein andauern. Danach beginnt die bis Oktober dauernde Regenzeit, wobei der größte Teil des Regens in den Sommermonaten fällt. Für die Landwirtschaft ist das Tal nur bedingt geeignet. Während der Ostteil vor allem flachgründige Böden aufweist und kaum Wasser vorhanden ist, gibt es im Westteil tiefergehende Alluvialböden, und der San Juan führt hier aufgrund einiger Quellen ganzjährig Wasser. Daneben gibt es in unmittelbarer Nähe aber auch größere Vorkommen von nutzbaren Rohstoffen, etwa Obsidian (vor allem am Ostrand des Tals), Kalkstein, Tonminerale und mehrere Arten von Vulkangestein. Die Flora bestand vermutlich aus Wäldern mit Eichen und Zypressen in den feuchteren sowie verschiedenen Sträuchern in den trockeneren Gebieten. An für den Menschen nutzbarer Fauna existierten mehrere Hasen- und Kaninchenarten, Nagetiere, Vögel, Reptilien sowie eine Hirschart, der Weißwedelhirsch. Stadtanlage Die Stadt Teotihuacán nahm auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung eine Fläche von mehr als 20 Quadratkilometern ein. Die Anlage der Stadt erfolgte auf der Grundlage einer Rasteranordnung, die genauestens befolgt wurde. So wurde etwa auch der Río San Juan, der die Stadt durchfließt, durch Kanalisierung dem Raster angepasst. Die Hauptachse der Stadt bildet die sogenannte Straße der Toten (in Nahuatl: miccaotli), die die Stadt mit einer Abweichung von 15° 30′ nach Osten in Nord-Süd-Richtung durchzieht, jedoch nicht durchgehend, da sie immer wieder durch Treppendämme unterbrochen wird. Das nördliche Ende der Straße bildet die Mondpyramide mit dem ihr vorgelagerten Platz und dem anliegenden Quetzalpapalotl-Palast. Im Süden läuft sie am Großen Komplex (Great Compound) und dem diesem gegenüberliegenden Tempel des Quetzalcoatl vorbei auf den Berg Cerro Gordo zu, auf dessen Gipfel ein Tempel errichtet war. Dort befindet sich auch der große Hofkomplex, die ciudadela (Zitadelle), in der möglicherweise die Herrscherfamilie oder deren direkte Untergebene lebten. Dazwischen wird die Straße von zahlreichen Gebäuden flankiert, die man aufgrund des großen Aufwands, mit dem sie ausgestattet und errichtet waren, für Wohnbauten der herrschenden Eliten hält. Das Zentrum der Stadt bildet die Sonnenpyramide, nach der Großen Pyramide von Cholula die zweitgrößte Pyramide des amerikanischen Kontinents. Vor ihr befindet sich die plataforma adosada (zu deutsch etwa „angeschlossene Plattform“), die als Zeremonialplatz gedient haben könnte. Die Zone, in der sich die größten Pyramiden sowie die oben erwähnten Wohnhäuser der Oberschicht befanden, war durch eine Mauer von der übrigen Stadt abgetrennt. Die meisten Gebäude außerhalb davon wurden als sogenannte Apartment-Compounds identifiziert, große Wohnkomplexe, die für mehrere Familien ausgelegt waren. Sie waren jeweils in Gruppen (barrios, spanisch für Wohnviertel) zusammengeschlossen, die sich wiederum um einen größeren Compound gruppierten, der einen eigenen Tempelkomplex besaß. Es gab auch Viertel, die von Angehörigen anderer Völker bewohnt wurden, so etwa von Zapoteken, Mixteken und auch Maya. Im Nordwesten Teotihuacáns befand sich einer der ältesten Teile der Stadt mit einer verhältnismäßig hohen Bevölkerungsdichte und vielen Tempeln aus der Frühzeit der Stadt. Der Südwesten war dagegen eher spärlich besiedelt, da sich dort der größte Teil der in direkter Umgebung der Stadt angelegten bewässerten Felder befand. Im Osten war Landwirtschaft aufgrund des zuvor geschilderten Wassermangels kaum möglich. Sonnenpyramide Die Sonnenpyramide liegt im Zentrum Teotihuacáns. Mit einer Grundfläche von 222 m × 225 m, einer Höhe von gut 65 m sowie einem Volumen von rund einer Million m3 ist sie die drittgrößte Pyramide der Welt. Sie wurde um 100 n. Chr. in einem Arbeitsgang errichtet und war damit das erste größere Gebäude, das in Teotihuacán gebaut wurde. Ihren heutigen Namen erhielt sie von den Azteken. Die Pyramide besitzt heute fünf Stufen; ursprünglich waren es nur vier. Der archäologische Laie Leopoldo Batres versuchte 1906 bei der Freilegung, die Pyramide zu restaurieren und ging dabei von der Existenz von fünf Stufen aus. Tatsächlich entstand die heutige fünfte Stufe überhaupt erst durch Batres’ Arbeiten aufgrund dieser Annahme. An der Seite, die zur Straße der Toten weist, führt eine Treppe über die an der Pyramide angeschlossene plataforma adosada auf die Spitze. Dort befand sich ein kleiner Tempel, der heute nicht mehr zu sehen ist. In ihrem Kern besteht die Pyramide aus Lehmziegeln und Basalt, während die Außenhaut mit Stuck überzogen und großflächig bunt bemalt war, wovon heute aber nichts mehr erhalten ist. 1968 wurde der Eingang einer Höhle entdeckt, die unter die Sonnenpyramide führte. Dort wurden neben Artefakten aus der Zeit Teotihuacáns auch Gegenstände aus aztekischer Zeit gefunden. Da außerdem in späteren mesoamerikanischen Religionen Höhlen immer wieder als Orte der Schöpfung galten, wird davon ausgegangen, dass die Pyramide religiösen Zwecken diente. Welchem Gott die Sonnenpyramide geweiht war, ist noch nicht gesichert. Heute existieren keine Malereien mehr, die die Verehrung eines bestimmten Gottes belegen könnten; es wurde lediglich ein Gefäß mit einer Abbildung des „Sturmgottes“ (oft mit dem späteren aztekischen Gott Tlaloc identifiziert) gefunden, was aber allein ebenfalls kein stichhaltiger Beweis dafür ist, dass dieser Gott hier auch verehrt wurde. Die Kunsthistorikerin Esther Pasztory von der amerikanischen Columbia University bringt die Pyramide dennoch mit einer bestimmten Gottheit in Verbindung, der „Großen Göttin“. Von ihr existieren einige Abbildungen, die darauf deuten, dass sie eine Fruchtbarkeitsgöttin war. In einigen Fällen wird sie darauf auch mit Höhlen in Verbindung gebracht. Pasztorys Annahme beruht nun auf der Häufigkeit von Abbildungen der Großen Göttin und der daraus resultierenden großen Bedeutung und auf der Interpretation der Höhle als typisch weibliches Symbol. Mondpyramide Die am nördlichen Ende der Straße der Toten gelegene Mondpyramide entstand rund ein Jahrhundert nach der Sonnenpyramide. Bei einer Grundfläche von 120 m × 150 m erreicht sie eine Höhe von 46 m. Anders als die Sonnenpyramide entstand sie in mehreren Etappen. Die früheste Mondpyramide wurde um 100 n. Chr. errichtet, bis 350 folgten insgesamt sieben Bauphasen. Grabungen unter der Pyramide brachten mehrere Kammern zum Vorschein, in denen sich menschliche Überreste fanden. Die 43 Meter hohe Pyramide wurde als Teil eines baulichen Komplexes konzipiert, der als Mondplaza bekannt ist. Esther Pasztory vermutet, dass die Mondpyramide dem „Sturmgott“ geweiht war, einer Gottheit, die laut Pasztory für Krieg und Opfer, aber auch für politische Belange zuständig war. Ciudadela Die Ciudadela war vermutlich eine höfische Anlage oder ein Palast, vergleichbar der Verbotenen Stadt in Peking. Die umgebenden Mauern haben eine Seitenlänge von rund vierhundert Metern und schirmen das Innere weitgehend vor Blicken von außen ab. Zentrum der Anlage bildet ein Gebäudekomplex, bestehend aus Wohnanlagen sowie dem in der Mitte gelegenen Tempel des Quetzalcoatl, der „Gefiederten Schlange“. Die Ciudadela war nur über einen kleinen Eingang an der zur Straße der Toten gewandten Frontseite zu erreichen. Der Platz im Inneren kann nach Ansicht von George L. Cowgill einhunderttausend Menschen Platz bieten und könnte dementsprechend für kultische Zwecke benutzt worden sein. Besonders der Tempel hat immer wieder das Interesse der Archäologen erweckt. Er hat eine Seitenlänge von 65 m × 65 m und ist im tablero-talud-Stil errichtet. Der Bau des Tempels fand im Wesentlichen in drei Phasen statt. Die erste Phase bestand aus einem kleineren Gebäude, das mit der zweiten Phase überbaut wurde. In der zweiten Phase entstand die heutige Pyramide, zeitgleich mit der Ciudadela nach 200 n. Chr. Später fügte man in der dritten Phase eine plataforma adosada hinzu, wie sie auch die anderen großen Pyramiden besitzen. Jedoch ist aufgrund der Skulpturierung hier eindeutig zu sehen, dass die Pyramide dem Gott Quetzalcoatl geweiht war. An der Frontseite befinden sich zahlreiche Skulpturen, die den Kopf einer gefiederten Schlange darstellen. Es existieren aber noch weitere Darstellungen von anders geformten Köpfen, die bislang noch nicht exakt zugeordnet werden konnten. Die heute gängigste Interpretation dieser anderen Kopfskulpturen besteht in der Annahme, es handele sich dabei um eine Darstellung von Köpfen eines noch unbestimmten Wesens mit Kopfschmuck. Diese Köpfe liegen auf dem Körper der gefiederten Schlange. Da Quetzalcóatl auf späteren Codices auch als Abendstern auftaucht, ist es zudem möglich, dass mit der Pyramide auch dem Planeten Venus gehuldigt wurde. Dafür sprechen auch die Ausmaße der Ciudadela als Ganzes, denn mit der Teotihuacán Measurement Unit (TMU; Erklärung im Abschnitt Wissenschaft) gemessen ist eine Seite der die Ciudadela umgebenden Mauer rund 484 TMU lang; eine Zahl, die fast genau der Anzahl der Tage im Venuszyklus entspricht, an denen der Planet als Morgen- oder Abendstern am Himmel zu sehen ist. Darüber hinaus wurden in mehreren Ausgrabungsphasen immer wieder Gräber mit menschlichen Überresten gefunden. Die Gräber enthielten Opferbeigaben, doch waren einige zum Zeitpunkt ihrer Untersuchung bereits von Grabräubern geplündert worden. Wohnkomplexe Ab der Tlamimilolpa-Phase (ab etwa 200 n. Chr.) wurden ältere Wohnhäuser aus Lehmziegeln durch als „Apartment-Compounds“ bezeichnete Wohnkomplexe abgelöst. Bis zur frühen Xolalpan-Phase (ab etwa 300 n. Chr.) errichteten die Bewohner wahrscheinlich rund 2200 Komplexe aus Stein, in seltenen Fällen auch noch aus Lehmziegeln, gemauert und verputzt. In der Regel besaß jeder der Wohnkomplexe eine Seitenlänge von fünfzig bis sechzig Metern. In Einzelfällen können die Maße allerdings erheblich vom Durchschnitt abweichen. Die rechteckigen Komplexe waren von einer mehrere Meter hohen Mauer umgeben und besaßen nur einen Eingang. Im Inneren gab es viele in Gruppen („Apartments“) angeordnete Räume, Höfe und Gänge und zusätzlich noch mindestens eine Tempelplattform. Nach den Schätzungen von René Millon wurden sie von mindestens sechzig, vermutlich aber durchschnittlich einhundert Menschen oder mehr bewohnt. Jeder Wohnkomplex wurde nach einem bestimmten Plan in einem Baugang errichtet und jahrhundertelang bewohnt; bei Reparaturen wurde nur selten etwas an der ursprünglichen Anlage verändert. Da sich hinsichtlich Ausstattung und Ausmaßen zum Teil recht große Unterschiede ergeben, scheinen die Komplexe von verschiedenen gesellschaftlichen Schichten bewohnt gewesen zu sein. Es wurde anhand dessen versucht, eine gesellschaftliche Ordnung zu rekonstruieren (siehe dazu den Abschnitt Gesellschaft weiter unten). Besonders in den niederen Schichten kam es so etwa vor, dass Räume auch für handwerkliche Zwecke genutzt wurden. Die Wohnkomplexe waren außerdem in Vierteln („Barrios“) organisiert, die die nächsthöhere Organisationsform darstellten. Die Kultur von Teotihuacán Gesellschaft Die soziale Struktur Teotihuacáns kann nur indirekt rekonstruiert werden, da direkte schriftliche Belege fehlen. Gemeinhin wird die Gesellschaft in der Stadt anhand der unterschiedlichen Ausstattung der Apartment-Compounds in sechs Schichten eingeteilt. An der Spitze standen demnach die Herrscher mit ihren Familien, die in den Compounds in der Ciudadela lebten. Einige Forscher vermuten, dass die offenbar multiethnische Region nicht von einem Zentralkönig, sondern von einer Oligarchie oder anderen kollektiven Instanzen beherrscht wurde. Darunter scheint eine Schicht von hohen Priestern und Beamten gestanden zu haben, eventuell unterstützt von Kriegerhäuptlingen. Beide Schichten waren wohl gemeinsam für die Organisation der Stadt zuständig; vermutlich umfassten beide Gruppen nicht mehr als einige tausend Menschen. Der Großteil der Bevölkerung war dagegen Teil der mittleren Schichten, also Bauern und Handwerker sowie niedere Priester bzw. Beamte. Die Einteilung in diese drei Schichten erfolgte hierbei nach den drei Compounds Zacuala-Palast, Teopancaxco und Xolalpan, die jeder für sich jeweils eine Schicht repräsentieren. Zur Unterschicht zählte eine kleinere Anzahl von Familien, die innerhalb eines Compounds nur einen oder zwei Räume bewohnte und kleinere Hilfsarbeiten verrichtete, etwa bei Bauarbeiten. Wahrscheinlich, aber bislang ungesichert, ist zusätzlich die Existenz von reisenden Fernhändlern wie bei den Azteken sowie einer etwas größeren Gruppe von Trägern. Wirtschaft Die Einwohner Teotihuacáns bezogen den Großteil ihrer Nahrungsmittel durch Landwirtschaft. Angebaut wurden unter anderem Mais, Bohnen, Amaranth-Arten (mit getreideähnlichen Körnern), Paprika, Tomatillo (auf Nahuatl: tomatl) und Kürbisse. Häufige Anbaumethoden waren Terrassierung und Bewässerungsfeldbau, zum Teil Sturzwasserfeldbau. Die Existenz von Bewässerungssystemen, die von den Einwohnern Teotihuacáns genutzt wurden, konnte erst 1954 durch Luftaufnahmen nachgewiesen werden. Das dazu nötige Wasser stammt aus einem Quellensystem in der Nähe des heutigen Teotihuacán de Arista, das möglicherweise von unterirdischen Flussläufen unter dem Cerro Gordo gespeist wird. Eventuell gab es bereits eine Vorform der Chinampas, wie sie die Azteken anlegten, auf Böden, die durch die Entnahme von Quellwasser trockengelegt worden waren. Die Bauern in Teotihuacán hatten dabei nicht nur ihre eigenen Familien zu versorgen, sondern auch die nicht in der Nahrungsmittelproduktion arbeitende Bevölkerung zu ernähren. Bei einem angenommenen Bedarf von 2000 kcal pro Kopf und Tag und zweihundert Arbeitstagen im Jahr ergeben sich laut einer Studie von William T. Sanders und Robert S. Santley je nach Bodenbedingungen Überschüsse zwischen einer (Regenfeldbau) und fünfzehn zusätzlich ernährten Personen (Chinampas). Dennoch konnte sich Teotihuacán nicht aus eigener Kraft mit Nahrungsmitteln versorgen; für rund 30 bis 50 Prozent der Einwohner mussten die Nahrungsmittel importiert werden. Zusätzlich wurden auch noch Pflanzen gesammelt, etwa Wacholderbeeren, Binsen, Portulak, Opuntien sowie einige Kräuterarten. Der Anteil dieser Wildpflanzen an der Nahrung ist nicht sicher bestimmbar. Daneben wurden noch Tiere gejagt, darunter vor allem Weißwedelhirsche, aber auch Kaninchen und Wasservögel. Domestiziert wurden lediglich Truthähne und Hunde, doch ist es unsicher, ob sie zu Ernährungszwecken gehalten wurden. Bislang wurden an gefundenen Truthahnknochen keine Schlachtspuren gefunden und die Haltung eines Hundes wäre bei weitem nicht rentabel genug gewesen. Da bei den Azteken jedoch Hundefleisch als Delikatesse galt, wird es für möglich gehalten, dass dies auch für die frühen Bewohner Teotihuacáns galt. Für die große wirtschaftliche Bedeutung Teotihuacáns war besonders Obsidian wichtig. Obsidian ist vor allem zur Herstellung von Schneidwerkzeugen geeignet und verhältnismäßig leicht zu bearbeiten. Die größten Obsidianvorkommen Mesoamerikas liegen im Umkreis von wenigen Dutzend Kilometern um die Stadt und wurden zur damaligen Zeit auch ausgebeutet. Hauptsächlich wurde der hochwertige grüne Obsidian verwendet, der im fünfzig Kilometer in nordöstlicher Richtung gelegenen Pachuca abgebaut wurde, aber es gibt auch Vorkommen von grauem und braunem Obsidian in der Nähe. Andere verwendete Rohstoffe waren Ton für Keramik, Basalt, Adobe und Tuff für Bauvorhaben sowie Mineralien wie Zinnober aus Minen im heutigen Bundesstaat Querétaro für Malereien. Werkstätten konnten bislang jedoch fast ausschließlich für Obsidianwerkzeuge und Keramik nachgewiesen werden. Die Werkstätten waren aufgrund der angewandten Herstellungstechniken sehr produktiv, während gleichzeitig der Verbrauch der aus Obsidian gefertigten Werkzeuge eher gering war. Ein großer Teil davon scheint für den Export gefertigt worden zu sein, denn während William T. Sanders und Robert S. Santley eine Verbraucheranzahl von mehreren Millionen Menschen annahmen, errechnete der amerikanische Archäologe John Clark, dass möglicherweise zehn bis zwanzig Handwerker für die Selbstversorgung der Stadt ausgereicht hätten. Handel, insbesondere der Fernhandel, spielte eine große Rolle für die Wirtschaft Teotihuacáns. Das genaue Handelsvolumen kann nicht ermittelt werden. Innerhalb der Stadt erfolgte Handel vermutlich vor allem auf dem Great Compound, einem großen Platz, der der Ciudadela gegenüber an der Westseite der Straße der Toten liegt. Die Existenz kleinerer Märkte ist (noch) nicht belegt. Mit dem Fernhandel wurde dagegen auch ein Teil der Rohstoffe in die Stadt gebracht, der nur wenig oder überhaupt nicht in der Nähe zu finden war. Dazu zählen etwa Baumwolle und Kakao aus Morelos, Hämatit, Jadeit, Türkis und Zinnober aus dem Bereich der Chalchihuites-Kultur in Durango und Zacatecas sowie Keramik aus anderen Regionen; exportiert wurden neben Keramik wie oben erwähnt Obsidianwerkzeuge. Der Handel führte zu großem kulturellem Einfluss Teotihuacáns bis in das Territorium des heutigen Guatemala und den USA hinein. Religion Die Religion spielte im Leben der Bewohner von Teotihuacán eine zentrale Rolle. Sie war polytheistisch, das heißt, es gab mehrere Götter, die jeweils eine oder mehrere „Aufgaben“ hatten. Viele der wichtigsten Götter wurden von früheren Kulturen übernommen und auch noch Jahrhunderte später von den Bewohnern Zentralmexikos verehrt. Unter anderem deshalb bezeichnet man sie in der Forschung in Unkenntnis ihrer 'echten' Namen oft mit ihren späteren aztekischen Namen, soweit eine eindeutige Identifizierung möglich war. Zu diesen Göttern zählen unter anderem Quetzalcoatl, die „Gefiederte Schlange“, Tlaloc, der Gott des Regens und des Ackerbaus, der „Alte Gott“ Huehueteotl, der schon in der Präklassik in der Siedlung Cuicuilco verehrt wurde und von dort aus nach Teotihuacán kam, und der „Fette Gott“ sowie Xipe Totec, der hautlose Gott des Frühlings, beide Fruchtbarkeitsgötter. Eine andere, wichtige Gottheit war zudem die „Große Göttin“. Oft hatte ein Gott mehrere Erscheinungsformen; beispielsweise konnte Tlaloc als Schlange, Vogel oder auch als Jaguar auftreten. Entsprechend ihren Funktionen wurden Rituale für jeden Gott durchgeführt, wie Wandmalereien zeigen. Dabei wurden oft auch Opfer gebracht. Die Frage, ob auch Menschen geopfert wurden, konnte während Ausgrabungen endgültig geklärt werden, die zwischen 1998 und 2004 an der Mondpyramide durchgeführt wurden. Archäologen unter Leitung von Saburo Sugiyama fanden dort mehrere Gräber mit Toten, deren sterbliche Überreste sichtbare Spuren von Gewaltanwendung aufwiesen, aber auch von Menschen, die lebendig begraben worden waren. Da in der Kunst oft auch Motive auftauchen, die mit dem Tod in Verbindung gebracht werden, wird vermutet, dass ein Totenkult existierte. Kunst und Architektur In nahezu allen Gebäuden in Teotihuacán gibt es Wandmalereien. Sie sind die Hauptquelle für die archäologischen Interpretationen des täglichen Lebens der Bewohner sowie der Gesellschaftsstruktur. Bei der Bemalung wurde üblicherweise rot als Hintergrundfarbe verwendet; die übrigen Farben dienten zur Darstellung der gewählten Motive. Diese sind zahlreich, ihnen wohnt aber auch ein hohes Maß an Symbolik inne. Behandelt wurden unter anderem mythologische und religiöse Darstellungen, aber auch Abbildungen von Menschen bei ihren alltäglichen Tätigkeiten und vor allem von hohen Würdenträgern und auch Kriegern in der Schlacht. Skulpturen gibt es im Wesentlichen in zwei Formen: solche, die unmittelbar in die Architektur eines Gebäudes eingebunden sind, und kleinere Objekte wie Figurinen oder Masken. Für die erste Gruppe sind die Skulpturen am Tempel des Quetzalcóatl beispielhaft, an dessen Fassade viele Schlangenköpfe als Abbildung des Gottes angebracht sind. Viele der kleineren Skulpturen bestehen aus Stein, Alabaster, Obsidian und anderen Werkstoffen und wurden mit Steinwerkzeugen bearbeitet. Nicht selten sind sie mit Muscheln oder Obsidian verziert. Vasen und ähnliche Gefäße wurden dagegen aus Keramik gefertigt. Viele der Masken sind eher als Skulpturen zu betrachten, da sie flache Rückseiten und keine Augen- und Mundöffnungen haben und daher offenbar nicht zum Tragen durch Personen bestimmt waren. Die Gebäude in Teotihuacán wurden üblicherweise aus Stein und Lehmziegeln errichtet. Charakteristisches Merkmal der Architektur ist dabei das sogenannte Talud-tablero. Mit diesem Begriff wird die Abwechslung zwischen einer senkrechten Fläche (tablero), die kastenartig hervorragt und deren Innenfeld eingesenkt und oft auch bemalt ist, und einer nach oben und innen ragenden Schräge (talud) bezeichnet. In der klassischen Periode Mesoamerikas wurde das Tablero-talud nicht nur in Teotihuacán, sondern auch einigen anderen Kulturen verwendet, doch ist das Vorkommen dieses Stilelements nicht als alleiniges Indiz für eine Oberhoheit Teotihuacáns zu sehen, sondern war zu dieser Zeit vielmehr ein allgemeines Stilmittel. Ein anderes, typisches Kennzeichen ist der hohe Grad an geometrischer Struktur. Dies ist nicht nur bei einzelnen Gebäuden, sondern auch der Anordnung eines einzelnen Gebäudes unter mehreren und sogar in der Stadtplanung erkennbar. Teotihuacán war nach zwei Achsen in Ost-West- und Nord-Süd-Richtung angeordnet und das gesamte Grundraster nach einer bestimmten Richtung ausgerichtet. Ob dabei auch religiöse Motive eine Rolle spielten wie bei den Maya, ist ungewiss. Wissenschaft Die ausgereifte Planung der Stadtanlage und der großen Bauten lassen auf einen hohen Grad an mathematischen und astronomischen Kenntnissen schließen, wenngleich zumindest letzteres nicht beweisbar ist. Zwar deutet die Ausrichtung des städtebaulichen Rasters auf den Sonnenuntergang am 12. August sowie am 29. April auch auf kalendarisches Wissen hin, doch lässt sich dies auch aus der Sichtlinie zwischen Sonnenpyramide und dem Cerro Gordo erklären. Für diese Interpretation spricht der Fund zahlreicher Markierungskreise in und außerhalb von Teotihuacán, die vielleicht zur Vermessung gedient haben könnten. Dem widerspricht jedoch die Tatsache, dass solche Kreise auch im Inneren von Gebäuden gefunden wurden. Für die Errichtung von Gebäuden war wahrscheinlich die Teotihuacán Measurement Unit (TMU) entscheidend, eine Maßeinheit für eine Länge von etwa 80 bis 85 Zentimetern. Es wird vermutet, dass diese Maßeinheit die Standardeinheit für Längenmaße war, auf deren Grundlage die Maße nicht nur einzelner Gebäude festgelegt wurden, sondern auch die Entfernungen zwischen den wichtigsten Bauten. Letztlich bewiesen werden kann diese These jedoch noch nicht. Es wird aber dennoch angenommen, dass auch die Maße vieler Gebäude oder Entfernungen zwischen Bauten, gemessen in TMU, sich auf wichtige kalendarische Daten beziehen, denen auch in späterer Zeit noch Bedeutung zukam. Ebenso gibt es keine Hinweise auf die Existenz einer vollständig ausgearbeiteten Schrift. Es existieren zwar Glyphen, die von manchen Forschern als entwickelte Vorform einer Schrift gesehen werden, doch kann man hierbei nicht von lesbaren Texten sprechen. Welche Sprache die Bewohner Teotihuacáns sprachen, ist deshalb unbekannt. Geschichte Die Geschichte Teotihuacáns musste komplett aus archäologischen Funden rekonstruiert werden. Dabei ergaben sich zusätzlich zu den Beschränkungen, die sich bei nicht-schriftlichen Quellen ergeben, einige Schwierigkeiten, da es etliche Funde gibt, die ihrer Datierung nach überhaupt nicht zu anderen Objekten am Fundort zu passen scheinen. Obwohl es Erklärungsansätze für einige Fundobjekte gibt, bleibt ein genauer zeitlicher Ansatz für die einzelnen Epochen schwierig zu definieren. Aufstieg Durch einen Vulkanausbruch des Popocatépetl sind die Menschen, die in seiner Nähe lebten, darunter auch viele nahe dem heutigen Stadtgebiet von Mexiko-Stadt, in die Umgebung des Texcoco-Sees geflohen, ins Tal von Teotihuacán. Dort gründeten sie Dörfer, die eine neue Ordnung entwickelten. Das alles wurde nur durch den fruchtbaren Boden und reichhaltige Wasservorkommen ermöglicht. Erste Spuren der Besiedlung des Tals von Mexiko lassen sich für einen Zeitpunkt um 1500 v. Chr. nachweisen. Das Tal wurde von Menschen aus dem Süden bevölkert, deren Nachkommen mit einiger Wahrscheinlichkeit die späteren Bewohner von Teotihuacán und der Nachbarorte waren. Während der präklassischen Cuanalan-Phase (circa 550 bis 150 v. Chr.) existierten auf dem späteren Stadtgebiet von Teotihuacán einige Dörfer. In der nachfolgenden Patlachique-Phase (100 v. Chr. bis zur Zeitenwende) entstand daraus eine Stadt mit gut 20.000 Einwohnern, die rund 6 Quadratkilometer an Fläche einnahm. Der Stadtkern befand sich im Nordwesten des späteren Zentrums. Über das Aussehen Teotihuacáns zu dieser Zeit kann man nur Vermutungen anstellen, da aufgrund späterer Bebauung kaum Überreste von Gebäuden der Patlachique-Phase blieben. Aus ebendiesem Grund bestehen die archäologischen Funde dieser Epoche fast ausschließlich aus Keramik. Während dieser ersten beiden Epochen war Teotihuacán eines von mehreren regionalen Zentren im Tal von Mexiko. Im ersten Jahrhundert v. Chr. wurde jedoch die Siedlung Cuicuilco im Südwesten des Tals, die zuvor der größte Konkurrent Teotihuacáns gewesen war, durch einen Vulkanausbruch zerstört. In der Folgezeit stieg die Einwohnerzahl von Teotihuacán sprunghaft an, vermutlich da die Stadt viele Flüchtlinge aus Cuicuilco aufnahm. In den ersten beiden Jahrhunderten n. Chr. (Tzacolli-Phase bis 150 n. Chr.) wurden schließlich die Grundzüge für das heutige Aussehen der Stadt gelegt. Es entstanden die Sonnenpyramide, die Straße der Toten sowie eine Vielzahl kleinerer Tempel. Wie viele Einwohner Teotihuacán zu dieser Zeit besaß, kann kaum bestimmt werden; die Schätzungen liegen zwischen 30.000 und 80.000 Menschen. Die Stadt erstreckte sich bereits damals auf einer Fläche von über 20 Quadratkilometern und hatte ihre größte Ausdehnung erreicht. Der Bevölkerungszuwachs späterer Jahrhunderte wurde durch eine höhere Bebauungsdichte erreicht. Es wird vermutet, dass die Gründe für das schnelle Wachstum hauptsächlich spiritueller Natur sind. Dafür spricht einerseits die Existenz einer 1968 entdeckten Höhle unter der Sonnenpyramide, die nachweislich für kultische Handlungen benutzt wurde, und der Bau der wichtigsten Tempelgebäude in einem relativ frühen Abschnitt der Geschichte Teotihuacáns. Letzteres dürfte ohne einen hohen Grad an organisierter Verwaltung kaum möglich gewesen sein, was später auch das wirtschaftliche Wachstum begünstigte. In der folgenden Miccaotli-Phase (150 bis 250) entstanden im Zuge einer Einteilung der Stadt in vier große Teile zudem auch die Straße der Toten, die Cuidadela und der Tempel des Quetzalcoatl. Blütezeit Ab dem dritten Jahrhundert stieg Teotihuacán endgültig zur dominierenden Großmacht auf. Die Bevölkerungszahl stieg in der Zeit der Tlamimilolpa-Phase (circa 200 bis 450) auf eine Größenordnung zwischen 100.000 und 200.000 Menschen, die sich immer noch auf 20 Quadratkilometern Fläche konzentrierten. Statt der früher aus Lehmziegeln (Adobe) errichteten Häuser baute man nun größere Wohnkomplexe, die sogenannten Apartment-Compounds und überbaute viele der alten Gebäude. In dem Maße, wie Teotihuacáns wirtschaftliche Macht anwuchs, vor allem durch den Handel mit Obsidian, strömten nun auch Angehörige anderer Völker in die Stadt, wo sie eigene Viertel bewohnten. Die landwirtschaftlichen Erträge aus dem Bewässerungsfeldbau im Tal von Teotihuacán alleine reichten jedoch nicht mehr aus, die Bevölkerung zu ernähren, weshalb Nahrungsmittel aus dem Tal von Mexiko und aus der Gegend des heutigen Pachuca de Soto importiert werden mussten. Der kulturelle Einfluss Teotihuacáns begann sich in der Tlamimilolpa-Phase auszuweiten. Bei den Maya tritt eine erste Beeinflussung im vierten Jahrhundert auf, die sich in der Folgezeit in Architektur und Kunst niederschlägt. Am deutlichsten kann man dies in der Umgebung der Städte Kaminaljuyú und Tikal erkennen. Ob die Beeinflussung durch eine militärische Eroberung und eine nachfolgende direkte Kontrolle durch Teotihuacán oder anderweitig zustande kam, ist nicht gesichert; nur in Tikal ist eine militärische Einflussnahme im Jahr 378 nachweisbar. Den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreichte Teotihuacán jedoch erst in der Xolalpan-Phase (rund 450 bis 650). Der Einfluss der Stadt erstreckte sich nunmehr über einen Großteil Mesoamerikas. Neben den unübersehbaren künstlerischen und architektonischen Ähnlichkeiten bei den Maya sind selbst im Gebiet der Hohokam-Kultur im heutigen Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko Handelsbeziehungen mit Teotihuacán und kultureller Einfluss nachweisbar. Auch bis nach Copán in Honduras wurde Obsidian aus Teotihuacán geliefert. In der Stadt selbst verdichtete sich die Besiedlung nochmals. Niedergang Es scheint, dass bereits in der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts die große kulturelle Ausstrahlung Teotihuacáns zu schwinden begann. Dies führte in den jeweiligen Gebieten, insbesondere bei den Maya, zu kulturellen Krisen, die mehrere Jahrzehnte andauerten. Die Bautätigkeit in Teotihuacán blieb jedoch weiterhin ungebrochen; es kam sogar noch zu einer erneuten Bevölkerungskonzentration, bis schließlich rund 90 Prozent der gesamten Bevölkerung des Tals von Teotihuacán in der Stadt selbst lebte. Erst ab 650, mit dem Beginn der Metepec-Phase, begann die Bevölkerungszahl aus unbekannten Gründen zu schrumpfen. Die Stadt scheint ihre ursprüngliche Bedeutung als wirtschaftliches Zentrum allmählich an Konkurrenten verloren zu haben, bis sie sich schließlich nicht mehr selbst versorgen konnte. Um 750 kam es zum fast völligen Zusammenbruch. Die wichtigsten Gebäude im Zentrum der Stadt wurden niedergebrannt, der Großteil der übrigen Viertel blieb dabei aber weitgehend ohne Schäden. Anzeichen für einen Angriff von außen gibt es nicht. Es wird daher vermutet, dass die Einwohner die Zerstörungen in einem rituellen Akt selbst angerichtet haben, wie es schon von den Olmeken bekannt ist. Gleichzeitig verließen rund 80 Prozent der verbliebenen Bevölkerung die Stadt. Die Vermutung, ein extrem kaltes Jahr (535–536), das in Europa, Afrika und Asien historisch nachgewiesen ist, hätte diesen dauernden Effekt gehabt, ist nicht überprüfbar. Gegen diese These spricht, dass außerhalb des Tals von Teotihuacan keine entsprechende Erscheinung festzustellen ist. Nach der Aufgabe der Stadt existierte in Zentralmexiko rund zwei Jahrhunderte lang ein Machtvakuum, das zunächst von keinem anderen kleineren Zentrum ausgefüllt werden konnte, bis die Tolteken im 10. Jahrhundert schließlich die Vorherrschaft erlangten. Nach kurzer Unterbrechung kam es zu einer erneuten, wenngleich nicht sehr zahlreichen Besiedlung der äußeren Viertel. Allerdings konnten die Bewohner den früheren großen kulturellen und wirtschaftlichen Einfluss Teotihuacáns nicht mehr wiederherstellen. Ebenso erreichte das Kunsthandwerk nicht mehr seine ehemalige Qualität. Die letzten Bewohner verließen die Stadt mindestens ein Jahrhundert nach der Zerstörung des Stadtzentrums. Jedoch geriet die Stadt nie ganz in Vergessenheit, sie wurde stattdessen zu einem wichtigen Wallfahrtsort. Insbesondere die Azteken verehrten Teotihuacán, da sie den Ort als den Platz ansahen, an dem die Welt erschaffen und ihre Götter geboren wurden. Erforschung Kolonialzeitliche Berichte und erste Ausgrabungen Auch nach der Unterwerfung der Azteken durch die spanischen Konquistadoren zwischen 1519 und 1521 geriet Teotihuacán nie völlig in Vergessenheit. Die spanischen Chronisten wie Bernardino de Sahagún, Toribio de Benavente Motolinía, Gerónimo de Mendieta sowie dessen Schüler Juan de Torquemada erwähnen die Stadt in ihren Schriften. 1675 ließ Carlos de Sigüenza y Góngora einige Grabungen im Bereich der Mondpyramide vornehmen und einen Tunnel in die Mondpyramide graben. Seine Arbeiten waren die ersten archäologischen Ausgrabungen auf dem amerikanischen Kontinent. Auch in Alexander von Humboldts Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas findet Teotihuacán Erwähnung, wenngleich aus dem Werk nicht hervorgeht, ob er die Ruinenstätte selbst besucht hat. 1864 ließ die Comisión Científica de Pachuca die Pyramiden vermessen und ihre geographischen Koordinaten feststellen sowie eine Landkarte des Gebietes erstellen. Dennoch konzentrierte sich das Interesse der damaligen Archäologen vorwiegend auf die Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckten Stätten der Maya. 1884/85 begann der Mexikaner Leopoldo Batres mit einer Reihe von Ausgrabungen und restaurierte dabei einige der Monumente. Er wurde jedoch schwer kritisiert, da während der Ausgrabungen immer wieder Artefakte beschädigt wurden und er in den Augen vieler Archäologen nicht wissenschaftlich arbeitete. Diese Vorwürfe waren nicht ganz unbegründet, denn Batres war kein ausgebildeter Archäologe, sondern hatte seine Kenntnisse durch Eigenstudium erworben. Allerdings bewirkten seine Maßnahmen auch, dass sich der mexikanische Staat zur Finanzierung weiterer Forschungsprogramme bereit erklärte. Intensivierung der Forschungen 1915 fasste der deutsche Archäologe Eduard Seler die bisherigen Erkenntnisse in seinem Werk Die Teotiuacan-Kultur [sic!] des Hochlands von Méxiko zusammen und analysierte sie. Er interpretierte die Ruinen als Relikte einer herausragenden Kultur, die innerhalb einer einheitlichen kulturellen Tradition eine wichtige Rolle innehatte. Von 1917 bis 1922 leitete dann Manuel Gamio die Ausgrabungsarbeiten in Teotihuacán, ein Schüler des deutschen Anthropologen Franz Boas und seit 1917 Direktor der neu gegründeten Dirección de Antropologia. Er ließ den Tempel des Quetzalcóatl restaurieren und unternahm eine Untersuchung der stratigraphischen Abfolge. Nach dem Ende der Ausgrabungen veröffentlichte er im dreibändigen Werk La población del Valle de Teotihuacán die Ergebnisse seiner Forschungen. Darin verglich Gamio die ursprüngliche indigene Bevölkerung mit der späteren Mischlingsbevölkerung in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht. Zu diesem Zweck untersuchte er in seiner Arbeit unter anderem die geographischen und geologischen Verhältnisse des Terrains, die körperliche Beschaffenheit der präkolumbischen Einwohner, ihre religiösen Ansichten, ihre Architektur und auch ihre Kunstwerke, wobei sich dieser Teil fast ausschließlich auf Skulpturen bezog. Er kam zu dem Schluss, dass die indigene Gesellschaft immer mehr an Einfluss verlor und in der Gegenwart vom Verlust ihrer kulturellen Identität bedroht war. Gamios Werk erweckte endgültig das Interesse der Fachwelt. 1922 wurde im Zuge einer Untersuchung der Keramiktypen und -stile festgestellt, dass man erst die Beziehungen Teotihuacáns zu anderen Kulturen Mesoamerikas erforschen müsse, um die Entwicklung der Stadt selbst rekonstruieren zu können. In den dreißiger Jahren versuchten George Vaillant und Eduardo Noguera, diese Schlussfolgerung aufzugreifen. Sie stellten Gemeinsamkeiten im Keramikstil mit Funden aus den mexikanischen Bundesstaaten Guanajuato, Michoacán, Jalisco und Zacatecas fest. Der Schwede Sigvald Linné fand dann 1932 mit dem Xolalpan-Compound den ersten Apartment-Compound; 1942 folgte die Entdeckung des Tlamimilolpa-Compounds. Er konnte mit der Mazapa-Kultur erstmals eine frühere Kultur von der Teotihuacáns abgrenzen. Seine Ergebnisse wurden in den ersten umfassenden Ausgrabungsberichten über Teotihuacán veröffentlicht. Alfonso Caso fand zudem 1940 die Tlalocán-Wandmalereien, die ein erstes Bild vom täglichen Leben der Bewohner Teotihuacáns lieferten. Eine andere Studie im Viking-Komplex (benannt nach der Stiftung, die die Studie finanzierte) machte es 1944 zudem möglich, zumindest einige Eckpunkte der Chronologie festzulegen. Dem Ausgrabungsleiter Pedro Armillas gelang es, verschiedene Architektur- und Keramikstile in Verbindung zu bringen. Die archäologischen Großprojekte der 1960er und 1970er Jahre In den 1950er Jahren übernahm das mexikanische Nationale Institut für Geschichte und Anthropologie (spanisch Instituto Nacional de Antropología e Historia) die Grabungsarbeiten und ließ hauptsächlich mehrere weitere Compounds untersuchen. Das 1960 initiierte Proyecto Teotihuacán hatte insbesondere die Strukturen entlang der Straße der Toten im Blick. Neben dem Quetzalpapalotl-Palast wurden insgesamt zehn weitere neue Gebäude freigelegt, wodurch das zeremonielle Zentrum entdeckt war. Der Schwerpunkt lag neben der Ausgrabung bislang unerforschter Gebäude außerdem auf der Entdeckung von Wandmalereien und Friesen, jedoch bemühte man sich auch, die Ausgrabungsstätte verstärkt für Touristen zugänglich zu machen. Nach 1962 wurde das Projekt intensiviert und es kam zur Restauration des Zeremonialzentrums. Schließlich wurde es auch noch möglich, eine komplette Abfolge der Keramikstile aufzustellen. 1962 begann die University of Rochester mit dem großangelegten Teotihuacán Mapping Project. Bis 1970 wurde das Gebiet von Teotihuacán systematisch kartiert und die Grenzen der Stadt selbst gesucht. Zu diesem Zweck teilte man das Stadtgebiet in 500 mal 500 Meter große Planquadrate ein und vermaß gezielt alle gefundenen Gebäude. 1973 konnten erste Ergebnisse der Studie veröffentlicht werden. Hauptergebnis des Projektes war die Erstellung einer detaillierten Karte der alten Stadt und ihrer Umgebung; daneben konnte man nun auch die Entwicklung der Stadt nachvollziehen. Das Projekt schaffte zudem erstmals einen echten Eindruck von der Bedeutung Teotihuacáns und bildete die Grundlage für viele spätere Studien. Währenddessen wurden zwischen 1960 und 1975 im Zuge des Teotihuacán Valley Project im gesamten Tal von Mexiko archäologische Surveys durchgeführt, um die frühe Siedlungsgeschichte des Tals zu erforschen. Schwerpunkte lagen dabei auf der agrartechnischen und der demographischen Entwicklung sowie der Entwicklung der Institutionen früher Hochkulturen. Neuere Forschungen Ab 1970 widmete man sich erneut den Zeremonialkomplexen sowie den Compounds. Das Proyecto Arqueológico Teotihuacán untersuchte zwischen 1980 und 1982 die soziale und wirtschaftliche Struktur Teotihuacáns sowie den wissenschaftlichen Stand, etwa auf den Gebieten der Astronomie und der Mathematik. Unter den untersuchten Objekten waren der Tempel des Quetzalcóatl, die Ciudadela und einige Wohnkomplexe. Bis in die neunziger Jahre hinein entstanden so Untersuchungen über die räumliche Organisation der einzelnen Compounds und ihre Eingliederung in das wirtschaftliche Gesamtsystem. Auch versuchte man sich erstmals an der Erforschung der politischen Geschichte. Weitere Untersuchungen befassen sich mit der Töpferei, der Umwelt und der Obsidianverarbeitung. Die Ausgrabungen dauern unvermindert an, während zugleich die Zahl der Touristen stetig ansteigt. Am 4. August 2010 wurde bekannt gegeben, dass der Eingang zu dem 2003 nahe dem Tempel der Gefiederten Schlange mit Bodenradar entdeckten, etwa 100 Meter langen Tunnel an der erwarteten Stelle lokalisiert werden konnte. Der Tunnel war 1800 Jahre lang verschlossen. Man fand im Tunnel Fingerabdrücke und Meißel. Es wurde vermutet, dass am anderen Ende die Grabkammern der Herrscher von Teotihuacán liegen könnten. Im November 2010 wurde der geöffnete Tunnel erstmals mit einer ferngesteuerten fahrbaren Kamera erforscht. Eine Grabkammer wurde trotz genauer Erforschung und Begehung des Tunnels bisher jedoch nicht gefunden. Ende des Jahres 2011 entdeckten Forscher im Zentrum der Sonnenpyramide von Teotihuacán Überreste von Opfergaben, die vermutlich auf die Zeit um 100 n. Chr. datieren. Die Forscher hoffen, durch die Gegenstände aus Keramik, Obsidian, Jade und Tierknochen sowie die insgesamt sieben Gräber von Menschen, die wahrscheinlich rituell geopfert wurden, Rückschlüsse auf die Erstbesiedlung der Stadt ziehen zu können. Nach einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2016 ergab eine Analyse gefundener Knochen von Tieren (unter anderem von Baumwollschwanzkaninchen), dass diese zum Teil domestiziert waren. Dies lässt auf eine Zucht schließen, möglicherweise um eine Überjagung größerer Tiere zu kompensieren. Im August 2021 wurden vier weitgehend unversehrte, möglicherweise 1800 Jahre alte Blumensträuße entdeckt, die Forschern zufolge aus der Zeit vor dem Jahr 200 stammen könnten. Die Entdeckung wurde in einem Tunnel 18 Meter unter dem Tempel des Gottes Quetzalcóatl gemacht. Ausstellung 2010; Teotihuacan – Mexicos geheimnisvolle Pyramidenstadt, Martin-Gropius-Bau, Berlin Siehe auch Liste präkolumbischer Ruinen in Mexiko (ohne Maya) Literatur Janet C. Berlo: Art, ideology, and the city of Teotihuacan. A symposium at Dumbarton Oaks; 8. and 9. October 1988. Dumbarton Oaks Research Library and Collection, Washington 1992, ISBN 0-88402-205-6. Kathleen Berrin: Teotihuacan. Art from the city of the gods. Thames and Hudson, London 1993, ISBN 0-500-23653-4. Geoffrey E. Braswell: The Maya and Teotihuacan. Reinterpreting Early Classic Interaction. Texas University Press, Austin 2003, ISBN 0-292-70914-5 (Teil der Reihe: The Linda Schele series in Maya and Pre-Columbian Studies). Ursula Eisenhauer: Teotihuacán und seine ökonomischen Grundlagen. Habelt, Bonn 2000, ISBN 3-7749-2973-4. Eduardo Matos Moctezuma: Teotihuacán. The City of Gods. Rizzoli, New York 1990, ISBN 0-8478-1198-0. Musée du quai Branly (Hrsg.): Teotihuacan. Geheimnisvolle Pyramidenstadt. Somogy éditions d'art, Paris 2009, ISBN 978-2-7572-0296-8 (Katalog einer Ausstellung im Musée du quai Branly (6. Oktober 2009–24. Januar 2010), Museum Rietberg Zürich (21. Februar–30. Mai 2010), Martin-Gropius-Bau (1. Juli–10. Oktober 2010)). Esther Pasztory: Teotihuacan. An Experiment in Living. University of Oklahoma Press, Norman 1997, ISBN 0-8061-2847-X. Saburo Sugiyama: Human sacrifice, militarism, and rulership. Materialization of state ideology at the Feathered Serpent Pyramid, Teotihuacan. Cambridge University Press, Cambridge 2005, ISBN 0-521-78056-X. Rebecca Storey: Life and death in the ancient city of Teotihuacan. A modern paleodemographic synthesis. University of Alabama Press, Tuscaloosa 1992, ISBN 0-8173-0559-9. Dokumentationen Die Machtzentren der Maya – Teotihuacán. (2 / 3) TV-Dokumentation in HD von Claire Denavarre und Fabrice Buysschaert; CH 2020; Deutsche TV-Premiere: 13. Juni 2021 auf ZDFinfo. Teotihuacan − Pyramidenstadt der Götter. (Originaltitel: Pyramids of Death.) TV-Dokumentation in HD von Jonathan Halperin; USA (National Geographic) 2005; Deutsche Synchronfassung: ZDF, phoenix 2012 (Auf: youtube.com). Weblinks Teotihuacán, Kurzüberblick – Fotos, Zeichnungen + Infos (englisch) Teotihuacán – Mexikos rätselhafte Pyramiden. Deutscher Bildungsserver Infoseite des Instituto Nacional de Antropología e Historia (spanisch) Das Weltkulturerbe – Teotihuacán ASU Teotihuacan Research Laboratory. Website der Arizona State University (englisch) MesoAmerican Photo Archives: Teotihuacán (englisch) Reconfiguring the Archaeological Sensibility: Mediating Heritage at Teotihuacan, Mexico. Systematic mapping and urbanization studies of Teotihuacan, Website der Stanford University Einzelnachweise Präkolumbisches Mesoamerika Welterbestätte in Amerika Welterbestätte in Mexiko Weltkulturerbestätte Archäologischer Fundplatz im Bundesstaat México Kulturgut unter Sonderschutz Geisterstadt
87210
https://de.wikipedia.org/wiki/Welwitschie
Welwitschie
Die Welwitschie (; Welwitschia mirabilis) ist die einzige Art der Gattung Welwitschia in der Familie der Welwitschiagewächse (Welwitschiaceae), die bereits vor 112 Millionen Jahren auf der Erde wuchsen. Die Pflanze gehört zur nacktsamigen Ordnung der Gnetales und wächst endemisch in der Wüste Namib im südlichen Afrika. Aufgrund ihres häufigen Vorkommens ist die Welwitschie unter anderem im Wappen Namibias, Wappen der Stadt Swakopmund und Wappen der Region Kunene abgebildet. Obwohl die Pflanze mehrere hundert Jahre alt wird, besitzt sie nur ein einziges Blattpaar. Namen und botanische Geschichte Der österreichische Arzt und Botaniker Friedrich Welwitsch entdeckte diese Pflanze im Jahre 1859 in der Nähe von Cabo Negro in Angola (15–16° S). In einem Brief an Sir William Jackson Hooker, den Leiter der Royal Botanic Gardens Kew, London, vom 16. August 1860 berichtete er erstmals über diese Pflanze. 1862 sandte er Joseph Dalton Hooker, ebenfalls in Kew, ein Exemplar, der die Pflanze 1863 wissenschaftlich beschrieb und sie nach dem Entdecker benannte. Dieser hatte jedoch den Namen Tumboa nach der einheimischen Bezeichnung empfohlen. Hooker äußerte sich über die Pflanze folgendermaßen: It is out of the question the most wonderful plant ever brought to this country, and one of the ugliest. („Dies ist ohne Frage die wunderbarste Pflanze, die je in dieses Land gebracht wurde, und eine der hässlichsten.“) In Angola wird diese Pflanzenart n'tumbo genannt, was so viel wie „Stumpf“ bedeutet. Die Nama nennen sie oder auch khurub, die Damara nyanka. Die Herero nennen sie onyanga, was „Wüstenzwiebel“ bedeutet. Das Mark wurde früher – roh oder in heißer Asche gebacken – gegessen. Auf Afrikaans heißt sie tweeblaarkanniedood, was etwa „Zwei-Blatt-kann-nicht-sterben“ bedeutet. Beschreibung und Ökologie Erscheinungsbild Die ausdauernde Pflanze besitzt einen kurzen, rübenförmigen Stamm, der aus dem Hypokotyl hervorgeht, eine tiefreichende Pfahlwurzel und zwei Laubblätter, die die Keimblätter ersetzen. Der Stamm ist verholzt und wird oberirdisch meist rund 50 Zentimeter hoch, maximal 1,50 Meter. Er erreicht einen Durchmesser von bis zu einem Meter und weist Jahresringe auf. Einzelexemplare besitzen einen Umfang von bis zu 8,7 Metern. Die Oberseite des Stammes ist eine konkave Scheibe, da der terminale Apex das Wachstum sehr früh einstellt. Nahe der Blattbasis entspringen die Blütenstände. Das Sekundärholz besitzt Tracheen, eigentlich ein typisches Merkmal der Angiospermen. Junge Pflanzen sind am Naturstandort sehr selten zu finden. Keimlinge können sich nur nach – sehr seltenen – Extremniederschlägen etablieren, wodurch die Altersstruktur stark diskontinuierlich ist. Der Oberboden muss komplett durchfeuchtet sein, damit die Wurzeln der Jungpflanzen in größere Tiefen vordringen können. Die zwei Keimblätter können bis zu 1,5 Jahre photosynthetisch aktiv sein und sterben danach ab. Schon zuvor entwickelt sich das einzige Laubblattpaar. Radiokohlenstoffdatierung hat für die untersuchten Pflanzen ein Alter von 500 bis 600 Jahren ergeben. Für die größten Exemplare der Art wird durch Extrapolation dieser Ergebnisse ein Alter von bis zu 2000 Jahren geschätzt. Ihr Wurzelwerk breitet sich unterirdisch über einen Radius von 15 Metern aus. Darüber hinaus hat die Pflanze eine Pfahlwurzel. Dass die Wurzeln den Grundwasserhorizont erreichen, ist wahrscheinlich, aber nicht gesichert, da sich die Wurzeln in einem harten, Calcit-verkitteten Kies verlieren. Die Wurzeln reichen bis in drei Meter Tiefe. Blatt Die beiden Laubblätter können über 2,5 Meter lang werden, manche Berichte sprechen von 6,2 Metern. Am Blattende sterben sie ab und verwittern, die ältesten lebenden Teile können jedoch 10 Jahre alt werden. Da das Hypokotyl sich mit zunehmendem Wachstum auffaltet, reißen die Blätter häufig auf und täuschen so mehrere Blätter vor. In der Umgebung des Brandbergs wurden jedoch Individuen gefunden, die tatsächlich zwei Blattpaare besitzen. Das tritt bei rund 5 % der Population auf. Die Blätter wachsen an einem basalen Meristem. Das Blattwachstum beträgt durchschnittlich 0,17 bis 0,83 Millimeter pro Tag. Die Jahreswerte variieren je nach Standort zwischen 40 und 409 Millimeter pro Jahr. Es besteht jedoch kein signifikanter Zusammenhang zwischen Blattwachstum und Niederschlagsmenge. Bedeutender dürfte die Wasserverfügbarkeit in den tieferen Bodenschichten sein. Die Leitbündel der Blätter können anastomosieren oder blind im Mesophyll enden. Das ist einzigartig unter den Gymnospermen. Generative Merkmale Die Welwitschie ist zweihäusig getrenntgeschlechtig (diözisch), d. h., es gibt weibliche und männliche Pflanzen. Die Blüten befinden sich in zapfenartigen Blütenständen und sitzen in der Achsel von Deckschuppen. Die Hülle der männlichen Blüten besteht aus zwei kreuzgegenständigen Tragblattpaaren. Die sechs Staubblätter stehen in einem Wirtel und sind an der Basis miteinander verwachsen. Jedes Staubblatt trägt drei miteinander verwachsene Pollensäcke. Die männlichen Blüten enthalten an der Spitze immer eine rudimentäre Samenanlage, die von einem ebenfalls rudimentären Brakteenpaar umgeben ist. Diese Samenanlage produziert Nektar, der zu rund 50 % aus Zucker besteht. Die sterilen weiblichen Samenanlagen und die Nektarproduktion können als evolutionär gescheiterter Versuch zur Bildung einer bisexuellen Blüte betrachtet werden. Die Pollensäcke öffnen sich wie bei den anderen Vertretern der Gnetopsida mit einem Exothecium in Form von oft nur kurzen Schlitzen. Bei der Welwitschie wird der Pollen beim Austrocknen der Pollensäcke nach außen gepresst, was durch die Anordnung von Wandverstärkungen im Exothecium verursacht wird. Der männliche Gametophyt besteht aus der spermatogenen Zelle und zwei weiteren Zellen. Die spermatogene Zelle teilt sich zu zwei Spermazellen. Die Befruchtung erfolgt über einen Pollenschlauch (Siphonogamie). Die weiblichen Blüten sind von zwei miteinander verwachsenen Brakteenpaaren umgeben. Bei der Samenreife wird das innere Brakteenpaar hart, das äußere bildet Flügel. Jede Blüte enthält eine aufrechte Samenanlage. Das Integument ist zu einer langen Mikropyle ausgezogen, an der ein Befruchtungstropfen, der auch als Nektar fungiert, ausgeschieden wird. Der weibliche Gametophyt entsteht aus freien Kernteilungen aus allen vier aus der Meiose hervorgehenden Kernen und anschließender Zellwandbildung. Er kann bis zu eintausend Zellen umfassen. Es werden keine Archegonien gebildet, die Eizellen sind nicht von den übrigen Zellen des Archegoniums zu unterscheiden. Der Gametophyt wächst dem Pollenschlauch entgegen, indem er schlauchartige Strukturen ausbildet. Bestäubung und Samenbildung Die Bestäubung erfolgt durch Insekten, als Kandidaten werden Wanzen und Wespen diskutiert. Die Wanze Probergrothius angolensis ernährt sich vom Nektar, Bestäubung wurde jedoch noch nicht eindeutig nachgewiesen. Die Blüte erfolgt vom Hochsommer bis Herbst, die Samen reifen im Frühjahr und werden durch Zerfall der Zapfen freigesetzt. Die Samen sind rund 3,5 × 2,5 Zentimeter groß und besitzen einen papierartigen Flügel. Die Ausbreitung erfolgt durch den Wind. Die Samen bleiben einige Jahre keimfähig und keimen nur nach stärkeren Regenfällen. Aus den rund 10.000 bis 20.000 Blüten pro Pflanze und Jahr entstehen insgesamt nur rund 20 bis 200 keimfähige Samen. Vorkommen Die Art ist in der Wüste Namib beheimatet; ihr Areal umfasst Teile der Staaten Namibia und Angola. Das Areal beginnt im Norden am Nicolau-Rivier nördlich von Namibe (Angola) und reicht rund 1200 km nach Süden bis zum Kuiseb-Rivier bei Gobabeb (Namibia). Sie ist allerdings nie direkt an der Küste zu finden. Der mittlere Jahresniederschlag an ihren Wuchsorten reicht von 10 mm in Küstennähe bis zu 250 mm in der Mopane-Savanne. In manchen Gebieten der zentralen Namib ist die Welwitschie die dominante Pflanze. Die höchste Dichte erreicht sie in einer Entfernung von 50 bis 60 km von der Küste. Das Zentrum der Verbreitung ist die „Welwitschia-Vlakte“ (Welwitschia-Fläche) im Dreieck zwischen Khan und Swakop-Rivier. Die Gesamtindividuenzahl in diesem Gebiet wurde auf 5000 bis 6000 Pflanzen geschätzt. Dieses Gebiet ist Teil des Namib-Naukluft-Nationalparks. Die „Welwitschia-Vlakte“ steht seit 2002 auf der Tentativliste der UNESCO als Welterbe. Systematik und botanische Geschichte Die Gattung Welwitschia wurde 1863 mit der Erstbeschreibung von Welwitschia mirabilis durch Joseph Dalton Hooker in On Welwitschia, a new genus of Gnetaceae. In: Transactions of the Linnean Society of London, Volume 24, Seite 1–48 aufgestellt. Die Gattung Welwitschia ist monotypisch. Nach Untersuchungen 2001 durch Leuenberger an kultivierten Exemplaren im Botanischen Garten Berlin-Dahlem wurde von Welwitschia mirabilis eine zweite Unterart beschrieben. Leuenberger war der Ansicht, dass sie sich nicht nur in der Morphologie, sondern auch in ihrem Areal unterscheiden würden. Die Unterart Welwitschia mirabilis subsp. mirabilis soll nach Leuenberger nur in Angola vorkommen. Für die kultivierten Exemplare gab Leuenberger an: Die männlichen Zapfen sind glatt, bräunlich und ohne deutliche Wachsschicht. Die Blütenstandsachsen sind meist 5 bis 11 Zentimeter lang, die sekundären Achsen bis 2 Zentimeter. Die größten männlichen Zapfen sind 30 bis 45 Millimeter lang. Die Brakteenpaare überlappen sich rund 2 Millimeter. Die Brakteen sind zu mehr als drei Viertel der Länge verwachsen, der Rand der Brakteen ist glatt. – Die Unterart Welwitschia mirabilis subsp. namibiana soll nach Leuenberger nur in Namibia vorkommen. Für die kultivierten Exemplare gab Leuenberger an: Die männlichen Zapfen sind gefurcht, grünlich oder lachsfarben und mit deutlicher Wachsschicht. Die Blütenstandsachsen sind rund 7 bis 15 Zentimeter lang, die sekundären Achsen bis 7 Zentimeter. Die größten männlichen Zapfen sind 20 bis 30 Millimeter lang. Die Brakteenpaare überlappen sich rund 1 Millimeter. Die Brakteen sind zu ein bis zwei Drittel der Länge verwachsen, der Rand der Brakteen ist zerfranst. All das konnte 2014 durch Jacobson et al. bei Felduntersuchungen nicht bestätigt werden. Es gibt keine Unterarten oder Varietäten. Fossile Welwitschiaceae Fossilien von Arten der Ordnung Gnetales sind generell selten, wurden aber seit etwa 2000 etwas häufiger gefunden. Die meisten können entweder der Familie Ephedraceae zugeordnet werden oder sind als Stammgruppen-Vertreter mit unklarer Zugehörigkeit zu einer Familie anzusprechen. Die einzigen überzeugenden Makrofossilien, die als Welwitschiaceae angesprochen werden können, stammen aus der weltberühmten Fossillagerstätte der Santana-Formation (bei Crato in Brasilien). Hier wurden exzellent erhaltene isolierte Blätter als Art Welwitschiophyllum brasiliense beschrieben. Ein Achsenfragment mit ansitzenden Blättern wurde einer neuen Art Welwitschiella austroamericana zugeschrieben. Isolierte zapfenartige Blütenstände wurden als Welwitschiostrobus murili, Funde eines Keimlings mit Keimblatt als Cratonia cotyledon beschrieben. Zusätzlich zu den Makrofossilien wurde auch fossiler Pollen mit Ähnlichkeit zu demjenigen von Welwitschia nachgewiesen, der mehreren Arten zugeordnet worden ist. Die Datierung der Fossilien der Santana-Formation ist nicht ganz unumstritten, es wird ein Alter von etwa 112 bis 114 Millionen Jahre für die Funde abgeschätzt. Bei der Untersuchung der Welwitschiophyllum-Blätter konnte unerwarteterweise festgestellt werden, dass diese noch fossiles Harz enthielten, das chemisch nahe verwandt zu demjenigen aus Welwitschia-Blättern ist. Die Fundorte in Namibia und Brasilien sind heute weit voneinander entfernt. Bei der Ablagerung der Fossilien im Aptium war aber der Südkontinent Gondwana noch nicht getrennt, so dass die Nachbarschaft, auf demselben Kontinent, viel näher war. Fossile Funde von Welwitschia selbst, oder andere Pflanzenfossilien der Familie aus Afrika sind bisher unbekannt. Physiologie Wasseraufnahme Vielfach wird angeführt, die Welwitschie nehme ihren Bedarf an Wasser als Tau über die Blätter oder auch über ein oberflächennahes Feinwurzelsystem auf. Die Welwitschie besitzt jedoch keine morphologischen Strukturen zur Aufnahme von Wasser über die Blätter. Die Blätter sind typisch xeromorph aufgebaut: Sie besitzen eine dicke Cuticula, die Spaltöffnungen sind eingesenkt, die Spalten sind besonders cutinisiert (Akkrustierung) und damit wasserabweisend. Zudem reicht der Nebel selten zu den Hauptvorkommen der Welwitschie und die Tau-Mengen reichen für die gemessene Pflanzenverdunstung nicht aus. Außerdem erreicht die Pflanze ihr morgendliches Wasserpotential bereits im Laufe der Nacht, lange bevor der Nebel einfällt. All das spricht für den Boden als alleinige Wasserquelle. Versuche mit radioaktiv markiertem Wasser ergaben zwar, dass die Blätter Wasser aufnehmen können, jedoch nur sehr langsam und durch passive Diffusion, sodass diese keinen nennenswerten Beitrag zur Wasserversorgung leistet. Allerdings dürfte die Aufnahme von Tau über oberflächennahe Feinwurzeln eine gewisse Rolle in der Wasserversorgung der Pflanze spielen. Schätzungen sprechen von einem Äquivalent von 50 mm Jahresniederschlag. Inhaltsstoffe Wie für Xerophyten vielfach typisch, enthalten die Blätter der Welwitschie recht hohe Konzentrationen anorganischer Ionen (in der Vakuole), wobei in den jungen Blattabschnitten Kalium- und Chlorid-Ionen dominieren, in älteren Abschnitten nimmt der Natrium-Anteil deutlich zu, da das phloemmobile Kalium in die jungen Abschnitte verlagert wird, so ändert sich das K/Na-Verhältnis von 5:1 im Meristem zu 1:4 an der Blattspitze. Zum osmotischen Ausgleich wird im Cytosol vor allem Prolin gebildet. Die organischen Säuren, wie Äpfelsäure, Citronensäure, Isocitronensäure und Chinasäure, erreichen in Summe einen Gehalt von über 100 mmol/kg Trockengewicht. Das Samenöl der Welwitschie enthält – wie auch das von Gnetum – Cyclopropene. Damit besitzen diese beiden Gattungen eine Sonderstellung gegenüber den anderen Gymnospermen, inklusive Ephedra, die alle Δ5-Fettsäuren enthalten. Mit ihrem Fettsäurespektrum steht Welwitschia den Malvales nahe, die aber zu den Angiospermen gehören. Gaswechsel CAM-Stoffwechsel Die Diskussion, ob die Welwitschie eine CAM-Pflanze ist, ist nach dreißig Jahren noch nicht endgültig beendet, obwohl sich die Anzeichen dafür mehren. Die δ-13C-Werte (zur Erklärung der Zahlenwerte siehe Isotopendiskriminierung) liegen in der „Welwitschia-Vlakte“ mit −17,5 ‰ bis −19,5 ‰ zwischen den Werten für C3- und C4-Pflanzen, was für CAM sprechen würde. In der Savanne erreicht Welwitschia jedoch Werte von −23,3 ‰ und entspricht eher einer C3-Pflanze. Auch eine hohe Aktivität der PEP-Carboxylase und Labor-Gaswechselmessungen sprechen für den CAM-Metabolismus. In einer neueren Publikation konnten von Willert et al. (2005) zwar auch im Gelände eine nächtliche CO2-Aufnahme zeigen, die jedoch nur 4 % der CO2-Aufnahme während 24 Stunden entsprach. Die höchsten Raten lagen bei 0,2 µmol/(m2·s). Diese nächtliche CO2-Aufnahme trat im Dezember und Januar auf, also im Sommer der Südhalbkugel. Diese Werte sprechen zumindest für ein sogenanntes CAM-cycling, d. h. die Refixierung des Atmungs-CO2. Die Blätter enthalten hohe Konzentrationen von Malat und Citrat. Bedingt durch die extrem hohe Variabilität im Blatt konnten von Willert et al. jedoch keine diurnale Änderung der Säurekonzentration zeigen. Das wäre jedoch der deutlichste Hinweis für den CAM-Stoffwechsel gewesen. Gegen einen CAM-Stoffwechsel sprechen der xeromorphe Bau und der geringe Wassergehalt der Blätter, der ansonsten für CAM-Pflanzen typisch ist. Ebenso dagegen spricht, wie oben erwähnt, der fehlende Nachweis einer diurnalen Säureänderung. Photorespiration, Photoinhibition Die Welwitschie hat an ihrem natürlichen Standort auch eine hohe Photorespiration, die nahe bei 50 % der Gaswechselaktivität liegt. Die hohe Strahlung am Standort führt auch zu einer starken Photoinhibition, besonders in den Nachmittagsstunden. Das ist vor allem in den älteren Blattabschnitten ausgeprägt und führt oft so weit, dass bereits ab Mittag der CO2-Gaswechsel negativ wird. Herbivorie Die Welwitschie dient vielfach als Futterpflanze für Pflanzenfresser, u. a. für Oryx-Antilopen, Zebras und Nashörner. Oryx-Antilopen reißen die Blätter vollständig aus der Hypokotylgrube heraus, wobei sie allerdings das Meristem nicht zerstören; so kann die Pflanze innerhalb einiger Jahre wieder nachwachsen. Auch Sandstürme können die Blätter stark schädigen. Schutz Die Welwitschie ist zwar nicht bedroht, aufgrund ihrer Bekanntheit jedoch gesetzlich geschützt. Sie ist auch im Anhang II des Washingtoner Artenschutzabkommens (CITES) aufgeführt; lediglich Samen und Sämlinge dürfen gehandelt werden. Welwitschien in Europa Welwitschien gedeihen auch in Europa, sie sind allerdings wenig frosttolerant (bis −6 °C). Sie sind in vielen botanischen Gärten zu sehen, werden aber auch privat als Zierpflanzen gehalten. Die Anzucht erfolgt aus Samen, die in Spezialhandlungen erhältlich sind. Jungpflanzen sind, wie auch im natürlichen Habitat, empfindlich gegen Pilze, deren Sporen besonders an Samen von Wildpflanzen haften. Ältere Pflanzen sind relativ unempfindlich, der Standplatz sollte jedoch ihrem natürlichen Habitat möglichst ähnlich sein, bessere Wasser- und Nährstoffversorgung ausgenommen. Sonstiges Die Welwitschie ist auf dem Wappen Namibias abgebildet und die Namibische Rugby-Union-Nationalmannschaft leitet ihren Spitznamen Welwitschias von der Pflanze ab. Siehe auch Welwitschia-Drive Literatur Beat Ernst Leuenberger Welwitschia mirabilis (Welwitschiaceae), male cone characters and a new subspecies. In: Willdenowia, Volume 31, 2001, S. 357–381. doi:10.3372/wi.31.31206. Chris H. Bornman: Welwitschia – paradox of a parched paradise. C. Struik Publishers, Kapstadt-Johannesburg 1978, ISBN 0-86977-097-7. Patricia Craven, Christine Marais: Namib Flora. Von Swakopmund zur grossen Welwitschia über Goanikontes. Gamsberg Macmillan, Windhoek 2003, ISBN 0-86848-286-2. Joh R. Henschel: Welwitschia's World. Wordweaver Publishing House, Windhoek 2012, ISBN 978-99916-878-6-5. Robert J. Rodin: Distribution of Welwitschia mirabilis. In: American Journal of Botany. Columbus Ohio 40. 1953, , S. 280–285 (Repr. Johnson New York). Ernst van Jaarsvald, Uschi Pond: Welwitschia mirabilis. Kronenlose Herrscherin der Namib. Penrock Publications, Kapstadt 2013, ISBN 978-3-941602-78-6. Dieter J. von Willert, Nicole Armbrüster, Tobias Drees, Maik Zaborowski: CAM or not CAM – what is the answer? In: Functional Plant Biology. Band 32, 2005, , S. 389–395. Maik Veste: Welwitschia mirabilis. In: H. Walter, S.-W. Breckle: Ökologie der Erde. Band 2: Spezielle Ökologie der Tropischen und Subtropischen Zonen. Fischer, Stuttgart 1983, Elsevier, München 2004 (3. Aufl.), ISBN 3-8274-1540-3, S. 474–480. Weblinks Welwitschia im Botanischen Garten Berlin-Dahlem. Neue Zürcher Zeitung – Welwitschia mirabilis: mit Tricks uralt werden. Ausführliche englischsprachige Informationen inklusive Pflegeanleitung bei PlantzAfrica. Welwitschia auf Namibweb.com. (englisch) Einzelnachweise Gnetophyten Lebendes Fossil
89922
https://de.wikipedia.org/wiki/Ren
Ren
Das Ren [], [] oder Rentier (Rangifer tarandus), vormals Renntier, ist eine Säugetierart aus der Familie der Hirsche (Cervidae). Es lebt zirkumpolar im Sommer in den Tundren und im Winter in der Taiga Nordeurasiens und Nordamerikas sowie auf Grönland und anderen arktischen Inseln. Es ist die einzige Hirschart, die domestiziert wurde. Der nordamerikanische Vertreter heißt Karibu. Namen Das deutsche Wort Ren ist entlehnt aus schwedisch ren, das wie norwegisch rein und isländisch hreyn(dýr) auf altnordisch hreinn zurückgeht. Frühe deutsche Formen lauten rein, reyner, rainger. Neuenglisch rein(deer) aus altenglisch hrān und neufranzösisch renne aus mittelfranzösisch reen sind ebenfalls aus dem Nordgermanischen entlehnt, reen über deutsche Vermittlung 1552 aus der Kosmographie von Sebastian Münster. Das altnordische Ausgangswort gehört zu einer Gruppe von Bezeichnungen für horntragende Tiere wie Hirsch oder Hornisse. Vielleicht stellt sich hreinn wie griechisch krīós „Widder“ zu einer indoeuropäischen Wurzel *k̂er(ə)- „das Oberste am Körper, Kopf, Horn“. Das Kompositum Rentier (wie schwedisch rendjur, englisch reindeer und altnordisch hreyndýri) entstand später zur Verdeutlichung; deutsch Rennthier, seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts belegt, ist eine volksetymologische Anlehnung an rennen. Als Pluralformen von Ren sind Rens und Rene möglich. Fachsprachlich ist die Form Rener üblich. Zoologischen Bezeichnungen gehen auf neulateinisch rangifer und altgriechisch tárandos, beides „Ren“, zurück. Bei rangifer ist eine Herkunft aus ramus „Ast“ und ferre „tragen“ möglich. Albertus Magnus führt ihn in De Animalibus um 1260 auf, Aristoteles im 4. Jahrhundert v. Chr. den „tárandos“ in De partibus animalium. Das deutsche Karibu stammt vom Wort Qualipu, sprich „hal-lay-boo“, aus der Sprache des indigenen Volkes der Mi’kmaq in Ostkanada und dem US-Bundesstaat Maine. Es ist im Französischen als caribou erstmals 1606 belegt, im Englischen als cariboo erstmals 1665. Eingedeutscht führte Brehms Tierleben den Karibu 1865 an. Merkmale Die Größe schwankt mit dem Verbreitungsgebiet. Die Kopf-Rumpf-Länge kann 120 bis 220 Zentimeter betragen, die Schulterhöhe 90 bis 140 Zentimeter, das Gewicht 60 bis 300 Kilogramm. Das Fell ist dicht und lang, dunkel-graubraun oder, besonders bei domestizierten Tieren, hell; im Winter ist es generell heller als im Sommer. Die auf hocharktischen Inseln Kanadas, vor allem auf der Ellesmere-Insel lebenden „Peary-Karibus“ tragen ganzjährig ein fast rein weißes Fell. Die Färbung dient als Tarnung vor Fressfeinden; die dichte Unterwolle schützt im arktischen Klima vor Kälte. Die Geweihe sind stangenförmig, verzweigt und charakteristisch nach vorne gebogen; nur die tiefste Sprosse der männlichen, unkastrierten Tiere bildet am Ende eine Verbreiterung, auch als „Schneeschaufel“ bezeichnet, da man früher annahm, das Ren räume mit ihr den Schnee beiseite. Die Formgebung der Geweihe ist unregelmäßig, asymmetrisch und bei jedem Tier unterschiedlich. Das Ren ist die einzige Hirschart, bei der auch das Weibchen regelmäßig ein Geweih trägt. Das des Männchens ist mit einer Länge von 50 bis 130 Zentimeter ausladender gegenüber nur 20 bis 50 Zentimetern beim Weibchen. Männliche Tiere werfen ihr Geweih im Herbst ab, Weibchen erst im Frühjahr. Das Abwerfen erfolgt gewöhnlich nicht zugleich beidseitig, so dass das Ren vorübergehend eine Geweihstange trägt. Die Hufe der Rentiere sind breit und durch eine Spannhaut weit spreizbar. Außerdem sind lange Afterklauen ausgebildet. Dies ermöglicht den Tieren im oft steinigen oder schlammigen Gelände sicheren Tritt. Verbreitung Rentiere zählen zu den am weitesten nördlich lebenden Großsäugern. Sie bewohnen große Teile des nördlichen Nordamerika und Eurasien. Selbst auf hocharktischen Inseln wie Spitzbergen, der Ellesmere-Insel und Grönland kommen Rentiere vor. Um dem arktischen Winter zu entgehen, unternehmen die Renherden, wo dies möglich ist, große Wanderungen, manche bis zu 5000 Kilometern – die längste regelmäßige Wanderung von Landsäugern überhaupt. Auf dem europäischen Festland gibt es in Südnorwegen noch etwa 25.000 wildlebende Rentiere in 23 getrennten Populationen, davon 10 bis 11.000 auf der Hardangervidda. Gut die Hälfte der Populationen sind aber gemischt mit teil-domestizierten Rentieren (laut IUCN-Angaben leben dort insgesamt rund 6000 reinrassige Wild-Rentiere). Bei den großen Rentierherden Lapplands und Nordostrusslands handelt es sich ausschließlich um (geringfügig) domestizierte, „halbwilde“ Rentiere, die etwa unter der Obhut der Samen stehen. In Nordkanada reicht das Verbreitungsgebiet der Rentiere (Karibus genannt) weiter in den Süden, also in die boreale Zone. Die weiteste Verbreitung hatte das Ren in der letzten Kaltzeit; damals drang es bis zu den Pyrenäen und an die heutige mexikanische Nordgrenze vor. Mit der Erwärmung am Ende der letzten Kaltzeit begann eine Habitatverlagerung nach Norden, wobei sich das Rentier noch lange in gemäßigteren Zonen aufhielt. Vermutlich waren Menschen für das Verschwinden der Tiere aus den gemäßigten Zonen mitverantwortlich; allerdings waren die Bestände ohnehin im Abnehmen begriffen. Auf den britischen Inseln starb das Rentier vor rund 10.000 Jahren aus. 1952 wilderte der Same Mikel Utsi 29 Tiere in der schottischen Berggruppe Cairngorms aus; heute leben dort etwa 130 Rentiere. Eine Herde von rund 80 Tieren lebt auf dem Gelände der Glenlivet-Brennerei. Als Neozoon wurde das Rentier auf den Kerguelen eingeführt. Dies war auch in Südgeorgien der Fall, wo die Tierart 2014 durch norwegische Scharfschützen, die von der südgeorgischen Verwaltung unterstützt wurden, jedoch erfolgreich wieder ausgerottet werden konnte, nachdem sie viel Schaden an der Pflanzendecke angerichtet hatte. Lebensweise Rentiere sind Herdentiere. Sie finden sich zu den jahreszeitlichen Wanderungen zusammen und können gebietsweise mehrere 100.000 Tiere umfassen; aus Alaska ist eine Herde mit 500.000 Tieren bekannt. Die weltweit größte Rentierherde war zeitweise die George-River-Herde im Osten Kanadas, die inzwischen von ehemals rund 900.000 Tieren (1980er Jahre) auf 70.000 (2011) geschrumpft ist. Nach den Wanderungen lösen sich die Herden in kleinere Verbände zu zehn bis hundert Tieren auf. Diese Gruppen mit einer Hierarchie, die sich nach der Geweihgröße richtet, bestehen meistens entweder nur aus Männchen oder nur aus Weibchen. Gelegentlich wird die Hierarchie durch ritualisierte Kämpfe entschieden. Zur Zeit der Paarung im Oktober versuchen Männchen, einen Harem um sich zu sammeln. Sie paaren sich mit so vielen Weibchen wie möglich. Nach einer Tragezeit von ungefähr 230 Tagen bringt das Weibchen ein einziges Junges zur Welt. Die Geburt erfolgt im Mai oder Juni. Das Jungtier ist, anders als die meisten Hirschkälber, nicht gefleckt und schon kurz nach der Geburt selbständig. So kann es bereits nach einer Stunde laufen. Sofern es trocken bleibt, wird das Junge durch sein aus luftgefüllten Haaren bestehendes Fell vor Kälte geschützt. Bei nasskaltem Wetter ist die Sterblichkeit der Kälber hoch, obwohl Rentierkälber ihre Wärmeerzeugung um das Fünffache beschleunigen können und damit über außergewöhnliche thermoregulatorische Fähigkeiten verfügen. Geschlechtsreif werden die Tiere nach zwei Jahren. Durchschnittlich werden sie etwa 12 bis 15 Jahre alt, gelegentlich auch mehr als 20 Jahre. Rentiere sind vor allem Grasfresser; im Sommer nehmen sie fast jede pflanzliche Kost zu sich, die sie finden können. Im Winter sind sie durch Schnee und Eis überwiegend auf Rentierflechten, Moose und Pilze beschränkt. Die natürlichen Feinde des Rens sind Wölfe, Vielfraße, Luchse und Bären. Gesunde Tiere wissen sich allerdings diesen Feinden durch ihre Laufstärke zu entziehen; so fallen den Raubtieren gewöhnlich nur kranke und geschwächte Rentiere zum Opfer. Die größte Plage stellen Innen- und Außenparasiten dar, vor allem die Myriaden von arktischen Stechmücken. Darüber hinaus hat auch die industrielle Erschließung ihres Weidelandes Auswirkungen auf ihr Überleben, wie am Beispiel der George-River-Herde vermutet. Unterarten In verschiedenen Teilen der Welt ist das Ren durch die Bejagung zwischenzeitlich selten geworden. Heute gibt es weltweit etwa 4 Millionen wilde und 3 Millionen domestizierte Rentiere. Die Art gilt damit nicht als gefährdet. Drei Viertel der wilden Rentiere leben in Nordamerika, mehr als drei Viertel der domestizierten Rentiere in Sibirien. Man unterscheidet je nach Lehrmeinung zehn bis zwanzig Unterarten des Rentiers. Traditionell unterscheidet man zwei Hauptformen, zum einen die Tundrarentiere, zum anderen die sogenannten Waldrentiere. Unter den Tundrarentieren unterscheidet man drei kleine hocharktische Inselformen, die aber nicht alle nah verwandt sind, sowie drei Festlandformen, die aber teilweise auch auf Inseln vorkommen. Eine weitere Inselform, das ausgestorbene Queen-Charlotte-Karibu, scheint genetischen Befunden zufolge keine eigene Unterart zu repräsentieren, sondern stand den Formen des Kanadischen Festlands nahe. Die Eurasischen Waldrentiere werden traditionell in drei Formen unterteilt. Tundrarentiere Eurasisches Tundraren (R. t. tarandus) in Lappland und Nordrussland westlich des Ural; heute in Europa fast nur noch in seiner domestizierten Form vorhanden; umfasst auch die als Sibirisches Tundraren (R. t. sibericus) beschriebenen Formen im Norden Sibiriens sowie die Population Nowaja Semljas Grant's-Karibu (R. t. granti), Alaska sowie Yukon Barrenground-Karibu (R. t. groenlandicus), West-Grönland, kanadische Nordwest-Territorien und Territorium Nunavut sowie Yukon Peary-Karibu (R. t. pearyi), kanadische arktische Inseln; von der IUCN als „stark gefährdet“ eingestuft; diese Unterart ist wegen ihres nahezu rein weißen Fells bekannt Spitzbergen-Ren (R. t. platyrhynchus), Spitzbergen, Bestand etwa 11.000 Tiere Ostgrönland-Rentier (R.t. eogroenlandicus), Ostgrönland, seit 1900 ausgestorben. Waldrentiere Sibirisches Waldren (R. t. valentinae) in verschiedenen russischen Gebirgen, zum Beispiel im Ural und im Altai Europäisches Waldren (R. t. fennicus), Finnland, Russland (Karelien) Mandschurisches Ren (R. t. phylarchus), von der Mandschurei über Ostsibirien bis Kamtschatka und Sachalin Kanadisches Waldkaribu (R. t. caribou), Kanada von British Columbia bis Neufundland, vor allem in den kanadischen Nordwest-Territorien und den Territorien Nunavut und Yukon; eine Herde gelangt bei ihren Wanderungen auch nach Idaho und Washington Queen-Charlotte-Karibu (R. t. dawsoni), Queen-Charlotte-Inseln vor der westkanadischen Küste; ausgestorben Die Unterarten unterscheiden sich in Fellfärbung und Größe. Beispielsweise ist das Kanadische Waldkaribu dunkelbraun, das Europäische Rentier eher graubraun. Die kleinsten Rentiere sind die inselbewohnenden Unterarten. So ist das Spitzbergen-Ren im Durchschnitt um 15 % kleiner als das Europäische Ren. Menschen und Rentiere Nutzung der Wildtiere Schon auf Höhlenzeichnungen der Steinzeit findet man Rentiere dargestellt. Sie waren schon den Neandertalern eine begehrte Jagdbeute. Bis heute werden Rentiere in vielen Teilen der Welt gehalten und gejagt, da man ihr mageres Wildbret und ihr Fell schätzt. In den Regionen, in denen Großwild, Faserpflanzen und Baustoffe spärlich sind oder fehlen, haben Menschen beinahe jeden Körperteil des Rentiers genutzt: die Haut für Pelze und Leder, das Blut als Heilmittel („Saina tjalem“), Geweih und Knochen zur Werkzeugherstellung. Der Beginn der Nutzbarmachung der Rentierherden für die Naturweidewirtschaft (Pastoralismus#Rentier-Pastoralismus) liegt 5000 Jahre zurück und fand zuerst in Sibirien statt. Vor allem die traditionelle Lebensweise vieler indigener Völker des eurasischen Nordens ist durch das Zusammenleben mit Rentieren geprägt. Für die Nenzen in Sibirien beispielsweise sind sie ein bedeutender Lebensbestandteil und Teil ihrer Lebensgrundlage: „Das Rentier ist unsere Nahrung, unsere Wärme und unser Transportmittel.“ Das gilt auch noch für einen kleinen Teil der nordeuropäischen Samen. Domestikation und Rentierwirtschaft Nicht selten wird die Rentierwirtschaft als „Rentierzucht“ bezeichnet. Im Gegensatz zu allen anderen domestizierten Weidetieren war die Zuchtwahl durch den Menschen beim Rentier jedoch immer nur gering und der Mensch hat sich eher an die Lebensweise der Tiere angepasst als umgekehrt, sodass die Bezeichnung irreführend ist. Der Begriff Rentierhaltung soll dem Rechnung tragen. Es ist unbekannt, welches Volk zuerst Rentiere domestizierte. Die Nutzung des Rens verbreitete sich um 1000 v. Chr. von Sibirien nach Skandinavien. Das Vorbild dieser spätesten Domestikation eines Großsäugers lieferten offenbar nach Norden vorgedrungene Viehhalter aus bäuerlichen oder viehzüchterischen Kulturen. In Nordeuropa waren die Samen auf diesem Gebiet erfolgreich. Bis zum 17. Jahrhundert wurden Rentiere vor allem als Last- und Zugtiere genutzt, wie zum Teil heute noch von den Ethnien der sibirischen Taiga, die zudem Rentiermilch gewinnen. Die anschließende Ausweitung der Domestizierung auf ganze Herden fand erst durch den Zwang zu höheren Steuerzahlungen an die Kolonialherren statt. Noch heute wird in Lappland, Nordrussland und großen Teilen Sibiriens Rentierwirtschaft betrieben (vielfach halbnomadisch, sehr selten noch vollnomadisch). In Norwegen und Schweden ist sie ein Privileg der Samen, in Finnland wird sie hauptsächlich von Finnen ausgeübt. Die Herden wandern frei umher, die Menschen folgen ihnen. Die Rentiere werden zu festgelegten Zeiten zusammengetrieben, um die Kälber zu markieren oder ausgewählte Tiere zu schlachten. Das Zusammentreiben großer Herden wird heute teilweise mittels Hubschraubern und/oder Motorschlitten erledigt. Da Rentiere Niedrigsttemperaturen ertragen, hat man noch im 20. Jahrhundert domestizierte europäische Rentiere in Grönland, Alaska und Kanada eingeführt, wo die einheimischen Völker zuvor nur Wildrene (Karibus) gejagt und nie selbst domestiziert hatten. In Alaska schlug der Versuch fehl, da die indigene Bevölkerung an der subsistenzwirtschaftlichen Jagd festhielt. Auch auf einigen subantarktischen Inseln wurden Rentiere, ursprünglich von Walfängern, als jederzeit verfügbare Frischfleischquelle eingeführt. Nachdem die Rentiere in Südgeorgien 2013 und 2014 wieder entfernt worden waren, weil die Verbissschäden an der Inselvegetation zu groß waren, befindet sich heute die südlichste und nunmehr einzige Rentierpopulation der Südhalbkugel auf den Kerguelen. Sie ertragen jedoch höhere Temperaturen nicht gut. In den 2010er Jahren sind die Eisfelder auf Sommerweiden mongolischer Rentierzüchter stärker zurückgegangen als zuvor, so dass den Rentieren, die durch höhere Temperaturen ohnehin belastet sind, sogar die Möglichkeit einer Abkühlung fehlt. Zudem gedeihen blutsaugende Insekten besser in den höheren Temperaturen und setzen den ohnehin durch Hitzestress geschwächten Rentieren stärker zu. Die Tradition der rentierzüchtenden Nomaden in der Mongolei ist durch die Erhöhung der Temperatur gefährdet. Das größte Problem für die Zukunft der Rentiere bereitet der Klimawandel jedoch durch immer häufigere Regenfälle im Winter: Wenn das Wasser auf der Schneedecke gefriert, kommen die Rentiere nicht mehr an ihr Futter und müssen hungern. Dies hat in einigen Fällen bereits zum Verhungern hunderter Tiere geführt. Domestizierte Rentiere sind im Gegensatz zu wilden Renern nicht scheu; im nördlichen Finnland oder Schweden laufen oder stehen sie häufig auf den Landstraßen und verlassen sie auch nicht, wenn ein Auto kommt. Man kann daher auf etwa ein bis zwei Meter an sie heranfahren, ohne dass die Tiere fliehen. Zu Fuß ist ein Abstand von weniger als fünf bis zehn Metern allerdings nur bei Tieren möglich, die Menschen gewohnt sind. Die Haltung in Tierparks außerhalb ihres Lebensraumes ist nicht ganz einfach, da neben Luzerne- und Grasheu immer auch Moose oder Flechten verfüttert werden müssen, deren Beschaffung aufwändig ist. Rezeptionen Dem populären Mythos vom Weihnachtsmann zufolge reist dieser mit einem vom Rentieren gezogenen Schlitten, um Geschenke zu verteilen. Einige der Tiere sind benannt, wobei uneinheitliche Namen verwendet werden. Als Kinderbuch erschien 1939 in den USA Rudolph, the Red-Nosed Reindeer, das auch vertont und verfilmt wurde. Aufbauend auf dem Buch erschienen mit dem gleichnamigen Lied, aufgenommen 1949 von Gene Autry, sowie dem Song Run Rudolph Run, aufgenommen 1959 von Chuck Berry, zwei bekannte Weihnachtslieder-Klassiker des amerikanischen Komponisten Johnny Marks. Die finnische Kinder- und Jugendautorin Annikka Setälä (1900–1970) veröffentlichte 1956 den Jugendroman Karhunkierros, deutsch Irja tauscht Rentiere, der, 1957 übersetzt, 1958 auf die Auswahlliste des Deutschen Jugendbuchpreises kam. Die Schriftstellerin Ann-Helén Laestadius, die aus einer mehrkulturellen samisch-tornedalfinnischen Familie aus Jukkasjärvi in Nordschweden, stammt, veröffentlichte 2021 den die Tierhaltung thematisierenden Roman Stöld, deutsch Das Leuchten der Rentiere, eigentlich „Diebstahl“. 1775 benannte der Astronom Jérôme Lalande das Sternbild Rentier (Rangifer) in der Nähe des Polarsterns, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Mehrere Schiffe der Royal Navy und der United States Navy hießen Reindeer. Das Ren ist Motiv zahlreichen Wappen und Briefmarken, Sammlermünzen und Gemälde. Literatur Monografien und Aufsätze Ingrid Hemmer: Entwicklung und Struktur der Rentierwirtschaft in Finnmark und Troms (Nordnorwegen). Bamberg 1985. (aktualisierte und leicht gekürzte Fassung der phil. Diss., Bamberg 1984) Tom Walker: Caribou. Wanderer of the tundra. Graphic Arts Center Publishing Company, Portland 2000. ISBN 1-55868-524-3 John Sandlos: Caribou. In ders.: Hunters at the Margin. Native People and Wildlife Conservation in the Northwest Territories. UBC Press 2007, S. 139–230. Jürg Endres: Rentierhalter. Jäger. Wilderer? Praxis, Wandel und Verwundbarkeit bei den Dukha und den Tozhu im mongolisch-russischen Grenzraum. Franz Steiner, Stuttgart 2015 ISBN 978-3-515-11140-9 Michael H. Weiler: Karibujagd und Pelzhandel: kultureller Wandel bei den Naskapi in Nord-Québec/Labrador. Mundus, Bonn 1986. Zugleich: Universität Bonn, Magisterarbeit 1982 Michael H. Weiler: Modernisierung der Karibujagd bei den Naskapi in Nordquébec, Kanada. Notorf 1986 Zeitschriften Alle Rangifer-Volltexte sind online veröffentlicht: Rangifer. Scientific journal of reindeer and reindeer husbandry. Harstad, 1.1981–27.2007 (), online unter gleichem Namen fortgesetzt () Rangifer Special Issues (); 19 Ausgaben 1986–2011 Rangifer Report (); 14 Ausgaben 1995–2010 Weblinks Website des finnischen Rentierzüchtergenossenschafts-Verbands Fotos der jährlichen Rentier-Wanderung in Skandinavien Einzelnachweise Hirsche Vieh Wikipedia:Artikel mit Video Schwedische Phrase
91717
https://de.wikipedia.org/wiki/Nesseltiere
Nesseltiere
Die Nesseltiere (Cnidaria; altgr. knidē ‚Nessel‘) sind einfach gebaute, vielzellige Tiere, die durch den Besitz von Nesselkapseln gekennzeichnet sind und die Küsten, den Grund und das offene Wasser der Weltmeere und einige Süßgewässer bewohnen. Bekannte Untergruppen sind Schirm- und Würfelquallen, die sessilen Blumentiere mit den Seeanemonen, Stein- und Weichkorallen sowie die vielgestaltigen Hydrozoen, zu denen auch die Staatsquallen und der in Bächen und Flüssen in Mitteleuropa heimische Süßwasserpolyp gehören. Sie umfassen derzeit über 11 000 rezente Arten. Einige Nesseltiere (z. B. Polypodium hydriforme und die Myxozoa) sind Parasiten. Aufbau Nesseltiere besitzen als Gewebetiere echtes Gewebe und Organe. Sie sind ihrem vielfach variierten Grundbauplan nach radiärsymmetrisch gebaut und bestehen aus zwei Zellschichten, der äußeren Epidermis oder Ectodermis und der inneren Gastrodermis oder Entodermis. Dazwischen befindet sich die Mesogloea – nicht zu verwechseln mit dem Mesoderm: Gelegentlich wird die Mesogloea als drittes Keimblatt angesehen, doch mit den mesodermalen Blastemen höherer Metazoen hat sie nichts gemein. Die Gastrodermis umfasst den „Magen“ der Nesseltiere, den sogenannten Gastralraum (Gastrovaskularraum). Er besitzt nur eine einzige Öffnung, durch die nicht nur die Nahrung aufgenommen, sondern Abfallprodukte auch wieder ausgeschieden werden. Gleichzeitig dient er neben der Mesogloea als hydrostatisches Stützskelett. Hartskelette kommen dagegen nur bei Polypen vor, die dazu gezielt Kalk ablagern (z. B. Octocorallia). Ein echtes Blutgefäßsystem ist bei den Nesseltieren nicht vorhanden. Der Gasaustausch erfolgt durch Diffusion, daneben spielt sowohl für die Vorverarbeitung und gleichzeitig für die Verteilung von Nährstoffen und den Abtransport von Stoffwechselendprodukten das sogenannte Gastrovaskularsystem eine Rolle: Dies umfasst den zentralen Hohlraum, den Gastralraum sowie dessen Ausläufer in die Tentakel der Polypen. Das Gastrovaskularsystem übernimmt damit zweierlei Funktionen, Verdauung und Stofftransport. Nahrungspartikel werden in erster Linie von den Nährmuskelzellen des Gastroderms aufgenommen. Die Nesseltiere besitzen echte Nervenzellen, die ein diffuses Netz bilden, welches nur eine geringe Zentralisierung zeigt. Nervenzellkonzentrationen liegen bei Polypen im Mundfeld (Hypostom), an den Tentakeln und am Fußstiel (Pedunculus), bei den Quallen findet sich häufig ein Nervenring um den Schirm. Auch eine spezialisierte Signaltransportrichtung hat sich vielfach noch nicht herausgebildet. Die Verschaltung der Nerven über sogenannte „gap junctions“ erlaubt jedoch einigen Arten eine hohe Geschwindigkeit bei der Erregungsleitung, eine Vielzahl von Neuropeptiden erlaubt die Modulation von Erregungen. Lange wurde angenommen, dass Cnidarier zu den sogenannten Diploblasten, den zweikeimblättrigen Tieren gehören. Neuere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass Cnidarier neben dem Ekto- und Entoderm auch ein Mesoderm zu besitzen scheinen. Aus dem Mesoderm entwickelt sich unter anderem die Muskulatur der Medusen. Das namensgebende Merkmal der Nesseltiere ist ein spezialisierter Zelltyp, die Nesselzelle (Cnidocyte). Zellen dieses Typs befinden sich auf den um die Mundöffnung herum angeordneten Tentakeln und enthalten die charakteristischen Nesselkapseln (Cniden oder Cnidocysten). Diese enthalten einen spiralig aufgewickelten Nesselfaden, der auf Berührungsreize explosiv ausgestoßen wird und hochtoxische Stoffe in das Opfer injiziert, die dieses schnell abtöten oder zumindest lähmen. Die Nesselzellen dienen sowohl dem Beutefang als auch der Verteidigung gegen Fressfeinde. Alle Cnidaria besitzen Cnidocyten. Ein weiterer wichtiger Zelltyp sind die interstitiellen Zellen (auch i-Zellen genannt). Dies sind pluripotente Zellen, was bedeutet, dass sie sich in andere Zelltypen wie Geschlechtszellen, Drüsenzellen oder Nervenzellen, allerdings nicht in Epithelmuskelzellen oder Nährmuskelzellen verwandeln können. Letztere beiden Zelltypen können nur aus ihresgleichen hervorgehen. Viele Nesseltiere haben dank dieses Systems eine enorme Regenerationsfähigkeit. Insbesondere die Süßwasserpolypen der Gattung Hydra dienen in der Forschung als Modelle für Musterbildungsprozesse. Interstitielle Zellen sind auf die Hydrozoen beschränkt und fehlen bei den anderen Cnidaria. Die zwei wichtigsten Formentypen sind Polyp und Qualle, die als unterschiedliche Lebensstadien bei ein und derselben Art auftreten können, also keine systematische Bedeutung haben. Polypen sind durch die sogenannte Basalscheibe fest auf einem Substrat verankert, obwohl einige Arten sich auch in kuriosen Zeitlupen-Salti fortbewegen können. Naturgemäß zeigen ihre Tentakel nach oben, vom Substrat weg. Polypen treten oft in großen Kolonien auf. Zusammenfassend besteht ein Polyp aus: Fußscheibe, (das proximale, aborale) Körperende, aus einem Stiel, dem sog. Scapus und dem Mundfeld (Peristom) mit der einzigen Körperöffnung, die umgeben von Fangtentakeln ist. Innerhalb der 4 Gruppen gibt es charakteristische Unterschiede hinsichtlich der Septen, die den Gastralraum in einzelne Gastraltaschen aufgliedern. Vergleichsweise einfach sind Cubozoa und Hydrozoa aufgebaut, denen diese Septen fehlen. Die Quallen lassen sich ohne Probleme aus den Polypen herleiten, indem Fußscheibe und Scapus zur Oberseite, der Exumbrella, und das Mundfeld zur Unterseite, der Subumbrella, werden. Die auch Medusen genannten Quallen haben ein hut- oder glockenförmiges Aussehen und schwimmen meist passiv in den Meeresströmungen mit. Ihre Tentakel hängen frei nach unten. Durch koordinierte Muskelkontraktionen gegen das im Gastralraum enthaltene Wasser können sie sich allerdings auch aktiv fortbewegen – sie nutzen dabei das Rückstoßprinzip. Nesseltiere zeigen ein breites Größenspektrum: Die meisten Arten sind nur wenige Millimeter klein, manche noch kleiner. Auf der anderen Seite können Cyanea-Quallen einen Durchmesser von zwei Metern umfassen und Polypen der Gattung Branchiocerianthus eine ebensolche Länge erreichen. Bei manchen Arten werden die Tentakel bis zu dreißig Meter lang. Verbreitung und Lebensraum Nesseltiere finden sich weltweit im Meer, seltener auch im Süßwasser. Viele bewohnen als Quallen das offene Wasser und sind, auch durch die verschiedenen Larvenstadien, ein bedeutender Teil des Zooplanktons. An den Küsten dominieren sessile, meist kolonial lebende Nesseltiere oft die Hartböden und schufen mit den tropischen Korallenriffen einen der artenreichsten und produktivsten Lebensräume der Erde. Mit den Seefedern gehört zu ihnen auch eine Gruppe, die sich auf weiche und schlammige Meeresböden spezialisiert hat und auch die Tiefsee, sowie das Südpolarmeer bewohnt. Ernährung Die meisten Nesseltiere ernähren sich von Beutetieren, die mit ihren Tentakeln in Berührung gekommen sind. Dies sind vor allem Tiere des Zooplanktons, wie Protisten, diverse Würmer, Krebse und andere Quallen. Größere Nesseltiere überwältigen auch größere Beute wie Fische. Weichkorallen und Gorgonien fangen auch Phytoplankton. Manche Gruppen, darunter die meisten Stein-, aber auch viele Weichkorallen, Gorgonien, Seeanemonen und Feuerkorallen leben symbiotisch mit Photosynthese betreibenden Algen zusammen, meist Dinoflagellaten (Dinoflagellata), manchmal aber auch Grünalgen (Chlorophyta). Diese nehmen von ihren Nesseltierpartnern produziertes Kohlendioxid auf und produzieren unter Ausnutzung des Sonnenlichts und unter Abgabe von Sauerstoff die energiehaltigen Kohlenhydrate, die den Nesseltieren als Hauptnahrung dienen. Fortpflanzung Weit verbreitet bei den Nesseltieren ist die ungeschlechtliche Fortpflanzung durch Knospung. In den Klassen der Blumentiere (Anthozoa) und der Hydrozoen (Hydrozoa) ist sie besonders weit verbreitet. Dabei trennt sich vom erwachsenen Polypen seitlich eine ungeschlechtliche Larve, die sogenannte Schwimmknospe ab, die sich zum Polypen fortentwickelt. Oft ist die Knospung unvollständig, sodass physisch miteinander verbundene Kolonien genetisch identischer Polypen entstehen. Allerdings können sich die Nesseltiere auch geschlechtlich fortpflanzen. Ein charakteristisches Merkmal ist hier der sogenannte Generationswechsel, der bei Tieren sonst nicht so häufig wie bei Pflanzen, Pilzen oder Protisten anzutreffen ist. Dabei wechseln Generationen, die sich ungeschlechtlich fortpflanzen, und sich geschlechtlich fortpflanzende Generationen einander ab. Diese Art des Generationswechsels wird als Metagenese bezeichnet. Der erwachsene Polyp bildet dazu auf ungeschlechtlichem Wege männliche oder weibliche Quallen. Es gibt drei prinzipielle ungeschlechtliche Vorgänge: Knospung findet sich besonders häufig in den Klassen der Blumentiere und der Hydrozoen. Strobilation, ein Vorgang, bei dem Quallen scheibenweise am oberen (oralen) Ende des Polypen abgeschnürt werden, ist dagegen für Schirmquallen charakteristisch. Schließlich findet man auch die komplette Umwandlung (Metamorphose) des Polypen zur Quallenform – bei Würfelquallen. Diese entwickeln sich zunächst zur Geschlechtsreife. Dann werden die männlichen und weiblichen Gameten freigesetzt, die sich jeweils zur Zygote vereinigen. Diese entwickelt sich durch Zellteilung zunächst zu einer kugelförmigen Struktur, der so genannten Blastula, aus der dann die Planula genannte Larve entsteht. Diese ist begeißelt und schwimmt so lange, bis sie auf ein festes Substrat trifft, auf dem sie sich verankert und dann eine Verwandlung (Metamorphose) zum Polypenstadium durchläuft. Dieses Schema ist in den fünf Nesseltier-Klassen mannigfaltig variiert und abgewandelt. So verbleiben bei vielen Hydrozoen die Quallen in reduzierter Form am Polypen, welcher damit so genannte Gonophoren hat. Einige Hydrozoen, wie die Süßwasserpolypen (Hydra) haben überhaupt kein Quallenstadium. Stattdessen bildet der Polyp selbst männliche oder weibliche Keimzellen. Die Würfelquallen wiederum haben das Polypenstadium reduziert. Bei den Blumentieren gibt es kein Quallenstadium. Riffbildung Große ökologische Bedeutung haben Korallenriffe, die von einer Untergruppe der Nesseltiere, den skelettbildenden Steinkorallen, aufgebaut werden. Diese Riffe treten in zwei ökologischen Bereichen auf: Zum einen als Tiefwasserriffe in kaltem Wasser ab 60 Metern Tiefe, so zum Beispiel entlang des europäischen Kontinentalhangs, zum anderen als Flachwasserriffe in warmen Meeren mit Wassertemperaturen über 20 °C. Wichtig für deren Riffbildung sind die bereits angesprochenen endosymbiotischen Algenpartner. Bei übermäßiger Erwärmung kommt es oft zur Korallenbleiche, in der die Symbiose durch das Abstoßen der Algen beendet wurde. Aufgrund der notwendigen Sonneneinstrahlung gibt es Korallenriffe als Flachwasserrriffe nur in tropischen Gewässern. Die Korallenpolypen scheiden dort neben anderen Tieren wie bestimmten Röhrenwürmern, aber auch diversen Rotalgen oder Grünalgen, Kalk (Calciumcarbonat) als Außen- oder Exoskelett ab, der sich mit der Zeit zu wahren Gebirgen auftürmen kann. Sobald die Lichtausbeute zu gering wird – dies ist auf jeden Fall ab einer Wassertiefe von 60 Metern der Fall – sterben die Korallen ab, auf ihren Skeletten haben sich dann schon die nachfolgenden Generationen festgesetzt. Auf diese Weise können Korallenriffe bei langsam steigendem Meeresspiegel in die Höhe wachsen. Korallenriffe sind sehr artenreiche Ökosysteme, die durch die Beeinflussung von Meeresströmungen auch globale Auswirkungen haben. Sie sind von einer Vielzahl von Organismen, Schwämmen, diversen Würmern, Fischen, aber auch Algen und verschiedenen Protisten bewohnt. In erdgeschichtlicher Zeit haben sich zahlreiche Gesteinsformationen aus dem unter anderem von Korallen abgelagerten Kalkstein gebildet: So gehen beispielsweise die reichen Vorkommen der Eifel und des Bergischen Landes auf Hunderte Millionen Jahre alte devonische Korallenriffe zurück. Jüngeren Datums sind die Bermuda-Inseln und die Bahamas, aber auch zahlreiche pazifische Inselgruppen, die auf Korallenriffe zurückgehen. Nesseltiere als Fossilien Nesseltiere sind eine sehr alte Tiergruppe. Schon in der so genannten Ediacara-Fauna des späten Proterozoikums vor etwa 550 Millionen Jahren sind sie vertreten und gehören damit zu den ersten bekannten Tierfossilien überhaupt. Die Kenntnis fossiler Gruppen ist je nach Untergruppe allerdings sehr unterschiedlich: Während sich aus weichem Gewebe bestehende Quallen nur in extremen Ausnahmefällen erhalten haben, ist beispielsweise die stammesgeschichtliche Entwicklung der Korallen durch die von ihnen hinterlassenen harten Kalkskelette fossil sehr gut bekannt. Die ersten Korallenriffe stammen demnach aus dem erdgeschichtlichen Zeitalter des frühen Ordoviziums vor etwa 500 Millionen Jahren, die damaligen Formen unterschieden sich aber noch deutlich von den heutigen Korallen, die erst nach dem großen Massenaussterben am Ende des Perm vor 240 Millionen Jahren etwa in der Mitte der Trias vor etwa 220 Millionen Jahren das erste Mal auftreten. Nesseltiere und der Mensch Nesseltiere haben Menschen zunächst einmal dadurch beeinflusst, dass letztere auf ihnen leben: Wie bereits erwähnt gehen eine ganze Reihe von Inseln auf abgestorbene Nesseltierskelette zurück. Der von ihnen hinterlassene Kalkstein wird an vielen Stellen kommerziell abgebaut. Aus besonderen, insbesondere bunt gefärbten Korallen werden darüber hinaus seit vorgeschichtlicher Zeit Schmuckstücke gefertigt. Andererseits kommen insbesondere an der Nordküste Australiens regelmäßig Menschen durch Kontakt mit den Nesselzellen hochgiftiger Quallen zu Tode oder werden durch ihr Nervengift lebenslang geschädigt. Auch die in der Nordsee vorkommenden Quallen können zu äußerst schmerzhaften Hautverletzungen führen. Umgekehrt wirkt sich die Ausbreitung des menschlichen Tourismus oft sehr negativ auf die den Nesseltieren zugehörigen Korallen aus. Das global zu beobachtende Korallensterben gilt unter Riffbiologen als äußerst bedenklich, da Korallen Schlüsselorganismen sind, deren Tod oft das Absterben des ganzen reichhaltigen Ökosystems nach sich zieht. Neben der Einleitung von nitratbelasteten Abwässern ist hier unter anderem die Cyanidfischerei zu nennen, die in kurzer Zeit weiträumige Lebensräume vernichten kann. Eine weitere Gefahr für Korallen sind die infolge des Klimawandels steigenden Wassertemperaturen: Überschreiten sie eine kritische Grenze, stoßen die Korallen oft ihre symbiotischen Algenpartner (Zooxanthellen) ab und bleichen damit aus. Nach dieser Korallenbleiche können die Korallen nur schwer allein überleben. Kehren die Zooxanthellen über einen langen Zeitraum nicht zurück, sterben die Korallen ab. Systematik Die Nesseltiere bilden in der klassischen Systematik einen Stamm innerhalb der Gewebetiere (Eumetazoa) und wurden traditionell zusammen mit den Rippenquallen (Ctenophora) zur Gruppe der Hohltiere (Coelenterata) vereinigt. Aus Sicht der heute vorherrschenden Systematik, der Kladistik, ist diese Gruppe allerdings vermutlich paraphyletisch, das heißt, sie umfasst nicht alle Nachkommen ihres letzten gemeinsamen Vorfahren: Trotz der äußeren Ähnlichkeit der beiden Taxa, die sich unter anderem in der beiden Gruppen eigenen radialsymmetrischen Körperstruktur bemerkbar macht, sind die Rippenquallen wahrscheinlich nicht näher mit den Nesseltieren verwandt, eine Theorie sieht sie als nächste Verwandte der zweiseitig-symmetrisch aufgebauten Bilateria, ihre tatsächliche Stellung im System ist aber noch ungeklärt. Aus kladistischer Sicht bilden die Hohltiere daher eine künstliche Gruppe. Die Nesseltiere werden in fünf Klassen unterteilt: Die Blumentiere (Anthozoa) umfassen ungefähr 7500 Arten, darunter die Seeanemonen, die Stein- und Oktokorallen. Ein Medusenstadium ist in dieser Klasse unbekannt. Die Stielquallen (Staurozoa) sind sessile Quallen mit einem polypenartigen Stiel. Es gibt etwa 50 Arten. Die Würfelquallen (Cubozoa) umfassen etwa 50 Arten. Zu ihnen zählen unter anderem die als Seewespen bezeichneten Arten Chironex fleckeri und Chiropsalmus quadrigatus, die über ein hochpotentes Gift verfügen. Zu den Schirmquallen (Scyphozoa) gehören etwa 200 Arten, die meist als Medusen auftreten. Die Hydrozoen (Hydrozoa) sind die vielgestaltigste Gruppe und enthalten etwa 3500 Arten. Das Spektrum reicht hier von vielen quallenartigen Formen über die Staatsquallen, die sessilen Nesselfarne, die tropischen Feuer- und Filigrankorallen bis zu den Bäumchenpolypen (Sertularia), die auch in der Nordsee vorkommen. Auch die Süßwasserquallen zählen zu den Hydrozoen. Die Hydrozoa zeigen häufig einen Generationswechsel zwischen Medusen- und Polypform. Keiner Klasse zugeordnet werden die parasitischen Myxozoa und Polypodium hydriforme, die die Schwestergruppe der Medusozoa darstellen. Die wahrscheinlichen stammesgeschichtlichen Abstammungsverhältnisse der genannten Gruppen lassen sich dem folgenden Diagramm entnehmen: Kladogramm der Cnidaria nach Collins (2002) Einzelnachweise Literatur D. T. Anderson: Invertebrate Zoology. Kap. 3. Oxford Univ. Press, Oxford 2001 (2. Aufl.), S. 31. ISBN 0-19-551368-1 P. Ax: Das System der Metazoa I. Ein Lehrbuch der phylogenetischen Systematik. Gustav Fischer, Stuttgart-Jena 1999. ISBN 3-437-30803-3 R. S. K. Barnes, P. Calow, P. J. W. Olive, D. W. Golding, J. I. Spicer: The invertebrates – a synthesis. Kap. 3.4.2. Blackwell, Oxford 2001 (3. Aufl.), S. 54. ISBN 0-632-04761-5 R. C. Brusca, G. J. Brusca: Invertebrates. Kap. 8. Sinauer Associates, Sunderland Mass 2003 (2. Aufl.), S. 219. ISBN 0-87893-097-3 J. Moore: An Introduction to the Invertebrates. Kap. 4. Cambridge Univ. Press, Cambridge 2001, S. 30. ISBN 0-521-77914-6 E. E. Ruppert, R. S. Fox, R. P. Barnes: Invertebrate Zoology – A functional evolutionary approach. Kap. 7. Brooks-Cole, Belmont 2004, S. 111. ISBN 0-03-025982-7 W. Schäfer: Cnidaria, Nesseltiere. in: Rieger, Westheide (Hrsg.): Spezielle Zoologie. Teil 1. Einzeller und Wirbellose Tiere. Gustav Fischer, Stuttgart-Jena 1997, Spektrum, Heidelberg 2004. ISBN 3-8274-1482-2 B. Werner: 4. Stamm Cnidaria. in: v. Gruner (Hrsg.): Lehrbuch der speziellen Zoologie. Begr. von Kaestner. 2 Bde. Gustav Fischer, Stuttgart-Jena 1954, 1980, 1984, Spektrum, Heidelberg/Berlin 1993 (5. Aufl.). ISBN 3-334-60474-8 Wissenschaftliche Literatur D. Bridge, B. Schierwater, C. W. Cunningham, R. DeSalle R, L. W. Buss: Mitochondrial DNA structure and the molecular phylogeny of recent cnidaria classes. in: Proceedings of the Academy of Natural Sciences of Philadelphia. Philadelphia USA 89.1992, S. 8750. D. Bridge, C. W. Cunningham, R. DeSalle, L. W. Buss: Class-level relationships in the phylum Cnidaria – Molecular and morphological evidence. in: Molecular biology and evolution. Oxford University Press, Oxford 12.1995, S. 679. D. G. Fautin: Reproduction of Cnidaria (PDF-Datei; 151 kB). in: Canadian Journal of Zoology. Ottawa Ont. 80.2002, S. 1735. G. O. Mackie: What's new in cnidarian biology? (PDF-Datei; 36 kB) in: Canadian Journal of Zoology. Ottawa Ont. 80.2002, S. 1649. P. Schuchert: Phylogenetic analysis of the Cnidaria. in: Zeitschrift für zoologische Systematik und Evolutionsforschung. Paray, Hamburg-Berlin 31.1993, S. 161. G. Kass-Simon, A. A. Scappaticci Jr.: The behavioral and developmental physiology of nematocysts. (PDF-Datei; 3,02 MB) in: Canadian Journal of Zoology. Ottawa Ont. 80.2002, S. 1772. Daly M. et al.: The phylum Cnidaria: A review of phylogenetic patterns and diversity 300 years after Linnaeus. Zootaxa 1668: 127–182 (2007) Weblinks Fautin, Daphne G. and Sandra L. Romano. 1997. Cnidaria. Sea anemones, corals, jellyfish, sea pens, hydra. Version 24 April 1997. The Tree of Life Web Project
93224
https://de.wikipedia.org/wiki/Luise%20von%20Mecklenburg-Strelitz
Luise von Mecklenburg-Strelitz
Luise Herzogin zu Mecklenburg [-Strelitz], bekannt als Königin Luise, vollständiger Name: Luise Auguste Wilhelmine Amalie Herzogin zu Mecklenburg (* 10. März 1776 in Hannover; † 19. Juli 1810 auf Schloss Hohenzieritz), war die Gemahlin König Friedrich Wilhelms III. von Preußen. Zeitgenossen beschrieben sie als schön und anmutig, ihre ungezwungenen Umgangsformen erschienen ihnen eher bürgerlich als aristokratisch. Ihr Leben war eng verknüpft mit den dramatischen Ereignissen im Kampf Preußens gegen Napoleon Bonaparte. Da sie früh starb, blieb sie auch in der Vorstellung der nachfolgenden Generationen jung und schön. Schon zu Lebzeiten wurde sie zum Gegenstand beinahe kultischer Verehrung. Nach ihrem Tod setzte sich diese Tendenz verstärkt fort. Sie wurde als Mutter Kaiser Wilhelms I. zum Symbol für den Wiederaufstieg Preußens und für die Entwicklung hin zum Deutschen Kaiserreich. So liegt ihre historische Bedeutung in der legendären Berühmtheit, die sie als Königin von Preußen tatsächlich hatte. Leben Elternhaus und Kindheit Luises Familienhintergrund war das Ergebnis von Zweckverbindungen des Hochadels über die Grenzen der deutschen Kleinstaaten hinweg. Ihr Vater Herzog Karl zu Mecklenburg [-Strelitz] war ein nachgeborener Prinz aus dem Hause der Herzöge von Mecklenburg-Strelitz. Nach Studium in Genf und einigen Reisen hatte er die repräsentative und gut bezahlte Aufgabe übernommen, das Kurfürstentum Hannover als Gouverneur für seinen Schwager, den britischen König Georg III., zu verwalten. Dieser war zwar in Großbritannien geboren, stammte aber aus dem Haus Hannover und ließ sein deutsches Stammland von London aus regieren. 1768 heiratete Karl in Hannover die 16-jährige Prinzessin Friederike von Hessen-Darmstadt. Fünf ihrer zehn Kinder starben früh, sie selbst überlebte die letzte Niederkunft nur um zwei Tage. Als sie im Alter von 29 Jahren starb, war ihre Tochter Luise, Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz, erst sechs Jahre alt. Der Witwer heiratete die jüngere Schwester der Verstorbenen – Luise erhielt also ihre Tante zur Stiefmutter –, die aber nach nur 15 Monaten ebenfalls im Kindbett starb, nachdem sie ihren Sohn Karl zur Welt gebracht hatte. Wenig später wurden die sechs Kinder getrennt. Die beiden Söhne, Georg und Karl, blieben bei ihrem Vater in Hannover. Charlotte, die älteste der vier Töchter, war seit 1785 mit dem Regenten des kleinen Herzogtums Sachsen-Hildburghausen verheiratet. Die Schwestern Therese, Luise und Friederike wurden 1786 ihrer Großmutter in Darmstadt zur weiteren Erziehung anvertraut. Diese Großmutter war die Witwe des Bruders des regierenden Landgrafen von Hessen-Darmstadt und wurde nach dem Vornamen ihres verstorbenen Gatten volkstümlich „Prinzessin George“ genannt. Sie war eine resolute, kluge alte Dame, die ihren drei Enkelinnen im Alten Palais der kleinen Residenzstadt Darmstadt manche Freiheiten ließ. Luise, als Kind mit Beinamen wie „Jungfer Husch“ und „unsre tolle Luise“ bedacht, war noch als Jugendliche kindlich unbefangen und verspielt. Der Stadtpfarrer von Darmstadt gab den drei Schwestern Konfirmandenunterricht. Für die unumgängliche Ausbildung in der französischen Sprache und in höfischer Etikette sorgte Mademoiselle Salomé de Gélieu, die zuvor im damals preußischen Neuchâtel ein Mädchenpensionat geleitet und in England als Erzieherin in aristokratischen Familien gearbeitet hatte. Zusätzlich erhielten die Prinzessinnen Unterricht in Englisch, Geschichte und Deutsch sowie im Zeichnen und Malen und im Klavierspiel. Luise war keine eifrige Schülerin. Ihre französisch geschriebenen Briefe blieben lebenslang fehlerhaft und erst viel später, in Berlin, ging sie daran, einige der größten Bildungslücken zu schließen. Dort ließ sie sich über Geschichte und Philosophie informieren und bat Freundinnen wie Marie von Kleist und Karoline von Berg, sie bei der Auswahl ihrer Lektüre zu unterstützen. Frau von Berg (1760–1826), ihre Hofdame, Mentorin und Vertraute, führte einen literarischen Salon in ihrer Villa am Berliner Tiergarten und korrespondierte mit Berühmtheiten wie Goethe, Herder, Jean Paul und dem Reichsfreiherrn vom und zum Stein. Von ihr erhielt Luise Hinweise zur zeitgenössischen Literatur, von ihr erbat sie Texte „von denen Sie annehmen, daß sie mir gefallen und mir am meisten nützen“. In einem Brief an Marie von Kleist, die Cousine des Dichters Heinrich von Kleist, werden ihre literarischen Neigungen deutlich: „Möge Gott mich davor bewahren, meinen Geist zu pflegen und mein Herz zu vernachlässigen“; sie würde eher „alle Bücher in die Havel werfen“, als den Verstand über das Gefühl zu stellen. Das Leben der Prinzessinnen in Darmstadt wurde unterbrochen durch häufige Besuche bei den zahlreichen Verwandten aus hessischen und mecklenburgischen Adelshäusern, durch Reisen nach Straßburg und in die Niederlande. Oft hielt man sich in Frankfurt am Main auf, wo die ältere Schwester Therese seit 1787 mit dem damals noch nicht ganz standesgemäßen, aber sehr reichen späteren Fürsten Karl Alexander von Thurn und Taxis verheiratet war. Mehrmals machten die 14-jährige Luise und ihre jüngere Schwester Friederike Besuche im Hause der Frau Rat Catharina Elisabeth Goethe, der Mutter des berühmten Dichters; Jahre später schrieb diese ihrem Sohn darüber nach Weimar: „Das Zusammentreffen mit der Prinzessin von Mecklenburg hat mich außerordentlich gefreut … von einer steifen Hofetikette waren sie da in voller Freyheit – tantzend – sangen und sprangen den gantzen Tag …“ In Frankfurt war man auch 1792 anlässlich der Krönungsfeierlichkeiten für Franz II., den letzten Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, der 1804 als Franz I. erster Kaiser Österreichs wurde. Den Festball in der Botschaft Österreichs eröffnete Luise gemeinsam mit dem jungen Reichsgrafen Klemens von Metternich, dem später berühmten Diplomaten und Staatsmann. Anfang März 1793 wurden die beiden Schwestern, jetzt 17 und 15 Jahre alt, in Frankfurt dem preußischen König Friedrich Wilhelm II. vorgestellt, der brieflich über diese Begegnung berichtete: „Wie ich die beiden Engel zum ersten Mal sah, es war am Eingang der Komödie, so war ich so frappirt von ihrer Schönheit, daß ich ganz außer mir war, als die Großmutter sie mir präsentirte. Ich wünschte sehr, daß meine Söhne sie sehen möchten und sich in sie verlieben […] Ich machte mein möglichstes, daß sie sich öfter sahen und sich recht kennen lernten. […] Sie gaben sich das Jawort und die Versprechung wird bald vor sich gehen, vermuthlich in Mannheim. Der älteste heirathet die älteste und der jüngste die jüngste.“ Zum ersten Mal traf Luise den „ältesten“, den 22-jährigen Kronprinzen Friedrich Wilhelm am 14. März 1793, am 19. März machte er seinen persönlichen Heiratsantrag und am 24. April fand in Darmstadt die offizielle Verlobung statt. Im Ehevertrag wurde festgehalten, dass Luise eine bestimmte Summe „zu selbsteigener Disposition“ erhalten sollte, die sich bei der Geburt eines Sohnes deutlich erhöhen würde; für eine Tochter war nichts dergleichen vorgesehen. Inzwischen war auch Prinz Louis, der „jüngste“, mit Luises Schwester Friederike verlobt, widerwillig allerdings und nur aus Gründen der Staatsräson – er war schon anderweitig, aber unter seinem Stand verliebt. Die Doppelhochzeit wurde für die Weihnachtstage 1793 vereinbart. Die Kronprinzessin Am 22. Dezember trafen die Schwestern in der festlich geschmückten Stadt Berlin ein. Ein kleines, weißgekleidetes Mädchen begrüßte die Prinzessinnen mit einem Gedicht, Luise hob das Kind hoch, küsste es – und reagierte erkennbar verständnislos, als man ihr sagte, dass ein solches Verhalten ihrer hohen Stellung nicht angemessen sei. Dieser Vorfall, vielfach weitererzählt, gab den ersten Anstoß zur außerordentlichen Beliebtheit Luises bei der Berliner Bevölkerung. Am 24. Dezember 1793 wurde sie mit dem Kronprinzen nach altem Hofzeremoniell im Weißen Saal des Berliner Schlosses getraut. Nach Berichten von Augenzeugen wirkte der Bräutigam, sonst eher schüchtern und introvertiert, an diesem Tag heiter und ausgelassen. Zwei Tage später heirateten Friederike und Prinz Louis. Die Paare bezogen zwei benachbarte Gebäude an der Straße Unter den Linden, das Kronprinzenpalais und das später so genannte Prinzessinnenpalais. Hier entstand 1795 die berühmte „Prinzessinnengruppe“ des Bildhauers Gottfried Schadow, von König Friedrich Wilhelm II. in Auftrag gegeben. Der Künstler hatte vorübergehend einen Arbeitsraum im Kronprinzenpalais, sah die Schwestern häufig und durfte sogar „nach der Natur“ ihre Maße nehmen. Luises Mann, der Kronprinz, war allerdings mit der natürlichen, trotz reichlichen Faltenwurfs recht körperbetonten Darstellung unzufrieden. Zudem wurde die inzwischen verwitwete Friederike noch im Trauerjahr schwanger, wurde deswegen „in höchster Eile“ verheiratet und musste den Hof und Berlin verlassen. Als Luise Königin geworden war, verschwand die Skulptur daher für Jahrzehnte aus der Öffentlichkeit. Sie ist heute auf der Museumsinsel in Berlin zu sehen. Das Leben am preußischen Hof verlangte von Luise ein hohes Maß an Anpassung an unbekannte Personen, Regeln und Pflichten. Ihr ungezwungenes Naturell stand dabei manches Mal im Wege. Als Oberhofmeisterin wurde ihr eine erfahrene Hofdame zur Seite gestellt, die Gräfin Sophie Marie von Voß. Sie war 64 Jahre alt, als Luise in Berlin eintraf, und stand seit Jahrzehnten im Dienste des Königshauses. Nach anfänglichen Konflikten zwischen ihrer strengen Berufsauffassung und Luises Neigung zu unkonventionellem Verhalten war sie der Kronprinzessin und späteren Königin eine unentbehrliche Lehrmeisterin in höfischer Etikette und blieb ihr bis zuletzt eine vertraute Ratgeberin und Freundin. Zu einer weiteren Vertrauten wurde ihre Erste Hofdame, die unverheiratete Henriette von Viereck (1766–1854), die als junge Frau einst zu den Favoritinnen Friedrich Wilhelms II. gezählt hatte und 1834 zur Gräfin erhoben werden sollte. Hilfreich für Luises Eingewöhnung in die neue Situation war, dass Friedrich Wilhelm im privaten Bereich jede Art von hergebrachter Förmlichkeit ablehnte. Das Paar pflegte einfache, in diesen Kreisen ungewöhnliche Umgangsformen. Man duzte sich und sprach voneinander als von „meinem Mann“ und „meiner Frau“. Spaziergänge ohne Gefolge auf der Straße Unter den Linden, Besuche von Volksbelustigungen wie dem Berliner Weihnachtsmarkt und dem „Stralauer Fischzug“ entsprachen offensichtlich ihren persönlichen Neigungen und wurden von der Bevölkerung beifällig zur Kenntnis genommen. Ihr Hang zur Einfachheit bestimmte auch die Auswahl der Wohnsitze. In Berlin zogen sie das Kronprinzenpalais dem Schloss vor, die Sommermonate verbrachten sie vorzugsweise nahe der Residenzstadt Potsdam im Schloss Paretz, einem frühklassizistischen Landschloss, welches für seine Papiertapeten berühmt ist. Das einfache Schloss, das wegen seiner Lage von Zeitgenossen auch den Beinamen „Schloss Still-im-Land“ erhielt, bot Friedrich Wilhelm Erholung von seinen Amtsgeschäften und Luise die Landluft und Ruhe, die sie besonders während ihrer zahlreichen Schwangerschaften schätzte. Als Mutter erfüllte Luise alle Erwartungen, die an sie gestellt wurden. In knapp 17 Ehejahren brachte sie zehn Kinder zur Welt, sieben von ihnen erreichten das Erwachsenenalter – eine für damalige medizinisch-hygienische Verhältnisse überdurchschnittlich hohe Quote –, einige gelangten in höchste Positionen. Ihr ältester Sohn Friedrich Wilhelm war von 1840 bis 1861 König von Preußen, der Nächstgeborene Wilhelm folgte seinem Bruder auf dem Thron und wurde 1871 Deutscher Kaiser. Die Tochter Friederike Charlotte heiratete 1817 den Thronfolger Nikolaus von Russland und wurde so 1825 unter dem Namen Alexandra Fjodorowna russische Zarin. Die Kinder waren immer in der Nähe der Eltern aufgewachsen. Obwohl ihre Bildung weitgehend angestellten Erziehern überlassen wurde und das Verhältnis des Königs zu den Kindern zuweilen als recht distanziert beschrieben wird, bot man doch das Bild einer kinderreichen, glücklichen Familie, ein Muster für die entstehende bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Die junge Königin Am 16. November 1797 starb Friedrich Wilhelm II. Sein Tod wurde in Preußen nicht nur betrauert. Mit seiner unglücklichen Außenpolitik, mit Mätressenwirtschaft und Verschwendungssucht hatte er das Land und dessen Ansehen stark beschädigt. Sein Sohn, Friedrich Wilhelm III., war bei Regierungsantritt erst 27 Jahre alt, schüchtern in der Öffentlichkeit und sprachlich wenig ausdrucksfähig, unschlüssig vor Entscheidungen und kaum darauf vorbereitet, ein problembeladenes Königreich in schwieriger Zeit zu regieren; an seiner Seite wurde Luise mit 21 Jahren Königin. Die letzte wichtige außenpolitische Handlung Friedrich Wilhelms II. war der separate Friedensschluss von Basel 1795. Preußen verließ die Allianz, die sich im Ersten Koalitionskrieg gegen Frankreich formiert hatte, die linksrheinischen Landesteile gingen verloren, das nördliche Deutschland wurde für neutral erklärt. Der auf diese Weise erkaufte Frieden verschaffte Preußen und Norddeutschland zehn „stille Jahren“, wie sie im Rückblick genannt wurden. Die Innenpolitik des neuen Königs war bestimmt durch strikte Sparsamkeit, zu den überfälligen, grundlegenden Reformen in Verwaltung und Armee konnte er sich nicht entschließen. Nach außen setzte er auf Neutralität um beinahe jeden Preis. Sorgen bereitete Luises Schwester Friederike, zu der die Königin seit jeher ein besonders enges Verhältnis gehabt hatte. Prinzessin Louis, wie sie seit ihrer Heirat genannt wurde, war nach einer kurzen, lieblosen Ehe 1796 mit 18 Jahren Witwe geworden. In ihrem Witwensitz Schloss Schönhausen hatte sie zahlreiche Affären. „Sie weiß sich nur zu gut zu trösten“, schrieb die Gräfin Voß in ihr Tagebuch. Schließlich kam es zum Eklat: Friederike erwartete ein uneheliches Kind. Luise erfuhr erst spät, kurz vor Weihnachten 1798 davon und war vor allem von dem Mangel an Vertrauen ihr gegenüber tief enttäuscht. Friederike musste eilig den Prinzen Solms-Braunfels, den mutmaßlichen Kindsvater, heiraten, sie verlor Titel und Hofstaat, das Paar hatte Berlin zu verlassen, die beiden Kinder aus erster Ehe blieben in der Hauptstadt. In einer dritten Ehe mit dem Herzog von Cumberland wurde Friederike schließlich 1837 Königin von Hannover. Zu der beim Regierungsantritt eines preußischen Königs erforderlichen Huldigung im Königreich Preußen brach Friedrich Wilhelm erst am 24. Mai 1798 auf. Er wollte Luise bei sich haben, aber nicht im Winter reisen. Weil die im siebten Monat schwangere Luise langsamer war, fuhren beide zeitweise getrennt durch Pommern nach Danzig, dann gemeinsam weiter nach Königsberg. Dort fand am 5. Juni im Königsberger Schloss die Huldigung statt. Anschließend reiste das Paar über Warschau nach Schlesien. Im Jahr 1799 folgten von Mai bis Juli die westlichen Landesteile, Ansbach-Bayreuth und Thüringen. Im August 1800 wurde die Schneekoppe in Schlesien erstiegen, eine Exkursion, die Luise später als ein besonders glücklicher Moment ihres Lebens bezeichnete. Die Bevölkerung zeigte sich auf allen diesen Reisen begeistert über die äußere Erscheinung und das Auftreten der Königin. Ähnliche Begeisterung rief sie auch in der Hauptstadt hervor, auch unter den Angehörigen des Diplomatischen Corps. Ein Sekretär der britischen Gesandtschaft schrieb seinen Schwestern: „In der Berliner Gesellschaft, besonders unter den jüngeren Leuten, herrscht ein Gefühl ritterlicher Ergebenheit gegen die Königin […] Wenige Frauen sind mit so viel Lieblichkeit begabt als sie […] Doch ich muß inne halten, oder ihr werdet denken, daß mir der Kopf verdreht ist, wie es schon so viele Köpfe sind, durch die Schönheit und Anmuth der Königin Luise von Preußen.“ Inzwischen hatte der Druck Napoleons auf Norddeutschland wieder zugenommen. Ein Bündnis Preußens mit Russland schien ein geeignetes Gegenmittel zu sein. Im Mai und Juni 1802 hielten sich Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise in Memel auf und trafen dort mit Zar Alexander I. von Russland zusammen. Die politisch recht bedeutungslose Begegnung hat dennoch in Luises Lebensbeschreibungen nachhaltige Spuren hinterlassen. Die Königin war höchst beeindruckt von dem jungen Zaren. In ihren Aufzeichnungen liest man: „Der Kaiser ist einer der seltenen Menschen, die alle liebenswürdigen Eigenschaften mit allen echten Vorzügen vereinigen […] Er ist wunderbar gut gebaut und von sehr stattlicher Erscheinung. Er sieht aus wie ein junger Herkules.“ Der Zar seinerseits war von Luise fasziniert. Friedrich Wilhelm III. reagierte nicht eifersüchtig, sondern stolz, wie immer, wenn seine Frau bewundert wurde. Mehrere Biografen deuten die Frage an, ob zwischen Luise und Alexander ein intimes Verhältnis bestanden haben könnte. Die Antwort ist immer: mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht. In den Jahren 1803 bis 1805 führten verschiedene Reisen das Königspaar in die fränkischen Besitzungen, nach Darmstadt, nach Thüringen und Schlesien. Vom 25. Oktober bis zum 4. November 1805 war Zar Alexander in Potsdam, um den König für ein neues Kriegsbündnis zu gewinnen, das Österreich und Russland gegen Napoleon geschlossen hatten. Friedrich Wilhelm III. zögerte, befahl aber vorsorglich die Mobilmachung. Im Dezember 1805 wurden Russen und Österreicher in der Dreikaiserschlacht bei Austerlitz geschlagen. Im Juni und Juli 1806 waren Friedrich Wilhelm und Luise zur Kur in Bad Pyrmont – spätestens hier endeten die „stillen Jahre“ in Preußen. Krieg und Flucht Am 12. Juli 1806 wurde in Paris der Vertrag über den Rheinbund geschlossen, Napoleon dehnte seinen Einflussbereich im deutschen Gebiet erheblich aus. Preußen fühlte sich provoziert, der König war jedoch noch immer unentschlossen; erst auf Drängen verschiedener Berater wie Minister Freiherr vom Stein, Generalleutnant Ernst von Rüchel und Prinz Louis Ferdinand von Preußen sowie unter dem Einfluss seiner Frau, die in Napoleon ein „moralisches Ungeheuer“ sah, änderte er seine Meinung und erklärte Frankreich am 9. Oktober 1806 den Krieg. Als Mittelpunkt dieser sogenannten „Kriegspartei“ erreichte Luise von Mecklenburg-Strelitz wohl den Höhepunkt ihres politischen Einflusses. Nur fünf Tage später erlitten die schlecht geführten, getrennt kämpfenden preußischen Truppen bei Jena und Auerstedt vernichtende Niederlagen, die Reservearmee wurde bei Halle geschlagen und fast alle befestigten Städte ergaben sich kampflos. Am 27. Oktober 1806 zog Napoleon als Sieger in Berlin ein. Friedrich Wilhelm III. und Luise hatten sich in der Nähe des Kriegsschauplatzes aufgehalten, im Chaos des Zusammenbruchs mussten sie sich auf getrennten Wegen retten. Luise gelangte mit den Kindern, ihrem Leibarzt Christoph Wilhelm Hufeland und der Gräfin Voß über mehrere Zwischenstationen – Auerstedt, Weimar und Blankenhain – nach Königsberg. Dort erkrankte sie schwer am „Nervenfieber“, wie man damals den Typhus nannte. Noch während ihrer Krankheit drohte Napoleon mit seiner Armee Königsberg zu erreichen. Hufeland bot an, mit der Königin zurückzubleiben, sie lehnte ab: „Ich will lieber in die Hände Gottes fallen, als dieses Menschen.“ Als Fluchtort kam nur noch Memel im äußersten Nordosten des Landes in Frage. Bei starkem Frost und Schneetreiben musste die Gruppe um die schwerkranke Luise den Weg über die Landzunge der Kurischen Nehrung zurücklegen, die im Winter kaum passierbar war. Nach drei anstrengenden Tagen und höchst unbequemen Nächten war das Ziel erreicht, und Hufeland stellte überrascht sogar eine gewisse Besserung im Befinden der Königin fest. Auch diese Episode gehört, mehr oder weniger dramatisch erzählt oder illustriert, zum festen Bestand aller Biografien und Legenden über Luise, ebenso wie ihr Zusammentreffen mit Napoleon. Luise und Napoleon in Tilsit Friedrich Wilhelm III. gelangte auf anderen Wegen nach Memel, dort traf das Königspaar auch mit dem russischen Zaren zusammen, der seine unbedingte Unterstützung zusagte. Aber am 14. Juni 1807 besiegte Napoleon in der Schlacht bei Friedland die Armee Alexanders zusammen mit den letzten Resten der preußischen Truppen. Die anschließenden Friedensverhandlungen fanden in einem Prunkzelt auf einem Floß im Fluss Memel (Njemen) statt. Der preußische König war zunächst nur als Randfigur zugelassen, als Russland seinen Sonderfrieden mit Napoleon abschloss. Weil vorauszusehen war, wie rücksichtslos der französische Kaiser mit dem schon zuvor besiegten Preußen umgehen würde, unterbreitete der preußische Unterhändler Graf Kalckreuth dem König seine Ansicht „dass es von guter Wirkung sein würde, wenn Ihre Majestät die Königin hier sein könnten, und zwar je eher, je lieber“. Nun hatte aber Friedrich Wilhelm seiner Frau kurz zuvor nach Memel geschrieben, wie er Napoleon erlebt hatte: „Ich habe ihn gesehen, ich habe mit diesem von der Hölle ausgespienen Ungeheuer, das von Beelzebub gebildet wurde, um die Plage der Erde zu werden, gesprochen! […] Nein, niemals habe ich eine härtere Prüfung erfahren …“ Trotzdem leitete er den Vorschlag Kalckreuths weiter. Luise antwortete: „Ihr Brief mit der Beilage von K. erreichte mich gestern abend spät. Sein Inhalt hatte die Wirkung, die Sie vorausgesehen haben. Dennoch hat mein Entschluß im selben Augenblick festgestanden. Ich eile, ich fliege nach Tilsit, wenn Sie es wünschen.“ Die Begegnung mit Napoleon fand am 6. Juli 1807 in Tilsit statt, im Haus des Justizkommissionsrats Ernst Ludwig Siehr, Deutsche Straße 24, das Napoleon während der Friedensverhandlungen bewohnte. Luise trug ein silberdurchwirktes weißes Kreppkleid und wirkte auf Augenzeugen, trotz ängstlichster Spannung, schöner als je zuvor. Der leitende Minister Karl August von Hardenberg hatte sie eingehend auf die Unterhaltung vorbereitet. Er hatte ihr geraten, liebenswürdig zu sein, vor allem als Ehefrau und Mutter zu sprechen und keinesfalls ein betont politisches Gespräch zu führen. Die Königin erlebte eine Überraschung. Statt des gefürchteten Ungeheuers stand ihr mit Napoleon ein beeindruckender, offensichtlich hochintelligenter, angenehm plaudernder Mann gegenüber. Luise bat um maßvolles Vorgehen bei den Friedensbedingungen, Napoleon blieb unbestimmt in seinen Antworten, machte der Königin jedoch Komplimente wegen ihrer Garderobe. Als er fragte, wie die Preußen so unvorsichtig sein konnten, ihn anzugreifen, gab Luise die oft zitierte Antwort: „Der Ruhm Friedrichs des Großen hat uns über unsere Mittel getäuscht.“ Später äußerte sie sich positiv über ihre persönlichen Eindrücke bei der Unterredung. Und da auch der Kaiser sich beeindruckt zeigte, endete hier jedenfalls die Zeit gegenseitiger Beleidigungen – abgesehen von einer späteren Bemerkung Napoleons, wonach er geglaubt habe, „Hardenbergs Papagei“ zu hören. Zuvor hatte Napoleon sich wiederholt und öffentlich sehr abfällig über Luise geäußert – sie trage Schuld am Ausbruch des Krieges, sei „eine Frau mit hübschen Zügen, aber wenig Geist … Schrecklich muss sie von Gewissensbissen geplagt werden wegen der Leiden, die sie über ihr Land gebracht hat.“ Nach der Besetzung Berlins hatte er Teile ihrer dort aufgefundenen Privatkorrespondenz veröffentlichen lassen; Luise ihrerseits hatte aus ihrer tiefen Abneigung gegen Napoleon, aus ihrer Überzeugung von dessen Amoralität nie ein Geheimnis gemacht. Konkrete Zugeständnisse erreichte die Königin nicht. Über das etwa einstündige Gespräch unter vier Augen berichtete der Kaiser seiner Frau Josephine nach Paris: „Die Königin von Preußen ist wirklich bezaubernd, sie ist voller Koketterie zu mir. Aber sei ja nicht eifersüchtig, ich bin eine Wachsleinwand, an der alles nur abgleiten kann. Es käme mir teuer zu stehen, den Galanten zu spielen.“ Tatsächlich waren die Bedingungen des Friedens von Tilsit vom 9. Juli 1807 für Preußen überaus hart. Der Staat verlor die Hälfte seines Territoriums und seiner Bevölkerung – alle Gebiete westlich der Elbe und die polnischen Besitzungen. Ein französisches Besatzungsheer musste versorgt werden. Die Zahlungsverpflichtungen von 400 Millionen Talern überstiegen bei weitem die Leistungsfähigkeit des Landes. Immerhin blieb Preußen als Staat erhalten – dank der Fürsprache des Zaren, dem sehr an einem Pufferstaat zwischen seinem Reich und Napoleon gelegen war. Napoleon berichtet über den Bittgang der Königin: In Ostpreußen Nach dem demütigenden Friedensschluss sah Luise ihre Hauptaufgabe darin, den König, der oft verzweifelt war und von Abdankung sprach, aufzurichten und ihm durch ein glückliches Familienleben Rückhalt zu geben. Sie selbst schwankte zwischen Niedergeschlagenheit und Hoffnung. Im April 1808 schrieb sie in einem Brief an ihren Vater: „Für mein Leben hoffe ich nichts mehr … Die göttliche Vorsehung leitet unverkennbar neue Weltzustände ein und es soll eine andere Ordnung der Dinge werden, da die alte sich überlebt hat … und zusammenstürzt. Wir sind eingeschlafen auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen … Es kann nur gut werden in der Welt durch die Guten … deshalb bin ich der Hoffnung, dass auf die jetzige böse Zeit eine bessere folgen wird …“ Noch dauerte die „böse Zeit“ in Königsberg an. Luise entbehrte die Geselligkeit von Berlin und vertrug das raue ostpreußische Klima nicht. Sie litt unter fiebrigen Erkältungen, Kopfschmerzen und Atemnot. In einem Brief an den Bruder klagte sie: „Das Klima Preußens ist … abscheulicher, als es sich ausdrücken lässt. … Meine Gesundheit ist völlig zerstört.“ Weil eine Rückkehr in das französisch besetzte Berlin dem preußischen König und seiner Familie als unmögliche Zumutung galt, regierte er den Staat von Königsberg aus. Freiherr vom Stein brachte die ersten, dringenden Reformen auf den Weg: 1807 die Bauernbefreiung, 1808 die Städtereform. Scharnhorst, Gneisenau und Boyen leiteten die Preußische Heeresreform. Luise war mit Einzelheiten dieser Neuerungen kaum befasst. Mit dem meist schroffen und cholerischen Stein hatte sie nur wenige Gemeinsamkeiten und notierte: „Er hält mich ohnehin für ein Weibchen, das sehr oberflächlich ist.“ Stein, der das eigene Gehalt und das seiner Beamten um die Hälfte kürzte, verlangte auch vom königlichen Haushalt kräftige Einsparungen. Bis auf den Schmuck der Königin wurde alles Entbehrliche verkauft. Im Winter 1808/1809 unternahm das Königspaar auf Einladung des Zaren eine achtwöchige Reise nach Sankt Petersburg. Stein hatte sich vergeblich gegen die Vergnügungsreise ausgesprochen und darauf hingewiesen, dass jeder verfügbare Geldbetrag im kriegszerstörten Ostpreußen dringend gebraucht werde. Luise genoss die Bälle, Diners und sonstigen gesellschaftlichen Veranstaltungen im Winterpalast. Sie sah den Kontrast zu ihrer eigenen Situation: „Es regnete Diamanten … Die Pracht jeder Art übersteigt alle Begriffe. Was es hier an Silberzeug, Bronzen, Spiegeln, Kristallen, Gemälden und Marmorstatuen gibt, ist enorm.“ Die Begegnungen Luises mit Zar Alexander I. verliefen, verglichen mit der gelösten Atmosphäre bei früheren Anlässen, recht kühl. Rückkehr Nach dem Abzug der Franzosen aus Berlin im Dezember 1808 hatte der König zunächst eine Rückkehr nach Berlin vermieden, um das Vorübergehende der Situation Preußens zu unterstreichen. Erst nach dem Scheitern der Erhebung Österreichs 1809 kehrte die königliche Familie am 23. Dezember 1809 in die Hauptstadt zurück. Der Empfang durch die Berliner war überwältigend herzlich, sowohl bei der Ankunft am Schloss als auch während einer abendlichen Spazierfahrt durch die festlich illuminierte Stadt. Eine Vielzahl von Empfängen und Festessen, von Theater- und Opernaufführungen schloss sich an. Erstmals wurden zu solchen Festen auch nicht adlige Offiziere und bürgerliche Familien eingeladen. Im Hinblick auf die unverändert düstere politische Lage schrieb Luise am 27. Januar 1810 in einem Brief an Hardenberg: „Wir sind immer noch höchst unglücklich. Indessen ist das Leben hier in Berlin erträglicher als in Königsberg. Es ist wenigstens ein glänzendes Elend mit schönen Umgebungen, die einen zerstreuen, während es in Königsberg wirklich ein wirkliches Elend war.“ Luise beteiligte sich aktiv an den Bemühungen, Hardenberg wieder in den preußischen Staatsdienst zu stellen, den er auf Betreiben Napoleons nach dem Frieden von Tilsit hatte verlassen müssen. In ihm sah sie den Berater, den ihr häufig unschlüssiger Mann brauchte. Trotz weiter bestehender Vorbehalte stimmte Napoleon schließlich zu – nur Hardenberg traute er zu, die enormen Kriegskontributionen aufzubringen, mit denen er Preußen belastet hatte. Letzte Reise und Tod Eine geplante Sommerreise nach Bad Pyrmont, wo Luise ihre Gesundheit wiederherzustellen hoffte, musste abgesagt werden, aus finanziellen wie aus politischen Gründen: Preußen war praktisch bankrott und in Pyrmont hielten sich damals zwei Brüder Napoleons auf. Statt dieser Reise wurde ein Ausflug nach Neustrelitz beschlossen, wo seit 1794 Luises Vater als Herzog regierte. Auch die Prinzessin George, die Großmutter aus Darmstadt, lebte inzwischen dort. Die Gräfin Voß, schon über achtzig Jahre alt, nahm an der Exkursion teil. In einem Brief an den Vater wird deutlich, wie sehr Luise sich auf diesen Familienbesuch freute: „Ich glühe vor Freude und schwitze wie ein Braten.“ Am 25. Juni 1810 kam sie in Neustrelitz an, der König wollte sich später einfinden. Nach kurzem Aufenthalt in der Residenzstadt zog man um nach Schloss Hohenzieritz, in die herzogliche Sommerresidenz. Nach zwei früheren Kurzbesuchen des Vaters in Hohenzieritz (1796 und 1803) war Luise zum dritten Mal im Land ihrer Vorfahren, dessen Namen sie im Fürstentitel führte. Für den 30. Juni 1810 war ein Abstecher nach Rheinsberg beabsichtigt; die Fahrt musste jedoch ausfallen, Luise blieb fiebernd im Bett. Der örtliche Arzt diagnostizierte eine Lungenentzündung, die aber nicht lebensbedrohlich sei. Auch der aus Berlin herbeigerufene Leibarzt des Königs, Ernst Ludwig Heim, fand keinen Anlass zu ernster Besorgnis. Am 16. Juli wurde er abermals konsultiert, weil sich die Symptome – Erstickungsanfälle und Kreislaufstörungen – heftig verschlimmert hatten. Mit Eilkurier ließ die Gräfin Voß den König in Berlin benachrichtigen, kurz vor fünf Uhr am Morgen des 19. Juli 1810 traf er mit seinen beiden ältesten Söhnen in Hohenzieritz ein. Vier Stunden später starb Luise. Sie war 34 Jahre alt. Bei der Obduktion ergab sich, dass ein Lungenflügel zerstört war, auch fand man eine Geschwulst im Herzen. Gräfin Voß schrieb dazu in ihr Tagebuch: „Die Ärzte sagen, der Polyp im Herzen sei eine Folge zu großen und anhaltenden Kummers.“ Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurde der Leichnam nach Berlin überführt, drei Tage im Berliner Stadtschloss aufgebahrt und am 30. Juli im Berliner Dom beigesetzt. Fünf Monate später, am 23. Dezember 1810, fand Luise ihre letzte Ruhestätte in einem Mausoleum, das inzwischen von Heinrich Gentz unter Mitarbeit von Karl Friedrich Schinkel im Park des Schlosses Charlottenburg neu errichtet worden war. Die Grabskulptur der Königin, ein Meisterwerk der Berliner Bildhauerschule, schuf Christian Daniel Rauch zwischen 1811 und 1814; Friedrich Wilhelm III. begleitete den Entstehungsprozess intensiv mit vielen Wünschen und Vorschlägen. Er selbst wurde 1840 an gleicher Stelle beigesetzt. Das Mausoleum entwickelte sich zum nationalen Wallfahrtsort und zur wichtigsten Kultstätte der Luisen-Verehrung. Nachkommen Totgeburt einer Tochter (*† 7. Oktober 1794) Friedrich Wilhelm (* 15. Oktober 1795; † 2. Januar 1861), König ab 1840, ⚭ 1823 Prinzessin Elisabeth Ludovika von Bayern Wilhelm (* 22. März 1797; † 9. März 1888), König ab 1861, Deutscher Kaiser ab 1871, ⚭ 1829 Prinzessin Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach Charlotte (* 13. Juli 1798; † 1. November 1860), als Alexandra Fjodorowna ⚭ 1817 Zar Nikolaus I. von Russland Friederike (* 14. Oktober 1799; † 30. März 1800) Carl (* 29. Juni 1801; † 21. Januar 1883) ⚭ 1827 Prinzessin Marie von Sachsen-Weimar-Eisenach Alexandrine (* 23. Februar 1803; † 21. April 1892) ⚭ 1822 Großherzog Paul Friedrich von Mecklenburg-Schwerin Ferdinand (* 13. Dezember 1804; † 1. April 1806) Luise (* 1. Februar 1808; † 6. Dezember 1870) ⚭ 1825 Prinz Friedrich der Niederlande Albrecht (* 4. Oktober 1809; † 14. Oktober 1872) ⚭ 1830 Prinzessin Marianne von Oranien-Nassau ⚭ 1853 Rosalie von Rauch, spätere Gräfin von Hohenau, Tochter des preußischen Kriegsministers und Generals der Infanterie Gustav von Rauch und dessen zweiter Ehefrau Rosalie, geborene von Holtzendorff Zu ihren Nachfahren gehören König Harald V., Königin Margrethe II., König Carl XVI. Gustav, König Felipe VI. und Prinz Philip. Rezeption Erste Formen öffentlichen Gedenkens Schon am 29. Juli 1810, zehn Tage nach Luises Tod, stellte die Bürgerschaft von Gransee den Antrag, ein Denkmal für Luise an jener Stelle zu errichten, wo der Leichenzug auf dem Wege nach Berlin in ihrem Ort nachts gehalten hatte. Der König stimmte zu, jedoch unter der Bedingung, dass nur freiwillige Beiträge, keine öffentlichen Gelder dafür verwendet werden sollten. Karl Friedrich Schinkel lieferte den Entwurf, die Königlich Preußische Eisengießerei in Berlin stellte das Denkmal her, die Einweihung fand am 19. Oktober 1811 statt. Bald darauf gab Friedrich Wilhelm III. den Anstoß zum Gedenken an die Verstorbene in offizieller Form. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich Gesten der Verehrung eher spontan, aus der Zuneigung der Bevölkerung heraus entwickelt. 1813 stiftete der König das Eiserne Kreuz, als Stiftungsdatum bestimmte er rückwirkend den 10. März, den Geburtstag Luises. Er selbst fertigte einen Entwurf an, Schinkel führte ihn aus. 1814 wurde der Louisenorden gestiftet, eine Auszeichnung, die für besondere Verdienste ausschließlich an Frauen verliehen wurde. Der Mythos Die bürgerliche Königin Die Geschichte der mythischen Verklärung Luises ist auch eine Geschichte wechselnder Motive. Zu Beginn waren es neben ihrer Schönheit und Anmut vor allem die Anzeichen von Einfachheit und Herzlichkeit, die als bürgerliche Tugenden begriffen wurden und ihr Beifall und Verehrung einbrachten. Die besondere Intensität dieser Verehrung lässt sich verstehen vor dem Hintergrund der Französischen Revolution und ihres Verlaufs. Das aufgeschlossene Bürgertum in Deutschland hatte durchaus Sympathien für die anfänglichen Vorstellungen der Revolutionäre. Als deren Forderungen schließlich in Gewalt und Terror mündeten, schlug die Stimmung in Deutschland um. Man wollte Reformen, aber ohne Gewalt. Man wünschte sich die Anerkennung bürgerlicher Wertvorstellungen, aber „von oben“, im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie. Für diese Hoffnungen schienen Luise und ihre Familie ideale Leitbilder zu sein. Bedeutende Dichter und Schriftsteller der Zeit – Novalis, Heinrich von Kleist, Jean Paul, August Wilhelm Schlegel und andere – huldigten der jungen Königin. Vor allem Novalis erregte Aufsehen mit seinem programmatischen Aufsatz Glaube und Liebe oder Der König und die Königin, der im Sommer 1798 in der neu gegründeten Monatszeitschrift Jahrbücher der Preußischen Monarchie unter der Regierung von Friedrich Wilhelm III. erschien. Er hatte seinem Text eine Reihe von überschwänglichen Gedichten an das Königspaar vorangestellt. In den anschließenden Prosa-Fragmenten entwarf Novalis das Bild einer Gesellschaft, in der Familie und Staat, Bürgertum und Monarchie durch Glaube und Liebe miteinander verbunden wären. Der König würde das Land reformieren, die Künste und die Wissenschaften fördern. Die Königin wäre in Schönheit, Sittlichkeit und häuslicher Tätigkeit das Identifikationsobjekt für alle Frauen, ihr Porträt sollte in allen Wohnzimmern hängen. Friedrich Wilhelm III. lehnte den Text ab. Sich selbst, seine Fähigkeiten und Absichten konnte er darin nicht wiedererkennen, Schmeicheleien mochte er nicht, und eine Monarchie auf parlamentarischer Grundlage entsprach nicht seinen Vorstellungen. Die geplante Fortsetzung des Aufsatzes in den Jahrbüchern ließ Friedrich Wilhelm nicht zu. Dennoch blieben Luise und er Hoffnungsträger für die Bürger Preußens. Im Vergleich der zahlreichen Bilder, die von Luise bis zu ihrem Tod 1810 gemalt wurden, wird deutlich, dass kaum ein Porträt dem anderen gleicht. Diese Besonderheit war auch Zeitgenossen aufgefallen. In den Berliner Abendblättern vom 6. Oktober 1810 fand man eine Erklärung: „Bey Lebzeiten Ihrer Majestät ist es keinem Mahler gelungen, ein nur einigermaßen ähnliches Bild von Ihr hervorzubringen. Wer hätte es auch wagen dürfen, diese erhabene und doch so heitere Schönheit … wiedergeben zu wollen?“ Nach ihrem Tod, nachdem „die niederschlagende Vergleichung mit dem unerreichbaren Original nicht mehr stattfinden kann“, seien genauere Bilder möglich geworden. Solchen späteren Darstellungen lagen häufig Kopien der Totenmaske Luises zugrunde, die der herzogliche Architekt und Hofbildhauer Christian Philipp Wolff in Hohenzieritz abgenommen hatte. Die Märtyrerin Mit der Niederlage Preußens gegen Napoleon trat ein neues Motiv in den Vordergrund des Luisen-Kults: die Bewährung in schwerer Zeit, die Verwandlung der anmutigen, lebensfrohen und bürgernahen Schönheit in eine anbetungswürdige Dulderin. Die Begriffe „Opfer“ und „Leiden“ waren zentrale Kategorien, die von Historikern und Künstlern jener Zeit benutzt wurden, um Luises Rolle auszudeuten: Nach dieser Auslegung nahm sie für ihr ganzes Land die Demütigungen auf sich, die von Frankreich ausgingen. In Tilsit trat sie mutig dem mächtigsten Mann Europas entgegen – entschiedener als ihr zögerlicher Mann –, und opferte sich für ihr Volk bei dem vergeblichen Bittgang zu einem Feind, den sie als moralisches Ungeheuer betrachtete. Sie erfuhr am eigenen Leibe die Härten des Krieges und starb schließlich, so die weit verbreitete Interpretation des medizinischen Befundes, an gebrochenem Herzen. In dieser Rolle wurde sie bald nach ihrem Tod zu einer Leitfigur der Befreiungskriege, wurden die Kriege zum Rachefeldzug für eine patriotische Märtyrerin stilisiert. Die Dichter der Freiheitskriege äußerten sich ganz in diesem Sinn. Theodor Körner wollte das Porträt Luises als „Heiligenbild für den gerechten Krieg“ auf die Fahnen der Freiheitskrieger heften und reimte: „Luise sei der Schutzgeist deutscher Sache. Luise sei das Losungswort der Rache.“ Friedrich de la Motte Fouqué, wie Körner freiwilliger Kriegsteilnehmer und Dichter, beschrieb die unter den Soldaten verbreitete „holde Sage, Königin Luise lebe, ihr Tod sei nur eine Täuschung gewesen … Wer hätte dem zu widersprechen vermocht?“ Und einer populären Anekdote zufolge rief der preußische Marschall Gebhard Leberecht von Blücher, als er nach der Schlacht bei Waterloo, also nach dem endgültigen Sieg über Napoleon, am 7. Juli 1815 Paris erreicht hatte, vom Montmartre herab: „Jetzt endlich ist Luise gerächt!“ Die preußische Madonna Das Schulwesen war darauf abgestellt, das offiziell erwünschte Bild von Luise zu vermitteln und so für neue Generationen ständig zu reproduzieren. Der eigentliche Lernstoff wurde besonders in den Volksschulen auf das Notwendigste beschränkt, dafür Religion und Vaterländisches in den Vordergrund gestellt. Luise fand beinahe überall Erwähnung, als Lern-, Lese- und Erbauungsstoff in den Fächern Geschichte, Deutsch und Religion, aber auch in Mathematik und Geographie. Vaterländische Gedenktage vertieften die Bindung an das Vorbild Luise. Auf Anordnung der Schulbehörde fiel an ihrem 100. Geburtstag an allen Mädchenschulen der Unterricht aus, stattdessen hörten die Schülerinnen einen Vortrag über „das Lebensbild der erlauchten Frau …, welche in den Zeiten des tiefsten Leidens so opferfreudig an der Erhebung des Volkes mitgearbeitet und allen kommenden Geschlechtern ein hohes Beispiel gegeben hat“. In einer Reihe von Gemeinden wurden anlässlich des hundertsten Todestages Luisen-Linden gepflanzt. Lexika und Enzyklopädien stützten den Mythos. Sie traten mit dem Anspruch auf, objektives Wissen zu verbreiten, dienten aber auch der Legendenbildung. Schon in einem „Conversationslexicon“ von 1834 hieß es: „Früh schon war sie gewöhnt, alles Sichtbare, Irdische an ein Unsichtbares, Höheres und das Endliche an das Unendliche zu knüpfen“; und in einem „Damen Conversations Lexicon“ wurde Luise als „Engel des Friedens und der Milde“ und „Mutter aller ihrer Unterthanen“ beschrieben. Allmählich gewann der Aspekt des Mütterlichen in der Verehrung Luises immer größere Bedeutung, entsprechend dem Anteil ihrer Söhne am Wiederaufstieg Preußens und bei der Reichsgründung. König Friedrich Wilhelm IV., ihr ältester Sohn, hatte 1848 erklärt: „Die Einheit Deutschlands liegt mir am Herzen, sie ist ein Erbtheil meiner Mutter.“ Im Triumph des zweitältesten Sohnes, Wilhelm I., erreichte dann die symbolische Wirkung Luises ihren Höhepunkt. Napoleon III., der Neffe ihres großen Widersachers Napoleon Bonaparte, erklärte Preußen am 19. Juli 1870, also genau am 60. Jahrestag ihres Todes den Krieg. Wilhelm I. kniete, bevor er in den Krieg zog, am Sarkophag seiner Mutter nieder. Anders als 1806 endete der Feldzug für Preußen siegreich. Wilhelm wurde im Jahr darauf in Versailles zum Kaiser ausgerufen; bei seiner Rückkehr am 17. März 1871 suchte er in Berlin wiederum das Grab der Mutter auf. Nach diesen symbolbeladenen historischen Vorgängen gehörten Luises Leben und Wirken zu den unverzichtbaren und systematisch verbreiteten Gründungsmythen des Kaiserreichs, in der öffentlichen Darstellung führte eine direkte Linie von ihrem sogenannten Opfertod zum Sieg über Napoleon und zur Reichsgründung. Nachdem ihr Sohn Wilhelm Kaiser geworden war, häuften sich bildliche Darstellungen der Königin Luise in ihrer Rolle als Mutter. Maler wie Gustav Richter und Carl Steffeck, Bildhauer wie Erdmann Encke und Emil Hundrieser lieferten Beiträge zur Luisen-Verehrung. Besondere Resonanz fand die Statue „Königin Luise mit dem Prinzen Wilhelm“ von Fritz Schaper, die sogenannte Preußische Madonna – Luise schreitet hoheitsvoll eine Treppe herunter und hält den künftigen Kaiser wie das Jesuskind im Arm. Die Statue wurde 1897 als überlebensgroße Stuckfigur für eine Feststraße geschaffen, dann auf Anweisung des Kaisers Wilhelm II. in Marmor übertragen. Von diesem Werk wurden zahlreiche Verkleinerungen aus Elfenbeinmasse, Gips oder Marmor für den privaten Gebrauch angefertigt. Das Original ist heute verschollen. Der Buchmarkt war überreichlich versorgt mit Trivialliteratur über Luise, meist für die weibliche Jugend bestimmt, oft süßlich illustriert. Man zählte 391 einschlägige Dichtungen, darunter als typisches Beispiel Königin Luise. Ein Lebensbild. Der deutschen Jugend gewidmet von Marie von Felseneck. Das Werk dieser Autorin von mehr als 50 Mädchenbüchern schloss mit den Worten „Ja, ein Engel an Sanftmut und Milde, an Schönheit und Majestät war die Verewigte […] und so lange noch deutsche Zungen von deutschen Fürstentugenden berichten, so lange wird der Name Königin Luise strahlen in heller, hoher Herrlichkeit“. Qualitativ etwas anspruchsvoller und dabei höchst erfolgreich war der großformatige Bildband Die Königin Luise. In 50 Bildern für Jung und Alt der Uniform- und Schlachtenmaler Carl Röchling und Richard Knötel, der 1896 erstmals erschien. Verschiedene Biografen und Historiker des 19. Jahrhunderts bemühten sich um eine differenziertere Betrachtungsweise, ohne dabei den staatlich vorgegebenen Mythos, den man als wertvoll für die Volksbildung gelten ließ, ernsthaft in Frage zu stellen. Der Schriftsteller Friedrich Wilhelm Adami verfasste eine Lebensbeschreibung, die auf Notizen der Caroline von Berg beruhte, 1851 erstmals erschien und 18 Neuauflagen erreichte. Der Autor ließ deutlich seine Verehrung für Luise erkennen, distanzierte sich aber auch von mancher legendenhaften Ausschmückung. 1876 hielt der Historiker Heinrich von Treitschke eine viel zitierte offizielle Festrede zum 100. Geburtstag Luises. Einleitend äußerte er zwar einige Vorbehalte gegenüber dem, was er „volkstümliche Überlieferung“ nannte und erklärte, dass die Wissenschaft nicht einem Idealbild folgen dürfe, sondern die Grenzen auch edler Menschen zeigen müsse. Dann aber entfernte er sich kaum von den verbreiteten Lebensbeschreibungen, benutzte Wendungen wie die vom „verzehrenden Kummer über das Schicksal des Landes, (dem) ihr zarter Körper erlag“ und betonte als besonderen Vorzug die weibliche Passivität der Königin: „… doch nie mit einem Schritte übertrat sie die Schranken, welche der alte deutsche Brauch ihrem Geschlechte setzt. Es ist der Prüfstein ihrer Frauenhoheit, dass sich so wenig sagen lässt von Taten.“ Generell fehlten dem verklärten Bild Luises alle Züge direkter politischer Wirksamkeit, obwohl es zahlreiche Zeugnisse gibt für ihre Anteilnahme an den Bestrebungen der preußischen Reformer – insbesondere für Hardenberg hatte sie sich ja entschieden eingesetzt – und dafür, dass sie den oft unentschlossenen König zu wichtigen Entscheidungen zu veranlassen suchte, so auch zum Krieg gegen Napoleon. Friedrich-Wilhelm III. selbst hatte sich in seinen Erinnerungen deutlich zu dieser Frage geäußert: „Viele Menschen haben in dem Wahn gestanden, als ob meine Frau einen bestimmten Einfluss auf die Regierungsgeschäfte gehabt hätte“, tatsächlich sei dies aber absolut nicht der Fall gewesen. Luises tief empfundene Verbundenheit mit dem schweren Schicksal des Volkes wurde zwar immer wieder betont, jedoch auch die „weibliche“ Passivität ihrer Anteilnahme. „Früh hatte sie die Schranken eingesehen, welche sowohl die Natur als die menschlichen Verfassungen ihrem Geschlecht angewiesen haben.“ Ihre Wirksamkeit, hieß es, habe vor allem darin bestanden, dass sie dem König ein glückliches familiäres Umfeld bescherte. Entsprechend standen als weiblich empfundene Elemente auch im Mittelpunkt verschiedener Institutionen, die sich auf Luise beriefen. Der Luisen-Orden wurde Frauen dafür verliehen, dass sie „den Männern unserer tapferen Heere … in pflegender Sorgfalt Labsal und Linderung“ verschafften. Neben mehreren Mädchenschulen trug ein Stift Luises Namen, das seit 1807 für „verwahrloste und verlassene Knaben“ sorgte, ebenso eine Stiftung von 1811, in der deutsche Erzieherinnen ausgebildet wurden – sie sollten in vornehmen Familien statt der französischen Gouvernanten tätig werden. Im Spendenaufruf für diese Stiftung wurde in Hinblick auf Luise besonders hervorgehoben „Ihr Sinn für Häuslichkeit, Ihre treue Liebe zum Gemahl und zu Ihren Kindern, Ihr Gefühl für Alles, was gut und edel und groß ist.“ Weimarer Republik und „Drittes Reich“ "In begrenztem Umfang diente Luise auch in der ersten deutschen Republik noch als Identifikationsfigur, obwohl die Verehrung nicht mehr staatlich unterstützt wurde. Ihre Standhaftigkeit in schwerer Zeit ließ sich auf die schwierige Situation nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg übertragen. Als Leitbild wurde sie insbesondere von politischen Gruppierungen wie der Deutschnationalen Volkspartei und dem Bund Königin Luise in Anspruch genommen. Die DNVP war eine rechtskonservativ-monarchistische Partei, die 1933 geschlossen zur Einheitspartei des „Dritten Reiches“, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei übertrat; in ihren Wahlkämpfen hatte sie Plakate mit dem Bild der Königin Luise eingesetzt. Der Bund Königin Luise, eine monarchistische Frauenorganisation, existierte zwischen 1923 und 1934 und stand politisch dem demokratiefeindlichen Frontkämpferbund „Stahlhelm“ nahe. Während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft von 1933 bis 1945 verlor der Luisenkult weiter an Bedeutung. Man nahm es hin, wenn vereinzelt an Luise erinnert wurde, benutzte sie aber nicht für die eigene Propaganda, nicht einmal bei der Werbung für den staatlich angestrebten Kinderreichtum. Das tradierte Bild der passiv leidenden Frau passte nicht in das ideologische Konzept von männlicher Kraft und Härte, wie es in jener Zeit propagiert wurde." Ende des Mythos "Die Luisen-Verehrung in ihrer traditionellen Form endete spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg. 1947 lösten die siegreichen Alliierten den Staat Preußen formell auf. In beiden deutschen Nachkriegsstaaten wurde der Begriff Preußen zunehmend mit Militarismus und Untertanenmentalität assoziiert. In der Bundesrepublik Deutschland begann erst gegen Ende der 1970er Jahre eine differenziertere Bewertung der preußischen Geschichte, noch später folgte darin die DDR, in der man mit Relikten dieser Zeit besonders rigoros umgegangen war. Königin Luise war Mittelpunkt eines Mythos, der sich fast 150 Jahre lang mehr oder weniger direkt auf den „Erbfeind“ Frankreich bezogen hatte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war dieser Bezug gegenstandslos geworden. Auch das Frauenideal, das Luise verkörpern sollte – die Personalunion von treusorgender Ehefrau, vielfacher Mutter und unerschütterlich dem Vaterland dienender Dulderin – hatte seine Aktualität und Anziehungskraft verloren." Kritische Stimmen Mehr als ein Jahrhundert lang bestimmten uneingeschränktes Lob, Verehrung, beinahe schon Anbetung das Bild Luises in der Öffentlichkeit. Es gab aber, sozusagen im Hintergrund, immer auch abweichende Stimmen – sie betrafen die Person der Königin ebenso wie die zuweilen maßlose Verehrung, die ihr entgegengebracht wurde. Die kritische Einstellung des Freiherrn vom Stein ihr gegenüber hatte Luise selbst registriert. Ein anderer Kritiker aus eigenem Erleben war Friedrich August Ludwig von der Marwitz. Der General und erzkonservative Politiker, entschiedener Gegner der Stein-Hardenbergschen Reformen, hatte durch seine Frau Zugang zum preußischen Hof. An Luise beobachtete er den „Triumph der Schönheit und Anmut“, obwohl sie „nie in den Fall gekommen ist, Taten zu verrichten, die ihr eine so überschwängliche Liebe und Verehrung hätten zuwenden können“; auch sei sie kaum mit dem Volk in Berührung gekommen, außer „vielleicht durch einzelne Worte, die man von ihr hörte – und diese waren keineswegs geistreich“. Zudem missfiel ihm „ihre Eitelkeit. Sie war sich ihrer Schönheit bewusst […] und liebte den Putz mehr als nötig war.“ Von Alexander von Humboldt berichtete der Schriftsteller und Diplomat Karl August Varnhagen von Ense, er sei durch die heftige Luisenverehrung dazu veranlasst worden, sich negativ über Luises Charakter zu äußern. Theodor Fontane schätzte „Reinheit, Glanz und schuldloses Dulden“ der Königin, lehnte aber entschieden ab, was offensichtlich nicht mit der historischen Wahrheit übereinstimmte. In den Wanderungen durch die Mark Brandenburg schrieb er 1862: „Mehr als von der Verleumdung ihrer Feinde hat Luise von der Phrasenhaftigkeit ihrer Verehrer zu leiden gehabt. Sie starb nicht am ‚Unglück ihres Vaterlandes‘, das sie freilich bitter genug empfand. Übertreibungen, die dem Einzelnen seine Gefühlsregungen zuschreiben wollen, reizen nur zum Widerspruch.“ Der marxistische Historiker und Sozialdemokrat Franz Mehring griff die Episode auf, in der vom Stein 1808 angesichts der Notlage der Bevölkerung in Ostpreußen von der kostspieligen Reise des Königspaares nach Sankt Petersburg abgeraten hatte. Mehring sah in der Reise ein typisches Beispiel für die soziale Verantwortungslosigkeit des Königshauses. Die Verehrung Luises nannte er einen „byzantinischen Schwindel“. Gegenwart Eine mythisch verklärte Kultfigur ist Luise heute nicht mehr. Sie wird jedoch als interessante, auch emotional anrührende Persönlichkeit der deutschen Geschichte wahrgenommen. Historiker und Literaten beschäftigen sich mit ihr – mit dem Menschen und mit dem Mythos. Institutionen, Straßen und Plätze tragen ihren Namen. Ein Wert der Briefmarken-Dauerserie „Frauen der deutschen Geschichte“ der Deutschen Bundespost, 1989 herausgegeben, zeigt ihr Porträt. Souvenirhandel und Tourismus greifen besonders in Berlin wieder auf sie zurück. Eine Königin-Luise-Route, initiiert von der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Mecklenburg-Vorpommern und der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, wurde bis zum 200. Todestag Luises im Jahr 2010 fertiggestellt: 10 Stationen ihres Lebens zwischen Hohenzieritz im Norden und Paretz im Süden können auf dieser Strecke besichtigt werden. 2010 wurde auch die Sanierung des Mausoleums im Park des Schlosses Charlottenburg, einschließlich der gärtnerischen Wiederherstellung des Umfeldes nach historischen Maßstäben abgeschlossen. An ihrem Sterbeort, wo es eine Gedenkstätte gibt, und in Neustrelitz finden alljährlich Veranstaltungen zum Thema Königin Luise statt. Im Jahr 2001 wurden dort die Schlossgarten-Festspiele mit einem Operetten-Pasticcio über das Leben von Königin Luise eröffnet. Den Text schrieb Horst Vincon, die Musik stellte Dr. Christoph Dammann aus verschiedenen Werken von Johann Strauss, Jacques Offenbach und Walter Kollo zusammen. Am 18. Juni 2009 wurde in Magdeburg ein in DDR-Zeiten abgerissenes Luisendenkmal wieder aufgestellt. Im Gedenkjahr 2010 wurden in Berlin und Brandenburg verschiedene Ausstellungen zum Thema Luise durchgeführt. Im Berliner Schloss Charlottenburg: Luise. Leben und Mythos der Königin. Auf der Pfaueninsel in Berlin: Die Inselwelt der Königin und im Schloss Paretz: Die Kleider der Königin. Am 200. Todestag (19. Juli 2010) wurde im Gedenken an Luise von Frauen aus ganz Deutschland in Crimmitschau der Königin-Luise-Bund gegründet. Zur Abgrenzung von den politischen Zielen des alten Bundes wurde bewusst eine andere Reihenfolge im Namen gewählt. Außerhalb von Schloss Hohenzieritz befindet sich in der Villa Vier Jahreszeiten in Crimmitschau eine der wenigen Dauerausstellungen zu Luise (Luisenverehrung in der Kaiserzeit mit umfangreicher Bibliothek). Stiftungen Luise hatte selbst und es wurden nach ihrem Tode in ihrem Namen oder zu ihrem Gedenken Stiftungen ins Leben gerufen. Dazu gehören folgende Stiftungen: 1807 war sie Namenspatronin des Luisenstifts, einer „Erziehungs-Anstalt für arme Knaben“. Sie gab auf Bestreben der Gesellschaft der Humanitätsfreunde nicht nur ihren Namen, sondern übernahm auch den Unterhalt für vier Jungen. Nach ihrem Ableben wurde an ihrem ersten Todestag am 19. Juli 1811 die Luisen-Stiftung gegründet, eine „Anstalt zur Erziehung junger Mädchen“. Diese Stiftung besteht als Privatschule heute noch. Auf ihren Namen berief sich eine Stiftung, die jährlich an ihrem Todestag den armen und sogenannten Luisenbräuten einen Teil der oder die gesamte Aussteuer zahlte. Denkmäler und Ehrungen Zu Ehren der Königin von Preußen gibt es zahlreiche Luisendenkmale. Außerdem sind nach ihr benannt: Luisenstadt, Stadtteil von Berlin (1802) Luisenbad (Berlin) (um 1809) Louisenorden (1814) Luisenstraße, verbreiteter Straßenname (frühes 19. Jahrhundert) Luisenstraße in Wuppertal Luisenplatz, verbreiteter Name für öffentliche Plätze Luisenplatz in der Residenzstadt Potsdam Luisenplatz in der Hauptstadt Berlin Louisendorf, Ortsteil der Gemeinde Bedburg-Hau (1820) Königin-Luise-Gedächtniskirche (Kaliningrad) (1901) Luisenpark (Erfurt), 1903 Königin-Luise-Gymnasium, Erfurt, 1903 Königin-Luise-Schule, Köln (1907) Königin-Luise-Gedächtniskirche (Berlin) (1912) Königin Luise, Passagierschiff (1913) Königin Luise, Passagierschiff (1934) Luisenkirche Luisenburg-Felsenlabyrinth Naturdenkmal, nach der Königin Luise benanntes Steinblockmeer Luisenhospital Aachen Evangelischer Krankenhausverein zu Aachen von 1867 Preußische Madonna, Statue in Berlin, 1945 zerstört Luiseninsel, Berlin Filme 1913: Der Film von der Königin Luise. Regie: Franz Porten, Darsteller: Hansi Arnstädt (Königin Luise) 1927: Königin Luise. 1. Teil: Die Jugend der Königin Luise. Regie Karl Grune 1927/1928: Königin Luise. 2. Teil. Regie Karl Grune 1931: Luise, Königin von Preußen. Regie Carl Froelich, Darstellerin: Henny Porten 1957: Königin Luise Regie: Wolfgang Liebeneiner, Darstellerin: Ruth Leuwerik (Königin Luise) 2005: Vivat – Königin Luise im Fichtelgebirge. Regie: Gerald Bäumler 2010: Luise – Königin der Herzen. Szenische Dokumentation, Deutschland, 52 Min., 2009, Buch: Daniel Schönpflug, Regie: Georg Schiemann, Produktion: Looks, NDR, arte, Erstsendung: 9. Januar 2010 auf arte, Filminformationen von ARD. 2013: Königin Luise – Die preußische Madonna. Szenische Dokumentation in der Reihe Frauen, die Geschichte machten, Deutschland, 50 Min., Buch: Stefan Brauburger, Cristina Trebbi, Regie: Christian Twente und Michael Löseke, Erstsendung 15. Dezember 2013 im ZDF, Filminformation Vgl. dazu: Rolf Parr: „Das ist unnatürlich, schlimmer: bürgerlich“ – Königin Luise im Film. In: Zeitdiskurse. Reflexionen zum 19. und 20. Jahrhundert als Festschrift für Wulf Wülfing. Hrsg. v. Roland Berbig, Martina Lauster, R. P. Heidelberg, Synchron, 2004, ISBN 3-935025-55-6, S. 135–164 (mit Abb. und Filmographie). Literatur Quellen Karl Griewank (Hrsg.): Königin Luise. Briefe und Aufzeichnungen. Bibliographisches Institut, Leipzig 1924. Heinrich Otto Meisner (Hrsg.): Vom Leben und Sterben der Königin Luise. Eigenhändige Aufzeichnungen ihres Gemahls König Friedrich Wilhelms III. Koehler & Amelang, Leipzig 1926. Malve Rothkirch (Hrsg.): Königin Luise von Preußen. Briefe und Aufzeichnungen 1786–1810. Dt. Kunstverlag, München 1985, ISBN 3-422-00759-8. Carsten Peter Thiede, Eckhard G. Franz: Jahre mit Luise von Mecklenburg-Strelitz. Aus Aufzeichnungen und Briefen der Salomé von Gélien (1742–1822). In: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde, Band 43. Darmstadt 1985, , S. 79–160. Bogdan Krieger: Erziehung und Unterricht der Königin Luise. In: Hohenzollern-Jahrbuch Jahrgang 1910, S. 112, Digitalisat. Darstellungen Paul Bailleu: Königin Luise. Ein Lebensbild. Giesecke & Devrient, Berlin 1908, Hanne Bahra: Königin Luise. Von der Provinzprinzessin zum preußischen Mythos. Bruckmann-Verlag, München 2009, ISBN 978-3-7658-1825-7. Christine von Brühl: Die preußische Madonna. Aufbau, Berlin 2010, ISBN 3-351-02713-3. Günter de Bruyn: Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende. Siedler, Berlin 2001, ISBN 3-88680-718-5 (mit Zitatennachweis, Bibliographie und Bildquellenverzeichnis). Philipp Demandt: Luisenkult. Die Unsterblichkeit der Königin von Preußen. Böhlau, Köln u. a. 2003, ISBN 3-412-07403-9. Karin Feuerstein-Praßer: Die Preußischen Königinnen. Pustet, Regensburg 2000, ISBN 3-7917-1681-6. Jan von Flocken: Luise. Eine Königin in Preußen. Biographie. Verlag Neues Leben, Berlin 1989, ISBN 3-355-00987-3. Birte Förster: Der Königin Luise-Mythos. Mediengeschichte des „Idealbilds deutscher Weiblichkeit“, 1860–1960 (= Formen der Erinnerungen, Band 46). V & R unipress, Göttingen 2011, ISBN 978-3-89971-810-2. Dagmar von Gersdorff: Königin Luise und Friedrich Wilhelm III. Eine Liebe in Preußen. Rowohlt, Berlin 1996, ISBN 3-87134-221-1. Heinrich Hartmann: Luise, Preußens große Königin. Pawlak, Herrsching 1988, ISBN 3-88199-454-8. Christian Graf von Krockow: Porträts berühmter deutscher Frauen. Von Königin Luise bis zur Gegenwart. List Verlag, München 2001, ISBN 3-471-79447-6, S. 11–57. Friedrich Ludwig Müller, Beatrice Härig: Luise. Aufzeichnungen über eine preußische Königin. Hauptband mit Begleitheft. Monumente-Publikation der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. Bonn 2001, ISBN 3-935208-07-3. Heinz Ohff: Ein Stern in Wetterwolken. Königin Luise von Preußen. Eine Biographie. Piper, München 1989, ISBN 3-492-03198-6. Daniel Schönpflug: Luise von Preußen. Königin der Herzen. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-59813-5. Luise Schorn-Schütte: Königin Luise. Leben und Legende. Beck, München 2003, ISBN 3-406-48023-3 (C. H. Beck Wissen 2323). Thomas Stamm-Kuhlmann: König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III., der Melancholiker auf dem Thron. Siedler, Berlin 1992, ISBN 3-88680-327-9. Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg [Hrsg.]: Luise. Die Kleider der Königin. Ausstellungskatalog. Hirmer Verlag, München 2010, ISBN 978-3-7774-2381-4. Johannes Thiele: Luise von Preußen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2010, ISBN 978-3-499-50532-4. Sibylle Wirsing: Die Königin. Luise nach zweihundert Jahren. Wjs, Berlin 2010, ISBN 978-3-937989-59-4. Wulf Wülfing: Zum Mythos von der „deutschen Frau“. Rahelbettinacharlotte vs. Luise von Preußen. In: Klaudia Knabel, Dietmar Rieger, Stephanie Wodianka (Hrsg.): Nationale Mythen – kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, ISBN 3-525-35581-5 (Formen der Erinnerung, Bd. 23), S. 145–174. Belletristik Elisabeth Halden: Königin Luise. Meidinger, Berlin 1910 / 7. Auflage: Aus den Tagen der Königin Luise [Eine Erzählung für die Jugend], Verlag von Volks- und Jugendschriften Otto Drewitz Nachfahren, Leipzig 1930. (Elisabeth Halden – Pseudonym von Agnes Breitzmann (* 27. Mai 1841 in Templin; † 10. November 1916) – war in ihrer Zeit eine erfolgreiche deutsche Autorin von „Mädchenbüchern“.) Bettina Hennig: Luise Königin aus Liebe. Goldmann Verlag, München 2009, ISBN 978-3-442-46406-7. (Roman; Goldmann Taschenbuch 46406) Sophie Hoechstetter: Königin Luise. In: Romane berühmter Männer und Frauen. Band 36. Richard Bong, Berlin 1926. Else von Hollander-Lossow: Die unsterbliche Königin. Easemann, Leipzig 1934. (Ein „Luise-Roman“) Hermann Dreyhaus: Königin Luise. Das Lebensbild einer deutschen Frau. In: Vaterländische Volks- und Jugendbücher des Union-Verlags. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1928. Egon Richter: Die letzte Fahrt der Königin Luise. 3. Auflage. Verlag der Nation, Berlin 1990, ISBN 3-373-00234-6. (Erstausgabe 1988) Reinhold Schneider: Die Rose des Königs. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 1957. Ingrid Feix: Das ist gegen alle Etikette. Anekdoten über Königin Luise. Eulenspiegel Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-359-02495-8. Unterrichtliche Modelle Markus Müller: Der Mythos der Luise von Preußen. Eine Spurensuche anlässlich ihres 200. Todestages. In: Geschichte lernen, H. 137, 2010, S. 52–56. Weblinks Königin-Luise von Preußen auf der offiziellen Website des Hauses Hohenzollern Patricia Drewes: Königin Luise von Preußen – Geschichte im Spiegel des Mythos in der Digitalen Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung Luise von Preußen und ihre Zeit – Hans Dieter Mueller. Luise von Preußen im Napoleon Portal Einzelnachweise Friedrich Wilhelm III. (Preußen) Albrecht von Preußen (1809–1872) Herzog zu Mecklenburg Königin (Königreich Preußen) Kurfürstin (Brandenburg) Familienmitglied des Hauses Mecklenburg (Linie Strelitz) ⚭Luise #MecklenburgStrelitz Regimentsinhaber der Frühen Neuzeit Namensgeber für ein Schiff Geboren 1776 Gestorben 1810 Frau
97195
https://de.wikipedia.org/wiki/Erdwolf
Erdwolf
Der Erdwolf (Proteles cristata, Syn.: Proteles cristatus) ist eine Raubtierart aus der Familie der Hyänen (Hyaenidae). Er ist mit 8 bis 14 Kilogramm Gewicht der kleinste Vertreter der Hyänen. Im Körperbau und mit den kleinen Backenzähnen unterscheidet er sich stark von den anderen Hyänenarten, den Eigentlichen Hyänen (Hyaeninae), und er wird darum in eine eigene Unterfamilie, Protelinae, gestellt. Erdwölfe bewohnen eher trockene Regionen im östlichen und südlichen Afrika. Sie leben scheu und zurückgezogen und sind nachtaktiv, tagsüber ziehen sie sich in ihren Bau zurück. Ihre Nahrung besteht vorwiegend aus Termiten der Gattung Trinervitermes. Sie bewohnen Reviere in Paaren, die Paare interagieren aber außerhalb der Paarungszeit kaum miteinander. Die zwei bis vier Jungtiere werden häufig nicht von dem Männchen gezeugt, das mit dem Weibchen zusammenlebt. Der Erdwolf zählt nicht zu den bedrohten Arten. Merkmale Allgemeiner Körperbau und Fell Erdwölfe sind die bei weitem kleinste Hyänenart. Sie erreichen eine Kopfrumpflänge von 55 bis 80 Zentimetern, der buschige Schwanz misst zusätzlich 20 bis 30 Zentimeter. Ihre Schulterhöhe beträgt 45 bis 50 Zentimeter. Das Gewicht ist jahreszeitlichen Schwankungen unterworfen und variiert im südlichen Afrika zwischen 8 und 12 Kilogramm, im Osten des Kontinents kann es bis zu 14 Kilogramm betragen. Es gibt keinen Sexualdimorphismus, die Geschlechter sind gleich groß. Ihr Körperbau ist wie bei allen Hyänen durch den fallenden Rücken charakterisiert: Die Vorderbeine sind länger als die Hinterbeine, generell sind die Beine lang und schlank. Die Vorderpfoten sind mit fünf und die Hinterpfoten mit vier Zehen versehen – bei den anderen Hyänenarten fehlt die erste Zehe der Vorderpfote. Erdwölfe sind wie alle Hyänen digitigrad (Zehengänger), die Zehen tragen kräftige, nicht einziehbare Krallen. Die Grundfärbung des Fells ist gelbgrau, sie kann aber von weißlich-gelb bis rötlich-braun variieren. Am Rücken und an den Flanken befinden sich mehrere dunkle, senkrechte Streifen, quer über die Vorder- und Hinterbeine verlaufen diagonale Streifen. An den unteren Teilen der Beine sind unregelmäßige Querstreifen, die Pfoten selbst sind dunkel. Manchmal befinden sich auch am Nacken Streifen oder Flecken; die Kehle ist hellgrau oder weißlich gefärbt. Mit ihren Streifen ähneln Erdwölfe der Streifenhyäne, allerdings sind sie um die Hälfte kleiner, und ihre Streifen sind deutlich regelmäßiger. Entlang des Rückens verläuft eine lange Mähne vom Kopf bis zum Schwanz. Diese Haare können an den Schultern bis zu 20 Zentimeter lang sein. Bei Gefahr oder Bedrohung können Erdwölfe die Mähne aufrichten, wodurch sie deutlich größer erscheinen. Erdwölfe besitzen einen gut entwickelten Analbeutel, dessen Sekret zur Reviermarkierung eingesetzt wird. Den Männchen fehlt wie bei allen Hyänen ein Penisknochen, die Weibchen haben zwei Paar in der Leistenregion gelegene Milchdrüsen. Im Gegensatz zu anderen Hyänen zeigen sie keine Besonderheiten im Bau des Harn- und Geschlechtsapparates. Kopf und Zähne Der schlanke Kopf sitzt auf einem langgestreckten Nacken. Die Ohren sind groß und zugespitzt, die Augen sind ebenfalls vergrößert und weisen ein Tapetum lucidum zur besseren Nachtsicht auf. Insbesondere der Gehörsinn und der Geruchssinn sind gut entwickelt. Wie bei vielen anderen Bewohnern trockener Regionen ist die Paukenblase (Bulla tympanica) auffallend vergrößert. Die Kiefer sind kräftig entwickelt – vermutlich als Anpassung an Kämpfe mit Artgenossen. In der Bezahnung zeigen sich die deutlichsten Unterschiede zu den anderen Hyänenarten. Die Backenzähne sind viel kleiner, sie sind zu winzigen, weit voneinander entfernt stehenden Stiften rückgebildet, auch ist ihre Anzahl unregelmäßig. Die Eckzähne, die der Verteidigung und dem Kampf mit Artgenossen dienen, sind dagegen gut ausgebildet, bei alten Tieren aber häufig abgenutzt. Die Schneidezähne sind wie bei allen Hyänen unauffällig. Die Zahnformel lautet I 3/3 – C 1/1 – P 3/1-2 M 1/1-2, insgesamt haben sie also 28 bis 32 Zähne. In ihrem Maul zeigen sich weitere Anpassungen an die Termitennahrung: Der breite Gaumen beherbergt eine breite, spatelförmige Zunge, die mit großen, kegelförmigen Papillen bedeckt ist. Die Speicheldrüsen produzieren große Mengen an klebrigem Speichel. Verbreitung und Lebensraum Erdwölfe sind in zwei geographisch voneinander getrennten Gebieten Afrikas beheimatet; die beiden Verbreitungsgebiete werden durch eine rund 1500 Kilometer breite Lücke voneinander getrennt. Der nördliche Teil ihres Verbreitungsgebietes liegt im östlichen Afrika. Er verläuft vom äußersten Südosten Ägyptens entlang der Küste des Roten Meeres im Sudan und in Eritrea über Äthiopien, Somalia bis Kenia und in das mittlere Tansania. Der zweite Teil liegt im Süden des Kontinents. Er erstreckt sich vom südwestlichen Angola und dem südlichen Sambia bis nach Südafrika. Erdwölfe bevorzugen offene, eher trockene Habitate, ihre Lebensräume weisen einen Jahresniederschlag von 100 bis 800 Millimetern auf. Sie sind vorrangig in Grasländern und buschbestandenen Savannen beheimatet, in Wäldern und reinen Wüsten fehlen sie. In Äthiopien kommen sie bis in 2000 Meter Höhe vor. Nirgendwo in ihrem Verbreitungsgebiet sind sie sonderlich häufig, in günstigen Lebensräumen beträgt die durchschnittliche Populationsdichte ein ausgewachsenes Tier pro Quadratkilometer. Lebensweise Aktivitätszeit und Sozialverhalten Erdwölfe sind überwiegend nachtaktiv; je nach Verfügbarkeit der Nahrung begeben sie sich manchmal auch schon am späten Nachmittag auf Nahrungssuche. Ihre Aktivität setzt im Sommer in Südafrika eine halbe bis eine Stunde nach Sonnenuntergang ein und endet eine bis zwei Stunden vor Sonnenaufgang, das heißt, sie sind insgesamt acht bis neun Stunden aktiv. Im Winter kehren sie häufig schon nach drei bis vier Stunden wieder in den Bau zurück. Im Sommer legen sie pro Nacht rund acht bis zwölf Kilometer zurück, im Winter mit drei bis acht Kilometern deutlich weniger. Tagsüber oder auch während nächtlicher Ruhepausen ziehen sie sich in Baue zurück. Diese Baue sind häufig erweiterte Springhasenbaue, manchmal auch von Erdferkeln oder Stachelschweinen übernommene oder selbst gegrabene. Die Baue haben einen einzigen Eingang, bestehen aus einem engen, bis zu fünf Meter langen Tunnel und enden in einer Kammer. Ein Bau wird rund sechs bis acht Wochen lang verwendet, danach wird ein neuer aufgesucht. Sechs bis achtzehn Monate später kann ein alter Bau erneut bezogen werden. Erdwölfe leben in Paaren zusammen; ein Paar bewohnt mit dem Nachwuchs des letzten Jahres ein gemeinsames Revier. Diese Paarbindungen sind mit zwei bis fünf Jahren Dauer relativ stabil. Außerhalb der Paarungszeit ist das Sozialverhalten der Erdwölfe schwach ausgebildet: Sie bewohnen getrennte Baue und gehen allein auf Nahrungssuche. Wenn sie sich treffen, ignorieren sie sich; im Gegensatz zu anderen Hyänen kennen sie keine Begrüßungsriten. Die Reviere sind rund 1,5 bis 4 km² groß, die Größe variiert nach der Termitenanzahl: Ein Revier enthält rund 3000 Termitenhügel. Erdwölfe markieren ihre Territorien, indem sie ihre Analregion an Grasbüscheln oder anderen Gegenständen reiben. Dabei sondert der Analbeutel ein orange-gelbes Sekret ab, das sich an der Luft schwarz verfärbt. Sowohl das Männchen als auch das Weibchen bringen ihre Markierungen an, die Männchen allerdings häufiger – bis zu zweimal auf 100 Metern. Diese Markierungen finden sich meist entlang der Reviergrenzen, seltener an den Eingängen der Baue. Wird ein fremder Artgenosse im eigenen Revier entdeckt, richtet der Erdwolf seine Mähne auf und versucht, den Eindringling zu verjagen. Weibchen werden dabei vom ansässigen Weibchen und Männchen vom ansässigen Männchen zu vertreiben versucht, die Jagden enden stets an der Reviergrenze. Manchmal kommt es allerdings zu einem Kampf, dabei gehen beide Kontrahenten in die Knie und versuchen, den anderen in den Nacken zu beißen. Die Kommunikation erfolgt in erster Linie olfaktorisch, das heißt mittels Gerüchen. Anhand der Duftspuren können Erdwölfe das Geschlecht, den Reproduktionsstatus und bei nahe beieinander oder im selben Revier lebenden Tieren auch die individuelle Identität erkennen. Erdwölfe sind akustisch unauffällige Tiere, sie geben selten Laute von sich. Bei aggressiven Begegnungen kommt es zu lautlichen Äußerungen. Je nach Intensität ist das ein klickendes Geräusch, das durch Öffnen und Schließen des Mundes erzeugt wird, oder ein tiefkehliges Knurren. Während eines Kampfes oder wenn sie überrascht werden, stoßen sie ein überraschend lautes und explosives Brüllen aus. Daneben sind auch ein jammernder Laut, der vermutlich der Besänftigung dient, und ein Quieken bekannt, das nur die Jungtiere auf der Suche nach ihrer Mutter von sich geben. Wie alle Hyänen defäkieren Erdwölfe in eigens dafür angelegte Gruben. Diese Gruben werden oft in sandigem Boden angelegt und haben ein bis zwei Meter Durchmesser. In einem Revier können sich bis zu 20 solcher Gruben befinden; die in der Nähe der Reviergrenzen gelegenen werden deutlich häufiger benutzt. Auch zum Urinieren suchen die Erdwölfe meist diese Gruben auf, lediglich in Zeiten mit großem Nahrungsangebot unterbrechen sie die Nahrungsaufnahme nur kurz, hocken sich nieder und urinieren an Ort und Stelle. Nahrung Im Gegensatz zu den anderen Hyänen ernähren sich Erdwölfe fast ausschließlich von Termiten. Anders als andere insektenfressende Säugetiere, wie Schuppentiere oder Erdferkel, mit denen sie den Siedlungsraum teilen, haben sie keine kräftigen Krallen zum Aufbrechen von Termitenhügeln; vielmehr ist die breite, klebrige Zunge ideal an das Auflecken der Beutetiere vom Boden angepasst. Erdwölfe sind dabei auf Termiten der Gattung Trinervitermes spezialisiert, dabei sind Trinervitermes bettonianus in Ostafrika, T. rhodesiensis in Simbabwe und Botswana sowie T. trinervoides in Südafrika die bevorzugten Arten. Diese Termiten werden von den meisten anderen insektenfressenden Säugetieren verschmäht, da die Soldaten giftige Terpenoide absondern, denen gegenüber Erdwölfe als eine der wenigen Arten tolerant sind. Die Trinervitermes-Termiten sind nachtaktiv und suchen in Gruppen von 2000 bis 4000 Tieren an der Erdoberfläche nach Nahrung, dadurch sind sie leichter zu erbeuten als andere Gattungen, die sich in unterirdischen Gängen fortbewegen. Pro Nacht frisst ein Erdwolf bis zu 300.000 Termiten, was ein bis zwei Kilogramm ausmacht. Bei den nächtlichen Streifzügen bewegt er sich in einem Zick-Zack-Kurs fort und legt dabei rund einen Kilometer pro Stunde zurück. Dabei hält er den Kopf gesenkt und die Ohren nach vorne gebeugt – vermutlich werden die Termiten mittels Geruch oder Gehör geortet. Jungtiere werden häufig beobachtet, wie sie sich nach dem Fressen erbrechen. Das ist ein Anzeichen dafür, dass die Toleranz gegenüber dem Gift mit dem Alter zunimmt. Wenn Termiten der Gattung Trinervitermes nicht oder nicht ausreichend verfügbar sind, etwa im Winter in Südafrika oder in der Regenzeit in Ostafrika, fressen Erdwölfe auch andere Termitengattungen wie Hodotermes, Microhodotermes, Odontotermes oder Macrotermes. Diese Gattungen schwärmen jedoch in weit kleineren Gruppen aus, oft nur 10 bis 20 Tiere. Äußerst selten verzehren Erdwölfe auch andere Insekten oder Spinnen. Von Studien aus Südafrika ist bekannt, dass sie im Winter nur ein Fünftel der sonstigen Nahrungsmengen zu sich nehmen, dabei kann ihr Gewicht um bis zu 20 % zurückgehen. Im Winter ist auch die Sterblichkeit der Jungtiere am höchsten. Ein Grund für die Abhängigkeit von der Gattung Trinervitermes ist, dass diese Termiten die einzigen Insekten im Lebensraum sind, die das ganze Jahr über regelmäßig in großer Dichte auf der Erdoberfläche ausschwärmen. Die meisten anderen Termitenarten halten sich entweder in unterirdischen Gängen auf, oder ihre Schwärme sind deutlich unregelmäßiger. Erdwölfe brauchen in der Regel nicht zu trinken, sondern nehmen die benötigte Flüssigkeit mit ihren Beutetieren auf. Ausnahmen sind sehr kalte Winter, in denen es wenige Termiten gibt. Dann legen die Tiere mitunter beträchtliche Distanzen zurück, um zu Wasserquellen zu gelangen. Fortpflanzung Paarung Im südlichen Afrika liegt die Paarungszeit in den letzten Juniwochen oder in den ersten beiden Juliwochen, in den wärmeren Regionen weiter nördlich ist die Fortpflanzung vermutlich weniger saisonal. Trotz der monogamen Lebensweise werden die Jungtiere häufig nicht von dem Männchen gezeugt, mit dem das Weibchen sich das Revier teilt. Die Weibchen verbleiben das ganze Jahr über in ihrem eigenen Territorium, die Männchen beginnen hingegen rund einen Monat vor der Paarungszeit in fremde Reviere einzudringen. Zunächst ist dies ein reines Beobachten, wohl um die Männchen und Weibchen in den Nachbarrevieren einzuschätzen. Danach beginnt das fremde Männchen mit aggressiverem Eindringen und intensivem Markieren des fremden Territoriums mit seinen eigenen Duftspuren. Das ansässige Männchen markiert ebenfalls sein Revier so lange, bis der schwächere der Kontrahenten dieses „Wettmarkieren“ verliert. Erweist sich das ansässige Männchen als das schwächere, hat der Eindringling gute Chancen, sich mit dem ansässigen Weibchen fortzupflanzen. Die Weibchen streifen in dieser Zeit häufig an den Reviergrenzen entlang, offensichtlich um fremde Männchen anzulocken. Die fremden Männchen zeigen ein auffälliges Balzverhalten: Sie laufen zum Weibchen, drehen dann ab und stolzieren mit erhobenem Schwanz vorbei. Damit verbunden ist das Verjagen oder Bekämpfen des ansässigen Männchens. In rund 40 % der Fälle pflanzt sich ein fremdes und nicht das ansässige Männchen mit dem Weibchen fort. Der Östrus dauert ein bis drei Tage. Wenn ein Weibchen in dieser Zeit nicht befruchtet wurde, kann innerhalb zweier Wochen erneut eine fruchtbare Periode eintreten. Die Begattungen dauern rund eine bis vier Stunden, dabei kommt es zu mehrfachen Ejakulationen. Es kann auch vorkommen, dass ein eindringendes Männchen die Kopulation unterbricht, das begattende Männchen verjagt und sich unmittelbar danach selbst mit dem Weibchen paart. Dieses „offenkundige Fremdgehen“ dürfte ein etablierter Aspekt der Fortpflanzung der Erdwölfe sein. Während sich die Jungtiere im Bau des Weibchens aufhalten, werden sie vom ansässigen Männchen bewacht. Das ist aufwändig und kostet viel Energie, da den Männchen nur 2 bis 3 Stunden vor Sonnenaufgang für die Nahrungssuche bleiben, während die Weibchen zumindest 6 Stunden zur Verfügung haben. Das bedeutet, dass die Männchen auch bei der Aufzucht von Jungtieren helfen, die nicht von ihnen gezeugt wurden. Dies ist, soweit bekannt, einzigartig unter Säugetieren. Die evolutiven Gründe hinter dieser Strategie könnten sein, dass die stärkeren und aggressiveren Männchen häufiger ihre Gene weitergeben, die intensive Bewachung der Jungtiere aber von vielen Männchen übernommen wird. Geburt und Jungenaufzucht Die Tragzeit beträgt rund 90 Tage, in Südafrika fallen die Geburten in den frühen Oktober (Frühjahr). Die Wurfgröße beträgt zwei bis vier Neugeborene, in menschlicher Obhut können es bis zu fünf sein. Die Jungtiere werden im Bau des Weibchens geboren. Nach rund einem Monat kommen sie erstmals heraus, mit sechs bis neun Wochen spielen sie außerhalb, aber nicht mehr als 30 Meter vom Eingang entfernt. Mit neun bis zwölf Wochen begleiten sie erstmals ausgewachsene Tiere auf den Beutestreifzügen, bleiben aber immer noch höchstens 100 Meter vom Bau entfernt. Mit zwölf bis sechzehn Wochen durchstreifen sie das ganze Revier der Ausgewachsenen, werden aber immer noch vom Männchen oder Weibchen begleitet. Am Ende dieses Zeitraums – mit rund vier Monaten – werden sie endgültig entwöhnt. Die Jungtiere wachsen im Gegensatz zu den anderen Hyänenarten schnell und erreichen bereits mit vier Monaten ihr volles Gewicht. Dies ist vermutlich eine Anpassung, um die hohe Welpensterblichkeit im ersten Winter, der Zeit mit dem geringsten Nahrungsangebot, zu minimieren. Bis zum Alter von rund sieben Monaten werden die jungen Tiere bei der Nahrungssuche manchmal noch von einem erwachsenen begleitet, anschließend unternehmen sie ihre Streifzüge allein. Mit rund einem Jahr führen ihre Streifzüge immer weiter weg vom elterlichen Revier. Spätestens wenn die nächstjährigen Jungtiere erstmals den Bau verlassen, entfernen sie sich vollständig und versuchen, ein eigenes Revier zu etablieren. Die Geschlechtsreife tritt mit rund 1,5 Jahren ein. Bei einer zwischen 1981 und 1984 in Südafrika durchgeführten Studie überlebten 68 % der Jungtiere das erste Lebensjahr. Das Höchstalter eines Tieres in menschlicher Obhut betrug 15 Jahre, die Lebenserwartung in freier Wildbahn ist nicht bekannt, ist aber zweifellos geringer. Natürliche Feinde und Nahrungskonkurrenten Der wichtigste Fressfeind der Erdwölfe ist der Schabrackenschakal (Canis mesomelas). Er reißt häufig Jungtiere und ist der Hauptgrund für die Wacht der Männchen vor dem Bau der Weibchen. Manchmal fallen ihm auch unvorsichtige ausgewachsene Tiere zum Opfer. Nach Ansicht von Philip D. Gingerich sind die Streifen eine Form von Mimikry, um eine Ähnlichkeit mit der Streifenhyäne vorzutäuschen und so Fressfeinde wie den Leopard abzuschrecken. Von anderen Forschern wird diese Sichtweise unter anderem wegen des Größenunterschieds verworfen. Es wird teilweise berichtet, dass der Erdwolf zur Verteidigung auch sein nach Moschus riechendes Sekret aus den Analbeutel einsetzt, allerdings gibt es nur sehr wenige Beobachtungen darüber. Die Parasiten des Erdwolfs sind kaum erforscht, einzig die Kieferlaus Protelicola intermedia ist bekannt. Aufgrund der Spezialisierung auf die Termitengattung Trinervitermes, die für andere insektenfressende Säugetiere zumeist ungenießbar ist, haben Erdwölfe nur wenige direkte Nahrungskonkurrenten. Es gibt zwar sympatrische Termitenfresser wie den Löffelhund – der sogar ein ähnliches zweigeteiltes Verbreitungsgebiet hat –, diese weichen aber auf andere Termitengattungen aus. Eine besondere Beziehung liegt zum Erdferkel vor, das ebenfalls einen größeren Anteil seiner Nahrung über Trinervitermes-Termiten bezieht. Im Gegensatz zum Erdwolf besitzt das Erdferkel eine körperlich hervorragende Anpassung an das Aufbrechen der harten Termitenbaue. Vor allem im Winter, wenn sich die Termiten in ihre Nester zurückziehen, bildet die Termitengattung infolge der höheren Individuenkonzentration in den Nestern eine wesentliche Grundlage der Ernährung des Erdferkels. Gemäß Beobachtungen im südlichen Afrika folgt der Erdwolf dem Erdferkel in dieser Jahreszeit in teils weniger als 50 m Abstand und profitiert, nachdem letzteres seine Fressstelle verlassen hat, so von den zuvor geöffneten Termitenbauten. Erdwölfe und Menschen Obwohl Erdwölfe keine Wirbeltiere fressen, wurden sie früher manchmal von Bauern verfolgt, die ihnen unterstellten, ihre Schafe und Hühner zu reißen. Diese Praxis ist aber zurückgegangen. Manche Tiere fallen auch Haushunden, die eigentlich zur Fuchs- oder Schakaljagd abgerichtet sind, zum Opfer oder verenden bei Verkehrsunfällen. Manche afrikanische Stämme jagen Erdwölfe, um ihr Fleisch zu essen und ihre Körperteile für medizinische Zwecke zu verwenden. All diese Praktiken gefährden die Gesamtpopulation des Erdwolfs allerdings nicht in großem Ausmaß. Die größte Gefahr geht von Insektiziden aus: Giftstoffe, die zur Bekämpfung von Heuschrecken oder Termiten eingesetzt werden, können die Populationen erheblich dezimieren oder können lokal sogar zur Ausrottung führen. Mancherorts stellt auch die Zerstörung ihres Lebensraums eine Bedrohung dar. Auf der anderen Seite führt eine großflächige Weidewirtschaft zur Vermehrung der Trivervitermes-Termiten, sodass die Umwandlung von Wäldern und Savannen in Viehweiden sich eher positiv auf die Bestandszahlen der Erdwölfe auswirkt. Die IUCN schätzt die Gesamtpopulation als stabil ein und listet die Art als „nicht gefährdet“ (least concern). Schätzungen über die Gesamtpopulation belaufen sich auf zumindest mehrere tausend Individuen; aufgrund ihrer scheuen, nachtaktiven Lebensweise könnte die Art häufiger sein als bisher angenommen. Systematik Der Erdwolf ist der einzige lebende Vertreter der Gattung Proteles. Er wird innerhalb der Hyänen in einer eigenen Unterfamilie, Protelinae, eingeordnet, die den Eigentlichen Hyänen (Hyaeninae) gegenübersteht und ihr Schwestertaxon bildet. Manche Systematiker halten die Unterschiede in Körperbau und Lebensweise für so groß, dass sie den Erdwolf in eine eigene Familie, Protelidae, stellen. Diese Aufteilung wird in jüngeren taxonomischen Veröffentlichungen aber nicht übernommen. Anhand des zweigeteilten Verbreitungsgebietes werden zwei Unterarten unterschieden: Die Nominatform Proteles cristata cristata umfasst die Tiere des südlichen Afrika und P. c. septentrionalis die des östlichen Afrika. Es gibt keine Studien über etwaige genetische oder morphologische Differenzen zwischen den beiden Unterarten, daher ist diese Einteilung fraglich. Autoren älterer Werke hielten den Erdwolf für einen frühen Seitenzweig der Hyänen. Nach den morphologischen Studien von Werdelin und Solounias haben sich die Protelinae und die Hyaeninae vor 18 bis 20 Millionen Jahren getrennt, demzufolge hätten sich die Erdwölfe aus urtümlichen Hyänenarten wie Plioviverrops entwickelt. Die molekularen Untersuchungen von Koepfli et al. aus dem Jahr 2005 kamen hingegen zu dem Ergebnis, dass die beiden Linien vor rund 10,6 Millionen Jahren auseinandergingen; daher ist es denkbar, dass sich Erdwölfe aus einem Hyänenzweig entwickelten, der bereits das für die Eigentlichen Hyänen typische kräftige Gebiss aufwies. Die Erdwölfe könnten so eine ökologische Nische besetzt haben, die bislang kaum von Raubtieren ausgefüllt war. Mit Proteles transvaalensis ist ein fossiler Vorfahr des Erdwolfs bekannt, dessen rund 1,5 Millionen Jahre alten Überreste in Swartkrans in Südafrika gefunden wurden. Er war größer als das heutige Tier, und seine Backenzähne waren noch größer. Daneben gibt es weitere, rund eine Million Jahre alte Funde aus Südafrika, die von der heutigen Art nicht mehr zu unterscheiden sind. Literatur Kay E. Holekamp und Joseph M. Kolowski: Family Hyaenidae (Hyenas). In: Don E. Wilson, Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 1: Carnivores. Lynx Edicions, 2009, ISBN 978-84-96553-49-1, S. 234–261. C. E. Koehler und P. R. K. Richardson: Proteles cristatus. In: Mammalian Species 363 (1990), S. 1–6. PDF Ronald M. Nowak: Walker's Mammals of the World. 2 Bände. 6. Auflage. Johns Hopkins University Press, Baltimore MD u. a. 1999, ISBN 0-8018-5789-9. Einzelnachweise Weblinks Aardwolf (Proteles cristata) bei Hyaena Specialist Group Hyänen
99123
https://de.wikipedia.org/wiki/Seek%C3%BChe
Seekühe
Die Seekühe (Sirenia) sind eine Ordnung pflanzenfressender Säugetiere mit heute noch vier lebenden Arten. Sie werden zur Überordnung der Afrotheria gezählt; unter den heute noch lebenden Tieren sind die Elefanten ihre nächsten Verwandten. Neben den Walen und den Robben sind Seekühe das dritte größere Taxon meeresbewohnender Säugetiere (Meeressäuger). Anders als Robben haben sie keine zur Bewegung an Land geeigneten Gliedmaßen. Im Gegensatz zu Walen halten Seekühe sich stets in Küstennähe, sogar im Süßwasser, und oft in sehr flachem Wasser auf. Merkmale Äußere Anatomie Seekühe sind massige Tiere mit einem zylindrischen Körper. Die rezenten Arten erreichen Körperlängen von 2,50 bis vier Metern, Stellers Seekuh (Hydrodamalis gigas), die im 18. Jahrhundert innerhalb von nur 27 Jahren nach ihrer Entdeckung ausgerottet wurde, wurde sogar bis 8 Meter lang. Dabei variiert das Gewicht bei den rezenten Arten zwischen 250 und maximal 1500 Kilogramm. Die Vorderbeine der Tiere sind zu Flossen umgewandelt, die Hinterbeine sind gänzlich rückgebildet. Eine Rückenfinne wie bei den meisten Walen gibt es nicht, der Schwanz ist zu einer waagerechten Flosse umgebildet. Dabei bildet ein umgebildeter Hautmuskel, der dorsale Musculus panniculus carnosus, den Hauptschlagmuskel der Schwanzflosse. Die Form der Schwanzflosse ist das deutlichste äußere Unterscheidungsmerkmal zwischen den zwei rezenten Familien. Während Gabelschwanzseekühe eine halbmondförmige Fluke besitzen, ist sie bei den Rundschwanzseekühen kreis- oder spatenförmig. Die Schnauze ist deutlich vom Kopf abgesetzt und stumpf. Sie ist von harten Tasthaaren umgeben. Die Nasenlöcher liegen auf der Oberseite der Schnauze. Verglichen mit dem Rumpf ist der Kopf verhältnismäßig groß, das Gehirn zählt aber mit einem Gewicht von nur 250 bis 350 Gramm im Verhältnis zur Körpergröße zu den kleinsten, die man unter Säugetieren finden kann. Die Haut ist sehr dick und faltig, wobei bei den heute noch lebenden Seekühen, die in tropischen Gewässern leben, die Epidermis sehr dünn ist. Stellers Seekuh hatte dagegen als Anpassung an die polaren Gewässer eine sehr dichte Epidermis mit bis zu 7,5 Zentimetern Dicke, der sie auch den Namen „Borkentier“ verdankte. Das Fell der Seekühe ist auf wenige Borsten im Bereich der Mundöffnung sowie einzelne Haare am Rumpf beschränkt, Embryonen haben dagegen noch ein vollständiges Haarkleid, und auch bei Neugeborenen sind deutlich mehr Haare vorhanden als bei den ausgewachsenen Tieren. Bau des Skeletts Wie bei den Walen kam es auch bei den Seekühen zu einer starken Pachyostose, also einer Dickenzunahme der Knochen des Skeletts, sowie einer Verdichtung der Knochensubstanz, indem die Haversschen Kanäle sowie die Markhöhle reduziert wurden. Das Skelett, und damit das gesamte Tier, wurde dadurch schwerer und der statische Auftrieb im Wasser verringert, zugleich sind die Knochen weniger flexibel und brechen leichter. Der Schädel besitzt eine sehr stark verlängerte, durch das Praemaxillare gebildete Schnauzenregion (Rostrum), welche beim Dugong noch zusätzlich vorn nach unten abgeknickt ist. Die Jochbogen sind sehr breit und liegen relativ hoch am Schädel. An diesen inseriert die sehr massive Kaumuskulatur mit dem großen Musculus masseter. Die Nasenöffnungen liegen sehr weit nach hinten verschoben auf der Dorsalseite des Schädels. Der hintere Teil des Schädels, der aus Hirn- und Schläfenregion gebildet wird, ist vergleichsweise klein. Die Bezahnung ist bei den einzelnen Taxa unterschiedlich. Bei den Rundschwanzseekühen sind die Schneidezähne zurückgebildet, bei den Dugongs bildet der erste Schneidezahn bei den Männchen einen kurzen Stoßzahn, beim Weibchen bleibt er im Kiefer. Die Eckzähne fehlen bei allen rezenten Arten ganz. Der Zahnwechsel erfolgt wie bei den Elefanten horizontal (Horizontaler Zahnwechsel), dies hat sich in beiden Gruppen allerdings unabhängig voneinander entwickelt. Dabei wachsen die Backenzähne (Prämolaren und Molaren) nacheinander aus dem Kiefer aus und werden an der Vorderkante abgenutzt. Bei den fossilen Stammgruppenvertretern ist das Gebiss noch vollständig erhalten, und damit war nur ein normaler Zahnwechsel möglich. Der vordere Teil des Gaumens ist mit Hornplatten ausgekleidet, die vermutlich beim Fressen helfen. Auch die kurze Zunge ist verhornt. Die Anzahl der Wirbel ist je nach Art unterschiedlich. Die Rundschwanzseekühe besitzen als einzige Säugergruppe neben dem Hoffmann-Zweifingerfaultier (Choloepus hoffmanni) nur sechs Halswirbel, der Dugong und auch die ausgestorbene Stellers Seekuh haben sieben Halswirbel. Darauf folgen 17 (Trichechus, Hydrodamalis) oder 19 (Dugong) Brustwirbel und zwei (Trichechus) bzw. vier bis fünf (Dugong) Lendenwirbel. Die Rudimente des Beckens sind nicht oder nur durch ein Band mit der Wirbelsäule verbunden, entsprechend ist nur ein Sakralwirbel vorhanden. Der Schwanz besteht aus 22 bis 24 (Trichechus) bzw. 28 bis 29 (Dugong) Schwanzwirbeln. Das Becken ist bis auf ein Rudiment vollständig reduziert, dabei handelt es sich um eine Spange des Sitzbeins, die im Muskelgewebe eingebettet ist. Die Hinterextremitäten fehlen vollständig. Die Vorderextremitäten sind zu paddelähnlichen Flossen umgebildet. In der Schulter ist das Schlüsselbein (Clavicula) reduziert, und das Schulterblatt (Scapula) kann dreieckig (Trichechus) oder sichelförmig (Dugong) sein. Die Hand besitzt fünf knöcherne Fingerstrahlen, die in Muskulatur eingebettet sind, und alle Gelenke sind im Gegensatz zu denen der Flossen der Wale beweglich. Innere Anatomie Die Lunge nimmt bei den Seekühen, wie bei den anderen Säugern auch, den gesamten Raum oberhalb des Zwerchfells ein. Dieses ist jedoch sehr stark in die horizontale Ebene gestreckt und reicht dabei bis kurz vor die Beckenrudimente, wodurch die Lunge im Rückenbereich liegt. Durch diese Lage wird der Auftrieb, der durch die luftgefüllten Lungen erzeugt wird, über die Horizontalebene der Tiere verteilt, was es ihnen ermöglicht, stabil im Wasser zu liegen und zu schwimmen. Das Herz liegt in Kopfnähe zwischen den Lungen und besitzt wie das der Elefanten einen tiefen Einschnitt zwischen den beiden Ventrikeln an der Herzspitze. Dadurch ist es zweizipfelig – ein Merkmal, das sich nur bei ihnen und den Rüsseltieren findet und ihre Verwandtschaft begründet (Autapomorphie). Der Magen-Darm-Trakt besteht aus einem einkammerigen Magen mit anschließendem Zwölffingerdarm (Duodenum), der eine große Ausbuchtung, die Ampulla duodeni, besitzt, sowie einem daran anschließenden Darm, der etwa das 20-Fache der Körperlänge des Tieres ausmacht. Der Magen und die Ampulla dienen vor allem der Speicherung der aufgenommenen und sehr gut durchgekauten Nahrung, die eigentliche Verdauung findet im anschließenden Darm statt. Die Nahrung braucht im Schnitt fünf Tage, bis sie fertig verdaut ist und ausgeschieden wird. Die Eierstöcke der Weibchen befinden sich nahe der Bauchwand. Die Gebärmutter ist zweihörnig (Uterus bicornis), wodurch die beiden Hälften durch eine Scheidewand (Septum) getrennt sind. Auch die Hoden der Männchen liegen im Bauchraum, der Penis liegt unter der Bauchhaut in einer eigenen Penisfalte. Die Muskulatur des Penis setzt am Sitzbeinrudiment des Beckens an. Verbreitung und Lebensraum Die Verbreitungsgebiete der heute lebenden Seekühe überschneiden sich nicht und liegen teilweise sehr weit voneinander entfernt. So findet man die einzige heute noch lebende Art der Gabelschwanzseekühe (Dugongidae), den Dugong (Dugong dugon), ausschließlich an Meeresküsten des Indischen Ozeans, einschließlich des Roten Meeres, und des südwestlichen Pazifischen Ozeans vor. Die Arten der Rundschwanzseekühe (Trichechidae) leben zum einen im Golf von Mexiko vor den Küsten Floridas und den südöstlichen USA, den Küsten Mittelamerikas und der Karibischen Inseln sowie den nördlichen Küsten Südamerikas (Karibik-Manati, Trichechus manatus), daneben im Gebiet des Amazonas in Südamerika (Amazonas-Manati, Trichechus inunguis) und schließlich an den Küsten Westafrikas zwischen dem Senegal und dem nördlichen Angola und in den dortigen Flusssystemen wie dem Niger und anderen westafrikanischen Flüssen (Afrikanischer Manati, Trichechus senegalensis). Während alle heute noch lebenden Arten in tropischen Gewässern leben, lag der Lebensraum der ausgestorbenen Stellerschen Seekuh in den polaren Gewässern des Beringmeeres. Lebensweise Sowohl über die Lebensweise als auch über das Sozialverhalten der Seekühe ist nur sehr wenig bekannt. Sie leben im Normalfall einzeln oder in kleinen Familienverbänden, manchmal kommt es auch zur Bildung größerer Gruppen mit mehreren hundert Tieren. Dabei gibt es kaum soziale Bindungen mit Ausnahme der Mutter-Kind-Beziehung, die etwa zwei Jahre andauert. Ein Tag-Nacht-Rhythmus ist nicht ausgeprägt, diese Tiere können sowohl am Tag als auch in der Nacht aktiv sein. Die Kommunikation erfolgt vor allem akustisch und taktil. Zwischen Mutter und Kind kommt es zu so genannten Mutter-Kind-Duetten, die in einem Frequenzbereich von 600 bis 6.000 Hertz erfolgen. Seekühe bewegen sich stets langsam treibend und schwimmend. Dabei kommen ausgewachsene Seekühe etwa alle ein bis fünf Minuten an die Wasseroberfläche, um zu atmen. Ausgedehntere Tauchgänge können bis etwa 20 Minuten dauern. Außer dem Menschen haben Seekühe nur sehr wenige natürliche Feinde. Dazu gehören in den Meeresgebieten vor allem größere Haie und der Große Schwertwal, in den Flüssen vor allem Krokodile und in Südamerika zusätzlich der Jaguar. Ernährung Seekühe ernähren sich vorwiegend pflanzlich, ihre Nahrung besteht aus Seegras, Algen und anderen Wasserpflanzen sowie für sie erreichbaren Blättern von Mangrovenbäumen. Manatis brauchen etwa 90 Kilogramm pflanzliche Nahrung an einem Tag, sie sind im Schnitt täglich sechs bis acht Stunden mit Fressen beschäftigt. Während die Manatis vor allem im Bereich der Wasseroberfläche fressen und die Süßwasserarten vor allem Wasserhyazinthen und Grasinseln auch von oben abweiden, fressen Dugongs ausschließlich am Meeresboden. Stellers Seekuh ernährte sich vor allem von Tang. Unklar ist, in welchem Ausmaß sie auch tierische Nahrung zu sich nehmen. Wohl unbeabsichtigt verzehren sie mit der pflanzlichen Nahrung auch kleine Wirbellose, welche die Tiere mit Protein versorgen. Es gibt Berichte, wonach Tiere in Gefangenschaft mit Begeisterung Fische gefressen haben. In Jamaika wurden Karibik-Manatis beobachtet, die Fische aus Netzen geholt und verzehrt haben. Fortpflanzung und Entwicklung Bei den Seekühen gibt es weder eine zeitlich begrenzte Paarungszeit noch ein spezifisches Paarungsverhalten. Das Weibchen hat mehrfach im Jahr einen Eisprung und verpaart sich im Wasser mit mehreren Männchen, wobei keine Rivalenkämpfe ausgetragen werden. Die Zygote bettet sich zentral in die Gebärmutter ein. Die Versorgung des Embryos bzw. Fötus erfolgt über eine Gürtelplazenta (Placenta zonaria). Das Jungtier wird nach etwa 12 bis 14 Monaten Tragezeit im Wasser geboren und schwimmt direkt aktiv zur Wasseroberfläche. Es wiegt zu diesem Zeitpunkt zwischen 10 und 30 Kilogramm. Während der folgenden 18 Monate wird das Jungtier von der Mutter gesäugt, danach bleibt es noch einige Monate im direkten Umfeld der Mutter. Mit sechs bis zehn Jahren werden Seekühe geschlechtsreif, insgesamt erreichen Manatis ein Lebensalter von etwa 40 Jahren und Dugongs eines von 60 Jahren. Stammesgeschichte Erste bekannte seekuhartige Fossilien stammen aus dem frühen Eozän Ungarns und sind etwa 50 Millionen Jahre alt. Es handelte sich um vierbeinige Pflanzenfresser, die sich noch an Land bewegen konnten, aber wahrscheinlich bereits hauptsächlich im flachen Wasser lebten. In den kommenden Jahrmillionen waren Seekühe sehr erfolgreich, wie zahllose Fossilienfunde aus den Randbereichen der Tethys belegen. So konnten Fossilien vor allem an den Küsten des heutigen Nordamerika und Europa sowie Nord- und Ostafrika, Indien, Pakistan und Java gefunden werden. Schon bald hatten sich die Hinterbeine der Tiere zurückgebildet, dafür entwickelte sich eine horizontale Schwanzflosse. Während des Eozäns bildeten sich die Seekuhfamilien der Prorastomidae (†), der Protosirenidae (†) und der Gabelschwanzseekühe. Die Rundschwanzseekühe entstanden je nach Lehrmeinung ebenfalls am Ende des Eozäns oder erst im Miozän (vor etwa 23 Mio. Jahren). Von den beiden erstgenannten Familien findet sich bereits im Oligozän (vor 23 bis 34 Mio. Jahren) keine Spur mehr, so dass es seither nur noch die rezenten Familien der Gabel- und Rundschwanzseekühe gibt. Im Miozän und Pliozän (bis vor etwa 2 Mio. Jahren) waren Seekühe sehr viel häufiger und artenreicher als heute. Vermutlich war der Klimawandel des Pleistozäns mit seinen Eiszeiten verantwortlich dafür, dass sie heute nur noch eine Restgruppe mit wenigen Arten sind. Systematik Seekühe haben mit den Rüsseltieren gemeinsame, landlebende Vorfahren und bilden entsprechend die Schwestergruppe dieser Tiere. Das Taxon, das sich aus diesen beiden Gruppen bilden lässt, wird als Tethytheria bezeichnet, da sich diese Gruppe evolutionär am Rande der Tethys entwickelte. Begründet wird die Monophylie der Tethytheria durch eine Reihe von Merkmalen, darunter das Fehlen von Schweißdrüsen, das auf einen semiaquatischen Vorfahren der frühesten Elefanten und Seekühe hinweist. Als nächste Verwandte der Tethyteria werden die Schliefer diskutiert, wobei diese Diskussion noch nicht vollständig abgeschlossen ist. Zusammen mit diesen und einigen ausgestorbenen Taxa bilden sie das Taxon der Paenungulata, die aufgrund molekulargenetischer Daten in die Überordnung der Afrotheria eingeordnet werden. Innerhalb der Säugetiere ergeben sich entsprechend folgende Verwandtschaftsverhältnisse: Innerhalb der Seekühe lassen sich zwei Familien unterscheiden: die Gabelschwanzseekühe (Dugongidae) umfassen heute nur noch eine lebende Art, den Dugong (Dugong dugon). Bis vor etwa 250 Jahren gab es noch eine weitere, heute aber ausgestorbene Art, Stellers Seekuh (Hydrodamalis gigas). die Rundschwanzseekühe (Trichechidae), auch Manatis genannt, umfassen drei Arten in einer Gattung, den Karibik-Manati (Trichechus manatus), den Amazonas-Manati (Trichechus inunguis) und den Afrikanischen Manati (Trichechus senegalensis). Auf eine weitere Art in einem Nebenfluss des brasilianischen Rio Aripuanã, eine „Zwergseekuh“ mit einer Körperlänge von etwa 1,30 Metern, gibt es Hinweise, eine wissenschaftliche Bestätigung steht allerdings bislang aus. Gefährdung und Schutz Alle Arten der Seekühe wurden für den Fleischbedarf von den Bewohnern der Küsten ihrer Verbreitungsgebiete gejagt. Dies ist vor allem für die indigenen Völker der nord- und mittelamerikanischen Küsten dokumentiert. Dabei wurden das Fleisch als Nahrung und die Haut und andere Körperteile für weitere Zwecke genutzt. William Dampier, der als britischer Freibeuter und Reisender bekannt wurde, beschrieb in seinen Reiseberichten 1681 das Karibik-Manati aus dem Golf von Mexiko sowie aus den Flüssen Panamas. Dort schilderte er außerdem die Jagd auf die Tiere durch die Miskito und die anschließende Nutzung des Fleisches als Nahrung sowie der derben Haut als Ruderriemen und als Pferdepeitschen. Dabei ist allerdings keine übermäßige Bejagung bekannt, die Jagd erfolgte im Regelfall für den aktuellen Bedarf. Im Gegensatz dazu wurden Stellers Seekühe von ihrer Entdeckung an durch Robbenjäger verfolgt und in großen Stückzahlen getötet. Die letzten Tiere verschwanden 1768, nur 27 Jahre nach ihrer Entdeckung durch Georg Wilhelm Steller. Heute werden alle vier lebenden Arten von der IUCN als gefährdet geführt. Die größte Gefährdung geht heute jedoch nicht mehr von einer Bejagung aus, sondern, vor allem für den Karibik-Manati, durch Sportboote, die den Tieren mit ihren Schrauben schwere Verletzungen beim Überfahren zufügen können. Vor allem vor den US-amerikanischen Küsten im Golf von Mexiko wurden aus diesem Grund Schutzgebiete angelegt und durch deutlich sichtbare Schilder kenntlich gemacht; Motorbootverkehr ist in diesen Gebieten nicht erlaubt. Eine weitere Bedrohung ist das Vordringen des Menschen in ihren Lebensraum; aufgrund ihres Stoffwechsels benötigen Seekühe zur Deckung ihres Energiebedarfs eine immense Menge an Wasserpflanzen und damit verbunden eine entsprechende Wasserqualität, die durch Erschließung ihrer Rückzugsgebiete immer mehr abnimmt. Besonders die Flüsse in Südamerika und Afrika werden immer stärker getrübt und mit Umweltgiften verseucht, pflanzenreiche Rückzugsgebiete werden selten. Seekühe in Mythologie, Kunst und Literatur Immer wieder werden die Seekühe mit den Sirenen oder Meerjungfrauen in der griechischen Mythologie in Zusammenhang gebracht. Da jedoch keine Seekuhart im Mittelmeer und damit im Umfeld der Griechen lebt, ist dieser Zusammenhang ausgeschlossen. Vielmehr gab es bereits zu Zeiten der Babylonier, die Zugang zum Verbreitungsgebiet der Dugongs im Roten Meer hatten, Beschreibungen von Fischmenschen, darunter etwa dem Gott Oannes sowie der Göttinnen Atargatis und Derketo, die sich auch bei den Griechen in Form der Nereiden und Tritonen wiederfanden. Den ersten Zusammenhang zwischen den Seekühen und den mythischen Meerwesen schaffte offensichtlich Christoph Kolumbus, der im Golf von Mexiko auf Karibik-Manatis stieß und diese als Meerjungfrauen beschrieb. Es wird vermutet, dass diese Assoziation vor allem durch die nahezu brustständigen Zitzen und das auf die Entfernung durch die frontal stehenden Augen menschlich wirkende Gesicht bedingt war. Tatsächlich kann man Seekühe aus der Ferne für badende Menschen halten, der Sirenengesang passt allerdings nicht zu den Seekühen. In seinem Logbuch vermerkte Kolumbus 1493, dass die Sirenen der Karibik weniger schön als bei Horaz seien. Jules Verne griff die Beschreibung der Seekuh als Meerjungfrau in seinem Werk 20.000 Meilen unter dem Meer auf, bei dem die Protagonisten einem riesigen weiblichen Dugong begegnen und ihn als Meerjungfrau identifizieren. In dem Roman wird der Dugong gejagt und harpuniert, schleift danach das Boot (ein Dingi der Nautilus) hinter sich her und attackiert und zerstört nachfolgend das Boot. Auch in Die geheimnisvolle Insel wird der Dugong als aggressives und gefährliches Tier beschrieben, das einen Hund attackiert, danach jedoch selbst Opfer eines größeren Meeresbewohners wird. Der bekannte Kryptozoologe Bernard Heuvelmans versuchte die Darstellungen der Seekühe als Meerjungfrauen zu erklären und schrieb 1990: Vor allem Stellers Seekuh erscheint nach ihrer Ausrottung immer wieder in Büchern und Geschichten. So beschreibt etwa Rudyard Kipling in seiner Geschichte Die weiße Robbe aus dem Dschungelbuch, wie die Hauptfigur Kotick auf ihrer Reise eine Gruppe weidender Riesenseekühe trifft, die ihn zu einem wunderschönen Strand führen. Jeremias Gotthelf verwendete in seinem Buch Uli der Pächter folgendes Bild: „nun kam er auf die Glungge wieder gefahren, wie eine gejagte Seekuh durch das Schilf fährt“. Ludwig Büchner verwendet in seinem Werk Kraft und Stoff die Ausrottung von Stellers Seekuh als Argument, um ein zweckbewusstes Handeln der Natur zu verneinen. Film Die letzten Paradiese: Geheimnisvolle Welt der Seekühe. Dokumentation, 2004, 45 Min., ein Film von Hans Jöchler, Produktion: Bayerisches Fernsehen. Einzelnachweise Literatur Martin S. Fischer: Sirenia, Seekühe. In: W. Westheide, R. Rieger: Spezielle Zoologie. Teil 2. Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum Akademischer Verlag, München 2004, ISBN 3-8274-0307-3. Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, Baltimor 1999, ISBN 0-8018-5789-9. J. Ripple, D. Perrine: Manatees and Dugongs of the world. Voyagour Press, Stillwater 1999. ISBN 0-89658-528-X. Ann Forsten, Phillip M. Youngman: Hydrodamalis gigas. In: Mammalian Species. The American Society of Mammalogists, New York 1982,165 (pdf; 278 kB). Sandra L. Husar: Trichechus senegalensis. In: Mammalian Species. The American Society of Mammalogists, New York 1978,89 (PDF; 407 kB). Sandra L. Husar: Trichechus inunguis. In: Mammalian Species. The American Society of Mammalogists, New York 1977,72 (pdf; 411 kB). Sandra L. Husar: Trichechus manatus. In: Mammalian Species. The American Society of Mammalogists, New York 1978,93 (pdf; 642 kB). Sandra L. Husar: Dugong dugon. In: Mammalian Species. The American Society of Mammalogists, New York 1978,88 (pdf; 861 kB). Weblinks Sirenian International (englisch) Zerbrechliche Meeresriesen. Seekühe haben extrem brüchige Knochen, wissenschaft.de, 21. März 2005 „Sleek? Well, No. Complex? Yes, Indeed.“ New York Times, 29. August 2006, mit Audio-Dia-Schau (2:37 Min.) „Die Seekuh ist zwar groß, fett und faul – aber nicht dumm“, Süddeutsche Zeitung, 29. August 2006, Kurzfassung des NYT-Artikels
106244
https://de.wikipedia.org/wiki/Eremitage%20%28Sankt%20Petersburg%29
Eremitage (Sankt Petersburg)
Die Eremitage [] oder Ermitage () in Sankt Petersburg an der Newa ist eines der größten und bedeutendsten Kunstmuseen der Welt. Auch der Gebäudekomplex, der das Museum beherbergt und zu dem der berühmte Winterpalast gehört, wird heute zusammenfassend als Eremitage bezeichnet. Er ist ein zentraler Bestandteil der zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärten Sankt Petersburger Innenstadt. Im Archiv befinden sich fast drei Millionen Objekte, unter anderem archäologische Fundstücke sowie die neben dem Louvre und dem Prado bedeutendste Sammlung klassischer europäischer Kunst. In mehr als 350 Sälen sind etwa 65.000 Exponate ausgestellt. Zu den ausgestellten Bildern gehören Werke holländischer und französischer Meister wie Rembrandt, Rubens, Matisse und Paul Gauguin. Außerdem sind zwei Gemälde des italienischen Universalgenies Leonardo da Vinci sowie im nahegelegenen Generalstabsgebäude 31 Gemälde des spanischen Malers Pablo Picasso ausgestellt. Das Museum hat etwa 2.500 Mitarbeiter. Gebäude Der Name „Hermitage“ stammt aus dem Altfranzösischen und bedeutet Einsiedelei. Hierhin zogen sich die Zaren vom politischen Alltag zurück, um sich nur mit Kunst und Muse zu umgeben. Ursprünglich trugen nur die Kleine Eremitage sowie die anschließende Alte Eremitage und das Eremitage-Theater diese Bezeichnung. Im Laufe der Zeit durch die Vergrößerung der kaiserlichen Kunstsammlung wurden im 18. und 19. Jahrhundert die Bauwerke vergrößert und erweitert. Mit dem Bau der Neuen Eremitage als Museum verwandelte sich die Sammlung in ein öffentliches Museum und der Name wurde allgemein für den gesamten Gebäudekomplex verwendet. Nach der russischen Revolution von 1917 wurde der benachbarte Winterpalast, die ehemalige Hauptresidenz der russischen Zaren, ebenfalls dem Museum übertragen und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ende des 20. Jahrhunderts expandierte das Museum erneut, neben dem eigentlichen Eremitage-Komplex kamen noch ein Teil des Generalstabsgebäudes (auf dem Palastplatz gegenüber dem Winterpalast) und des Menschikow-Palais zu den Räumlichkeiten des Museums hinzu. Kleine Eremitage Die im Stil des Klassizismus gehaltene Kleine Eremitage von Jean-Baptiste Vallin de La Mothe wurde von 1764 bis 1775 ursprünglich als Refugium für Katharina II. gebaut und ist das kleinste Gebäude des Ensembles. Hier brachte Katharina die ersten von ihr gekauften Gemälde unter. Alte Eremitage Die Alte Eremitage, auch als Große Eremitage bezeichnet, wurde 1787 von Georg Friedrich Veldten angeschlossen, um die rasch wachsende Kunstsammlung aufzunehmen. Sie ist das schmuckloseste Gebäude des Komplexes. Eremitage-Theater Das Eremitage-Theater entstand von 1783 bis 1787. Das Hoftheater des Kaisers war damit das erste Theater von Sankt Petersburg. Es wurde bis 1796 und wieder ab 1989 bespielt; im Winter tritt hier unter anderem das Kirow-Ballett auf. Es dient heute vor allem als Verwaltungsgebäude, besitzt aber auch noch eine Bühne und einen Zuschauersaal. Das Theater ist das kleinste der Stadt, da es ursprünglich nur für die Privatvorführungen der Zarenfamilie gedacht war. Das Eremitage-Theater ist das einzige Gebäude der Eremitage, das im Normalfall Besuchern nicht offensteht. Neue Eremitage Leo von Klenze, bayerischer Hofarchitekt, errichtete zwischen 1839 und 1852 die Neue Eremitage als letztes Gebäude; es ist vielleicht das einzige seiner Werke, das ohne die restriktiven Stilwünsche Ludwig I. von Bayern und somit ganz und gar nach Klenzes Vorstellungen entstand. Es ist das einzige Gebäude, das nicht direkt an der Newa steht. Auch dieser Bau war von Anfang an dafür bestimmt, die Kunstschätze der weiter gewachsenen Sammlung aufzunehmen. In der Neuen Eremitage befindet sich unter anderem ein kompletter Nachbau eines eigentlich von Raffael im Vatikan gestalteten Ganges. Die von A. I. Terebenjow mit 150 Bildhauern und Steinmetzen in Serdabol-Granit ausgeführten zehn Telamone am Ostportal sind die heute vielleicht berühmtesten Atlas-Figuren dieser Art weltweit. Winterpalast Der erste Winterpalast wurde 1711 gebaut und im Laufe der Zeit mehrmals abgerissen und erweitert. Der heutige Außenbau entspricht den Umbaumaßnahmen durch Bartolomeo Francesco Rastrelli (1754–1762). Am brannte der Winterpalast durch ein 30-stündiges Feuer im Inneren völlig aus. Kaiser Nikolaus I. ordnete eine Wiederherstellung der Residenz nach früherem Zustand an, welche zu Ostern 1839 abgeschlossen wurde. Der derzeitige Zustand entspricht im Wesentlichen dem Zustand des Gebäudes nach der Wiederherstellung. Im Großen Vaterländischen Krieg wurde der Winterpalast bei der Leningrader Blockade beschädigt und anschließend erneut restauriert. Heute setzen ihm vor allem die großen Besuchermassen, die mangelnde Standfestigkeit auf Sumpfgebiet sowie die Feuchtigkeit direkt am Fluss zu. Eine Sanierung erfolgte im Jahre 1984 und eine weitere im Jahre 2005. Geschichte Katharina II.: Gründung und erster Ausbau Die Eremitage sowohl als Gebäudekomplex als auch als eigenständige Kunstsammlung wurde von der russischen Kaiserin Katharina der Großen gegründet. Im Jahre 1764 kaufte sie 225 Gemälde von dem Berliner Kunsthändler Johann Ernst Gotzkowsky; dieser hatte sie ursprünglich für den preußischen König Friedrich II. erworben, der jedoch aufgrund der leeren Staatskassen nach dem Siebenjährigen Krieg verzichten musste. 1765 kaufte sie für 80.000 Taler fast 1.000 Bilder aus der Gemäldesammlung des Grafen Brühl, deren Wert in dessen Nachlassverzeichnis auf 105.329 Taler geschätzt worden war. Die Bilder wurden im Winterpalast ausgestellt. Katharina erwarb weiterhin bedeutende Gemälde, teilweise ganze Sammlungen, sowohl um ihren Anspruch als Sammlerin zu befriedigen, teilweise auch um die Aufgeklärtheit und den hohen kulturellen Stand Russlands und Sankt Petersburgs gegenüber dem westlichen Europa hervorzuheben. Als ihre Berater beim Erwerb von Kunstwerken fungierten unter anderen die Enzyklopädisten Melchior Grimm, Denis Diderot und russische Diplomaten wie Dmitri Golizyn und Alexander Stroganow. 1775 ließ Katharina im Stil der damaligen Mode von dem Architekten J. B. Vallin de la Mothe eine kleine Eremitage (Einsiedelei) neben den eigentlichen Palast bauen, um sich hier privat oder in kleinen Gruppen zurückzuziehen – die spätere Kleine Eremitage. Bald musste ein zweites größeres Gebäude hinzugebaut werden, um die Sammlung zu beherbergen; die heutige Alte Eremitage wurde 1784 vom Architekten Veldten entworfen. In der Kleinen Eremitage wurden zu dieser Zeit auch schon Theaterstücke aufgeführt; ab 1783 ließ Katharina zu diesem Zweck ein eigenes Gebäude, das Eremitage-Theater, bauen. Fast zeitgleich zu diesen Gebäuden entstanden am Quai des Winterkanals die Rafael-Loggien, die eine genaue Nachbildung des Vatikanpalastes in Rom sind. Im Jahr 1797 umfasste die schnell wachsende Sammlung 3.996 Gemälde. Alexander I. bis Nikolaus II.: Weiterer Ausbau und Anfang des Museums In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die verschiedenen Sammlungen geordnet und durch den Zustrom orientalischer Kunstwerke und archäologischer Fundstücke erweitert. Neu war die Anordnung der Gemälde in nationale Schulen; 1825 kamen erstmals auch Säle mit russischer Kunst des 18. Jahrhunderts dazu. War die Gemäldesammlung bis zu dieser Zeit nur Mitgliedern des engen höfischen Kreises zugänglich, so markierte der einen Wendepunkt: Der Zar trennte organisatorisch die Zarenresidenz und die Eremitage-Sammlung. Damit wurde das Museum erstmals, wenn auch unter starken Einschränkungen, öffentlich zugänglich. Nikolaus I. eröffnete die Neue Eremitage, die sich baulich zwar an den alten Gebäudekomplex anschloss, jedoch einen eigenen Eingang erhielt und als öffentliches Museum zugänglich war. Das neue Gebäude war in den Jahren 1839 bis 1851 unter der Leitung der Architekten Wassili Petrowitsch Stassow und Jefimow nach Plänen von Leo von Klenze erbaut worden. Nikolaus I. kümmerte sich auch weiter um den Aufbau der Sammlung, unter anderem kaufte er von den Erben Joséphines, der Gattin Napoleons, deren während der Napoleonischen Kriege entstandene Sammlung. Seit der Oktoberrevolution Nach der Oktoberrevolution 1917 wurden zahlreiche Privatsammlungen enteigneter russischer Adliger, so etwa der Familien Stroganow, Scheremetew, Jussupow und Schuwalow, in die Eremitage überführt. Das Kaiserliche Museum wurde kurz darauf in Staatliches Museum umbenannt und das Gebäude des Winterpalastes als Ausstellungsraum für die Öffentlichkeit geöffnet. Die ersten Jahre nach der Oktoberrevolution waren kulturell insbesondere im damaligen Petrograd von einer westeuropäischen und an den Idealen der Aufklärung orientierten Kunst geprägt. Das erste Ministerium für Bildung nach der Oktoberrevolution nannte sich Volkskommissariat für Bildungswesen – ein Geist, der sich in den ersten Jahren auch in der Eremitage niederschlug. Kurz nach der Revolution wurde der Winterpalast für Lesungen, Vorträge und Filmvorführungen geöffnet. Die erste Ausstellung über das antike Ägypten wurde 1920 eröffnet, ab 1922 war die Eremitage in Gänze für das Publikum geöffnet, in den ersten fünf Jahren noch ohne Eintrittsgeld. Bis in die Mitte der 1930er Jahre war im Winterpalast neben dem Eremitage-Museum noch ein Museum der Oktoberrevolution eingerichtet. Dezimierung der Sammlungen In den 1920er Jahren fanden langwierige Verhandlungen mit dem heutigen Moskauer Puschkin-Museum über die Abtretung von Museumsbeständen statt. Am 28. Januar 1927 wurde eine Vereinbarung getroffen, 700 Gemälde aus dem Depot der Eremitage dem Moskauer Museum zu überlassen. Später kamen 70 Spitzenwerke aus den Ausstellungsräumen ebenfalls ins Puschkin-Museum. Hierzu gehörten Veroneses Minerva und Poussins Die Schlacht von Josef gegen die Amoriter. Weitere Werke mussten an verschiedene Provinzmuseen abgegeben werden. Zur Umsetzung des ersten Fünfjahrplanes der UdSSR beschloss das Außenhandelsministerium, über die 1925 gegründete Organisation Antiquariat Kunstwerke der staatlichen Museen gegen Devisen in den Westen zu verkaufen. Zwischen 1928 und 1933 gelangten über die Kunsthändler Matthiesen (Berlin), P. & D. Colnaghi & Co. (London) und M Knoedler & Co (New York) 2.880 Gemälde der Eremitage ins Ausland. Hierunter waren 250 Hauptwerke und 50 Gemälde von Weltgeltung. Darüber hinaus hatten verschiedene mit der Sowjetunion geschäftlich verbundene Persönlichkeiten die Möglichkeit, direkt vor Ort aus den Beständen der Eremitage Kunstwerke auszuwählen. Der armenische Ölmilliardär Calouste Gulbenkian wählte für seine Sammlung Bouts’ Verkündigung, Rubens’ Porträt der Helena Fourment, eine Büste der Diana von Houdon, Rembrandts Pallas Athene, Porträt des Titus, Porträt eines alten Mannes, Watteaus Mezzetin, Terborchs Musikstunde und Lancrets Badende aus und zahlte hierfür 325.000 britische Pfund. Der amerikanische Bankier und Finanzminister Andrew W. Mellon kaufte für seine Sammlung Jan van Eycks Verkündigung, Botticellis Anbetung der Könige, Peruginos Kreuzigung, Raffaels Georg mit dem Drachen und die Madonna Alba, Tizians Venus mit dem Spiegel, Van Dycks Porträt der Isabella Brant, Susanna Fourment und ihre Tochter und das Porträt des Lord Philip Wharton, Rembrandts Polnischer Edelmann, Mädchen mit Besen und das Porträt einer Dame mit Nelke sowie Frans Hals’ Porträt eines jungen Mannes und bezahlte hierfür 6.654.033 Dollar. Auch der amerikanische Ölhändler Armand Hammer konnte in kleinerem Umfang von diesem Ausverkauf profitieren. Hammer gründete später ein eigenes Museum in Los Angeles, während die Sammlung Gulbenkian in einem eigenen Museum in Lissabon zu besichtigen ist. Die umfangreiche Sammlung Mellon war 1941 ein wesentlicher Grundstock bei der Gründung der National Gallery in Washington D.C. Aus dem ehemaligen Besitz der Eremitage gelangten weitere Spitzenwerke in folgende Museen: Tiepolos Fest der Kleopatra in die National Gallery of Victoria nach Melbourne, Poussins Triumph des Neptun und der Aphrodite ins Philadelphia Museum of Art, Rembrandts Petrus verleugnet Christus und Antonio Moros Porträts Sir Thomas Gresham und Anne Fernley ins Amsterdamer Rijksmuseum sowie Jan van Eycks Kreuzigung und Jüngstes Gericht ins New Yorker Metropolitan Museum. Während der Belagerung von Leningrad Die Eremitage war eines der Ziele der Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht. Die Stadt, an deren Bestehen laut einem Wehrmachtsbefehl kein Interesse bestünde und die mit konstantem Artilleriefeuer und Luftbombardements dem Erdboden gleichgemacht werden sollte, litt in den Jahren schwer. Die Gebäude der Eremitage wurden insgesamt von 17 Artilleriegeschossen und zwei Fliegerbomben schwer getroffen. Die Bestände der Sammlung wurden teilweise im Keller des Museums gelagert; mehr als eine Million Stücke wurden nach Jekaterinburg in Sicherheit gebracht. 12.000 Menschen lebten zu dieser Zeit in der Eremitage, um die Ausstellungsstücke zu retten und die Schäden der Sammlung durch Kälte und Bomben möglichst gering zu halten. Die erste Ausstellung mit in der Eremitage verbliebenen Stücken wurde kurz nach Ende der Belagerung bereits am 7. November 1944 eröffnet; die offizielle Wiedereröffnung des Museums fand mit allen Ausstellungsstücken am 5. November 1945 statt. Die Renovierung des Gebäudes zog sich aber noch über mehrere Jahre hin. Nachkriegszeit bis 1990 Am Ende des Zweiten Weltkrieges kamen umfangreiche Bestände deutscher Museen und Sammlungen als Beutekunst unter anderem in die Eremitage. 1948 wurden die Kunstbestände aufgestockt durch einen großen Teil der Sammlung des Museums für neue westliche Kultur in Moskau. Besonders bedeutend waren davon die Sammlungen der beiden Kunstmäzene des Zarenreichs, Sergei Iwanowitsch Schtschukin und Iwan Abramowitsch Morosow. Aus diesen Sammlungen kamen die meisten der sich heute in der Eremitage befindlichen Kunstwerke des 20. Jahrhunderts, unter anderem alle in der Eremitage ausgestellten Bilder von Pablo Picasso. Öffentlich ausgestellt werden konnten diese Werke, die zum größten Teil nach sowjetischer Diktion des Formalismus schuldig waren, erst nach dem Tod Stalins. Sowjetische Bestände, die im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht entwendet und von der Roten Armee wieder sichergestellt wurden, landeten ebenso im Museum wie deutsche Beutekunst. Seit 1990 wurden Teile davon wieder zurückgegeben, andere Teile befinden sich in einer Sonderausstellung im Museum. Dort findet man auch Teile des königlichen Tafelsilbers der Wettiner vom Schloss Moritzburg bei Dresden. Das Tafelsilber stammt aus den 40 Kisten, welche die Rote Armee 1945 im Moritzburger Forst ausgegraben hatte. Den Fundort erfuhr sie durch Folter des Revierförsters, der das Versteck kannte. Im Depot der Ermitage soll sich amtlich bestätigt ein Taufbecken der Wettiner von 1613 von Daniel Kellerthaler befinden. In diesem Taufbecken wurde der sächsische Kurfürst und König von Polen, August der Starke (1670–1733) getauft. Am 15. Juni 1985 verübte ein psychisch Gestörter ein Attentat auf das Gemälde Danae von Rembrandt van Rijn: Er begoss es mit Schwefelsäure und stach zweimal mit einem Messer auf das Bild ein. Die notwendige Restaurierung übernahmen hauseigene Experten. Seit 1997 ist es wieder für die Öffentlichkeit ausgestellt. Nach der Auflösung der Sowjetunion Die Eremitage galt als eines der Aushängeschilder der Sowjetunion, war allerdings im Westen kaum bekannt. Die Verwaltung und alle Entscheidungen oblagen faktisch dem Politbüro der KPdSU. Seit 1996 befindet sich die Eremitage offiziell direkt unter der Patronage des russischen Präsidenten. Seit 1990 besitzt das Museum eine größere Autonomie, leidet aber unter Finanzierungsmängeln. Beispielsweise beantragte das Museum 1996 beim russischen Staat 60 Millionen US-Dollar, der Staat versprach 40 Millionen zu finanzieren und zahlte letztlich 18 Millionen. Die Zahlen für 1997 (90 Mio. / 30 Mio. / 12 Mio.) und 1998 (7,4 Mio. / 5,4 Mio. / 2,7 Mio.) waren noch niedriger. Zusammen mit dem Bolschoi-Theater und der Lenin-Bibliothek bezeichnet die UNESCO die Eremitage als ihr wichtigstes Projekt in Russland. Betrug das Budget des Museums Anfang der neunziger Jahre gerade einmal 1 % von dem des Metropolitan Museums, ist die Zahl mittlerweile auf 10 % gestiegen. Ungefähr 60 % der Kosten werden vom russischen Staat bezahlt. Viele der 2.500 Angestellten müssen abends und nachts in weiteren Jobs arbeiten, da die Entlohnung des Museums nicht ausreicht. Seit der Öffnung des Landes ist die Eremitage von den vielen Touristenzielen der Stadt wahrscheinlich das bedeutendste. Es gab eine langfristige Zusammenarbeit mit der Solomon R. Guggenheim Foundation. Hierzu gehörte ein in Verbindung mit dem Solomon R. Guggenheim Museum betriebenes Guggenheim Hermitage Museum in Las Vegas, das von 2001 bis 2008 Ausstellungen zeigte. Ein ähnliches Projekt in London waren die Hermitage Rooms im Courtauld Institute of Art, die von 2000 bis 2007 bestanden. Die Niederlande haben das Museum ebenfalls seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion finanziell und technisch unterstützt. Am 24. Februar 2004 eröffnete mit der Hermitage Amsterdam ein Ableger in Amsterdam. Diese Zusammenarbeit endete 2022 im Zusammenhang mit dem russischen Überfall auf die Ukraine. Das Museum arbeitet derzeit an einer Digitalisierung der Bestände. Im Gegensatz zu vielen anderen Museen sind selbst die vom Museum gemachten Aufnahmen für private, nichtkommerzielle und bildende Zwecke frei verwendbar. Sammlungen Von den ungefähr 250 Museen der Stadt ist die Eremitage mit 2,4 Millionen Besuchern (2009) das bestbesuchte und international bedeutendste. 2016 hatte das Museum 4.119.103 Besucher. Sie ist eines der bedeutendsten Kunstmuseen der Welt. Sie beherbergt eine große Sammlung der europäischen Bildenden Kunst bis 1917 (das Jahr der Oktoberrevolution). Deren besonders enge Reihung bezeichnet man als Petersburger Hängung. In ihrem Archiv beherbergt die Eremitage mehr als 2,7 Millionen Ausstellungsstücke. In den 350 Ausstellungsräumen sind davon 65.000 in sechs Sammlungen ausgestellt. Es sind Sammlungen über prähistorische Kultur, Kunst und Kultur der Antike, Kunst und Kultur der Völker des Ostens, westeuropäische Kunst und russische Kunst zu sehen. Archäologische Sammlungen Zu den bedeutenderen Teilen der Sammlung gehören zum Beispiel das Gold der Skythen, umfangreiche Sammlungen römischer und etruskischer Kultur und die größten und besterhaltenen Museumsbestände über die Hunnen. Die so bezeichnete Schatzkammer zeigt eine Geschichte des Goldschmied- und Juwelierhandwerks seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. Weiterhin ist eine umfangreiche Sammlung zur Geschichte Sibiriens vorhanden, wie Tausende schriftliche Dokumente des vierten und fünften Jahrhunderts aus den chinesischen Mogao-Grotten. Das älteste bekannte Zeugnis mongolischer Schrift, der sogenannte Dschingisstein, befindet sich ebenso in der Eremitage wie umfangreiche Fundstücke aus der Zeit und Gegend des Kiewer Rus. Ungefähr ein Drittel aller Ausstellungsstücke sind Münzen, allein 120.000 aus der Antike, 220.000 aus Ostasien und 300.000 Münzen der russischen Geschichte. Russische Kunst Zu den Sammlungen russischer Kunst gehören Ikonen seit dem 12. Jahrhundert, unter anderem aus Kiew, Nowgorod und Moskau, Juwelen aus der Fabergé-Werkstatt und eine große Zahl historischer Kostüme. Daneben sammelten vor allem die Kaiser angewandte russische Kunst wie Teppiche und Porzellan. Die Sammlung an russischen Gewändern des 18. bis 20. Jahrhunderts ist beeindruckend. Unter den Gewändern befinden sich unter anderem mehr als 300 Zarengewänder von Peter dem Großen. Da der größte Teil der russischen Kunst mittlerweile in das Russische Museum ausgelagert wurde, ist die mittel- und westeuropäische Kunst und Kultur der bedeutsamste Teil der Sammlung. Mittel- und westeuropäische Kunst Von Beginn an, jedoch vor allem durch die Sammeltätigkeit im 18. Jahrhundert, lag der Schwerpunkt der Eremitage auf der mittel- und westeuropäischen Kunst. In ganz Europa entstanden in dieser Zeit umfangreiche Sammlungen von bedeutenden Kunstwerken – der russische Kaiserhof genoss in dieser Zeit einen besonderen Ruf als einer der größten Aufkäufer von wertvollen Sammlungen. 1772 ging eine der berühmtesten Kollektionen der Zeit, die Sammlung Crozat, in russischen Besitz über. Darunter waren Tizians Danaë, Raffaels Heilige Familie, Rubens Bildnis einer Kammerfrau und viele andere. In 120 Räumen befinden sich vor allem Werke italienischer, französischer, niederländischer und flämischer Maler, darüber hinaus gibt es die Themenbereiche englische und deutsche Kunst. Italienische Malerei Die italienische Malerei bildet im Bereich der klassischen europäischen Kunst wahrscheinlich den wichtigsten Teil der Sammlung. Berühmt und meist von Besuchern umlagert sind zwei der weltweit bekannten zwölf Originale von Leonardo da Vinci, die Madonna mit einer Blume (1478) und die Madonna Litta (1490/91). Einen ebenso hohen Status genießen die Madonna Conestabila (1502/03) und Die Heilige Familie (1506) von Raffael. Zudem befindet sich ein, allerdings wesentlich späterer, Nachbau der vatikanischen Raffael-Loggia im Museum. Das Museum beherbergt weitere Werke von Giambattista Pittoni, Tizian, vor allem aus seiner späteren Phase, Giorgiones Judith sowie Bilder von Michelangelo, Paolo Veronese, Caravaggio, Annibale Carracci, Luca Giordano, Salvator Rosa, Giuseppe Maria Crespi, Tiepolo, Stefano Torelli, Vincenzo Petrocelli und Francesco Guardi. Spanische Malerei Bekannteste Namen der Sammlung spanischer Malerei sind El Greco (Die Apostel Petrus und Paulus), Jusepe de Ribera (Christus am Kreuz – das erste datierte Bild der realistischen Schule der spanischen Malerei), Francisco de Goya (Porträt von Antonia Zárate, etwa 1811, nur ein Gemälde in der Eremitage) und Velázquez. Weiterhin hängen dort Werke von Murillo, Zurbarán und Juan Pantoja de la Cruz. Flämische Malerei Die Eremitage beherbergt etwa 500 Gemälde von mehr als 140 Künstlern aus der bedeutendsten Phase der flämischen Schule. Insbesondere hat sie eine bedeutende Sammlung der Werke von Jacob Jordaens sowie von Peter Paul Rubens und seiner Schüler Anthonis van Dyck und Frans Snyders. Allein von Rubens befinden sich 22 Gemälde (unter anderem Perseus und Andromeda und Bacchus) und 19 Zeichnungen in der Sammlung. Begründet wurde dieser Teil der Sammlung 1769, als der russische Staat von den Erben Heinrich von Brühls 600 flämische, holländische und französische Gemälde kaufte. Darunter waren Rembrandts Bildnis eines Gelehrten und Bildnis eines alten Mannes in Rot sowie vier Landschaftsgemälde von Jacob Izaaksoon van Ruisdael. Niederländische Malerei Neben der Malerei des frühen 20. Jahrhunderts ist wahrscheinlich die Ausstellung der Bilder Rembrandts der bekannteste Teil der Kunstsammlung. Das Museum beherbergt mit mehr als 20 Gemälden die größte Sammlung außerhalb der Niederlande; bedeutende Gemälde sind beispielsweise Saskia als Flora (1634), Danae (1636) und Die Rückkehr des verlorenen Sohnes (1668/69). Daneben sind weitere 1000 Stücke niederländischer Maler ausgestellt. Vertretene Künstler sind Lucas van Leyden, Rogier van der Weyden, Jacob van Utrecht, Jan van Goyen, Jacob van Ruisdael, Jan Steen, Gerard ter Borch, Pieter de Hooch, Adriaen van Ostade, Isaac van Ostade, Paulus Potter, Willem Claesz Heda, Willem Kalf und von Frans Hals. Französische Malerei Die Eremitage beherbergt eine große Auswahl klassischer französischer Maler. Dazu gehören Nicolas Poussin, Claude Gellée, Gemälde der Brüder Le Nain, von Antoine Watteau, François Boucher, Jean-Honoré Fragonard, Hubert Robert, Jean Baptiste Greuze und Jean Siméon Chardin. Die besonders bekannte Sammlung früher moderner Malerei, die – bis zum historischen Bruch 1917 – einen umfassenden Einblick in die Entwicklung der Malerei erlaubt befindet sich seit 2014 im gegenüberliegenden Generalstabsgebäude. Dazu gehören sieben Bilder von Claude Monet, weitere von Édouard Manet, Pierre-Auguste Renoir, Alfred Sisley, Paul Cézanne, Paul Gauguin, 37 Bilder von Henri Matisse und 31 Bilder von Pablo Picasso. Deutsche Romantik Die Eremitage beherbergt in einem großen Raum Gemälde der Deutschen Romantik, insbesondere mehrere Gemälde von Caspar David Friedrich sind hier zu sehen. Weitere Maler Andere vertretene Maler sind u. a. Lucas Cranach der Ältere, Johann Friedrich Tischbein, Joshua Reynolds, Thomas Gainsborough, William Allan. Von Kasimir Malewitsch ist Das Schwarze Quadrat zu sehen. Weitere bildende Künste Während die Malerei der Kern der Sammlung ist, beherbergt die Eremitage auch Zeichnungen, mehr als 50.000 Druckgraphiken (Holzschnitte, Lithographien, Radierungen) verschiedener Genres und Epochen sowie umfangreiche Sammlungen angewandter Kunst. Dazu gehören insbesondere Kirchengerät des 11. bis 15. Jahrhunderts, Emailarbeiten und Elfenbeinschnitzereien des 15. bis 18. Jahrhunderts. In der Eremitage stehen umfangreiche Sammlungen an venezianischem, deutschem und spanischem Glas des 15. bis 20. Jahrhunderts, Majolika und Fayencen. Weiterhin gehören 14.000 Stück Porzellan aus allen großen Manufakturen, darunter besonders Meißen und Sèvres, zur Sammlung. Ebenfalls zur angewandten Kunst zählen große und bedeutende Sammlungen an Teppichen, Gobelins und Möbelkunst. Die Sammlung der Plastiken ist mit mehr als 2.000 Objekten eine der größten der Welt. Sie enthält unter anderem Werke von Michelangelo und Rodin. Medien Für eine große internationale Resonanz sorgte der deutsch-russische Spielfilm Russian Ark (2002). Der Historienfilm spielt im Winterpalast mit mehr als 2000 Schauspielern und Komparsen und wurde in nur einer einzigen Einstellung gedreht, die länger als 90 Minuten andauert. Dabei werden dreihundert Jahre russische Geschichte nacherzählt, die sich vor dem Hintergrund des ehemaligen Palastes abspielt. Weniger die Schauräume, sondern die Keller und andere dem Publikum nicht zugänglichen Räume der Eremitage stehen im Mittelpunkt der Dokumentation „Eremitage – Palast der Katzen“. Die Fernseh-Reportage von Jan Hinrik Drevs stellt die in der Eremitage lebenden Katzen und das sie versorgende Wachpersonal vor. Katzen gibt es hier seit 1745 per Dekret von Zarin Elisabeth Petrowna, um das Inventar vor Nagetieren zu schützen. Im Computerspiel Memento Mori ist ein Diebstahl eines Gemäldes aus der Eremitage das Grundmotiv der Spielgeschichte. Direktoren Florian Schill und Fjodor Bruni (bis 1863) Stepan Gedeonow (1863–1878) Alexander Wassiltschikow (1879–1888) Sergei Trubezkoi (1888–1899) Iwan Wsewoloschski (1899–1909) Dmitri Tolstoi (1909–1918) Sergei Troinizki (1918–1927) Oskar Waldhauer (1927–Februar 1928) German Lasaris (Februar 1928–November 1928) Pawel Klark (Dezember 1928–August 1929) Wladimir Sabreschnew (März 1929–März 1930) Leonid Obolenski (März 1930—September 1930) Boris Legran (Januar 1931–1934) Joseph Orbeli (1934–1951) Michail Artamonow (1951–1964) Boris Piotrowski (1964–1990) Witali Suslow (1990–1992) Michail Piotrowski (seit 1992) Sonstiges Aus Anlass des 150-jährigen Jubiläums der Neuen Eremitage im Jahr 2002 wurden mehrere Gedenkmünzen in Silber und Gold von der russischen Zentralbank emittiert. Diese russischen Münzen bilden Teile der Eremitage oder besondere Kunstobjekte ab. Der Freiwilligendienst am Staatlichen Eremitage-Museum unterstützt das Museum auf ehrenamtlicher Basis. Literatur Geschichte Geraldine Norman: The Hermitage. London 1997, ISBN 0-224-04312-9 (Geschichte des Museums). Sergei Varshavsky: The ordeal of the Hermitage, the siege of Leningrad, 1941–1944. Leningrad 1986. Marianna Butenschön: Ein Zaubertempel für die Musen. Die Ermitage in St. Petersburg. Köln 2008, ISBN 978-3-412-20102-9. Sergej G. Fedorov, Bernhard Heres, Werner Lorenz: Eiserne Eremitage. Bauen mit Eisen im Russland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (2 Bände). Edition Bautechnikgeschichte hrsgn. v. Werner Lorenz u. Karl-Eugen Kurrer. Berlin 2022, ISBN 978-3-433-03156-8 Sammlungen B. B. Piotrovsky (Hrsg.): The Hermitage catalogue of Western European painting. Gosudarstvennyj Ermitaz, Leningrad/St. Petersburg 1983ff. (Offizieller Katalog in 15 Bänden.) Witali Suslow (Hrsg.): Die Ermitage: Westeuropäische und russische Kunst. Leipzig 1988. Witali Suslow (Hrsg.): Die Ermitage. Frühgeschichtliche Kunst, Antike Kunst, Kunst des Orients, Numismatik. Leipzig 1990, ISBN 3-363-00412-5. Filme (Auswahl) Oktober. (OT: Октябрь.) Spielfilm, Sowjetunion, 1928, 102 Min., Buch und Regie: Sergei Eisenstein und Grigori Alexandrow. Russian Ark – Eine einzigartige Zeitreise durch die Eremitage. Spielfilm, Russland, Deutschland, 2002, 92 Min., Buch: Anatoli Nikiforow, Boris Chaimski, Swetlana Proskurina, Regie: Alexander Sokurow, Kamera: Tilman Büttner. Eremitage – Palast der Katzen. Dokumentarfilm, Deutschland, 2005, 52:26 Min., Buch und Regie: Jan Hinrik Drevs, Produktion: MedienKontor FFP, GEO, arte, Reihe: 360° – Geo-Reportage, Folge 186, Erstsendung: 10. Dezember 2005 bei arte, Inhaltsangabe mit Sendetext von Geo, Filmausschnitt von Drevs (5:32 Min.). Die Eremitage. Ein Palast für die Kunst. (OT: Hermitage Revealed.) Dokumentarfilm, Großbritannien, 2014, 52 Min., Buch und Regie: Margy Kinmonth, Produktion: Arts Alliance, Foxtrot Films, Vladimir Potanin Foundation, Kinostart: 9. September 2014 in Großbritannien, deutsche Erstsendung: 27. März 2016 bei arte, , Filmseite. Weblinks Internetpräsenz der Eremitage St. Petersburg (englisch, russisch), mit 3D-Panoramen Die Eremitage Amsterdam (englisch, niederländisch) Die UNESCO und die Eremitage (englisch) Die Eremitage St. Petersburg im Google Art Project Einzelnachweise Kunstmuseum in Russland Museum in Sankt Petersburg Barockbauwerk in Sankt Petersburg Schloss in Russland Schloss in Europa Bestandteil einer Welterbestätte in Russland Bestandteil einer Welterbestätte in Europa Leo von Klenze Zarenpalast Erbaut in den 1750er Jahren Gegründet 1764
108803
https://de.wikipedia.org/wiki/Mata%20Hari
Mata Hari
Mata Hari ( „Sonne“, wörtlich „Auge des Tages“) war der Künstlername der niederländischen Tänzerin Margaretha Geertruida Zelle (* 7. August 1876 in Leeuwarden; † 15. Oktober 1917 in Vincennes bei Paris, Frankreich). Während ihrer Ehe verwendete sie auch die Namen Marguerite Campbell und Lady Gretha MacLeod. Als Spionin des deutschen Nachrichtendienstes führte sie den Decknamen H 21. Mata Hari war in der Zeit vor und während des Ersten Weltkrieges als exotische Tänzerin und exzentrische Künstlerin berühmt. Wegen ihrer Spionagetätigkeit für die Deutschen wurde sie am 25. Juli 1917 wegen Doppelspionage und Hochverrats von den Richtern eines französischen Militärgerichts zum Tode verurteilt und am 15. Oktober in Vincennes hingerichtet. Mata Hari war nie die raffinierte Doppelagentin, wie in dem Urteil von 1917 und späteren Darstellungen stilisiert – eher ein willkommenes Bauernopfer des französischen Militärgerichts, weil die Kriegsbegeisterung merklich nachließ und ein Sündenbock für die Niederlagen und Verluste hilfreich schien. Mata Hari trat im Spätherbst 1915 in den Dienst des deutschen Geheimdienstes III b und wurde im Folgejahr zusätzlich durch den französischen Geheimdienst für Aktivitäten gegen das Deutsche Reich angeworben. Aus den zeitgenössischen Akten des britischen Geheimdienstes Security Service (MI 5), die am 21. Januar 1999 freigegeben wurden und nun in den britischen The National Archives öffentlich zugänglich sind, geht jedoch hervor, dass sie keine wesentlichen Geheimnisse, weder an die Deutschen noch die Franzosen, verraten hat – sie verfügte nicht über die Kontakte in neuralgische militärische oder kriegswichtige Bereiche. Aus der gegenwärtigen Quellenlage scheint es, als habe Mata Hari unter akuter Geldnot leidend am Ende ihrer Tanzkarriere mit einer kläglich-naiven, bedeutungslosen Informationstätigkeit ihr drohendes Schicksal, als Künstlerin in Vergessenheit zu geraten, abzuwenden versucht und dabei die Gefährlichkeit ihres Handelns nicht erkannt. Die deutsche Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, die den Fall auszunutzen gedachte, bezeichnete sie als „Opfer des französischen Kriegswahns“ und läutete mit dem politischen Finale des Idols seine dramatisch-romantische Verklärung ein. Bislang war ihre Lebensgeschichte Stoff für über 250 Bücher und ein Dutzend Filme. Die Quellenlage ist jedoch nach wie vor dünn, basiert doch nur ein Bruchteil dieser Bücher und Filme auf verlässlichen Quellen oder ist geneigt, sich den tatsächlich historischen Abläufen zu stellen. Künstlername Der Künstlername Mata Hari stammt aus der malaiischen Sprache und bedeutet „Sonne“ bzw. wörtlich übersetzt „Auge“ (mata) des „Tages“ (hari). Nach anfänglichen Erfolgen als Tänzerin legte sich Margaretha Geertruida MacLeod diesen Namen 1905 zu und unterstützte damit indirekt in der Presse verbreitete Gerüchte, dass sie die Tochter eines orientalischen Herrschers sei. Quellenlage Die Berichte über Leben und Hintergrund der Mata Hari sind so zahlreich wie widersprüchlich. Viele Details aus ihrer Biografie sind bis heute umstritten. Die diversen Versionen ihres Lebenslaufes, aus denen schließlich ein dicht gewobenes Netz aus Sagen und Legenden entstand, sind zum einen darauf zurückzuführen, dass Mata Hari selbst zahlreiche Geschichten erfand, mit denen sie Tatsachen ihres Lebens besser darstellen wollte als die Wirklichkeit war. Andererseits wurden aber auch von ihren Biografen die tatsächlichen Lebensdaten mit willkürlich erfundenen Geschichten, umstrittenen Anekdoten und einseitigen Darstellungen der Spionagevorwürfe vermischt und oft genug als „authentisches Quellenmaterial“ dargestellt. Der Erfindungsreichtum manches Autors stand Mata Haris eigenem Reichtum an Fantasie kaum nach. So schrieb bereits Friedrich Wencker-Wildberg in den Quellennachweisen seiner 1936 erstmals erschienenen Biografie: Hinsichtlich der Recherchen zu Mata Haris Spionagetätigkeit und Kontakt mit den deutschen, britischen und französischen Nachrichtendiensten gilt Sam Waagenaar (1908–1997) unter ihren Biografen als die verlässlichste Quelle. Er arbeitete in den 1930er Jahren für Metro-Goldwyn-Mayer und war an der Recherche zu dem mit Greta Garbo 1930 gedrehten Film Mata Hari beteiligt. Er sprach mit Zeitzeugen und erhielt von dem Dienstmädchen Anna Lintjens zwei Einklebebücher, in denen Mata Hari Fotos und Presseartikel über sich gesammelt und mit Notizen versehen hatte. Drei Jahrzehnte später sichtete Waagenaar das alte Material, recherchierte weiter und schrieb seine erste Biografie, die 1963 erschien; eine zweite, überarbeitete Fassung erschien 1976. In seinem Vorwort zur deutschen Erstausgabe des Buches Mata Hari. Der erste wahre Bericht über die legendäre Spionin behauptet Waagenaar, nur „zwei Außenstehende“ hätten die Akte je gesehen: „Alain Presles, ein französischer Journalist, der durch einen blinden Glückszufall Teile dieser Akte kopieren durfte … und ich.“ Diese Übersetzung entsprach seinem ersten Buch über Mata Hari, das in seiner niederländischen Originalfassung den Titel De moord op Mata Hari („Der Mord an Mata Hari“) trägt. Nach weiteren Recherchen legte er 1976 ein zweites Buch vor, das allerdings schon im Titel ein radikal verändertes Bild vermittelte: Mata Hari: niet zo onschuldig („Mata Hari, [doch] nicht so unschuldig“). Die deutsche Fassung trägt den unverfänglichen Titel: Sie nannte sich Mata Hari. Bild eines Lebens, Dokument einer Zeit. Solange – siehe oben – die französischen Gerichtsakten noch unzugänglich sind, musste notgedrungenermaßen den Informationen direkter Augenzeugen und Zeitgenossen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Das älteste Quellenwerk stellen dabei die von Mata Haris Vater Adam Zelle herausgegebenen „Memoiren“ dar: Mata-Hari – Mevr. M.G. Mac Leod-Zelle. De levensgeschiedenis mijner dochter en mijne grieven tegen haar vroegeren echtgenoot. Met portretten, documenten, fac-simile’s en bijlagen („Mata Hari – Frau M.G. Mac Leod-Zelle. Die Lebensgeschichte meiner Tochter und meine Verärgerung über ihren früheren Ehemann. Mit Porträts, Dokumenten, Faksimiles und Beilagen“), erstmals 1907 bei Veldt, Amsterdam, erschienen. Dabei handelt es sich indes um ein einseitiges Plädoyer eines sicherlich liebenden, aber ebenfalls mit blühender Fantasie ausgestatteten Vaters für seine Tochter und gegen deren Ehemann, dem sämtliche Schuld an der unglücklichen Ehe aufgebürdet werden soll. Das Buch enthält gefälschte Dokumente zu einer frei erfundenen Ahnenreihe, die die Abstammung der westfriesischen Familie von den Welfenherzögen des Hauses Braunschweig-Lüneburg-Celle und damit die Verwandtschaft zu den meisten europäischen Herrscherhäusern „nachweist“, sodass die dortigen Informationen insgesamt mit höchster Vorsicht zu genießen sind. Als Gegenschrift auf diese Versuche des Vaters, der Tochter zu helfen, galt lange Zeit der niederländische Autor und Dichter Gerrit Hendrik Priem (1865–1933) mit seiner Schrift von 1907 De naakte Waarheid omtrent Mata Hari („Die nackte Wahrheit über Mata Hari“), die angeblich nach einem überraschenden und völlig ehrlichen Interview des Autors mit Mata Hari zustande gekommen sein soll. Heute sind sich die Forscher hingegen einig, dass dieses Interview fingiert und frei erfunden war. Ein direkter Augenzeuge, ja maßgeblicher Beteiligter, war der französische Nachrichtenoffizier Georges Ladoux (1875–1933), der im August 1914 vom Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte, General Joseph Joffre, zum Leiter der Presse- und Telegrammzensur des Kriegsministeriums bestimmt wurde und später die von ihm selbst gegründete Abwehrabteilung des Pariser Kriegsministeriums leitete. Nach Kriegsende verfasste der journalistisch erfahrene Ladoux mehrere Bücher über seine Weltkriegserfahrungen sowie seine Sicht der Dinge in der Affäre Mata Hari, die indes „durch einen hohen fiktionalen Anteil und ein starkes Rechtfertigungsbedürfnis gekennzeichnet“ waren und daher ebenfalls nicht als verlässliche Quelle angesehen werden können. Da aus all diesen Gründen ein Großteil der zur Verfügung stehenden Informationen äußerst problematisch ist, sind die im vorliegenden Artikel dargestellten Informationen, wenn nicht anders erwähnt, mit den Daten des Gemeindearchivs Leeuwarden, des Historisch Centrum Leeuwarden, des Leeuwarder Fries Museum und der offiziellen Biografie des Instituut voor Nederlandse Geschiedenis (Institut für niederländische Geschichte) abgeglichen und entsprechen – soweit veröffentlicht – den aktuellen Erkenntnissen der Leeuwarder Mata-Hari-Arbeitsgruppe. Frühe Jahre Kindheit und Jugend Margaretha Geertruida Zelle wurde am 7. August 1876 als Erstgeborene und einzige Tochter des Hutmachers Adam Zelle (1840–1910) und seiner Frau Antje van der Meulen (1842–1891) in Leeuwarden, der Hauptstadt der niederländischen Provinz Friesland, geboren. Ihre Mutter hatte javanische Wurzeln. Sie hatte drei jüngere Brüder: Johannes Henderikus (1878–1936) sowie die Zwillinge Ari Anne (1881–1955) und Cornelis Coenrad (1881–1956). Greet, wie sie in der Kindheit auch gerufen wurde (was ihr indes nicht gefiel – sie bestand auf ihrem vollen Namen, gestattete höchstens den Rufnamen M’greet), besuchte zunächst die Leeuwarder Gemeindeschule Hofschooltje am Raadhuisplein (Rathausplatz) und ab September 1890 die Middelbare Meisjes School an der Grote Kerkstraat (Große Kirchstraße), wo sie aber nur unregelmäßig und mit schlechten Noten teilnahm. In einem dem Leeuwarder Gemeindearchiv vorliegenden Schulzeugnis ist dann auch die Bemerkung „Is denkelijk vertrokken!“ (ist vermutlich verzogen) enthalten. Während ihres Schulbesuches lernte sie die englische, französische und deutsche Sprache. Ihr Vater Adam Zelle, der ein Hutgeschäft in Kelders H23 (heute Kelders 33) in der Innenstadt Leeuwardens betrieb, war im Ort als Aufschneider und Verschwender bekannt, der sich gerne „Baron“ nennen ließ, obgleich er nicht adliger Abstammung war. Auch Mata Hari verfolgte den Wunsch, einen adligen Namen zu führen, später weiter: 1908 reichte sie an das Kabinett der Königin der Niederlande Wilhelmina die Eingabe um Änderung ihres Familiennamens Zelle-MacLeod in „van Zelle van Ahlden“. Als der Antrag abgewiesen wurde, änderte sie ihr Gesuch – nun persönlich an die Königin gerichtet – und wünschte, den Familiennamen „van Slooten Zelle“ zu tragen. Doch auch dieser Antrag wurde abschlägig beschieden. Der entsprechende Schriftwechsel wurde erst vor wenigen Jahren wiederentdeckt und befindet sich seit 2007 im Fries Museum. Eine erfolgreiche Börsenspekulation ermöglichte Margarethas Vater, auf vergleichsweise großem Fuß zu leben. 1883 erwarb er ein altes Patrizierhaus in der Grote Kerkstraat 28, das damals größte Haus am Platz. Sie erhielt zu ihrem sechsten Geburtstag von ihm eine Kutsche, die von Ziegen gezogen wurde. Noch 50 Jahre später sprach man in Leeuwarden von dem „kleinen Mädchen mit der dunklen Haut, den mandelförmigen Augen und dem schwarzen Haar auf dem Leiterwägelchen“. Wie eine orientalische Prinzessin habe sie ausgesehen. Die finanzielle Sorglosigkeit der Familie hielt allerdings nicht lange an. Anfang 1889 musste der Vater infolge von verlustreichen Spekulationen Insolvenz anmelden und das geräumige und luxuriöse Stadtpalais gegen eine Wohnung im ersten Stock an der Willemskade 30 eintauschen. Damit war das bis dahin beträchtliche Ansehen des Hutmachers in dem damals erst rund 27.000 Einwohner zählenden Leeuwarden verloren, und auch seine Ehe war am Ende. Im September 1890 vereinbarten die Eheleute „Trennung von Bett und Tisch“ und im März 1891 zog der Vater nach Amsterdam, wo er eine Tätigkeit als Handelsreisender annahm. Zu einer offiziellen Ehescheidung kam es nicht, da Antje Zelle am 9. Mai 1891 an Tuberkulose starb. Während der Vater die Zwillinge Ari und Cornelis nach dem Tod der Mutter zu sich nach Amsterdam nahm, wo er recht schnell wieder heiratete und vom Geld seiner zweiten Frau einem wenig ertragreichen Kleinhandel mit Petroleum nachging, kamen Tochter Margaretha und Sohn Johannes zu unterschiedlichen Familienmitgliedern. Die Großmutter mütterlicherseits nahm sich der Kinder an und zahlte auch für deren Erziehung. Margaretha kam in das Haus ihres Patenonkels, eines Herrn Visser in Sneek, der mit einer Schwester von Adam Zelle verheiratet war. Dieser schickte sie nach Leiden, um sie zur Kindergärtnerin ausbilden zu lassen – ein Beruf, für den sie sich selbst allerdings, genauso wie ihre Freunde und Bekannten es bewerteten, als ganz ungeeignet ansah. Tatsächlich brach sie die Ausbildung nach kurzer Zeit ab. Die Gründe dafür werden sehr unterschiedlich vermittelt: Weder im Leeuwaarder Gemeindearchiv noch in der offiziellen Biografie des Instituts für niederländische Geschichte werden dazu Informationen gegeben, während Boulevardpublikationen ein Verhältnis des Direktors der Schule, Wybrandus Haanstra (1841–1925), mit der 15-Jährigen als Grund ausmachen und abwechselnd von Vergewaltigung, Verführung oder einer einverständlichen Beziehung eines alternden Mannes mit einem einsamen Mädchen sprechen, die öffentliches Ärgernis ausgelöst habe, sodass sie die Schule verlassen musste. Waagenaar schreibt zu dem Thema lediglich: „In Leiden verliebte sich der Leiter der Schule, Herr Wybrandus Haanstra in sie. Wie wäre wohl ihr Leben verlaufen, wenn er sich nicht in sie verliebt hätte?“, ohne weitere Umstände zu erläutern. Marijke Huisman schreibt: „Als sie halbnackt auf dem Schoß des Schuldirektors angetroffen wurde, musste sie die Lehranstalt verlassen.“ Sicher ist lediglich, dass sie in ihrem 17. Lebensjahr, also 1892/93, zu ihrem „Onkel Taconis“ nach Den Haag ging oder geschickt wurde und Haanstra von dem wie auch immer gearteten Vorfall keinen beruflichen Schaden davontrug. Er blieb Schulleiter und gilt bis heute als veritabler niederländischer Pionier der Erziehung und Ausbildung von Kindern im Vorschulalter. Ehe und Aufenthalt in Niederländisch-Ostindien Durch eine Zeitungsannonce in Nieuws van den Dag lernte Margaretha 1895 ihren zukünftigen Ehemann kennen. Die Anzeige, die ihr Interesse weckte, lautete: Officier met verlof uit Indië zoekt meisje met lief karakter met het doel een huwelijk aan te gaan („Offizier, auf Urlaub aus (Niederländisch) Indien, sucht junge Frau mit liebenswürdigem Charakter zur Eheschließung“). Der niederländische Kolonialoffizier Campbell Rudolph (John) MacLeod (1856–1928) war rund 20 Jahre älter, litt an Rheuma und hatte Diabetes. Trotz des Altersunterschiedes war Margaretha von MacLeods Auftreten angetan. Am 11. Juli 1895 heiratete die gerade 19-jährige Margaretha Geertruida Zelle den Offizier John MacLeod. Die Ehe wurde im Rathaus zu Amsterdam geschlossen, und das Paar zog zu Johns Schwester Frida in deren Haus an der Leidsekade, das diese seit dem Tod ihres Mannes allein bewohnte. Die Flitterwochen verbrachten sie in Wiesbaden. Am 30. Januar 1896 – nach damaligen Moralvorstellungen über zwei Monate zu früh – brachte sie Sohn Norman John zur Welt. Andere Quellen nennen den 30. Januar 1897 als Normans Geburtsdatum. Schnell traten auch die ersten Probleme auf. Die Schwägerinnen verstanden sich nicht, und es kam auch zwischen den Eheleuten immer öfter zum Streit, weil Margaretha, die sich nun Greta oder Gresha rufen ließ, unzufrieden mit ihren Lebensverhältnissen war. Andererseits soll MacLeod einen rauen Charakter gehabt haben und schwierig im Umgang gewesen sein. Die Ehe galt jedenfalls schon in dieser frühen Zeit als wenig harmonisch. Am 1. Mai 1897 begab sich das Ehepaar an Bord des Dampfers SS Prinses Amalia, um nach Batavia – dem heutigen Jakarta – auf Java in der damaligen Kolonie Niederländisch-Indien zu reisen. Ihr Mann wurde in Ambarawa, einem kleinen Ort unweit Semarang, stationiert. Im Dezember desselben Jahres wurde MacLeod zum Major befördert und nach Malang versetzt, wo am 2. Mai 1898 die Tochter Jeanne Louise, genannt Non (malaiisch: Mädchen), geboren wurde. Malang galt schon während der Kolonialzeit wegen seines angenehm kühleren Klimas in den ostjavanischen Bergen auf etwa 500 m Seehöhe als beliebter Aufenthaltsort und bot entsprechende Vergnügungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten. Margaretha, die zuvor unter Langeweile und den klimatischen Bedingungen gelitten hatte, blühte auf und beteiligte sich intensiv am kulturellen Leben. Als 1898 anlässlich der Feierlichkeiten zu Königin Wilhelminas Thronbesteigung das Schauspiel Die Kreuzfahrer von August von Kotzebue aufgeführt wurde, durfte Margaretha die Rolle der Königin spielen. Dies war zugleich ihr erster öffentlicher Auftritt. Im März 1899 wurde John MacLeod nach Medan auf Sumatra versetzt. Durch den Umzug war das Paar etwa sieben Monate getrennt. In dieser Zeit kam es auch in ihrem Brief- und Telegrammkontakt zu weiteren Schwierigkeiten und persönlichen Auseinandersetzungen. John MacLeod litt insbesondere seit dem Bühnenauftritt und dem seiner Ansicht nach zu freizügigen Verhalten seiner Frau an Eifersucht, ermahnte sie aber auch immer wieder zu mehr Sparsamkeit; beides beantwortete seine junge Frau mit Trotzreaktionen oder schnippischen Bemerkungen. Die Alters- und Persönlichkeitsunterschiede beider führten zu immer tieferen Problemen. Das Paar entfremdete sich zusehends. Am 28. Juni 1899 starb der Sohn Norman an den Folgen einer Vergiftung. Die genauen Umstände des Todesfalls blieben ungeklärt. Laut den meisten Biografen soll eine an Cholera erkrankte Hausangestellte der Familie auf ihrem Sterbebett wenige Wochen später enthüllt haben, sie hätte Normans Essen vergiftet, um sich für die frühere Bestrafung ihres Liebhabers durch MacLeod zu rächen. Die kleine Non entging diesem Schicksal – je nach Version – nur durch die schnelle Hilfe eines Arztes oder aufgrund der Tatsache, dass sie von der Mutter noch gestillt wurde. Pat Shipman weist in ihrer Biografie Femme Fatale: A Biography of Mata Hari diese Geschichte als extrem unglaubwürdig zurück. Laut ihrer Hypothese starb Norman an den Folgen der Syphilis, mit der MacLeod seine Frau und durch sie ihre beiden Kinder infiziert habe. Norman könnte entweder direkt an den Folgen der Krankheit oder nach der zu hoch dosierten Behandlung des Militärarztes mit dem giftigen Quecksilber gestorben sein. Auch eine Vergiftung der Kinder durch MacLeod selbst wurde diskutiert. Im September 1900 wurde Major MacLeod nach 28 Dienstjahren in den Ruhestand versetzt, im Oktober übersiedelte die Familie nach Sindanglaya. Margaretha wollte unbedingt zurück nach Europa, doch John zögerte, da ihm bewusst war, dass seine Pension für ein angemessenes Leben dort nicht ausreichen würde. Die Beziehungsprobleme wurden stärker, die Ehe war völlig zerrüttet. Im März 1902 kehrte das Paar gemeinsam in die Niederlande zurück und musste aus finanziellen Gründen wiederum bei Johns Schwester Frida in Amsterdam unterkommen, wo sie in getrennten Räumen wohnten. Es kam wiederholt zu Versöhnungen, die nach wenigen Wochen wieder in Streit und Trennung umschlugen. Am 30. August 1902 sprach das Amsterdamer Amtsgericht die „Trennung von Tisch und Bett“ aus. John wurde verurteilt, an seine Frau Unterhalt in Höhe von monatlich 100 Gulden zu zahlen. Tochter Non wurde der Mutter zugesprochen, verblieb jedoch einvernehmlich beim Vater, der sich mittlerweile in Velp (heute Gemeinde Grave) niedergelassen und wieder geheiratet hatte. John kam seiner Unterhaltspflicht Margaretha gegenüber nicht nach, sodass sie gezwungen war, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Im Oktober 1903 reiste sie mit der vagen Vorstellung nach Paris, eine Karriere als Mannequin zu beginnen. Ihre Hoffnungen wurden jedoch enttäuscht, und um ihre knappen finanziellen Mittel aufzubessern, stand sie Modell für verschiedene Maler. Octave Guillonnet (1872–1967) lehnte sie zunächst als ungeeignet ab, porträtierte sie nach einem Ohnmachtsanfall schließlich aus Mitleid für ein Plakat des Théâtre de la Gaîté. Sein Kollege Gustave Assire (1870–1941) engagierte sie ebenfalls einmalig als Modell. Weitere Aufträge blieben aus, und Margaretha kehrte desillusioniert in die Niederlande zurück. Ein Jahr später versuchte sie erneut, in Paris Fuß zu fassen, und bewarb sich als Reiterin („Amazone“) im damals weltberühmten Cirque Molier. Auch dieser Versuch blieb erfolglos. Tanzkarriere Legendenbildung In den Jahren 1903 bis 1905 entwarf Margaretha MacLeod ihren Schleiertanz sowie Kostüm und Legende einer indischen Tempeltänzerin, die bei ihrem Publikum auf fruchtbaren Boden fielen. Da es wenig Fachleute für indische oder javanische Tänze und Kultur gab, musste sie eine Entlarvung ihrer Fantasiegeschichten, Lügen und Flunkereien kaum befürchten. Das Paris der Belle Époque war fremdländische und frivole Tänzerinnen zwar gewohnt; eine indische Bajadere, die mit einer geheimnisvollen Geschichte und exotischer Herkunft aufwarten konnte, war jedoch etwas Neues. Die „bessere Gesellschaft“ von Paris war stets auf der Suche nach Sensationen und interessanter Unterhaltung. Die Geschichte und der Tanz von Mata Hari faszinierten das reiche und gelangweilte Publikum. Hinzu kam, dass Margaretha „die Kunst der erotischen Entkleidung“ perfekt beherrschte. Ein Journalist schrieb als Zeitzeuge im Courrier français: Von nun an gab sich Margaretha als Exotin aus, wobei sie behauptete, sie stamme aus dem Süden Indiens, von der Küste von Malabar, aus der heiligen Stadt Jaffnapatam (die aber gar nicht an der Malabarküste, sondern auf Ceylon liegt), und ihre Familie bestehe aus Mitgliedern der oberen Kaste der Brahmanen. Sie sei in der unterirdischen Halle des Gottes Shiva aufgewachsen und von Kindesbeinen an in den rituellen Tempeltänzen unterrichtet worden, die sie zu Ehren der Götter Tag für Tag getanzt habe. Sie habe sich in herrlichen Gärten ergangen, sei mit Girlanden aus Jasmin bekränzt worden und habe die Altäre der Götter dekoriert. Sie hätte wohl ihr ganzes Leben an diesem Ort zugebracht, wenn nicht ein bildschöner, junger britischer Offizier sie einmal bei einem solchen Tanz gesehen, sich unsterblich in sie verliebt, sie entführt und geheiratet hätte. Ihm habe sie sodann einen Sohn geboren, Norman, den eine fanatische Dienerin grundlos vergiftet habe. Sie wiederum habe daraufhin – nach indischem Brauch – die Dienerin mit ihren eigenen Händen erdrosselt. Diese Legende wandelte sie gelegentlich ab. Häufig siedelte sie ihre Kindheit auf Java an. Oft behauptete sie, die Enkelin eines javanischen Sultans zu sein, dessen Tochter einen niederländischen Offizier geheiratet habe. Mit zwei Jahren sei sie nach Deutschland in ein Internat gekommen und habe, mit 16 Jahren, den britischen Offizier MacLeod geheiratet. Mata Haris exotische Herkunft galt im Übrigen noch bis zum Ende der 1920er Jahre als Tatsache. Obwohl bereits früh partielle Zweifel an ihrer Lebensgeschichte aufkamen, unter anderem durch die französische Schriftstellerin und Tänzerin Colette, wurde Mata Haris Legende ihrer indischen beziehungsweise indonesischen Herkunft erst 1930 durch den Journalisten Charles S. Heymans enthüllt. Ihr Geburtsort, ihre Eltern und die Umstände, die sie zur Tänzerin machten, blieben bis dahin ihr wohlgehütetes Geheimnis, das nur wenige kannten. Mata Hari hatte zwar einige Jahre in Indonesien verbracht, jedoch weder indische Tänze gelernt noch sich mit ihnen intensiver beschäftigt. Was sie von indischen Tänzen und Liebeskünsten wusste, hat sie wahrscheinlich einer Übersetzung des Kamasutra entnommen und für ihre Zwecke abgeändert. Margaretha hatte keine Gelegenheit gehabt, einen unmittelbaren Einblick in die Welt des Hinduismus zu nehmen, innerhalb dessen sich die Tradition des Tempeltanzes entwickelt hatte. Sie war nie in Indien und in Indonesien ist diese Tradition des Tempeltanzes unbekannt. Aber sie konnte erzählen, was sie wollte, man glaubte ihr vorbehaltlos; gerade diese geheimnisvoll-exotische Note wirkte auf ihr erlebnishungriges Publikum und bahnte ihr den Weg zum Erfolg. Sie wurde zur Sensation. Die Zeitungen schrieben über sie, die Kritiker überschlugen sich geradezu mit ihren Komplimenten, sie war in aller Munde, tout Paris (ganz Paris) wollte sie sehen. Ihr Siegeszug als gefeierte Tänzerin begann. Die Tänzerin Mata Hari Nach einer Recherche von Jan Brokken tanzte sie zur Zeit ihres zweiten Aufenthalts in Paris einen Schlangentanz in einem Lokal am Montmartre, wo man auf sie aufmerksam geworden sei und sie anlässlich einer Wohltätigkeitsveranstaltung zu einem Auftritt in den renommierten Salon der Madame Kiréevsky eingeladen habe. Der Auftritt fand Ende Januar 1905 statt, angekündigt war sie als Lady MacLeod. Durch Pressemitteilungen, die „eine Frau aus dem Fernen Osten“ ankündigten, „die mit Parfüm und Juwelen beladen nach Europa kam, um sich mit Schleiern zu verhüllen und enthüllen“, interessierten sich weitere Mäzene für Lady MacLeod. Auf Einladung des Industriellen Émile Guimet, der ihre Vorstellung im Salon Kiréevsky verfolgt hatte, tanzte sie am 13. März 1905 in seinem Museum Guimet vor einem ausgesuchten Publikum und präsentierte dort Nachempfindungen indischer Tempeltänze. Er stellte ihr passende Tanzbekleidung, einen Sarong und ein besticktes Bustier, Schleier und Schmuck zur Verfügung und riet ihr, einen Künstlernamen anzunehmen. Obwohl sie noch als Lady Mac Leod in den Zeitungen angekündigt wurde, legte sie an jenem Tag ihren endgültigen Künstlernamen fest – Mata Hari. Matahari bedeutet auf Malaiisch „Sonne“ (wörtlich „Auge des Tages“). Die Szene, in der sie zuletzt nahezu unbekleidet tanzte, war Sensation und Skandal zugleich. Es folgten Auftritte auf den Soirées von Bankier Baron Henri de Rothschild (1872–1946), der Theaterschauspielerin Cécile Sorel (1873–1966), Gaston Menier, dem Erben der Schokoladendynastie Menier, Natalie Clifford Barney und vielen anderen. Das Jahr 1905 war das erfolgreichste für Mata Hari. Sie gab 35 Vorstellungen, verdiente pro Abend rund 10.000 französische Francs, verkehrte in den teuersten Hotels und bewohnte eine eigene Wohnung in der vornehmen Rue Balzac Nummer 3 im 8. Pariser Arrondissement. Im Mai glückte ihr ein Auftritt im Théâtre du Trocadéro, den sie im Juni und Juli wiederholte. Zudem wurde sie von dem Zeitungsherausgeber und Impresario Gabriel Astruc kontaktiert, der ein Varietéprogramm für das Olympia-Theater vorbereitete und sie dazu als Hauptattraktion einlud. Ende des Jahres kündigte sie einem holländischen Journalisten an, sie werde das Tanzen aufgeben und einen osteuropäischen Fürsten heiraten. Solche und ähnliche augenscheinlich von Mata Hari gezielt platzierten Falschmeldungen sorgten dafür, dass ein Interesse der Öffentlichkeit an der geheimnisvollen Tänzerin nicht nachließ. Trotzdem hatte sie bereits nach kurzer Zeit mit Konkurrenz zu kämpfen. Suzy Deguez, Tänzerin in den Folies Bergère, kopierte ihre „Tempeltänze“, bald gefolgt von weiteren Tänzerinnen. Mata Hari reagierte äußerlich gelassen und versprach außergewöhnliche Sensationen, die sie in Kürze auf die Bühne bringe. Das Interesse an ihr, vor allem als Werbeikone, blieb ungeachtet der aufkeimenden Konkurrenz ungebrochen. Die großen Varietés buchten sie, ein Engagement jagte das andere, ihr Bild erschien auf Postkarten, Zigarettenschachteln und Keksdosen. Ihr erstes Auslandsengagement führte sie 1906 nach Spanien in den Zentralen Kursaal in Madrid. Hier lernte sie den französischen Botschafter Jules Cambon kennen. Diese Bekanntschaft rettete ihr später zwar nicht das Leben, aber Cambon war der einzige, der 1917 in ihrem Prozess zu ihren Gunsten aussagte und sich nicht versteckte. Im Pariser Theater Olympia erschien sie im selben Jahr vor großem Publikum im Rahmen eines Varietéprogramms. In Monte-Carlo sah man sie im dritten Akt von Jules Massenets Oper Le roi de Lahore als Salomé neben der Ballerina Carlotta Zambelli (1875–1968). Am 26. April 1906 erging das Scheidungsurteil für ihre Ehe. Mata Hari wurde aufgrund von Nacktaufnahmen, die sie für einen Bildhauer anfertigen ließ und die aus ungeklärten Gründen an Liebhaber verkauft wurden und so in der Öffentlichkeit kursierten, schuldig geschieden. Ihr Publikum erfuhr nichts von diesem Vorgang, sie gab sich weiter als geheimnisumwitterte indische Tempelbajadere Mata Hari aus, über deren romantische Herkunft sich die Zeitungen gegenseitig mit fantastischen Geschichten übertrumpften. Nach ihrem triumphalen Auftritt in Monte-Carlo reiste Mata Hari nach Wien zu Auftritten im Apollo-Theater, wo sie ebenfalls große Erfolge feierte. Die Zeitungen waren voll mit begeisterter Kritik: Nach Berlin kam sie zum ersten Mal 1907 zu einem Auftritt im Varieté Wintergarten an der Friedrichstraße und wurde auch hier zur Sensation. Anschließend soll sie in Berlin mehrere Monate mit dem Marienfelder Rittergutsbesitzer Alfred Kiepert, einem vermögenden Leutnant des „Elften Husarenregiments von Westfalen“, in der Nachodstraße 18 zusammengelebt haben. Mittlerweile tauchten erste Gerüchte über ihre wahre Identität auf, und Mata Hari wehrte sich in der Presse mit einer veränderten Lebensgeschichte: „Er (der Vater von Mata Hari) war Berufsoffizier. Er hat mich auf Java aufwachsen lassen und dann in ein aristokratisches Internat nach Wiesbaden geschickt.“ In Berlin gab sie auch eine Vorstellung für den Deutschen Kaiser Wilhelm II. und dessen Familie. Ein weiteres Gerücht berichtete von einem Verhältnis der Tänzerin mit dem Sohn des Kaisers. Dieses wurde von ihr nicht dementiert, was ihr in ihrem Prozess negativ ausgelegt werden sollte. Sie kehrte 1907 nach Paris zurück. Im selben Jahr erschien das von ihrem Vater Adam verfasste Buch Mata-Hari – Mevr. M.G. Mac Leod-Zelle. De levensgeschiedenis mijner dochter en mijne grieven tegen haar vroegeren echtgenoot. Met portretten, documenten, fac-simile’s en bijlagen. Diese „Lebensgeschichte“ enthielt neben gefälschten Dokumenten, mit denen der Vater eine adelige Abstammung seiner Tochter belegen wollte, vor allem Anschuldigungen gegen ihren Ex-Mann. Im Winter 1907 begab sie sich – eventuell zusammen mit Alfred Kiepert – auf eine Reise nach Ägypten und blieb für ihre europäische Anhängerschaft verschwunden. Gerüchteweise verlautete, sie halte sich „im Nillande auf, um die alten Mysterien zu studieren“. Am 30. März 1907 befand sich Mata Hari in Rom und telegrafierte an ihren Manager, ob inzwischen neue Engagements für sie eingetroffen seien. Sie schrieb auch an Richard Strauss, um sich für seine neue Inszenierung als Salome vorzuschlagen: „Nur ich kann die Salome tanzen.“ Als sie keine Antwort erhielt, reiste sie nach Paris zurück. Karrierebruch In Frankreich angekommen, musste Mata Hari feststellen, dass man sie als Künstlerin schon fast vergessen hatte und es in Paris von Kopien ihrer Tänze geradezu wimmelte. Die Tänzerin Colette war fast nackt in Der Ägyptische Traum im Moulin Rouge zu sehen, in Berlin zeigte die marokkanische Tänzerin Sulamith Raha im „Evakostüm“ ihren Schwerttanz, den Schleiertanz und einen Bauchtanz, und Maud Allan tourte mit ihren Visions of Salome erfolgreich durch Europa. Als Reaktion kündigte Mata Hari in der Ausgabe der britischen The Era vom 20. September 1908, einer Wochenzeitung für Kunst und Kultur, ihren Rücktritt von der Bühne an und beklagte sich über ihre Konkurrentinnen: „Seither nehmen einige Damen den Titel einer orientalischen Tänzerin für sich in Anspruch. Ich würde mich vielleicht durch solche Beweise der Aufmerksamkeit geschmeichelt fühlen, wenn die Darbietungen dieser Damen einen gewissen wissenschaftlichen und ästhetischen Wert besäßen, aber das ist nicht der Fall.“ Aber ihr Stern war noch nicht gesunken. Sie war nach wie vor ein geschätztes Mitglied der Pariser Gesellschaft, die Zeitungen berichteten regelmäßig über sie. Sie tanzte wieder häufiger auf Wohltätigkeitsveranstaltungen, wie im Trocadéro, im Pont aux Dames und im Houlgate. Im Jahr 1910 übernahm sie die Rolle der Kleopatra in Antar von Nikolai Andrejewitsch Rimski-Korsakow in Monte-Carlo. Doch Antoine, der Erfinder des realistischen Theaters und Regisseur des Stücks, war unzufrieden mit ihren Leistungen als Tänzerin. Als sie erwartete, von Antoine auch für die Aufführung von Antar in seinem eigenen Theater am Boulevard de Strasbourg engagiert zu werden, wurde sie enttäuscht. Schnell wurden Journalisten auf den Streit zwischen dem Regisseur und der Tänzerin aufmerksam, und beide leiteten die Aussagen des jeweils anderen der Presse zu. Mata Hari klagte gerichtlich auf Verleumdung und forderte Schadensersatz. Antoine erhob daraufhin Gegenklage gegen Mata Hari. Der Prozess zog sich bis Dezember 1911 in die Länge; Mata Hari gewann. Ihre Ehre war wiederhergestellt, dennoch blieben weitere Engagements in der Folgezeit aus. Vom Sommer 1910 bis Ende 1911 lebte sie – von der Öffentlichkeit unbemerkt – zusammen mit ihrer Hausangestellten Anna Lintjes im französischen Esvres im Schloss de la Dorée des verheirateten Bankiers Xavier Rousseau, dessen Mätresse sie war. Nach dieser Affäre musste sie erneut für ihren eigenen Unterhalt sorgen und suchte wieder vermehrt den Kontakt zu Astruc, der ihr in der Tat eine Reihe neuer Engagements verschaffen konnte, unter anderem den Auftritt, der später als der Höhepunkt ihrer Karriere verstanden wurde: Am 7. Dezember 1911 tanzte sie in der Mailänder Scala Die Prinzessin und die Zauberblume im fünften Akt von Christoph Willibald Glucks Oper Armide, und im Januar 1912 verkörperte sie die Venus in Antonio Marcenos Ballett Bacchus und Gambrinus. Während die Venus ansonsten von Künstlerinnen mit blondem Haar dargestellt wurde, trat Mata Hari mit ihrem eigenen dunklen Haar als viel gelobte „Schwarze Venus“ auf. Auch in den privaten Salons der italienischen Oberschicht tanzte sie die Salome. Im März 1912 versuchte sie, ein Engagement von Sergej Djagilew zu erhalten, der mit seinem Ensemble märchenhafte Erfolge in Europa feierte, wurde jedoch brüsk abgewiesen. Als sie in Monte-Carlo auftrat, war es zu einem Kontakt zwischen Djagilew und ihr gekommen, und nachdem sie als Schwarze Venus Erfolge gefeiert hatte, entstand in ihr ernstlich der Gedanke, mit den Ballets Russes aufzutreten. Djagilew versetzte sie bei einem Treffen, ohne sich zu entschuldigen; dem schloss sich im Beisein seines ersten Tänzers Vaslav Nijinsky, des Choreografen Michel Fokine und Léon Bakst ein Eklat an, während im Theater Bühnen-Umbauarbeiten im Gange waren. Djagilew forderte Mata Hari auf, sich zu entkleiden und eine Kostprobe ihres tänzerischen Könnens auf der von Bühnenarbeitern bevölkerten Bühne zu geben. Erbost verließ die 36-Jährige das Theater, die überzeugt gewesen war, ohne jede tänzerische Ausbildung und ohne hinreichende Erfahrung im klassischen Ballett als Primaballerina der seinerzeit führenden Ballettgruppe Europas auftreten zu können. Hin und wieder konnte sie ihre orientalischen Tänze noch vor einem größeren Publikum zeigen. So war sie am 14. Dezember 1912 in der Vorstellung Indische Kunst in der Université des Annales zu sehen. Doch auch ihr Manager Astruc, der inzwischen Direktor des Théâtre des Champs Elysées geworden war, wandte sich von ihr ab. Zu dieser Zeit versuchte Mata Hari auch, den Kontakt zu ihrer Tochter Non herzustellen, doch ihr Ex-Ehemann sandte ihre Briefe ungeöffnet zurück. Schließlich schickte Mata Hari ihre engste Vertraute, das Dienstmädchen Anna Lintjens, nach Holland. Sie sollte Non möglicherweise zu ihr nach Neuilly-sur-Seine bringen, wo Mata Hari seit Ende 1911 in ihrer kleinen Villa wohnte. Dieser Versuch eines ungestörten Treffens mit ihrer Tochter wurde in einigen Berichten als geplante Entführung dargestellt. Ob Anna Lintjes wirklich den Auftrag hatte, Non in eine andere Stadt zu bringen, bleibt unklar. Sie kehrte jedenfalls ohne die Tochter nach Frankreich zurück. Über das weitere Leben von Non ist nur noch bekannt, dass sie beabsichtigte, im Herbst des Jahres 1919, also zwei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, nach Indonesien überzusiedeln, um dort als Lehrerin zu arbeiten. Nur wenige Wochen vor Antritt ihrer Reise verstarb sie aber im Alter von erst 21 Jahren an einer Hirnblutung. Mata Hari reiste 1913 nach Berlin und sah während einer Rundfahrt durch die Stadt den deutschen Kronprinzen. Ihr Interesse wurde von einem Beobachter namens Guido Kreutzer als fanatische Feindschaft gegenüber Deutschland fehlinterpretiert. Seine Verdachtsmomente dokumentierte Kreutzer 1923 in dem Buch „Der Deutsche Kronprinz und die Frauen in seinem Leben“. Als Mata Hari darum bat, vor dem deutschen Kronprinzen tanzen zu dürfen, wurde ihrer Bitte nicht entsprochen. So reiste sie unverrichteter Dinge aus Berlin ab. Am 28. Juni 1913 trat sie als spanische Tänzerin in La Revue en Chemise in den Folies Bergère auf. Im Kino Gaumont zeigte sie ein letztes Mal ihren Tanz für den Gott Shiva. Der Zenit ihrer Tanzkarriere war bereits überschritten. Nach drei Auftritten im Musée Galliera im Januar 1914 berichtete sie einem Journalisten der Vogue, sie bereite ein sensationelles Comeback vor. Sie reiste wieder nach Berlin und telegrafierte Ende Februar an Émile Guimet, ob sie ihren Erfolg nicht mit ägyptischen Tänzen wiederherstellen könne. Seine Antwort vom 9. März 1914 war bezeichnend: „Teuerste, ägyptisches Ballett zu machen ist eine ausgezeichnete Idee, vorausgesetzt, es ist wirklich ägyptisch.“ Letzte Jahre Kriegsausbruch Im Mai 1914 war es Mata Hari gelungen, einen Kontakt zum Berliner Metropol-Theater herzustellen, wo sie ab September desselben Jahres sechs Monate lang in der Oper Der Millionendieb auftreten sollte. Dieses Engagement kam indes nicht mehr zustande, da am 28. Juli 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach. Anfang August 1914 verließ sie daraufhin Deutschland, da es für sie als Ausländerin ohne gültige Aufenthaltspapiere bei Kriegsbeginn zu gefährlich war, dort zu verbleiben. Sicherlich flüchtete sie auch vor Gläubigern und unbezahlten Rechnungen, jedoch nicht vor Spionen oder Anklagen der Entente, wie später behauptet wurde. Zunächst versuchte sie, über die Schweiz nach Paris zurückzukehren, was aber nicht gelang, weil sie kein Ausreisevisum hatte. Sie wurde an der schweizerischen Grenze nach Berlin zurückgeschickt. Dort gelang es ihr, einen Fahrschein für einen Zug nach Amsterdam zu ergattern, wo sie sich nach ihrer Ankunft im Victoria-Hotel auf dem Dam einmietete und bald eine kurze Affäre mit dem Bankier Will van der Schalk einging, dem gegenüber sie sich als russische Emigrantin ausgab. Er beendete die Beziehung, als sich ihre wahre Identität herausstellte. Engagements blieben nun fast völlig aus – im Kriegsjahr 1914 war sie lediglich noch einmal im Königlichen Theater von Den Haag im Ballett Les Folies Françaises zu sehen – denn in den Hauptstädten war das Massensterben der Soldaten im Krieg Hauptthema, und kaum jemand hatte in dieser Phase des Schocks Interesse, sich eine indische Nackttänzerin anzusehen. Mata Hari brauchte Geld; ihren aufwendigen und luxuriösen Lebensstil konnte sie mit den kärglichen Einnahmen nicht aufrechterhalten. Im Oktober 1914 mietete sie ein kleines Haus in Den Haag. Wahrscheinlich aus akuten Geldnöten beschloss sie Ende 1915, über England und Dieppe nach Paris zurückzukehren, um ihren luxuriösen Villenhaushalt in Neuilly aufzulösen. Zu dieser Zeit war sie bereits zahlungsunfähig. Später wurde ihr vorgeworfen, die Reise angetreten zu haben, um wichtige Erkundigungen über die französischen Vorbereitungen zu einer neuen Offensive einzuziehen, was jedoch von ihren Biografen übereinstimmend bezweifelt wird. Dr. Bizard, ein Pariser Präfekturarzt, will sie in jenen Wochen wiederholt in den besseren Stundenhotels der Stadt gesehen haben. Im März 1916 war sie jedenfalls zurück in Den Haag und brachte umfangreiches Umzugsgut aus Neuilly mit. Zu jener Zeit soll Mata Hari den 21-jährigen russischen Offizier Wladimir (Vadim) Masloff kennengelernt haben. Die Art ihrer Beziehung war in der Nachkriegszeit Gegenstand zahlreicher Diskussionen. So soll Mata Hari trotz der 18 Jahre Altersunterschied ein Verhältnis mit dem Russen eingegangen sein. Nachdem Masloff zurück an die Front beordert worden sei, soll er dort im Gefecht ein Auge verloren haben. Die Kosten für die Behandlung dieser Kriegsverletzung wurden später von einigen Biografen Mata Haris als mögliches Motiv für eine Spionagetätigkeit genannt. Während diese These vor allem von französischen Biografen vertreten wurde, verweist der deutsche Autor Friedrich Wencker-Wildberg die Geschichte eindeutig in das Reich der Legenden. Laut seinen Recherchen wurde Masloff erstmals im August 1917 verwundet – also zu einem Zeitpunkt, als Mata Hari bereits im Gefängnis auf ihre Hinrichtung wartete. Vorwurf der Spionagetätigkeit Im Laufe ihrer Karriere kam Mata Hari zunehmend mit Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft in Kontakt. Diese Kontakte und Informationen, mit denen Mata Hari beabsichtigt oder unwissentlich kokettierte oder den Anschein erweckte, wesentlich mehr zu wissen oder in Erfahrung bringen zu können, wurden ihr letztlich zum Verhängnis. Nachdem sie lange Zeit jede Agententätigkeit abgestritten hatte, räumte sie in einem der Verhöre nach ihrer Verhaftung schließlich ein, der deutsche Konsul in Amsterdam, Carl H. Cramer, habe ihr im Mai 1916 die Summe von 20.000 Francs geboten, wenn sie Deutschland Informationen zukommen ließe. Sie habe das Geld angenommen, aber nie eine Gegenleistung erbracht. Der Spionagevorwurf wurde später durch den deutschen Generalmajor a. D. Friedrich Gempp entkräftet. Gempp, der während des Ersten Weltkriegs Stellvertreter von Walter Nicolai und von 1921 bis 1927 Leiter der Heeres-Abwehr im Reichswehrministerium war, soll selbst nichts von Mata Hari als Spionin gewusst haben. Im Gegensatz dazu steht der erst in den 1970er Jahren öffentlich gemachte sogenannte Gempp-Bericht. Dieser unter der Leitung von Generalmajor Gempp erstellte 14-teilige Erfahrungsbericht über den deutschen militärischen Nachrichtendienst im Ersten Weltkrieg wurde von der US-amerikanischen Besatzungsmacht zunächst nach Washington, D.C. in die „National Archives and Records Administration“ verbracht, kam Mitte der 1970er Jahre nach Deutschland zurück und ist im Freiburger Militärarchiv als Maschinenskript und Mikrofilm einsehbar. In diesen Papieren sind auch Informationen ehemaliger Offiziere der Abteilung III b über die „Agentin H 21“ enthalten, bei der es sich um Mata Hari handelte. Die Papiere belegen, dass Mata Hari im Spätherbst 1915 in den Dienst des deutschen Geheimdienstes getreten war. III b-Chef Walter Nicolai ließ Mata Hari im Mai 1916 nach Köln bitten, wo er nach einem Gespräch mit ihr beschloss, sie als Agentin ausbilden zu lassen, und ihr Major Roepell als Führungsoffizier zuwies. Dieser habe ihr „auf langen Spaziergängen am Rande der Stadt das Agenten-Einmaleins“ beigebracht, während ein Geheimschriften-Experte mit ihr „chemisches Schreiben“ übte. Diese „Ausbildung“ habe 7 Tage in Anspruch genommen. Mata Haris Auftrag sei es gewesen, von Paris aus Aufklärung über die nächsten Offensivpläne des Gegners zu betreiben, Reisen durch militärisch interessante Gebiete Frankreichs zu unternehmen und mit der Kriegsnachrichtenstelle West in Düsseldorf (Leiter: Roepell) sowie der Agentenzentrale in der Deutschen Botschaft in Madrid (Leiter: Major Arnold Kalle) Verbindung zu halten. Sodann sei Mata Hari Hauptmann Hoffmann unterstellt worden, der ihr den Decknamen H 21 gegeben habe. Danach sei sie nach Den Haag zurückgekehrt, und kurz darauf habe ihr Generalkonsul Cramer 20.000 Francs als Startkapital zukommen lassen. Im Dezember 1915 sei H 21 unter dem Vorwand nach Frankreich eingereist, ihre bei Kriegsausbruch in Paris zurückgelassenen Möbel abholen zu wollen, und habe im Pariser „Grand Hotel“ Quartier bezogen. Durch ihre dortigen Kontakte, wie Ex-Kriegsminister Adolphe Messimy, Jules Cambon als Generalsekretär im Außenministerium und Jean Hallaure, der nun im Kriegsministerium tätig war, sei es Mata Hari nicht schwergefallen zu erkunden, was die Alliierten an der deutschen Front planten. Ende Dezember telegrafierte sie an Hoffmann, „dass vorläufig, namentlich jetzt, in Frankreich nicht an eine französische Offensive gedacht wird“, um anschließend mit ihrem Hausrat „in zehn Packkisten“ – eine direkte Reise auf kürzestem Weg war in diesen Kriegszeiten nur selten möglich – über Südfrankreich nach Spanien zu reisen, wo sie sich schließlich nach Den Haag einschiffen konnte. Bereits Mitte 1915 wurde George Ladoux vom Deuxième Bureau, der zweiten Abteilung des französischen militärischen Auslandsnachrichtendienstes, auf Mata Hari aufmerksam. Auf der Fahrt von Paris nach Spanien war sie bei der Landung in Southampton den Behörden des britischen Secret Intelligence Service aufgefallen, die von ihren Agenten aus Madrid bereits Informationen über sie erhalten hatten. Mata Hari reiste mit einem Pass, der auf den Namen Gertrud Benedix lautete. Die Polizei befand ihre Papiere für nicht echt und nahm sie fest. Mata Hari wurde nach London gebracht, Sir Basil Thompson, dem Leiter des britischen Spionageabwehrdienstes, vorgeführt und einem Verhör unterzogen. Sie konnte sich verteidigen, und Thompson, der viel Erfahrung im Umgang mit Spionen hatte, glaubte ihren Aussagen. Ob ihre damalige Behauptung, sie sei die Geliebte eines deutschen Militärattachés namens Benedix, der Wirklichkeit entsprach, ist nicht mehr festzustellen. In seinen Memoiren berichtet Thompson, dass Mata Hari um ein Gespräch unter vier Augen bat. In diesem Gespräch gestand sie, tatsächlich Spionin zu sein, allerdings nicht für Deutschland, sondern für Frankreich. Thompson entließ Mata Hari, informierte aber die französische Geheimpolizei über die verdächtige Tätigkeit der Tänzerin. Am 11. Januar 1916 passierte Mata Hari die französisch-spanische Grenzstation Hendaye, einen Tag später war sie in Madrid. Den dortigen Aufenthalt verband sie mit einem persönlichen Bericht an Arnold Kalle, der die Informationen sofort in einem mit dem Code des Auswärtigen Amtes verschlüsselten Telegramm an Cramer in Amsterdam weiterleitete, dem er alle für das III b bestimmten Meldungen zuzuleiten hatte. Das war der Fehler, der Mata Haris „Agentenkarriere“ beendete, bevor sie wirklich begonnen hatte, denn der britische Geheimdienst fing dieses Telegramm ab und konnte es entschlüsseln. Nun war es für den Secret Intelligence Service nur noch Routine festzustellen, um wen es sich handelte. Prompt warnte London die französische Spionageabwehr vor Mata Hari, und sie wurde unter Beobachtung gestellt. In Madrid stieg sie im Palace Hotel ab, einem Hotel, dessen Gäste vielen Nationalitäten angehörten. Darunter waren Beamte der französischen Botschaft, samt dem französischen Militärattaché Joseph Denvignes, der sich als besonders empfänglich für ihre Reize erwies, aber auch deutsche Agenten. Hier soll Mata Hari im näheren Kontakt zum deutschen Militärattaché Major Arnold Kalle gestanden haben. Waagenaar schreibt dazu: „Bei ihrer Ankunft in Madrid bezog Mata Hari im Palace-Hotel Zimmer. Hier traf sie nicht etwa, sondern war die unmittelbare Nachbarin einer Berufsschwester von ihr – einer richtigen Spionin. Marthe Richard (auch Richer genannt) war eine junge Französin. Nachdem sie gleich zu Beginn ihren Mann im Krieg verloren hatte, stellte Ladoux sie für diese Tätigkeit ein.“ Marthe Richard war die Geliebte des deutschen Marineattachés, Korvettenkapitän Hans von Krohn. In ihrer Autobiografie beschreibt sie, wie sie mit Mata Hari Tür an Tür wohnte. („Von Marthe Richard selbst wird deutlich beschrieben, wie wenig in Madrid über Mata Haris angebliche Spionagetätigkeit bekannt war. Und die sollte eigentlich davon gewußt haben.“) Nur in französischen Zeitungen hatte Marthe Richard davon gelesen, und bis April 1917 war niemand in Madrid darüber informiert, dass Mata Hari eine Spionin sei. Marthe Richard hatte auch keinen Auftrag, sie zu beschatten. Als sie aus einer Zeitung erfuhr, dass Mata Hari angeblich mit Herrn von Krohn ein Verhältnis hatte, suchte sie ihren Liebhaber auf und machte ihm eine Szene. Auch in späteren Artikeln und Berichten wurden Kalle und von Krohn häufig verwechselt. Auf ihrer Weiterreise von Madrid begab sich Mata Hari 1916 nach Paris und beantragte dort einen Pass nach Vittel. Vittel liegt in den Vogesen, unmittelbar vor der damaligen deutschen Westfront, und war ein Sammelbecken für Offiziere und Mannschaften der französischen Luftflotte. Die Tänzerin erhielt die Genehmigung, sich nach Vittel zu begeben. Dort unterhielt Mata Hari angeblich auch intime Beziehungen zu französischen Fliegeroffizieren. In den Berichten der französischen Geheimpolizei wurde jeder Schritt von Mata Hari protokolliert. Sie ging einkaufen, trank Tee, besuchte Freunde und besuchte eine Wahrsagerin. Selbst Ladoux konnte keine verdächtigen Tätigkeiten erkennen. Die Männer, die diese Berichte verfassten, fügten in diese Berichte allerdings ihre eigenen Verdachtsmomente ein. So soll Mata Hari an zwei aufeinanderfolgenden Tagen ihre Abreise vorbereitet haben. Beide Male sagte sie die angebliche Abreise wieder ab. Nach Berichten der Agenten wurden die Schiffe, die sie hätte benutzen sollen, torpediert und sanken. Es kann angenommen werden, dass diese Details schon damals einen grundlosen Verdacht schufen, der ihr im späteren Gerichtsverfahren als Beweis präsentiert wurde und die Richter nachhaltig beeindruckte. Mata Hari verließ Vittel nach kurzer Zeit und ging zurück nach Paris. Was man bisher ermittelt hatte, reichte für eine Verhaftung jedoch nicht aus. Fest stand, dass sie im neutralen Ausland mit Deutschen verkehrte und mit diesen Personen chiffrierte Briefe austauschte. Für einen möglichen Zwischenaufenthalt bei einer Reise von den Niederlanden nach Frankreich erbat Mata Hari beim britischen Konsulat in Rotterdam ein Visum. Nachdem ihr dieses verweigert wurde, intervenierte das Auswärtige Amt in einem Telegramm (Nr. 74) vom 27. April 1916 beim Home Office. Die sechs Tage später versandte Antwort hätte Mata Hari verdeutlichen müssen, dass sie mit weiteren Unannehmlichkeiten zu rechnen hatte („Die Behörden haben ihre Gründe, warum Zulassung der in ihrem 74 erwähnten Dame in England unerwünscht“). Der britische Geheimdienst hatte sich zu dieser Zeit wegen Mata Haris Kontakten zu deutschen Diplomaten in den Niederlanden eingehend mit ihren Aktivitäten befasst. Die Briten meldeten ihren Verdacht schließlich an das Zweite Büro des französischen Kriegsministeriums. Dessen Leiter, Major George Ladoux, stellte Mata Hari im Dezember 1916 eine Falle. Er gab der Tänzerin die Namen sechs belgischer Agenten, die sie aufsuchen sollte. Fünf von ihnen standen im Verdacht, irreführende Meldungen zu liefern, der sechste arbeitete für Frankreich und Deutschland. Zwei Wochen nachdem Mata Hari von Paris nach Spanien abgereist war, wurde Letzterer von den Deutschen erschossen, während die übrigen fünf Agenten unbehelligt blieben. Dies war für Ladoux der Beweis, dass sie die Namen der Spione den deutschen Militärbehörden verraten hatte. Man wartete zur Verhaftung ihre Rückkehr nach Frankreich ab und überwachte gleichzeitig die Abschriften aller Berichte, die von Madrid nach Deutschland gingen. Auf der deutschen Botschaft hatte sie im Dezember 1916 ein Gespräch mit dem Militärattache Arnold Kalle (1873–1959). Dieser hatte nach der Abreise Mata Haris aus Madrid ein chiffriertes Telegramm an die Abteilung III b des Großen Generalstabes in Berlin geschickt. Zehn Tage nach diesem Vorfall wurde ein Bericht der Deutschen Botschaft in Madrid abgefangen. Die Botschaft lautete: „Agent H21 in Madrid angekommen. Wurde von Franzosen engagiert von Engländern aber zurückgesandt nach Spanien und bittet jetzt um Geld und weitere Anweisungen.“ Die Antwort aus Deutschland lautete: „Weisen Sie sie an nach Frankreich zurückzukehren und ihre Aufgabe fortzusetzen. Sie wird Scheck 5000 Franc von Kramer Comptoir d’Escompte erhalten.“ Am 3. Januar 1917 traf Mata Hari in Paris ein. Trotz der angeblich vorliegenden Beweise ließ man sich viel Zeit mit einer Verhaftung. Mata Hari konnte in aller Ruhe das Geld, das Major Ladoux ihr für ihre Reise nach Spanien gezahlt hatte, abheben und ausgeben. Verhaftung Am Morgen des 13. Februar 1917 wurde Mata Hari von Polizeikommissar Priolet in ihrem Hotelzimmer festgenommen und dem Untersuchungsrichter des Kriegsgerichts, Hauptmann Pierre Bouchardon, vorgeführt. Sie wurde als Untersuchungshäftling in das Frauengefängnis Saint-Lazare gebracht. Nach zwei Tagen in einer normalen Einzelzelle wurde sie in die berühmte Zelle 12 verlegt. In dieser Zelle wohnte Mata Hari mit ihrer Aufseherin, der Nonne Schwester Leonide. Dieses Amt der Aufseherinnen versahen in Saint-Lazare fünfzig Nonnen vom Orden Marie-Joseph du Dorat. Außer Geistlichen, Ärzten, Juristen und ihrem Anwalt hatte sonst niemand Zutritt zur Zelle der Tänzerin. Doch ihre Gläubiger verfolgten sie trotz ihrer Festnahme und schickten ihr Rechnungen und Mahnungen ins Gefängnis. Prozess Erst am 24. Juli 1917, fünf Monate nach Mata Haris Verhaftung, war die Anklageschrift fertiggestellt. Der Prozess begann am selben Tag im Pariser Justizpalast und sollte nur eineinhalb Tage dauern. Der Termin war nicht publik gemacht worden, dennoch erschienen rund 150 Personen als Zuhörer. Nach Eröffnung des Verfahrens wurde auf Antrag des Staatsanwalts wegen Gefahr für die Sicherheit des Landes der Ausschluss der Öffentlichkeit entschieden und der Saal geräumt. Vorsitzender Richter des französischen Militärgerichts war Lieutenant-Colonel Albert Ernest Somprou, ehemals Kommandeur der Garde républicaine, unterstützt von sechs Beisitzern. Die Richter waren Berufsmilitärs, keine Rechtsgelehrten, und es gab auch keine Geschworenen als Laienrichter. Ankläger war Lieutenant André Mornet, dem Bouchardon den Fall unmittelbar vor Anklageerhebung übergeben hatte. Auch George Ladoux vom Deuxième Bureau war im gesamten Prozessverlauf anwesend, obwohl er dem Gericht nicht angehörte. Er hatte ihr die Falle gestellt, sie „für die französische Sache“ als Spionin anzuwerben versucht und schließlich verhaftet. Der Vorsitzende Richter verfügte seine Anwesenheit, um einzelne Punkte zu klären und bedarfsweise auszusagen. Gerichtsschreiber war Leutnant Mornet, unterstützt von seinem Adjutanten Leutnant Rivière. Mata Haris Anwalt war der in Künstlerkreisen angesehene Jurist Eduart Clunet, der schon viele bekannte Schauspieler vor Gericht vertreten hatte. Ob er, wie oftmals behauptet, ein früherer Liebhaber Mata Haris war, lässt sich nicht nachweisen; dass er Mata Hari nach wie vor persönlich sehr zugetan, ja wie ein Schuljunge in sie verliebt war, war indes offenkundig. Zum Zeitpunkt der Anklage von Mata Hari war er 74 Jahre alt und bisher noch nie vor einem Kriegsgericht aufgetreten. So stellte er in seiner Verteidigung vor allem die menschlichen Aspekte von Mata Haris Leben heraus, die als schwache Frau auf Unterstützung angewiesen sei, und versuchte den vorliegenden Verdächtigungen der Anklage mit diesen Erklärungen zu begegnen. So soll Clunet des Öfteren in emotionsgeladene Reden verfallen sein und dabei die Entkräftung der Anklagepunkte durch stichhaltige Beweise oder Zeugenaussagen versäumt haben. Mata Hari wurde im Prozess vorgeworfen, eine Deutschlandbewunderin zu sein, weil sie – was für eine Niederländerin nicht ungewöhnlich war – Deutsch sprach und ihre Flitterwochen in Wiesbaden statt in Paris oder Venedig verbracht hatte. Erschwerend kam hinzu, dass sie vor Diplomaten und Offizieren tanzte, diese in ihre Stadtvilla in Paris einlud, gerne Geldgeschenke annahm und gute Kontakte zur Presse unterhielt. Da sie zeitlebens mit ihren privaten Finanzen ungeschickt umging, war sie auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Sie ließ sich daher gern beschenken, unabhängig von der Staatszugehörigkeit ihrer Mäzene. Ebenso musste sie in ihrer Rolle als Künstlerin gute Kontakte zur Presse unterhalten, um möglichst positive Berichterstattungen zu erwirken. So besaß Mata Hari mehrere Einklebebände mit allen über sie veröffentlichten Zeitungsartikeln und hob auch persönliche Einladungskarten auf. Ob Mata Hari überhaupt Gelegenheit hatte, entscheidende Informationen an die deutsche Abwehr weiterzuleiten, konnte damals nicht geklärt werden und kann bis heute bezweifelt werden. Der Prozess konnte deshalb auch keinen echten Beweis für ihre, heute unbestrittene, Spionagetätigkeit erbringen. Obwohl Major Ladoux wusste, dass Marthe Richard die Angeklagte hätte entscheidend entlasten können, wurde diese weder einvernommen noch als Zeugin benannt. Während des gesamten Prozesses wagte überhaupt nur einer von Mata Haris zahlreichen früheren Mäzenen, Bewunderern und Verehrern vor Gericht als Leumundszeuge auszusagen. Die Identität dieses Mannes, der „eine der höchsten Stellen“ in Frankreich besetzte, musste laut Waagenaar auf seinen eigenen Wunsch geheim bleiben. In seiner Aussage bekräftigte er auch lediglich, dass seine Verbindung zu Mata Hari rein privater Natur sei. Sein Auftritt beeindruckte die Richter dementsprechend kaum, da er mit jeder anderen Aussage auch sich selbst der Weiterleitung möglicherweise kriegswichtiger Informationen bezichtigt hätte. In der Verhandlung wurden von Seiten der Anklage auch einige Schriftstücke aus dem Briefwechsel der Tänzerin mit einem französischen Minister vorgelegt. Alle Briefe trugen die Unterschrift „My“. My – so das Gericht – bezeichnete entweder den früheren Innenminister Louis Malvy oder den ebenfalls aus dem Amt geschiedenen Kriegsminister Adolphe Pierre Messimy. Mata Hari behauptete jedoch, der Briefwechsel sei rein privater Natur und daher bestehe sie aus Gründen der Diskretion darauf, den Namen des Briefschreibers zu verschweigen. Ihre Standhaftigkeit, den Urheber der Briefe nicht zu nennen, erhärtete jedoch nur die Verdachtsmomente der Richter. Sie verzichteten darauf, beide Ex-Minister einer peinlichen Aussage vor Gericht zu unterziehen. Die intime Beziehung Mata Haris zu einem hochrangigen Politiker warf jedoch von vornherein ein schlechtes Licht auf sie. Der tatsächliche Urheber der Briefe wurde erst 1926 nach einer hitzigen Debatte im französischen Parlament entlarvt. Kurz nachdem Louis Malvy entrüstet alle Vorwürfe zurückgewiesen hatte und schließlich bewusstlos aus dem Saal getragen werden musste, gab General Messimy in einer öffentlichen Erklärung den Briefkontakt zu Mata Hari und seinen Wunsch zu, mit ihr eine Affäre zu beginnen. Er bestand jedoch darauf, dass der Inhalt der Schreiben völlig harmloser privater Natur gewesen sei und keinesfalls zu Spionagezwecken verwendet werden konnte. Gemäß den damals herrschenden Moralvorstellungen war eine geschiedene Frau, die darüber hinaus noch entkleidet vor Publikum tanzte, als unsittlich einzustufen. Der Urteilsverkündung ging dann auch ein Plädoyer Bouchardons voraus, der Mata Hari als äußerst zwielichtige Person darstellte. Der Hauptanklagepunkt, der von der Anklage als schlüssiger Beweis ihrer Doppelspionagetätigkeit vorgelegt wurde, war der Umstand, dass sich Mata Hari vom französischen Geheimdienst anwerben ließ, und dann die erwähnten sechs Agenten aufsuchte. Im Prozess wurde sie gefragt, warum einer der Agenten erschossen worden sei, wenn nicht sie deren Namen an die Deutschen verraten habe. Ihre Einlassung darauf war zugleich ihr Todesurteil. Da sie fälschlicherweise davon ausging, die Informationen seien „veraltet“ gewesen, gab sie die Weiterleitung der Namen gegen Geld zu. Das Militärgericht befand Mata Hari der Spionage für Deutschland und somit des Hochverrats für schuldig. Am 25. Juli wurde sie wegen Doppelspionage und Hochverrats zum Tode verurteilt. Hinrichtung Am 15. Oktober 1917, um 6:15 Uhr morgens, wurde Margaretha Geertruida MacLeod in den Befestigungsanlagen von Schloss Vincennes nahe Paris von einem zwölfköpfigen Exekutionskommando erschossen. Wie in Frankreich damals üblich, wurden die zum Tode Verurteilten vorab nicht über den Termin ihrer Hinrichtung informiert. So erfuhr auch Mata Hari erst eine Stunde vor dem angesetzten Hinrichtungstermin von ihrem Schicksal. Im Büro des Gefängnisdirektors durfte sie drei Abschiedsbriefe verfassen und dem Direktor übergeben. Der erste Brief war an ihre Tochter gerichtet, der zweite an Masloff und der dritte an den unbekannten Leumundszeugen. Ob diese Briefe jemals ihre Adressaten erreichten, ist unbekannt. Der Verbleib aller drei Schriftstücke ist bis heute ungeklärt. Die bei Erschießungen obligatorische Augenbinde verweigerte sie. Da sie sich nicht an den Pfahl anbinden lassen wollte, wurde ihr lediglich ein Seil, das mit dem Pfahl verbunden war, locker um die Taille gelegt. Von der abgefeuerten Salve traf angeblich nur ein einziger Schuss tödlich, dieser allerdings direkt ins Herz. Ein zweiter Schuss zerschmetterte ihr Knie. In einigen Biografien wird berichtet, dass von den zwölf abgegebenen Schüssen elf Mata Hari trafen. Ein Unteroffizier gab ihr zuletzt aus kurzer Distanz einen Gnadenschuss in den Kopf. Ihre letzten Worte soll Mata Hari an den befehlshabenden Offizier gerichtet haben: „Monsieur, ich danke Ihnen.“ Auch das Zitat „Der Tod ist nichts, auch das Leben nicht was das betrifft. Zu sterben, zu schlafen, ins Nichts zu verschwinden, was macht das schon? Alles nur Illusion!“ wird ihr in diesem Zusammenhang zugeschrieben. Um ihre Hinrichtung ranken sich zahlreiche weitere Anekdoten, die aber sämtlich in den Bereich der Mythen gehören. So soll Mata Hari vor dem Erschießungskommando gelächelt, den Soldaten Küsse zugeworfen oder sich vor ihnen entkleidet haben. Sie sei gar nicht gestorben, wurde schließlich kolportiert. Mata Hari habe das Erschießungskommando bestechen lassen, sei noch am Leben und mit einem jungen französischen Offizier aus dem Gefängnis geflüchtet. Als der Feuerbefehl gegeben wurde, habe sie ihren Pelzmantel geöffnet, den sie auf bloßer Haut trug, und die Soldaten hätten alle danebengeschossen. Nach einem anderen Gerücht sei sie zwar umgesunken, aber nicht tot gewesen, weil das bestochene Erschießungspeloton nur Platzpatronen in den Büchsen gehabt habe. Ein russischer Fürst habe sie nach der Scheinhinrichtung auf seinen Schimmel gepackt und sei mit ihr im Morgennebel verschwunden. Nachgeschichte Da niemand auf die Leiche von Mata Hari Anspruch erhob oder sich dazu bereitfand, die Kosten für eine Beerdigung zu übernehmen, wurde ihr Körper der medizinischen Fakultät der Sorbonne zur Verfügung gestellt. Angeblich wurde ihr Kopf präpariert und im Pariser Museum der Anatomie (Musée d’Anatomie Delmas-Orfila-Rouvière, meist kurz Orfila-Museum genannt) ausgestellt, aus dem er jedoch in den 1950er Jahren unter mysteriösen Umständen verschwunden sei. Als das Museum im Jahr 2000 von seiner Schließung bedroht war, veröffentlichte Le Figaro eine Liste aller jemals im Museum ausgestellten Schädel, auf der auch Mata Haris Name auftauchte. Die Geschichte des gestohlenen Kopfes basiert weitgehend auf einer Mitteilung des französischen Professors Paul de Saint-Maur, der sich erinnern will, als junger Medizinstudent das Präparat eines rothaarigen Frauenkopfes in der Fakultät gesehen zu haben, der von jedem als Mata Haris Kopf bezeichnet worden sei. Jedoch ließ sich durch Dokumente aus jener Zeit lediglich die Aufnahme der Leiche belegen. Dass Mata Hari schwarzhaarig war und zu keiner Zeit rote Haare hatte, hinterlässt weitere Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Geschichte. Versuche der Wahrheitsfindung und Rehabilitation Bis Sam Waagenaar in den 1960er Jahren mit einer Biografie der Margaretha Geertruida Zelle begann, hatte niemand den ernstlichen Versuch einer Aufdeckung der wahren Sachverhalte unternommen. Es wurde als erwiesen unterstellt, dass Mata Hari eine überaus gefährliche Spionin im Dienste der Deutschen gewesen sei, die die Franzosen zu Recht hingerichtet hätten. Waagenaar hingegen kam nach monatelanger Recherche in seinem ersten Buch zu der „nahezu hundertprozentigen“ Überzeugung ihrer Unschuld. Sie habe zwar zweifelsfrei spioniert oder „zumindest versucht zu spionieren“, dies sei aber mehr „ein gefährliches Kinderspiel, eine Art Geplänkel“ in Sachen Spionage gewesen. Sie sei „niemals in der Lage gewesen, etwas Wesentliches zu entdecken“, und habe den Deutschen gar keine Informationen von Wichtigkeit zukommen lassen. Auch der französische Historiker und Résistance-Mitglied Léon Schirmann beschäftigte sich jahrelang mit den Lebensumständen von Mata Hari und schrieb zwei Bücher über sie, 1994 L’affaire Mata Hari. Enquête sur une machination („Die Affäre Mata Hari. Untersuchung eines Komplotts“) und 2001 Mata Hari – Autopsie d’une machination („Mata Hari – Autopsie eines Komplotts“). Nach seiner Überzeugung sei sie „für eine antideutsche Kampagne missbraucht worden“. Sie habe lediglich „das Leben genießen“ wollen und nicht rechtzeitig gemerkt, dass mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs „nichts mehr wie vorher war“. Ihre Enttarnung sei durch Manipulationen des deutschen Militärattachés in Madrid zustande gekommen; in der französischen Spionageabwehr sei längst bekannt gewesen, dass die Tänzerin keine wichtigen Hinweise zu liefern imstande war. Durch den Vergleich zeitgenössischer Dokumente kamen die Mitglieder der Leeuwarder Mata-Hari-Arbeitsgruppe zu dem Schluss, dass die Tänzerin nur Spielball verschiedener Geheimdienste gewesen war und aufgrund ihres Wissens um eventuell kompromittierende Details über hochrangige Politiker sterben musste: Ein im Herbst 2001 durch ihre Geburtsstadt Leeuwarden und die Mata Hari Foundation beim französischen Justizministerium mit über 1.000 Seiten Dokumenten eingereichter Antrag auf Revision ihres Prozesses, mit der bewiesen werden sollte, dass Mata Hari das Opfer eines Justizmordes war, wurde indes – wie bereits zwei vorhergegangene Anträge – zurückgewiesen. Einen wirklichen Überblick über die Geschehnisse und Beweise – in die eine oder die andere Richtung – erhoffte man sich aus den französischen Gerichtsakten zu gewinnen. Diese waren 2017, 100 Jahre nach der Entscheidung des französischen Kriegsministeriums, freigegeben worden. Mit größter Vorsicht zu benutzen ist die umfangreiche zuvor veröffentlichte Literatur. Rezeption Mythos Mata Hari Schon kurz nach ihrem Tod wurde Mata Hari zu einem Mythos. Ihre Person galt geradezu als Verkörperung einer Kurtisane oder der Femme fatale. Andere sehen in ihr die indische Tempelbajadere und schamlose Nackttänzerin. Diese Verzerrung ihrer Person basiert nicht zuletzt auf den zahlreichen Versionen ihrer Lebensgeschichte und der Diskussion über deren Wahrheitsgehalt. Der Umstand, dass sie zum Ende ihrer Tänze nahezu nackt vor dem Publikum erschien, förderte nicht nur ihren Erfolg, sondern auch Vermutungen über ihre „Sittenlosigkeit“. Es gab viele Spekulationen über Affären mit prominenten Männern. Rückblickend kann Mata Hari jedoch weder als „Meisterspionin“ noch als „ruchlose Kurtisane“ oder gar „Bajadere“ bezeichnet werden. Diese Bezeichnungen entstanden kurz nach ihrem Prozess und wurden durch spätere Veröffentlichungen weiterverbreitet. Zu ihrer Zeit war Mata Hari ohne Frage als exotische oder indische Tänzerin berühmt. Ihre weltweite Berühmtheit verdankte sie dem Umstand, in ihrer Person Exotik, Erotik und Spionage zu vereinen. „Ihre Erfolge für den deutschen Nachrichtendienst wurden in der Beurteilung durch die Franzosen vorsätzlich oder fahrlässig weit überschätzt. Waagenaar zeigte in einer eindrucksvollen Darstellung, dass Mata Hari zu Unrecht zum Tode verurteilt wurde.“ So wie sie selbst sich zeitlebens ständig neu erfand, überschritten auch ihre Biografen häufig die Grenze zwischen Fakten und Fiktion. Die vielleicht absurdeste Geschichte erfand Kurt D. Singer (Spies who changed history), als er kolportierte, Mata Haris Tochter Non sei 1950 während des Koreakrieges von Nordkoreanern auf dem Rückzug als eine von vielen Geiseln mitgenommen worden. Man habe sie beschuldigt, in Diensten der Vereinigten Staaten für die Truppen der Vereinten Nationen Spionage getrieben zu haben, und sie zum Tode verurteilt. Diese Geschichte kursiert noch heute zum Beispiel auf einer CD des deutschen Probst Verlages. Aktuell hat der Autor Paulo Coelho in einem (biografischen) Roman Mata Hari ihre Geschichte selbst erzählen lassen, in einem fiktiven Brief an ihren Rechtsanwalt Clunet, der dann darauf antwortet. Mit den darin enthaltenen Hinweisen auf die französische und britische Aktenlage zum Beispiel ist dieser Roman eher geeignet, dem Mythos zu begegnen, rund 100 Jahre nach der Hinrichtung Mata Haris. Heimatstadt Seit den 1990er Jahren existiert im Leeuwarder Fries Museum (Friesisches Museum) eine Mata-Hari-Kollektion mit einer Dauerausstellung, weiterhin eine Mata-Hari-Stiftung, die sich die Rehabilitation von Mata Hari zum Ziel gesetzt hat. Auch das Historisch Centrum Leeuwarden ist im Besitz diverser Dokumente. Geplant war, die Mata-Hari-Kollektion in dem Haus an der Grote Kerkstraat unterzubringen, in dem Mata Hari aufwuchs. Leeuwardens Parlamentarier Albert Oostland sprach sich indes gegen die Pläne der Stadt Leeuwarden aus, ein Mata-Hari-Museum einzurichten. Leeuwarden und seine Bewohner taten sich jahrzehntelang schwer mit der berühmtesten Tochter der Stadt. Nicht wenigen ist sogar bis in die heutige Zeit hinein ihr „verruchtes Leben“ und ihr gewaltsames Ende peinlich. So wurde der Mata-Hari-Sammlung erst 2002 das Poesiealbum von Grietje de Hoo vermacht, das ein Gedicht der Klassenkameradin Margarethe Zelle enthält. Das habe so lange gedauert, weil einige Familienmitglieder sich wegen der Freundschaft der beiden Zwölfjährigen geschämt hätten. Grietje und Margaretha hätten in der Hofschool nebeneinander gesessen und danach noch jahrelang Kontakt gehalten. Grietje de Hoo sei 1904 an Lungenentzündung verstorben – ein Jahr bevor Mata Hari als exotische Tänzerin in Paris ihre ersten Erfolge feierte. Seit 1976 ist in Leeuwarden unweit ihres Geburtshauses an der Korfmakerspijp ein überlebensgroßes Standbild aufgestellt. 2001 wurde der Platz gegenüber dem Leeuwarder Theater De Harmonie in Mata Hariplein benannt. Die Mata-Hari-Stiftung und ihre niederländische Heimatstadt Leeuwarden bemühen sich intensiv um die Rehabilitation von Margaretha Geertruida. Am 15. Oktober 2001, dem Jahrestag ihrer Hinrichtung, reichte ein Anwalt beim französischen Justizministerium eine Revision des Todesurteils des französischen Militärgerichts von 1917 ein. Im Oktober 2013 wurde ihr Geburtshaus durch einen größeren Brand beschädigt. Die Wände wurden durch Löschwasser, Hitze und Rauch aus dem nahegelegenen ausgebrannten Gebäude schwer, aber behebbar beschädigt. Es wurde dann restauriert und im Stil des neunzehnten Jahrhunderts zurückgebracht. Verfilmungen Mata Haris bewegte Lebensgeschichte wurde mehrfach verfilmt, allerdings durchgehend als freie Erzählung. Die weitaus bekannteste Umsetzung des Themas stammt aus dem Jahr 1931, mit Greta Garbo in der Hauptrolle unter der Regie von George Fitzmaurice. Die Vorlage zum Film lieferte Thomas Coulson mit seinem Buch Mata Hari, courtesan and spy. Der aufwendige TV-Vierteiler Mata Hari (Niederlande 1981) gilt als die teuerste Produktion in der Geschichte des niederländischen Fernsehens. Eine seit 2007 geplante Verfilmung der Lebensgeschichte Mata Haris durch Martha Fiennes (Chromophobia) mit der Burlesque-Tänzerin Dita Von Teese in der Hauptrolle wurde bislang nicht realisiert. 1920: Mata Hari, Deutschland, Regie: Ludwig Wolff, Hauptrolle: Asta Nielsen 1927: Mata Hari, die rote Tänzerin, Deutschland, Regie: Friedrich Fehér, Hauptrolle: Magda Sonja 1931: Mata Hari, USA, Regie: George Fitzmaurice, Hauptrolle: Greta Garbo – verlegt von Warner Home Video, Hamburg als VHS (2001, 85 Min.) und DVD (2005, 89 Min.) 1964: Mata Hari, Agent H. 21, Frankreich/Italien, Regie: Jean-Louis Richard, Hauptrolle: Jeanne Moreau 1966: Der Fall Mata Hari (TV-Produktion), Deutschland, Regie: Paul Verhoeven, Hauptrolle: Louise Martini, Buch: Sam Waagenaar (Mata Haris Biograf) 1981: Mata Hari (TV-Miniserie), Niederlande, Buch und Regie: John van de Rest, Hauptrolle: Josine van Dalsum 1985: Mata Hari, USA, Regie: Curtis Harrington, Hauptrolle: Sylvia Kristel 2003: Mata Hari, la vraie histoire (TV-Produktion), Frankreich, Regie: Alain Tasmam, Hauptrolle: Maruschka Detmers 2016: Mata Hari (TV-Miniserie), Russland, Regie: Dennis Berry, Hauptrolle: Vahina Giocante 2017: Mata Hari – Tanz mit dem Tod, Deutschland, Regie: Kai Christiansen, Buch: Kai Christiansen, Heike Brückner von Grumbkow, Jochen von Grumbkow, Hauptrolle: Natalia Wörner Bühnenwerke Jerome Coopersmith schrieb in den 1960er Jahren das Musical Mata Hari für den Broadway, die Musik kam von Edward Thomas und die Liedtexte von Martin Charnin (La strada). Das Stück floppte indes bei Testaufführungen in Washington und wurde daraufhin abgesetzt. 1995 wurde von dem Theater York Theatre Company eine Aufnahme produziert, die sich ebenfalls nicht durchsetzen konnte. Weitere Aufführungen des Musicals kamen nicht zustande. Der Choreograf Renato Zanella schuf 1993 das Ballett Mata Hari, das am 4. Dezember 1993 im Großen Haus der Württembergischen Staatstheater in Stuttgart mit Marcia Haydée in der Titelrolle uraufgeführt wurde. Die Nachwuchsautorin Stefanie Taschinski schrieb das Schauspiel Mata Hari, das 2001 in Heilbronn uraufgeführt wurde. Populärkultur Unzählige Produktionen oder Projekte aus Film, Musik, Unterhaltung und Kitsch nahmen und nehmen sich bis heute Mata Haris Lebensgeschichte an, spielen auf sie an oder verwenden ihren Namen: Film und Fernsehen In der James-Bond-Verfilmung Casino Royale aus dem Jahr 1967 wurde die Rolle einer Mata Bond eingearbeitet, der Tochter von Mata Hari und James Bond und Tänzerin wie ihre Mutter. Mata Bond wurde dargestellt von Joanna Pettet. Im Film Asterix & Obelix: Mission Kleopatra aus dem Jahr 2002 taucht eine Figur namens „Mataharis“ auf, die eine Spionin darstellt. In der amerikanischen Serie Charmed – Zauberhafte Hexen ergreift der Geist von Mata Hari Besitz von Phoebe (Alyssa Milano). In der amerikanischen Serie The Young Indiana Jones Chronicles wird Indiana Jones von Mata Hari entjungfert und verliebt sich in sie. In der Serie Sketch History wird Mata Hari in einer Folge parodiert. In der Serie Warehouse 13 handelt es sich bei einem der Artefakte um Mata Haris Strümpfe, welche die Trägerin in die Lage versetzen, jeden Mann zu verführen. Musik In dem Song Like It Or Not aus dem Album Confessions on a Dance Floor von Madonna kommt folgender Text vor: „Cleopatra had her way, Mata Hari too. Whether they were good or bad, is strictly up to you.“ Im Song From One Jesus To Another von The Mission heißt es: „And anyway, if it came to a choice, I’d take Mata Hari for my bride.“ Mata Hari taucht auf in dem Song Shake Your Bon Bon von Ricky Martin: „You’re a Mata Hari, I wanna know your story.“ Auch der Song Genius von Warren Zevon thematisiert sie: „Mata Hari had a house in France, where she worked on all her secret plans; men were falling for her sight unseen, she was a genius.“ Mata Hari wird im Song Besserwisserboy der Band Die Ärzte erwähnt: „Wer genau war Mata Hari?“ Die Band Dschinghis Khan veröffentlichte einen Song namens Mata Hari. Die israelische Sängerin Ofra Haza sang ein Lied über Mata Hari. Von der Ska-Band Kingpins gibt es ein Lied namens Mata Hari. Die norwegische Sängerin Anne-Karine Strøm trat mit dem Song Mata Hari für ihr Heimatland beim Eurovision Song Contest 1976 im niederländischen Den Haag auf. In der Gesamtwertung belegte sie mit 7 Punkten den letzten Platz. Ebenfalls mit dem Titel Mata Hari vertrat die aserbaidschanische Sängerin Samira Efendi ihr Land beim Eurovision Song Contest 2021 Hari Mata Hari ist eine Band aus Bosnien und Herzegowina. Der Song Eye of the Day auf Frank Turners Album No Man's Land (2019) behandelt das Leben Mata Haris. Spiele Für Amstrad CPC und Atari ST gab es ein Videospiel namens Mata Hari. Mata Hari erscheint auch in dem Videospiel Shadow Hearts. 2008 veröffentlichte dtp entertainment das Point-and-Click-Adventure Mata Hari für PC, in dem der Spieler in die Rolle der Tänzerin und Spionin schlüpft. Sonstiges Ein Flipperautomat der Firma Bally wurde Mata Hari benannt. Ein Absinth trägt den Namen Mata Hari. Eine Kanadierin namens Joyce Chorney betreibt in Vancouver ein Mata-Hari-Restaurant. In Stuttgart, Nürnberg und Zürich existieren voneinander unabhängige Szene-Bars mit dem Namen Mata Hari. Literatur Anne Bragance: Mata-Hari, la poudre aux yeux. Éditions Belfond, Paris 1995, ISBN 2-7144-3299-9 (französisch). Jan Brokken: Mata Hari. De waarheid achter een legende. Wetenschappelijke Uitgeverij, Amsterdam 1975, ISBN 90-214-2901-2 (niederländisch). Philippe Collas: Mata-Hari. Sa véritable histoire. Plon, Paris 2003, ISBN 2-259-19872-4 (französisch). Thomas Coulson: Mata Hari, courtesan and spy. Hutchinson, London 1930 (englisch). Lionel Dumarcet: L’affaire Mata-Hari. De Vecchi, Paris 2006, ISBN 2-7328-4870-0 (französisch). Gerhard Feix: Das Große Ohr von Paris – Fälle der Sûreté. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1975, S. 202–212. Charles S. Heymans: La vraie Mata Hari. Courtisane et Espionne. Édition Prométhée, Paris 1930 (französisch). Russel Warren Howe: Mata-Hari. The true story. Editions de l’Archipel, Paris 2007, ISBN 978-2-84187-577-1 (französisch). Marijke Huisman: Mata Hari (1876–1917), de levende legende. Uitgeverij Verloren, Hilversum 1998, ISBN 90-6550-442-7 (niederländisch), Online-Version. Fred Kupferman: Mata Hari. Träume und Lügen („Mata Hari. Songes et mensonges“). Aufbau-Taschenbuchverlag, Berlin 1999, ISBN 3-7466-1575-5. Michel Leblanc: L’ennemie de Mata-Hari. France-Empire, Paris 1974 (französisch). Christine Lüders: Apropos Mata Hari (Apropos; Bd. 8). Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M. 1997, ISBN 3-8015-0304-6. Ute Maucher, Gabi Pfeiffer: Codewort: Seidenstrumpf, Die größten Spioninnen des 19. und 20. Jahrhunderts. Ars Vivendi, Cadolzburg 2010, ISBN 978-3-89716-999-9. Brygida M. Ochaim, Claudia Balk: Varieté-Tänzerinnen um 1900. Vom Sinnenrausch zur Tanzmoderne, Ausstellung des Deutschen Theatermuseums München 23.10.1998–17.1.1999. Verlag Stroemfeld, Frankfurt/M. 1998, ISBN 3-87877-745-0. Diane Samuels: The true life fiction of Mata Hari. Hern Books, London 2002, ISBN 1-85459-672-1 (englisch). Léon Schirmann: L’affaire Mata Hari. Enquête sur une machination. Tallandier, Paris 1994, ISBN 2-235-02126-3 (französisch). Léon Schirmann: Mata-Hari. Autopsie d’une machination. Éditions Italiques, Paris 2001, ISBN 2-910536-18-1 (französisch). Pat Shipman: Femme Fatale: A Biography of Mata Hari: Love, Lies and the Unknown Life of Mata Hari. Weidenfels & Nicolson, London 2007, ISBN 978-0-297-85074-8 (englisch). Sam Waagenaar: Mata Hari. Der erste wahre Bericht über die legendäre Spionin („The murder of Mata Hari“). Bastei-Lübbe, Bergisch Gladbach 1985, ISBN 3-404-61071-7 (früherer Titel: Sie nannte sich Mata Hari. Bild eines Lebens, Dokument einer Zeit). Friedrich Wencker-Wildberg: Mata Hari. Roman ihres Lebens. Weltbild-Verlag, Augsburg 2004. Julie Wheelwright: The Fatal Lover. Mata Hari and the Myth of Women in Espionage. Collins & Brown, London 1992, ISBN 1-85585-105-9. Paulo Coelho: Die Spionin. Diogenes, Zürich 2016, ISBN 978-3-257-24410-6. Weblinks Els Kloek: Zelle, Margaretha Geertruida (1876–1917), erschienen im Biografisch Woordenboek van Nederland (Biografisches Lexikon der Niederlande) als offizielle Biografie des Instituut voor Nederlandse Geschiedenis (Institut für niederländische Geschichte), Stand 13. März 2008. (niederländisch) Marijke Huisman: De legendarische Mata Hari. Vereniging voor Vrouwengeschiedenis (VVG), Niederländische Vereinigung der Frauen in der Geschichte (niederländisch) Denise Noe: Sie nannte sich Mata Hari, Der Tagesspiegel vom 7. Oktober 2007 Die bekannteste Friesin aller Zeiten und das berühmteste friesische Dorf von Helmut Höge, erschienen in Trend 03/05 Stuart Jeffries: Did they get Mata Hari wrong? The Guardian, 16. Oktober 2001 (englisch) MI5 watched Mata Hari. BBC News 26. Januar 1999 (englisch) Biografie, Literatur & Quellen zu Mata Hari FemBio des Instituts für Frauen-Biographieforschung Einzelnachweise Tänzer Person im Ersten Weltkrieg (Niederlande) Doppelagent Nachrichtendienstliche Person im Ersten Weltkrieg Verurteilte Person (Spionage) Hingerichtete Person (Frankreich) Hingerichtete Person (20. Jahrhundert) Niederländer Friese Geboren 1876 Gestorben 1917 Frau
124158
https://de.wikipedia.org/wiki/Mylodon
Mylodon
Mylodon ist eine Gattung aus der ausgestorbenen Familie der Mylodontidae, die große, bodenlebende Faultiere umfasst. Sie gehört mit einer Gesamtlänge von 3 bis 4 m zu den bekanntesten und größten Vertretern der Gruppe. Nachgewiesen ist die Gattung vor allem im südlichen Teil Südamerikas. Die ältesten Funde datieren wahrscheinlich in das Unterpleistozän. Der größte Teil der Fossilreste stammt jedoch aus der Zeit des Oberpleistozäns. Eine der wichtigsten Fundstellen dieser Phase findet sich mit der Cueva del Milodón im südlichen Chile. Kurz darauf, vor etwa 10.000 Jahren, starb Mylodon aus. Zu diesem Zeitpunkt trat die Faultiergattung gemeinsam mit den ersten menschlichen Besiedlern Amerikas auf. Es existieren aber kaum Hinweise darauf, dass sie verstärkt vom Menschen bejagt wurde. Von Mylodon sind nicht nur Knochen- und Gebissreste, sondern auch verschiedenes Weichteilgewebe wie Haut und Fell sowie Nahrungsreste in Form von versteinerten Kotballen überliefert. Als herausragendes Kennzeichen kann der bei Mylodon stark verlängerte und gegenüber anderen großen Mylodonten deutlich schmalere Schädel herausgestellt werden, der vorn einen vollständig geschlossenen Nasenbogen aufwies. Weitere Unterscheidungsmerkmale betreffen die Struktur des vorderen Gebisses. Die Tiere lebten ausschließlich bodenbewohnend. Ein dichtes Fell mit langen Haaren lässt sich als Anpassung an ein Leben unter kalten Klimabedingungen interpretieren, wie sie in der ausgehenden letzten Kaltzeit im südlichen Südamerika vorgeherrscht haben. Damit korrespondiert auch eine überwiegend auf Gräser basierte Ernährung in dieser Region. Die weite Verbreitung von Mylodon bis in die Pamparegion und einige Merkmale am Schädel zeigen jedoch auf, dass die Tiere eine weitaus größere ökologische Bandbreite besaßen und auch mit wärmeren Temperaturbedingungen und möglicherweise auch einer gemischten Pflanzenkost zurechtkamen. Die Tiere fielen teilweise größeren Beutegreifern zum Opfer. Die Gattung wurde im Jahr 1840 wissenschaftlich eingeführt, in der Regel ist nur eine Art anerkannt. Das Typusmaterial stammt aus dem Gebiet der Pampa, wo es von Charles Darwin während seiner Reise mit der HMS Beagle aufgesammelt worden war. Im Laufe der Forschungsgeschichte kam es zu Verwechslungen und Gleichsetzungen mit anderen großen Bodenfaultieren wie Glossotherium und Paramylodon, was erst in den 1920er Jahren gelöst werden konnte. Zudem gehörte Mylodon zu den ersten ausgestorbenen Faultieren, an denen genetische Untersuchungen zur Klärung der stammesgeschichtlichen Beziehungen vorgenommen wurden. Merkmale Körpergröße Mylodon war ein großer Vertreter der Mylodontidae. Seine Gesamtlänge betrug schätzungsweise rund 3 bis 4 m. Anhand der Schädelausmaße wird ein Gewicht zwischen 1 und 2 t vermutet mit einer annähernden Schätzung von 1,65 t. Damit wies Mylodon etwa die Größe verwandter Formen wie Glossotherium oder Paramylodon auf, war aber deutlich kleiner als das riesenhafte Lestodon. Im Körperbau entsprachen die Tiere weitgehend den anderen großen bodenlebenden Faultieren. Schädel- und Gebissmerkmale Vor allem im Schädelbau wich Mylodon deutlich von anderen verwandten Formen ab. Seine Länge variierte nach Untersuchung von zehn mehr oder weniger gut überlieferten Exemplaren zwischen 59,0 und 71,5 cm, was deutlich länger ist als bei Glossotherium oder Lestodon. Am Hirnschädel war er zwischen 16,5 und 22,5 cm breit, im vorderen Nasenbereich zwischen 11,3 und 15,5 cm. Die Höhe betrug entsprechend am hinteren Schädel 14,0 bis 19,0 cm und am vorderen 15,0 bis 23,5 cm. Der Schädel war dadurch langgestreckt und schmal, im Gegensatz zu Glossotherium und Lestodon, die einen kurzen und sehr breiten Schädel aufwiesen. Die außerordentliche Länge des Schädels von Mylodon wurde vor allem durch Streckungen im rostralen Abschnitt erreicht. In Aufsicht von oben verschmälerte sich das Rostrum nach vorn. Hier findet sich auch der bedeutendste Unterschied zu den meisten anderen Vertretern der Mylodontidae: Das Nasenbein war lang und schmal sowie im vorderen Bereich nach unten gewölbt. Am vorderen Ende verband es sich mit dem über einen Fortsatz verlängerten Mittelkieferknochen, der wiederum mit dem Oberkiefer fusionierte. Dadurch entstand ein bei ausgewachsenen Individuen vollständig geschlossener Nasenbogen, der bei anderen Faultieren weitgehend unbekannt ist. Im Vergleich dazu zeigten die Schädel von Glossotherium und Lestodon, aber auch von Paramylodon einen von oben gesehen verbreiterten Nasenbereich, der eher kurz war und in Seitensicht deutlich abgeschnitten wirkte, der Mittelkieferknochen hatte hier keinen Kontakt zum Nasenbein. Das Schädeldach verlief bei Mylodon weitgehend gerade, lediglich oberhalb der Orbita konnte eine leichte Eindellung auftreten. Am Scheitelbein setzten deutliche Temporallinien an, die aber keinen Scheitelkamm bildeten. Der Jochbogen war schlank, der vordere Ansatz begann oberhalb des dritten und vierten Backenzahns. Er bildete mit dem hinteren Bogenansatz keinen festen Schluss. Wie üblich bei Faultieren bestand der vordere Bogenansatz aus drei Fortsätzen: einem aufsteigenden, einem horizontalen und einem absteigenden, von denen der erstere am längsten war. Der hintere Bogenansatz formte eine dreieckige Platte. Das Hinterhauptsbein knickte in einem Winkel von 120 ° vom Schädeldach ab. Die Unterseiten der Hinterhauptsgelenke saßen etwa auf Höhe der Kauebene. In der Ansicht von hinten zeigte sich das Hinterhauptsbein nahezu kreisrund und nicht so gedrückt wie bei Glossotherium und Lestodon. Auf der Schädelunterseite wies der Gaumen eine schmale und nach vorn mehr oder weniger dreieckig orientierte Form auf. Charakteristisch waren hier zahlreiche kleine Knochenöffnungen. Die Glenoidgrube, in der das Gelenk des Unterkiefers einrastet, entsprach mit ihrer schwachen Ausprägung der anderer Mylodonten, wodurch aber insgesamt eine freie Rotationsmöglichkeit bestand. Der Unterkiefer variierte in seiner Länge zwischen 42,0 und 48,0 cm, gemessen an drei Fossilfunden. Er war langgestreckt, deutlicher als bei Glossotherium und Lestodon, da sich bei Mylodon vor allem der Bereich vor den Zähnen gedehnt hatte. Der horizontale Knochenkörper nahm nach hinten kontinuierlich an Höhe zu, unterhalb des letzten Backenzahns betrug sie etwa 10,5 bis 12,7 cm. Die Symphyse am vorderen Ende zur Gelenkung der beiden Unterkieferhälften wurde rund 12,4 cm lang. Hier stieg die Unterkante des Unterkieferkörpers schräg auf, so dass das vordere Ende der Symphyse oberhalb der Kauebene der Zähne lag. Die Symphyse zog wie bei anderen Faultieren nach vorn aus, sie endete leicht abgerundet. Entsprechend dem Rostrum des Schädels war die Symphyse bei Mylodon schmal und nicht so breit wie bei Glossotherium und Lestodon. Kurz hinter der Symphyse öffnete sich das Foramen mandibulae. Der aufsteigende Ast setzte hinter dem letzten Backenzahn an und bildete einen Winkel von 140 ° zur Kauebene. Der Kronenfortsatz erhob sich teilweise bis zu 20 cm. Dagegen saß der Gelenkfortsatz tiefer, etwa auf Höhe der Kauebene, wodurch sich eine niedrige Schädel-Unterkiefer-Verbindung ergab. Der Winkelfortsatz am hinteren Unterkieferende zeichnete sich deutlich ab. Teils kippte er nach unten ab und lag unterhalb der Unterkante des horizontalen Knochenkörpers. Die Oberseite des Winkelfortsatzes erreicht nicht die Kauebene. Das für die Faultiere typische Gebiss weicht stark von dem der anderen Höheren Säugetiere ab und besteht in der Regel oben aus fünf und unten aus vier Zähnen je Kieferbogen, insgesamt also aus 18 Zähnen. Bei den Mylodonten zeigte sich der jeweils erste Zahn häufig als eckzahnförmig (caniniform) in seiner Gestalt, während die hinteren Zähne eher molarenartig (molariform) wirkten. Innerhalb der Faultiere kann diese Gebissstruktur als ursprünglich bezeichnet werden. Mylodon wies dahingehend als Besonderheit auf, dass der obere eckzahnartige Zahn einer jeden Reihe vollständig zurückgebildet war und hier nur die molarenartigen vier hinteren Zähne vorkamen. In der unteren Zahnreihe war der vordere caniniforme Zahn in einen molariformen umgestaltet. Das Gebiss setzte sich somit aus insgesamt 16 Zähnen zusammen. Dies erinnert ein wenig an Paramylodon, bei dem die oberen eckzahnförmigen Zähne ebenfalls fehlten, die unteren aber ihre auffallend spitze Form beibehalten hatten. Abweichend davon wiesen Glossotherium und Lestodon das ursprüngliche Faultiergebiss auf. Als Charakteristikum der Mylodonten kann die flache, lappenartige und weitgehend eingedellte Struktur der molariformen Zähne hervorgehoben werden, die sich dadurch deutlich von der der Megatheriidae und Megalonychidae mit ihren zwei quergestellten erhabenen Leisten je Zahn unterscheidet. Die Form der Zähne war bei Mylodon insgesamt einfacher gestaltet. Sie hatten in der Oberkieferzahnreihe einen eher runden bis ovalen, in der Unterkieferzahnreihe einen eher rautenförmigen Umriss. Die typisch komplexere zweilappige Gestaltung der molarenartigen Zähne von Glossotherium und Lestodon, hervorgerufen durch eine zentrale Einschnürung, kam bei Mylodon nur am unteren hintersten Zahn vor. Allgemein standen die Zahnreihen nach vorn divergierend zueinander, zudem waren die Zähne sehr hochkronig (hypsodont). Die obere Zahnreihe erstreckte sich über eine Länge von 10,9 bis 13,3 cm, die untere war zwischen 12,0 und 15,0 cm lang. Körperskelett Funde des postcranialen Skeletts sind bei Mylodon weitaus seltener als bei den anderen großen mylodonten Faultieren Glossotherium, Lestodon und Paramylodon. Dadurch ist das Körperskelett weniger gut dokumentiert. Von der Wirbelsäule sind nur einzelne Elemente wie der Atlas und verschiedenen Brustwirbel beschrieben worden. Der Oberarmknochen war massiv und mit 46,0 bis 48,0 cm ausgesprochen lang. Der Gelenkkopf, dessen Durchmesser bei über 10 cm lag, hob sich durch seine halbkugelige, jedoch seitlich etwas abgeflachte Form ab. Am Schaft zog sich eine deutliche deltopectorale Leiste herab, die als Ankerpunkt für die Schultermuskulatur fungierte. Wie bei vielen Bodenfaultieren lud das untere Gelenkende weit aus und brachte es hier auf eine Breite von fast 26 cm. Teilweise wurde dies durch eine massive innere Epicondyle hervorgerufen. Die Gelenkflächen (Capitulum und Trochlea) standen nahezu senkrecht zueinander und bildeten keinen so stumpfen Winkel wie bei Glossotherium. Die Elle war grazil gebaut. Ihre Länge betrug rund 37 cm. Das Olecranon, also der obere Gelenkfortsatz, nahm davon rund 8,1 cm ein, was etwa 22 % der Gesamtlänge entspricht und deutlich weniger ist als vergleichsweise bei Glossotherium und Lestodon. Es war seitlich verschmälert, was sich unter anderem auch bei Paramylodon wiederfindet. Die Speiche ähnelte weitgehend der von Glossotherium und war kompakt und gerade gebaut mit einer Länge von etwa 30 cm. Der Kopf hatte einen ovalen Umriss mit einer auffälligen Lippe. Das Becken war äußerst ausladend und zwischen den beiden Darmbeinen 114 cm breit. Der Oberschenkelknochen maß zwischen 55 und 59 cm in der Länge. Er war typisch für Bodenfaultiere brettartig flach. Am Schaft zog seine Breite deutlich ein, der niedrigste Wert wurde kurz unterhalb des Mittelpunktes erreicht. Hier betrug die Breite rund 18 cm, die Dicke etwa 7,5 cm. Die Gelenkenden waren hingegen markant breiter, am Knieende rund 30 cm und am Fußende etwa 26 cm. Der halbkugelige, gut 14 cm durchmessende Gelenkkopf überragte den Großen Rollhügel auffallend. Der dritte Rollhügel zeichnete sich an der Außenkante des Schaftes unterhalb des Großen Rollhügels nur als kleine Erhebung ab. Gegenüber dem Oberschenkelknochen erreichte das Schienbein mit etwa 27 cm nur etwa die Hälfte der Länge, ein für Mylodonten charakteristisches Merkmal. Auch dieser Knochen war deutlich flach mit einer Dicke, die nur die Hälfte des Wertes der Breite am Schaft einnahm. Das Wadenbein liegt bisher nur fragmentiert vor. Es war am Schaft eingezogen und an den Gelenkenden verbreitert, wobei das obere Gelenkende deutlichere Rundungen zeigte als bei Glossotherium. Die Hand umfasste insgesamt fünf Strahlen (I bis V), wobei am ersten Strahl der Mittelhandknochen mit dem Großen Vieleckbein verwachsen war. Dadurch entstand der für viele Bodenfaultiere typische sogenannte Metacrapal Carpal Complex (kurz MCC genannt). Als Besonderheit an der Handwurzel zeigte sich das Erbsenbein deutlich flach, in seiner Form glich es dem von Glossotherium, wich aber von dem entsprechenden Knochen anderer Mylodonten mit kugeliger, walnussartiger oder pyramidaler Gestalt ab. Den längsten Mittelhandknochen hatte der vierte Strahl ausgebildet, während der des fünften nur wenig kürzer wurde. Die jeweiligen Knochen maßen dort rund 12,5 und 10,7 cm in der Länge. Wahrscheinlich waren wie bei Glossotherium und bei Paramylodon nur die drei inneren Strahlen krallentragend, lediglich vom zweiten Strahl sind aber bisher alle Knochenelemente dokumentiert. Der Mittelhandknochen wies an diesem eine Länge von 7,8 cm auf und war sehr grazil gebaut. Die erste Phalanx war äußerst kurz und nur rund 2,5 cm lang, die zweite wurde rund 4,2 cm lang und die dritte wenigstens 11,5 cm. Sie war röhrenförmig gestaltet und ging nach vorn in einen Fortsatz über, auf dem die Kralle ruhte. Die ersten Fingerglieder der beiden äußeren Strahlen waren in ihrer Länge deutlich reduziert. Vom Fuß liegen nur einzelne Wurzelknochen wie das Sprungbein vor. Haut, Fell und Osteoderme Mylodon gehört zu den wenigen ausgestorbenen Säugetierformen, von denen mumifizierte Hautreste vorliegen. Der bedeutendste Fundpunkt für derartige Funde ist die Cueva del Milodón in der chilenischen Provinz Última Esperanza, wo die ersten Fellteile bereits Ende des 19. Jahrhunderts zu Tage gefördert wurden. Einzelne Stücke weisen Längen von bis zu 150 cm auf, sind aber durch Trocknungsprozesse geschrumpft. Ihre Dicke beträgt an manchen Stellen bis zu 1,5 cm, meist liegt sie aber bei rund 1 cm. Die Haut ist dicht mit steifen, wenig gewellten Haaren besetzt, wobei in der Regel nur das Deckhaar ausgebildet ist, während die Unterwolle fehlt. In diesem Merkmal bestehen Gemeinsamkeiten zu den Zweifinger-Faultieren (Choloepus), jedoch weniger zu den Dreifinger-Faultieren (Bradypus) die über eine Unterwolle verfügen. Die Länge der einzelnen Haare variiert zwischen 5 bis teilweise über 20 cm mit den kürzesten im Bereich des Hinterkopfes, mittellangen am Rücken und sehr langen Haaren an den Gliedmaßen. Ihre gegenwärtige Färbung reicht von gelblich bis rötlichbraun. Die Haarschäfte sind uniform röhrenförmig, am oberen Ende formen sie stumpfe Spitzen aus. Wie bei den heutigen Faultieren wiesen die Haare keine Markröhre (Medulla) auf. Im Unterschied zu den Haaren der Zweifinger-Faultiere fehlt ihnen deren charakteristische Längsriffelung. Als einzige Vertreter der Faultiere haben die Mylodonten knöcherne Plättchen in der Haut eingelagert. Solche Osteoderme genannten Bildungen sind im größeren Maße heute nur bei den Gürteltieren bekannt. Im Gegensatz zu dem äußeren Panzer der Gürteltiere waren bei den Mylodonten die Knochenplättchen eher locker gestreut. Die ersten Funde von einzelnen Osteodermen von Mylodon veröffentlichte Hermann Burmeister bereits in den 1860er Jahren. Die in den Höhlen von Última Esperanza aufgefundenen Hautreste vermitteln einen Eindruck, wie diese in der Haut eingebettet und über den Körper verteilt waren. Die Knochenplättchen liegen alle im unteren Abschnitt der Haut, während in den oberen Abschnitten die Haare ihren Ursprung haben. Die Verteilung erwies sich als sehr uneinheitlich. Einige Bereiche mit einer dichten Anordnung an Osteodermen enthalten auf 10 cm² zwischen 83 und 95 Knochenplättchen. Bei anderen dünnt die Anzahl hingegen sehr stark aus. Jedoch selbst bei dichter Anordnung vereinigen sich die Osteoderme nie zu einem geschlossenen Panzer, sondern sind immer durch einzelne Hautfalten voneinander getrennt. In Übereinstimmung mit den Panzern der Gürteltiere bilden die Knochenplättchen eine einzelne Schicht und kommen nicht gestapelt vor. Da alle Hautreste isoliert von den Körperskeletten aufgefunden wurden, ist es teilweise schwierig, die Hautbereiche mit dichter und dünner Anordnung von Knochenplättchen einer bestimmtem Körperpartie zuzuordnen. Es ist aber anzunehmen, dass der Rücken weitgehend gepanzert und der Bauch frei war. In den Abschnitten mit dichter Osteodermausprägung waren diese größer gestaltet als in den lichten Bereichen. Die Knochenplättchen von Mylodon waren zumeist von unregelmäßiger ovaler Gestalt mit Ausmaßen von 0,5 bis 2,5 cm in der Länge, 0,3 bis 1,8 cm in der Breite sowie 0,2 bis 1,1 cm in der Dicke bei Gewichten von maximal 2 g. Oberflächig wiesen sie einzelne Grübchen auf. Im Querschnitt bestanden sie aus zahlreichen Faserbündeln vermischt mit harten Knochenlamellen (Osteome). Ihr Aufbau war dadurch wesentlich einfacher als bei den Gürteltieren, auch fehlte ihnen wohl die von den Gürteltieren bekannte Keratinauflage. Prinzipiell ähnelten die Osteoderme von Mylodon denen anderer großer Mylodonten. Verbreitung und wichtige Fossilfunde Überblick und Ursprünge Mylodon war vor allem im südlichen Bereich von Südamerika verbreitet. Fossilfunde liegen aus Argentinien, Chile, Bolivien, Uruguay und Brasilien vor. Die besiedelten Regionen umfassen somit sehr weit südliche Fundpunkte auf der Insel Feuerland sowie den Großteil Patagoniens bis nach Norden zur Pamparegion hin. Seine südliche Grenze erreichte das Verbreitungsgebiet bei etwa 53 ° südlicher Breite. Die Fundstelle Tres Arroyos auf Feuerland sowie die Region um die Cueva del Milodón im südwestlichen Patagonien gehören zu den südlichsten bekannten Nachweisen eines Faultiervertreters im Pleistozän. In der Pamparegion fand sich die nördliche Grenze etwa am Fluss Chuí im südostbrasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul um den 30. südlichen Breitengrad. Noch weiter nördlich liegende Fundpunkte wie Ñuapua in Bolivien tangieren den 20. südlichen Breitengrad. Aus Paraguay berichtete Funde gelten allerdings als eher unsicher. Ihr erstes Auftreten hatte die Faultiergattung möglicherweise bereits im Unterpleistozän, jedoch sind Funde eher rar. In diesem Zeitraum trat im Pampasgebiet zusätzlich noch die möglicherweise nahe verwandte Form Archaeomylodon auf, deren vorderste eckzahnartige Zähne der oberen Zahnreihe zwar stark verkleinert, aber noch nicht vollständig reduziert waren. Zu den frühen und weiter nördlich gelegenen Funden von Mylodon gehört beispielsweise ein Schädel aus der El-Palmar-Formation in der argentinischen Provinz Entre Ríos, der noch in die ausgehende letzte Warmzeit vor rund 80.000 Jahren datiert. Ebenfalls aus den nördlichen Verbreitungsarealen sind zwei Teilskelette erwähnenswert, von denen das eine am Río Anisacate in der argentinischen Provinz Córdoba und das andere in Arroyo Quequén Salado bei Oriente in der argentinischen Provinz Buenos Aires zu Tage gefördert wurden. Hauptsächlich in der Pampa kam es im Oberpleistozän zu einer Überschneidung des Vorkommens von Mylodon mit den beiden anderen großen mylodonten Faultiervertretern Glossotherium und Lestodon. Ein tatsächliches gemeinsames Auftreten ist aber nur selten belegt. Hierzu gehören die bedeutende archäologische Fundstelle Paso Otero in der Provinz Buenos Aires, die Lokalität Arroyo de Vizcaíno im südlichen Uruguay und der Fluss Chuí. Bedeutende Funde des Oberpleistozäns Wie bei einem Großteil der anderen großen Bodenfaultiere auch stammt das meiste Fundmaterial von Mylodon aus dem Oberpleistozän mit einem Schwerpunkt zum Ende der letzten Kaltzeit hin. Es ist gleichzeitig die Phase, in der Mylodon wieder aus dem Fossilbericht verschwand. Aus globaler Sicht starben im Übergang vom Pleistozän zum Holozän zahlreiche größere Tiere aus, weswegen dieses Ereignis als Quartäre Aussterbewelle angesehen wird. In Südamerika fällt diese mit dem ersten Auftreten des Menschen zusammen. Ob beides in einem ursächlichen Zusammenhang steht, wird vielfach und kontrovers diskutiert. Neben der potentiellen Jagd und möglichen Landschaftsüberprägungen seitens der frühen menschlichen Jäger-Sammler-Gruppen können hier auch klimatische Veränderungen einen Einfluss gehabt haben. Zahlreiche archäologische Fundstellen, vor allem in der Pamparegion und im patagonischen Raum, sind zwischen 13.500 und 10.000 Jahre alt. Der überwiegende Teil davon bezeugt zumindest eine Koexistenz von Menschen und Bodenfaultieren über längere Zeit. Direkte Assoziationen von menschlichen Kulturerzeugnissen und Fossilresten von Mylodon finden sich unter anderem in der Gruta del Indio am Ostfuß der Anden, in Piedra Museo oder in Las Buitreras, alle Argentinien, beziehungsweise in Tres Arroyos auf Feuerland. Mylodon wird häufig durch einzelne Osteoderme, Knochen oder in Form von Koprolithen repräsentiert, während die menschlichen Hinterlassenschaften sich auf Steinartefakte und/oder Feuerstellen beschränken. Ob es dabei auch zu einer mehr oder weniger intensiven Rohmaterialnutzung von Faultierknochen seitens des Menschen kam, ist vielfach unbelegt. Zahlreiche Knochenmarken, die ursprünglich als anthropogen verursacht interpretiert wurden, sind neueren Untersuchungen zufolge auf Raubtierfraß zurückzuführen. Noch schwieriger ist der Nachweis einer direkten Jagd des Menschen auf die großen Bodenfaultiere. Als ein Beleg wird häufig Quebrada de Quereo betrachtet, einer Fundstelle an einer alten Küstenlinie im nördlichen Chile. Von hier stammen unter anderem Skelettreste zweier Individuen von Mylodon, verteilt auf einer jeweils eng begrenzten Fläche, aber in zwei unterschiedlichen stratigraphischen Einheiten und in einem räumlichen Abstand von 21 m zueinander. Eines der Individuen war mit rund 70 Steinobjekten vergesellschaftet, deren anthropogener Ursprung in Diskussion ist. Auf den Knochen finden sich keine Schnittmarken als Hinweise auf eine etwaige menschliche Manipulation. Das Alter der Fundstelle wird mit 11.600 bis 10.900 Jahren vor heute angegeben. Eine der bedeutendsten Fundstellen bildet die Cueva del Milodón nahe dem Lago Sofía in der chilenischen Provinz Última Esperanza, die vor allem wegen der überlieferten Hautreste bekannt ist. Sie gehört zu einem ganzen System an Höhlen in der Region, wie der Cueva del Medio oder der Cueva Chica, die sich perlenschnurartig an der Südflanke des 556 m hohen Cerro Benitez entlangreihen. Cueva del Milodón ist eine große Höhle von 250 m Länge, 140 m Breite und 30 m Höhe am Eingang beziehungsweise 10 m im hinteren Bereich. Entdeckt wurde sie 1895 vom deutschen Kapitän Hermann Eberhard, der auch die ersten Hautreste fand. Die hohe Bedeutung dieser Funde führte dazu, dass die Höhle, anfänglich unter „Cueva Eberhardt“ bekannt, in der Folgezeit von zahlreichen Wissenschaftlern aufgesucht und erforscht wurde. Dadurch sammelte sich im Laufe der Zeit eine hohe Fundanzahl an, unter der Mylodon mit Knochenresten, und zahlreichen Koprolithen einen großen Anteil hat. Weitere Funde gehören zu Kamelen wie Lama, Pferden wie Hippidion oder Südamerikanischen Huftieren wie Macrauchenia, zusätzlich sind mehrere Raubtiere vertreten, darunter der Jaguar, Smilodon als Angehöriger der Säbelzahnkatzen und die riesige Bärenform Arctotherium. Einige der Säugetierknochen weisen Marken auf, die ursprünglich mit menschlicher Aktivität in Verbindung gebracht wurden, nach heutiger Ansicht gehen sie aber eher auf Raubtierverbiss zurück. Neben den faunistischen Resten barg die Höhle auch eine Unzahl an botanischem Material. Sie lieferte auch eine der umfangreichsten Datensequenzen aus dem Oberen Pleistozän. Mehrere Radiocarbondaten, gemessen an den unterschiedlichsten Funden von Mylodon, reichen über einen Zeitraum von vor rund 16.700 bis vor 10.200 Jahren zurück. Die oberen Angaben gehören zu den jüngsten, die direkt an Funden des Faultiervertreters gewonnen wurden. Mit rund 11.480 bis 11.250 Jahren vor heute ähnlich junge Daten lieferte unter anderem auch die Fundstelle Baño Nuevo im zentral-südlichen Chile. Die Osteoderme, von denen diese Werte stammen, lagerten aber in stratigraphisch jüngeren Schichten mit archäologischem Kontext. Cueva Lago Sofía, eine Gruppe mehrerer kleiner Höhlen unweit nördlich der Cueva del Milodón, weist vergleichbare Alterswerte auf. Die kleine, dunkle Felskammer Cueva Lago Sofía 4 enthielt zahlreiche Knochen, darunter vier Jungtiere von Mylodon und mehr als 4200 Knochenplättchen, deren Alter zwischen 13.400 bis 11.050 Jahren liegt. Noch jünger sind Datierungen einer Mylodon-Rippe, die assoziiert mit drei Dutzend Knochenplättchen an der benachbarten Cueva Lago Sofía 1 zu Tage kam und mit einem Alter von 9700 Jahren bereits dem Unteren Holozän angehört. Der hier bedeutende archäologische Fundbereich mit Steinartefakten, Feuerstellen und Knochen mit Schnittmarken ist dagegen älter und kann in einen Zeitraum um 11.000 Jahre eingestuft werden, während sich weitere Funde von Mylodon noch einmal knapp 2000 Jahre zuvor abgelagert hatten. Einige Fossilien von Mylodon stammen aus Schichten, die noch deutlicher in das Holozän hineinstreuen. Hier fehlen zumeist direkte Altersbestimmungen der Knochen, ihr Fundzusammenhang wird daher in der Regel als problematisch angesehen. Grund dafür ist, dass in vielen Höhlen-, aber auch auf Freilandfundstellen zahlreiche natürliche und anthropogene Prozesse einwirken, die zur Verlagerung von Knochen oder Osteodermen führen können, seien es die Wühltätigkeiten unterirdisch lebender Tiere oder unterschiedlichste menschliche Aktivitäten. Damit starb Mylodon wie zahlreiche andere Formen der großen Bodenfaultiere aller Wahrscheinlichkeit nach im Übergang vom Pleistozän zum Holozän aus. Paläobiologie Ernährungsweise Die Mylodonten gelten häufig aufgrund ihres Zahnbaus mit ebenen Kauflächen auf den molarenartigen Zähnen als ausgesprochene Grasfresser. Dies findet bedingt auch durch die hohen (hypsodonten) Zahnkronen und das breite Maul bei zahlreichen Formen Unterstützung. Als analoge Beispiele werden zumeist die Huftiere herangezogen, bei denen Formen mit hohen Zahnkronen und breitlippigen Mäulern in der Regel grasfressend sind, etwa verschiedene Rinder, die Pferde oder das Breitmaulnashorn. Demgegenüber ernähren sich solche mit niedrigen Zahnkronen und schmalen Schnauzen wie die Ducker oder das Spitzmaulnashorn weitgehend selektiv von verschiedenen Blättern und weiterer weicher Pflanzenkost. Im Gegensatz zu anderen großen mylodonten Faultieren wie Glossotherium, Paramylodon oder Lestodon ist das Maul bei Mylodon relativ schmal gestaltet. Als Besonderheit findet sich der geschlossene Nasenbogen, der in seinem vorderen Bereich stark aufgeraut ist und so Muskelansatzstellen für eine bewegliche Oberlippe bietet. Ähnliches lässt sich zu einzelnen Vertiefungen in der Umgebung des Foramen infraorbitale sagen, die ebenfalls als Ansatzpunkte einzelner Muskelstränge des Nasen-Lippen-Bereiches fungierten. Möglicherweise war Mylodon daher stärker an gemischte Pflanzenkost angepasst, die mit Hilfe einer beweglichen Oberlippe aufgenommen wurde. Der Verlust der vorderen Zähne in der oberen Zahnreihe führt darüber hinaus zu der Annahme, dass vergleichbar den Rindern eine hornartige Struktur am Mittelkieferknochen ausgeprägt war, die zum Abzupfen der Nahrung eingesetzt werden konnte. Die gesamte vordere Schädelstruktur ist bei Mylodon relativ massiv gebaut, verbunden mit einer teils verknöcherten Nasenscheidewand lässt sich annehmen, das beim Zerkleinern der Nahrung relativ hohe Kaukräfte wirkten. Abweichend von den teils riesigen Vertretern der Megatheriidae saß bei den Mylodonten die Gelenkung zwischen dem Unterkiefer und dem Schädel relativ niedrig, etwa auf Kauhöhe der Zähne. Der dadurch sich verringernde Hebelarm des Massetermuskels erfährt durch die Struktur des Jochbogens, hauptsächlich des absteigenden Fortsatzes, eine gewisse Kompensation, so dass bezüglich der Beißkraft nur geringe Unterschiede zu den Megatherien bestanden haben dürften. Das ausgedehnte Unterkiefergelenk ermöglicht eine weite Bewegungsfreiheit beim Kauen. Dem steht aber wiederum der Jochbogen gegenüber, der nicht geschlossen ist und dadurch den entgegenwirkenden Kräften des Masseter- und des Flügelmuskels (Musculus pterygoideus) nur wenig standhalten konnte. Es ist daher anzunehmen, dass bei Mylodon vor- und rückwärtsgerichtete Kaubewegungen dominierten. Die flachen Zahnkronen führen zu einer vergleichsweise geringen Größe der insgesamt verfügbaren Kaufläche. Bei Mylodon beträgt diese gut 1320 mm² entsprechend zu etwa gleich großen anderen Mylodonten. Das in seinen Ausmaßen vergleichbare Panzernashorn besitzt demgegenüber mit 2660 bis 5190 mm² gut den doppelten bis vierfachen Wert. Ähnlich verhält es sich beim Flusspferd, dessen Gesamtkaufläche sich auf insgesamt zwischen 3290 und 5410 mm² beläuft. Die geringe Gesamtkaufläche der Zähne bei Mylodon hatte wohl eine eher niedrige Verarbeitungskapazität für die Nahrung im Maul zur Folge. Daraus kann entweder eine hohe Fermentationsrate im Magen-Darm-Trakt und/oder ein sehr langsamer Stoffwechsel geschlussfolgert werden. Bei heutigen Faultieren ist letzteres der Fall. Verantwortlich dafür ist eine lange Durchlaufzeit der Nahrung von bis zu einer Woche durch den großen, mehrfach gekammerten Magen. Es ist anzunehmen, dass dies auch auf die ausgestorbenen Faultiere zutrifft. Eventuell war dadurch der Magen der Mylodonten ein funktionales Äquivalent zu dem komplexen Magen der Wiederkäuer, wodurch eine lange Durchlaufzeit der Nahrung eine effiziente Verdauung ermöglichte, bei der auch schwerer zugängliche Nährstoffe bereitgestellt werden konnten, beispielsweise aus stärker faserhaltiger Nahrung. Ein derartiges Verdauungssystem könnte die niedrige Verarbeitungsmenge im Maul und somit letztendlich auch die geringe Gesamtkaufläche bei Mylodon ausgeglichen haben. Eine direkte Analyse der genutzten Nahrungsressourcen ist unter anderem durch die zahlreichen Dungreste in Form von Koprolithen möglich, die unter anderem aus der Cueva del Milodón im chilenischen Teil Patagoniens, aber auch aus anderen Höhlen vorliegen. Die Koprolithen weisen bei Mylodon Durchmesser bis zu 18 cm Durchmesser auf. Untersuchungen der Pflanzenreste ergaben zu 80 bis 95 % Süßgräser und zu 5 bis 20 % Sauergräser. Krautige Pflanzen ließen sich dagegen nur in Spuren nachweisen. Demnach ernährte sich Mylodon zumindest im südwestlichen Patagonien fast ausschließlich von Gräsern. Die Nahrung spiegelt sich im Paläohabitat wider, da Pollenanalysen zeigen, dass die Landschaft zu jener Zeit einen tundrenartigen Charakter trug und daher nahezu baumfrei war mit nur vereinzelten niedrigen Gebüschen. Gelegentlich auftretende Nachweise von Scheinbuchen werden als durch Wind angetragene Pollen interpretiert. Abweichend zu den Befunden aus den Koprolithen weisen Isotopenanalysen an fossilen Haaren von Mylodon durch auffällige Stickstoffwerte auch auf eine gewisse tierische Nahrungskomponente hin. Dadurch könnten die Tiere eher als Allesfresser eingestuft werden. Da Knochenteile bisher in den Dungresten fehlen, nutzten sie vermutlich weichere und weniger verdauungsbeständige Ressourcen wie Fleisch und Eier. Ein tierischer Anteil in der Ernährung begründet sich möglicherweise auch in der im Vergleich zu anderen Mylodonten recht schmalen Schnauze und geringeren gesamten Kapazität an Kaufläche. Ebenso begünstigte sie die weit südliche Verbreitung der Gattung außerhalb der warmen tropisch- bis subtropisch geprägten Landschaften. Der Körperbau von Mylodon spricht aber gegen einen aktiven Jäger oder Beutegreifer, wodurch wohl eine aasfressende Lebensweise in Betracht kommt. Fortbewegung Allgemein handelt es sich bei den großen Mylodonten um bodenbewohnende Tiere. Der gegenüber dem oberen sehr kurze untere Abschnitt des Hinterbeins findet sich auch bei Mylodon wieder, dessen Schienbein mit 27 cm Länge nur halb so lang ist wie der Oberschenkelknochen mit 59 cm Länge. Im Vergleich dazu besitzen die Megatheriidae deutlich längere untere Beinabschnitte, was etwa beim nahezu gleich großen Pyramiodontherium zu einem 47 cm langen Schienbein bezogen auf einen 49 cm langen Oberschenkelknochen führt. Möglicherweise resultieren diese Differenzen in der Hinterbeinstruktur zu einer deutlich agileren Fortbewegung bei den Megatherien im Verhältnis zu den Mylodonten. Ähnlich wie bei anderen großen Bodenfaultieren kontaktierte die Hand von Mylodon den Untergrund mit der äußeren Seitenkante und saß somit gedreht auf. Indiziert wird dies durch die langen Mittelhandknochen der äußeren Strahlen und die abnehmende Anzahl der Fingerglieder an diesen. Die spezielle Handposition schützte damit die langen Krallen der Innenstrahlen, die so beim Gehen nicht in den Untergrund eindrangen. Eine funktional ähnliche, nur grundsätzlich andere Handposition findet sich im Knöchelgang des entfernt verwandten heutigen Großen Ameisenbären. Das Ellenbogengelenk war im vierfüßigen Stand leicht nach außen gerichtet und die Arme somit etwas nach innen gewinkelt, was sich aus der Lage des Olecranons ergibt. Die Hände kamen damit leicht innerhalb der Ellenbogenbreite zur Ruheposition. Eine derartige Ausrichtung der Arme kann die große Masse von Mylodon effektiv unterstützen. Die Hände würden dadurch auch in einer Linie zu den Füßen stehen, was unter anderem auch Trittsiegel von Paramylodon vermitteln. Die seitlich begrenzte Gelenkfläche des Oberarmkopfes schränkte die Beweglichkeit des Arms stark ein. Gleiches gilt für den Unterarm, dessen gerade Speiche mit seitlich verlängertem Kopf keine größeren Drehbewegungen zuließ. Diese Merkmale können als Anpassungen an eine rein landbewohnende Lebensweise gedeutet werden. Zuletzt seien noch auf die Muskelansatzstellen am ersten Halswirbel verwiesen, die stärker ausgebildet sind als etwa bei Paramylodon. Korrespondierend dazu stehen auch die Hinterhauptsgelenkflächen etwas weiter auseinander. Beides kann dahingehend gedeutet werden, dass der massivere Schädel von Mylodon, hervorgerufen durch die Verlängerung der Schnauzenregion, eine größere Muskelunterstützung benötigte. Für einige der Mylodonten Südamerikas wie Glossotherium wird eine teils grabende Lebensweise rekonstruiert, was sich unter anderem aus dem Bau des Vorderbeins ergibt. Ein Indikator dafür stellt der obere Gelenkfortsatz (Olecranon) der Elle dar. Je länger das Olecranon ist, um so höher wird dabei die Hebelwirkung des Unterarms, da mehr Ansatzfläche für die Unterarmmuskulatur zur Verfügung steht. Bei Glossotherium nimmt das Olecranon bis zu 35 % der Gesamtlänge der Elle ein, die daraus resultierende Befähigung zum Graben wäre vergleichbar mit den Kugelgürteltieren, die zwar selten eigene Baue anlegen, dazu aber in der Lage sind. Die bisherigen Analysen für Mylodon ergaben ein wesentlich kürzeres Olecranon, dessen Anteil an der Gesamtlänge der Elle nur rund 22 % beträgt. Problematisch ist allerdings der Umstand, dass sich die Werte bei Mylodon auf ein nicht vollständig ausgewachsenes Exemplar beziehen. Andere Hinweise lassen sich aus dem Bau der Hand ableiten. So sind bei Mylodon die Mittelhandknochen des zweiten und dritten Strahls sehr grazil, abweichend von Glossotherium. Gerade ein schwach ausgeprägter Mittelstrahl scheint eine grabende Tätigkeit nicht zu unterstützen, da dieser bei unterirdisch lebenden Säugetieren zumeist am kräftigsten ausgebildet ist. Allerdings zeigt die körperferne Gelenkfazette des dritten Mittelhandknochens eine flache Ausprägung, wodurch der mittlere Finger generell eher steif und stabil war. Die gleiche Artikulationsfläche am zweiten Mittelhandknochen ist deutlich gerundeter und unterstützt somit eine höhere Mobilität des Fingers beim Greifen. Dadurch bestanden offensichtlich Funktionsunterschiede zwischen den einzelnen Strahlen der Hand. Als zusätzliches Indiz gegen grabende Tätigkeiten können die selten auftretenden Abnutzungsspuren an den letzten Fingergliedern herhalten, die unter anderem mehrfach isoliert aus der Cueva del Milodón vorliegen. Die aufgezeigten Befunde negieren jedoch nicht das gelegentliche Kratzen im Untergrund, etwa bei der Suche nach Nahrung oder ähnlichem, wozu die Struktur des Vorderarms mit einzelnen markanten Muskelmarken am Unterarm offensichtlich kräftig genug ausgebildet ist. Ökologische Anpassungen Mylodon kam von Feuerland an der Südspitze Südamerikas über Patagonien bis in die Pamparegion vor und besaß so ein Verbreitungsgebiet, das die kalt- und kühl-gemäßigten bis teils subtropischen Klimazonen Südamerikas einschließt. Vor allem die zahlreichen Nachweise in Patagonien und auf Feuerland aus der ausgehenden letzten Kaltzeit, die auf Pollenanalysen basierte Rekonstruktion der damaligen Umwelt als tundrenartige offene Landschaften, die sich daraus ergebende überwiegend grashaltige Ernährungsweise und die Überlieferung von Fellresten weisen Mylodon als kälteangepasstes Tier aus. Dies unterstützen auch Berechnungen der Wärmeleitfähigkeit des Fells, die sehr niedrig war und somit die Thermoregulation unterstützte. Der Wert von rund 1,9 ist etwa nur ein Fünftel dessen, was bei einem Tier von rund 1 t Lebendgewicht zu erwarten wäre. Teilweise wird dies auf die geringe Stoffwechselrate zurückgeführt. Sofern letzteres für Mylodon auch zutrifft, könnte dies eine Thermoneutralität von etwa 28,5 °C bewirkt haben, was noch weit höher ist als bei den rezenten Faultieren. Da die Lufttemperaturen im ausgehenden Pleistozän aber häufig darunter gelegen haben dürften, ist ausgehend von diesen Berechnungen ein phasenweise erhöhter Metabolismus anzunehmen um die Körpertemperatur weitgehend konstant zu halten. Andererseits sind Funde von Mylodon auch aus deutlich weiter nördlich gelegenen Gebieten gut belegt. Für die Reste aus der El-Palmar-Formation in der argentinischen Provinz Entre Ríos wird ein Alter in die ausgehende letzte Warmzeit, genauer gesagt in das Ende des Wärme-Isotopenstadiums (OIS oder MIS) 5 vor gut 80.000 Jahren angenommen. Die damalige Umwelt bestand dort aus sich abwechselnden geschlossenen Wäldern und offeneren Grasgebieten in einer Landschaft, die von zahlreichen Wasseradern im Einzugsgebiet des heutigen Río Uruguay durchzogen war und die unter warm-feuchten Klimabedingungen bestand. Da Mylodon hier aber noch im ausgehenden Pleistozän unter vergleichbaren Klimabedingungen anwesend war, kann dadurch von einer deutlich größeren ökologischen Toleranz bei den Tieren ausgegangen werden. Es ist zu vermuten, dass dies auch auf die Ernährung zutrifft. Die waldreicheren Landschaften in den nördlicheren Refugien des Faultiervertreters stellten weniger Grasnahrung zur Verfügung, wie auch die bereits erwähnten Schädeladaptionen eine eher auf gemischte Pflanzenkost basierte Ernährung befürworten. Anhand einzelner Funde lassen sich gewisse Größendifferenzen bei Mylodon feststellen. So verweisen Fossilreste von nördlicheren Fundpunkten auf durchschnittlich kleinere Individuen hin als solche aus südlicheren. Prinzipiell könnte dies die Bergmannsche Regel widerspiegeln, möglich ist aber auch, dass sich hier ein bisher nicht festgestellter Sexualdimorphismus ausdrückt. Allgemein wird das verfügbare Fossilmaterial als bisher zu wenig umfangreich angesehen, um eine genauere Geschlechtsbestimmung eines Individuums zuzulassen. Bei anderen großen Bodenfaultieren wie etwa Paramylodon gibt es aber durchaus Hinweise auf einen Sexualdimorphismus, ebenso bei den rezenten Baumfaultieren, der sich hier aber nicht auf die Körpergröße, jedoch auf das Körpergewicht auswirkt. Andererseits bezeugen Mylodon-Funde aus sehr weit südlichen Bereichen auch recht kleine Individuen, was teilweise mit deren Auftreten in gebirgigen Lagen in Verbindung gebracht wird. Beutegreifer und Parasiten Vor allem im südlichen und südwestlichen Patagonien lassen sich zahlreiche Knochenveränderungen an Funden von Mylodon als durch Raubtiere verursacht belegen. Hierzu gehören vor allem die Reste aus der Cueva del Milodón im südwestlichen Chile. Einige Höhlen in deren direkter Umgebung wie die Cueva Lago Sofía 4 und die Cueva Chica werden als Horste von Raubtieren gedeutet. Gleiches gilt für die Cueva del Puma oder die Cueva Fell im Pali-Aike-Gebiet des südlichen Chile. Einige der Höhlen enthalten vornehmlich kleinere Skelettelemente wie Hand- und Fußknochen oder Knochenplättchen, die darauf hinweisen, dass nur ein Teil des Kadavers in den Unterschlupf verschleppt wurde. Ob dies ein Resultat eines direkten Beutezugs oder auf Aasfresserei zurückzuführen ist, lässt sich vielfach nicht direkt klären. Andere Felskammern bargen wiederum einen größeren Anteil an Jungtieren von Mylodon. Die größten damals auftretenden Raubtiere stellen der Puma und der Jaguar sowie die ausgestorbene Formen Smilodon als Vertreter der Säbelzahnkatzen und Arctotherium als Angehöriger der Bären dar. Letztere beiden konnten rekonstruiert durchaus Körpergewichte von über 400 kg erreichen, wobei für die Säbelzahnkatze Beutegrößen zwischen 1 und 2 t angenommen werden, wodurch Smilodon durchaus als großer Predator von Mylodon in Betracht kommt. An verschiedenen der untersuchten Koprolithen von Mylodon konnten noch Eier von Fadenwürmern dokumentiert werden. Die Eier waren ovaloid geformt mit Längen von knapp 50 µm Länge und Dicken von 29 µm. Außerdem ließen sich einzelne Käfer nachweisen. Systematik Klassische äußere Systematik Mylodon ist eine ausgestorbene Gattung aus der ebenfalls erloschenen Familie der Mylodontidae. Die Mylodontidae bilden einen Teil der Unterordnung der Faultiere (Folivora) und formen innerhalb dieser zusammen mit den Orophodontidae und den Scelidotheriidae die Überfamilie der Mylodontoidea (teilweise werden die Scelidotheriidae und die Orophodontidae aber auch nur als Unterfamilie innerhalb der Mylodontidae geführt). In einer klassischen Auffassung, die weitgehend die skelettanatomischen Merkmale berücksichtigt, repräsentieren die Mylodontoidea wiederum neben den Megatherioidea die zweite große und bedeutende Faultierlinie. Die Megatherioidea schließen die Megatheriidae mit den größten bekannten Vertretern der Faultiere, darüber hinaus auch die Nothrotheriidae und die Megalonychidae ein. Letzteren werden die Zweifinger-Faultiere (Choloepus) als eine der beiden heute noch bestehenden Linien zugewiesen. Die Mylodontidae innerhalb der Mylodontoidea stellen eine der vielfältigsten Gruppen der Faultiere dar. Zu ihren wichtigsten definierenden Merkmalen gehören die hochkronigen Zähne, die abweichend von den Megatherioidea eine flache (lobate) Kaufläche aufweisen. Diese Zahngestaltung wird zumeist als eine Anpassung an stärker grashaltige Nahrung aufgefasst. Die hinteren Zähne sind im Querschnitt häufig rund oder oval gestaltet, der jeweils vorderste einer Zahnreihe ist in der Regel eckzahnartig ausgeprägt. Der Hinterfuß ist zudem deutlich gedreht, so dass die Sohle nach innen zeigt. Die Mylodonten lassen sich mit Paroctodontotherium aus Salla-Luribay in Bolivien bereits im Oligozän nachweisen. Die innere Gliederung der Mylodontidae ist komplex und momentan ungenügend ausgearbeitet. Zumeist anerkannt sind die stammesgeschichtlich entwickelten Linien der Mylodontinae mit Mylodon als Typusform und der Lestodontinae, deren Charakterform Lestodon darstellt (auf tribaler Ebene als Mylodontini und Lestodontini bezeichnet). Zu letzterer werden teilweise auch Paramylodon und Glossotherium gerechnet. Neben diesen beiden Gruppen wurden in der Vergangenheit zahlreiche weitere Unterfamilien aufgestellt. Genannt werden sollen etwa die Nematheriinae, die die Vertreter aus dem Unteren Miozän zusammenfassen oder die Octomylodontinae für alle Basalformen. Diese sind aber nicht allgemein anerkannt. Eine weitere Linie wurde mit den Urumacotheriinae im Jahr 2004 herausgearbeitet, welche die spätmiozänen Vertreter des nördlichen Südamerikas beinhalten. Prinzipiell mahnen einige Forscher eine Revision für die gesamte Familie an, da zahlreiche der höheren taxonomischen Einheiten keine formale Diagnose besitzen. Für die Untergliederung der terminalen Vertreter der Mylodonten in die Unterfamilien der Lestodontinae und Mylodontinae fand sich allerdings in einer der bisher umfangreichsten Studien zur Stammesgeschichte der Faultiere Bestätigung. Die Untersuchung wurde 2004 von Timothy J. Gaudin publiziert, beruht auf schädelanatomischen Merkmalen und legt eine nahe Beziehung von Mylodon mit Paramylodon nahe, während Glossotherium enger mit Lestodon verbunden ist. Letztere beiden zeigen aber starke anatomische Ähnlichkeiten zu Paramylodon. Zwar konnte diese Verwandtschaftsbeziehung in der Folgezeit mehrfach reproduziert werden, doch andere Autoren sahen dies mitunter auch kritischer. Hier sei beispielhaft eine Untersuchung von Luciano Varela und Kollegen aus dem Jahr 2019 unter Einbeziehung zahlreicher Taxa aus der gesamten Unterordnung der Faultiere erwähnt, in der Mylodon eine basale Stellung gegenüber allen späten Mylodonten einnimmt. Eine höherauflösende phylogenetische Analyse der Mylodonten von einem Arbeitsteam um Alberto Boscaini aus dem gleichen Jahr untermauert dem gegenüber die Zweigliederung der terminalen Vertreter mit dem Unterschied aber zu Gaudins Studie aus dem Jahr 2004, dass Mylodon, Paramylodon und Glossotherium eine engere Einheit formen und den Mylodontinae zuzurechnen sind, Lestodon hingegen enger an Thinobadistes gebunden ist. Als ein fundamentaler Unterschied zwischen den Mylodontinae und Lestodontinae kann die Ausprägung der eckzahnartigen vorderen Zähne hervorgehoben werden. Bei letzteren sind sie groß und durch ein langes Diastema von den hinteren Zähnen getrennt, bei ersteren haben sie nur kleine Ausmaße oder sind teilweise reduziert und stehen dichter an den molarenartigen Zähnen an. Eine bereits 2009 von Robert K. McAfee publizierte Studie widmete sich detailliert den schädel- und zahnmorphologischen Unterschieden zwischen Glossotherium sowie Paramylodon und bezog auch Mylodon mit ein. Demnach bestehen zwischen ersteren beiden größere Gemeinsamkeiten als zu letzterem. Die Besonderheit von Mylodon drückt sich in dem reduzierten Gebiss aus, bei dem die oberen eckzahnartigen Zähne fehlen, die unteren aber in molarenartige umgestaltet sind. Zusätzlich hebt sich die Gattung durch einfacherer gestaltete Mahlzähne und eine vorverlagerte Knochennaht zwischen dem Gaumenbein und dem Oberkiefer auf Höhe des dritten molarenartigen Zahns hervor. Glossotherium und Paramylodon auf der anderen Seite verfügen über caniniforme Zähne, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, komplexere molariforme Zähne und eine Gaumenbein-Oberkiefer-Verbindung auf Höhe des letzten Backenzahns. Genetische Verwandtschaft Aufgrund der guten Fossilerhaltung mit Resten des Weichteilgewebes gehörte Mylodon neben Nothrotheriops zu den wenigen ausgestorbenen Faultieren, die bereits sehr früh in molekulargenetische Untersuchungen einbezogen wurden. Erste Analysen fanden in der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert statt. In deren übereinstimmenden Ergebnissen kristallisierte sich ein engeres Verwandtschaftsverhältnis zwischen Mylodon und den Zweifinger-Faultieren (Choloepus) heraus, womit letztere der übergeordneten Gruppe der Mylodontoidea zuzuweisen wären. Die Dreifinger-Faultiere (Bradypus) hingegen standen Nothrotheriops aus der Gruppe der Nothrotheriidae näher und gehörten damit den Megatherioidea an. Dies erwies sich als konträr zu der klassischen, anatomiebasierten Gliederung der Faultiere, in der die Zweifinger-Faultiere eine Gemeinschaft mit den Megalonychidae innerhalb der Megatherioidea bilden, die Dreifinger-Faultiere hingegen die Schwestergruppe zu allen anderen Faultierlinien darstellen. Etwas widersprüchlich dazu zeigten sich Kollagenuntersuchungen aus dem Jahr 2015, die neben den heutigen Faultieren auch weitere ausgestorbene Formen berücksichtigten. Hier ergab sich vorläufig eine Nahbeziehung der rezenten Baumfaultiere zueinander. Allerdings war Mylodon kein Bestandteil dieser Analyse. Als problematisch bei allen Arbeiten kann herausgestellt werden, dass zu wenige fossile Arten einbezogen wurden und die ermittelten Daten so uneindeutig blieben. Eine separate Studie zur genetischen Verwandtschaft von Mylodon zu den heutigen Faultieren unter Berücksichtigung sowohl von mitochondrialer als auch Kern-DNA aus dem Jahr 2018 bestätigte das zuvor mehrfach ermittelte Ergebnis einer engen Bindung an die Zweifinger-Faultiere. Im Jahr 2019 fanden zwei umfangreiche Untersuchungen zur Molekulargenetik und zur Proteinstruktur ihre Veröffentlichung, in der erstmals auch eine nennenswerte Anzahl an Vertretern fast aller fossilen Familien integriert waren. Erstere fand unter Federführung von Frédéric Delsuc statt, der bereits zuvor über Jahre die genetische Beziehung der heutigen Nebengelenktiere erforscht hatte, letztere stammt maßgeblich von Samantha Presslee. In beiden Studien ließen sich die auch anatomisch belegten Großgruppen der Mylodontoidea und Megatherioidea weitgehend bestätigen. Allerdings konnten ihnen mit den Megalocnoidea eine dritte große Linie zur Seite gestellt werden, die die Faultiere der karibischen Inseln repräsentiert. Die rezenten Faultiere verteilen sich entsprechend der vorigen Studien mit den Dreifinger-Faultieren auf die Megatherioidea und mit den Zweifinger-Faultieren auf die Mylodontoidea. Das in diesem Punkt von den anatomischen begründeten Gliederungsschemata der Faultiere abweichende Bild hatte zur Folge, dass einerseits die Dreifinger-Faultiere trotz einiger besonderer Charakteristika keine Außengruppe bilden und die Zweifinger-Faultiere nicht näher mit den karibischen Faultieren verwandt sind. Letztere beiden – ursprünglich in den Megalonychidae zusammengefasst – waren deutlich getrennt. Die Megalonychidae wurden daher auf die festländischen großen Bodenfaultiere beschränkt, die Zweifinger-Faultiere ausgewiesen und die karibischen Faultiere einer eigenen Großgruppe zugeordnet. Innerhalb der Mylodontidae bildet Mylodon mit Paramylodon und Glossotherium eine enger verwandte Gruppe. Lestodon dagegen steht in einer äußeren Position zu diesen drei Gattungen. Die Konstellation findet sich ähnlich auch bei einigen der bereits erwähnten anatomiebasierten stammesgeschichtlichen Verwandtschaftsmodellen wieder. Innere Systematik Häufig wird nur eine Art von Mylodon anerkannt: M. darwinii Owen, 1840 Daneben wurden zahlreiche weitere Arten innerhalb der Gattung beschrieben. Die bekanntesten sind das im Jahr 1898 von Florentino Ameghino eingeführte M. listai und das auf Lucas Kraglievich aus dem Jahr 1928 zurückgehende M. insigne. Beide Formen werden gelegentlich von einzelnen Autoren als gültig anerkannt, teils aufgrund der geringeren Körpergröße und/oder einzelner abweichender Zahnmerkmale, andere sehen sie hingegen als synonym zu M. darwinii an. Gleiches gilt für M. zeballozi, welches im Jahr 1880 von Henri Frédéric Paul Gervais und Ameghino wissenschaftlich benannt worden war. Prinzipiell mahnen aber die Wissenschaftler eine Revision der Gattung an. Eine Untersuchung mehrere Schädel von Mylodon im Jahr 2010 kommt zu dem vorläufigen Schluss, das etwaige Größenunterschiede möglicherweise einen Sexualdimorphismus oder ökologische Differenzen im entsprechenden Lebensraum beziehungsweise zeitliche Unterschiede widerspiegeln könnten. Abseits davon wurde im Jahr 2018 mit Castrocopros hauthali ein Ichnotaxon für die zahlreichen Koprolithen aus der Cueva del Milodón in Chile eingeführt. Forschungsgeschichte Erstbeschreibung Die taxonomische Geschichte von Mylodon ist komplex. Es kam dabei über einen langen Zeitraum zu Verwechslungen und Gleichsetzungen mit anderen mylodonten Formen wie Glossotherium und Paramylodon. Ein Teil dieser Komplexität lässt sich auf den Erstbeschreiber der Gattung selbst zurückführen, bei dem es sich um Richard Owen (1804–1892) handelt. Owen, einer der bedeutendsten Forscher des Victorianischen Zeitalters, beschäftigte sich von 1836 an mit Fossilfunden, die Charles Darwin von seiner wegweisenden Reise mit der HMS Beagle nach Südamerika mitgebracht hatte. Die Kollektion beinhaltete auch einen Unterkiefer aus Punta Alta bei Bahía Blanca im Süden der argentinischen Provinz Buenos Aires (Exemplarnummer NHM 16617). Das nahezu vollständige Stück zeichnete sich durch eine Zahnreihe aus insgesamt vier molarenartigen Zähnen aus. In einer umfangreichen Schrift aus dem Jahr 1840 verwies Owen den Unterkiefer zu der von ihm neu geschaffenen Gattung Mylodon und benannte die Art mit M. darwinii („darwinii“ ist die von Owen genutzte Schreibweise, in heutiger Zeit wird jedoch häufig auch „darwini“ verwendet; den Regularien der zoologischen Nomenklatur zufolge ist erstere Version korrekt). Den Gattungsnamen bezog er auf die molarenartigen Zähne (von griechisch μυλη (myle) für „Molar“ und ὀδούς (odoús) für „Zahn“, somit also so viel wie „Molarenzahn“ übersetzt), mit dem Artepitheton darwinii ehrte er Darwin als Finder des Belegexemplars. Als zweite Art neben M. darwinii verwies Owen in seiner Schrift auf M. harlani. Diese Form basierte auf einem Unterkiefer und einem Schlüsselbein, welche beide vom Big Bone Lick im Boone County im US-Bundesstaat Kentucky stammten und die Richard Harlan bereits im Jahr 1831 unter der Artzuweisung Megalonyx laqueatus beschrieben hatte. Owen allerdings erkannte im Bau des Unterkiefers Übereinstimmungen mit seinem M. darwinii und benannte Harlans Form um. Harlan nutzte zwei Jahre später einen Aufsatz, um sich über Owens Namenswahl bezüglich Mylodon zu äußern, die er als wenig beschreibend empfand. Demnach könnte seiner Auffassung nach der Name auf nahezu jede ausgestorbene Säugetierform bezogen werden, weil fast alle über die hinteren Backenzähne verfügten. Zudem wäre die Bezeichnung unpassend, da ausgehend von der lateinischen Version dens molaris für „Mahlzahn“ und dem zweiten Wortteil don (von dens für „Zahn“) eine Doppelung entsteht, die mit „Mahlzahn-Zahn“ zu übersetzen wäre. Ungeachtet dessen hatte Owens Etablierung der Gattung Mylodon mit zwei Arten zur Folge, dass der ausgestorbene Faultiervertreter sowohl in Süd- als auch in Nordamerika verbreitet war. Von Glossotherium, Grypotherium und Paramylodon Owen etablierte in seiner Arbeit von 1840 neben Mylodon auch die Gattung Glossotherium, allerdings ohne Ausweisung einer bestimmten Art. Grundlage bildete hier ein hinteres Schädelfragment, welches vom Flussbett des Arroyo Sarandi im uruguayischen Department Soriano stammt. Im Gegensatz zu Mylodon, für das Owen eine verwandtschaftliche Nähe zu den anderen damals bekannten großen Bodenfaultieren wie Megatherium oder Megalonyx annahm, stellte er Glossotherium in eine Reihe mit den Ameisenbären beziehungsweise mit den Schuppentieren und postulierte eine insektenfressende Lebensweise für die Tiere. Zwei Jahre später aber verwarf Owen den Namen Glossotherium wieder. Dies geschah im Zuge der Bearbeitung eines nahezu vollständigen Skelettes, welches im Jahr zuvor in den Überschwemmungsebenen des Río de la Plata nördlich von Buenos Aires entdeckt worden war. Der weitgehend unversehrte Schädel charakterisierte sich durch eine kurze und breite Schnauze und durch ein Gebiss bestehend aus insgesamt 18 Zähnen, von denen der jeweils vorderste Zahn eine eckzahnartige Gestaltung zeigte. Aufgrund der Ähnlichkeiten im Zahnbau mit den flachen, molarenartigen Zähnen ordnete Owen das Skelett zur Gattung Mylodon und führte die neue Art M. robustus ein. Das Schädelfragment, das er ursprünglich zu Glossotherium gestellt hatte, brachte er nun mit M. darwinii in Verbindung. Im Ergebnis dieser Studie bestanden in den 1840er Jahren bereits drei Arten der Gattung Mylodon. Ein bei Pergamino in der Provinz Buenos Aires aufgefundener Schädel einschließlich Unterkiefer diente dem dänischen Zoologen Johannes Theodor Reinhardt (1816–1882) im Jahr 1879 als Grundlage für eine umfassende Beschreibung. Kennzeichnend für den Schädel war die schmale Schnauze und ein geschlossener Nasenbogen, der durch die feste Verwachsung des Nasenbeins mit dem Mittelkieferknochen entstand. Des Weiteren bestand das Gebiss aus insgesamt 16 Zähnen, der jeweils obere vordere eckzahnähnliche Zahn war reduziert, im Unterkiefer saßen dagegen je vier molarenartige Zähne. Reinhardt bemerkte im Bau des Unterkiefers Ähnlichkeiten zu M. darwinii, in der Schädelgestaltung wich sein Fund durch die schmale Schnauze jedoch deutlich vom breitschnauzigen M. robustus ab. Allerdings ergaben sich nach Reinhardt Übereinstimmungen bei Owens Glossotherium-Schädelfragment mit entsprechenden Schädelabschnitten bei M. robustus. Aufgrund der deutlichen Parallelen zwischen M. darwinii und seinem schmalschnauzigen Schädelfund propagierte Reinhardt die neue Gattung Grypotherium mit Grypotherium darwinii als Typusart. Einen anderen Weg ging Florentino Ameghino (1854–1911) rund zehn Jahre später. Er bestätigte 1889, die Trennung von sowohl von M. darwinii als auch von M. robustus nicht nur auf Art-, sondern auch auf Gattungsebene. Abweichend von Reinhardt, aber übereinstimmend mit Owen sah er den Unterkiefer von M. darwinii und das Schädelfragment von Glossotherium als zusammengehörig an. Da in diesem Szenario Glossotherium Priorität vor Mylodon (Owen erwähnte 1840 ersteres vor letzterem) und Grypotherium besaß, führte Ameghino die Art Glossotherium darwinii ein. Den Status von M. robustus beließ er dagegen unangetastet. Arthur Smith Woodward (1864–1944) wiederum folgte der Argumentation von Reinhardt. In einem im Jahr 1900 erschienenen Aufsatz präsentierte er Funde von Bodenfaultieren des südlichen Patagonien und revidierte gleichzeitig die Sammlung von Charles Darwin. Hierbei setzte er den Unterkiefer von M. darwinii mit Reinhardts Grypotherium gleich und stellte darauf folgend Grypotherium darwinii wieder her. Das Schädelfragment von Glossotherium ordnete Smith Woodward analog zu Reinhardt zu M. robustus. Im Zeitraum in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte sich in Nordamerika die Anzahl an fossilen Faultierfunden stark erhöht. Unter anderem entdeckte eine Expedition des American Museum of Natural History im Jahr 1897 ein Teilskelett eines großen mylodonten Faultiers bei Hay Spring im US-Bundesstaat Nebraska. Kennzeichnend am Schädel erwies sich das breite und vorn offene Rostrum und ein Gebiss bestehend aus 16 Zähnen. Hierbei fehlten in der oberen Gebissreihe die vorderen eckzahnartigen Zähne, in der unteren waren sie hingegen ausgebildet. Dadurch ähnelte der Schädel in seiner Gestaltung dem von Glossotherium, das Gebiss wiederum ließ sich eher mit Mylodon vergleichen. Barnum Brown (1873–1963) verwendete den Fund im Jahr 1903 zur Aufstellung der neuen Gattung Paramylodon mit Paramylodon nebrascensis als Typusart. Zu den bereits bekannten Funden von M. harlani aus Nordamerika zeigte sich vor allem die Reduktion der oberen caniniformen Zähne als entscheidend für Brown. Die nordamerikanischen Mylodonten erwiesen sich aber bezüglich dieses Merkmals als recht variabel, was nicht zuletzt dem immensen Fundanstieg in den Asphaltgruben von Rancho La Brea im Süden von Kalifornien und dadurch möglichen Reihenuntersuchungen zu verdanken war. Chester Stock (1892–1950), der sich über einen langen Zeitraum mit den Fossilresten von Rancho La Brea beschäftigt hatte, vereinte daher 14 Jahre später wieder Paramylodon nebrascensis mit M. harlani. Der zunehmenden Komplexität in Gliederung und Benennung der großen mylodonten Formen Süd- und Nordamerikas widmete sich in den 1920er Jahren besonders Lucas Kraglievich (1886–1932). Unter Zuhilfenahme der Schädelmerkmale arbeitete Kraglievich heraus, dass sich Mylodon, Glossotherium und Grypotherium eindeutig auf zwei unterschiedliche Formen beziehen, die sich auf Gattungsebene trennen lassen. Owens Beschreibung von M. darwinii verband den Gattungsnamen Mylodon fest mit dem Artepitheton. Kraglievich ordnete Gattung und Art unter anderem den vollständigen, schmalschnauzigen Schädel und Unterkiefer von Reinhardts Grypotherium aus Pergamino zu, ebenso Owens Unterkiefer aus Punta Alta aus der Erstbeschreibung der Art als Typusexemplar. Owens breitschnauziges M. robustus verwies er dagegen in die Gattung Glossotherium, welche gleichzeitig auch das Schädelfragment einschloss, das Owen einst zur Beschreibung der Gattung genutzt hatte. Alle nordamerikanischen Funde hingegen beschränkte Kraglievich auf Paramylodon. Dadurch verblieb Mylodon einzig in Südamerika, ließ sich aber hier eindeutig von Glossotherium in Schädel- und Gebissstruktur abgrenzen. Dieser vorgeschlagenen Gliederung schlossen sich in der Folgezeit einzelne Autoren wie etwa Ángel Cabrera an. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts kam es dann zu einer kontroversen Diskussion um die Synonymität von Glossotherium und Paramylodon, was sich aber Mitte der 1990er Jahre zugunsten einer Trennung der beiden Formen auflöste. Diskurs zur Typusart Als etwas problematisch gestaltete sich die Bestimmung der Typusart von Mylodon. Owen selbst blieb bei seiner Erstbeschreibung von Mylodon 1840 ungenau in der Definition der Typusart. Zwar basierte er die Gattung auf den von Darwin gefundenen Unterkiefer und somit auf M. darwinii, doch gab er an, dass dies nach M. harlani die zweite beschriebene Art sei. Zwei Jahre später bei seiner Beschreibung von M. robustus wies Owen M. darwinii als primäre Art aus. Im Laufe der Forschungsgeschichte wechselte die Nominatform von Mylodon je nach Bearbeiter. Joseph Leidy übernahm 1855 Owens Sichtweise und listete M. darwinii als erste Art innerhalb der Gattung. Für Reinhardt stellte 1879 M. robustus die Typusform dar, was dem Umstand zuzuschreiben ist, dass er das eigentliche Fundmaterial von Mylodon in die Gattung Grypotherium ausgelagert hatte. Richard Lydekker sah dagegen 1887 in M. harlani die Nominatform, was im Übrigen später auch Barnum Brown befürwortete. Aus heutiger Sicht ist die Frage, ob M. darwinii oder M. harlani als Typusform anzusehen ist, nicht vollständig trivial, da beide Arten unterschiedlichen Gattungen zugewiesen werden und letztere Art durch Erstnennung bei Owen durchaus den Vorrang haben könnte. Kraglievich führte jedoch 1928 in seiner Revision mehrere Gründe auf, warum M. darwinii die eigentliche Nominatform darstellt. Dies sind vor allem die bereits genannten Fakten der Beschreibung von Mylodon auf Basis von Darwins Unterkieferfund und der Listung durch Owen als erste Art. Die Vorgehensweise Kraglievichs wurde in der nachfolgenden Zeit weitgehend anerkannt. Domestizierte Faultiere und moderne Mythen Ein besonderes Kapitel in der Forschungsgeschichte der Gattung Mylodon betrifft die Cueva del Milodón im südwestlichen Patagonien. Kurz nach ihrer Entdeckung durch den deutschen Kapitän Hermann Eberhard im Jahr 1895 und der damit verbundenen Auffindung eines Fellrestes besuchten verschiedenste Wissenschaftler die Höhle, so etwa der schwedische Forscher Otto Nordenskjöld im Rahmen seiner Südamerika-Expedition 1896. Das dabei ebenfalls geborgene Fellstück nebst Fingergliedern wurde später von Einar Lönnberg untersucht. Nur kurz darauf erreichte eine argentinische Gruppe an Naturforschern um Perito Moreno die Region, mit dabei unter anderem Rudolph Hauthal und Emil Racoviță. Moreno selbst betrat die Höhle zwar nicht, seine Begleiter führten dort aber einzelne Untersuchungen durch. Außerdem konnte die Expedition Eberhards originales Fellstück (als Kuriosum in einem Baum hängend) sichern. Dieses bildete später die Grundlage für eine Beschreibung durch Arthur Smith Woodward. Hauthal kehrte 1899 zur Cueva del Milodón zurück und führte umfangreiche Grabungen durch. Hierbei kamen zahlreiche Reste vom Mylodon zum Vorschein. Besondere Aufmerksamkeit erhielt eine Ansammlung von Geröllen im hinteren Teil der Höhle, die scheinbar linear angeordnet lagen. Außerdem fanden sich Konzentrationen von Gräsern und Koprolithen. In einer noch im gleichen Jahr erschienenen Publikation deuteten Hauthal und seine Kollegen die Steinstruktur als eine Art Gatter oder Pferch, in dem die riesigen Faultiere von den damaligen Menschen gehalten wurden, und die Gräser als Vorratshaltung von Nahrung für die Tiere. Darüber hinaus präsentierten sie ein weiteres Fellstück, das einen vorgeblich intentionell durch Menschen verursachten Schnitt aufwies und die Bearbeiter an abgezogene Haut denken ließ. Santiago Roth, der die Reste von Mylodon untersuchte, etablierte darauf basierend im Jahr 1899 die Art Grypotherium domesticum. Der Artzusatz verweist auf die angenommene Domestizierung von Mylodon durch den Menschen. In Teilen widersprach nur wenig später Otto Nordenskjölds Cousin Erland, der im gleichen Zeitraum Untersuchungen in der Cueva del Milodón durchführte, der Interpretation, da er unter anderem eine deutlich weiterreichende Verbreitung der Dungreste beobachtete. Außerdem vermutete er, dass Mylodon in der Höhle nicht durch Menschen gehalten wurde, vielmehr interpretierte er die Knochen als Beutereste von Raubtieren. Aus heutiger Sicht ließ sich die Vorstellung eines gezähmten Faultiers nicht bestätigen. Die Steine, die den vermeintlichen Pferch bildeten, werden als natürliche Anhäufung gesehen, entstanden durch das fortwährende Abbrechen von der Höhlendecke im Laufe der letzten 12.000 Jahre. Zudem ist der Einfluss des frühen Menschen auf die Höhle und ihre Nutzung weitaus geringer als anfänglich angenommen. Eng mit der Erforschung der Cueva del Milodón ist auch die Vorstellung verbunden, Mylodon habe bis in historischer Zeit überlebt. Verantwortlich dafür ist Florentino Ameghino, ein argentinischer Naturforscher, der Ende des 19. Jahrhunderts den von Moreno geborgenen Fellrest aus der Cueva del Milodón aufgrund der ausgezeichneten Erhaltung als nur wenig alt einstufte. Dessen rötliche Fellfarbe erinnerte Ameghino an einen Bericht von Ramón Lista, ein Entdecker und der Gouverneur der argentinischen Provinz Santa Cruz, der ihm zu Ohren gekommen war. Dem zufolge habe Lista Ende der 1880er Jahre des Nachts in Santa Cruz auf ein Tier geschossen, welches aber entkam. Das Tier wies Listas Beschreibung zufolge ein rotes Fell auf, ähnelte aber ansonsten äußerlich einem Schuppentier. Ameghino war davon überzeugt, dass das Tier aus Listas Erzählung und der Fellrest der gleichen Art angehörten. Bezogen auf die in der Haut eingebetteten Knochenplättchen identifizierte er dieses als einen kleinen Vertreter der Mylodonten. Außerdem verband er Listas Geschichte mit Überlieferungen indigener Einwohner wie den Tehuelche über ebenfalls rothaarige Tiere, die mit ihren Krallen Erdhöhlen aushoben und angeblich eine undurchdringliche Haut aufwiesen. Für dieses Tier und zu Ehren Listas kreierte Ameghino im Jahr 1898 die Artbezeichnung Neomylodon listai. Gleichzeitig regte er in einzelnen Veröffentlichungen zur Suche nach dem Tier an. Moreno zweifelte die Existenz eines modernen Bodenfaultiers an und führte die gute Konservierung der Fellreste auf die besonderen Bedingungen der Cueva del Milodón zurück, ebenso wie er die Berichte der Tehuelche über ein „Ellengassen“ genanntes Tier als fiktional einstufte. Die Ausführungen Ameghinos veranlassten jedoch wiederum Hesketh Vernon Hesketh-Prichard im Jahr 1900 zu einer Expedition nach Patagonien, um das vermeintlich existierende Mylodon aufzuspüren. Seine Reisebeschreibungen veröffentlichte Hesketh-Prichard im Jahr 1902 unter dem Titel Through the heart of Patagonia, musste aber feststellen, dass weder dies- noch jenseits der Anden Spuren von Mylodon zu finden waren. In dem 1977 erschienenen Reiseroman In Patagonia (deutsch In Patagonien) verarbeitete Bruce Chatwin die Geschichten um Mylodon und die Cueva del Milodón. Literatur Diego Brandoni, Brenda S. Ferrero, Ernesto Brunetto: Mylodon darwini Owen (Xenarthra, Mylodontinae) from the Late Pleistocene of Mesopotamia, Argentina, with Remarks on Individual Variability, Paleobiology, Paleobiogeography, and Paleoenvironment. In: Journal of Vertebrate Paleontology. Band 30, Nr. 5, 2010, S. 1547–1558. Richard A. Fariña, Sergio F. Vizcaíno, Gerardo De Iuliis: Megafauna. Giant beasts of Pleistocene South America. Indiana University Press, Bloomington 2013, ISBN 978-0-253-00230-3, S. 206–209. Einzelnachweise Weblinks Natural History Museum: Mylodon darwinii: Darwins ground sloth, zuletzt abgerufen am 27. März 2020 Ausgestorbenes Nebengelenktier Zahnarme Pilosa
137921
https://de.wikipedia.org/wiki/Gottlieb%20Duttweiler
Gottlieb Duttweiler
Gottlieb Duttweiler (* 15. August 1888 in Zürich; † 8. Juni 1962 ebenda; oft «Dutti» genannt) war ein Schweizer Unternehmer, Politiker, Journalist und Publizist. Bekannt ist er insbesondere als Gründer des Unternehmens Migros, das sich unter seiner Leitung zum Marktführer im Schweizer Detailhandel entwickelte. Ebenso begründete er den Landesring der Unabhängigen (LdU), eine politische Partei im Zentrum des politischen Spektrums. Ab 1925 veränderte Duttweiler mit der Migros den stark von Kartellen geprägten Schweizer Detailhandel nachhaltig – zuerst mit dem Lebensmittelverkauf von umherfahrenden Verkaufswagen aus, danach auch mit Läden. Sein rascher Erfolg, den er mit deutlich geringeren Kosten und Preisen erzielte, löste bei etablierten Händlern, Konsumgenossenschaften, Verbänden und Markenartikelherstellern heftigen Widerstand aus. Es kam zu Lieferboykotten und zahlreichen juristischen Verfahren, die Duttweiler und der Migros jedoch zu immer grösserer Bekanntheit verhalfen. Mit Nachahmerprodukten legte er den Grundstein für die Produktion von Eigenmarken. Wiederholte behördliche Schikanen (bis hin zu einem zwölf Jahre dauernden Verbot der Eröffnung neuer Filialen) trieben ihn in die Politik. Seine «Liste der Unabhängigen» errang 1935 auf Anhieb sieben Sitze im Nationalrat; ein Jahr später wandelte er diese lose Gruppierung in eine Partei um. Duttweiler zog sich 1940 vorübergehend aus der Politik zurück und sass von 1943 bis 1949 erneut im Nationalrat. Anschliessend gehörte er dem Ständerat an, von 1951 bis zu seinem Tod wiederum dem Nationalrat. Ausserdem war er von 1943 bis 1951 Mitglied des Zürcher Kantonsrates. Neben seiner unternehmerischen und politischen Tätigkeit entfaltete Duttweiler eine rege publizistische Aktivität. Zunächst verfasste er Flugblätter, die für die Migros und ihre Ziele im Dienste der Konsumenten warben – insbesondere die Verbilligung von Lebensmitteln und die Förderung der öffentlichen Gesundheit. Ab 1927 kamen hunderte von Textinseraten hinzu, die als Zeitung in der Zeitung in mehreren Fremdpublikationen erschienen. 1935 gründete er die Wochenzeitung Die Tat (erschien ab 1939 als Tageszeitung), 1942 die Wochenzeitung Wir Brückenbauer. 1941 wandelte Duttweiler die Migros von einer Aktiengesellschaft in mehrere regionale Genossenschaften um, die über den Migros-Genossenschafts-Bund miteinander verknüpft sind. Dieses «Verschenken» eines florierenden Unternehmens an dessen Kundschaft mittels Ausgabe von Anteilsscheinen ist in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte ein einmaliger Vorgang. Duttweiler besass ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein und strebte unter dem Schlagwort «Soziales Kapital» eine freie Marktwirtschaft an, die sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst ist. Mit dem 1957 geschaffenen Migros-Kulturprozent sorgte er dafür, dass ein Prozent des jährlichen Umsatzes der Migros für kulturelle und soziale Zwecke verwendet wird. 1962 begründete er das Gottlieb Duttweiler Institut, die erste Denkfabrik der Schweiz. Biografie Kindheit und Jugend Gottlieb Duttweiler wurde am 15. August 1888 im Haus Strehlgasse 13 in der Zürcher Altstadt als drittes von fünf Kindern des gleichnamigen Vaters (1850–1906) und von Elisabeth Duttweiler (geb. Gehrig, 1857–1936) geboren. Er war der einzige Sohn und hatte vier Schwestern. Väterlicherseits war die protestantische Familie seit etwa 1500 in Oberweningen im Zürcher Unterland beheimatet; 1901 liess sie sich in der Stadt Zürich einbürgern. Mütterlicherseits lassen sich die Vorfahren bis Mitte des 18. Jahrhunderts im aargauischen Ammerswil zurückverfolgen. Der Vater hatte zunächst als Gastwirt gearbeitet und war seit 1886 als Verwalter des Lebensmittelvereins Zürich (LVZ) tätig. Unter seiner Leitung trat der LVZ im Jahr 1890 dem Verband Schweizerischer Konsumvereine (VSK), dem Vorläufer von Coop, bei und entwickelte sich zur zweitgrössten Konsumgenossenschaft der Schweiz. Duttweiler senior nahm seinen Sohn gelegentlich zu Kutschenfahrten aufs Land mit, wo er Obst und Gemüse direkt bei den Landwirten einkaufte. 1896 bezogen die Duttweilers eine Wohnung im LVZ-Verwaltungsgebäude, das sich im proletarisch geprägten Stadtteil Aussersihl befand. Als einziger aus einer «besseren» Familie blieb Gottlieb junior in der Primarschule unter lauter Arbeiterkindern stets ein Aussenseiter und war aufgrund des Mobbings seiner Mitschüler häufig in Prügeleien verwickelt. Dies änderte sich auch nicht, als er in die Sekundarschule im benachbarten Industriequartier übertrat. Seine Schulnoten reichten von «ungenügend» bis «sehr gut». Gegen Ende der obligatorischen Schulzeit entdeckte er sein kaufmännisches Talent: Er verdiente Geld mit der Aufzucht von Kaninchen, Meerschweinchen und weissen Mäusen sowie mit Porträtfotografie. Dabei machte es ihm mehr Spass, das Geld zu verdienen als es zu besitzen, da es für ihn im besten Falle Mittel zum Zweck war, um noch mehr verdienen und ausgeben zu können. 1903 trat Duttweiler in die Handelsabteilung der Kantonsschule Zürich ein. Er geriet wiederholt mit den Lehrern in Konflikt, die sein Verhalten als «unaufmerksam», «unruhig» und «ungebührlich» bezeichneten. Schliesslich ersuchte die Schulleitung seinen Vater, den Sohn aus der Schule zu nehmen. 1905 fing Duttweiler stattdessen eine kaufmännische Berufslehre beim renommierten Zürcher Kolonialwarenhändler Pfister & Sigg an, ergänzend dazu besuchte er die Handelsschule des Kaufmännischen Vereins. Vor allem der Wareneinkauf und -verkauf faszinierte ihn, während ihm die Buchhaltung weniger zusagte. Am 10. Juni 1906 starb sein Vater nach längerer Krankheit, worauf er aus Verantwortungsgefühl gegenüber der Mutter und den Schwestern seine Ausbildung bedeutend ernster nahm als zuvor. Die Familie musste aus der LVZ-Wohnung ausziehen und zog in den Vorort Rüschlikon um. Im April 1907 bestand Duttweiler die Abschlussprüfung der Handelsschule als Zweitbester von 150 Absolventen seines Jahrgangs. Im selben Jahr wurde er aufgrund von Spätfolgen einer Brustfellentzündung, die er sich im Alter von elf Jahren zugezogen hatte, als militärdienstuntauglich erklärt. Vom Kaufmann zum Teilhaber Bis zum Ende des praktischen Teils der Berufslehre im Frühjahr 1908 belegte Duttweiler zusätzliche Kurse in Handelsgeographie und lernte Spanisch. Sein Lehrmeister Heinrich Pfister schickte ihn für ein halbes Jahr nach Le Havre, um Erfahrungen im internationalen Handel zu sammeln. Dort entwickelte er nebenbei einen telegrafischen Code, mit dem Aufträge für wichtige Handelsgüter in einem einzigen Wort erteilt werden konnten. Der Code stellte eine grosse Erleichterung dar, weshalb er ihn an verschiedene Unternehmen verkaufen konnte und so einen ansehnlichen Nebenverdienst erzielte. Duttweiler war draufgängerisch, risikofreudig und kommunikativ; es fiel ihm leicht, neue Geschäftsbeziehungen aufzubauen. Nach wenigen Monaten stieg er zum Juniorpartner auf und begann in mehreren europäischen Ländern Geschäfte im Lebensmittel-Grosshandel zu tätigen. Duttweiler erkannte, wie sehr der Zwischenhandel die Waren verteuerte. Um die Kosten für Endverbraucher zu senken, nahm er Kontakt zu Exporteuren in Santos auf, die brasilianischen Kaffee fortan direkt an Pfister & Sigg lieferten. Nach einigen Jahren pflegte er Beziehungen zu annähernd 150 Firmen im In- und Ausland. Wenn er in der Schweiz weilte, pendelte er täglich mit dem Zug von Rüschlikon nach Zürich zur Arbeit. 1911 lernte er auf einer dieser Fahrten die vier Jahre jüngere Adele Bertschi aus Horgen kennen, die damals bei der Saatgutkontrollstelle der ETH Zürich angestellt war. Sie war seinen Avancen gegenüber lange Zeit abweisend, doch Duttweiler warb hartnäckig um ihre Gunst. Zwei Jahre später heirateten sie am 29. März 1913 in der Reformierten Kirche Horgen, die Ehe blieb kinderlos. Kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs übernahm Duttweiler im September 1914 die Leitung der Niederlassung in Genua und kaufte so viele Lebensmittel wie möglich ein, da die Preise rasch anstiegen. Der Grosshandel erlebte eine Hausse ungeahnten Ausmasses und die neutrale Schweiz entwickelte sich zu einer wichtigen Drehscheibe im Handel zwischen den kriegführenden Ländern, war aber auch selbst auf Importe angewiesen. Duttweiler kaufte Waren inoffiziell auch im Auftrag des schweizerischen Oberkriegskommissariats; alleine diese Geschäfte hatten einen Wert von 50 Millionen Franken jährlich. Zahlreiche bürokratische Hürden (insbesondere nach dem Kriegseintritt Italiens) brachten Duttweiler auf die Idee, Schweizer Güterzüge direkt an die Schiffe heranzuführen, sodass die Waren in die Schweiz gelangen konnten, ohne italienischen Boden zu berühren. Obwohl Pfister & Sigg die Provision im Gegensatz zu vielen Konkurrenten nicht erhöhte, stieg der Gewinn auf mehr als das 30-fache des Vorkriegsniveaus. Das Unternehmen kontrollierte in seiner Blütezeit ein Siebtel der schweizerischen Kaffee-Importe und ein Drittel des Handels mit technischen Ölen und Fetten. Duttweiler fühlte sich ungerecht entlohnt und verlangte einen Viertel des Gewinns, da das hervorragende Geschäftsergebnis hauptsächlich auf ihn zurückzuführen sei. Während Heinrich Pfister die Forderung erfüllen wollte, sträubte sich Nathan Sigg, der andere Teilhaber. Um zu zeigen, wie ernst es ihm war, kündigte Duttweiler im April 1915 seine Stelle auf Ende Juni. Pfister wollte seinen besten Angestellten auf keinen Fall ziehen lassen und setzte sich durch, worauf Duttweiler mit 23 Prozent beteiligt wurde. Als Prokurist reiste er beinahe pausenlos zwischen der Schweiz, Italien, Frankreich und Spanien hin und her, um Hindernisse im Warenverkehr auszuräumen. Im September 1917 hatte Sigg genug von den immer riskanter werdenden Geschäften und stieg aus. Duttweiler trat als neuer Teilhaber an seine Stelle und die Firma hiess nun Pfister & Duttweiler. In Rüschlikon liess er ein herrschaftliches Landhaus mit Kegelbahn und Säulensaal bauen (Architekt war Hans Vogelsanger, der Ehemann einer Schwester Adeles). Aus Italien liess er drei Eisenbahnwaggons voller Kunstgegenstände und antiker Möbel kommen, um sein Haus auszustatten. Er war aber kaum je dort anzutreffen, da er im September 1917 für einige Wochen und im März 1918 für ein halbes Jahr nach New York reiste, um neue Geschäftsbeziehungen aufzubauen. Obwohl er dort eine Niederlassung gründete, konnte er nichts Konkretes erreichen, da die USA ausschliesslich an ihre Verbündeten lieferten. Liquidation, Farmer in Brasilien Bei Kriegsende war Pfister & Duttweiler ein internationales Unternehmen mit enormen Lagerbeständen und einer eigenen Speiseölfabrik in Málaga. Es verfolgte ehrgeizige Expansionspläne, wurde aber von der einsetzenden Hyperinflation in mehreren europäischen Ländern und dem Verfall der Lebensmittelpreise überrascht. Duttweiler versuchte, einen Teil der Verluste zu kompensieren, indem er à la baisse mit Währungen spekulierte. Rudolf Peter, der im Sommer 1920 neu eingestellte Chefbuchhalter, wies nach kurzer Zeit nach, dass die Buchhaltung viel zu oberflächlich und nachlässig geführt worden war. Tatsächlich hatte das Unternehmen Schulden in der Höhe von 12 Millionen Franken. Um einen ungeregelten Konkurs zu verhindern, kam es mit den Banken überein, eine stille Liquidation durchzuführen und die Geschäfte so lange weiterzuführen, bis alle Gläubiger ausbezahlt waren. Beide Teilhaber brachten ihre beträchtlichen Privatvermögen in die Liquidationsmasse ein, sodass bis zum Abschluss des Verfahrens am 12. Juli 1923 insgesamt 11,6 Millionen Franken beglichen werden konnten – deutlich mehr als die vereinbarte Konkursdividende von 60 %. Duttweiler, der sich unter anderem von seinem luxuriösen Landhaus und den Kunstschätzen trennen musste, sorgte dafür, dass alle Angestellten einen neuen Arbeitsplatz erhielten. Noch während des Liquidationsverfahrens schaute sich Duttweiler nach neuen Möglichkeiten um. Im Spätsommer 1921 hatte er vor, sich als Leiter einer Ölmühle in Valencia eine neue Existenz aufzubauen, überlegte es sich dann aber anders. Finanziell sanierte er sich mit Geschäften auf eigene Rechnung, die er in Polen abwickelte. Insbesondere der Handel mit polnischem Zucker, den er in Hamburg unter dem Weltmarktpreis verkaufen konnte, erwies sich als höchst einträglich. Um den Jahreswechsel 1922/23 plante er, in Polen Kohle und Erdöl zu fördern, doch die Gründung einer Gesellschaft kam nicht zustande. Im Juli 1923 reiste Duttweiler mit seiner Ehefrau Adele nach Brasilien. Einerseits wollte er dort ein ausstehendes Guthaben bei einer früheren Partnerfirma eintreiben, andererseits eine seiner Schwestern besuchen, die dorthin ausgewandert war (ihr Ehemann leitete eine Tochtergesellschaft des Schuhkonzerns Bally). Die Landschaft im Bundesstaat São Paulo gefiel ihm so gut, dass er kurzerhand eine Fazenda kaufte, um zumindest für einige Jahre den Lebensmittelhandel auch von der Produzentenseite her kennenzulernen. Der Gutshof hatte eine Fläche von 2400 Hektaren, wovon aber erst 200 urbarisiert waren. Mit der Hilfe von Landarbeitern legte Duttweiler Plantagen mit Reis, Mais, Bohnen, Maniok und Zuckerrohr an. Ebenso pflanzten sie 30'000 junge Kaffeebäume, die nach etwa fünf Jahren Früchte tragen würden. Auf den Weiden grasten 300 Stück Vieh. Das Haus war zwei Jahre lang nicht bewohnt gewesen und befand sich in einem schlechten Zustand. Gottlieb genoss das Leben als Farmer sichtlich, Adele hingegen fühlte sich von Anfang an unwohl, erkrankte und verlor viel Gewicht. Im Februar 1924 kehrte das Paar nach Zürich zurück. Ein Arzt stellte fest, dass sich das feuchtheisse Klima und die ungewohnte Ernährung negativ auf Adeles rote Blutkörperchen ausgewirkt hatten; auf längere Sicht wäre es zu einer Blutzersetzung gekommen. Duttweiler wies seinen Schwager an, die Fazenda zu verkaufen. Seine kurze Zeit als Farmer beurteilte er als «physische und psychische Schwitzkur». Gründung der Migros In Deutschland und Polen schloss Duttweiler verschiedene Geschäfte ab. Er bewarb sich auch beim VSK um eine Stelle als Einkäufer und Disponent, wurde aber abgewiesen. Währenddessen fiel ihm die grosse Diskrepanz zwischen den Preisen im Grosshandel und jenen in den Läden auf und er beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Auf dem Statistischen Amt der Stadt Zürich betrieb er Anfang 1925 intensive Nachforschungen, indem er die Lebensmittelpreise verschiedener Länder und Städte miteinander verglich. Unterstützung erhielt er dabei von seinem dort angestellten Cousin Paul Meierhans und dessen Vorgesetzten Carl Brüschweiler. Gemeinsam fanden sie heraus, dass die Schweizer Lebensmittelpreise innerhalb weniger Jahre stark angestiegen und mittlerweile die höchsten Europas waren. Ebenso stellte Duttweiler zunehmende korporativ-protektionistische Tendenzen fest: Die Detailhändler waren in Interessenverbänden, Einkaufsgemeinschaften und Rabattvereinen organisiert, um den Filialgeschäften und Konsumgenossenschaften entgegenzutreten. Andererseits vernachlässigten letztere – sehr zu seinem Missfallen – ihre ursprüngliche Aufgabe als Preisregulatoren und boten ihre Ware zu den «ortsüblichen» Preisen der Detaillisten an. Nur die konsequente Anwendung der Prinzipien des Fordismus und Taylorismus war Duttweilers Meinung nach imstande, die Kosten für Endverbraucher nachhaltig zu senken. Sein früherer Chefbuchhalter Rudolf Peter machte Duttweiler auf die damals in den USA verbreiteten fahrenden Läden aufmerksam. Dort betrieben bequem eingerichtete Omnibusse in ländlichen Gegenden ambulanten Handel und boten die mitgeführte Ware zu einem geringen Aufpreis an. Duttweiler wollte das Konzept auf Schweizer Verhältnisse übertragen, aber Lastwagen einsetzen, da Preissenkungen sein vorrangiges Ziel waren. Über Meierhans lernte er die Nationalökonomin Elsa Gasser kennen, damals Wirtschaftsjournalistin bei der Neuen Zürcher Zeitung, mit der er sich über die Idee austauschte. Sie bestärkte ihn in seinem Vorhaben, gleichzeitig war dies der Beginn einer jahrzehntelangen Zusammenarbeit. Seiner Frau Adele versprach Duttweiler: «Wenn dieses Unternehmen nicht gelingt, fange ich nichts mehr Neues an.» In der Folge war sie seine wichtigste Beraterin und er besprach mit ihr alle strategische Entscheidungen, bevor er sich endgültig festlegte. Dank seines guten Rufes fand Rudolf Peter mühelos Investoren, darunter den Rechtsanwalt Hermann Walder. Dieser präsidierte daraufhin den Verwaltungsrat, während Duttweiler als Geschäftsführer agierte. Peter wiederum übernahm zunächst für einen halben Tag in der Woche die Buchhaltung und stieg über die Jahre zum Finanzchef auf. Am 11. August 1925 wurde die Migros AG mit einem Aktienkapital von 100'000 Franken gegründet, der Eintrag ins Zürcher Handelsregister erfolgte vier Tage später. Das neue Unternehmen wählte als Logo ein Brückensymbol, da es sich als Bindeglied zwischen Produzenten und Konsumenten verstand. Wie der Name Migros entstand, lässt sich nicht mehr genau eruieren. Die gängigste Erklärung bezieht sich auf die angestrebte preisliche Positionierung in der Mitte zwischen en-gros (Grosshandel) und en-détail (Detailhandel), also gewissermassen mi-gros (Mittelhandel). Der Name hatte den Vorteil, in allen Landessprachen anwendbar zu sein. Am 25. August befuhren fünf umgebaute Lastwagen des Modells Ford TT erstmals nach festem Fahrplan mehrere Routen in Zürich. Schikanen und Auseinandersetzungen Lebensmittelhändler und Verbände versuchten die neue Konkurrenz, die völlig unerwartet in den kartellistisch geordneten Detailhandel eingedrungen war, zum Verschwinden zu bringen. Provokateure bedrängten die wartenden Kunden oder denunzierten sie bei ihren Arbeitgebern, wurden den Chauffeuren gegenüber handgreiflich und sabotierten die Verkaufswagen. Zahlreiche Geschäfte boten die von der Migros geführten Artikel unter dem Einstandspreis an, doch die rasch wachsende Kundschaft durchschaute die Absicht und blieb dem neuen Anbieter treu. Verbandsfunktionäre griffen die Migros in polemischen Zeitungsartikeln an oder gaben verleumderische Leserbriefe in Auftrag. Sozialdemokraten und Kommunisten witterten eine grosskapitalistische Verschwörung, die darauf abziele, mittels tieferer Lebensmittelpreise Lohnsenkungen durchsetzen zu können. Der einst von Duttweilers Vater geführte Lebensmittelverein Zürich betrachtete jeden Einkauf eines Genossenschafters bei der Migros als Verrat an der Arbeiterklasse. Dessen ungeachtet befuhren die Verkaufswagen bald Routen ausserhalb der Stadt. Von Anfang an gehörten auch die Lebensmittelhersteller zur Gegnerschaft. Verbände beschlossen Liefersperren und drohten ihren Mitgliedern mit Boykotten, sollten sie die Migros weiterhin beliefern. Duttweiler reagierte mit der Erweiterung des Sortiments und dem vorübergehenden Ausweichen auf Importe. Auf vielfachen Wunsch von Kunden, die nicht zu den festgelegten Zeiten an den Haltestellen sein konnten, eröffnete die Migros im Dezember 1926 in Zürich ihren ersten Laden. Dieser erwies sich trotz der spärlichen Einrichtung (Duttweiler wollte nicht mehr als 200 Franken investieren) als grosser Erfolg. 1928 erwarb die Migros die insolvente Alkoholfreie Weine AG in Meilen (die heutige Midor), womit eher zufällig die vertikale Integration des bisher reinen Handelsunternehmens in die industrielle Warenherstellung begann. Der erste Migros-Produktionsbetrieb weitete als erstes die Herstellung von Süssmost deutlich aus und senkte den Preis auf knapp die Hälfte, worauf die Mitbewerber nachziehen mussten. Das einstige Nischenprodukt entwickelte sich in kurzer Zeit zum Volksgetränk. Durch den Erfolg überrascht, richtete Duttweiler das Marketing konsequent auf lebensreformerische und sozialhygienische Bestrebungen aus. Obwohl er privat gerne Wein trank und Zigarren rauchte, verzichtete er bewusst auf den lukrativen Alkohol- und Tabakverkauf. Die Migros stärkte dadurch werbeträchtig ihre Eigenmarken, entfernte sich vom Image des reinen Discounters und positionierte sich als Anbieterin preiswerter und gesunder Produkte von hoher Qualität. Zahlreiche selbst hergestellte Artikel und mehrere Produktionsstätten kamen in den folgenden Jahren hinzu. Spöttisch bedankte sich Duttweiler bei seinen Gegnern, «…die durch ihren Widerstand uns zu höherer Leistung und neuen Ideen angespornt haben. Die ganze Produktion hätten wir nicht, wenn wir beliefert worden wären.» 1929 begann die bis heute anhaltende Zusammenarbeit mit der Haco, deren Betriebsleiter Gottlieb Lüscher Duttweilers Einsatz für tiefere Preise mit Sympathie verfolgt hatte. Der Migros war es nun möglich, gleichwertige Nachahmerprodukte anzubieten, die etablierten Markenartikeln Konkurrenz machten. Duttweiler kreierte Markennamen und Verpackungen, die sich eng an die Originale anlehnten oder diese parodierten. Er wollte damit insbesondere die Mitbewerber zu Preissenkungen zwingen. Beispielsweise pries er Eimalzin als Alternative zu Ovomaltine an, worauf die Wander AG eine Werbeschlacht lostrat, die sich zu gegenseitiger Diffamierung hochschaukelte. 1931 beendete die Migros mit Kaffee Zaun das Monopol des koffeinfreien Kaffee Hag. Im selben Jahr forderte sie die Henkel AG, die Herstellerin von Persil, mit dem Waschmittel Ohä heraus: Auf der Packung abgebildet waren der Schriftzug Ohne Hänkel und ein Kessel, dessen Griffe (oder «Henkel») durchgestrichen waren. Als Henkel mit Konsequenzen drohte, liess Duttweiler auf den Packungen ein Feigenblatt so aufdrucken, dass bloss «Oh…Hä…» zu lesen war. Mit Boykotten oder Störaktionen konnte die Migros nicht gebremst werden. Da der ambulante Handel den gesetzlichen Bestimmungen für Hausierer unterworfen war, übte die Gegnerschaft stattdessen Einfluss auf Kantons- und Gemeindebehörden aus und begründete dies mit der angeblichen Gefährdung des staatstragenden Mittelstands. Jeder Kanton legte die Höhe der Wagengebühren nach Gutdünken selbst fest, während zahlreiche Gemeinden Zusatzgebühren verlangten oder schikanöse Auflagen machten. Gegen die von mehreren Kantonsparlamenten beschlossenen Verschärfungen der Hausierergesetze, die in erster Linie auf die Migros abzielten, organisierte Duttweiler Referenden. Er hatte die meisten politischen Parteien gegen sich und führte intensive Kampagnen. Dabei gelang es ihm, die Stimmberechtigten der Kantone St. Gallen, Thurgau und Zürich zu überzeugen. In zwei weiteren Kantonen musste er hingegen Niederlagen einstecken: Der Kanton Schaffhausen verdoppelte die Gebühren, während der Kanton Basel-Landschaft diese derart massiv anhob, dass die Migros dort den Wagenverkauf für mehrere Jahrzehnte einstellte. Aus der Sicht Dutweilers behandelten einzig die Behörden im Kanton Basel-Stadt sein Unternehmen fair, da die Gebühren dort vergleichsweise tief waren. Gerichtsprozesse und Fehlschlag in Berlin Duttweiler verwickelte die Behörden wegen der Auflagen, die gegen die Verkaufswagen erlassen worden waren, in langwierige Verwaltungsverfahren. Er setzte sich über ihre Anordnungen hinweg und nahm so bewusst Strafanzeigen und Geldbussen in Kauf. Anschliessend provozierte er die Amtsstellen zu zahlreichen medienwirksamen Gerichtsprozessen über mehrere Instanzen hinweg. Besonders viele Unannehmlichkeiten bereitete ihm die Stadt Bern. Am 27. Februar 1930 beschlagnahmte die Stadtpolizei drei Verkaufswagen, was der Migros Gratiswerbung für die am Tag zuvor eröffnete Filiale bescherte. Als sich Duttweiler im Februar 1931 in einem anderen Rechtsfall weigerte, eine Geldbusse von 400 Franken zu bezahlen, wurde ihm eine Kommode gepfändet. Er empfand dies als besonders ungerecht, da das Urteil nur wegen eines Berechnungsfehlers des Berner Obergerichts zustande gekommen war und nicht angefochten werden konnte. In einem Flugblatt, das er Kaffee- und Mehlpaketen beilegen liess, wandte er sich direkt an die Berner Kundschaft und bat sie darum, mittels beigelegtem Postscheckformular jeweils zehn Rappen zugunsten der Migros einzuzahlen. Insgesamt gingen 4800 Zahlungen (in Summe von 480 Franken) ein, den Überschuss von 80 Franken spendete er der Arbeitslosenfürsorge. Zivil- und Strafprozesse um Namensschutz, Markenschutz und unlauteren Wettbewerb boten Duttweiler weitere Bühnen. Indem er seine Gegner unablässig in polemischen Zeitungsartikeln angriff, ihnen Wucherpreise vorwarf oder Nachahmerprodukte auf den Markt brachte, forderte er sie zu Klagen heraus. Die Provokationen waren sorgfältig vorbereitet und das Ergebnis langwieriger Besprechungen mit seinen Anwalt Hermann Walder. Duttweiler war nicht nur Angeklagter, sondern inszenierte sich als Beschützer schutzloser Konsumenten, der sich gegen übermächtige Verbände und Konzerne zur Wehr setzt. Die Verhandlungen waren öffentlich, weshalb die Presse regelmässig über Duttweiler und die Produkte der Migros berichtete; der Werbewert der Berichterstattung ging in die Millionen. Die Gerichte befanden meist, dass die Migros massgeblich zu einer allgemeinen Senkung des Preisniveaus beigetragen habe, was angesichts der Wirtschaftslage besonders hervorgehoben werden müsse. Sie verurteilten Duttweiler bzw. die Migros zu geringen Geldbussen, zu einer Mässigung des Tones in der Werbung oder zu kleinen Änderungen. Insgesamt kosteten die Prozesse der Migros wenig, brachten ihr aber sehr viel Publizität ein, während Duttweiler zu einer schweizweit bekannten Figur des öffentlichen Lebens aufstieg. Jahre später sagte er, dass die Migros in ihrer Anfangszeit zu wenig Geld gehabt habe, um flächendeckend Werbung zu betreiben. Er habe deshalb die Berechenbarkeit der Gegner einkalkuliert: «Es ist uns immer gelungen, unseren Bedarf an Gegnern, die uns bekanntmachen, zu decken.» Wenig ausrichten konnte er hingegen mit Prozessen gegen das politisch geschützte Quasi-Monopol von Unilever auf Speisefette und Speiseöle. Aus diesem Grund war die Migros bei der Zuteilung von Rohstoff-Einfuhrkontingenten derart stark benachteiligt, dass sie 1935 ihre Eigenproduktion vorübergehend unterbrechen musste. 1930 trat die Finow Farm in Eberswalde an Duttweiler heran und bat ihn um Rat beim Aufbau eines Migros-ähnlichen Verkaufssystems in Berlin. Als das Unternehmen in Schwierigkeiten geriet, wurde es im Januar 1932 von ihm als Privatperson (die Migros selbst war nicht beteiligt) und von Partnern aus Genf und den Niederlanden übernommen. Die daraus entstandene Migros-Verteilungs-GmbH bediente ab 10. Juni 1932 mit 76 Verkaufswagen mehr als 2000 Haltestellen. Während die Presse wohlwollend berichtete, reagierte der krisengeschüttelte Berliner Detailhandel ungehalten auf die ausländische Konkurrenz, konnte aber wenig ausrichten. Dies änderte sich nach der Machtergreifung der NSDAP ab Januar 1933, als Adolf Hitler versprach, den Mittelstand vor «Juden und Plutokraten» zu schützen. In der Folge überzogen die deutschen Behörden das Unternehmen mit bürokratischen Schikanen und Mitglieder des Nationalsozialistischen Kampfbundes für den gewerblichen Mittelstand bedrohten die Kunden. Um den im April verhängten Judenboykotten zu entgehen, legten Duttweiler und sein leitender Angestellter Emil Rentsch in der Schweiz ausgestellte Ariernachweise vor. Zwar strich die NSDAP das Unternehmen von der Boykottliste, doch der Kampfbund intensivierte seine Übergriffe. Angesichts der ausweglosen Lage beschlossen die Gesellschafter im Herbst 1933 die Einstellung der Geschäftstätigkeit und die Liquidation, die sich bis 1937 hinzog. Das Filialverbot und seine Folgen Seit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise war die Schweizer Wirtschaftspolitik zunehmend von dirigistischen Massnahmen zum Schutz verschiedener Branchen geprägt. Am 14. Oktober 1933 erliess der Bundesrat auf Antrag des Parlaments ein Filialverbot, das ab dem 10. November auch für Geschäfte von Grossunternehmungen des Lebensmittel-Detailhandels galt. Der Bundesbeschluss richtete sich nicht explizit gegen die Migros, da er auch Konsumgenossenschaften und andere Filialketten betraf, dennoch war die Migros als aufstrebendes und expansives Unternehmen besonders betroffen. Duttweiler hatte die Tragweite des Filialverbots zu Beginn unterschätzt, da er von den Ereignissen in Berlin abgelenkt gewesen war und der Lebensmittelhandel erst nachträglich eingeschränkt wurde. Der zunächst auf zwei Jahre begrenzte Bundesbeschluss war als dringlich erklärt worden, weshalb kein fakultatives Referendum dagegen ergriffen werden konnte. Im Kampf gegen das Gesetz, das unter Staatsrechtlern als verfassungswidrig galt, schrieb Duttweiler zahlreiche Zeitungsartikel. Ebenso hielt er viel beachtete Vorträge und organisierte eine Petition in zwölf Kantonen, die 230'000 Unterschriften einbrachte. Trotzdem verlängerte das Parlament das Filialverbot mehrmals und die Migros durfte zwölf Jahre lang keine neuen Filialen eröffnen. Währenddessen versuchte Duttweiler, einen Beitrag zur Lösung der Detailhandelskrise zu leisten. Im September 1933 schlug er Massnahmen zur Qualitätssteigerung und finanziellen Unterstützung in Not geratener Lebensmittelläden vor. Während das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (Biga) Interesse signalisierte, lehnten die zu einer Konferenz eingeladenen Verbände und Organisationen kategorisch Verhandlungen mit ihm ab. Im Oktober 1934 fand doch noch eine Konferenz statt, die aber ergebnislos blieb. Einen Monat später unterbreitete Duttweiler seine Vorschläge dem Schweizerischen Gewerbeverband (SGV). Erneut kam es zu keiner Annäherung und im Mai 1935 erklärte der SGV, es sei sinnlos, weiter mit ihm zu verhandeln; das Biga solle auch davon absehen, ihn weiterhin als Sachverständigen beizuziehen. Als Folge dieser Blockadehaltung rief Duttweiler 1937 den «Giro-Dienst» ins Leben: Selbstständige Lebensmittelläden übernahmen das Migros-Vertriebssystem und konnten Migros-Produkte zu günstigeren Konditionen beziehen, blieben aber in der Sortimentsgestaltung und beim Einkauf frei. Dutzende Läden schlossen sich diesem Partnerprogramm an. Mehrere Kantone hielten den Giro-Dienst für eine Umgehung des Filialverbots, während das Volkswirtschaftsdepartement befand, dass Giro-Läden keine Migros-Filialen waren. 1932 begann Duttweiler auch auf die Landwirtschaftspolitik Einfluss zu nehmen. Als Reaktion auf den zunehmenden Protektionismus entwickelte er zusammen mit dem Agronomen Heinrich Schnyder ein Aktionsprogramm, das den Bauern ein höheres Einkommen garantieren sollte, ohne die Importzölle erhöhen zu müssen. Da der Schweizerische Bauernverband und andere Agrarverbände eine Zusammenarbeit mit ihm ablehnten, beschloss Duttweiler, künftig nicht mehr auf die zahlreichen Bedenkenträger zu achten und einfach zu handeln. Beispielsweise kaufte die Migros den Bauern die Produkte zu einem höheren Preis ab als die Konkurrenz (und blieb trotzdem der billigste Anbieter). Um den Jahreswechsel 1934/35 verkaufte sie eingesottene Butter zum Selbstkostenpreis und löste damit einen Verkaufsschub aus, der den Schweizer Butterberg in kurzer Zeit zum Verschwinden brachte – ein Problem, das zuvor jahrelang ergebnislos auf mehreren Konferenzen besprochen worden war. Als im September 1936 der Schweizer Franken um 30 % abgewertet wurde, verkündete Duttweiler auf Flugblättern, dass die Migros ihre Preise nicht erhöhen werde. Im Falle von Importwaren nahm er somit bewusst Verluste in Kauf, bis die Regierung einige Wochen später die Zolltarife senkte. 1942 gelang es ihm, zusammen mit der Freien Vereinigung Schweizerischer Käsehändler, nach siebenjährigem Einsatz die Aufhebung der monopolartigen Handelsprivilegien der Schweizerischen Käseunion zu erreichen. Im März 1935 erhielt Duttweiler Besuch durch einen deutschen Reisefachmann, der ihm vorschlug, mit Pauschalreisen den Tourismus in der Schweiz zu beleben. Dieser steckte wegen stark gesunkener Gästezahlen und überhöhter Preise in einer existenziellen Krise. Rasch entschlossen setzte Duttweiler die Idee in die Tat um und gründete im folgenden Monat die Genossenschaft Hotelplan, an der die Migros und touristische Unternehmen beteiligt waren. Menschen aus einfachen Verhältnissen sollten sich mit preisgünstigen All-inclusive-Angeboten erstmals überhaupt Ferien leisten können. Im Gegensatz zu den totalitären Massenorganisationen Dopolavoro und Kraft durch Freude (die Duttweiler verabscheute) sollten die Urlauber ihre Freizeit innerhalb einer bestimmten Region individuell gestalten können. In wenigen Wochen baute Emil Rentsch eine Organisation auf und bereits im Juni fuhren die ersten Sonderzüge aus dem In- und Ausland nach Lugano; weitere Destinationen kamen in kurzer Folge hinzu. Bis 1939 beteiligten sich über 800 Hotels, Bahnbetriebe und Schifffahrtsgesellschaften am Hotelplan. Während des Zweiten Weltkriegs schrumpfte er vorübergehend zu einem kleinen Reisebüro für Inlandreisen zusammen. Duttweiler entliess die Mitarbeiter nicht, sondern setzte sie für einige kriegswirtschaftliche Funktionen wie das Rationierungswesen der Migros ein. Einstieg in die Politik Mit Petitionen, Referenden, Zeitungsartikeln und Vorträgen wirkte Duttweiler seit Jahren auf die Politik ein. Lange Zeit sträubte er sich dagegen, ein politisches Amt anzustreben, ehe er sich von seinem engsten Freundeskreis umstimmen liess. Später sagte er, dass er «in die Politik gegangen worden» sei. Sein Zögern erklärte er so: «Man kann von niemandem verlangen, dass er die politischen Auffassungen seines Makkaroni-Lieferanten teilt. Die Gefahr ist sehr gross, dass man deshalb Kunden verliert. Dass man Kunden gewinnt durch die Politik, kann ich kaum glauben.» Angesichts ihres Versagens während der Weltwirtschaftskrise hielt Duttweiler eine Erneuerung der Politik durchaus für wünschenswert, doch betrachtete er die antidemokratische Frontenbewegung als unvereinbar mit den freiheitlichen Schweizer Grundwerten. Er wollte Protestwählern stattdessen eine Alternative anbieten, die nicht an den Extremen des politischen Spektrums angesiedelt war, die Interessen der Konsumenten verteidigte und im Parlament die Macht der Interessengruppen und Kartelle bekämpfte. Andererseits wünschte er keine durchorganisierte Partei, sondern begnügte sich mit einer einfachen Wahlliste. Am 17. September 1935 kündigte Duttweiler die Teilnahme der «Gruppe der Unabhängigen» bei den kurz bevorstehenden Nationalratswahlen 1935 an. Während des Wahlkampfs warb er an zahlreichen Veranstaltungen um die Gunst der Wähler. Er war kein brillanter Redner, besass aber die Fähigkeit, komplizierte wirtschaftliche Zusammenhänge einfach verständlich zu machen. Seine Reden wirkten bisweilen chaotisch, waren aber stets mit humorvollen Pointen gespickt. Er sprach in einem lockeren Plauderton und reagierte mit ironischen Bemerkungen auf Zwischenrufe. Das Wahlergebnis vom 27. Oktober war eine Sensation: Die Unabhängigen gewannen sieben Sitze im Nationalrat, fünf davon im Kanton Zürich, wo sie mit 18,3 % der Stimmen zweitstärkste Kraft hinter den Sozialdemokraten wurden. Duttweiler selbst schaffte die Wahl gleichzeitig in den Kantonen Zürich, Bern und St. Gallen, worauf er das Berner Mandat annahm. Die bürgerliche Presse verhöhnte die Unabhängigen als «Duttweilers Million im Bundeshaus – eine Eins und sechs Nullen dahinter». Um zu verhindern, dass jemals wieder ein Politiker einen derart grossen persönlichen Wahlerfolg feiern konnte, beschloss das Parlament vor den Wahlen 1939, gleichzeitige Nationalratskandidaturen in mehr als einem Kanton zu verbieten (diese Regelung gilt bis heute). Nach einem Jahr sah Duttweiler ein, dass die neue Bewegung entgegen der früheren Absicht Organisationsstrukturen benötigte, wenn sie ihre Ziele verwirklichen wollte. Zusammen mit Gleichgesinnten wandelte er am 30. Dezember 1936 die Gruppe der Unabhängigen in eine politische Partei um, die den Namen Landesring der Unabhängigen (LdU) erhielt und allen Personen offenstand, die sich zur Demokratie bekannten. Die Delegierten wählten ihn im Januar 1937 zum Parteivorsitzenden («Landesobmann»). Er übte dieses Amt bis 1951 aus, mit Ausnahme der Jahre 1948/49. Im Parlament fiel es dem LdU schwer, eine klare Linie zu finden, zumal Duttweiler die Fraktion dominierte und die übrigen Mitglieder neben ihm kaum auffielen. Von links und rechts angefeindet, brachte er selten einen seiner Anträge durch. Er liess sich nicht in ein starres ideologisches Schema pressen und wechselte mitunter seine Meinung, wenn ihm dies angebracht schien; wahlweise galt er als «Kommunistenfreund» oder «Nazi». 1936 sprach sich Duttweiler neben dem Frontistenführer Robert Tobler als einziger Nationalrat für jene Volksinitiative aus, die ein Freimaurer-Verbot forderte – um ein Zeichen gegen die «Einheitsmeinung» zu setzen. Andererseits befürwortete er von den Sozialdemokraten geforderte Arbeitsbeschaffungs­massnahmen. Am 25. Juni 1940, drei Tage nach der Kapitulation Frankreichs, hielt Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz eine Radioansprache, die mit ihren zweideutigen Äusserungen über eine autoritäre Erneuerung der Demokratie als Anpassung an den NS-Staat verstanden werden konnte. Als Mitglied der nationalrätlichen Vollmachtenkommission übte Duttweiler heftige Kritik. Er war entschieden der Auffassung, dass die Regierung eine feste und entschlossene Haltung einnehmen müsse und selbst in kleinen Dingen nicht nachgeben dürfe. Daraufhin hielt er eine Vortragsreihe, mit der er beabsichtigte, den Widerstandswillen zu stärken. Sie stand unter dem Motto «Unser Kampf» – ganz bewusst als Antithese zu Hitlers Mein Kampf. Duttweiler forderte die insgesamt 25'000 Zuhörer auf, höchste Anstrengungen für eine wirksame Landesverteidigung zu leisten, um Freiheit und demokratische Ideale zu schützen. Eine Zeitlang war er Mitglied des Gotthardbundes, der ebenfalls den Widerstand stärken wollte, aber keine Juden oder Freimaurer aufnahm. Die Kontroverse um den Bundespräsidenten erreichte einen Höhepunkt, als dieser am 10. September 1940 die Führer der Nationalen Bewegung der Schweiz zu einer persönlichen Audienz empfing. Vier Tage später erfuhr Duttweiler von Hans Hausamann, einem Mitglied der Widerstandsgruppe Offiziersbund, dass Pilet-Golaz ohne Gegenleistung die Freilassung von 17 zur Landung gezwungenen Piloten der deutschen Luftwaffe und die Überstellung ihrer Flugzeuge angeordnet hatte. Am 17. September wandte sich Duttweiler in einem vertraulichen Brief an die National- und Ständeräte und bat sie, Pilet-Golaz zum sofortigen Rücktritt aufzufordern. Nur der LdU und die Sozialdemokraten folgten dieser Bitte, während sich die übrigen Parteien mit einer Rüge begnügten. Der Brief sickerte an die Presse durch und Ludwig Friedrich Meyer, Fraktionspräsident der FDP, warf Duttweiler ohne Beweis vor, eine Indiskretion begangen zu haben. Die Regierungsparteien und die Medien stellten seinen «Wortbruch» in den Vordergrund, während er selbst wegen der Zensurvorschriften die Öffentlichkeit nicht umfassend informieren durfte. Am 10. Dezember beschloss der Nationalrat mit 59 zu 52 Stimmen, Duttweiler aus der Vollmachtenkommission auszuschliessen. Umgehend trat er als Nationalrat zurück, während die LdU-Fraktion bis zum Jahresende aus Protest allen Sitzungen fernblieb. Wirtschaftliche und geistige Landesverteidigung Aufgrund seiner negativen Erfahrungen in Berlin war Duttweiler früh davon überzeugt, dass die Nationalsozialisten einen Krieg anstrebten. Im August 1934 stellte er beim Militärdepartement den Antrag, dass Importeure im Sinne der wirtschaftlichen Landesverteidigung Vorräte an lange haltbaren Nahrungsmitteln anlegen sollten, um Engpässe wie während des Ersten Weltkriegs zu vermeiden. Sein Antrag blieb unbeantwortet. Im Februar 1938 wandte er sich in Zeitungsartikeln an die Öffentlichkeit und gab Empfehlungen zu Haushaltsvorräten ab. Er stellte Blechbüchsen zur Lagerung von Lebensmitteln zur Verfügung und erteilte Ratschläge für die Vorratshaltung. Seine Konkurrenten äusserten den Vorwurf, es gehe ihm weniger um das Allgemeinwohl als um die Steigerung des eigenen Umsatzes. Die Verbandszeitung der Lebensmittelhändler bezeichnete ihn sogar als Panikmacher, der Ruhe und Sicherheit gefährde. Weit verbreitete Hamsterkäufe während der Sudetenkrise im September 1938 bestätigten Duttweiler in seiner Überzeugung. Als Hitler nach dem Münchner Abkommen seine Aggressionspolitik fortsetzte, sah sich der Bundesrat schliesslich im Februar 1939 dazu veranlasst, die Bevölkerung zum Anlegen von Vorräten aufzufordern. Im Sommer 1938 hatte Duttweiler die Idee, Nahrungsmittel in Unterwassertanks zu lagern und diese in Schweizer Seen zu versenken. Er schrieb in einem Zeitungsartikel, die Lagerung koste im Vergleich zu oberirdischen Lagerhäusern fast nichts, die konstant tiefe Wassertemperatur von etwa 6 °C mache eine künstliche Kühlung überflüssig und die Tanks seien vor Luftangriffen sicher. Es kam zu einem intensiven Briefwechsel mit Bundesrat Hermann Obrecht, der aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zunächst ergebnislos blieb. Duttweiler beauftragte in der Zwischenzeit den Chef des Migros-Labors mit den notwendigen Berechnungen und Experimenten. Im April 1939 gründete er zusammen mit anderen Unternehmern die nicht-gewinnorientierte «Genossenschaft für die Beschaffung und Einlagerung von Rohstoffen und Nahrungsmitteln» (Gerona), die Bundessubventionen in der Höhe von 25'000 Franken zugesprochen erhielt. Ende Juli 1939 versenkte die Gerona bei Därligen einen Tank mit 230 Tonnen Getreide im Thunersee. Als sie die «grösste Konservendose der Welt» nach viereinhalb Monaten wieder an Land holte, war der Inhalt einwandfrei konserviert. Dennoch gab es wegen behördlichen Widerstands keine weiteren Unterwasserlagerungen im grossen Stil und die Gerona löste sich auf. Im Oktober 1937 reichte Duttweiler im Nationalrat ein Postulat ein mit dem Ziel, 1000 Flugzeuge für die Schweizer Luftwaffe anzuschaffen und 3000 Piloten auszubilden. Um die Ausbildung voranzutreiben, gründete er im August 1938 die Genossenschaft In Memoriam Bider/Mittelholzer/Zimmermann. Das Vorhaben verlief im Sande, da die von der Genossenschaft ausgebildeten Piloten oft nicht der Luftwaffe zum Militärdienst zugeteilt wurden und weite Teile der Armeeführung die Grenzbefestigung als bedeutend wichtigere Abwehrmassnahme ansahen. Nach einem Jahr stellte die Genossenschaft ihre Tätigkeit ein. Kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schlug Duttweiler dem Eidgenössischen Kriegstransportamt (KTA) vor, einen Lastwagenkonvoi zu bilden, um die Einfuhr lebenswichtiger Güter über Südfrankreich sicherzustellen. Das KTA erkannte kein Bedürfnis, weshalb er im Mai 1940 in den USA auf eigene Rechnung 50 Lastwagen kaufte. Obwohl General Henri Guisan die Aktion unterstützte, lehnte es der Ständerat einstimmig ab, über eine Kostenübernahme des Bundes auch nur zu diskutieren. Da die Lastwagen wegen des fehlenden diplomatischen Schutzes nicht nach Europa gebracht werden konnten, verkaufte Duttweiler sie der United States Army mit einem ungewollten Gewinn von rund 400'000 Franken. Ein Jahr später war das KTA doch noch gezwungen, Konvois bei deutlich gestiegenen Kosten zu organisieren. In einem Brief an General Guisan beklagte sich Duttweiler im Juni 1940 über die Praxis der Schweiz, weiterhin Kohletransporte zwischen Deutschland und Italien zuzulassen. Er schlug vor, im Gotthardtunnel und im Simplontunnel Sprengstoff anzubringen, um ein diplomatisches Druckmittel zur Verfügung zu haben. Im Falle einer Sprengung sollte das Geröll vermint werden, sodass der Kohletransport nach Italien für lange Zeit zum Erliegen käme. Die Schweizerischen Bundesbahnen lehnten den Vorschlag ab, da der Güterverkehr als sichere Einnahmequelle aufrechtzuerhalten sei. Ab Mai 1941 beteiligte sich die Migros am Aufbau der Schweizer Hochseeschifffahrt. Zusammen mit Geschäftspartnern gründete sie die Maritime Suisse SA, die für den Lebensmitteltransport zwei alte Frachtdampfer erwarb. Duttweiler gehörte dem Verwaltungsrat dieser Reederei an. Nach zwei Jahren wollte Marc Bloch, einer der Teilhaber, die Aktienmehrheit an sich reissen. Dies tat er offenbar auf Druck des KTA, das Duttweiler politisch schaden wollte (Bloch hatte enge Beziehungen zur extremen Linken in Genf). Unter diesen Umständen hielt es die Migros für angebracht, ihre Aktien im September 1943 mit Verlust zu verkaufen. Duttweiler unterstützte tatkräftig die Geistige Landesverteidigung, eine offizielle politisch-kulturelle Bewegung, die als «schweizerisch» wahrgenommene Werte und Bräuche schützen wollte, um totalitäre Ideologien abzuwehren. Ende 1939 war er Herausgeber des Bildbandes Eines Volkes Sein und Schaffen, ein Erinnerungswerk an die Schweizerische Landesausstellung desselben Jahres, das zum Selbstkostenpreis in einer Auflage von 430'000 Exemplaren verkauft wurde. 1940 gehörte er zu den Mitbegründern der Schweizer Patenschaft für Berggemeinden. 1942 organisierte er eine Sammelaktion zugunsten der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes, die zwei Millionen Franken einbrachte. Einen grossen Einfluss hatte er auch auf das Schweizer Filmschaffen. Nachdem sich die Migros 1943 massgeblich an der Erhöhung des Aktienkapitals der Filmproduktionsgesellschaft Praesens-Film beteiligt hatte, war Duttweiler ein Mitglied ihres Verwaltungsrates. Die Praesens-Film produzierte Spielfilme, die sich damals als einzige im deutschsprachigen Raum gegen den Totalitarismus auflehnten. Der 1944 uraufgeführte Film Marie-Louise drohte zum Flop zu werden. Duttweiler war jedoch sehr gerührt und kaufte kurzerhand Tausende von Kinokarten, die er an Kundinnen verschenkte, die ausserhalb der Stosszeiten einkauften. Marie-Louise wurde ein kommerzieller Erfolg und zwei Jahre später als erster Schweizer Film überhaupt mit einem Oscar ausgezeichnet. Umwandlung der Migros in eine Genossenschaft Zunehmend reifte bei Duttweiler die Erkenntnis, dass er mit seinem kaufmännischen Handeln auch eine soziale Verantwortung trage. Beispielsweise führte er 1943 bei der Migros ein Label namens Vota ein, das Warengebote kennzeichnete, die zu fairem Preis, in guter Qualität und unter anständigen Arbeitsbedingungen hergestellt worden waren. Zehn Jahre zuvor hatte er erstmals mit dem Gedanken gespielt, die Migros in eine Genossenschaft umzuwandeln. Dieses Ziel verwirklichte er zunächst im kleinen Rahmen im Kanton Tessin, wo die Migros-Zweigniederlassung von Anfang an als Genossenschaft strukturiert war. Nach einer Statutenänderung im Oktober 1935 liess die Migros ihren Reingewinn nach Abzug der Steuern wohltätigen Zwecken zukommen. Seine Umwandlungspläne machte Duttweiler am 1. Juni 1940 publik. Diesem Schritt waren interne Auseinandersetzungen vorangegangen, in deren Folge Verwaltungsratspräsident Hermann Walder aus dem Unternehmen ausschied. Die übrigen Verwaltungsräte wollten Duttweiler von seinem Vorhaben abbringen und baten Adele Duttweiler-Bertschi, ihren Ehemann umzustimmen. Doch sie stand hinter seiner Entscheidung. Sie machte nur die Auflage, dass eine der Produktionsbetriebe, die G. D. Produktion AG in Basel, zur Sicherheit in seinem Besitz blieb. Ein Unternehmen mit einem Umsatz von 72 Millionen Franken zu verschenken, erwies sich als juristisch komplexe Angelegenheit. Duttweiler, der die übrigen Aktionäre auszahlte, schrieb dazu: «Wir haben herausgefunden, dass es eine viel heiklere Aufgabe ist, Geld zu verschenken, als Geld zu verdienen. […] Die Umwandlung einer Genossenschaft in eine Aktiengesellschaft ist gesetzlich geregelt, kostet keine Steuern und ist eine einfache Firma-Änderung. Dagegen das Unerhörte der Umwandlung einer Aktiengesellschaft in eine Genossenschaft, das ist gar nicht vorgesehen! Es bleibt nur der Weg der Liquidation und der Neugründung.» Die Überführung der Migros mitsamt ihrer Zweigniederlassungen und Tochtergesellschaften in genossenschaftliche Strukturen begann im Januar 1941 und zog sich über zwölf Monate hin. Die Unternehmensstruktur umfasste zehn autonome regionale Genossenschaften, die zusammen den Migros-Genossenschafts-Bund (MGB) bildeten. Der MGB behielt die Eigenproduktion und besorgte den grössten Teil des Einkaufs, während sich die Genossenschaften hauptsächlich auf den Verkauf konzentrierten. Als Hauptgrund für die Transformation der Migros nannte Duttweiler die Sicherung ihrer gemeinnützigen Ausrichtung. Mit viel Pathos bezeichnete er den Vorgang als «Tatgemeinschaft eidgenössischer Art, gebaut auf dem festen Grund des schweizerischen Allmendgedankens, fernab von manchesterlich-amerikanischer Geschäftsgesinnung.» Neben diesem sozialethischen Motiv spielten auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine Rolle. Entgegen früherer Beteuerungen gab er Ende der 1950er Jahre zu, dass die ab 1938 zum Zweck der Landesverteidigung und Arbeitsbeschaffung erhobene Ausgleichssteuer ein weiterer Grund gewesen war, da Genossenschaften davon befreit waren. Zudem waren vor 1935 gegründete Genossenschaften vom Filialverbot ausgenommen, sodass er wohl hoffte, die Migros würde bei einer möglichen Gesetzesanpassung ebenfalls davon profitieren. Ein nicht zu unterschätzendes Motiv war seine Furcht vor der Besetzung der Schweiz durch das Deutsche Reich, zumal er im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsführern weitaus weniger optimistisch war, was den Kriegsverlauf betraf. Die Enteignung einer Genossenschaft mit Tausenden von Mitgliedern wäre seiner Ansicht nach einem nationalsozialistischen Regime viel schwerer gefallen als jene eines einzelnen Millionärs. Seine Gegner wiederum sahen in der Umwandlung lediglich einen geschickten PR-Schachzug. Obwohl sich Duttweiler auf die Ideale der Rochdale Society of Equitable Pioneers berief und einen Bezug zu seinem Vater herstellte, bestanden deutliche Unterschiede zur herkömmlichen Genossenschaftsbewegung. Er sah den Nutzen im Wesentlichen darin, dass die Genossenschafter als Konsumenten in der Migros einkauften und so die Absatzmenge erhöhten. Dadurch war es der Migros möglich, ihre Preise zu senken, was wiederum der wirtschaftlichen Situation der Kunden zugutekam. Die Selbsthilfe der Mitglieder beschränkte sich auf die Kundentreue zur Migros, die diese zum «Dienst am Kunden» ermächtigte. Für Duttweiler war die Genossenschaftsbewegung somit nicht eine Alternative zum Kapitalismus, sondern eine harmonisierende Korrektur der kommerziellen Auswüchse und Verwerfungen. Im Kern seiner vage umrissenen Wirtschaftsphilosophie, die er «Soziales Kapital» nannte, stand die soziale Verantwortung innerhalb einer freiheitlichen marktwirtschaftlichen Gesellschaftsordnung, die den Markt als effizientes ökonomisches Ausleseprinzip bejaht. Während die traditionellen, organisch gewachsenen Konsumgenossenschaften pluralistisch waren und aus Rücksicht auf unterschiedliche politische Meinungen eine vorsichtige Geschäftsstrategie verfolgten, galt Duttweiler als unbestrittene charismatische Führungsfigur, weshalb die Migros ihre expansive Stossrichtung beibehielt. Im Unterschied zu den basisdemokratisch organisierten Genossenschaften besass die Migros eine Top-down-Struktur mit einer Machtkonzentration beim Management des MGB, während die in Urabstimmungen gewählten Genossenschaftsräte über keine echte Entscheidungskompetenz verfügten und die Genossenschafter nur bei wenigen strategischen Entscheidungen befragt wurden. Die in einem einzigen Gründungsakt entstandenen Genossenschaften waren völlig frei vom Einfluss fremder Kapitalgeber, aber bestimmten vorgegebenen Prinzipien des MGB unterworfen. Dadurch hatten sie, wie von Duttweiler gewollt, eher den Charakter von Stiftungen. Grosszügigkeit und Bescheidenheit Die Grosszügigkeit war nicht auf die Migros beschränkt. Im September 1939 hatte die unrentable Monte-Generoso-Bahn im Tessin ihren Betrieb eingestellt. Duttweiler erfuhr vom bevorstehenden Abbruch dieser Zahnradbahn und erwarb sie im März 1941 spontan. Er übergab sie an eine neu gegründete Genossenschaft, welche die Anlagen instand setzte und den Betrieb wiederaufnahm. Die Senkung des Fahrpreises um fast zwei Drittel bewirkte im ersten Jahr einen Anstieg der Fahrgastzahlen um das Neunfache, was das langfristige Fortbestehen der Bahn garantierte. 1925 hatte das Ehepaar Duttweiler begonnen, oberhalb von Rüschlikon Grundbesitz zu erwerben. Im Laufe der Jahre kamen insgesamt 45'000 m² Wies- und Waldland zusammen. Am Rande des Geländes liessen sie ein bescheidenes Haus mit Strohdach errichten. Sie beauftragten den Kunstmaler Hermann Gattiker mit der Umgestaltung in einen Park. Kurz nach der Vollendung schenkten sie zu Weihnachten 1946 den «Park im Grüene» (mitsamt dem Haus) dem Migros-Genossenschafts-Bund. Er stand zuerst den Genossenschaftern offen, wenig später der gesamten Öffentlichkeit. Luxus war Duttweiler mittlerweile völlig unwichtig geworden und er pflegte einen bescheidenen Lebensstil. Beispielsweise fuhr er einen Fiat Topolino, obwohl er mit seiner grossen und schweren Statur kaum in diesen Kleinwagen passte. Bahnfahrten unternahm er grundsätzlich in der dritten Klasse. Die Sparsamkeit erstreckte sich auch auf den Büroalltag: Briefumschläge mussten als Notizzettel wiederverwendet werden, seine Manuskripte verfasste er auf der Rückseite von zugesandten Todesanzeigen. Publizistik und Journalismus Duttweiler entfaltete eine rege publizistische Aktivität. Die in den Anfangsjahren von ihm selbst konzipierte Werbung richtete sich bewusst an Hausfrauen, dem Hauptkundensegment. Das erste Flugblatt kurz vor Verkaufsstart begann mit den Worten: «An die Hausfrau, die rechnen muss! – An die intelligente Frau, die rechnen kann». Es führte aus, weshalb die Lebensmittel zu derart tiefen Preisen angeboten werden konnten und endete mit der kecken Drohung, das Geschäft bei ausbleibendem Erfolg zu schliessen: «Entweder siegen die lieben alten Einkaufsgewohnheiten, die Reklame und die Schlagwörter – oder der erhoffte Zuspruch stellt sich ein; diesfalls können wir die Preise möglicherweise noch ermässigen, andernfalls müssen wir diesen ernsthaften Versuch, den Konsumenten zu dienen, aufgeben.» Zwar sorgten die Verkaufswagen für Aufsehen, wo immer sie anhielten, doch auch die Migros war auf Werbung angewiesen. Dies gestaltete sich insofern schwierig, als Verbände und Konkurrenten die Verleger kleinerer Zeitungen massiv unter Druck setzten, sodass sie oft keine Inserate annahmen. Nebst Fahrplan und Preisliste enthielten die Flugblätter stets auch einen von Duttweiler und Elsa Gasser verfassten Textteil mit kurzen Kommentaren und Analysen sowie den Zielen der Migros. Daraus entwickelte sich Migros – Die Brücke, eine mehrseitige Gratiszeitung, die an alle Haushalte im Einzugsgebiet verteilt wurde und das wichtigste publizistische Instrument der Anfangsjahre darstellte. Mit zunehmender Gegnerschaft verspürte Duttweiler das Bedürfnis, sich seinen Kunden direkt mitzuteilen. Er war sein eigener Pressechef, anstatt wie andere Unternehmer die Öffentlichkeitsarbeit zu delegieren und anonym im Hintergrund zu bleiben. Im Bestreben, sich in den Mittelpunkt zu stellen und sich damit angreifbar zu machen, dürfte Eitelkeit eine gewisse Rolle gespielt haben. Sein Gang in den Journalismus war aber auch eine natürliche Folge seines Sendungsbewusstseins. Es ging ihm nicht einfach nur darum, Waren möglichst günstig zu verkaufen, sondern er wollte auch Gesinnungen, Bekenntnisse und Forderungen vermitteln sowie ganz prinzipiell verstanden werden. Er ging dazu über, längere Artikel zu schreiben, die ab 17. Dezember 1927 wöchentlich in Form halbseitiger Inserate in bis zu 30 Zeitungen erschienen. Während die erste Ausgabe noch Migros Nachrichten hiess, erfolgte vier Tage später die Umbenennung in Zeitung in der Zeitung. Zu Beginn wusste die Öffentlichkeit nicht, wer die Artikel überhaupt schrieb. Erst in der 140. Ausgabe gab sich Duttweiler als Autor zu erkennen. Als einzelne Verlage dem Druck der Migros-Gegner nachgaben und die Inserate nicht mehr annahmen, wehrte er sich, indem er die abgesprungenen Zeitungen jeweils prominent erwähnte und so den Ärger der treuen Leserschaft auf die Verlage lenkte. Andere Verlage schlossen Kompromisse und verweigerten die Zeitung in der Zeitung nur dann, wenn sie Angriffe auf inserierende Firmen enthielt. 1350 dieser Textinserate, in denen er Werbung und Konsumpolitik verquickte, schrieb Duttweiler im Laufe der Jahrzehnte. Nach der Wahl in den Nationalrat benötigte die Gruppe der Unabhängigen ein eigenes Organ. Ab 12. November 1935 brachte Duttweiler die Wochenzeitung Die Tat heraus. Er betrachtete sie als «ein einfaches, ernstes wöchentliches Rechenschaftsberichts-Blättlein der 7 Unabhängigen für ihre Freunde». Als Motiv für die Zeitungsgründung nannte er auch die Abwehr des Nationalsozialismus in der Schweiz: «Es war im Fronten-Frühling 1935. Es galt dem Geschrei der schweizerischen Nazi-Jünger etwas Saftiges entgegenzustellen.» Vier Jahre später wandelte Duttweiler die Tat in eine Tageszeitung um, die erstmals am 2. Oktober 1939 erschien und ihren antinazistischen Kurs beibehielt. Duttweiler arbeitete anfangs mit Begeisterung mit, zog sich aber mehr und mehr zurück, da es ihm schwerfiel, über aktuelle Ereignisse zu berichten. Mit dem temperamentvollen Chefredaktor Erwin Jaeckle stritt er sich häufig, trotz einer Auflage von 40'000 Exemplaren war die Tat kaum je selbsttragend (die Folge eines Inserateboykotts der Markenartikel-, Alkohol- und Tabakfabrikanten). Die Migros beglich die Defizite, auch der mit Duttweiler befreundete Bauunternehmer Ernst Göhner schoss regelmässig Geld ein. Ein Jahr nach der Umwandlung der Migros in eine Genossenschaft erschien am 30. Juli 1942 erstmals Wir Brückenbauer, eine Gratis-Wochenzeitung für alle Genossenschaftsmitglieder. Mit ihr konnte Duttweiler wesentlich enger mit seinen Kunden in Kontakt treten als mit der Zeitung in der Zeitung; Woche für Woche verfasste er den Leitartikel. Für seine Publikationen schrieb Duttweiler insgesamt fast 3000 Artikel, Kommentare und Glossen. Sie befassten sich mit wirtschaftlichen Problemen, politischen Auseinandersetzungen sowie sozialen und kulturellen Fragen, enthielten Vorschläge und Aufrufe an Behörden, Berichte aus erster Hand von den Gerichtsprozessen, aber auch Humoristisches. Wenn ihn etwas besonders ärgerte, griff Duttweiler gerne auf Sarkasmus zurück. Ein grosses Anliegen waren ihm besinnliche Texte zu weltlichen und kirchlichen Feiertagen, in denen er sich auf historische Ereignisse, die Bibel sowie berühmte Dichter und Denker berief. Sein Schreibstil war stark von seiner Persönlichkeit geprägt, das heisst seine Artikel waren meist leidenschaftlich, kraftvoll und gespickt mit Wortspielen, Redensarten, literarischen Zitaten und bildhaften Schilderungen. Gasser beschrieb 1948 seine Arbeitsweise wie folgt: «Die allermeisten Artikel werden in stürmischem Tempo diktiert, man möchte fast sagen: rausgespuckt. Die üblichen Zwischenspiele – Telefon, Öl- oder Kaffeeprobieren, Gespräche über Einkaufs- und andere Dispositionen – mögen den Faden wohl zehnmal unterbrechen, aber den Autor nicht aus dem Gleichgewicht bringen. […] Die Gedanken und die Worte überstürzen sich, dem Verständnis des Lesers werden hohe Sprünge zugemutet, aber dafür steckt auch etwas drin. […] Sein Ehrgeiz als Journalist besteht darin, etwas zu drucken, das den Professor und die Waschfrau interessiert und beiden verständlich ist.» Weiteres politisches Wirken Duttweiler prägte die von ihm mitbegründete Partei weiterhin, wegen seines autoritären Führungsstils und aus ideologischen Gründen entstand aber eine Kluft zwischen ihm und den meisten LdU-Nationalräten, die sein soziales Engagement als «Abgleiten nach links» empfanden. Besonderen Unmut erregte die Tatsache, dass er sich stets gegen das Verbot der Kommunistischen Partei ausgesprochen und 1942 bei den Genfer Kantonsratswahlen eine Wahlliste unterstützt hatte, die Anhänger des Kommunisten Léon Nicole und des Faschisten Georges Oltramare vereinte. Duttweiler hatte dabei betont, dass es den Werten der Schweiz eher entspreche, die politischen Extreme in den demokratischen Prozess einzubinden, als sie und ihre Wähler in die Illegalität zu treiben. Ein weiterer Kritikpunkt war, dass er sich im April 1943 ohne Absprache mit der Fraktion in den Zürcher Kantonsrat hatte wählen lassen (diesem gehörte er in der Folge acht Jahre lang an). Als er am 15. Juni 1943 seine Kandidatur als Nationalrat bekanntgab, stellte sich die Fraktion (mit Ausnahme von Otto Pfändler) gegen ihn und warf ihm Eigenmächtigkeit vor. Parteiintern machte das vermutlich von Bundesrat Eduard von Steiger zugespielte «Dossier B» die Runde. Darin behauptete Marc Bloch, ehemaliger Teilhaber bei der Maritime Suisse SA, dass Duttweiler ihn beauftragt habe, für den Wahlkampf der Kommunisten Léon Nicole und André Ehrler 12'800 Franken zukommen zu lassen. Eine vom LdU einberufene Untersuchungskommission kam zum Schluss, dass Blochs Behauptungen nicht der Wahrheit entsprachen. Als die Delegiertenversammlung am 30. September Duttweilers Kandidatur bestätigte, kam es zum endgültigen Bruch. Einen Tag später stellten die Dissidenten eine eigene Wahlliste auf, die «Unabhängig-freie Liste». Bei den Nationalratswahlen vom 31. Oktober 1943 setzte sich der Duttweiler-Flügel durch (er selbst wurde im Kanton Zürich gewählt). Als einziger Dissident errang Heinrich Schnyder einen Sitz und trat daraufhin aus dem LdU aus. Zurück im Parlament, erlitt Duttweiler weiterhin Niederlage um Niederlage, da er kaum je Kompromisse einging. 1944 forderte er mit einer Motion ein Gesetz für eine bis zu zwei Jahre ausreichende Vorratshaltung in unentbehrlichen Rohstoffen und Nahrungsmitteln. Beide Parlamentskammern verschleppten seine Vorlage um mehr als vier Jahre. Duttweiler war angesichts der Machtübernahme der Kommunisten in Osteuropa überzeugt, dass sein Anliegen aktueller denn je sei. Der Nationalratspräsident beendete am 8. Oktober 1948 erneut die Session, ohne die Motion zur Beratung vorzulegen. Duttweiler hatte dies geahnt und sich von einem Bekannten zwei Steine ins Bundeshaus bringen lassen. Kurz nach Sitzungsende zerschmetterte er aus Protest zwei Fensterscheiben in einem Nebenzimmer, von innen heraus. Der Vorfall, den Duttweiler als «letztes wohlüberlegtes, wenn auch verzweifeltes Mittel» bezeichnete, sorgte für grosses Aufsehen. Die Basler Nachrichten schrieben, der Steinwurf sei «nicht nur psychologisch, sondern auch psychiatrisch interesant». Als die Motion zwei Monate später behandelt wurde, stiess sie selbst bei den Mitunterzeichnern auf breite Ablehnung. Duttweilers Beliebtheit schadete es nicht: Am 3. Juli 1949 fand im Kanton Zürich eine Ständerats-Ersatzwahl statt. Obwohl er sich nur zwei Wochen zuvor als Kandidat aufstellen liess, erzielte er das beste Ergebnis. Im zweiten Wahlgang am 11. September setzte er sich deutlich durch und zog in die kleine Parlamentskammer ein. Bei der ordentlichen Ständeratswahl am 28. Oktober 1951 unterlag er hingegen dem FDP-Kandidaten Ernst Vaterlaus. Gleichzeitig hatte er erfolgreich als Nationalrat im Kanton Bern kandidiert und vertrat diesen bis an sein Lebensende. Duttweiler und der LdU setzten vermehrt auf Volksinitiativen und fakultative Referenden. Diese zielten zumeist darauf ab, dirigistische Massnahmen und auf Sondervollmachten gestützte Notstands­verordnungen zu verhindern oder rückgängig zu machen. Duttweiler war kein doktrinärer Liberaler, der jeden Staatseingriff ablehnte, zumal er kurzfristige Massnahmen durchaus befürwortete. Er wehrte sich aber entschieden gegen dauerhafte Regelungen und die Überführung ausserordentlicher Wettbewerbs­beschränkungen ins ordentliche Recht. Die Referenden verhinderten einen Bedürfnisnachweis für Strassentransporte (1951), eine Bewilligungspflicht für Hotels (1952) sowie eine Beschränkung der Eröffnung von Handwerkergeschäften (1954). Niederlagen gab es beim Landwirtschaftsgesetz (1952), bei der strukturerhaltenden Besteuerung der Tabakindustrie (1952), beim Milchwirtschaftsbeschluss (1960) und beim Uhrenstatut (1961). Ebenfalls erfolglos blieben Initiativen für ein Recht auf Arbeit (1946), ein Kartellverbot (1958) und die Einführung der 44-Stunden-Woche (1958). Nicht direkt beteiligt war Duttweiler bei der Volksinitiative «Rückkehr zur direkten Demokratie», deren Annahme am 11. September 1949 ihm aber zugutekam. Von nun an war es nicht mehr möglich, dringliche Bundesbeschlüsse dem fakultativen Referendum zu entziehen, wodurch Gesetze wie das Filialverbot fortan praktisch nicht durchsetzbar waren. Ein politisches Thema, das Duttweiler emotional sehr berührte, war die staatliche finanzielle Unterstützung von Auslandschweizern, die während des Zweiten Weltkriegs in die Schweiz geflohen oder ausgewiesen worden waren und ihren Besitz im Ausland zum grössten Teil verloren hatten. Zwei Monate vor Kriegsende gründete er ein Unterstützungskomitee. Mit dem im Mai 1946 vereinbarten Abkommen über deutsche Vermögenswerte in der Schweiz standen 121 Millionen Franken für Entschädigungen zur Verfügung, doch die Umsetzung verzögerte sich um Jahre. Schliesslich legte der Bundesrat im Dezember 1953 den «Bundesbeschluss über ausserordentliche Hilfeleistungen an kriegsgeschädigte Auslandschweizer» vor, um mit dem noch immer nicht verteilten Geld einen «Dispensationsfonds» zu bilden. Duttweiler stellte fest, dass nur etwa jeder zehnte Anspruchsberechtigte entschädigt würde und gab den Propagandafilm Der Prozess der Zwanzigtausend in Auftrag, um auf das Unrecht hinzuweisen. Der LdU ergriff das Referendum und setzte sich in der Volksabstimmung vom 20. Juni 1954 gegen den Widerstand aller Bundesratsparteien durch. Obwohl Bundesrat und Parlament versprachen, den Volkswillen umzusetzen, passierte wieder nichts. Ohne jemanden darüber in Kenntnis zu setzen, fuhr Duttweiler am 24. Juni 1955 nach Genf und trat im Hauptsitz des Internationalen Roten Kreuzes aus Protest in einen Hungerstreik, den er nach vier Tagen abbrach. Ein weiterer Bundesbeschluss vom 13. Juni 1957 berücksichtige rund ein Fünftel aller Anspruchsberechtigten, die besonders Bedürftigen. Das Unterstützungskomitee wollte sich nicht weiter engagieren, da es sein Vertrauen in die Behörden verloren hatte. Rasche Expansion der Migros Mit ihrer rechtlichen Anerkennung als Selbsthilfegenossenschaft am 1. Januar 1945 unterstand die Migros nicht mehr dem Filialverbot, blieb aber noch ein Jahr lang durch eine freiwillige Vereinbarung mit dem SGV an eine Meldepflicht gebunden. Ab 1. Januar 1946 bestanden keinerlei gesetzlichen Einschränkungen mehr. Infolge des Nachkriegsbooms begann eine lang anhaltende Phase des exponentiellen Wachstums. Nur 15 Jahre später überschritt der Umsatz die Marke von einer Milliarde Franken. Auf Geschäftsreisen in die USA lernte Duttweiler die in Europa noch unbekannten Selbstbedienungsläden kennen. Er zögerte zunächst, dieses System ebenfalls einzuführen, da er befürchtete, der persönliche Kontakt zwischen Kunden und Verkaufspersonal könnte verloren gehen. Elsa Gasser, seine volkswirtschaftliche Beraterin, drängte hingegen auf eine möglichst rasche Einführung und konnte ihn überzeugen. Schliesslich erfolgte am 15. März 1948 in Zürich die Eröffnung des ersten Schweizer Selbstbedienungsladens, nur zwei Monate nach der Premiere in Großbritannien. 1951 begann die Migros in den Non-Food-Bereich zu expandieren, 1952 eröffnete sie in Basel und Zürich die ersten Supermärkte Europas. Duttweilers Stellung an der Spitze der Migros war nicht unangefochten. 1948 forderten die Migros-Genossenschaften in der Romandie die Zulassung des Weinverkaufs, worauf er erstmals eine Urabstimmung durchführen liess. 54,2 % der teilnehmenden Genossenschaftsmitglieder sprachen sich dagegen aus. 1956 überraschte Duttweiler die Führungsgremien der Migros, als er sich für die Einführung eines Rabattsystems aussprach (wogegen er drei Jahrzehnte zuvor energisch gekämpft hatte). Als er intern mit seiner Idee nicht durchdrang, machte er von seinem statutarischen Recht Gebrauch und wandte sich direkt an die Genossenschafter. Diese lehnten sein Ansinnen mit 72,9 % der Stimmen deutlich ab. Inzwischen waren die Medien in den USA auf Duttweiler aufmerksam geworden und zeigten im Gegensatz zur Schweizer Presse Bewunderung für seine Erfolge. Zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten Artikel und Interviews. Verwundert stellten sie fest, dass er einerseits in seiner Heimat als «zu amerikanisch» galt, andererseits aus idealistischen Gründen den grössten Teil seines Vermögens aufgegeben hatte. Die Boston Conference on Distribution, eine Organisation der Stadt Boston und ihrer Handelskammer, nahm ihn 1953 in ihre Hall of Fame auf. Im selben Jahr trat die Regierung der Türkei an Duttweiler heran und fragte ihn um Unterstützung beim Aufbau eines Verkaufssystems nach dem Vorbild der Migros an. Er reiste zu Verhandlungen nach Istanbul und gründete am 1. April 1954 mit lokalen Partnern die Migros Türk, die daraufhin 20 Jahre lang mit der schweizerischen Migros verbunden blieb. Auch ausserhalb des Lebensmittel-Detailhandels fiel Duttweiler durch Ideenreichtum auf. Auf seine Initiative hin vermittelte die Migros zwischen Juni 1946 und Februar 1947 über 3000 Haushaltshilfen aus der Provinz Trentino an kinderreiche Schweizer Familien, was die italienische Regierung dazu veranlasste, mit der Schweiz ein Abkommen über die Anwerbung von Arbeitskräften auszuhandeln. Im Juli 1951 beschloss Duttweiler, etwas gegen die hohen Preise für Taxifahrten in Zürich zu unternehmen. Alleine seine Ankündigung, hundert Vauxhall-Taxis aus Grossbritannien importieren zu wollen, sorgte unter den etablierten Taxiunternehmen für Aufregung. Noch bevor die Wagen überhaupt in der Schweiz waren, senkten sie die Tarife um rund ein Drittel. Duttweiler hatte erreicht, was er wollte und vereinbarte einen «Nichtangriffspakt» im «Taxikrieg». Er verkaufte 40 Vauxhall-Taxis an Chauffeure; die übrigen gelangten nach Basel, wo sie ebenfalls für eine Preiskorrektur sorgten. Ab August 1951 verfolgte Duttweiler erneut Schifffahrtsprojekte. Zusammen mit Ernst Göhner gründete er die Reederei Zürich AG. Ein Jahr später stellte die Stülcken-Werft in Hamburg in deren Auftrag zwei Frachtschiffe fertig, die nach den Ehefrauen der Gründer benannt waren, Adele und Amelia. 1954 kam die Rheinreederei AG hinzu, die in der Rheinschifffahrt involviert war (beide fusionierten 1963 zur Rheinreederei Zürich AG). Duttweiler befand, dass die Migros auch ins Finanzgeschäft einsteigen müsse, da die Banken seiner Meinung nach die Kleinsparer vernachlässigten. 1957 entstand die Migros Bank, zwei Jahre später folgte die Gründung der Secura-Versicherung. Nicht mit allen Ideen hatte Duttweiler Erfolg: Exemplarisch dafür steht das Scheitern der Kleider-Gilde, die er 1944 in Form einer Genossenschaft gegründet hatte und mit der er das Migros-Prinzip auf den Herrenmodehandel ausweiten wollte. Die Gilde vereinte 17 Detaillisten und sieben Fabrikanten, die gemeinsame Kollektionen entwarfen und zu besonders günstigen Konditionen anboten. Aufgrund verschiedener konzeptioneller Fehler und mangelnden Umsatzes löste sich die Kleider-Gilde nach fünf Jahren auf. Nicht über die Planungsphase hinaus kam die Expansion nach Spanien. Dort wurde am 14. April 1960 die Migros Ibérica gegründet, die mit unabhängigen Lebensmittelhändlern kooperieren sollte. Nach nur einem Jahr scheiterte das Projekt an den strengen Kreditrestriktionen der spanischen Banken. Kampf gegen internationale Konzerne und Willkür Im Januar 1947 nahm Duttweiler das Prozessieren wieder auf und verklagte Nestlé wegen unlauteren Wettbewerbs. Er warf dem Lebensmittelkonzern vor, den Inhalt der Kaffeeprodukte Nescoré und Nescafé falsch deklariert sowie heimlich den Frischmilch-Anteil von Kondensmilch reduziert zu haben. Ein Jahr später wurden die Verantwortlichen zu bedingten Gefängnisstrafen und Geldbussen verurteilt, während Nestlé die Deklarationen korrigieren musste. Im Frühjahr 1947 erfuhr Duttweiler von einem Informanten, dass das vom Basler Chemieunternehmen J. R. Geigy hergestellte Neocidpulver, das dem Roten Kreuz und der Schweizer Spende zur Bekämpfung einer Fleckfieber-Epidemie in Rumänien verkauft worden war, einen zu geringen Wirkstoffgehalt aufwies, um effektiv zu wirken. Daraufhin leitete das Volkswirtschaftsdepartement eine Untersuchung ein. Im November 1949 erlitt J. R. Geigy letztinstanzlich eine Niederlage und musste hohe Geldbussen sowie die Rückerstattung des widerrechtlich erzielten Gewinns hinnehmen. Im August 1947 startete Duttweiler einen neuen Angriff auf Unilever: Er warf den «Öltrust-Halunken» (wie er die Konzernleitung konsequent nannte) vor, ihren Einfluss bis in höchste Regierungsstellen auszuüben. Konkret behauptete er, dass Walter Gattiker, der Direktor der zum Unilever-Trust gehörenden Oel- und Fettwerke SAIS, trotz fehlender Qualifikation zum Oberst befördert worden sei; als Gegenleistung seien die Obersten Eugen Bircher und Renzo Lardelli mit Sitzen im SAIS-Verwaltungsrat belohnt worden. Im Mai 1949 kam es zu einem aufsehenerregenden Ehrverletzungsprozess vor dem Schwurgericht in Winterthur. Sekundiert von seinem Anwalt Walter Baechi, nutzte Duttweiler diese Plattform, um die Machenschaften von Unilever an die Öffentlichkeit zu zerren. Am 4. Juni, einen Monat vor der Ständeratswahl, wurde er wegen Verleumdung zu zehn Tagen Gefängnis auf Bewährung und einer Geldbusse von 10'000 Franken verurteilt. Im Brückenbauer schrieb er, dass sich der Kampf trotzdem gelohnt habe. Bereits 1929 hatte Duttweiler erkannt, dass der Benzinpreis im Vergleich zu den tatsächlichen Gestehungskosten viel zu hoch war. 25 Jahre später bot sich ihm die Gelegenheit, gegen das Kartell der Ölkonzerne vorzugehen, als er mit dem unabhängigen Erdölhändler Jean Arnet in Verhandlungen trat. Er stellte ihn sogleich als Direktor an und beauftragte ihn mit der Gründung der Mineralölgesellschaft Migrol, die ab März 1954 eine aggressive Preispolitik im Heizölhandel betrieb und die Konkurrenz zu Preissenkungen zwang. Im September eröffnete die Migrol in Genf ihre erste Tankstelle, der bald mehrere weitere folgten. Über den daraufhin ausbrechenden «Benzinkrieg», der bis zum Jahresende das Preisniveau um durchschnittlich 15 % senkte, berichteten sogar die New York Times und das Wall Street Journal. Mit der Rheinreederei AG verfügte Migrol über eine eigene Versorgungsroute nach Rotterdam und Antwerpen, weshalb Lieferboykotte zwecklos waren. Um auch bei der Verarbeitung des Rohöls unabhängig von den Konzernen zu sein, strebte Duttweiler eine unabhängige Raffinerie an. In Deutschland verhandelte er mit Wirtschaftsminister Ludwig Erhard und Finanzminister Franz Etzel sowie mit der Landesregierung Niedersachsens über den Bau der Erdölwerke Frisia in Emden. Mit Unterstützung der Girozentrale erfolgte die Finanzierung hauptsächlich durch Tausende von Kleinaktionären. Nach 14-monatiger Bauzeit nahm die Raffinerie am 25. August 1960 ihren Betrieb auf. Nur fünf Jahre später zog sich Migrol wegen fehlender Wirtschaftlichkeit aus dem Raffineriegeschäft zurück und verkaufte die Anteile an die Saarbergwerke. 1956 gründete Duttweiler das Büro gegen Amts- und Verbandswillkür, das Menschen helfen sollte, die «unter die Räder der Justiz oder der Verwaltung geraten waren». Mit dessen Leitung betraute er den Journalisten Werner Schmid, was bemerkenswert war, da dieser mit dem Migros-Gründer über zwei Jahrzehnte lang eine scharfe öffentliche Kontroverse geführt hatte. Beispielsweise hatte Schmid ihn in der 1937 erschienenen Schrift Duttweiler – durchleuchtet! als einen «Mann mit Herrschergelüsten» und einen «Napoleonide[n]» bezeichnet. Das von der Migros finanzierte Büro behandelte auf privater Basis Fälle, bei denen sämtliche Rechtsmittel erschöpft waren, oft mit Erfolg. Kulturförderung Im November 1943 rief Duttweiler in einem Brückenbauer-Artikel dazu auf, angesichts des «drohenden Friedensausbruches» vermehrt Sprachen zu lernen, um zur Völkerverständigung beizutragen. Dazu inspirieren liess er sich von einer Umfrage unter Genossenschaftsmitgliedern, die von der Migros die Organisation von Kursen aller Art wünschten. Ein Italienischlehrer bot ihm an, Migros-Angestellte zu unterrichten, doch Duttweiler hatte Grösseres vor. Nach Absprache mit der Migros erschien im März 1944 ein Inserat, das für Sprachkurse zu konkurrenzlos günstigen Preisen warb. Es meldeten sich über 1400 Interessierte, worauf rasch Organisationsstrukturen geschaffen werden mussten, um den unerwarteten Andrang zu bewältigen. Duttweiler begriff, dass Erwachsenenbildung in lockerer Atmosphäre stattfinden musste; Lehrer und Schüler sollten sich wie in einem Klub treffen und miteinander unterhalten können. Damit war auch der Name für das neue Angebot gefunden, Klubschule Migros. Sie bot neben Sprachkursen bald auch Kunst- und Kunstgewerbekurse an. Später bezeichnete Duttweiler die Klubschulen als «Plantagen des guten Willens», da sie jenes «Niemandsland beackerten, das die gewinnstrebige Wirtschaft zu wenig interessant» fand. Die Konsumgesellschaft der Nachkriegszeit, zu deren Entstehung Duttweiler selbst beigetragen hatte, begann ihm zunehmend fremd zu werden. Er befürchtete, die Menschen würden angesichts des neuen Wohlstands zu wenig für ihre kulturelle Bildung tun, was unweigerlich zu einer «Wohlstandsverblödung» führen würde. Ihm zufolge mussten wachsender materieller Macht stets noch grössere soziale und kulturelle Leistungen zur Seite gestellt werden. Daher betrachtete er es als seine Aufgabe, auch jenen «einfachen Leuten» den Zugang zur Kultur zu ermöglichen, die zuvor aus finanziellen oder sozialen Gründen davon ausgeschlossen waren. Auf seine Initiative hin fanden 1947 erstmals «Klubhauskonzerte» statt – Aufführungen klassischer Musik zu erschwinglichen Preisen und ohne Zwang zu teurer Garderobe, wofür die Migros weltbekannte Chöre, Orchester und Dirigenten engagierte. Später kamen Theateraufführungen, bildende Kunst, Ausstellungen und andere Kulturveranstaltungen hinzu. Bereits 1941 hatte die Migros begonnen, in regelmässigen Abständen Bücher an ihre Genossenschafter zu verschenken, wofür sie Restbestände literarischer Werke aufkaufte oder Eigenpublikationen (meist Sachbücher) mit hoher Auflagenzahl herausgab. Dadurch sollte es breiten Bevölkerungsschichten möglich gemacht werden, eine eigene Hausbibliothek aufzubauen. 1950 wandten sich die Gründer des Buchclubs Ex Libris an Duttweiler und baten ihn um Unterstützung. Die Migros beteiligte sich und übernahm Ex Libris sechs Jahre später ganz. Das Angebot bestand aus Lizenzausgaben der wichtigsten Verlage des deutschsprachigen Raums, ab 1952 waren auch Schallplatten mitsamt Plattenspielern im Angebot. Mitte der 1950er Jahre begann Duttweiler Kunstwerke zeitgenössischer Schweizer Künstler anzukaufen, die zunächst zur Dekoration der Migros-Büros dienten. Die über die Jahrzehnte gewachsene Sammlung bildete den Grundstock für das 1996 eröffnete Migros Museum für Gegenwartskunst. Sicherung des Lebenswerks und Tod Am 29. Dezember 1950 veröffentlichten Gottlieb und Adele Duttweiler 15 gemeinsam erarbeitete Thesen. Als eine Art ideelles Vermächtnis legten sie darin die geistigen Ziele und die moralischen Werte der Migros fest. Sie sind rechtlich nicht bindend, stellen aber Richtlinien dar, auf die sich Führungskräfte und Genossenschaftsräte jederzeit berufen können. Eine der wichtigsten Thesen lautete, dass der Mensch in den Mittelpunkt der Wirtschaft gestellt werden müsse. Zwei Tage zuvor hatte das Ehepaar die Gottlieb und Adele Duttweiler-Stiftung gegründet, die sich insbesondere nach dem Ableben ihrer Stifter dafür einsetzen soll, «dass die von uns bei der Gründung der Migros-Genossenschaften bezweckten Ziele von diesen erhalten und weiterverfolgt werden». Unter anderem soll sie «alle Bestrebungen unterstützen, die im Sinn und Geist der Stifter auf eine freie Entfaltung des Menschen in einer freiheitlichen, aber von sozialer Verantwortung getragenen demokratischen Wirtschaft ausgehen». Die Delegiertenversammlung des Migros-Genossenschafts-Bundes (MGB) beriet am 30. März 1957 die Neufassung der Statuten. Während neue Verwaltungsstrukturen für das stark wachsende Unternehmen unbestritten waren, sorgte Duttweilers Forderung, dass die Kultur eine gleichberechtigte Stellung neben der wirtschaftlichen Tätigkeit einnehmen müsse, für eine heftige Debatte. Er musste sich von zahlreichen Kritikern vorwerfen lassen, dass er zu selbstherrlich sei und in die Kompetenzen seiner Ressortchefs und Direktoren eingreife. Sogar seine Absetzung schien nicht ausgeschlossen. Schliesslich setzte sich Duttweiler mit 56 zu 35 Stimmen durch. Die Statuten verankerten die Vorstellungen des Ehepaars Duttweiler über die ideellen, sozialen, kulturellen und wirtschaftspolitischen Ziele sowie andere nichtgeschäftliche Verpflichtungen der Migros. Um die dafür notwendigen finanziellen Mittel dauerhaft zu sichern, gründeten der MGB und die angeschlossenen Genossenschaften das auf den 15 Thesen beruhende Migros-Kulturprozent. Dieser wird seither aus einem Prozent des Grosshandelsumsatzes des MGB und einem halben Prozent des Detailhandelsumsatzes der Genossenschaften gespeist. 1960 erarbeitete Duttweiler den Entwurf für ein Manifest, auf dessen Grundlage ein «Weltforum für den Kulturaustausch» geschaffen werden sollte. Künstler, Wissenschaftler, Geistliche und Wirtschaftsführer aus aller Welt sollten zusammengeführt werden, um in Zeiten des Kalten Kriegs realisierbare Vorschläge für die Lösung von Konflikten zu diskutieren und auf eine «Mobilisierung der moralischen Kräfte aller Nationen» hinzuarbeiten – mit dem Ziel, neben dem materiellen auch den geistigen und kulturellen Lebensstandard zu heben. Diese Idee eines «Forum Humanum» blieb unverwirklicht. Bereits 1946 hatten Gottlieb und Adele Duttweiler die Stiftung «Im Grüene» gegründet. Sie hatte zum Ziel, ein Institut ins Leben zu rufen, das wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiet des Genossenschaftswesens und der Warenverteilung betreiben könnte. Auch sollte sie Veranstaltungen, Kurse und Versammlungen fördern. Den Grundstein für das Institut, das im Park im Grüene in Rüschlikon entstand, legte Duttweiler am 17. Februar 1962. Am 18. März 1961 erlitt Duttweiler einen Herzinfarkt und verbrachte danach zweieinhalb Wochen im Krankenhaus. Einen Kuraufenthalt in Bad Nauheim brach er nach drei Wochen aus Langeweile ab. Trotz Mahnungen der Ärzte, sich zu schonen, absolvierte er bald wieder sein gewohntes Arbeitspensum. Auch als er im Januar 1962 an einer Lungenentzündung erkrankte, fehlte ihm die Geduld. Getrieben von der Arbeit, verlor er am 4. Juni wegen einer Hirnembolie das Bewusstsein; vier Tage später starb er im Alter von 73 Jahren. Die Abdankungsfeier fand am 13. Juni 1962 im Zürcher Fraumünster statt, an der unter anderem Friedrich Traugott Wahlen als Vertreter des Bundesrates teilnahm. Der Andrang war so gross, dass die Feier auch ins Grossmünster, in die Wasserkirche und in die Kirche St. Peter übertragen werden musste. Tausende weitere Menschen versammelten sich auf den Strassen davor, um die letzte Ehre zu erweisen. Zahlreiche Zeitungen – auch solche, die ihn zuvor jahrzehntelang attackiert hatten – veröffentlichten wohlwollende Nachrufe. Die Nachfolge an der Spitze des Migros-Genossenschafts-Bundes übernahm Duttweilers Neffe Rudolf Suter, ein Mann, der mit dem Betrieb vertraut und – besonders wichtig für den Verstorbenen – an Kultur interessiert war. Erinnerung, Rezeption und Nachwirkung Duttweiler war 1958 von der Gemeinde Capolago für seine Verdienste um den Erhalt der Monte-Generoso-Bahn zum Ehrenbürger ernannt worden. Er liegt auf dem Friedhof von Rüschlikon begraben, der sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Gottlieb Duttweiler Institut (GDI) befindet. Die nach ihm benannte erste Denkfabrik der Schweiz nahm am 1. September 1963 ihren Betrieb auf. Das GDI erforscht und diskutiert Konsum, Handel und Gesellschaft sowie aktuelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Themen. Seit 1970 verleiht es in unregelmässigen Abständen den Gottlieb-Duttweiler-Preis und ehrt damit Menschen, die sich durch hervorragende Leistungen zum Wohle der Allgemeinheit verdient machen. Am 8. Juni 1972 wurde zum zehnten Todestag die zwei Jahre zuvor erbaute Herdernbrücke in Zürich zu Ehren des Migros-Gründers in Duttweilerbrücke umbenannt. Ebenfalls an ihn erinnert eine Gedenktafel an seinem Geburtshaus. Anlässlich des 100. Geburtstags im Jahr 1988 blickten zahlreiche Schweizer Medien erneut auf Duttweilers Lebenswerk zurück und das Verkehrshaus der Schweiz in Luzern erhielt seinen Fiat Topolino, der inzwischen einen gewissen Kultstatus erreicht hatte, als Dauerleihgabe überreicht. 2003 gab Die Schweizerische Post zum 125. Geburtstag eine Sondermarke im Wert von einem Franken heraus. Die Stiftung Logistik Schweiz nahm Duttweiler 2019 in die Swiss Supply Chain Hall of Fame auf. 1962 realisierte Gaudenz Meili für das Schweizer Fernsehen den Dokumentarfilm Gottlieb Duttweiler. 1999 drehte Georges Gachot unter dem Titel Kultur für alle einen Film zum 50-Jahr-Jubiläum der Klubhauskonzerte, der sich mit der Duttweiler begründeten Kulturförderung über das Migros-Kulturprozent befasst. Im Jahr 2000 produzierte Bruno Moll den Dokumentarfilm Der Sozialkapitalist. Im Sommer 2007 kam der Film Dutti der Riese von Martin Witz in die Schweizer Kinos, der sich ausführlich mit dem Leben und Wirken Duttweilers beschäftigt. Adele Duttweiler-Bertschi überlebte ihren Ehemann um 28 Jahre. Als Präsidentin der Gottlieb und Adele Duttweiler-Stiftung wachte sie bis 1983 über die Einhaltung des Gedankenguts der Stifter. Der Landesring der Unabhängigen erreichte bei den Wahlen 1967 den Höhepunkt seiner Bedeutung mit einem Wähleranteil von 9,1 %, 16 Sitzen im Nationalrat und einem Sitz im Ständerat. In den 1970er Jahren setzte der schleichende Niedergang der Partei ein. Nach den Schweizer Parlamentswahlen 1999 zählte sie nur noch einen Vertreter im Nationalrat und löste sich im Dezember desselben Jahres auf. Die Tageszeitung Die Tat stellte 1978 ihr Erscheinen ein. Heute ist die Migros das grösste Detailhandelsunternehmen und die grösste private Arbeitgeberin der Schweiz. 2018 erzielte sie mit 106'000 Mitarbeitenden einen Umsatz von 28,5 Milliarden Franken (wovon 23,7 Milliarden auf Detailhandels- und Handelsunternehmen entfallen); das freiwillige Engagement im Rahmen des Migros-Kulturprozents betrug 120 Millionen Franken. Die mehr als 2,2 Millionen Genossenschafter sind in zehn regionalen Genossenschaften organisiert. Verkaufswagen betreibt die Migros seit 2007 keine mehr. Einschätzungen Auch wenn die Migros nicht mehr vollumfänglich den Idealen ihres Gründers folgt – es gibt zwar weiterhin keinen Alkohol und Tabak in Migros-Filialen, doch wird das selbst auferlegte Verbot durch die Läden des 2007 übernommenen Discounters Denner umgangen –, so stellt ihn das Unternehmen dennoch in den Mittelpunkt seiner Geschichte und trägt damit zur Legendenbildung bei. Dem Historiker Thomas Welskopp zufolge verkörpere Duttweiler exakt jenes «menschliche Mass», an dem die Migros weiterhin mit Nachdruck festhalte. In der Rückschau der Überlieferung wirke er geradezu als Inkarnation einer «charismatischen Unternehmerpersönlichkeit», wie sie Joseph Schumpeter um 1910 theoretisch zu greifen versucht hatte. Im Gegensatz zu Schumpeters Definition sei Duttweiler aber eine ausgesprochen öffentliche Persönlichkeit gewesen, die ihre gesellschaftliche Präsenz mit Inbrunst inszeniert habe. Seine sozialutopischen und sozialromantischen Vorstellungen seien gewiss authentisch gewesen. Er habe sich aber in die «ideologische Überschussproduktion» geworfen und die Idee des Sozialen Kapitals entwickelt, weil er im ökonomischen, gesellschaftlichen und sozialen Umfeld der Schweiz jener Zeit nur auf diese Weise seine kaufmännischen und unternehmerischen Neigungen ausleben konnte. Duttweiler habe als Idealist agiert, weil sein pragmatischer Geschäftssinn als solcher in der Gesellschaft keine Anerkennung fand, sondern Anfeindungen und Restriktionen ausgesetzt war. Gemäss dem Journalisten und Autor Karl Lüönd, der sich intensiv mit Duttweiler beschäftigt hat, komme keine Schilderung seiner Person ohne Widersprüche aus. Er vertritt die Meinung, Duttweiler sei wie viele grosse Persönlichkeiten schwer zu ertragen und anstrengend gewesen. Dennoch sei es ihm gelungen, die Leute um ihn mit seinem Lebens- und Arbeitsstil zu begeistern. Lüönd beschreibt ihn als «herausfordernd, aber ritterlich; rücksichtslos, aber mitfühlend; weitschweifig, aber hartnäckig; chaotisch, aber konzentriert; sackgrob, aber liebenswürdig; aggressiv, aber sensibel». Ebenso attestiert er ihm einen «unerschöpflichen Antrieb» und «vulkanische Arbeitskraft». Einerseits sei er bei den Finanzen vorsichtig und im Tagesgeschäft pingelig gewesen, andererseits in der Kommunikation visionär und abenteuerlustig mit einem spielerischen Einschlag. Viele seiner Ideen entstanden in spontanen Sitzungen mit seinen Mitarbeitern. Adele Duttweiler-Bertschi betonte ausdrücklich das Spielerische seines Charakters und sagte dazu: «Manchmal schaue ich zum Kinde herab, manchmal zum Mann der Tat empor.» Selbst Duttweilers Gegner kamen nicht darum herum, zumindest ein wenig Respekt vor seiner Leistung zu zeigen. So schrieb die Eidgenössische Preisbildungskommission (Vorgängerin der heutigen Kartellkommission) im Jahr 1934 über ihn: «Überall in der Wirtschaft spielt das persönliche Moment eine sehr grosse Rolle. […] Nirgends aber ist die Person des Leiters und Gründers so sehr Bestandteil der Betriebsdynamik wie bei der Migros A.G. Hier funktioniert dessen Persönlichkeit in besonders ausgeprägter Weise als Betriebsmotor. […] Die Erfolge der Migros beruhen, wie einmal gesagt worden ist, nicht nur auf ihrer betriebswirtschaftlichen Eigenart, sondern auch auf der handelsmessianischen Besessenheit ihres Leiters.» Literatur Film 1962: Gottlieb Duttweiler, Dokumentarfilm Schweizer Fernsehen DRS, Regie: Gaudenz Meili Weblinks Dokumentarfilm Dutti der Riese auf Vimeo Dokumentarfilm Der Sozialkapitalist von Bruno Moll, SRF Einzelnachweise Person (Zürich) Unternehmer (20. Jahrhundert) Unternehmer (Handel) Ständerat (Zürich) Nationalrat (Bern) Nationalrat (Zürich) Kantonsrat (Zürich, Person) Parteipräsident (Schweiz) LdU-Mitglied Journalist (Schweiz) Publizist Person (Genossenschaftswesen) Person (Migros) Schweizer Geboren 1888 Gestorben 1962 Mann
162256
https://de.wikipedia.org/wiki/Ernest%20Shackleton
Ernest Shackleton
Sir Ernest Henry Shackleton [] CVO, OBE, LL.D, OLH (* 15. Februar 1874 in Kilkea, County Kildare, Irland; † 5. Januar 1922 in Grytviken, Südgeorgien) war ein britischer Polarforscher irischer Abstammung und eine der herausragenden Persönlichkeiten des sogenannten „Goldenen Zeitalters der Antarktisforschung“. Er nahm an vier Antarktisexpeditionen teil, von denen er bei dreien als Expeditionsleiter tätig war. Seine ersten antarktischen Erfahrungen machte Shackleton als Dritter Offizier bei der von Robert Falcon Scott geleiteten Discovery-Expedition (1901–1904), von der er wegen einer von ihm bestrittenen Dienstuntauglichkeit vom Expeditionsleiter 1903 nach Hause geschickt wurde. Entschlossen, diesen Makel zu tilgen, kehrte Shackleton 1908 als Leiter der Nimrod-Expedition (1907–1909) in die Antarktis zurück. Im Januar 1909 stellte er zusammen mit drei Begleitern einen neuen Rekord in der größten Annäherung an einen der beiden geographischen Erdpole auf, bevor sie bei 88°23′S und noch 180 km vom Südpol entfernt umkehren mussten. Für diese Leistung wurde Shackleton von König Edward VII. zum Ritter geschlagen. Nachdem der Norweger Roald Amundsen 1911 den Südpol erreicht hatte, verlagerte Shackleton sein Augenmerk auf die Durchquerung des antarktischen Kontinents von Küste zu Küste über den geographischen Südpol hinweg. Doch auch mit dieser Forschungsreise, die als Endurance-Expedition (1914–1917) bekannt ist, scheiterte er. Das Expeditionsschiff sank 1915 im Weddell-Meer, nachdem es vom Packeis zerdrückt worden war. Durch eine abenteuerliche Rettungsaktion, für die Shackleton weitaus bekannter ist als für seine wissenschaftlichen Beiträge zur Antarktisforschung, konnte er alle Expeditionsteilnehmer vor dem Tod bewahren. 1921 führte ihn die Quest-Expedition (1921–1922) ein letztes Mal in antarktische Gewässer. Noch vor dem eigentlichen Beginn der Forschungsreise starb Shackleton in Grytviken auf Südgeorgien an einem Herzinfarkt und wurde auf Wunsch seiner Frau auch dort begraben. Abseits seiner Forschungsreisen war Shackletons Leben rastlos und unerfüllt. Auf der Suche nach Wegen, möglichst rasch zu Ruhm und Reichtum zu gelangen, scheiterte er mit zahlreichen Unternehmungen. Am Ende seines Lebens war Shackleton hoch verschuldet. Obwohl er im Nachruf durch die Presse als Held gefeiert wurde, geriet sein Name im Gegensatz zu dem seines Rivalen Scott bald darauf für lange Zeit in Vergessenheit. Erst zur Jahrtausendwende wurde Shackleton als vorbildliche Führungspersönlichkeit wiederentdeckt, die es in extremen Situationen vermochte, ihre Untergebenen zu außergewöhnlichen Leistungen zu motivieren. Herkunft Ernest Shackleton kam im Kilkea House, einem Anwesen in der Nähe der Ortschaft Athy, als zweites von zehn Kindern des Grundbesitzers Henry Shackleton (1847–1920) und dessen Frau Henrietta Letitia Sophia (geborene Gavan, 1845–1929) zur Welt. In engstem Zusammenhang mit seinem späteren Leben steht die Tatsache, dass die Challenger am Tag nach seiner Geburt als erstes Schiff mit zusätzlichem maschinellen Antrieb den südlichen Polarkreis überquerte. Shackletons väterliche Vorfahren, deren Linie sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, waren Quäker aus der nordenglischen Grafschaft Yorkshire, die bereits seit 1720 in Irland lebten. Zum englischen Seefahrer Martin Frobisher besteht ein entferntes Verwandtschaftsverhältnis. Shackletons einziger Bruder Francis (genannt Frank, 1876–1941) geriet 1907 in Verdacht, am Raub der irischen Kronjuwelen beteiligt gewesen zu sein. Der Leitspruch der Familie Shackleton, deren Name sich von demjenigem eines Weilers in der Nähe des Dorfes Heptonstall in Yorkshire ableitet, lautet „Fortitudine Vincimus“ (im Englischen: „by endurance we conquer“, im Deutschen: „Durch Ausdauer zum Sieg“). Das etwa seit dem Jahr 1600 existierende Familienwappen trägt drei goldene Spangen auf rotem Grund. Oftmals wurde versucht, Shackletons Eigenschaften und Charakterzüge von seiner Herkunft abzuleiten, doch nach Meinung seiner Biographen Margery und James Fisher ist dies unzutreffend oder bestenfalls eine verkürzte Darstellung. Frühe Lebensjahre Kindheit und Jugend (1874–1890) Im Zuge des Land War und des allgemeinen Niedergangs der Landwirtschaft in Irland Ende des 19. Jahrhunderts entschloss sich Shackletons Vater, eine neue berufliche Richtung einzuschlagen. 1880 zog die Familie nach Dublin, wo Henry Shackleton in den nächsten vier Jahren am Trinity College Medizin studierte. Im Dezember 1884 verließ die Familie Irland, und Shackletons Vater eröffnete eine Arztpraxis in Croydon unweit von London. Diese gab er bereits nach sechs Monaten auf, um sich schließlich erfolgreich in Sydenham als Arzt niederzulassen. Seit frühester Jugend war Ernest Shackleton ein begeisterter Leser. Zugang zu Literatur und Dichtung erhielt er durch seinen Vater. Besonders faszinierten ihn die Abenteuerromane des englischen Romanciers George Alfred Henty und von Jules Verne. Sein Lieblingsbuch soll Life with the Esquimaux des Polarforschers Charles Francis Hall gewesen sein. Über seine besondere Vorliebe für die Suche nach verborgenen Schätzen, seinen schon früh ausgeprägten Drang nach Unabhängigkeit und seine mitreißende Begeisterungsfähigkeit, die ihm auch als Erwachsener erhalten blieb, sind zahlreiche Anekdoten überliefert. Zu Beginn seiner schulischen Ausbildung wurde Shackleton von einer Hauslehrerin unterrichtet. Seit die Familie in Sydenham wohnte, besuchte er die Fir Lodge Preparatory School. Von seinen Mitschülern wurde der für sein Alter groß und kräftig gebaute Ernest als freundlich und wohlwollend beschrieben. Durch sein reizbares Temperament scheute er sich dennoch nicht, seine Fäuste zu gebrauchen, wenn jemand etwas Negatives über seine Herkunft oder seinen irischen Akzent sagte. Im Sommer 1887 wechselte Shackleton an das angesehene Dulwich College. Den vom Großmachtsanspruch des Empire geprägten Unterricht, zu dessen wichtigsten Bausteinen christlicher Militarismus und militärische Tugenden zählten, beschrieb Shackleton selbst als langweilig. . Er war nach Meinung seiner Lehrer kein besonders guter Schüler und , dennoch schloss er 1890 als Fünftbester von 30 Schülern seines Jahrgangs ab. Dienst bei der Handelsmarine (1890–1901) Shackletons Vater wollte eigentlich, dass er Medizin studiert. Schließlich gab er jedoch dem Wunsch seines Sohnes nach, in der Seefahrt sein Auskommen zu suchen. Da er eine Ausbildung auf der Britannia, dem Schulschiff der Royal Navy, finanziell nicht ermöglichen konnte, schickte er den 16-jährigen Ernest zur Handelsmarine. Shackleton heuerte im April 1890 in Liverpool als Seekadett auf der Hoghton Tower an, einem Rahsegler der North Western Shipping Company. In den folgenden vier Jahren erlernte er das Schifffahrtshandwerk von Grund auf, besuchte ferne Länder und hatte Umgang mit Menschen verschiedener Herkunft und Bildungsschichten. Gleich die erste Reise führte ihn mitten im Winter bei schweren Stürmen um Kap Hoorn nach Valparaíso und Iquique, wo das Schiff sechs Wochen lang gelöscht und neue Fracht an Bord genommen wurde. Dabei lernte Shackleton, wie man Fracht mit Hilfe von Booten unbeschädigt zwischen einem Schiff und der Küste hin und her transportiert – Techniken, die sich bei seinen späteren Expeditionsreisen als hilfreich erweisen sollten. Insgesamt nahm Shackleton an drei Seereisen auf der Hoghton Tower teil, bevor er im Juli 1894 an die Seefahrtschule in London ging und dort am 4. Oktober die Prüfung als Zweiter Offizier bestand. Durch Vermittlung eines Schulfreundes vom Dulwich College erhielt Shackleton im November 1894 den Posten des Dritten Offiziers auf dem Trampschiff Monmouthshire mit Kurs Ferner Osten. Eine zweite Reise auf demselben Schiff führte ihn nach China. Am 24. Januar 1895, als Shackleton im Indischen Ozean weilte, landete Carsten Egeberg Borchgrevink im Rahmen der Antarctic-Expedition am Cape Adare an und nahm für sich in Anspruch, als erster Mensch antarktisches Festland betreten zu haben. Der Zufall wollte es, dass Shackleton sich späteren Aussagen zufolge genau zu dieser Zeit entschloss, Polarforscher zu werden. Als er 1896 von seiner zweiten Reise auf der Monmouthshire zurückkehrte, legte er die Prüfung als Erster Offizier ab. Nach seiner Zeit als Zweiter Offizier auf der Flintshire, einem Dampfschiff der Welsh Shire Line, erhielt er 1898 schließlich in Singapur das Kapitänspatent. Als Angestellter der Union-Castle Line war Shackleton nachfolgend auf dem Linienschiff Tantallon Castle im Post- und Passagierverkehr zwischen Southampton und Kapstadt tätig. Ein Schiffskamerad beschrieb ihn als , eigenbrötlerisch, jedoch nicht abweisend, , eine Mischung aus Empfindsamkeit und Aggressivität und dennoch sympathisch. Bei Ausbruch des Buren-Krieges 1899 wurde Shackleton Dritter Offizier auf der Tintagel Castle für den Transport von Soldaten in die Kapkolonie. In Kapstadt kam es dabei zur Begegnung mit Rudyard Kipling, den er als namhaften Co-Autor für sein erstes eigenes Buch gewinnen wollte. Ähnlich wie sein späterer Rivale Robert Falcon Scott, der sich in der Routine der Royal Navy eingeengt fühlte, hatte auch Shackleton nicht das Gefühl, in der Handelsmarine seinen Ehrgeiz befriedigen zu können. Ein Kollege bei der Union-Castle Line erklärte später: Kurz nachdem er zum Fellow der Royal Geographical Society berufen wurde, begann Shackletons Karriere als Entdecker, nicht zu einem geringen Teil deshalb, weil er darin die Möglichkeit sah, reich und berühmt zu werden. Im März 1900 lernte er den Lieutenant der British Army Cedric Longstaff (1876–1950) kennen, dessen Vater Llewellyn Longstaff (1841–1918) einer der Sponsoren der Discovery-Expedition war. Shackleton nutzte seine Freundschaft zu Cedric, um sich bei dessen Vater um die Teilnahme an der Discovery-Expedition zu bewerben. Longstaff war so von Shackletons Eifer und Überzeugungskraft beeindruckt, dass er Sir Clements Markham, den Schirmherr der Expedition, anwies, ihn als Expeditionsteilnehmer zu akzeptieren. Am 17. Februar 1901 erhielt Shackleton den Posten des Dritten Offiziers auf dem Expeditionsschiff Discovery. Im Juni 1901 wurde er zum Sub-Lieutenant der Royal Naval Reserve (RNR) ernannt. Damit endete Shackletons Dienst bei der Handelsmarine. Teilnahme an der Discovery-Expedition (1901–1903) Die National Antarctic Expedition, wie die Discovery-Expedition offiziell bezeichnet wurde, ging auf die Initiative von Sir Clements Markham zurück, dem damaligen Präsidenten der Royal Geographical Society. Die Forschungsreise sollte mit dem Ziel durchgeführt werden, allgemeinwissenschaftliche und geographische Erkundungen in der Antarktis vorzunehmen. Geleitet wurde sie durch den Offizier der Royal Navy Robert Falcon Scott, der erst kurz zuvor zum Commander befördert worden war. Obwohl das Forschungsschiff Discovery nicht zur Royal Navy gehörte, verlangte Scott von der Schiffsmannschaft, den Offizieren und den wissenschaftlichen Expeditionsteilnehmern, sich der in der britischen Kriegsmarine üblichen Disziplin unterzuordnen. Shackleton akzeptierte dies, obwohl er seit Schulzeiten militärischen Drill verabscheute und stattdessen einen zwangloseren Führungsstil bevorzugte. Seine Aufgaben waren wie folgt umrissen: Nachdem die Discovery am 6. August 1901 von Cowes in See stach, erreichte sie nach Zwischenaufenthalten in Kapstadt und dem neuseeländischen Lyttelton im Januar 1902 den Rand des antarktischen Ross-Schelfeises. Nach Ankerung in einer kleinen Bucht nahm Shackleton am 4. Februar an einem Ballonaufstieg auf der Schelfeistafel teil und machte dabei die ersten Luftaufnahmen in der Antarktis. Nach Erreichen des Winterquartiers am McMurdo Sound unternahm er zusammen mit den Wissenschaftsoffizieren Edward Wilson und Hartley Ferrar die erste Schlittenexkursion zur Erkundung einer sicheren Route über das Schelfeis für den geplanten Marsch in Richtung Südpol. Außerdem fungierte er im Winter 1902, als die Discovery vom Packeis eingeschlossen wurde, als Herausgeber des Expeditionsmagazins The South Polar Times. Nach Meinung des Schiffstewards Clarence Hare (1880–1967) war Shackleton durch seine ungezwungene Art Für die Annahme, Shackleton sei bei der Führung der Männer in Konkurrenz zu Scott getreten, hat es jedoch nie stichhaltige Beweise gegeben. Scott wählte Shackleton, um mit ihm und Edward Wilson den Marsch nach Süden über das Ross-Schelfeis zu unternehmen. Der Südpol war dabei nicht das eigentliche Ziel, wenngleich es für Scott von großer Bedeutung war, eine möglichst hohe südliche Breite zu erreichen. Dass Scotts Wahl auf Shackleton fiel, zeugt einerseits vom großen Vertrauen, das der Expeditionsleiter seinem Dritten Offizier entgegenbrachte, andererseits hätte Scotts Entscheidung wegen der grundverschiedenen Charakterzüge beider Männer nicht schlechter ausfallen können. Erster Marsch nach Süden Der Marsch, den Scott später als bezeichnete, begann am 2. November 1902. Shackleton, Scott und Wilson erzielten einen neuen Südrekord, als sie am 30. Dezember 82°17′S erreichten und damit die Leistung Carsten Egeberg Borchgrevinks vom 16. Februar 1900 (78°50′S) überboten. Ihr Vorwärtskommen wurde durch ihre fehlende Erfahrung im Umgang mit den Schlittenhunden und durch den Umstand, dass zahlreiche Tiere an verdorbenem Futter erkrankten, erheblich behindert. Alle 22 Hunde starben während des Marsches. Auf dem Rückweg kam es möglicherweise zu Ereignissen, deren Auswirkungen auf das persönliche Verhältnis zwischen Shackleton und Scott noch heute kontrovers diskutiert werden. Unzweifelhaft ist, dass alle drei Männer zunächst an zeitweiliger Schneeblindheit, Erfrierungen und schließlich auch an Skorbut litten. Hiervon besonders betroffen war Shackleton, der zuletzt nicht mehr in der Lage war, beim Ziehen des Transportschlittens mitzuwirken. Nach Scotts späterer Schilderung musste Shackleton sogar über lange Strecken auf dem Schlitten transportiert werden. Shackleton widersprach dieser Darstellung und wurde hierbei durch die Tagebucheintragungen Edward Wilsons bestätigt. Am 4. Februar 1903 erreichten die drei Männer schließlich ihr Basislager auf der Hut-Point-Halbinsel. Nach einer Untersuchung Shackletons durch den Expeditionsarzt Reginald Koettlitz (1861–1916), die ohne eindeutigen Befund blieb, entschied Scott, Shackleton auf dem Schiff Morning, das als Entsatz für die Discovery seit Januar 1903 im McMurdo Sound vor Anker lag, nach Hause zu schicken. Scott schrieb: Möglicherweise war Scotts eigentliches Motiv einerseits sein Ärger über Shackletons Beliebtheit bei anderen Expeditionsteilnehmern, so dass er Shackletons zweifelhaften Gesundheitszustand als willkommene Gelegenheit sah, einen lästigen Rivalen loszuwerden. Andererseits schildert die Scott-Biografin Diana Preston, Shackleton habe sich mit seiner , der Disziplin widersetzt, die für Scott von großer Bedeutung gewesen war. Jahre später, als die bereits nicht mehr lebten, behauptete Scotts stellvertretender Expeditionsleiter Albert Armitage, Shackleton habe ihm anvertraut, dass es zwischen diesem und Scott auf dem Weg nach Süden zum handfesten Streit gekommen sei. Ferner habe laut Armitage Scott dem Expeditionsarzt gedroht: Für Armitages Behauptung finden sich jedoch keine weiteren Belege. Shackleton seinerseits verhielt sich loyal zu Scott, bis dieser ihn in dessen Buch The Voyage of the Discovery von 1905 mehrfach herablassend als bezeichnete. Beide Polarforscher behandelten sich zwar in der Öffentlichkeit mit Respekt und Höflichkeit, doch gemäß seinem Biographen Roland Huntford war Shackletons Haltung zu Scott seither geprägt von Verachtung und Abneigung. Sein verletzter Stolz habe danach verlangt, Rückkehr ins Zivilleben (1903–1907) Shackleton verließ die Antarktis an Bord der Morning am 2. März 1903. Zuvor hatte er noch vergeblich versucht, seinen Untergebenen Charles Reginald Ford (1880–1972) an seiner Stelle zur Heimkehr zu bewegen, um dessen Posten als Zahlmeister an Bord der Discovery übernehmen zu können. Nach einem kurzen Erholungsurlaub in Neuseeland fuhr er nach Zwischenaufenthalten in San Francisco und New York zurück nach England, wo er im Juni 1903 eintraf. Dort wurde seine Ankunft als erster Rückkehrer der Expedition bereits begierig erwartet. Die Admiralität bedurfte Informationen aus erster Hand, um weitere Vorkehrungen für die Rettung der auf der Ross-Insel vom Eis eingeschlossenen Männer zu treffen. Mit dem Einverständnis Markhams nahm Shackleton eine befristete Stelle für das Ausrüsten und Beladen des zweiten Rettungsschiffs, der Terra Nova, an, lehnte jedoch das Angebot ab, als Erster Offizier in die Antarktis zurückzukehren. Eine besondere Genugtuung war für ihn aber, dass ein Arzt der Admiralität ihn für diensttauglich erklärt hatte. Stattdessen half er bei der Ausstattung der argentinischen Korvette Uruguay zur Rettung der in Not geratenen Männer der Nordenskjöld-Expedition. Shackletons Versuch, eine dauerhafte Anstellung bei der Royal Navy zu erhalten, scheiterte trotz der Fürsprache Markhams und William Huggins, des Präsidenten der Royal Society. Im Herbst 1903 arbeitete Shackleton als Journalist und Mitherausgeber des 1898 vom Verleger Sir Arthur Pearson (1866–1921) gegründeten Royal Magazine, beendete diese ihn nicht ausfüllende Tätigkeit jedoch schon nach wenigen Wochen. Nach einer Vortragsreise zur Discovery-Expedition nach Dundee und Aberdeen wurde ihm mit Unterstützung seines Freundes Hugh Robert Mill (1861–1950) die seit kurzem vakante Stelle des Sekretärs und Schatzmeisters der Royal Scottish Geographical Society (RSGS) angeboten, die er am 14. Januar 1904 antrat. Durch die Heirat am 9. April desselben Jahres mit Emily Dorman (1868–1936), die er bereits seit 1897 kannte, stellte sich auch privates Glück ein. Im Februar 1905 kam Shackletons erster Sohn Raymond (1905–1960) zur Welt, und im Dezember 1906 wurde seine einzige Tochter Cecily (1906–1957) geboren. Im Februar 1906 ließ sich der in geschäftlichen Dingen völlig unerfahrene Shackleton auf ein dubioses Spekulationsgeschäft für den Transport russischer Truppen von Wladiwostok zur Ostsee ein, das jedoch nicht zustande kam. Darüber hinaus versuchte er erfolglos, bei den Unterhauswahlen 1906 als Kandidat der Liberalen Unionisten in Dundee in der Politik Fuß zu fassen. Schließlich machte ihn der Industrielle William Beardmore zum Sekretär einer Kommission, die sich mit der Konstruktion neuer Gasmotoren beschäftigte. Seine Aufgabe bestand darin, Beardmores Kunden zu umgarnen und seine Berufskollegen in London und Glasgow bei Laune zu halten. Trotz dieser finanziell gesicherten Anstellung machte Shackleton keinen Hehl aus seinem Ehrgeiz, als Leiter einer eigenen Expedition in die Antarktis zurückzukehren. Beardmore war bereit, ihn bei dieser Unternehmung mit einer Bürgschaft in Höhe von £ 7000 (inflationsbereinigt etwa .000 Euro) zu unterstützen. Weitere Investoren blieben allerdings vorerst aus. Dennoch wagte es Shackleton, im Februar 1907 seine Pläne der Royal Geographical Society zu präsentieren. Eine detaillierte Veröffentlichung folgte kurz danach im Geographical Journal. Nimrod-Expedition (1907–1909) Shackletons erste eigene Forschungsreise firmierte unter dem Namen British Antarctic Expedition. Aus wissenschaftlicher Sicht wurde sie zu seiner bedeutendsten Unternehmung. Nie zuvor wurde ein größeres Gebiet des bisher unbekannten antarktischen Festlands erschlossen. Fehlerhafte kartographische Vermessungen der Discovery-Expedition wurden dabei korrigiert. Shackletons leitender Biologe James Murray (1865–1914) führte die erste umfassende Studie zu den antarktischen Süßwasserprotozoen und niederen Mehrzellern durch. Von Beginn an hatte Shackleton mit großen Finanzierungsproblemen zu kämpfen, da zunächst weder die Royal Geographical Society noch die britische Regierung Geld zur Verfügung stellten. Er bemühte sich nach Kräften, neben Beardmore weitere Sponsoren aus seinem wohlhabenden Freundes- und Bekanntenkreis zu finden. Zu ihnen gehörte unter anderen der erst 20-jährige Sir Philip Brocklehurst, der sich seine Teilnahme an der Expedition durch eine Spende von £ 2000 (inflationsbereinigt etwa .000 Euro) erkaufte. Als hauptsächliche Ziele der Reise hatte Shackleton das Erreichen des geographischen und des antarktischen magnetischen Südpols ausgegeben. Wenige Wochen bevor das Expeditionsschiff Nimrod im August 1907 von Cowes zur Fahrt nach Neuseeland aufbrach, trotzte Robert Falcon Scott seinem ehemaligen Untergebenen das Versprechen ab, sich vom McMurdo Sound fernzuhalten, da Scott diese Region für sich als hoheitliches Operationsgebiet für eine weitere eigene Antarktisexpedition beanspruchte. Shackleton erklärte sich widerwillig bereit, sein Winterquartier entweder am Barrier Inlet oder auf der Edward-VII-Halbinsel zu suchen. Am Neujahrstag 1908 verließ die Nimrod den Hafen von Lyttelton. Um Kohle zu sparen, wurde das Schiff durch den Dampfer Koonya bis zum südlichen Polarkreis geschleppt. Shackleton hatte die Eignergesellschaft der Koonya und die neuseeländische Regierung dazu überreden können, die dafür anfallenden Kosten zu übernehmen. Am 23. Januar kam die Schelfeisbarriere in Sicht. Gemäß der Vereinbarung mit Scott steuerte die Nimrod den östlichen Abschnitt der Barriere an. Shackleton musste feststellen, dass sich das Barrier Inlet seit den Zeiten der Discovery-Expedition zu einer großen Bucht geweitet hatte, die wegen der dort gesichteten großen Anzahl an Walen Bay of Whales getauft wurde. Aufgrund der angetroffenen instabilen Eisverhältnisse in der Bucht schloss Shackleton die Errichtung des Winterquartiers auf der Schelfeistafel aus. Nachdem auch der Vorstoß zur Edward-VII-Halbinsel durch Treibeismassen verhindert wurde, entschied er sich, entgegen der Vereinbarung mit Scott nun doch zum McMurdo Sound zu fahren. Auch wenn nicht alle Expeditionsteilnehmer der gleichen Meinung waren, so entsprang diese Entscheidung, der späteren Darstellung des Zweiten Offiziers Arthur Harbord (1883–1962) folgend, Scott dagegen sah sich von Shackleton getäuscht und beschimpfte ihn als . Der McMurdo Sound wurde am 29. Januar 1908 erreicht, doch entgegen der eigentlichen Planung konnte die Nimrod wegen dichten Packeises nicht bis zur alten Basis der Discovery-Expedition auf der Hut-Point-Halbinsel vordringen. Stattdessen wurde das Winterquartier weiter nördlich am Cape Royds auf der Westseite der Ross-Insel errichtet. Trotz widriger Bedingungen war die Stimmung unter den Expeditionsteilnehmern sehr gut. Dies lag nicht zuletzt an Shackletons Umgang mit den Männern. Philip Brocklehurst offenbarte viele Jahre später, dass Shackleton die Fähigkeit besaß, Zweiter Marsch nach Süden , wie Frank Wild den „Angriff“ auf den Südpol bezeichnete, begann am 29. Oktober 1908. Am 9. Januar 1909 erreichten Shackleton, Wild, Jameson Adams und Eric Marshall nach einem mühsamen und gefahrvollen Marsch eine südliche Breite von 88°23′S und stellten damit einen neuen Rekord in der größten Annäherung an einen der beiden geographischen Erdpole auf. Der Südpol war nur noch 180 km von ihnen entfernt, doch schlechte Wetterverhältnisse, schwindende Vorräte, mangelhafte Ausrüstung und zunehmende Erschöpfung machten ein weiteres Vorwärtskommen unmöglich. Shackleton notierte enttäuscht: Auf dem Hinweg hatten die vier Männer als erste das Ross-Schelfeis in voller Länge durchquert, den Beardmore-Gletscher entdeckt und waren über diesen als erste auf das zentrale Polarplateau vorgedrungen. Der Rückweg zum McMurdo Sound, auf dem sie gezwungenermaßen größtenteils auf halbe Ration gesetzt waren, wurde zum Wettlauf gegen die Zeit und den Hunger. Am 30. Januar überließ Shackleton dem an Ruhr erkrankten Wild einen eigentlich ihm zugedachten Keks; eine Geste, zu der Wild bemerkte: Die vier Männer erreichten die Hut-Point-Halbinsel Anfang März 1909 gerade noch rechtzeitig, um von der Nimrod aufgenommen zu werden. Neben dem Südrekord zählte die erstmalige Gipfelbesteigung des Vulkans Mount Erebus zwischen dem 5. und 11. März 1908 zu den Erfolgen der Expedition. Darüber hinaus erreichten die Australier Edgeworth David und Douglas Mawson zusammen mit dem schottischen Arzt Alistair Mackay (1877–1914) am 16. Januar 1909 als erste den antarktischen magnetischen Pol bei 72°15′S, 155°16′O im nordöstlichen Viktorialand. Nach Beendigung der Expedition wurde Shackleton in Großbritannien als Held gefeiert. Die Erlebnisse während dieser Reise veröffentlichte er in dem Buch The Heart of the Antarctic. Seine Frau Emily berichtete später: Zeit nach der Nimrod-Expedition (1909–1914) Verehrung durch die Öffentlichkeit Nach seiner Rückkehr von der Nimrod-Expedition wurden Shackleton hohe Ehren zuteil. König Edward VII. ernannte ihn am 12. Juli 1909 zum Commander of the Royal Victorian Order und schlug ihn am 13. Dezember desselben Jahres zum Ritter (Knight Bachelor). Die Royal Geographical Society verlieh ihm die Polarmedaille in Gold, jedoch mit dem zuvor herabwürdigenden Hinweis an den Hersteller: Clements Markham hatte seinen Einfluss bei der Gelehrtengesellschaft geltend gemacht, um Shackleton für dessen gebrochenes Versprechen gegenüber seinem Protegé Scott abzustrafen. Weitere Expeditionsteilnehmer wurden mit einer silbernen Ausführung der Medaille geehrt. Auf besondere Empfehlung des Prince of Wales wurde Shackleton zum „Younger Brother“ der britischen Gesellschaft für Seefahrt und Meereskunde Trinity House ernannt. Auch im Kreis anderer Polarforscher wie Fridtjof Nansen und Roald Amundsen wurde seinen Errungenschaften Respekt und Anerkennung gezollt. Amundsen schrieb überschwänglich: Abseits der offiziellen Auszeichnungen wurden Shackletons Leistungen von der britischen Öffentlichkeit mit großer Begeisterung aufgenommen. Während des gesamten Sommers 1909 wurde er gefeiert und geehrt, um Vorträge gebeten, zum Essen, Abendgesellschaften und Empfängen eingeladen. Seine Popularität untermauerte er durch sein bescheidenes Auftreten, denn er war ständig bemüht, die Leistungen der anderen Teilnehmer seiner Expedition hervorzuheben. Verschiedene Einzelpersonen und Gruppen versuchten, ihn missbräuchlich als Sprachrohr für ihre Interessen zu vereinnahmen. Dies galt in gewisser Hinsicht auch für die irische Presse. Der in Dublin erscheinende Evening Telegraph titelte: , und auch der Dublin Express schrieb Shackletons Erfolge dessen irischem Erbe zu. Sehr viel nüchterner fiel dagegen die kaufmännische Bilanz seiner Expedition aus. Die Kosten der Reise betrugen £ 45.000 (inflationsbereinigt etwa  Mio. Euro), und Shackleton war nicht in der Lage, ausstehende Darlehen und Bürgschaften zurückzuzahlen. Die britische Regierung bewahrte ihn durch einen öffentlichen Zuschuss in Höhe von £ 20.000 (inflationsbereinigt etwa  Mio. Euro) vor dem unmittelbaren finanziellen Ruin. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass zudem ein Teil seiner Schulden zunächst gestundet und schließlich nicht mehr eingefordert wurde. Unternehmerische Tätigkeiten und neue Herausforderungen Ab 1910 unternahm Shackleton ausgedehnte Vortragsreisen, absolvierte öffentliche Auftritte und stellte seinen guten Ruf in den Dienst sozialer Projekte. Darüber hinaus versuchte er sich erneut als Geschäftsmann, indem er sich zum Beispiel an einer Tabakfirma und am Verkauf von Sammelbriefmarken mit dem Aufdruck „King Edward VII Land“ in Erinnerung an ein während der Nimrod-Expedition mit Hilfe der neuseeländischen Post im Winterquartier eingerichtetes Postamt beteiligte. Außerdem hoffte er auf Gewinne aus einer Beteiligungskonzession an einer Goldmine in Ungarn. Keine dieser Unternehmungen war ertragreich. Den Lebensunterhalt für seine Familie, die sich durch die Geburt seines zweiten Sohnes Edward im Juli 1911 vergrößerte, bestritt er hauptsächlich durch bezahlte Vorträge. Inzwischen wohnte er mit seiner Frau und den drei Kindern in Sheringham. Die Idee, eine weitere Expedition in die Antarktis zu leiten, hatte Shackleton in jener Zeit aus verschiedenen Gründen aufgegeben. Von unschätzbarem Wert für seinen alten Weggefährten Douglas Mawson war dagegen seine Unterstützung bei der Mittelbeschaffung für die Australisch-Ozeanische Antarktisexpedition (1911–1914). Die Wiederaufnahme seiner Forschertätigkeit hing vor allem von den Ergebnissen der Terra-Nova-Expedition (1910–1913) seines Kontrahenten Robert Falcon Scott ab. Dessen Expeditionsschiff war im Juli 1910 in Cardiff in See gestochen. Im Frühjahr 1912 erreichte die Welt die Nachricht, dass Roald Amundsen den Südpol erobert hatte. Scotts tragisches Schicksal war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt. Shackleton wandte sich einem Projekt zu, das ursprünglich der schottische Antarktisforscher William Speirs Bruce geplant hatte, mangels finanzieller Unterstützung jedoch wieder aufgab: Eine transkontinentale Antarktisdurchquerung von der Küste des Weddell-Meeres über den Südpol hinweg bis zum McMurdo Sound. Bruce zeigte sich erfreut darüber, dass Shackleton seine Pläne übernahm, die sich in zentralen Punkten mit der vom deutschen Forschungsreisenden Wilhelm Filchner im Mai 1911 gestarteten Expedition überschnitten. Im Dezember 1912 erhielt Shackleton die Nachricht, dass Filchner mit seiner Reise gescheitert war. Hierdurch war für ihn der Weg frei für die . Endurance-Expedition (1914–1917) Shackleton betitelte seinen neuerlichen Anlauf zum Südpol selbstbewusst mit Imperial Trans-Antarctic Expedition. Seine Absichten hatte er am 29. Dezember 1913 in einem Brief an die London Times offengelegt. Vorgesehen waren zwei getrennt voneinander vorgehende Mannschaften. Die erste (die sogenannte Weddell Sea Party) unter der Führung Shackletons sollte mit dem Expeditionsschiff Endurance durch das Weddell-Meer bis zur Vahsel-Bucht () am Rand des Filchner-Ronne-Schelfeises vordringen, von wo aus ein sechsköpfiges Team zur Durchquerung der Antarktis aufbrechen sollte. Die zweite unter der Leitung von Aeneas Mackintosh sollte mit einem weiteren Schiff, der Aurora, zum McMurdo Sound fahren. Der Auftrag dieser Mannschaft (der sogenannten Ross Sea Party) lautete, über die Länge des Ross-Schelfeises und möglichst bis zur Mündung des Beardmore-Gletschers Depots mit Nahrungsmitteln und Brennstoff anzulegen, die es den von der Vahsel-Bucht kommenden Männern ermöglichen sollte, die Durchquerung des antarktischen Kontinents über eine Gesamtstrecke von etwa 2800 km zu komplettieren. Anders als bei der Nimrod-Expedition fiel Shackleton das Anwerben von Sponsoren nun verhältnismäßig leicht. Der schottische Unternehmer James Caird (1837–1916) und weitere vermögende Geschäftsleute steuerten Beträge in fünfstelliger Höhe bei. Auch die britische Regierung beteiligte sich mit £ 10.000 (inflationsbereinigt etwa  Mio. Euro). Trotz der finanziellen Zuwendungen war auch diese Expedition erneut unterfinanziert, womit insbesondere Aeneas Mackintosh bei der Organisation der Ross Sea Party zu kämpfen hatte. Das öffentliche Interesse war enorm. Shackleton erhielt mehr als 5000 Bewerbungen für die Teilnahme an der Expedition. Seine Auswahlkriterien waren mitunter exzentrisch. Im Glauben, dass Charakter und Temperament wichtiger seien als technische Fähigkeiten, stellte er seinen Bewerbern häufig überraschende Fragen. Vom Physiker Reginald James (1891–1964) wollte er beispielsweise wissen, ob dieser singen könne. Bei anderen entschied er sich kurzentschlossen nach dem ersten Eindruck. Außerdem erwartete er von jedem Expeditionsteilnehmer unabhängig von dessen eigentlicher Aufgabe, auch niedere Arbeiten wie das Deckschrubben zu übernehmen. Am 3. August 1914 trat Großbritannien in den Ersten Weltkrieg ein. Shackleton stellte daraufhin sein Expeditionsschiff Endurance samt Ausrüstung und Mannschaft der britischen Admiralität zur Verfügung. Deren damaliger Erster Lord Winston Churchill gab jedoch die Order aus, die Vorbereitungen zur Expeditionsreise fortzusetzen. So lief die Endurance am 8. August mit Kurs Süd aus dem Hafen von Plymouth aus. Shackleton verließ England am 27. September, um in Buenos Aires zur Mannschaft zu stoßen. Untergang der Endurance Die Endurance fuhr am 5. Dezember 1914 von Südgeorgien wie geplant Richtung Süden in das Weddell-Meer. Früher als erwartet stieß man auf Treibeis, welches das weitere Vorwärtskommen behinderte. Am 19. Januar 1915 schließlich war die Endurance südöstlich zur Küste von Prinzregent-Luitpold-Land und in Sichtweite zur Filchner-Ronne-Schelfeistafel komplett von Meereis umschlossen. Der Zeitplan für das Erreichen der Vahsel-Bucht war nicht mehr einzuhalten. Shackleton entschied deshalb am 24. Februar, das Schiff für eine Überwinterung vorzubereiten. Während der folgenden Monate driftete die Endurance im Meereis gefangen langsam in nordwestliche Richtung. Als im September das Eis aufzubrechen begann, war der Schiffsrumpf den sich durch die Drift auftürmenden Eismassen ausgesetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Shackleton noch immer gehofft, das Schiff käme aus dem Eis frei, um wieder nach Osten in Richtung der Vahsel-Bucht fahren zu können. Am , wie Shackleton den 27. Oktober 1915 später bezeichnete, gab er das Schiff auf. Die Expeditionsteilnehmer verließen die Endurance mit Proviant und Ausrüstung und errichteten auf dem Eis ein Winterquartier (das sogenannte Camp Ocean). Am 21. November sank das vom Eis zerdrückte Schiff. Etwa zwei Monate lang kampierte die Mannschaft auf einer großen Eisscholle in der Hoffnung, durch die Eisdrift zur rund 400 km entfernten Paulet-Insel zu gelangen, auf der es ein von Otto Nordenskjöld hinterlassenes Lager gab. Nachdem mehrere Versuche, die Insel zu Fuß zu erreichen, gescheitert waren, ließ Shackleton im Vertrauen darauf, dass die Eisdrift sie zu sicherem Land bringen würde, auf einer anderen Eisscholle ein weiteres Quartier (das sogenannte Camp Patience) errichten. Am 17. März 1916 waren sie bis auf 97 km an die Pauletinsel herangekommen, doch sie konnten sie aufgrund unüberwindbarer Eismassen nicht erreichen. Am 9. April brach ihre Eisscholle auseinander. Shackleton entschied daraufhin, in den drei mitgeführten Rettungsbooten das nächstgelegene Land anzusteuern. Einmal mehr beeindruckte er dabei durch seine Selbstlosigkeit. Er überließ Frank Hurley seine Handschuhe, nachdem dessen eigene bei der Bootsfahrt verlorengegangen waren. Als Konsequenz litt Shackleton unter Erfrierungen an seinen Fingern. Nach fünf qualvollen Tagen erreichten die 28 völlig erschöpften Männer schließlich Elephant Island. Dies war das erste Mal nach 497 Tagen auf See und Meereis, dass sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Im Beiboot nach Südgeorgien Elephant Island war wenig einladend und lag abseits der bekannten Schiffsrouten. Folglich entschied Shackleton, eine Seereise über 800 Seemeilen (etwa 1500 km) im offenen Boot zu den Walfangstationen in Südgeorgien zu wagen, um Hilfe zu holen. Nach Beratungen mit seinem Stellvertreter Frank Wild wählte er das Rettungsboot James Caird, das vom Schiffszimmermann Harry McNish für die Fahrt vorbereitet wurde. Shackleton wurde von Kapitän Frank Worsley, Tom Crean, den Matrosen John Vincent (1879–1941) und Timothy McCarthy (1888–1917) sowie McNish begleitet. Letzterer hatte sich nach dem Untergang der Endurance zeitweilig den Befehlen Shackletons widersetzt. Obwohl Shackleton ihn hierfür später von der Auszeichnung mit der Polar-Medaille ausschloss, wollte er an dieser Stelle nicht auf die Fähigkeiten des eigenwilligen Schotten verzichten. Die Crew der James Caird nahm Verpflegung für maximal vier Wochen mit, da Shackleton davon ausging, in dieser Zeit entweder Südgeorgien zu erreichen oder zugrunde zu gehen. Am Ostermontag, dem 24. April 1916, stachen die sechs Männer in See. In den folgenden 15 Tagen segelten sie in ihrem kleinen Boot, das ständig Gefahr lief zu kentern, ostwärts durch den aufgepeitschten Südatlantik. Dank Worsleys Navigationskünsten kam die Küste Südgeorgiens am 8. Mai in Sicht, doch eine Anlandung wurde durch Sturm und starken Seegang zunächst verhindert. Schließlich erreichten sie die King Haakon Bay auf der menschenleeren Südseite der Insel. Nach einigen Tagen der Erholung entschied Shackleton, keinen weiteren Versuch zu wagen, im Boot zu den Walfangstationen im Norden zu gelangen. Stattdessen plante er, eine Querung Südgeorgiens auf einer Route zu riskieren, die nie zuvor begangen worden war. Ohne McNish, Vincent und McCarthy machte er sich mit Crean und Worsley vom Lagerplatz an der Cave Cove auf den Weg, um am 20. Mai 1916 nach 36 Stunden über das zentrale Gebirge die Walfangstation in Stromness zu erreichen. Der erste, der den Marsch von Shackleton, Worsley und Crean wiederholte, war im Oktober 1955 der britische Forscher Verner Duncan Carse (1913–2004). In Erinnerung an die Leistung der Erstbegeher schrieb er: Rettung der Männer auf Elephant Island Unmittelbar nach der eigenen Rettung sandte Shackleton ein Schiff aus, das McNish, Vincent und McCarthy in der King-Haakon-Bay aufnahm. Währenddessen bemühte er sich um die Organisation zur Rettung der auf Elephant Island gestrandeten Männer. Die ersten drei Anläufe wurden durch schwierige Eisverhältnisse vereitelt. Schließlich wandte er sich an die chilenische Regierung, die ihm den Schlepper Yelcho unter dem Kommando von Luis Pardo zur Verfügung stellte. Die Yelcho erreichte Elephant Island am 30. August 1916 und konnte alle 22 verbliebenen Expeditionsteilnehmer der Weddell Sea Party wohlbehalten an Bord nehmen. Das Schicksal der Ross Sea Party war weniger glücklich. Die Gruppe um Aeneas Mackintosh war am Cape Evans gestrandet, nachdem das Expeditionsschiff Aurora im Sturm vom Anker losgerissen wurde und abtrieb. Die an Bord verbliebene Mannschaft fuhr nach Neuseeland zurück, da eine Rückkehr zur Ross-Insel wegen einer beschädigten Ruderanlage und aufgrund des einsetzenden Winters nicht möglich war. Im Dezember 1916 ging Shackleton in Neuseeland an Bord, um sich an der Rettung der in der Antarktis verbliebenen Männer zu beteiligen. Trotz großer Entbehrungen hatte die Ross Sea Party ihre Aufgaben beim Anlegen der nun nicht mehr gebrauchten Depots erfüllt. Als die Aurora am 10. Januar 1917 Cape Evans erreichte, musste Shackleton erfahren, dass Mackintosh, Arnold Spencer-Smith und Victor Hayward (1888–1916) dabei ums Leben gekommen waren. Teilnahme am Ersten Weltkrieg und Nachkriegszeit (1917–1920) Shackleton kehrte nach Vorträgen über die Endurance-Expedition in Australien und den USA im Mai 1917 nach England zurück. Er litt zu diesem Zeitpunkt bereits an einer Herzschwäche, deren Ursache vermutlich eine körperliche Überanstrengung durch die Strapazen seiner Expeditionen war. Außerdem begann er, sich zunehmend zu betrinken. Mit inzwischen 43 Jahren war er eigentlich schon zu alt für den Militärdienst. Dennoch folgte er dem Beispiel seiner Kameraden auf der Endurance-Expedition und meldete sich als Kriegsfreiwilliger für den Fronteinsatz in Frankreich. Stattdessen reiste er zunächst im Oktober 1917 im diplomatischen Auftrag des damaligen britischen Informationsministers Edward Carson nach Buenos Aires, um die chilenische und argentinische Regierung zum Kriegseintritt ihrer Länder auf Seiten der Alliierten zu bewegen. Von dieser erfolglosen Mission kehrte er im April 1918 zurück. Im Auftrag der Northern Exploration Company begab er sich danach auf eine Reise zur Erkundung der Bergbaubedingungen auf Spitzbergen. Hinter dieser Scheinfirma verbarg sich das Kriegsministerium, das mit Shackletons Hilfe beabsichtigte, auf den staatenlosen, aber vom neutralen Norwegen beanspruchten Inseln eine Militärbasis zu errichten. Auf dem Weg dorthin erkrankte Shackleton in Tromsø, vermutlich an einem leichten Herzinfarkt. Jedenfalls zwang ihn die Erkrankung zur Rückkehr nach England, wo er im Juli 1918 in den temporären Rang eines Majors befördert und Ende August 1918 zu den britischen Interventionstruppen in Nordrussland geschickt wurde, die sich seit dem Juni 1918 auf Seiten der Weißen am Russischen Bürgerkrieg beteiligten. Er war verantwortlich für die Arktisausrüstung und den Materialtransport nach Murmansk. Mit dem Waffenstillstand von Compiègne endete der Erste Weltkrieg am 11. November 1918 de facto. Shackleton kehrte im März 1919 nach Hause zurück. Er plante eine Fortsetzung seiner Aktivitäten in Nordrussland, diesmal zur wirtschaftlichen Förderung der Region. Zu diesem Zweck begab er sich auf die Suche nach weiteren Investoren, doch alle Planungen kamen nach dem militärischen Sieg der Bolschewiki zum Erliegen. Shackleton begab sich daraufhin erneut auf Vortragsreisen, und im Dezember 1919 wurde sein Buch zur Endurance-Expedition mit dem Titel South veröffentlicht. Für seine militärischen Verdienste in Nordrussland wurde Shackleton als Officer des Order of the British Empire ausgezeichnet. Quest-Expedition und Tod (1920–1922) Siehe Hauptartikel: Quest-Expedition und deren Mannschaftsliste Im Laufe des Jahres 1920 begann Shackleton, zunehmend ermüdet von seiner Vortragstätigkeit, die Möglichkeiten zu einer dritten eigenen Expedition auszuloten. Er dachte ernsthaft über eine Unternehmung in die damals noch weitgehend unerforschte Beaufortsee nach und weckte hierfür auch das Interesse der kanadischen Regierung. Mit Geld, das ihm sein Schulfreund John Quiller Rowett (1874–1924) zur Verfügung stellte, kaufte er den norwegischen Robbenfänger Foca I, den er in Quest umbenannte. Aus Gründen, die er nicht öffentlich machte, änderte Shackleton seine Absicht, in die Arktis zu reisen, und plante stattdessen eine . Der genaue Zweck dieser Reise blieb verborgen. Shackleton nannte die Umrundung des antarktischen Kontinents und die Suche nach „verschollenen“ sub-antarktischen Inseln als Ziele. Rowett erklärte sich bereit, die gesamte Expedition zu finanzieren, die seither offiziell als Shackleton-Rowett Expedition bezeichnet wurde und England am 24. September 1921 verließ. Shackleton hatte einigen seiner früheren Begleiter der Nimrod- und Endurance-Expeditionen die versprochenen Prämien nicht ausbezahlt. Dennoch hielten viele von ihnen ihrem „Boss“, wie sie Shackleton nannten, die Treue und nahmen auch an dieser Reise teil. Als das Expeditionsschiff Rio de Janeiro erreichte, erlitt Shackleton vermutlich einen Herzinfarkt. Er verweigerte eine eingehende medizinische Untersuchung und Behandlung, so dass die Quest ihre Fahrt fortsetzte und am 4. Januar 1922 in den Hafen von Grytviken (Südgeorgien) einlief. In der Nacht rief Shackleton den Schiffsarzt Alexander Macklin (1889–1967) zu sich, weil er sich unwohl fühlte und an Rückenschmerzen litt. Nach Macklins eigener Darstellung habe er Shackleton gesagt, dieser sei überarbeitet und solle ein geregelteres Leben führen. Shackleton habe ihn gefragt: , woraufhin Macklin antwortete: Nur kurze Zeit später, etwa gegen 3:30 Uhr (nach anderer Überlieferung um 2:50 Uhr) am Morgen des 5. Januar 1922, erlitt Shackleton einen tödlichen Herzinfarkt. Macklin stellte bei der Autopsie des Leichnams als Todesursache eine Arteriosklerose in den Koronargefäßen fest, die sich durch Shackletons angegriffenen Allgemeinzustand verschlimmert habe. Leonard Hussey (1891–1964), wie Macklin ein Veteran der Endurance-Expedition, erklärte sich bereit, die Überführung des Leichnams nach Großbritannien zu begleiten. In Montevideo erreichte ihn die Nachricht von Shackletons Frau Emily, man möge ihren Mann in Südgeorgien bestatten. Hussey kehrte mit dem Sarg auf dem Dampfer Woodville nach Grytviken zurück, wo Shackleton am 5. März nach einer kurzen Andacht in der örtlichen lutherischen Kirche auf dem benachbarten Friedhof beigesetzt wurde. In Macklins Tagebuch findet sich am 4. Mai 1922 der Eintrag: Da die Quest Grytviken bereits verlassen hatte, war Hussey neben einigen norwegischen Seeleuten der einzige von Shackletons Gefährten, der der Zeremonie beiwohnte. Nachwirkungen Noch vor der Überführung von Shackletons Leichnam nach Südgeorgien wurde er in der Kirche zur Heiligen Dreifaltigkeit von Montevideo aufgebahrt und mit vollen militärischen Ehren verabschiedet. Zudem fand am 2. März 1922 im Beisein von König Georg V. und weiterer Angehöriger der Königsfamilie ein Gedenkgottesdienst in der St Paul’s Cathedral statt. Innerhalb des nächsten Jahres veröffentlichte sein Freund Hugh Robert Mill (1861–1950) die erste Biographie mit dem Titel The Life of Sir Ernest Shackleton. Erlöse aus dem Verkauf dieses Buches kamen Shackletons Familie zugute, denn er hinterließ Schulden in Höhe von etwa £ 40.000 (inflationsbereinigt etwa  Mio. Euro). Zudem wurde eine Gedenkstiftung ins Leben gerufen, um die Ausbildung seiner Kinder finanzieren zu können. In den folgenden Jahrzehnten wurde Shackletons Popularität durch diejenige seines Rivalen Captain Scott überstrahlt. Allein in Großbritannien wurden für diesen mehr als 30 Denkmäler, Statuen und sogar Kirchenfenster angefertigt. Erst 1932 enthüllte man auch für Shackleton ein von Edwin Lutyens entworfenes Denkmal an der Fassade des Gebäudes der Royal Geographical Society in Kensington, doch darüber hinaus gab es nur wenige andere öffentliche Gedenkveranstaltungen. Die Presse interessierte sich mehr für den auf tragische Weise während des Rückwegs vom Südpol zu Tode gekommenen Scott. Ein vierzigseitiges Heft im Rahmen der Serie Great Exploits (zu deutsch: Große Heldentaten) aus dem Verlag Oxford University Press von 1943 blieb bis weit in die 1950er Jahre hinein das einzig vorhandene Druckerzeugnis über Shackleton neben Mills Biographie. Im Jahr 1957 veröffentlichten Margery (1913–1992) und James Fisher (1912–1970) eine vielbeachtete Biographie unter dem Titel Shackleton, und im Jahre 1959 folgte Alfred Lansing (1921–1975) mit seinem Buch Endurance: Shackleton’s Incredible Voyage. Diese waren die ersten einer ganzen Reihe von Büchern, die Shackleton in einem überaus positiven Licht erscheinen ließen. Gleichzeitig veränderte sich allmählich die Sichtweise auf Scott, die in Roland Huntfords 1979 erschienenem Buch Scott and Amundsen in einer vernichtenden Abrechnung gipfelte. Diese negative Darstellung Scotts wurde allgemein akzeptiert, da der Heldentypus, wie ihn Scott verkörperte, dem veränderten kulturellen Werteverständnis des ausgehenden 20. Jahrhunderts zum Opfer fiel. Innerhalb weniger Jahre hatte Shackleton im öffentlichen Ansehen Scott überflügelt. So wurde Shackleton in der von der BBC produzierten Sendung 100 Greatest Britons (zu deutsch: Die 100 größten Briten) im Jahre 2002 auf Platz 11 gewählt. Scott landete dagegen nur auf Platz 54. Zu Beginn des neuen Jahrtausends wurden Shackletons Fähigkeiten, in einer vermeintlich ausweglosen Situation seine Untergebenen zu Höchstleistungen zu motivieren, auch von Managementratgebern entdeckt, die sich mit seinen Führungsqualitäten und der Übertragung auf den Berufsalltag auseinandersetzen (siehe Coaching). Bereits rund ein halbes Jahrhundert zuvor bezeichnete Jameson Adams, der stellvertretende Leiter der Nimrod-Expedition, Shackleton als den An Universitäten in Großbritannien und den USA wurden Shackletons Führungsmethoden zum Inhalt betriebswirtschaftlicher Seminare. Ferner gibt es inzwischen zahlreiche reformpädagogische Schulen (sogenannte Shackleton Schools) nach dem Vorbild des Outward Bound, in denen die Shackleton zugemessenen Charaktereigenschaften wie Standhaftigkeit, Verantwortungsbewusstsein und Kreativität im Rahmen eines erlebnispädagogischen Unterrichts vermittelt werden. Shackletons Traum von einer transkontinentalen Durchquerung der Antarktis erfüllte sich rund 40 Jahre später durch den Everestbezwinger Edmund Hillary und den englischen Polarforscher Vivian Fuchs bei der Commonwealth Trans-Antarctic Expedition (1955–1958). Ranulph Fiennes wiederholte dies im Rahmen der Transglobe Expedition (1980–1981). Beide Expeditionen fanden unter enormem technischen Aufwand statt. Im Jahr 1989/1990 durchquerten Reinhold Messner und Arved Fuchs die Antarktis erstmals im klassischen Stil, gefolgt von der ersten Solodurchquerung durch den Norweger Børge Ousland zum Jahreswechsel 1996/97. Arved Fuchs wiederholte im Jahr 2000 außerdem Shackletons Bootsfahrt von Elephant Island nach Südgeorgien in einem Nachbau der James Caird, allerdings unter Zuhilfenahme moderner Navigations- und Kommunikationstechnik. Ferner unternahm er bei derselben Expedition den Marsch von Shackleton, Worsley und Crean durch Südgeorgien. Zum Jahreswechsel 2008/2009 fand unter der Leitung von Henry Worsley (1960–2016), ein Nachkomme von Kapitän Frank Worsley, die Shackleton Centenary Expedition statt, bei der auf den Spuren der Nimrod-Expedition der historische Marsch Richtung Südpol wiederholt und die damals noch fehlenden 97 Meilen komplettiert wurden. Worsley starb am 24. Januar 2016 in einem Krankenhaus im chilenischen Punta Arenas an den Folgen einer Peritonitis, nachdem er wenige Tage zuvor seinen Versuch, die Antarktis allein und ohne zusätzliche Hilfe zu durchqueren, wegen Dehydrierung 48 km vor Erreichen des Ziels per Notruf und anschließender Bergung hatte abbrechen müssen. Am 20. November 1998 wurde am Scott Polar Research Institute (SPRI) der Universität Cambridge die Shackleton Memorial Library eröffnet, in der Originaldokumente zu Shackletons Forschungsreisen archiviert sind. Im kulturhistorischen Museum von Athy, unweit seines Geburtsortes, wird seit 2001 im Rahmen einer alljährlich im Herbst stattfindenden Veranstaltung an Ernest Shackleton und seine Verdienste um die Polarforschung erinnert. Bei Polarkreuzfahrten zur Antarktischen Halbinsel und nach Südgeorgien gehören Besuche von Point Wild auf Elephant Island und an Shackletons Grab inzwischen zum Pflichtprogramm. Der Erhalt der am Cape Royds während der Nimrod-Expedition errichteten Hütte, die in Neuseeland als internationales Kulturerbe angesehen wird, liegt in den Händen des New Zealand Antarctic Heritage Trust. Am 5. März 2022, dem 100. Jahrestag der Beerdigung Shackletons, entdeckte ein Team um den britischen Unterwasserarchäologen Mensun Bound (* 1953) das Wrack seines Expeditionsschiff Endurance (siehe dazu Endurance22). Shackletons Tod markiert den Endpunkt des sogenannten Goldenen Zeitalters der Antarktisforschung, einer Epoche von Entdeckungsreisen zur naturwissenschaftlichen und geographischen Erforschung des noch weitgehend unbekannten antarktischen Kontinents ohne moderne Hilfsmittel. Im Vorwort seines Buches The Worst Journey in the World hob der Polarforscher Apsley Cherry-Garrard die Bedeutung ihrer Hauptfiguren wie folgt heraus: Wissenswertes Auszeichnungen Für seine Verdienste um die Erforschung der Antarktis erhielt Shackleton zahlreiche Auszeichnungen und Ehrenmitgliedschaften im In- und Ausland. Am 28. Juni 1909 nahm er im Anschluss an die Nimrod-Expedition in der Royal Albert Hall die Polarmedaille in Gold aus den Händen des Prince of Wales entgegen und am 13. Dezember 1909 wurde er von König Edward VII. durch Ritterschlag als Knight Bachelor in den persönlichen Adelsstand erhoben. Darüber hinaus war Shackleton Träger folgender Orden: Lieutenant des Royal Victorian Order (Großbritannien, 1907) Commander des Royal Victorian Order (Großbritannien, 1909) Ritter des Nordstern-Orden (Schweden, 1909) Ritter des Dannebrog-Orden (Dänemark, 1909) Ritter des Sankt-Olav-Orden (Norwegen, 1909) Offizier der Ehrenlegion (Frankreich, 1909) Orden der Heiligen Anna, dritter Klasse (Russland, 1910) Ritter des Orden der Krone von Italien (Italien, 1910) Preußischer Kronenorden, dritter Klasse (Deutschland, 1911) Offizier des Orden al Mérito (Chile, 1916) Officer des Order of the British Empire, militärische Abteilung (Großbritannien, 1919) Am 9. Juli 1901 wurde Shackleton in den Bund der Freimaurer aufgenommen. Seine Loge war die Navy Lodge No. 2616 der Vereinigten Großloge von England. Im Juni 1914 verlieh ihm die Universität Glasgow die Ehrendoktorwürde (engl. honorary degree of LL.D.). Namensgeber für geographische und andere Objekte Robert Falcon Scott benannte ein vergletschertes Tal im Transantarktischen Gebirge, das den Umkehrpunkt des Marsches nach Süden während der Discovery-Expedition (1901–1904) darstellte, Shackleton Inlet. Der französische Polarforscher Jean-Baptiste Charcot benannte im Zuge der Fünften Französischen Antarktisexpedition (1908–1910) einen Berg an der Westküste der antarktischen Halbinsel als Mount Shackleton benannt. Denselben Namen tragen auch zwei Gipfel in British Columbia und Western Australia. Bei seiner australischen Antarktis-Expedition (1911–1914) benannte Douglas Mawson eine Eistafel im östlichen Teil der Antarktis Shackleton-Schelfeis. Eine besondere Ironie des Schicksals ist es, dass gemäß kartografischer Studien sowjetischer Wissenschaftler von 1956 der östlich gelegene Scott-Gletscher ein Teil des Shackleton-Schelfeises ist. Ferner trug einer von Mawsons Schlittenhunden den Namen „Shackleton“. Dieser verunglückte tödlich zusammen mit fünf weiteren Hunden und dem Polarforscher Belgrave Ninnis beim Sturz in eine Gletscherspalte am 14. Dezember 1912. Der Shackleton Bjerg in Ostgrönland wurde 1926 von James Wordie benannt, einem Teilnehmer an der Endurance-Expedition. Ein vom United States Antarctic Program (1939–1941) unter der Leitung von Richard E. Byrd im Königin-Maud-Gebirge entdeckter Gletscher trägt seither den Namen Shackleton-Gletscher. Dieser wird inzwischen anstelle des 50 km weiter westlich gelegenen Beardmore-Gletscher als Aufstiegsroute zum Polarplateau genutzt. Ein während der Commonwealth Trans-Antarctic Expedition 1956 entdecktes Gebirge südöstlich des Filchner-Ronne-Schelfeises trägt den Namen Shackleton Range. Seit 1961 ist Shackleton Namensgeber für die Shackleton-Küste am Südrand des Ross-Schelfeises, seit 1987 für die Shackleton Fracture Zone im Südlichen Ozean. Auf Südgeorgien tragen seit 1957 der Gebirgspass Shackleton Gap und seit 1991 das Shackleton Valley seinen Namen. Auch der Krater Shackleton am Südpol des Mondes und der Asteroid (289586) Shackleton sind nach ihm benannt. Shackleton ist ferner Namensgeber für den am Graphite Peak in der antarktischen Ross Dependency entdeckten Archosauriers Antarctanax shackletoni. Nach Shackleton wurde der von 1951 bis 1991 in den Diensten der Royal Air Force stehende Seeaufklärer Typ Avro 696 benannt. Eine vollständige Übersicht nach Shackleton benannter Orte und solcher, die mit ihm in Verbindung stehen, ist im Low-Lattitude Antarctic Gazetteer – Series 2 und auf der Webseite GeoNames.com zu finden. Shackleton in Lyrik und Prosa Der Gewaltmarsch über das südgeorgische Gebirge hinweg nach der körperlich und seelisch zermürbenden Fahrt im Rettungsboot im Rahmen der Endurance-Expedition inspirierten den amerikanisch-britischen Lyriker T. S. Eliot zu einer Strophe seines Gedichtes The Waste Land (zu deutsch: Das wüste Land): Anlass zu dieser Passage des Gedichts war die Erzählung von Shackleton, dass sowohl er als auch seine zwei Gefährten während des Gewaltmarsches über den verschneiten Bergrücken von Südgeorgien immer wieder das Gefühl gehabt hätten, von einem vierten Wesen begleitet zu werden. Der kanadische Autor John G. Geiger beschreibt dieses Phänomen angelehnt an Eliots Darstellung einer imaginären dritten Person als Third Man Factor, das auch andere, wie die Bergsteiger Frank Smythe und Reinhold Messner, in Extremsituationen erfahren haben. Der Roman The Woman Thou Gavest Me des britischen Autors Hall Caine (1853–1931) aus dem Jahr 1913 ist eine fiktive Biographie, die stark an die Lebensgeschichte Shackletons bis zur Nimrod-Expedition angelehnt ist. Caines Protagonist Martin Conrad organisiert nach der Teilnahme an einer Schiffsreise eine eigene Expedition in die Antarktis, um den Südpol zu erobern. Kurz nach Shackletons Tod im Jahre 1922 erschien der Roman Spinster of this Parish des britischen Autors W. B. Maxwell (1866–1938). Maxwell verneinte zwar mit diesem Buch jegliche Anspielung auf Shackleton. Die Charakterzüge seiner Hauptfigur, des Polarforschers Anthony Dyke, und diverse Kapitel dessen fiktiver Lebensgeschichte (z. B. die Durchquerung des antarktischen Kontinents und der Streit mit einem rivalisierenden Polarforscher) haben jedoch große Ähnlichkeit mit Shackleton. Begünstigt durch den Tod Shackletons wurde das Buch ein Erfolg. Allein 1922 erschien es in fünf Auflagen, gefolgt von einer Volksausgabe 1923 und weiteren Auflagen in den Folgejahren. Shackleton bewunderte die großen britischen Lyriker des 19. Jahrhunderts wie Alfred Tennyson, John Keats und insbesondere Robert Browning, aus deren Werken er bei öffentlichen Vorträgen gern rezitierte oder deren Verse sich in seinen Expeditionsberichten wiederfinden. Er selbst versuchte sich ebenfalls in der Dichtkunst. Beispiele hierfür sind die Gedichte Erebus und Aurora Australis, die er im Winterquartier der Nimrod-Expedition verfasste. Besonderheiten Wie andere Polarforscher auch, so erhielt Shackleton Spitznamen und verwendete Pseudonyme. Als Expeditionsleiter nannten ihn seine Untergebenen voller Respekt „The Boss“. Frank Wild und andere Freunde riefen ihn auch „Shackles“ oder „Shackle“. Weniger geläufig sind die Titel „Old Cautious“, der ihm während der Endurance-Expedition wegen seines vermeintlich übervorsichtigen Handelns verliehen wurde, und „Nemo“, den Shackleton selbst als Pseudonym in Anlehnung an die Hauptfigur des Romans 20.000 Meilen unter dem Meer von Jules Verne verwendete. Aus dem umfangreichen Briefverkehr mit seiner Frau Emily sind die Kosenamen „Emicky“, „Micky“, „Mikeberry“ und „Mikleham“ bekannt, deren Ursprung in Shackletons irischer Abstammung liegen. Shackleton ist der einzige Polarforscher, der zweimal einen Südrekord aufstellte (Discovery-Expedition, 30. Dezember 1902, gemeinsam mit Robert Falcon Scott und Edward Wilson: 82°17′S (nach neuerlichen Berechnungen eher 82°11′S) und Nimrod-Expedition, 9. Januar 1909, gemeinsam mit Frank Wild, Jameson Adams und Eric Marshall: 88°23′S). Im Juli 1909 wurde Shackleton die Ehre zuteil, als Wachsfigur bei Madame Tussauds ausgestellt zu werden. Für seine Vortragsreise durch Deutschland und Österreich im Anschluss an die Nimrod-Expedition ab Januar 1910 erlernte Shackleton eigens die deutsche Sprache. Ein Reporter schrieb hierzu: In der Zeit nach seiner Heirat bis zu seinem Tod zog Shackleton mit seiner Familie nicht weniger als sechsmal um. Mit Beginn seiner Anstellung bei der Royal Scottish Geographical Society (RSGS) wohnten sie in Edinburgh und zuletzt in einem Haus in Kensington. Das Haus Mainsail Haul in Sheringham, das sie im Jahre 1910 bezogen, war 1919 im Besitz des Komponisten Ralph Vaughan Williams, der die Musik zu dem Film Scotts letzte Fahrt (1948) schuf. Am 18. Juni 1912 wurde Shackleton als Experte für das Navigieren in polaren Gewässern von der Kommission zur Untersuchung des Untergangs der Titanic unter der Leitung von Rufus Isaacs und Robert Finlay angehört. Shackleton soll mehrere außereheliche Affären gehabt haben. Verbrieft ist eine zeitweilige Liebesbeziehung mit der US-amerikanischen Schauspielerin Rosalind Chetwynd (1879–1922). Shackleton hatte eine Neigung zum Aberglauben. So markierte die Zahl 9 wiederkehrend wichtige Etappen in seinem Leben. Am 9. April 1904 heiratete er seine Frau Emily, und am 9. Januar 1909 erreichte Shackleton seine höchste südliche Breite während der Nimrod-Expedition. Am 9. Juli 1913 war er Trauzeuge bei der Hochzeit seines Freundes Philip Brocklehurst. Eine silberne Ausführung der Zahl 9 war an Shackletons Kabinentür auf dem Expeditionsschiff Quest angebracht. Der neunarmige Stern wurde zu seinem persönlichen Emblem, das auch auf seinem Grabstein verewigt ist. Schließlich starb Emily Shackleton nach mehrmonatiger schwerer Krankheit am 9. Juni 1936. Shackletons Grab schmückte zunächst ein einfaches Holzkreuz, das 1928 durch eine Granitstele ersetzt wurde. Auf der Rückseite der Stele ist ein Vers aus Robert Brownings Gedicht The Statue and the Bust angebracht: (zu Deutsch: „Ich behaupte … ein Mann sollte um den Preis des Lebens nach dem Äußersten streben“). Der Erstbesteiger des Mount Everest, Sir Edmund Hillary, zählte Ernest Shackleton zu seinen Vorbildern. Shackleton wurde mehrfach in Fernsehfilmen und -serien dargestellt, beispielsweise von David Schofield im Film Shackleton (1982) oder von James Aubrey in der Folge Poles Apart der britischen TV-Serie Last Place on Earth (1985). Am bekanntesten ist sicherlich Kenneth Branagh im preisgekrönten, von Charles Sturridge inszenierten, Mehrteiler Ernest Shackleton (Shackleton, 2002). Unter dem Projektnamen Eureka veröffentlichte der Hamburger Multiinstrumentalist Frank Bossert 2009 das Konzeptalbum Shackleton’s Voyage, das eine musikalische Reminiszenz an die Endurance-Expedition darstellt. Vier Jahre nach dem Fund der bei der Nimrod-Expedition auf der Ross-Insel errichteten Hütte bargen 2010 Mitarbeiter des New Zealand Antarctic Heritage Trust fünf Kisten mit Whisky und Cognac, die seit 1909 unter dieser verschüttet waren. Eine Flasche des sogenannten Shackleton-Whisky zum Sammlerwert von ca. 200.000 US-Dollar wurde in einer Episode der US-Fernsehserie White Collar als Fälschungsobjekt benutzt. 2014 veröffentlichte der britische Illustrator William Grill unter dem Titel Shackleton's Journey sein erstes Kinderbuch, eine preisgekrönte Abhandlung über die Endurance-Expedition. Anlässlich der deutschen Ausgabe im Folgejahr urteilte Freddy Langer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, es gleiche „einer Fleißarbeit aus dem Archiv“, Grill hake die Expeditionsgeschichte „Punkt für Punkt ab, als folge er stur dem Logbuch“. Zitate von und über Shackleton Zitierte Literatur Shackleton-Biografien Zeitgenössische ergänzende Werke Manuskriptsammlung des Scott Polar Research Institute (Akronym: SPRI MS), Universität Cambridge. Neuzeitliche ergänzende Werke Weblinks James Caird Society, umfassende Webseite über Leben und Wirken von Ernest Shackleton (in Englisch) Marfa Heimbach: 5. Januar 1922 – Polarforscher Ernest Henry Shackleton stirbt WDR ZeitZeichen vom 5. Januar 2022. (Podcast) Anmerkungen Einzelnachweise Polarforscher (Antarktis) Entdecker (20. Jahrhundert) Mitglied der Royal Geographical Society Sub-Lieutenant (Royal Navy) Major (British Army) Commander des Royal Victorian Order Officer des Order of the British Empire Träger des Nordstern-Ordens Ritter des Dannebrogordens Träger des Sankt-Olav-Ordens Träger des Ordens der Heiligen Anna Träger des Preußischen Königlichen Kronenordens (Ausprägung unbekannt) Träger des Ordens der Krone von Italien (Ausprägung unbekannt) Mitglied der Ehrenlegion (Offizier) Freimaurer (20. Jahrhundert) Freimaurer (Vereinigtes Königreich) Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Knight Bachelor Brite Ire Geboren 1874 Gestorben 1922 Mann
163050
https://de.wikipedia.org/wiki/Mehlschwalbe
Mehlschwalbe
Die Mehlschwalbe (Delichon urbicum, Syn.: Delichon urbica), auch Stadtschwalbe und Kirchschwalbe genannt, ist eine Vogelart aus der Familie der Schwalben (Hirundinidae). Sie ist neben Ufer-, Rauch- und Felsenschwalbe die vierte Art dieser Familie, die in Mitteleuropa als Brutvogel vorkommt. Sie ist besonders gut durch den weißen Bürzel zu identifizieren, den keine andere europäische Schwalbenart zeigt. Das Verbreitungsgebiet der Mehlschwalbe erstreckt sich über fast ganz Europa und das außertropische Asien. Trotz dieses großen Verbreitungsgebietes werden lediglich zwei Unterarten unterschieden. Mehlschwalben sind ausgeprägte Zugvögel. Die westeurasischen Brutvögel überwintern in der Regel in Afrika in einem Gebiet, das sich von der Südgrenze der Sahara bis zur Kapprovinz erstreckt. Die ostasiatischen Brutvögel halten sich während des Winterhalbjahres in einem Gebiet auf, das vom Süden Chinas über Indonesien bis nach Assam reicht. Beschreibung Erscheinungsbild Die Mehlschwalbe hat eine Körperlänge von etwa 13 Zentimeter und wiegt zwischen 16 und 25 Gramm. Sie ist damit kleiner und schlanker als ein Sperling und zählt innerhalb der Familie der Schwalben zu den mittelgroßen Vögeln. Bei adulten Mehlschwalben sind der Kopf, der Rücken, die Oberseite der Flügel und der Schwanz blauschwarz. Die gesamte Körperunterseite und der Bürzel kontrastieren dazu mit einer reinweißen bis mehlweißen Färbung. Auch die kurzen Beine und die Füße sind weiß befiedert. Die Zehen und die wenigen unbefiederten Stellen der Beine sind hell fleischfarben. Verglichen mit der Rauchschwalbe ist der Schwanz weniger stark gegabelt; es fehlen stark verlängerte äußere Federn. Die Augen sind braun; der Schnabel ist kurz und schwarz. Ein Geschlechtsdimorphismus existiert nicht. Gelegentlich treten unter Mehlschwalben auch Weißlinge auf, deren Gefieder entweder vollständig weiß ist oder bei denen die weißen Partien deutlich ausgedehnter sind als bei normal gefärbten Mehlschwalben. In der Literatur sind unter anderem Individuen beschrieben, bei denen nur der Kopf normal gefärbt und der Rest des Körpers weiß befiedert war oder bei denen rechts nur Flügelbug, Flügeldecke und Handschwingen reinweiß waren. Jungvögel unterscheiden sich von adulten Vögeln durch eine bräunliche bis bräunlich-schwarze Körperoberseite, die erst an einigen Stellen bläulich-schwarz glänzt. Die Flügel sind gleichfalls bräunlich gefärbt und noch glanzlos. Die Kehle sowie die Flanken sind grau befiedert. Das auffälligste Unterscheidungsmerkmal ist der graue Bürzel (bei den Adulten reinweiß). Er wirkt gesprenkelt, da seine dunkelbraunen Federn weiße Spitzen aufweisen. Das Dunenkleid frisch geschlüpfter Mehlschwalben ist gräulich-weiß gefärbt. Durch die Pelzdunen haben ältere Nestlinge ein weißwolliges Aussehen. Flugbild und Fluggeschwindigkeit Der Flug der Mehlschwalbe ist verglichen mit dem der Rauchschwalbe weniger reißend, sondern eher flatternd und von längeren Gleitphasen unterbrochen. Charakteristisch für ihren Jagdflug ist ein häufiges, abruptes Hochsteigen mit schwirrenden Flügelschlägen. Die Flügelschlagfrequenz beträgt bei der Mehlschwalbe im Durchschnitt 5,3 Schläge pro Sekunde, während sie bei der Rauchschwalbe mit 4,4 Schlägen pro Sekunde etwas langsamer ist. Grundsätzlich jagt die Mehlschwalbe in höheren Luftschichten als die Rauchschwalbe. Auch wenn sie gelegentlich pflügenden Traktoren oder Weidevieh nachfliegt, um aufgescheuchte Insekten zu fangen, so beträgt ihre Jagdflughöhe im Brutgebiet durchschnittlich 21 Meter, in ihren Überwinterungsgebieten sogar 50 Meter über dem Boden. Rauchschwalben dagegen erjagen den größten Teil ihrer Beute in einer Flughöhe von sieben bis acht Metern. Von Greifvögeln verfolgte Mehlschwalben erreichen eine Geschwindigkeit bis zu 74 Kilometer pro Stunde. Ziehende Mehlschwalben fliegen mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 43 Kilometern pro Stunde. Die Strecke zwischen dem Brutplatz und ihren Jagdrevieren legen sie mit durchschnittlich 38 Kilometern pro Stunde zurück. Unterscheidung von anderen Vogelarten Aufgrund der charakteristischen Körperform und der Flugweise ordnen auch ornithologisch weniger Geübte Mehlschwalben den Schwalben zu. Im mitteleuropäischen Brutgebiet überlappt sich die Verbreitung der Mehlschwalbe mit drei anderen Schwalbenarten, von denen sie aber gut unterscheidbar ist: Die Uferschwalbe als kleinste europäische Schwalbe besitzt eine einfarbig mittelbraune Oberseite, ein braunes Brustband sowie einen nur schwach gegabelten Schwanz. Die Rauchschwalbe hat eine metallisch glänzende blauschwarze Körperoberseite, weist aber anders als die Mehlschwalbe stark verlängerte äußere Schwanzfedern, ein blauschwarzes Kropfband und eine kastanienrote Kehle und Stirn auf. Die in Mitteleuropa deutlich seltener zu beobachtende Felsenschwalbe ist größer als die Mehlschwalbe und hat ähnlich wie die Uferschwalbe eine braune Oberseite. Ihr Schwanz ist gerade abgeschnitten und am unteren Ende der Schwanzfedern finden sich wie bei der Rauchschwalbe weiße Felder. Als Brutvogel kommt die Felsenschwalbe regelmäßig am Alpennordrand vor. Im afrikanischen Überwinterungsgebiet besteht eine Verwechslungsmöglichkeit von nicht voll ausgefärbten Jungvögeln der Mehlschwalbe mit der Graubürzelschwalbe (Pseudhirundo griseopyga), einer auf Afrika beschränkten Schwalbenart. Bei dieser Art ist jedoch die Unterseite deutlich grauer gefärbt und der Schwanz ist länger und tiefer gegabelt. Stimme Mehlschwalben sind sehr ruffreudige Vögel. Am häufigsten zu hören ist ein leises, schwatzendes Zwitschern oder Leiern, das nicht so abwechslungsreich und melodiös wie das der Rauchschwalbe ist. Im Flug und beim Anflug ans Nest ist regelmäßig ein tritri oder driddrli zu hören. Der Kontaktlaut ist ein hartes trieer, gelegentlich lautmalerisch auch als chirrp umschrieben. Dieser Ruf ist auch im Überwinterungsgebiet zu hören. Der Alarmruf ist ein schrilles tsier oder tseep. Auffallend sind die Bettellaute, die die jungen Mehlschwalben ab einem Alter von zwei bis vier Tagen von sich geben. Junge Nestlinge lassen zunächst ein einsilbiges tik tik tik hören; bei älteren Nestlingen ändert sich dies zu einem zittritvitvii. Ab einem Alter von etwa zwei Wochen sind die Bettellaute der Nestlinge auch während der Nacht zu hören. Verbreitung Das Verbreitungsgebiet der beiden Unterarten der Mehlschwalbe erstreckt sich über Eurasien und Afrika. Es wird auf insgesamt 10 Millionen Quadratkilometer geschätzt. Die unter anderem in Mitteleuropa brütende Nominatform Delichon urbicum urbicum hat ein Verbreitungsgebiet, dessen Nordgrenze in Skandinavien etwa beim 71. nördlichen Breitengrad und in Westsibirien beim 62. Breitengrad liegt. Die östliche Verbreitungsgrenze verläuft durch die Mongolei und entlang des Flusses Jenissei. In südlicher Richtung erstreckt sich das Verbreitungsgebiet bis zum Mittelmeergebiet und Südosteuropa. Die Nominatform kommt unter anderem auf den Balearen, Malta, Korsika, Sardinien, Sizilien sowie Zypern vor. Brutgebiete finden sich auch im nordwestlichen Afrika von Marokko bis ins nördliche Algerien. Vereinzelt finden sich auch brütende Mehlschwalben in Tunesien, Libyen, Israel, im Gebiet der Sahara sowie in Südafrika und Namibia. Weiter östlich erstreckt sich das Verbreitungsgebiet bis zur Krim, dem Kaukasus und verläuft bis in den Norden Afghanistans. Vorgeschobene Brutgebiete finden sich außerdem im Pamirgebiet, im Norden von Kaschmir, in Ladakh und im Norden von Punjab. Die Überwinterungsgebiete der Nominatform liegen für die östlichen Populationen in Nordostindien. In Afrika erstreckt sich das Überwinterungsgebiet vom Süden der Sahara bis zur Kapprovinz. Die Unterart Delichon urbicum lagopodum brütet vom westsibirischen Tiefland bis zum mittelsibirischen Bergland und der Region der Flüsse Lena und Jana, dem Delta des Flusses Kolyma und der Tschuktschen-Halbinsel. Das Verbreitungsgebiet erreicht in Ostsibirien seine nördliche Grenze beim 69. Breitengrad. In südlicher Richtung erstreckt sich das Verbreitungsgebiet bis zum Altai, der nördlichen Mongolei und Nordostchina. Die Unterart überwintert im Süden Chinas und in Südostasien. Überwinternde Mehlschwalben dieser Unterart sind unter anderem im Gebiet Indochinas und in Assam anzutreffen. Lebensraum Bei Mehlschwalben handelt es sich ursprünglich um Brutvögel, die an senkrechten Felswänden brüten. Brutkolonien an solchen natürlichen Stellen gibt es bis heute. In Tibet ist die Mehlschwalbe sogar ein ausgesprochener Gebirgsvogel, der Fels-, Erd- und Lösswände noch bis in eine Höhe von 4.600 Metern nutzt, um dort seine Nester anzulegen. Im europäischen Verbreitungsgebiet ist die Art dagegen überwiegend ein Kulturfolger, der die offene und besiedelte Kulturlandschaft als Lebensraum nutzt. Auch im europäischen Verbreitungsgebiet siedeln Mehlschwalben noch in großer Höhe. In Österreich ist eine Kolonie von Mehlschwalben am Großglockner in einer Höhe von 2450 Metern belegt; in der Schweiz brüteten Mehlschwalben am Furkapass in einer Höhe von 2431 Metern. In Spanien erreicht die Höhenverbreitung 2600 Meter. Mehlschwalben sind auf freie Flächen mit niedriger Vegetation angewiesen. Dies ermöglicht ihnen die Jagd auf Luftplankton auch dann, wenn dieses wegen regnerischen oder stürmischen Wetters niedrig fliegt. Die Nähe von größeren Gewässern ist gleichfalls notwendig, um geeignetes Nistmaterial zu finden. In der Literatur gibt es unterschiedliche Angaben, wie ausgeprägt das Kulturfolgeverhalten der Mehlschwalbe insbesondere im Vergleich zur Rauchschwalbe ist. Hohe Luftverschmutzung kann dafür verantwortlich sein, dass Mehlschwalben in einigen Regionen Städte meiden. Nachdem in Großbritannien nach der Verabschiedung und Umsetzung des Clean Air Act of 1956 (Gesetz zur Luftreinheit) die Luftverschmutzung in britischen Städten zurückgegangen war, siedelten sich Mehlschwalben selbst in Städten wie London wieder im Stadtkern an. In den Überwinterungsgebieten nutzt die Mehlschwalbe gleichfalls offene Landschaften. Die Mehlschwalbe ist dort jedoch weniger auffällig als die im gleichen Raum überwinternden Rauchschwalben. Sie fliegt höher und besitzt eine stärker nomadische Lebensweise. In den tropischen Regionen des Überwinterungsgebietes wie etwa in Ostafrika und Thailand halten sich Mehlschwalben grundsätzlich eher in Höhenlagen auf. Zugverhalten und Ortstreue Mehlschwalben sind Langstreckenzieher, die in einer breiten Front den Mittelmeerraum und die Sahara überqueren. Der Höhepunkt des Zugbeginns in West- und Mitteleuropa liegt zwischen Ende August und Anfang Oktober, im südlichen Brutgebiet setzt er etwas später ein. Die Rückkehr in die Brutgebiete erfolgt im April und Mai, wobei es starke regionale Unterschiede gibt. Für Luxemburg wurde als durchschnittliches Ankunftsdatum der 13. April ermittelt, in Estland fällt es auf den 19. Mai. In der Regel treffen Mehlschwalben dabei rund 10 Tage nach den Rauchschwalben ein. Mehlschwalben ziehen grundsätzlich während des Tages. Einige Vögel scheinen jedoch auch während der Nacht weiterzuziehen. Den Herbstzug in ihre afrikanischen Winterquartiere treten Mehlschwalben in Deutschland etwa ab Ende August/Anfang September an. Zunächst sammeln sie sich bis Ende September im Süden Deutschlands. Wie für viele Langstreckenzieher charakteristisch, finden sich Mehlschwalben als Irrgäste immer wieder in Regionen ein, die nicht zu ihrem normalen Verbreitungsgebiet gehören. So wurden sie bereits in Nepal, Alaska und Neufundland, auf Grönland, Island, den Bermudas, den Malediven und den Azoren beobachtet. Zu den Charakteristika der Mehlschwalbe gehört eine hohe Treue zu ihrem Geburtsort. Von in 60 oberschwäbischen Ortschaften ausgeflogenen 4700 Nestlingen kehrten im Folgejahr rund 450 als Brutvogel in ihren Geburtsort zurück. Die Differenz zwischen ausfliegenden Nestlingen und Rückkehrern ist dabei überwiegend auf Verluste während des Zuges zurückzuführen. Untersuchungen legen nahe, dass sich männliche Mehlschwalben nach der Rückkehr in den Norden im Durchschnitt knapp 1,5 Kilometer entfernt von ihrem Herkunftsnest ansiedeln. Weibchen sind dagegen etwas wanderfreudiger und siedeln sich im Schnitt in rund 3,2 Kilometer Entfernung an. Auch die Rückkehr und Wiederansiedelung am „Geburtshaus“ und teilweise sogar im „Geburtsnest“ kommt vor: Von 165 kontrollierten Weibchen kehrte eines in das Nest zurück, in dem es geschlüpft war, sieben weitere brüteten am selben Haus, an dem ihr Nest hing. Auch bei dieser Untersuchung bestätigte sich eine höhere Ortstreue der Männchen. Von 279 kontrollierten Männchen nutzten acht ihr Herkunftsnest für eigene Bruten und 54 weitere Männchen brüteten am selben Haus. Ernährung In ihrem Nahrungsverhalten gleicht die Mehlschwalbe anderen insektivoren Vögeln, insbesondere den Schwalben und den nicht mit dieser Familie verwandten Seglern wie etwa dem Mauersegler, die in der Luft nach Insekten jagen. Die jeweilige Nahrungszusammensetzung ist vom Angebot bestimmt. Bei einer Untersuchung am in den Schweizer Voralpen gelegenen Thunersee machten Fliegen, Mücken und Blattläuse etwa 80 Prozent der Nahrung aus. Weitere 10 Prozent bestanden aus Wasserinsekten. Auch Untersuchungen in anderen Regionen bestätigen die hohe Bedeutung von Blattläusen, Fliegen und Mücken in der Nahrung der Mehlschwalben. Schnabelkerfe, Käfer, Schmetterlinge und Webspinnen zählen zu den weiteren von Mehlschwalben gefressenen Gliederfüßern. Vorüberfliegende Insekten werden meist von unten her erjagt, indem die Mehlschwalben mit schnellem Flügelschlag nach oben schießen, das Insekt mit dem Schnabel packen und dann meist auf ihre vorherige Flughöhe zurückgleiten. Sofern die Mehlschwalben keine Jungen mit Nahrung versorgen müssen, schlucken sie die gefangenen Insekten sofort hinunter. Versorgen sie Nestlinge, sammeln sie die erjagten Insekten in ihrem Kehlsack. Langflüglige Insekten wie Eintagsfliegen oder größere Schmetterlinge werden meist im Schnabel zum Nest gebracht. Für die Nahrungssuche entfernen sie sich bis zu zwei Kilometer vom Nest. Im Schnitt gehen sie aber 450 Meter vom Niststandort entfernt auf Jagd. Fortpflanzung Das Nest Mehlschwalben sind Koloniebrüter und die Nester sind gelegentlich so nahe aneinander gebaut, dass sie sich an ihrer Basis berühren. Kolonien bestehen meist aus vier bis fünf Nestern. Es sind aber auch Kolonien belegt, die tausende von Nestern umfassten. Ihr Nest bauen Mehlschwalben an senkrechten Wänden unter natürlichen oder künstlichen Überhängen, zum Beispiel unter Felsenvorsprüngen, Dachtraufen, Dachrändern oder Toreinfahrten. Nester außerhalb menschlicher Siedlungen, etwa an isolierten Bauwerken wie Betonbrücken, sind selten. Sofern es bereits vorhandene Nester gibt, werden diese bevorzugt bezogen. Voraussetzung für den Nestbau ist, dass der als Baumaterial verwendete Lehm unmittelbar an der Nistwand haftet. Werden die Nester an Felsen gebaut, werden daher Oberflächen gewählt, die frei von Moosen und Flechten sind. Anders als die Rauchschwalbe errichten Mehlschwalben ihr Nest nur in Ausnahmefällen innerhalb von Gebäuden. Am Nestbau sind beide Eltern beteiligt; der Baubeginn ist abhängig von Witterung und Höhenlage. Das Nest wird aus feuchten Lehm- oder Erdklümpchen aufgemauert, wobei die Tiere den Nestwall stets von der Innenseite her weiterbauen. Das Baumaterial nehmen die Mehlschwalben an Gewässerufern, Pfützen oder ähnlichen Stellen auf. Fertige Nester haben eine geschlossene, halbkugelige Form. Das Einflugloch befindet sich oben. Innen wird das Nest mit Halmen, Federn und ähnlichem weichen Material gepolstert. Der Nestbau nimmt 10 bis 14 Tage in Anspruch. Das entstehende Nest wird auch gerne von anderen Vogelarten als Nistplatz genutzt. Haussperlinge versuchen regelmäßig, die von Mehlschwalben begonnenen Nester zu erobern. Gelingt ihnen dies, beginnen die Mehlschwalben an einer anderen Stelle ihr Nest erneut zu errichten. Bei fertigen Nestern ist das Einflugloch so klein, dass Haussperlinge ausgeschlossen sind. Zu den weiteren Vogelarten, die gelegentlich Mehlschwalbennester besetzen, zählen Blaumeise, Baumläufer, Gartenrotschwanz, Hausrotschwanz, Kohlmeise, Weidensperling, Feldsperling, Zaunkönig, Grauschnäpper und Haustaube. Das Gelege Ein Gelege besteht aus drei bis fünf reinweißen Eiern. Sie werden in der Regel mit einem Abstand von jeweils einem Tag gelegt. Beide Elternvögel brüten, allerdings ist der Anteil des Weibchens am Brutgeschäft höher. Bereits nach der Ablage des ersten Eis bleibt ein Elternvogel im Nest sitzen, wenngleich noch mit vielen Unterbrechungen. Ein festes und intensives Brüten beginnt mit der Ablage des letzten Eis. Die jungen Schwalben schlüpfen normalerweise nach 14 bis 16 Tagen. Sie sind bereits nach 22 bis 32 Tagen flügge. Ausgeflogene Jungvögel bleiben zunächst in der Nähe des Nestes und werden von den Eltern noch bis zu einer Woche gefüttert. Eine schottische Studie zeigte, dass rund fünfzehn Prozent der Nestlinge nicht mit ihrem vermeintlichen Vater verwandt sind. Ein verpaartes Männchen stellt zwar zu Beginn der Brutperiode sicher, dass sein Weibchen nur wenig Zeit alleine am Nest verbringt und begleitet es auch während seiner Flüge. Diese Bewachung des Weibchens lässt aber nach der Ablage des ersten Eis nach. Es sind daher die jüngsten Nestlinge, die mit einer höheren Wahrscheinlichkeit von einem anderen Männchen gezeugt wurden. Der ersten Brut folgt im Regelfall eine zweite, bei der jedoch die Größe des Geleges etwas kleiner ist. Auch Drittgelege kommen im Süden des Brutgebietes vor. Späte Nestlinge sind allerdings der Gefahr ausgesetzt, dass die Elternvögel nicht mehr ausreichend Nahrung für sie finden. Der Bruterfolg der Mehlschwalben ist zugleich positiv mit dem Lebensalter der Elternvögel korreliert. Bei Brutpaaren, bei denen das Männchen noch einjährig war, schlüpften aus zehn Eiern sieben Küken. War das Paar älter, schlüpfen aus neun von zehn Eiern Küken. Von zehn Küken werden je nach Witterungsbedingungen sechs bis acht flügge. Frisch geschlüpfte Mehlschwalben betteln zunächst mit ausgestrecktem Hals und senkrecht nach oben gerichtetem Schnabel. Erst mit einem Lebensalter von etwa einer Woche wenden sie zielgerichtet den Kopf den Elternvögeln zu. Zur Übergabe des Futters steckt der Elternvogel seinen Schnabel tief in den Hals des Jungvogels und schiebt ihm die Nahrung in den Schlund. Nahrung, die nicht in den Schlund der Jungvögel gelangt, wird von diesen nicht beachtet. Bei Zweitgelegen füttern gelegentlich die Mehlschwalben der ersten Brut mit. Lebenserwartung und Mortalitätsursachen Von zehn ausgewachsenen Mehlschwalben erreichen nur drei bis sechs das nächste Lebensjahr. Obwohl einzelne Individuen belegt sind, die ein Lebensalter von 10 und 14 Jahren erreichten, erlebt die überwiegende Zahl der Mehlschwalben das vierte Lebensjahr nicht. Das Durchschnittsalter einer Mehlschwalbenpopulation beträgt lediglich zwei Jahre. Mehlschwalben werden von einer Reihe von Außen- und Innenparasiten befallen. Zu den Innenparasiten zählen Saugwürmer, Bandwürmer und Fadenwürmer. Als Ektoparasiten treten Federlinge, Lausfliegen, Flöhe wie Ceratophyllus hirundinis, Milben und Schmeißfliegen auf. In den Nestern der Mehlschwalben findet man außerdem die Schwalbenwanze. In einer polnischen Studie wurden in den Nestern von Mehlschwalben 29 verschiedene Arten von Ektoparasiten gefunden. Ektoparasiten können unter anderem auch die Vogelmalaria auf Mehlschwalben übertragen. Befallene Tiere zeigen Apathie und Blutarmut und haben eine eingeschränkte Reproduktionsrate. Adulte Mehlschwalben werden verhältnismäßig selten von Greifvögeln geschlagen. Angriffen von Greifvögeln sind sie am ehesten ausgesetzt, wenn sie zur Aufnahme von Baumaterial am Boden sitzen. Sperber, Habichte, Schwarz- und Rotmilane schlagen nur gelegentlich Mehlschwalben. Der Greifvogel, der am ehesten Mehlschwalben erbeutet, ist der Baumfalke. Normalerweise sind die Mehlschwalben in der Luft aber so wendig, dass sie Verfolgern entkommen. Schleiereulen sind in der Lage, die nachts in den Nestern ruhenden Mehlschwalben herauszuziehen. Einzelne Studien haben unter den von dieser Eulenart erbeuteten Vögeln einen Anteil an Mehlschwalben zwischen vier und acht Prozent nachgewiesen. Auch Waldkäuze erbeuten gelegentlich während der Nacht Mehlschwalben. Schwarzspechte zerstören mitunter die Nester von Mehlschwalben, um die Eier und Nestlinge zu rauben. Elstern spezialisieren sich gelegentlich gleichfalls auf diese Form des Beuteerwerbs. Säugetiere spielen als Beutegreifer der Mehlschwalben nur eine untergeordnete Rolle. Mitunter spezialisieren sich Hauskatzen auf die Jagd auf Mehlschwalben, wenn diese an nur einer bestimmten Stelle die Möglichkeit haben, Material für den Nestbau zu sammeln oder auf dem Weg zu ihren Nestern einzelne Stellen niedrig fliegend passieren müssen. Ratten und verschiedene Marderarten rauben Nester aus, die sie erreichen können und zerstören dabei gelegentlich ganze Kolonien. Widrige Wetterbedingungen, besonders kalte und nasse Sommer, führen ebenfalls zu einer hohen Jungensterblichkeit. Ausgewachsene Mehlschwalben sind vor allem gefährdet, wenn während des Zuges Schlechtwetterperioden auftreten. Im September und Oktober 1974 führte ein früher Wintereinbruch in vielen Gebieten Mitteleuropas dazu, dass Tausende von Mehlschwalben durch Nahrungsmangel zu Grunde gingen oder so geschwächt waren, dass sie ihren Zug nicht fortsetzen konnten. Einige Ornithologen gehen davon aus, dass extreme Wetterschwankungen auf Grund der Klimaveränderungen zukünftig häufiger auftreten werden. Damit könnte auch die Sterblichkeit ansteigen. Bestand und Schutzmaßnahmen Die europäische Population wird auf 20 bis 48 Millionen Individuen geschätzt, wobei der Bestand starken Schwankungen unterworfen ist. Die IUCN hat die Mehlschwalbe in die Kategorie „least concern“ oder „Keine Gefährdung“ eingeordnet. Eine Reihe von Naturschutzorganisationen teilt diese Einschätzung nicht und geht davon aus, dass die Mehlschwalbe mittelfristig in ihrem Bestand bedroht ist. Die Rote Liste der Brutvögel Deutschlands von 2020 führt die Art in der Kategorie 3 als gefährdet. Die Mehlschwalbe gehört zu den Arten, die über Jahrhunderte von menschlichen Aktivitäten profitiert haben. Das Abholzen der Wälder und die Errichtung menschlicher Siedlungen ging für die Mehlschwalbe mit einer Steigerung der Nistmöglichkeiten einher. Als attraktiver Vogel, der sich von fliegenden Insekten ernährt, wurde die Mehlschwalbe vom Menschen dabei als nützlich begriffen und im Allgemeinen toleriert, wenn sie an Hauswänden nistete. In den letzten Jahrzehnten haben der Einsatz von Pestiziden und eine sich verändernde Landwirtschaft zu einem Rückgang der Art geführt. Negativ auf den Bestand wirken sich außerdem vor allem die Veränderungen im Siedlungsbereich aus: An modernen glatten Fassaden haften die Nester nicht und bei Renovierungsarbeiten werden sie oft achtlos oder mutwillig zerstört. Auf versiegelten Flächen finden die Mehlschwalben kein Baumaterial für ihre Nester. Seit 2002 steht die Mehlschwalbe in der Bundesrepublik Deutschland auf der Vorwarnliste für bedrohte Vogelarten. Als europäische Vogelart steht sie wie Rauchschwalbe, Mauersegler und Haussperling im Gebiet der EU seit 1980 unter Artenschutz. In Deutschland ist sie besonders geschützt, so dass es verboten ist, die Tiere zu fangen oder zu töten oder während ihrer Fortpflanzungs-, Aufzucht- oder Wanderzeiten erheblich zu stören, die Nester zu beschädigen oder die Eier aus der Natur zu entnehmen oder zu beschädigen. Naturschutzorganisationen machen regelmäßig darauf aufmerksam, wie einfach es ist, Mehlschwalben zu helfen: Die im Handel erhältlichen Kunstnester werden von Mehlschwalben angenommen, sofern noch in der weiteren Umgebung Mehlschwalben nisten. Ein waagrechtes Brett unterhalb der Nester verhindert dabei, dass Kot die Fassade verschmutzt. Empfohlen wird gelegentlich, diese Bretter mindestens 50 Zentimeter unterhalb der Nester zu befestigen, damit Nesträuber die Gelege nicht erreichen können. Das Anlegen kleiner Lehmpfützen hilft, den Mehlschwalben geeignetes Nistmaterial zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus kann das Errichten eines Schwalbenhauses als Ergänzung, Sicherung oder Ersatz für eine Kolonie an Gebäuden eine sinnvolle Hilfsmaßnahme sein. Untersuchungen in Bielefeld und Gütersloh zur Annahme von Kunstnestern zeigte, dass im ersten Jahr 19 % und ab dem siebten Jahr 57 % der Nester genutzt wurden. An früher bereits besiedelten Standorten lag die Besiedlungsanteil bei 81 %. Bei vorher nicht besiedelten Standorten lag der Anteil der genutzten Kunstnester nur bei 36 %. Systematik Carl von Linné gab 1758 den Mehlschwalben den wissenschaftlichen Namen Hirundo urbica, 1854 wurde die Art durch Thomas Horsfield und Frederic Moore der Gattung Delichon zugeordnet. Delichon ist ein Anagramm des altgriechischen Wortes χελιδών (chelīdōn) für Schwalbe. Die Artbezeichnung urbicum weist auf ihre Neigung hin, in Städten zu siedeln. Die östliche Unterart Delichon urbicum lagopodum wurde erstmals durch den deutschen Zoologen Peter Simon Pallas 1811 beschrieben. Sie unterscheidet sich von der westlichen Nominatform durch ausgedehntere weiße Gefiederpartien an der Unterseite. Der Schwanz ist nicht so stark gegabelt wie bei der Nominatform. Es sind weitere Unterarten wie beispielsweise die im Mittelmeerraum beheimatete Delichon urbicum meridionalis beschrieben worden. Die Merkmale, die sie von den anderen Unterarten unterscheiden, werden allerdings nicht als hinreichend deutlich angesehen, um eine Einstufung als Unterart zu rechtfertigen. Die Gattung Delichon wurde erst vor verhältnismäßiger kurzer Zeit von der Gattung Hirundo abgespalten. Der Gattung gehören lediglich drei Arten an, die sich mit ihrer schwarzblauen Ober- und der weißen Unterseite ähneln. In der Vergangenheit ist mehrfach diskutiert worden, ob die Mehlschwalbe und die Kaschmirschwalbe (D. dasypus) nicht einer Art angehören. Die Kaschmirschwalbe ist in den Gebirgen Zentral- und Ostasiens beheimatet. Große äußere Ähnlichkeit weist die Mehlschwalbe auch mit der Nepalschwalbe (D. nipalense) auf, die in den Gebirgen Südasiens nistet. Mehlschwalben können gelegentlich mit Rauchschwalben bastardieren. Innerhalb der Unterordnung der Singvögel ist dies sogar die häufigste Hybridisierung. Dies hat zu der Vermutung geführt, dass die Gattung Delichon sich möglicherweise nicht ausreichend genetisch von der Gattung Hirundo unterscheidet, um tatsächlich als eigenständige Gattung gelten zu können. Sonstiges Die Mehlschwalbe war in Deutschland Vogel des Jahres 1974, in der Schweiz 2010. In Österreich wurde sie für das Jahr 2022 gewählt. Außerdem war sie Vogel des Jahres 2004 in Belarus, 2010 in Ungarn, 2013 in der Slowakei, 2015 in Luxemburg, 2017 in Norwegen und 2020 in Tschechien. Literatur Einhard Bezzel: Vögel. BLV Verlagsgesellschaft, München 1996, ISBN 3-405-14736-0, S. 125. Heinz Menzel: Die Mehlschwalbe. Delichon urbica. 1984 (Die neue Brehm-Bücherei, Band 548) Angela K. Turner, Chris Rose: Swallows & Martins – An Identification Guide and Handbook. Houghton Mifflin Company, Boston 1989, ISBN 0-395-51174-7. Weblinks Bauanleitung für einen Mehlschwalbennistkasten Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch) Federn der Mehlschwalbe Einzelnachweise Schwalben Vogel des Jahres (Deutschland) Vogel des Jahres (Schweiz) Wikipedia:Artikel mit Video Vogel des Jahres (Österreich)
171687
https://de.wikipedia.org/wiki/Der%20General%20%281926%29
Der General (1926)
Der General (Originaltitel The General) ist eine 1926 gedrehte Filmkomödie von und mit Buster Keaton. Der Film spielt zur Zeit des Amerikanischen Bürgerkrieges und basiert auf dem historisch verbürgten Andrews-Überfall vom 12. April 1862. Der Lokomotivführer Johnnie Gray nimmt einsam die Verfolgung seiner von nordstaatlichen Spionen entführten Lokomotive General auf. Mit Hartnäckigkeit und Erfindungsreichtum gelingt es ihm, sowohl seine Maschine als auch die Gunst seines geliebten Mädchens Annabelle Lee zurückzuerobern. Das Werk entstand am Höhepunkt von Keatons Ruhm und gilt als eine der teuersten Komödien der Stummfilmära. Der Misserfolg der Produktion bei Publikum und Kritikern brachte das Ende von Keatons künstlerischer Unabhängigkeit. Als Ende der 1950er Jahre seine mittlerweile vergessenen Stummfilme wiederentdeckt wurden, stand The General im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Seither zählt der Film innerhalb der Rezeption aufgrund seiner stringenten Dramaturgie und ambitionierten Bildgestaltung zu den bedeutendsten Komödien der Filmgeschichte. Handlung Im Frühling 1861 lässt die Nachricht über die nahenden Unionstruppen im südstaatlichen Ort Marietta die Kriegshysterie ausbrechen. Um Gunst und Respekt seiner geliebten Annabelle Lee nicht zu verlieren, meldet sich der angesehene Lokomotivführer Johnnie Gray eifrig beim Rekrutierungsbüro. Aus für ihn unverständlichen Gründen wird er als Soldat abgelehnt; dass er als Lokomotivführer für den Süden als wertvoller erachtet wird, erfährt er ebenso wenig wie Annabelle. Sie will ihn erst in Uniform wiedersehen – eine für Johnnie unmögliche Aufgabe und somit das Ende der Beziehung. Ein Jahr später entführen nordstaatliche Spione am Haltepunkt Big Shanty Johnnies geliebte Lokomotive General. Ohne Zögern nimmt Johnnie einsam die Verfolgung der entführten Dampflokomotive auf, erst zu Fuß, dann mit einer Draisine, schließlich mit einer weiteren Lokomotive. Er trotzt dabei allen Hindernissen, die ihm die Spione in den Weg legen. Diese wollen durch gezielte Zerstörungen auf dem Weg in den Norden das Kommunikations- und Bahnsystem der Konföderierten lahmlegen. Die Verfolgungsjagd endet für Johnnie im Land der Feinde, wo er sich im Wald versteckt hält, ehe ihn der Hunger in das Hauptquartier der nordstaatlichen Generäle treibt. Dort gelingt es ihm, die feindlichen Pläne zu belauschen. Verblüfft sieht er auch seine Annabelle wieder: Sie befand sich zufällig im Güterwaggon des entführten Zuges und ist nun Gefangene der Unionstruppen. Getarnt als Unionssoldat gelingt es Johnnie, Annabelle zu befreien und mit ihr in den Wald zu flüchten. Mit ihrer Hilfe gelingt es ihm, die geraubte General zurückzuentführen. Die Unionssoldaten nehmen mit einer weiteren Lok und einem Versorgungszug entschlossen die Verfolgung auf, um ihren Militärschlag wie geplant durchzuführen. Auf dem Weg in die Heimat variiert Johnnie erfolgreich sämtliche Tricks der Spione, um die Verfolger abzuschütteln. Einzig das technische Unverständnis Annabelles bringt beide immer wieder in kritische Situationen. Die strategisch wichtige Brücke am Rock River setzt er vorsorglich in Brand, ehe er beim Stützpunkt der Südstaatler ankommt, um die Soldaten vor den anrückenden Unionstruppen zu warnen. Als die nordstaatliche Armee den Rock River überqueren will, bricht die vom Feuer beschädigte Brücke unter der Last der Lokomotive zusammen. Die vorgewarnten Konföderationstruppen eröffnen das Feuer. Die wilde Schlacht können die Südstaatler nicht zuletzt dank Johnnie für sich entscheiden. So wird der Lokomotivführer schließlich zum Leutnant ernannt und kann die begeisterte Annabelle küssend in die Arme schließen. Allerdings muss er gleichzeitig allen vorbeiflanierenden Soldaten salutieren. Entstehungsgeschichte Storyentwicklung und Vorproduktion Bereits vor den Arbeiten an Battling Butler schlug Clyde Bruckman, Autor und Gagman Keatons, Williams Pittengers Buch The Great Locomotive Chase als möglichen Stoff für einen Film vor. William Pittenger schildert darin als einer der Beteiligten die wahre Geschichte des Andrews-Überfalls während des Amerikanischen Bürgerkriegs. Die Schwierigkeiten, einen historischen Vorfall in eine Komödie zu kleiden, war Keaton und seinem Team bewusst: weite Strecken des Films müssten zugunsten von Erklärungen auf Gags verzichten. Keaton, an glaubwürdigen Geschichten und insbesondere Maschinen interessiert, entschied sich dennoch für den Stoff. Dem geschilderten Ablauf der Verfolgungsjagd blieb er treu. Mit seinem Autorenteam änderte er allerdings den Blickwinkel des Buches: Nicht die nordstaatlichen Spione waren in seiner Geschichte die Helden, sondern der südstaatliche Lokomotivführer, der die Verfolgung seiner entführten Lok aufnimmt: „Man kann aus den Südstaatlern keine Gegenspieler machen. […] Das Publikum lehnt das ab. Die haben den Krieg ohnehin verloren.“ Zudem verwarf Keaton die tatsächliche Auflösung des historischen Vorfalls. Die damaligen Spione gaben die entführte Lokomotive schließlich auf, wurden von südstaatlichen Soldaten aufgespürt und gefangen genommen, erschossen beziehungsweise erhängt. Für die abgerundete Dramaturgie fügte er stattdessen eine Liebesgeschichte und die dramatische Rückentführung der Lokomotive hinzu. Obwohl wegen der historischen Umgebung und der großen Anzahl benötigter Statisten hohe Produktionskosten vorherzusehen waren, gab Keatons Produzent Joseph Schenck grünes Licht und gewährte Keaton wie üblich freie Hand: mit ihrer letzten Produktion Battling Butler hatten die Keaton-Studios ihren bis dahin größten finanziellen Erfolg verbuchen können. Erstmals sollte für United Artists produziert werden; Joseph Schenck war mittlerweile deren Vorsitzender. Keaton nahm die neue Herausforderung, einen geschichtlich verbürgten Stoff zu erzählen, mit großem Ernst und Enthusiasmus an: „Macht es so authentisch, dass es weh tut“, wird Keatons Aufforderung an seine Mitarbeiter, allen voran seinen langjährigen Produktionsdesigner Fred Gabourie, zitiert. Bei der Suche nach geeigneten Drehorten entschied sich Keaton für die Gegend um Cottage Grove, Oregon, da die Originalschauplätze in Atlanta, Georgia und Chattanooga nicht seiner Vorstellung entsprachen. Neben der fotogeneren Landschaft konnte er dort auf die Oregon, Pacific and Eastern Railway zurückgreifen, eine 30 Kilometer lange Kleinbahn, die vorwiegend der Holzabfuhr diente. Sie war technisch so zurückgeblieben und ungepflegt, wie Keaton es für seinen Film wollte. Ende Mai 1926 traf der Produktionsstab und Keaton in Cottage Grove ein, um mit den Arbeiten am Set zu beginnen. Bei der Rekonstruktion der Stadt Marietta orientierte man sich so weit wie möglich an Pittengers Buch. Die verwendeten Lokomotiven und Eisenbahnwagen wurden bis in Details auf „alt“ verkleidet und umgebaut, erhielten zum Beispiel statt der längst gebräuchlichen Klauenkupplung eine Link-and-pin-Kupplung. Das Produktionsteam hatte geplant, die erhaltene Original-General für die Dreharbeiten zu verwenden. Als bekannt wurde, dass Keaton aus dem historischen Vorfall eine Komödie machen wollte, protestierten einige Nachkommen der damaligen Entführer. Daraufhin zog die zuständige Bahngesellschaft ihr Angebot zur Zusammenarbeit zurück. Doch konnten drei alte Lokomotiven mit Holzfeuerung angekauft und ohne Schwierigkeiten auf Maschinen aus der Bürgerkriegszeit umgestaltet werden. Auch die Waggons wurden auf vorhandenen Fahrwerken originalgetreu aufgebaut. Als auffälligstes Requisit gilt eine Kanone auf Schienen, die als Nachbau im Film zum Einsatz kommt. „Wir fürchteten, dass die Leute sagen: ‚Die haben die nur für diesen Gag erfunden.‘ Aber es ist eine authentische Reproduktion einer Schienen-Kanone, die im Bürgerkrieg gebaut wurde. Wir fanden sie in mehr als einem Buch.“ Dreharbeiten und Nachproduktion Am 8. Juni 1926 begannen die Dreharbeiten. Gedreht wurde auf 35 mm mit meist drei Kameras, manchmal vier, wobei eine Einstellung – von Ausnahmen abgesehen – stets mit zwei Kameras gefilmt wurde: Aus dem Material der zweiten Kamera wurde das Auslands-Negativ gefertigt, von dem aus in Europa sämtliche Kopien für den Kontinent gezogen wurden. Wie üblich wurde ohne vorgefertigtes Drehbuch gearbeitet; die bewusst einfach gehaltene Story war allen Produktionsmitgliedern klar. Der Drehplan für den nächsten Tag und mögliche Gags wurden meist abends im engen Kreis besprochen. Auch während der Dreharbeiten war Keaton offen für Improvisationen. Regie führte Buster Keaton, auch wenn Clyde Bruckman im Titel als Koregisseur genannt wird: Keaton machte es sich zur Gewohnheit, Namen anderer Mitarbeiter beliebig im Vorspann zu platzieren. Proben ließ er gerne mitfilmen. Nicht selten wurden diese ersten Aufnahmen im fertigen Film verwendet. Ein Beispiel dafür ist die Szene, in der Johnnie (Buster Keaton) und Annabelle (Marion Mack) am Wasserturm Speisewasser nachfüllen wollen und Marion Mack überrascht von dem gewaltigen Wasserstrahl erfasst wird: Sie erzählte später, dass ihre Irritation, wie sie im Film zu sehen ist, nicht gespielt war; Keaton hatte sie nicht eingeweiht. Auch sonst habe sie keine genauen Regieanweisungen erhalten: „Ich inszenierte mich praktisch selbst. […] Wenn man nicht weiß, wie man spielt, ist man dort fehl am Platz.“ Am Set kam es zu einigen Unfällen. Ein Mitarbeiter zog sich durch die Explosion einer Platzpatrone Verbrennungen im Gesicht zu. Ein anderer klagte auf 2900 US-Dollar Schmerzensgeld, weil einer der ungesicherten Waggons seinen Fuß überrollte. Keaton selbst verlor nach einer lauten Detonation für einige Minuten das Bewusstsein. Mehr Vorsicht ließ Keaton bei einem Stunt walten, der zu seinen gefährlichsten in diesem Film zählte. Johnnie setzt sich, eben von seinem geliebten Mädchen verlassen, nachdenklich auf die Kuppelstange der General. Als diese plötzlich langsam losfährt, bleibt Johnnie unbewegt darauf sitzen und wird in einer kreisförmigen Bewegung davongetragen. Die Gefährlichkeit dieser Einstellung, die in vielen späteren Rezensionen wegen ihrer Ausdruckskraft zitiert wird, blieb den meisten Zuschauern verborgen: Hätte der Maschinist beim Starten der Lokomotive etwas zu viel Dampf gegeben, hätten die Räder durchgedreht, und Keaton wäre auf der Stelle tot gewesen. „Es war zwar kein großer Gag, aber für einen kleinen, feinen Lacher gut …“ Keaton hatte vor, den Gag mit ihm und Marion Mack in der Schlusseinstellung zu wiederholen. Wegen des hohen Risikos entschied er sich für einen anderen Abschlussgag. Etwa ein Fünftel des fertigen Films wurde mit fahrenden Kameras gedreht. Entweder war die Kamera auf der gefilmten Lokomotive angebracht, oder sie wurde auf Schienen parallel zur fahrenden Lokomotive entlangbewegt. Für diese technisch sehr anspruchsvolle Aufgabe wurde auf ein Fahrwerk, das sich auf Gleisen bewegte, ein darauf bewegliches Automobil gestellt. Auf dieses Auto wiederum wurde die Kamera montiert. Alle Fahrzeuge wurden mit speziellen Stoßdämpfern ausgestattet, um einen ruhigen Bildstand zu erreichen. Wenn von einer parallel zu den Schienen verlaufenden Straße gedreht wurde, kamen Planierraupen zum Einsatz, um die Straße vor dem Dreh einzuebnen. Auf dem dramatischen Höhepunkt sollte eine Lokomotive über eine in Brand gesetzte Brücke fahren und dabei in die Tiefe stürzen. Für diese Szene verzichtete Keaton auf die Verwendung eines Modells. Über den Fluss wurde eigens eine etwa 70 Fuß lange Eisenbahnbrücke gebaut. Eine der alten Lokomotiven wurde mit einer Puppe im Führerhaus besetzt und in Gang gesetzt. Neben einigen hundert Darstellern, die als Soldaten der Unionstruppen vor der Kamera standen, kamen über 3000 Schaulustige aus dem ganzen Land, um der Szene, die nur einmal gedreht werden konnte, beizuwohnen. Als die Lokomotive die Mitte der Brücke, auf der ein Feuer entzündet worden war, überquerte, wurden vorbereitete Sprengsätze gezündet. Das Lokomotiven-Wrack blieb noch jahrelang als Touristenattraktion im Flussbett liegen und wurde erst im Zuge des Zweiten Weltkriegs entfernt, als der Stahl zu Kriegszwecken gebraucht wurde. Die Einstellung kostete rund 42.000 US-Dollar – dies entspricht heute ungefähr .000 US-Dollar – und gilt als teuerste der ganzen Stummfilmepoche. Für die Soldaten der Konföderierten beziehungsweise der Unionstruppen verpflichtete Keaton rund 500 Mann aus der National Guard aus Oregon sowie weitere Männer aus der Umgebung. „Ich steckte sie in graue Uniformen und ließ sie von links nach rechts marschieren, zog sie aus, steckte sie in blaue Uniformen, ließ sie von rechts nach links marschieren. So haben wir den Krieg ausgefochten.“ Außerdem kamen nach Keatons Angaben etwa 125 Pferde zum Einsatz. Die auf den Brückeneinsturz folgende Schlacht wurde von sechs Kameras eingefangen. Die Dreharbeiten am 23. Juli verliefen gefährlich: Wegen der lauten Explosionen gingen einige Pferde durch, die Reiter, meist unerfahren, stürzten. Im angestauten Wasser des Flusses drohten einige der Statisten zu ertrinken. Insgesamt wurden mindestens neun Menschen verletzt. Während der Dreharbeiten verursachten die verwendeten Lokomotiven durch Funkenflug immer wieder Waldbrände. Meist konnte deren Ausbreitung schnell verhindert werden. Nach einem besonders großen Feuer am 24. Juli war eine Fortsetzung der Dreharbeiten jedoch nicht möglich; der Rauch war zu stark. Es dauerte Wochen, ehe der von Keatons Team langerwartete Regen die Sicht klärte und der Produktionsstab wieder aus Hollywood anreisen konnte, um die Arbeit fortzuführen. Die verursachten Schäden – die Flammen wurden mit den Kostümjacken bekämpft; auch eine Kamera wurde beschädigt – belastete das überzogene Filmbudget um weitere 40.000 bis 50.000 US-Dollar. Auch bei der Nachbearbeitung trug Keaton die alleinige Verantwortung, indem er die Zwischentitel schrieb und den Schnitt besorgte. „Das war meine eigene Story, meine eigene Continuity, ich führte Regie, machte den Schnitt und schrieb die Titel. Es war wirklich ganz und gar mein Ding.“ Die Angaben über die Kosten des mit 2286 Metern längsten Films der Keaton-Studios schwanken zwischen 330.000 und 750.000 US-Dollar. Mit Sicherheit war es die teuerste Produktion der Keaton-Studios, deren Budget für einen Film im Schnitt 220.000 US-Dollar betrug. Rezeption Premiere und zeitgenössische Kritik The General wurde am 31. Dezember 1926 in Tokio uraufgeführt, ehe der Film am 5. Februar 1927 seine New Yorker Premiere und am 11. März 1927 seine erste Aufführung in Los Angeles erfuhr. Die erste Veröffentlichung in Deutschland fand am 4. April 1927 statt. Die hohen Erwartungen, die Keaton und sein Produktionsteam hegten, erfüllten sich nicht: The General stieß auf größtenteils negative Reaktionen. Motion Picture Classic vom April 1927 beschreibt den Film als eine „nette Komödie aus dem Bürgerkrieg, keine von Keatons besten Leistungen.“ Variety meinte, die Komödie sei alles andere als lustig: „Von einer einstündigen Verfolgungsjagd darf man nichts erwarten. … Es ist ein Flop.“ Picture Play sah „eine lange, öde Komödie“, und die New York Times analysierte, Keaton habe sich übernommen. Die meisten Kritiker schien abzustoßen, dass sich der Komiker ein ernstes Thema wie den Bürgerkrieg als Hintergrund für eine Komödie erkoren hatte. So zeigte sich Robert E. Sherwood, der Keaton gegenüber sonst sehr aufgeschlossen war, im Life Magazine irritiert über die gezeigten Tode von Menschen: „Viele Gags am Ende des Films sind so abscheulich, dass man sich als mitfühlender Zuschauer abwenden möchte.“ Unter den Tenor der Ablehnung mischten sich nur wenige positive bis begeisterte Stimmen, etwa jene von Martin Dickstein des Daily Eagle aus Brooklyn: In der regionalen Zeitung bezeichnete er das Werk als Geniestreich. Der deutsche Kritiker Herbert Ihering schwärmte: „An diesem Film ist alles zu bewundern: seine Einfachheit und sein Reichtum, seine Gelassenheit und seine Spannung, seine Melancholie und sein Humor. Alle Schlagworte fallen zusammen. Hier ist ein neuer Filmtypus geschaffen.“ Das Einspielergebnis von 474.264 US-Dollar in den Vereinigten Staaten blieb mehr als 300.000 US-Dollar hinter jenem von Battling Butler zurück. Erstmals machte eine Produktion Keatons Verluste. Gründe für das Scheitern der Komödie orten Filmhistoriker neben den negativen Kritiken, enttäuschten Publikumserwartungen und dem überhöhten Budget auch bei United Artists: Die Veröffentlichung des Films wurde immer wieder verschoben. Zudem verfügten die United Artists nicht über jenes dichte Vertriebsnetz wie Metro. Kevin Brownlow macht außerdem eine falsche Projektionsgeschwindigkeit für die schlechte Rezeption verantwortlich. Obwohl ungefähr mit den heute üblichen 24 Bildern pro Sekunde gedreht, wurde der Film mit 16 Bildern pro Sekunde und damit zu langsam aufgeführt. Nachwirkungen: Niedergang und Wiederentdeckung Bis zu diesem Misserfolg zählte Keaton zu den populärsten Filmkomikern. Bei den nächsten Produktionen schränkte sein Produzent Joseph Schenck Keatons bisherige Freiheiten ein und stellte ihm Regisseure und Produktionsleiter zur Seite. Nachdem die Einnahmen von College und Steamboat Bill, jr. ebenfalls enttäuscht hatten, empfahl Schenck Keaton, künftig für MGM zu arbeiten. Obwohl Keaton anschließend in einigen kommerziell erfolgreichen Produktionen des seinerzeit größten Studios mitwirkte, hatte er jeden künstlerischen Einfluss verloren und glitt schließlich Anfang der 1930er Jahre in die Bedeutungslosigkeit ab. Als er und seine Filme verstärkt in den 1950er Jahren von Kritikern neu entdeckt wurden, wählte Keaton The General als ersten Film für eine breit angelegte Wiederaufführung. Eine restaurierte und mit einer musikalischen Tonspur versehene Fassung wurde 1962 erstmals in mehreren Städten Deutschlands (darunter München, Berlin und Hamburg) und danach in weiteren Ländern Europas gezeigt. Keaton entschied sich nach eigener Aussage deshalb für Europa als Ort der ersten Wiederaufführungen, weil die Kinolandschaft dort reichhaltiger war als jene in den USA, wo nach dem Erfolg des Fernsehens viele Kinos schließen mussten. Die Wiederaufführungen stießen auf großes Echo bei Publikum und Presse. 35 Jahre nach seiner Premiere hatte sich die Bewertung über den Film grundlegend gewandelt. Der französische Filmhistoriker Georges Sadoul schrieb die schlichte Aufforderung: „Muss man ein Meisterwerk breit kommentieren? Laufen Sie ganz schnell, um es sich anzusehen.“ In den folgenden Jahren würdigten eine Vielzahl Kritiker und Filmwissenschaftler den Film als „einmalig und vielleicht perfekt“. Es sind kaum Stimmen auszumachen, die vom heutigen Konsens in der Filmbewertung abweichen, wonach The General Buster Keaton „auf der Höhe seines Könnens“ zeige: „als vollkommenen Komiker und vollkommenen Regisseur.“ Seit den 1970er Jahren firmiert das Werk bei diversen Umfragen unter Filmkritikern und -schaffenden regelmäßig unter den besten Filmen, zumindest jedoch unter den besten Komödien der Filmgeschichte. So wies etwa eine internationale Umfrage der Filmzeitschrift Sight & Sound unter 81 Filmkritikern im Jahr 1972 für The General den 8. Platz der besten Filme aus. Bei der 2007 veröffentlichten Liste der besten US-amerikanischen Filme des American Film Institute wurde The General als Neueinstieg auf Platz 18 genannt. Die filmgeschichtliche Bedeutung des Films wird durch die Tatsache unterstrichen, dass er 1989 unter den ersten war, die in das National Film Registry aufgenommen wurden. Durch die reichhaltige Rezeption, die den Film fast einhellig als Keatons Meisterwerk referenziert, und vor allem durch die große Zahl an Kino- und Fernsehaufführungen seit den 1960er Jahren – darunter eine gekürzte und mit einem Kommentar versehene Fassung – gilt heute The General als Keatons populärste Komödie. Filmanalyse Inszenierung Dramaturgie Die Rezeption spricht übereinstimmend von einer einfachen wie zwingenden Dramaturgie, die sich stringent und ohne jede Abschweifung entwickelt. „In diesem Film, der scheinbar aus lauter kleinen Zügen besteht, gibt es keine einzige Episode. Alles ist in den Ablauf eingegliedert.“ Walter Kerr weist auf das geometrische Muster hin, das Keaton bereits bei The Navigator entdeckt und gekonnt eingesetzt hatte. Verengung und Erweiterung würden mit Fortlauf der Handlung intensiviert: „Für gut eine Hälfte hat Keaton die Mannschaft auf einen reduziert: er ist allein auf der Lokomotive. Die Strecke vor ihm wiederum ist schier unendlich.“ Die strukturelle Form des Films wird als Kreis beziehungsweise Bumerang beschrieben. Die beiden Verfolgungsjagden, die linear auf Schienen erst von Süden nach Norden, dann von Norden zurück in den Süden ablaufen, verdeutlichen diese in sich geschlossene Form: Motive der ersten Verfolgungsjagd werden in der zweiten, der Rückentführung der General, wieder aufgegriffen und variiert. Der Film spiegelt sich quasi selbst. Mit der Schlusseinstellung schließt sich der Kreis: Johnnie sitzt auf der Kuppelstange seiner geliebten Lokomotive neben seinem Mädchen Annabelle. Beide saßen zu Beginn auf dem Sofa nebeneinander und wurden durch die Kriegsereignisse getrennt. Komischer Stil Hervorgehoben wird die Einheit von Handlung und Gags, die sich „zwingend aus einer Grundsituation“ ergäben. Laut David Robinson hat man nie das Gefühl, dass die Geschichte nur eine Entschuldigung für die Komik sei, oder dass die Gags nur der Dekoration dienten. Diese Einheit sei für eine Komödie und sogar für Keaton ungewöhnlich. Typisch für Keaton sei es hingegen, die komischen Einfälle aus einem technischen Hauptrequisit zu entwickeln. The General sei „eine Blütenlese aller großen Eisenbahngags“. Dabei vermied es Keaton, auf Tricktechnik zurückzugreifen: So abgehoben ein Gag auch war, er sollte unter realen Bedingungen durchführbar sein. Ein großer Teil der Komik basiert darauf, dass der Zuschauer etwas sieht, das der Lokführer Johnnie nicht sieht. In der Welt von Keatons Figur ist Sehen und Sein faktisch dasselbe; Ereignisse außerhalb dieser Wahrnehmung werden meist fehlinterpretiert oder bleiben unerklärlich. Als Johnnie einen Waggon, der den Weg seiner Lokomotive blockiert, bei einer Weiche auf ein Parallelgleis verschiebt und auf dem anderen weiterfährt, ist er danach so sehr mit Apparaturen beschäftigt, dass er nicht merkt, wie dieser Waggon, der nie an Fahrt verliert, bei der nächsten Weiche wieder vor ihm auf die Schienentrasse wechselt. Johnnie blickt verwirrt, als er den Waggon erneut vor sich sieht. Während er im Führerhaus wieder abgelenkt wird, fährt der Waggon vor ihm auf ein Hindernis, entgleist und fällt einen Abhang hinunter. Als Johnnie wieder seinen Blick nach vorne richtet, kann er seinen Augen nicht trauen: Der Waggon scheint plötzlich verschwunden. Zwar zeigt Keaton auf diese Weise Schwächen seiner Hauptfigur, er führt sie aber nach Ansicht von Kritikern nicht als Witzfigur vor. Im Gegenteil ziele Keaton oft auf Lacher, die durch Erleichterung nach Anspannung, Erstaunen oder Verwunderung über die Ereignisse ausgelöst werden. Was für Keatons Filmfigur gilt, ist auch bei den anderen Charakteren zu beobachten: Bei seinem „teuersten Gag“, dem Einsturz der Brücke samt Lokomotive, ist es die Situation, aus der die Komik entsteht, nicht die Überzeichnung der beteiligten Personen oder der spektakuläre Schauwert. Er ließ, nach Kerr und Kline, eine Dampflok in die Tiefe stürzen, um das regungslose Gesicht des Kommandanten einzufangen, der eben den Befehl zur Überquerung erteilt hatte. Die Zurückhaltung des Ausdrucks zur Entfaltung der Situation kulminiert in Keatons Markenzeichen, dem „steinernen“ Gesichtsausdruck. Oft als Indiz für Teilnahmslosigkeit fehlinterpretiert, bedeutet er das Gegenteil: höchste Konzentration auf die zu erledigenden, schier unlösbaren Aufgaben. Da Keatons Leinwandego auch die größten Missgeschicke stoisch zur Kenntnis nimmt, wurde er als der „‚stummste‘ aller Stummfilmkomiker“ bezeichnet. In The General beobachtete Walter Kerr jedoch die einzige Ausnahme: Als sich seine Filmpartnerin Annabelle während der dramatischen Flucht wiederholt technisch unverständig zeigt, „packt er sie plötzlich mit beiden Armen an den Schultern und schüttelt sie wie wahnsinnig ein oder zwei Sekunden lang. Dann küsst er sie. – Er hat gesprochen.“ Visueller Stil und Kameraführung Der authentische, „fast dokumentarische“ Stil wird in praktisch allen Besprechungen hervorgehoben. Kameraeinstellungen und Bilder wurden detailgetreu nach den Fotografien von Mathew Brady gestaltet. Auch Keatons Gesicht scheint einer Daguerreotypie Bradys zu entstammen, wie James Agee anmerkt. Kline schreibt, The General sei eine acht Spulen lange Nahaufnahme von Busters Gesicht. Mit Keatons ikonenhaftem Filmego im Mittelpunkt entfalte der Film eine „eigenartige Zeitlosigkeit: Wir vergessen, dass wir auf eine Arbeit aus den 1920er Jahren schauen.“ Die authentische Kostüm- und Kulissengestaltung sei, so Kerr, in ihrer Detailliertheit mitverantwortlich für die epische Qualität des Films. Der Verzicht auf den Einsatz von Modellen und die Aufnahmen weiter Landschaften verstärkten den authentischen Eindruck. Die Inszenierung lässt dabei die fahrende Lokomotive mit der imposanten Landschaft verschmelzen, der Gegensatz von Technik und Natur werde aufgehoben. Kline schreibt, durch die stimmige Bildkomposition falle der Anachronismus der fahrenden Kamera in einem Film, der Mitte des 19. Jahrhunderts spiele, nicht auf. Filmwissenschaftler zeigen sich vor allem von der Präzision der Kamerafahrten beeindruckt. In einer Sequenz verfolgt die Kamera Buster Keaton auf der fahrenden Lok, dahinter stürmen – von Buster unbemerkt – Soldaten in die entgegengesetzte Richtung voran, auf der dritten Ebene ist der Horizont im Bild. Dies sei „eine Vorwegnahme der ‚Inneren Montage’, einer Montage innerhalb des Bildes, die damals nur Keaton praktiziert“ habe. Kerr und Kline streichen die Dynamik der Bilder heraus: The General scheint stets in Bewegung und einer der „bewegtesten“ Filme zu sein. Etwa ein Fünftel des fertigen Films wurde mit fahrenden Kameras gefilmt. Durch sparsamen Einsatz von Zwischentiteln wird der einheitliche und fließende Eindruck des Films verstärkt. Um auf Texttafeln weitestgehend zu verzichten oder diese so knapp wie möglich zu halten, setzte Keaton auf authentische Ortsnamen – wenn möglich von der Bahnstation abgefilmt –, aussagekräftige Bezeichnungen und assoziative, fiktive Namen, etwa Johnnie Gray oder Annabelle Lee (nach einem Gedicht von Edgar Allan Poe). Motive und Themen Krieg: Mythos und Ironie Der Sezessionskrieg war ein traumatisches und dadurch mythologisch aufgeladenes Ereignis der US-amerikanischen Geschichte. „Die Macht der Legende liegt bei den Südstaatlern. Die meisten erfolgreichen Romane, Theaterstücke und Filme lenken die Sympathien des Publikums auf sie.“ Keaton war, wie er auch später immer wieder betonte, die Verbundenheit des Publikums mit dem untergegangen „alten Süden“ bewusst, weshalb er die Nordstaatler, die Helden der Buchvorlage, in seinem Film als Feinde in Szene setzte. Aus der authentischen, filmischen Bearbeitung eines historisch signifikanten Ereignisses leitet sich die epische Größe der Komödie ab. The General könne neben Chaplins The Gold Rush als einzige epische Stummfilmkomödie gelten. „Dabei ist nicht verwunderlich, dass es nur zwei, sondern dass es überhaupt welche gibt. […] Epische Qualität verschwindet unter den Angriffen eines Clowns.“ Robinson stellt die Glaubwürdigkeit der Kriegsdarstellung in The General über jene der bekannten Bürgerkriegsepen The Birth of a Nation und Gone With the Wind. Zwar wandelt sich Johnnie im Laufe der „männlichen Bewährungsgeschichte“ in Kriegszeiten vom Zivilisten zum Soldaten. Doch „Komik und Ironie beherrschen den Film in den Einzelheiten wie im gesamten Aufbau.“ Die Liebesgeschichte wird durch Kriegswirren und die aufwendige Entführung und Rückentführung von Lokomotive und Annabelle unterbrochen, nur um am Ende wieder dort anzukommen, wo sie begann. Diese „Form der Kreisbewegung“ sei ebenso ironische Pointe wie die Schlusseinstellung des endlos salutierenden Leutnants Johnnie: Annabelle, die „partout einen Uniformierten als Geliebten“ wollte, hat jetzt dank militärischen Grußpflichten einen „Hampelmann“. „Nichts Böseres kann gegen den Krieg unternommen werden als diese gemächliche, nervenlose Heldengeschichte. Alle heroischen Gebärden verkehren sich in ihr Gegenteil.“ Liebe: Mann, Frau und Maschine Der Film erzähle von einer „ungewöhnlichen ménage à trois in Zeiten des Krieges“ zwischen dem Lokführer Johnnie, seinem Mädchen Annabelle und seiner Lokomotive General, wobei Johnnies Liebe zu letzterer offenbar deutlich überwiegt. Einzig die Entführung seiner geliebten Maschine lässt ihn über sich hinauswachsen: Er nimmt die Verfolgung auf, aller vermeintlicher Aussichtslosigkeit zum Trotz. Der Verlust seines Ansehens nach der Ablehnung als Rekrut und der Korb Annabelles ließen ihn hingegen nur in regungslose Traurigkeit versinken. In der Welt der Objekte, so chaotisch sie ist, kann sich durch Zufälle alles zum Guten wenden. „Anders im sozialen Bereich […] Hier kann kein Glück erwartet werden.“ Als in der letzten Einstellung Johnnie Annabelle auf seiner Lokomotive küsst, scheint die „seltsame Dreiecksbeziehung zwischen Mann, Mädchen und Maschine am Ende gefestigt […]. Mit seinem sich hebenden und senkenden Arm imitiert er die Bewegung der Pleuelstange. Die Harmonie der drei Liebenden ist perfekt.“ Es ist die Welt der Maschinen, in der Keatons Leinwandfiguren zu Hause sind. In diesem Film sei dies besonders deutlich zu beobachten. Während die Lokomotive als lebender Mitspieler und Ausdruck von Johnnies dynamischer Persönlichkeit erscheint, behandle Keaton seine Partnerin in diesem Film mehr als Objekt als jede andere Heldin an seiner Seite. Kline schreibt, sie sei „Requisit, Steilvorlage für Gags, wird ob ihrer dummen Aktionen verlacht, sogar in einen Sack gestopft, in den Güterwaggon geworfen […] Wie nie zuvor ist Buster Herr über sein sich schnell bewegendes Universum. Sein Mädchen hat sich den Gesetzen dieses Universums anzupassen oder den Spott zu ertragen.“ Keaton meinte später zur rohen Behandlung seiner Filmpartnerin, Marion Mack habe bei den Dreharbeiten viel Spaß gehabt. „Die meisten Leading Ladies in diesen Tagen sahen immer aus, als kämen sie gerade aus dem Schönheitssalon. […] Wir sagten, zum Teufel damit, wir machen unsere ein wenig schmutzig und behandeln sie etwas härter.“ Veröffentlichungen und Vertonungen The General blieb in einer vollständigen Fassung erhalten und wurde beziehungsweise wird von verschiedenen Labels und Verleihfirmen in Versionen von unterschiedlicher Qualität für öffentliche und private Vorführungen vertrieben. Auch die Längen der ungekürzten Veröffentlichungen können variieren, da die Aufnahme- und Abspielgeschwindigkeit zur Zeit des Stummfilms eine andere beziehungsweise nicht genormt war. Keaton selbst meinte dazu 1962 in einem Interview, dass die höhere Geschwindigkeit des Tonfilms von 24 Bildern pro Sekunde (statt 16 oder 18) The General sehr entgegenkam: „Ich glaube noch immer, dass es für eine Komödie fast unmöglich ist, länger als eineinviertel Stunden zu bestehen. […] Und wenn The General heute so ein Erfolg ist, dann deshalb, weil er jetzt als Tonfilm um die Hälfte schneller projiziert wird […] Komödien aus der [Stummfilm-] Ära können durch die erhöhte Geschwindigkeit profitieren.“ 1987 wurde eine restaurierte Fassung für Thames Television erstellt. Die Musik komponierte Carl Davis, der sie sporadisch live zu Vorführungen des Filmes aufführt. 2006 erschien diese Filmfassung erstmals innerhalb der Edition The Buster Keaton Chronicles des englischen DVD-Labels Network. 2009 veröffentlichte Kino Video eine viragierte Fassung des Films auf Blu-Ray. Als Tonspur ist neben der Musik von Davis auch jene des Stummfilmkomponisten Robert Israel (von 1995) enthalten. 2004 hatte eine digital restaurierte Fassung bei den Filmfestspielen von Cannes Premiere, die vom DVD-Label Mk2 für den privaten Markt vertrieben wird. Für die musikalische Untermalung wurde der japanische Komponist Joe Hisaishi verpflichtet. Auch die Musik von Lee Erwin ist auf einigen Video- beziehungsweise DVD-Veröffentlichungen zu hören. Einen anderen Weg ohne Musikbegleitung geht der „Stummfilmerzähler“ Ralph Turnheim, der den Film mit Live-Lyrik vertont, begleitet und kommentiert. Spätere Verfilmungen In den 1940er Jahren war Keaton bei MGM als Gagman hinter der Kamera beschäftigt. In dieser Eigenschaft arbeitete er an einem inoffiziellen Remake des Films unter dem Titel A Southern Yankee (1948, dt. Der Superspion) mit. Die Komödie mit dem Komiker Red Skelton in der Hauptrolle entfernte sich jedoch deutlich sowohl von der filmischen als auch der literarischen Vorlage. Walt Disney Pictures verfilmte 1956 das zugrundeliegende Buch von William Pittinger The Great Locomotive Chase als Western, deutscher Verleihtitel: In geheimer Mission. Zwar änderten die Drehbuchautoren ebenfalls das historische Ende, doch blieben sie dem Blickwinkel des Buches treu. Keaton zeigte sich an der Verfilmung sehr interessiert und kommentierte die Entscheidung der Disney-Studios, die Nordstaatler als Helden zu inszenieren, als große Schwäche des Films: „Wir wußten es besser.“ Literatur John Boorman, Walter Donohue (Hrsg.): Projections 4½. Faber and Faber Ltd., London 1995, ISBN 0-571-17609-7, S. 287–312. Kevin Brownlow: Pioniere des Films. Vom Stummfilm bis Hollywood. Stroemfeld, Basel u. a. 1997, ISBN 3-87877-386-2. Michael Hanisch: Über sie lach(t)en Millionen. Buster Keaton. Harold Lloyd. Laurel & Hardy. Henschel, Berlin 1976. Heinz-B. Heller, Matthias Steinle (Hrsg.): Komödie (= Filmgenres = Reclams Universal-Bibliothek. 18407). Philipp Reclam jun., Stuttgart 2005, ISBN 3-15-018407-X. Walter Kerr: The Silent Clowns. Alfred A. Knopf, New York NY 1975, ISBN 0-394-46907-0 (Nachdruck. Da Capo Press, New York NY 1990, ISBN 0-306-80387-9). Walter Kerr: The Complete Films of Buster Keaton. Citadel Press, New York NY 1993, ISBN 0-8065-1303-9. Thomas Koebner (Hrsg.): Filmklassiker. Beschreibungen und Kommentare. Band 1: 1913–1946. 4., durchgesehene und erweiterte Auflage. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2002, ISBN 3-15-030028-2. Dieter Kuhaupt: Der Tag, als Buster lächelte. In: EisenbahnGeschichte 63 (2014), S. 72–76. David Robinson: Buster Keaton (= Cinema one. 10). Überarbeitete 2. Auflage. Thames and Hudson Limited, London 1970, ISBN 0-500-47001-4. Kevin W. Sweeney (Hrsg.): Buster Keaton. Interviews. University Press of Mississippi, Jackson MS 2007, ISBN 978-1-578-06963-7. Radiofeature Peter W. Jansen: Jansens Kino. 3. Audio-CD: Goldrausch; Der General. Bertz und Fischer, Berlin 2006, ISBN 3-86505-103-0. Weblinks Auswahl aktueller Kritiken zum Film auf www.mrqe.com (englisch) Besprechung des Films und ausführliche Liste internationaler Sekundärliteratur auf www.filmreference.com (englisch) Besprechung und Hintergrundinformationen zu Keatons Verfilmung des Andrews-Überfall auf www.andrewsraid.com (englisch) Hommage an den Film mit Besprechungen und Fotos auf www.silentsaregolden.com (englisch) Einzelnachweise Filmtitel 1926 US-amerikanischer Film Schwarzweißfilm Stummfilm Sezessionskrieg im Film Kriegsfilm Filmkomödie Schienenverkehr im Film Buster Keaton
190608
https://de.wikipedia.org/wiki/Schwabenkrieg
Schwabenkrieg
Der Schwabenkrieg, in der Geschichtsschreibung auch als Schweizerkrieg oder als Engadiner Krieg bezeichnet, war ein von Januar bis September 1499 dauernder kriegerischer Konflikt zwischen einerseits der Schweizerischen Eidgenossenschaft und andererseits dem Haus Habsburg und seinem maßgeblichen Verbündeten, dem Schwäbischen Bund, um die Vorherrschaft im habsburgisch-eidgenössischen Grenzgebiet. Wenngleich die Eidgenossen den Krieg militärisch gewannen, konnten sie dadurch keinen Gebietszuwachs verzeichnen. Politische Vorgeschichte Der Gegensatz zwischen Habsburg und der Eidgenossenschaft Im 15. Jahrhundert hatte das Haus Habsburg in mehreren Kriegen alle seine Gebiete im schweizerischen Mittelland (1415 Aargau, 1460 Thurgau) bis auf das Fricktal an die Schweizerische Eidgenossenschaft verloren. Nach 1460 begannen verschiedene eidgenössische Orte, Bündnisse mit Reichsstädten nördlich des Rheins zu schließen, so mit Schaffhausen, Rottweil, Mülhausen, Buchhorn und Wangen. Zürich und Bern versuchten zudem, die Stadt Konstanz in die Eidgenossenschaft zu ziehen, die das Hohe Gericht über die eidgenössische Gemeine Herrschaft Thurgau innehielt und auch sonst stark mit der Eidgenossenschaft verbunden war. Die Aufnahme einer weiteren großen Stadt in den Bund wurde aber von den Landkantonen abgelehnt. Im Waldshuterkrieg von 1468 steckten die Eidgenossen dann auch den Sundgau als ihre Einflusszone ab. Schließlich bestätigte ihr Triumph in den Burgunderkriegen klar die regionale Hegemonie der Eidgenossenschaft. Auch der habsburgische Regent von Tirol und Vorderösterreich, Herzog Sigmund von Österreich, musste in der sog. Ewigen Richtung 1474 den Besitzstand der Eidgenossen anerkennen. Unversöhnlich gegen die Eidgenossenschaft eingestellt blieb nur das Oberhaupt des Hauses Habsburg, Kaiser Friedrich III., der aber nur über das Erzherzogtum Österreich, die Steiermark und Kärnten herrschte. Trotzdem blieb dadurch für die Eidgenossenschaft die Gefahr habsburgischer Restitutionsversuche im Aargau und Thurgau bestehen. Der Wiederaufstieg des Hauses Habsburg und der Schwäbische Bund In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sah sich das Haus Habsburg in seiner Substanz bedroht wie nie zuvor. Während der römisch-deutsche Kaiser Friedrich III. seit 1477 in einen katastrophal verlaufenden Krieg mit König Matthias Corvinus von Ungarn verwickelt war, gewannen die bayerischen Herzöge aus dem Haus Wittelsbach in Süddeutschland an Macht und Ansehen. Friedrich III. verlor schließlich alle seine Ländereien an den König von Ungarn, musste fast völlig mittellos im Reich umherziehen und sich von Klöstern aushalten lassen. Sein Neffe, Herzog Sigmund von Österreich, verpfändete inzwischen die Grafschaft Tirol an die bayerischen Herzöge und verkaufte ihnen 1487 Vorderösterreich mit Ausnahme von Vorarlberg. In dieser Situation schritt Kaiser Friedrich III. ein, setzte Sigmund unter Vormundschaft und vertrieb alle wittelsbachisch gesinnten Adligen aus dessen Ländern. Darunter befanden sich einige Herren, die im Burgrecht mit der Eidgenossenschaft standen, z. B. Graf Georg von Sargans und Graf Gaudenz von Matsch, die in der Eidgenossenschaft daraufhin Stimmung gegen Habsburg machten. Um den Wittelsbachern entgegenzutreten, vereinigten sich 1488 auf habsburgische Initiative die süddeutschen Reichsstädte, der in der Adelsgesellschaft des St. Georgenschilds vereinigte süddeutsche Adel, der Graf von Württemberg und die Lande Sigmunds, Vorderösterreich und Tirol, im Schwäbischen Bund. Die Eidgenossen schlugen die Einladung zum Beitritt aus. Der Schwäbische Bund war nun neben der Eidgenossenschaft und dem Herzogtum Bayern die stärkste Macht in Süddeutschland. Kaiser Friedrich III. hatte in der Zwischenzeit seinen Sohn Maximilian 1486 zum deutschen König wählen lassen. Dieser war durch seine Ehe mit Maria von Burgund, der Tochter Karls des Kühnen, in den Besitz der Niederlande und des Herzogtums Burgund gelangt. 1487 konnte die Eidgenossenschaft Maximilian durch Verhandlungen dazu bringen, in einer sog. «Vereinigung» die Ewige Richtung anzuerkennen und zusätzlich alle Privilegien und rechtlichen Besitzstände der eidgenössischen Partner zu garantieren. Damit hatte zum ersten Mal ein habsburgisches Reichsoberhaupt die Existenz der Eidgenossenschaft sowie ihren rechtlichen und territorialen Besitzstand formal anerkannt. Die Eidgenossenschaft verpflichtete sich ihrerseits, Maximilian «als römischem König alles zu tun, das sie als Untertanen des Reiches dem römischen König und dem heiligen Reich zu tun schuldig sind». Die Hinwendung der Eidgenossenschaft zum Reich wurde aber durch Frankreich und Ungarn hintertrieben, so dass 1488 bis auf Zürich, Bern, Zug und Solothurn alle eidgenössischen Stände die Unterzeichnung der Vereinigung mit Maximilian verweigerten. Schließlich fiel diese Vereinigung völlig in sich zusammen, als 1491 die Eidgenossenschaft auf Betreiben Frankreichs einen Freundschafts- und Neutralitätsvertrag mit den Herzögen von Bayern abschloss. Die Konkurrenz zwischen eidgenössischen Reisläufern und schwäbischen Landsknechten Die Konkurrenz Frankreichs mit Maximilian I. um das burgundische Erbe führte zu einer Reihe von Kriegen in Flandern und Burgund, schließlich zum jahrhundertelangen habsburgisch-französischen Gegensatz. Die Eidgenossenschaft als Söldnerlieferant beider Parteien wurde unweigerlich in diesen Konflikt hineingezogen. In allen eidgenössischen Orten gab es eine französische und eine habsburgische Partei, die in teilweise gewaltsamer Konkurrenz um die Abschlüsse lukrativer Soldverträge standen. Während die Innerschweizer Orte eher zu Frankreich neigten, ergriffen Bern und Zürich eher die habsburgische Partei. Maximilian I. versuchte vergeblich, als Reichsoberhaupt das Reislaufen seiner eidgenössischen Untertanen nach Frankreich zu verhindern. Da die eidgenössischen Reisläufer in größerer Zahl nach Frankreich zogen als zu Maximilian, begann dieser, verstärkt schwäbische Landsknechte anzuwerben. Zwischen den eidgenössischen und schwäbischen Söldnern entstand dadurch eine Konkurrenzsituation, die sich in unzähligen Schmähungen, Spottliedern und wechselseitigen Verratsbezichtigungen äußerte. Die Bestrebungen Kaiser Friedrichs III., den Schwäbischen Bund immer weiter auszudehnen, provozierten die Eidgenossenschaft, die Südschwaben als ihre Einflusssphäre betrachtete. Der schwäbische Adel, die Reichsstädte und sogar das gemeine Volk wurden offenbar von einer anti-eidgenössischen Stimmung erfasst. Das lag einerseits daran, dass der süddeutsche Raum im 15. Jahrhundert oft unter den Kriegszügen der Eidgenossen zu leiden hatte, andererseits daran, dass die Eidgenossen die Hauptkonkurrenten der süddeutschen Städte in wirtschaftlicher Hinsicht waren. Es bestand außerdem ein großer Gegensatz zwischen den republikanisch-antiaristokratischen Schweizern und der Adelswelt Südschwabens. Als neuer Faktor kam nun die Konkurrenz der eidgenössischen Reisläufer mit den schwäbischen Landsknechten auf dem Söldnermarkt ins Spiel. Die Entstehung des starken Schwäbischen Bundes in Konkurrenz zum eidgenössischen Bund erfüllte die Städte, Landschaften und den Adel Schwabens mit Genugtuung und Stolz und gab ihnen neues Selbstbewusstsein. All diese Komponenten führten dazu, dass die Menschen nördlich und südlich des Rheins einander immer fremder wurden, begannen, Spottverse aufeinander zu dichten und einander als «Kuhschweizer» bzw. «Sauschwaben» zu bezeichnen. Die Reichsreform unter König Maximilian I. Zwischen 1489 und 1491 erholte sich Habsburg in spektakulärer Weise von den früheren Fehlschlägen. Maximilian konnte endlich sein burgundisches Erbe antreten und erhielt 1490 Tirol und Vorderösterreich. Der plötzliche Tod von Matthias Corvinus entlastete Habsburg im Osten und gab Friedrich III. seine Lande wieder zurück. 1493 starb Friedrich III., womit Maximilian zum ersten Mal seit langer Zeit alle habsburgischen Territorien in einer Hand vereinigen konnte. Die Eidgenossenschaft wurde dadurch praktisch an der ganzen Nordgrenze zum unmittelbaren Nachbarn Habsburgs. Maximilian I. betrieb als römisch-deutscher König die Stärkung der Zentralgewalt im Heiligen Römischen Reich. 1495 konnte er auf dem Wormser Reichstag eine Reichsreform durchsetzen. Die Reichsstände rangen dem König die Zustimmung zu einem Reichsregiment ab. Als Gegenleistung bewilligte der Reichstag eine allgemeine Reichssteuer, den Gemeinen Pfennig, um dem König Mittel zur Kriegsführung gegen Frankreich in Italien und gegen die Türken in die Hand zu geben. Um das Fehdewesen zu beenden, verkündete Maximilian in Worms zudem einen Ewigen Landfrieden, der von dem neu geschaffenen Reichskammergericht überwacht werden sollte. Die Eidgenossenschaft gehörte wohl formal noch immer zum Reich, anerkannte jedoch die dem alten Recht widersprechenden Wormser Beschlüsse nicht und hatte sich mit Ausnahme von Bern auch nicht am Reichstag vertreten lassen. Wegen des St. Gallerkrieges von 1489/90 verhandelte das Reichskammergericht trotzdem Prozesse gegen St. Gallen und das Land Appenzell, die damit endeten, dass beide in die Reichsacht gesetzt wurden. Da St. Gallen der Leinwandhandel mit dem Reich damit unmöglich gemacht wurde, intervenierten die Eidgenossen mehrmals vergeblich beim Reichstag und bei Maximilian I., zuletzt 1497 in Innsbruck. Eine Einigung konnte nicht erreicht werden, da die Eidgenossen die Anerkennung des Gerichts verweigerten. Weitere ähnliche Prozesse liefen auch gegen Mülhausen und Rottweil, auf die als exponierte Verbündete der Eidgenossen nun ebenfalls Druck ausgeübt wurde, sich der Reichsreform zu unterwerfen. Kriegsausbruch Anlass zum Krieg zwischen Maximilian und der Eidgenossenschaft bot die verworrene landesrechtliche Situation in Graubünden. Habsburg hatte bis 1496 acht Gerichte im Prättigau erworben und besaß alte Rechte im Unterengadin, im Münstertal und im Vinschgau, die allerdings von den Bischöfen von Chur bestritten wurden. In diesen Gebieten habsburgischen Einflusses hatten sich zwei Bünde gebildet: Der Gotteshausbund der Untertanen des Bistums Chur und der Zehngerichtebund der ehemaligen toggenburgischen Herrschaften in Graubünden. Die Ansprüche Habsburgs drängten den Gotteshausbund 1498 zu einem Bündnis mit der Eidgenossenschaft; Bischof Heinrich von Chur, gleichzeitig Reichsfürst und Mitglied des Bundes, geriet damit zwischen die Fronten. Im Jänner 1499 ließ der habsburgische Statthalter von Tirol den Vinschgau und das Münstertal militärisch besetzen, um seinen Anspruch gegen die bischöflichen Rechte und den Gotteshausbund durchzusetzen. Das eigentliche Ziel war dabei wohl die Sicherung des Umbrailpasses, der eine direkte Verbindung zwischen Innsbruck und Mailand ermöglichte. Diese Verbindung war für die Sicherung der militärischen Interessen Habsburgs in der Lombardei entscheidend. Während der Bischof von Chur mit Maximilian verhandelte und einen Waffenstillstand erreichte, rief der Gotteshausbund die Eidgenossen zu Hilfe, der Statthalter von Tirol den Schwäbischen Bund. Beide Seiten erreichten mit ihren Truppen das untere Rheintal bei Sargans bzw. Feldkirch noch Anfang Februar 1499. Obwohl am 26. Januar in Glurns ein Abkommen zwischen den Tiroler Landständen und Bischof Heinrich von Chur besiegelt wurde, das eine friedliche Streitbeilegung durch das Reichskammergericht vorsah, kam es zu Zusammenstössen zwischen schwäbischen Landsknechten und eidgenössischen Kontingenten bei Balzers. Dabei spielten offenbar Provokationen auf beiden Seiten eine Rolle. Am 6. Februar überschritt der Urner Hauptmann Heini Wolleb mit einem kleinen Kontingent kurzzeitig den Rhein und setzte einige Häuser in Brand. Dieser Zwischenfall gab den schwäbischen Truppen einen willkommenen Vorwand, am 7. Februar den St. Luzisteig-Pass und Maienfeld zu besetzen. Die Berichte über diese erste Phase des Krieges sind widersprüchlich und verwirrend. Offenbar wollte eigentlich keine Seite den Konflikt. Der Schwäbische Bund und die Eidgenossenschaft standen sich nach dem 7. Februar 1499 waffenstarrend in einem Krieg gegenüber, den eigentlich niemand erklärt hatte. Maximilian hatte zu diesem Zeitpunkt sicher kein Interesse an diesem Konflikt, da er in Burgund und in Italien in einen langwierigen Krieg mit Frankreich verwickelt war. Kampfhandlungen Erste Zusammenstöße entlang des Rheins zwischen Basel und Maienfeld Am 11. und 12. Februar vertrieben die Eidgenossen und die Bündner die schwäbischen Bundestruppen vom St. Luzisteig und aus Maienfeld und stießen ins heutige Fürstentum Liechtenstein vor. Im Gefecht bei Triesen wurde ein schwäbisches Aufgebot geschlagen und die Eidgenossen zogen bis zum Bodensee vor. Bei Bregenz trafen sie am 22. Februar (Anm.: Auf der Übersichtskarte/Infokarte dieses Artikels ist das Datum dieser Schlacht falsch angegeben) auf ein weiteres feindliches Heer, das im Gefecht bei Hard vernichtet wurde. In der Zwischenzeit war ein anderes eidgenössisches Heer in den Hegau eingefallen und hatte zahlreiche Dörfer und Städte verwüstet und geplündert (Erster Hegauerzug). Die Eidgenossen zogen sich jedoch bald wieder über die Grenze zurück. Truppen des Schwäbischen Bundes überfielen erst einige Zeit später, am 22. März, das solothurnische Dornach, erlitten jedoch gegen ein eidgenössisches Heer beim Gefecht am Bruderholz eine vernichtende Niederlage. Anfang April ließ Maximilian durch den Reichstag von Mainz die Reichsacht und den Reichskrieg gegen die Eidgenossenschaft verhängen. Beide Seiten begannen daraufhin, Gebiete des Gegners entlang des Rheins zu plündern und zu verwüsten. Der Krieg wurde von beiden Seiten mit äußerster Grausamkeit auch gegen die Zivilbevölkerung geführt. Die eidgenössische Tagsatzung beschloss zudem am 11. März, dass in der Schlacht keine Gefangenen gemacht werden durften, d. h., dass jeder, der lebend in die Hände der Eidgenossen fiel, niedergemacht («abgetan») werden musste. Die Maßnahme zielte auf die Schlachtendisziplin der kämpfenden Truppe und sollte verhindern, dass sich einzelne Kämpfer nach Gefangennahme eines überwältigten Gegners unkontrolliert vom Schlachtfeld zurückzogen und damit den Schlachtenerfolg gefährdeten. (In anderen Konflikten wie den Burgunderkriegen hatten die Eidgenossen durchaus das übliche Geschäft mit Lösegeldern für die Gefangenen betrieben.) Damit dieser drastische Beschluss auch von der Truppe umgesetzt würde, ließ man ihn explizit durch alle Truppenkontingente beschwören, was offenbar, wie die teilweise sehr hohen Opferzahlen auf schwäbischer Seite zeigen, seine Wirkung nicht verfehlte. Die Entscheidung im Osten: Triboltingen/Schwaderloh, Frastanz und Calven Am 11. April 1499 versuchte der Schwäbische Bund einen größeren Angriff auf den Thurgau. Südlich von Konstanz wurden einige Dörfer geplündert. Als die eidgenössischen Truppen in der Schlacht im Schwaderloh in der Nähe von Triboltingen auf das schwäbische Heer stießen, wurde dieses vernichtend geschlagen. Etwa 1300 Schwaben, darunter 150 Bürger von Konstanz, starben und die Eidgenossen erbeuteten die gesamte Artillerie und den Tross. Darauf zogen die Eidgenossen am 17. April erneut in den Klettgau und den Hegau und plünderten mehrere Städte, so Tiengen und Stühlingen (Zweiter Hegauerzug). Der ganze Krieg ist eigentlich durch solche kleineren Überfälle und Plünderungen charakterisiert, die immer wieder durch größere Schlachten unterbrochen wurden. Am 20. April traf eine solche Expedition der Eidgenossen im Vorarlberg bei Frastanz auf Befestigungen des Schwäbischen Bundes, die ein Eindringen des Feindes ins Montafon und nach Feldkirch verhindern sollten. Die Schlacht bei Frastanz ging aber ebenfalls siegreich für die Eidgenossen aus. Sie wird als einer der entscheidenden Kämpfe des Schwabenkrieges angesehen. Maximilian hatte sich in der Zwischenzeit von den Niederlanden nach Konstanz begeben. Da sein Aufruf zum Reichskrieg gegen die Eidgenossenschaft nicht die erhoffte Resonanz zeigte, konnte er nicht genügend Truppen für einen Angriff vor Ort zusammenbringen. Er beschloss deshalb eine Attacke auf das weit vom nördlichen Schauplatz entfernte Münstertal, da die Eidgenossen immer noch im Sundgau und am Rhein gebunden waren. Am 21. Mai stießen die Eidgenossen zum dritten Mal mit einem Heer in den Hegau vor, wichen jedoch vor einem starken Heer des Schwäbischen Bundes ohne eine Schlacht wieder über den Rhein zurück. Bevor Maximilian seine Armee, die bei Glurns im Vinschgau lag, genügend verstärken konnte, griffen die Bündner mit eidgenössischer Unterstützung an und schlugen am 22. Mai die habsburgische Streitmacht in der Schlacht an der Calven. Die überwältigten Gegner wurden unter grausamen Massakern – begleitet von Plünderungen und Verwüstungen – bis weit in den Vinschgau hinunter verfolgt. Maximilian traf eine Woche später ein und verwüstete mit seiner Truppe in einer Racheaktion das Engadin, musste aber bald wieder vor anrückenden eidgenössischen Truppen zurückweichen. Da der Schwäbische Bund aus Angst vor Einfällen der Eidgenossen in sein Gebiet keine Kräfte zur Unterstützung Maximilians nach Graubünden entsenden wollte, musste er wieder in den Bodenseeraum zurückkehren. Im Juli traf endlich das Reichsheer in Konstanz ein und wurde von Maximilian am 16. Juli persönlich gemustert. Es umfasste um die 2500 Reiter und 10.000 Fussknechte. Zahlreiche Fürsten waren persönlich angereist, so Herzog Georg von Baiern-Landshut, Albrecht von Sachsen, Markgraf Friedrich von Brandenburg-Ansbach, Graf Ludwig von der Pfalz, Markgraf Christoph von Baden und Herzog Ulrich von Württemberg. Die Eidgenossen erwarteten nun einen neuerlichen Vorstoß in den Thurgau und sie versammelten noch einmal ein großes Heer bei Schwaderloh. Maximilian blieb jedoch untätig. Der Grund dafür ist unklar, wahrscheinlich lag er darin, dass man sich im Rat der Fürsten einerseits nicht auf einen Plan einigen konnte und andererseits das Heer der Eidgenossen zu stark schien. Am 22. Juli verließ Maximilian das Lager bei Konstanz und fuhr mit einigen Truppen nach Lindau. Unterwegs landeten die Truppen bei Rheineck, griffen Rorschach an und plünderten das Städtchen. Als der König Konstanz verließ, zog der größte Teil der Bundestruppen wieder ab. Am 25. Juli kam es dabei bei Thayngen zu einem letzten Scharmützel. Die schwäbischen Truppen marschierten gegen Schaffhausen, als sie bei der Plünderung von Thayngen auf überraschend starken Widerstand trafen. Der Angriff wurde von rund 30 im befestigten Kirchturm verschanzten einheimischen Bauern wohl 17 Stunden lang, bis zu ihrem Tod durch Sprengung des Turmes, aufgehalten, als eine 800 Mann starke eidgenössische Entsatztruppe von Schaffhausen her gefährlich näher rückte. Daraufhin zog sich das schwäbische Ritterheer kampflos zurück, obwohl es zahlenmäßig überlegen war. Die Entscheidung im Westen: Dornach Die Entscheidung im Schwabenkrieg fiel schließlich im Westen. Dort hatten die Bundestruppen zwar in der Zwischenzeit einmal einen Vorstoß bis zum Hauenstein in solothurnisches Gebiet gewagt und dabei bei Laufen an der Birs ein eidgenössisches Kontingent geschlagen, aber außer der Rückeroberung des Birstales keine weiteren Erfolge verbuchen können. Die lange Dauer des Krieges ohne Entscheidung setzte Maximilian ab Mitte Juli finanziell unter Druck, da die geldrischen Söldner in diesem westlichen Heer wegen ausstehenden Solds mit ihrem Abzug drohten. Aus einem Bericht des Kommandanten, des Grafen Heinrich von Fürstenberg, geht hervor, dass er monatlich für die etwa 1000 Pferde starke «Welsche Garde» 6000 Gulden, für die Fußknechte 4000 und für die Herren und Ritter mit ihren Knechten 2000 Gulden benötigte. Auch die schwäbischen Landsknechte wurden unruhig, da die Ernte bevorstand und ein Kriegsende immer noch nicht in Sicht schien. Nach einer Beratung mit allen anwesenden Fürsten in Ensisheim vom 4. bis 10. Juli wurde deshalb ein Angriff auf Solothurn beschlossen mit dem Ziel, alles Gebiet bis zur Aare hin zu erobern und zu plündern. So konnte das Heer wenigstens mit Beute ruhiggestellt werden. Der Hauptangriff erfolgte bei Basel. Das Hauptheer von um die 10.000 Mann zog unter dem Kommando Heinrichs von Fürstenberg vom Lager bei Altkirch zur solothurnischen Festung Dorneck, die erobert werden sollte, um den Übergang über den Hauenstein zu ermöglichen. Die Eidgenossen zogen ihm mit hastig zusammengezogenen 6000 Mann, vor allem den Solothurnern unter Niklaus Konrad, entgegen und überraschten die schwäbischen Truppen noch während der Belagerung. In der Schlacht bei Dornach errangen die Eidgenossen den entscheidenden Sieg, als rund 1200 Luzerner und Zuger eintrafen und den Ausschlag in einem mehrstündigen Kräfteringen gaben. Nach schweren Verlusten wandte sich das schwäbische Heer zur Flucht und ließ erneut den gesamten Tross sowie die Artillerie zurück. Heinrich von Fürstenberg und um die 3000 weitere Ritter und Söldner blieben tot auf dem Schlachtfeld. Die Eidgenossen verloren um die 500 Mann. Friedensverhandlungen und Ende des Krieges Nach der Schlacht bei Dornach hatte die schwäbische Ritterschaft das Vertrauen in die militärischen Fähigkeiten Maximilians verloren und verweigerte die Aufstellung einer neuen Armee. Der Schwäbische Bund hatte bisher einen drastisch höheren Blutzoll als die Eidgenossen bezahlt, Südschwaben war wiederholt verwüstet und geplündert worden, und praktisch die gesamte Artillerie war an die Eidgenossen verloren gegangen. Auch die Eidgenossen unternahmen Ende Juli keine weiteren Kriegszüge mehr, da die Ernte anstand. Ein erstes Friedensangebot Maximilians im August lehnten sie jedoch noch ab. Schließlich wurde der Schwabenkrieg durch Ereignisse jenseits der Alpen zu einem Ende gebracht. Während Maximilian mit der Eidgenossenschaft beschäftigt war, hatte der französische König Ludwig XII. das Herzogtum Mailand weitgehend unter seine Kontrolle gebracht. Der Mailänder Herzog, Ludovico Sforza, wollte gegen die Franzosen sowohl König Maximilian I. als auch die Eidgenossen für sich gewinnen und vermittelte deswegen zwischen den Parteien: Ohne Friede war es weder möglich, Schweizer Söldner noch schwäbische Landsknechte für einen Feldzug gegen Ludwig XII. zu werben, mit ging beides gleichzeitig. In der Tat: Obwohl französische Agenten bei der eidgenössischen Tagsatzung eine Einigung zu verhindern suchten, gelang dem Mailänder mit reichlich Bestechungsgeld die Vermittlung. Am 22. September 1499 wurde der Friede zu Basel zwischen Maximilian und den Eidgenossen besiegelt. Im Friedensvertrag war nun keine Rede mehr von einem Reichskrieg, sondern nur noch von einem Krieg zwischen zwei Reichsständen: Maximilian trat demgemäß nur in seiner Eigenschaft als Erzherzog von Österreich und Graf von Tirol auf, auf der anderen Seite stand Bischof Heinrich von Chur. Der Friede von Basel bestätigte die habsburgischen Rechte in den acht Gerichten des Prättigau, sprach die Hohe Gerichtsbarkeit im Thurgau den Eidgenossen zu und etablierte eine Schiedsgerichtsbarkeit für Streitigkeiten zwischen Habsburg und den Eidgenossen. Nicht erwähnt wurde das Verhältnis der Eidgenossen zum Reich. Es wurde lediglich festgelegt, dass der deutsche König alle Acht und Prozesse und Beschwerden, die vor und während des Krieges verhängt oder eingeleitet worden waren, aufzuheben habe «und dass sonst in betreff aller anderen Sachen, so hierin nicht begriffen sind, beide Teile bleiben sollten, wie sie vor dem Kriege bestanden und herkommen sind», also der rechtliche Status quo ante wiederhergestellt werden sollte. Damit wurde das Reichskammergericht gegenüber der Eidgenossenschaft lahmgelegt und der faktisch unabhängige Status der Eidgenossenschaft vor dem Konflikt eigentlich anerkannt. Die Beschlüsse der Reichsreform wurden in der Eidgenossenschaft deshalb nie umgesetzt. Die Reichsstädte Basel und Schaffhausen traten hingegen 1501 der Eidgenossenschaft bei. Fazit Durch den Schwabenkrieg konnte die Eidgenossenschaft erfolgreich ihre Selbständigkeit innerhalb des Heiligen Römischen Reiches verteidigen. Rechtlich gesehen blieb sie aber bis zum Westfälischen Frieden von 1648 Teil des Reiches. Der Reichsadler wurde deshalb weiter in der Schweiz verwendet, wenn die Wappen der einzelnen Landschaften, Reichsstädte oder aller eidgenössischen Orte insgesamt dargestellt wurden, da sie sich als reichsunmittelbare Stände des Reiches begriffen. Schließlich war das Königtum Quelle aller Privilegien, Rechte und der eigentlichen Staatlichkeit aller Glieder der Eidgenossenschaft. Im 19. Jahrhundert wurde trotzdem das Resultat des Schwabenkrieges dahingehend interpretiert, dass mit dem Frieden von Basel die «faktische Unabhängigkeit» vom Reich erreicht worden sei. Territorial hatte der Friede vor allem eine bedeutende Folge: Die Landgerichtsbarkeit über den Thurgau ging von der Stadt Konstanz an die Eidgenossenschaft, womit der Rhein und der Bodensee als Nordgrenze und Abschluss des Territoriums der Eidgenossenschaft erreicht wurden. Konstanz selber blieb definitiv ausserhalb der Eidgenossenschaft. Die Eidgenossenschaft und die Zugewandten rückten durch den Sieg über Habsburg und die gemeinsam erlebte Bedrohung innerlich enger zusammen. Der Begriff «Schweizer» als Kollektivbezeichnung für alle Eidgenossen und Zugewandten setzte sich im Schwabenkrieg nicht zuletzt deshalb endgültig auch in der Eidgenossenschaft selbst durch. «Schweizer» wurden die Eidgenossen zwar seit dem 14. Jahrhundert von deutschen Chronisten genannt. Der Name des Kantons Schwyz hat sich dabei auf alle übrigen Eidgenossen übertragen. Für viele Eidgenossen, vor allem aus den Städten, erschien dies anfänglich als Beleidigung, da sie nicht mit den Bauern aus Schwyz in einen Topf geworfen werden wollten. «Schweizer» wurde nämlich in Süddeutschland und in den habsburgischen Landen oft mit dem Zusatz «Kuh-Schweizer» verwendet, um auf die bäuerliche, nicht-aristokratische Herkunft der Eidgenossen hinzuweisen. Außerdem enthielt der Begriff auch eine Anspielung auf angebliche sodomistische Praktiken der Bauern mit ihren Kühen. Paradoxerweise wurde der Schimpfname durch den Burgunder- und den Schwabenkrieg in ganz Europa verbreitet und auch in der Eidgenossenschaft selber populär. Die Beschimpften trugen den Schimpfnamen, gestärkt durch ihre Erfolge, mit Stolz (siehe Melioration). Als amtliche Bezeichnung setzte sich jedoch die Staatsbezeichnung «Schweiz» nie durch. Seit dem 17. Jahrhundert war die Kombination «Schweizerische Eidgenossenschaft» am weitesten verbreitet und wurde 1803 zur offiziellen Bezeichnung des unter Aufsicht Napoleons neu gestalteten Staatswesens. Durch den Frieden von Basel und die Aufnahme Basels und Schaffhausens in die Eidgenossenschaft wurde die Nord- und Ostgrenze der Eidgenossenschaft bis auf wenige kleinere Korrekturen bis 1798 festgelegt. Die Anerkennung des Besitzstandes der Eidgenossen durch König Maximilian I. bedeutete auch umgekehrt den Verzicht der Eidgenossenschaft auf eine weitere Ausdehnung nach Norden durch den Abschluss weiterer Burgrechte und Bündnisse mit Landschaften und Städten, wie dies bis anhin die Praxis gewesen war. Der Schwabenkrieg war damit die letzte große Auseinandersetzung zwischen der Eidgenossenschaft und Habsburg bis in die napoleonische Zeit. Trotz mehrerer erfolgreicher Eroberungs- und Plünderungszüge eidgenössischer Kontingente in den Sundgau, Klettgau und den Hegau konnten durch den Schwabenkrieg keine größeren Gebietsgewinne realisiert werden. Solothurn, Schaffhausen und Zürich versuchten zwar mehrfach, die anderen Eidgenossen zur längerfristigen Besetzung und Sicherung der Eroberungen zu bewegen, das Misstrauen zwischen den Land- und den Stadtkantonen verhinderte aber jeden langfristigen Gebietserwerb. Die Grausamkeit der Kriegsführung entfremdete zudem die Bevölkerung der Grenzgebiete der Eidgenossenschaft, so dass mit der Unterstützung einer Annexion durch die lokale Bevölkerung nicht mehr zu rechnen war. Literatur Hans Rudolf Fuhrer: Der Schwaben- oder Schweizerkrieg 1499. In: Pallasch. Zeitschrift für Militärgeschichte. Bd. 5 (2001), Heft 11, S. 26–31. Ernst Hunkeler: Der Schwabenkrieg in unseren Landen, Verlag Peter Meilli, Schaffhausen 1973 ISBN 3-85805-015-6 Heinrich Witte (Bearbeiter): Urkundenauszüge zur Geschichte des Schwabenkriegs. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, NF Band 14 (1899), m66–m144 im Internet Archive Heinrich Witte (Bearbeiter): Urkundenauszüge zur Geschichte des Schwabenkriegs (Fortsetzung). In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, NF Band 15 (1900), m3–m100 im Internet Archive Hans Frey: Ueber Basels Neutralität während des Schwabenkrieges. In: Beiträge zur vaterländischen Geschichte, Band 10 (1875), S. 318–349 doi:10.5169/seals-110714 Weblinks Alois Niederstätter: Schwabenkrieg/Schweizerkrieg, 1499 auf www.historisches-lexikon-bayerns.de Forum 1499 - Der Schwabenkrieg, Ausstellungsprojekt 1999 Quellendokumentation zum Schwabenkriegs mit weiteren Verweisen und Sekundärliteratur im Volltext Stadtarchiv Schaffhausen - Der Schwabenkrieg 1499 aus der Sicht der Stadt Schaffhausen Homepage der Thurgauer Landsknechte, die die Erinnerung an die Schlacht von Schwaderloh wachhalten Feldherr des Schwabenkrieges - Graf Heinrich von Fürstenberg Themenportal «Schwabenkrieg» auf historicum.net Anmerkungen Krieg in der Schweizer Geschichte Krieg in der österreichischen Geschichte Geschichte Vorarlbergs Krieg (15. Jahrhundert) Geschichte des Alpenrheintals Krieg (Europa)
191885
https://de.wikipedia.org/wiki/USS%20Kitty%20Hawk%20%28CV-63%29
USS Kitty Hawk (CV-63)
Die USS Kitty Hawk (CV-63) (bis 1973 CVA-63) war ein Flugzeugträger der United States Navy und Typschiff der Kitty-Hawk-Klasse. Sie ist nach der Stadt Kitty Hawk in North Carolina benannt, in der die Gebrüder Wright ihren ersten Motorflug absolvierten. Das Schiff wurde 1961 in Dienst gestellt und nahm ab 1966 am Vietnamkrieg teil. In den 1970er und 1980er Jahren fuhr der Flugzeugträger u. a. während des Ogadenkrieges, der Geiselnahme von Teheran und dem Iran-Irak-Krieg auch im Indischen Ozean und dem Arabischen Meer. Während des Golfkrieges 1990 lag die Kitty Hawk in der Werft, so dass sie nicht zum Einsatz kam. 1998 wurde sie als einziger vorgeschobener Träger der US Navy in Yokosuka, Japan, stationiert. Von dort aus wurde sie während des Irakkrieges 2003 eingesetzt. Die Kitty Hawk war der letzte verbliebene US-Träger mit ölbefeuertem Antrieb und wurde am 31. Januar 2009 nach über 47 Jahren außer Dienst gestellt. Technik Die Kitty-Hawk-Klasse besteht aus drei im Wesentlichen baugleichen Flugzeugträgern, eine vierte Einheit, die John F. Kennedy gilt auf Grund von vorgenommenen Modifikationen teilweise als eigene Klasse. Die Kitty Hawk ist 323 Meter lang, das Flugdeck ist über 75 Meter breit. Die Verdrängung des Schiffs beträgt voll beladen über 80.000 Standardtonnen (ts). Im Gegensatz zu den späteren Trägern der US Navy, die durch Kernreaktoren angetrieben werden, besaßen Kitty Hawk und ihre Schwestern als letzte Träger noch einen konventionellen Antrieb. Acht ölbefeuerte Dampfkessel erzeugten Dampf für vier Getriebeturbinen, die die vier Wellen des Trägers antrieben. Die Antriebsleistung lag bei rund 280.000 hp (209 MW), die maximal mögliche Geschwindigkeit bei über 30 Knoten. Zu Beginn ihrer Einsatzzeit besaß die Kitty Hawk am Heck zwei Lenkraketenstarter für RIM-2 Terrier. Diese Waffen konnten Luftziele auf mittlere Entfernung angreifen. 1975 wurden die Terrier abgerüstet, stattdessen wurden als Luftabwehrsysteme drei Starter für RIM-7 Sea Sparrow und 1980 drei Phalanx-CIWS-Kanonen eingerüstet. 2001 kam außerdem ein Starter für die RIM-116 Rolling Airframe Missile hinzu, der auf einer Plattform am Bug eine Sea Sparrow und eine Phalanx ersetzte. Im Hangar direkt unter dem Flugdeck und auf dem Deck selbst konnten insgesamt bis zu 85 Luftfahrzeuge mitgeführt werden, diese waren in einem Carrier Air Wing organisiert und deckten sämtliche benötigten Rollen von Aufklärung über Luftverteidigung und Bodenangriffe bis hin zu Rettungseinsätzen und Transportflügen ab. Verteidigung gegen angreifende Flugzeuge, Schiffe oder U-Boote bot dem Träger die obligatorische Flugzeugträgerkampfgruppe, die aus mehreren Zerstörern und Kreuzern sowie Atom-U-Booten bestand. Diese bildete zusammen mit den Luftraumüberwachungsflugzeugen einen Schutzschirm um den Träger und konnte außerdem Marschflugkörper auf feindliche Landziele abfeuern. Name und Klassifizierung Der Flugzeugträger wurde nach der Stadt Kitty Hawk, North Carolina, benannt. Der gerade 3000 Einwohner zählende Ort liegt an der Atlantikküste auf Bodie Island auf den windreichen Outer Banks. Dort gelang den Gebrüdern Wright 1903 mit dem Wright Flyer der erste motorisierte Flug. Bereits im Zweiten Weltkrieg benannte die Navy ein Flugzeugtransportschiff, die USS Kitty Hawk (AKV-1), nach der Stadt. Zu ihrer Indienststellung erhielt die Kitty Hawk die Kennung CVA-63. Die 63 ist eine laufende Kennnummer über alle Flottenflugzeugträger der US Navy, CVA kennzeichnet den Schiffstyp. CV ist die klassische Kennung für Flugzeugträger, sie steht für Cruiser Volplane, etwa Kreuzer mit Flugdeck. Das A für attack zeigte den Fokus des Träger-Geschwaders auf Landangriffe. 1973, mit dem Wegfall der letzten auf U-Jagd spezialisierten Träger der Essex-Klasse, erhielten die Angriffs-Geschwader auch U-Jagd-Flugzeuge. Auf der Kitty Hawk wurde eine solche gemischte Konfiguration erstmals realisiert. Um das nun breite Spektrum an ausführbaren Missionen anzuzeigen, wurde das A fallengelassen. 1975 wurde das A dann flottenweit aus den Kennungen gestrichen. Geschichte Planung und Bau Der Bau des ersten Trägers der neuen Klasse wurde am 1. Oktober 1955 genehmigt. Den Auftrag erhielt die New York Shipbuilding am Ostufer des Delaware River bei Camden, New Jersey. Dort wurde am 27. Dezember 1956 der Kiel der CVA-63 gelegt. Nach rund dreieinhalb Jahren Bauzeit lief der Träger am 21. März 1960 vom Stapel und wurde getauft. Taufpatin des Schiffs war Mrs. Camilla F. McElroy, die Ehefrau des früheren US-Verteidigungsministers Neil H. McElroy. Nach Erprobungsfahrten wurde die Kitty Hawk am 21. April 1961 offiziell in Dienst gestellt. Hauptredner auf der Zeremonie in der Philadelphia Naval Shipyard war Admiral Hyman Rickover, der damalige Chief of Naval Operations (CNO). Es folgten weitere Testfahrten aus der Naval Station Norfolk. Zu dieser Zeit berichteten viele Medien bereits über Probleme, die durch Nachlässigkeiten der Werftarbeiten entstanden seien. Im Juni 1961 bestätigte der damalige United States Secretary of the Navy, John Connally, dies: „A large number of discrepancies and deficiencies have shown up in the Kitty Hawk.“ Er kündigte an, dass dies weitere Untersuchungen nach sich ziehen würde, sagte aber auch, dass Probleme bei Typschiffen neuer Klassen nichts Ungewöhnliches seien. Zusätzlich änderte die Navy die Baupläne, nachdem der Träger bereits auf Kiel gelegt worden war, was zu Verzögerungen geführt hatte. Ende 1961 erreichten die Navy und New York Ship eine Einigung; die Navy zahlte für den Bau des Trägers 178 Millionen US-Dollar an die Werft. Der Gesamtpreis inklusive aller Bordausrüstung, aber ohne Flugzeuge, belief sich auf 265,2 Millionen Dollar. Erste Jahre Am 17. Juli 1961 landete das erste Flugzeug auf dem Flugdeck des neuen Trägers, eine Grumman C-1A Trader. Auf der Kitty Hawk wurde das Geschwader Carrier Air Wing Eleven (CVW 11) stationiert. Nach weiteren Probefahrten im Atlantik verließ die Kitty Hawk am 11. August Norfolk mit Ziel San Diego, wo sie stationiert werden sollte. Im Oktober umrundete sie Kap Hoorn und lief in den Pazifik ein, am 1. November 1961 erreichte der Träger San Diego. Auf dieser Fahrt machte die Kitty Hawk bereits Auftaktbesuche in vielen Häfen Mittel- und Südamerikas; als sie ihr Ziel erreicht hatte, waren bereits über 1000 Flugzeuglandungen an Deck zu verzeichnen. Im November kam der damalige Chief of Naval Operations (CNO) George Whelan Anderson, Jr. an Bord, erstmals wurde der Marineführung die Leistungsfähigkeit des neuen Trägers dargestellt. Die Kitty Hawk leitete ihre Kampfgruppe Topeka, Henry B. Wilson, Preble und Blueback bei U-Jagd-Übungen. Im Anschluss ging sie in die Werft. In der San Francisco Naval Shipyard wurden auf den ersten Fahrten gefundene Fehler behoben. Im Mai 1962 dockte die Kitty Hawk aus. Im Herbst 1962 begann die Kitty Hawk ihre erste Einsatzfahrt. Im Oktober löste sie die Midway im Westpazifik ab. Am 13. Oktober wurde der Träger das Flaggschiff der Siebten Flotte, als Admiral Thomas H. Moorer auf dem Träger das Flottenkommando übernahm. Im Laufe der Fahrt wohnten mehrere ausländische Gäste Einsatz-Vorführungen bei, später standen Übungen vor Taiwan und Japan sowie Hafenbesuche in mehreren asiatischen Häfen an. Im April 1963 kehrte die Kitty Hawk nach San Diego zurück. Im Juni besuchte US-Präsident John F. Kennedy mit seinem Marineminister Fred Korth und Mitgliedern des militärischen Führungsstabs Joint Chiefs of Staff den Träger vor der Küste Kaliforniens. Eine Streitmacht mit über 30 Kriegsschiffen demonstrierte unter anderem ihre Möglichkeit, Seewege zu kontrollieren, wie die USA es im vorhergehenden Jahr während der Kubakrise getan hatten. Im August 1963 startete Project Whale Tale auf der Kitty Hawk. Da die CIA Probleme hatte, ihre Spionageflugzeuge vom Typ Lockheed U-2A Dragon Lady nah genug an potentiellen Zielgebieten zu stationieren, sollten diese auf ihre Trägertauglichkeit geprüft werden. Am 5. August startete eine U-2 erstmals vom Deck der Kitty Hawk. Während der Start ohne Katapult-Unterstützung gelang, konnte Testpilot Bob Schumacher nicht wieder auf dem Träger landen. Nach einigen weiteren Versuchen von durch Kelly Johnson modifizierten U-2 auf anderen Trägern wurde das Projekt abgebrochen. Flugzeugträger hätten zu viel Zeit benötigt, um die Zielgebiete zu erreichen.  Im Oktober 1963 verlegte der Träger zu seiner zweiten Fahrt in den Westpazifik. Er nahm um den Jahreswechsel an zwei Übungen für amphibische Kriegsführung mit den Streitkräften Taiwans teil. Ab Mai 1964 flogen Flugzeuge der Kitty Hawk Aufklärungsmissionen über Laos, wo die Pathet Lao begonnen hatten, kommunistische Kämpfer über den Ho-Chi-Minh-Pfad in das Land zu bringen. Zwei Flugzeuge der Kitty Hawk wurden abgeschossen. Während der Pilot der zweiten Flugzeuges am 7. Juni nur einen Tag nach dem Abschuss gerettet wurde, wurde der am 6. Juni abgeschossene Charles F. Klusmann von den Rebellen gefangen genommen und blieb fast drei Monate in Gefangenschaft. Er war damit der erste US-Marineflieger, der im beginnenden Vietnam-Konflikt in Gefangenschaft geriet. Beide Piloten wurden von der Air America aus dem Land geflogen. Im Juli 1964 kehrte die Kitty Hawk nach Amerika zurück. Von September 1964 bis Januar 1965 wurde der Träger für 14 Millionen US-Dollar in der Puget Sound Naval Shipyard überholt. Im Anschluss wurden Teile des Disney-Films Lt. Robin Crusoe, USN, auf der Kitty Hawk gedreht. Im Oktober verließ sie San Diego und begann mit Zwischenstation in Pearl Harbor, Hawaii die erste Fahrt in den Vietnamkrieg. An Bord befanden sich neben Überwachungsflugzeugen des Typs Grumman E-2 Hawkeye vor allem Bomber des Typs North American A-5 Vigilante und Grumman A-6 Intruder sowie später auch Vought A-7 Corsair II. Jagdschutz boten McDonnell F-4B Phantom II und Douglas A-4 Skyhawk. Vietnamkrieg Über Subic Bay auf den Philippinen erreichte die Kitty Hawk Ende November 1965 die vietnamesische Küste. Am 26. November hoben erstmals Flugzeuge der Kitty Hawk zu Angriffen auf Ziele in Nordvietnam ab. Der Träger bezog Position auf der Yankee Station im Golf von Tonkin, von dem aus regelmäßig Angriffe von drei Flugzeugträgern der US Navy starteten. Bereits am ersten Tag fanden im Rahmen der Operation Rolling Thunder 90 Starts statt; die Flugzeuge warfen 140 Tonnen Bomben ab. Am 2. Dezember verlor der Träger sein erstes Flugzeug in diesem Krieg, beide Piloten starben. Vier Tage später brach in Maschinenraum 3 ein Feuer aus, durch das zwei Besatzungsmitglieder starben und 29 weitere verletzt wurden. Der Besatzung gelang es, das Feuer nach drei Stunden zu löschen; der Träger blieb voll einsatzfähig. Kurz vor den Weihnachtstagen griffen Verbände aus bis zu 110 Flugzeugen von drei Flugzeugträgern die Kraftwerke von Uong Bi an; insgesamt vier Maschinen der Staffeln der Kitty Hawk wurden dabei abgeschossen. Im Anschluss wurde die Kitty Hawk abgelöst und verbrachte den Jahreswechsel in Japan im Hafen. Mitte Januar war der Träger wieder vor der Küste. Im Rahmen der Operation Steel Tiger sollte das Einsickern nordvietnamesischer Kräfte über Laos in den Süden verhindert werden. Im Februar flogen die Flugzeuge der Kitty Hawk wieder verstärkt Rolling-Thunder-Missionen. Schlechtes Wetter behinderte in den folgenden Wochen die Einsätze von den Yankee- und Dixie Stationen aus. Mitte März wurde die Kitty Hawk dann nach Subic Bay geschickt, wo sie zwei Wochen lag. Am 31. März war sie wieder auf Dixie Station, später dann auf Yankee. Bei den von dort gestarteten Einsätzen warfen die Flugzeuge rund 100 Tonnen Bomben pro Tag auf nordvietnamesische Stellungen und Städte ab. Im Monat April verlor das Schiff neun Flugzeuge durch Beschuss oder technisches Versagen. Am 30. April folgte die nächste Ruheperiode in Subic Bay; am 8. Mai erreichte das Schiff wieder Yankee Station. Bis zum 23. Mai warfen die Flugzeuge wieder rund 110 Tonnen Bomben pro Tag auf Nordvietnam ab. Danach beendete die Kitty Hawk ihren ersten Kriegseinsatz, in dem über 10.000 Flüge vom Deck des Trägers gestartet waren. Die Besatzung erhielt für den Einsatz eine Navy Unit Commendation. Im Juni erreichte die Kitty Hawk San Diego, um Instandhaltungsarbeiten durchführen zu lassen. Am 25. Juni wurde Lt. Robin Crusoe, USN, im Hangar des Trägers uraufgeführt. Im November 1966 war die Kitty Hawk zum zweiten Mal vor Vietnam. Bis in den Juni 1967 hinein verbrachte der Träger insgesamt 117 Tage auf Yankee Station. In über 10.000 Einsatz- und Unterstützungsflügen warfen die Flugzeuge über 11.000 Tonnen Bomben auf nordvietnamesische Ziele. Insgesamt wurden während Rolling Thunder 38 Industrieziele angegriffen, darunter Kraftwerke und Erdöl-verarbeitende Betriebe bei Hải Phòng und Bắc Giang, Waffenfabriken bei Thanh Hóa und Van Dien sowie Schwerindustrie bei Thái Nguyên. Hinzu kamen 15 Einsätze, in denen Flüsse in Nordvietnam vermint wurden, um die Industrie des Landes weiter zu schwächen. Die Piloten der Kitty Hawk errangen vier Luftsiege über nordvietnamesische Piloten. Am 20. Dezember 1966 schossen zwei McDonnell F-4B Phantom II zwei Antonow An-2, am 24. April 1967 zwei F-4B zwei nordvietnamesische Mikojan-Gurewitsch MiG-17 ab. Während dieser Periode schossen nordvietnamesische Stellungen außerdem zehn Flugzeuge der Kitty Hawk ab. Auf dem Rückweg nach San Diego übernahm der Träger am 16. Juni Treibstoff vom Tanker Platte. Dabei kollidierten die beiden Schiffe. Während die Kitty Hawk nahezu keine Schäden davontrug, wurde die Platte schwer beschädigt und musste nach Hawaii zurückfahren. Bis in den Oktober wurde die Kitty Hawk dann zu Instandhaltungsarbeiten in der Long Beach Naval Shipyard eingedockt. Bereits Ende 1967 war die Kitty Hawk wieder in Subic Bay. Während das Schiff im Hafen lag, brach am 18. Dezember ein Feuer in einem als Reifenlager genutzten Raum aus, das erst nach neun Stunden gelöscht werden konnte. Durch die starke Rauchentwicklung wurden rund 125 Seeleute leicht verletzt, konnten aber alle an Bord verbleiben. Schäden entstanden keine, so dass die Kitty Hawk wie geplant nach Vietnam verlegen konnte. Dort warfen die Flugzeuge des Trägers bis Juni 1968 in über 10.000 Flügen über 16.000 Tonnen Bomben ab. Anfang 1968 bombardierten die Flugzeuge NVA-Truppen während der Schlacht um Khe Sanh. Die zweite Hälfte des Einsatzes fand während der nordvietnamesischen Tet-Offensive statt. Die Jets griffen insgesamt 185 größere Zielgebiete an, darunter wieder Industriegebiete, Flugfelder und Kommunikationseinrichtungen. Durch die Anweisung Lyndon B. Johnsons, die Bombardierungen auf Flächen nördlich des 20. Breitengrades zu beschränken, wurden ab März vor allem die nordvietnamesische Nachschublinien im südlichen Zipfel Nordvietnams angegriffen. Zu Silvester 1968 verlegte die Kitty Hawk bereits wieder Richtung Vietnam, Ende Januar 1969 begann der erste Einsatz. Diese Fahrt dauerte für die Kitty Hawk bis in den September 1969, im Oktober dockte sie dann in der Puget Sound NSY ein, wo eine Überholung durchgeführt wurde. Im November begann für die Kitty Hawk ihre fünfte Verlegung nach Vietnam. Mittlerweile fanden die Angriffe über Laos und Südvietnam statt. So unterstützten die Flugzeuge den letztlich gescheiterten südvietnamesischen Versuch, in der Operation Lam Son 719 nach Laos vorzudringen. Bis in den Juni 1971 warfen Flugzeuge des Trägers mehr als 22.000 Tonnen Bomben ab. Nach einer Überholung im Heimathafen fand von Februar 1972 bis November 1972 die eigentlich letzte Vietnamkriegsfahrt des Trägers statt. Die Nguyễn-Huệ-Offensive (auch bekannt als Oster-Offensive) der nordvietnamesischen Truppen traf die USA unvorbereitet. Die Kitty Hawk wurde im März frühzeitig aus Subic Bay auf Yankee Station berufen. Hauptziele der Luftangriffe der Flugzeuge waren Flugabwehrraketenstellungen, um den Boeing B-52 Stratofortress der US Air Force einen ungefährdeten Anflug auf ihre Ziele im Rahmen der Operation Linebacker zu erlauben. Diese Angriffe schwächten die nordvietnamesische Industrie weiter, zusätzlich verminten Flugzeuge der Kitty Hawk und dreier anderer Flugzeugträger im Mai die Häfen von Hải Phòng, Cẩm Phả und weiteren Industriezentren Nordvietnams, um den Staat von Nachschublieferungen auf dem Seeweg abzuschneiden. Während der gesamten Fahrt wurden über 26.000 Tonnen Bomben abgeworfen. Im Mai schossen zwei Phantom der Kitty Hawk außerdem zwei nordvietnamesische Mikojan-Gurewitsch MiG-21 ab. Im Oktober endete die Operation Linebacker, die Kitty Hawk wurde daraufhin nach Subic Bay zurückgezogen. Ursprünglich sollte sie nach einer kurzen Hafenliegezeit von dort aus den Heimweg antreten. Stattdessen wurde sie jedoch ein weiteres Mal nach Vietnam geschickt. Schwarze und weiße Matrosen isolierten sich zu dieser Zeit immer weiter voneinander. Begünstigt wurde dieser Prozess auch durch getrennte Schlafsäle an Bord der Kitty Hawk. Kurz nach dem Auslaufen, am 12. Oktober, begannen auf der Kitty Hawk Rassenunruhen, nachdem gezielt ein schwarzer Seemann nach seiner Beteiligung an einer Kneipenschlägerei in Subic Bay befragt wurde und dieser Seemann direkt im Anschluss zwei weiße Köche attackierte. Daraufhin brach Streit in einer der Messen aus, den der Executive Officer (XO), einer von fünf schwarzen Offizieren an Bord, nach einer Stunde schlichten konnte. Im Hangardeck, wo sich nun Gruppen schwarzer Seeleute mit Werkzeugen bewaffneten, setzte sich jedoch die Konfrontation fort. Dort versuchte der weiße Commanding Officer der Kitty Hawk zu schlichten. Dennoch zogen kurz darauf kleine Gruppen schwarzer Seeleute durch das Schiff und verletzten wahllos weiße Matrosen. Letztlich schlichtete der XO auch hier, sagte jedoch später, er habe das Gefühl gehabt, er wäre von den Gruppen, als er sie ansprach, umgebracht worden, wäre er nicht ebenfalls schwarz gewesen. Resultat der Unruhen waren 40 weiße und sechs schwarze Verletzte, 21 Schwarze wurden später angeklagt. Nachdem die Unruhen geschlichtet waren, blieb die Kitty Hawk auf Station und kehrte erst Ende November nach San Diego zurück. Insgesamt verlegte die Kitty Hawk damit zwischen 1965 und 1972 sechsmal in den Vietnamkrieg. Dabei verbrachte der Träger rund vier Jahre auf den Einsatzfahrten im Rahmen des Krieges. Nachkriegsjahre Im Januar 1973 dockte die Kitty Hawk zu Überholungsarbeiten in der San Francisco NSY ein. Während dieser wurden unter anderem stärkere Flugzeugkatapulte und Gasstrahlabweiser (engl. Jet Blast Deflectors) eingebaut, um größere und schwere Flugzeuge wie die Grumman F-14 Tomcat starten zu können. Im September nahm sie dann an der multinationalen Übung RIMPAC in den Gewässern vor Hawaii teil. Im November verlegte das Schiff erstmals seit 1964 wieder im Frieden, Ziel war der Indische Ozean. Wie schon während vieler Fahrten in Südostasien beschatteten sowjetische Aufklärer und Bomber des Typs Tupolew Tu-95 die Kitty Hawk über weite Strecken. Am 11. Dezember brach in Maschinenraum Nummer eins ein Feuer aus, in dem fünf Seeleute starben. 1974 fuhr der Träger, vom Feuer unbeeinträchtigt geblieben, ins Arabische Meer ein und verblieb dort einige Wochen. Im April 1975 nahm die Kitty Hawk an Übungen vor der kalifornischen Küste teil und verlegte im Mai wiederum in den Westpazifik, erstmals auch mit Tomcats an Bord. Besonders im Japanischen Meer wurde die Kitty Hawk erneut von sowjetischen Bombern und Schiffen beschattet. Anfang 1976 folgte eine grundlegende Überholung in der Puget Sound NSY. Unter anderem wurden notwendige Wartungseinrichtungen für den Einsatz der F-14 Tomcat geschaffen. Außerdem wurden die Lenkraketen Terrier gegen Sea Sparrow ausgetauscht. Die Kosten für die Überholung lagen bei 100 Millionen Dollar. Erst im Oktober 1977 ging die Kitty Hawk wieder in Einsatz. Anfang 1978 lag das Schiff in Subic Bay, als sie auf Grund des Ogadenkrieges in Somalia in Bereitschaft ging und bis März 1978 vor Singapur wartete, ob etwa amerikanische Staatsbürger zu evakuieren seien. Letztlich wurde sie aber nicht in den Indischen Ozean geschickt; im Mai kehrte das Schiff an die US-Küste zurück. Ein Jahr später verlegte die Kitty Hawk wieder nach Osten und nahm an Übungen mit der japanischen Marine vor Okinawa teil. Auf dieser Fahrt wurde das CVW 11 erstmals durch ein anderes Geschwader abgelöst. Das Carrier Air Wing Fifteen (CVW 15) kam an Bord. Nach der Ermordung des südkoreanischen Präsidenten Park Chung-hee am 16. Oktober 1979 wurde die Kitty Hawk vor Koreas Küste geschickt, um in der turbulenten Zeit Nordkorea von militärischen Aktionen gegen den Süden abzuhalten. Im November zog sie Richtung Subic Bay ab und sollte nach einem Aufenthalt dort nach San Diego zurückzukehren. Nachdem jedoch die Spannungen im Iran nach der Geiselnahme von Teheran stiegen, verlegte die Kitty Hawk ins Arabische Meer, wo sie am 4. Dezember ankam und bis Januar 1980 blieb. Sie wurde von der Nimitz abgelöst und erreichte im Februar San Diego. Nach einer weiteren Verlegung 1981 ins Arabische Meer ging die Kitty Hawk Anfang 1982 zur Überholung in die Puget Sound NSY. Im Januar 1983 waren die Testfahrten nach der Überholung beendet. An diesem Tag kam es auch zu einer Beinahe-Kollision mit dem kanadischen Zerstörer Yukon. Letztlich berührten sich aber nur Antennen der beiden Schiffe. Ebenfalls im Januar operierten erstmals McDonnell Douglas F/A-18 Hornets von Deck der Kitty Hawk. Anfang 1984 wurde die Kitty Hawk wieder in Richtung Westpazifik und Indischem Ozean in Marsch gesetzt. Für diese Fahrt wurde das Carrier Air Wing Two (CVW 2) an Bord stationiert. Am 12. März 1984 durchfuhr der Träger während einer Übung die Koreastraße. Gegen 22 Uhr Ortszeit tauchte das sowjetische Atom-U-Boot K-314 vom Typ Projekt 671 direkt vor der Kitty Hawk auf. Die Schiffe kollidierten; im Anschluss daran machte die Besatzung der Kitty Hawk den Turm des U-Bootes aus, das sich unbeleuchtet vom Träger entfernte. Schaden schien das U-Boot nicht genommen zu haben. Die Kitty Hawk signalisierte dem nahen sowjetischen Kreuzer der Kara-Klasse Petropavlovsk, der jedoch nicht reagierte. Nach späteren Aussagen der US Navy sei das U-Boot in den vorherigen Tagen über 15-mal ausgemacht und simuliert versenkt worden. James D. Watkins, damaliger CNO, sah die Schuld bei der sowjetischen Seite und zeigte sich über die Probleme des Kapitäns verwundert, von der Kitty Hawk genügend Abstand zu halten. Bis Juni hielt sich die Kitty Hawk nach diesem Zwischenfall im Arabischen Meer auf, wo der Iran-Irak-Krieg und in diesem auch der „Tankerkrieg“ tobte. Auch Mitte bis Ende 1985 verlegte die Kitty Hawk zu einer Fahrt in den Indischen Ozean. Im Anschluss wurde CVW 2 durch Carrier Air Wing Nine (CVW 9) ersetzt. Kampfeinsätze im Golf Anfang 1987 verließ der Träger San Diego und fuhr auf einer unvollständigen Weltumrundung durch den Pazifik und durch die Straße von Malakka in den Indischen Ozean. Im Arabischen Meer folgten drei Monate Flugoperationen im Rahmen des Tankerkrieges. Am 17. Mai durchfuhr der Träger den Sueskanal ins Mittelmeer, blieb aber nach dem irakischen Angriff auf die Fregatte Stark noch im östlichen Mittelmeer in Bereitschaft, bis die Nimitz den Sueskanal Richtung Golf durchquert hatte und die Kitty Hawk ablöste. Im November erreichte sie den Philadelphia Naval Shipyard. Dort durchlief die Kitty Hawk ein Service Life Extension Program, also eine ausgedehnte Überholung, um die Dienstzeit des Trägers zu verlängern. Der Werftaufenthalt dauerte bis Mitte 1991 und kostete rund 800 Millionen US-Dollar. Das Schiff lag damit während der gesamten Operation Desert Storm in der Werft. Modernisiert wurden unter anderem die Antriebsanlagen und der Rumpf, die Radaranlagen sowie die Unterkünfte an Bord. Im Dezember 1991 erreichte der Träger wieder San Diego. Im Sommer 1992 nahm die Kitty Hawk zum zweiten Mal am Manöver RIMPAC teil. Am 1. August wurde sie als Bereitschafts-Flugzeugträger der Pazifikflotte ausgewählt und auf 96-Stunden-Bereitschaft gesetzt. Im November wurde die Kitty Hawk, jetzt wieder mit dem Geschwader CVW 15, in den Indischen Ozean verlegt, um dort als Flaggschiff der Operation Restore Hope vor Somalia zu kreuzen. Während über die Weihnachtstage amerikanische Flugzeuge über Somalia flogen, um dort UN-Bodentruppen Luftnahunterstützung zu geben, verletzten gleichzeitig irakische Kampfflugzeuge die südliche Flugverbotszone über ihrem Land. Die Kitty Hawk wurde sofort mit nur einer Eskorte, der Leahy, in den Persischen Golf beordert, wo sie nach einer viertägigen Hochgeschwindigkeitsfahrt am 31. Dezember 1992 ankam. Dort startete sie noch am Neujahrstag Flugzeuge zur Luftüberwachung im Rahmen der Operation Southern Watch. Nur zwei Wochen später flogen 110 alliierte Kampfflugzeuge, davon 35 von der Kitty Hawk, einen massierten Einsatz gegen irakische Flugabwehrraketenstellungen und Bodenkontrollstationen. Im März verließ die Kitty Hawk den Golf und wurde von der Nimitz abgelöst. Im Anschluss fanden Instandhaltungsarbeiten statt. Anfang 1994 wurden Teile des Hollywood-Films Das Kartell mit der Kitty Hawk gedreht. Bei der Einsatzfahrt Mitte bis Ende 1994 verlegte die Kitty Hawk in den Westpazifik. Während der Zeit nach dem Tod von Kim Il-sung war der Flugzeugträger vor der koreanischen Halbinsel in Bereitschaft und absolvierte Übungen mit japanischen und südkoreanischen Marinekräften. Dort gelang es westlichen Kräften unter Führung der Kitty Hawk erstmals, den akustischen Kontakt zu einem chinesischen U-Boot des Typ 091 (Han-Klasse) und einem russischen der Oscar-II-Klasse längere Zeit aufrecht zu halten. Nachdem 1995 wieder Modernisierungsarbeiten anstanden, nahm die Kitty Hawk im Sommer 1996 an der Übung RIMPAC teil. Zwischen November 1996 und März 1997 fuhr das Schiff im Persischen Golf, wo sie bei der Durchsetzung der UN-Sanktionen gegen den Irak half, unter anderem durch die Überprüfung von Frachtschiffen, die irakische Häfen anliefen oder von dort kamen. Flugzeuge der Kitty Hawk flogen über 1000 Einsätze zur Überwachung der Flugverbotszonen. Stationiert wurde für diese Fahrt das Geschwader CVW 11. Im Anschluss folgte eine zweigeteilte Überholung (Complex Overhaul) in San Diego und der Puget Sound NSY. Unter anderem wurden dabei alle vier Propeller und Wellen instand gesetzt und die vier Ruder durch die der außer Dienst gestellten Ranger ersetzt. Heimathafen Japan Nach der Überholung wurde die Kitty Hawk als einziger vorgeschobener Träger der USA in Yokosuka, Japan stationiert, wo sie die Independence ersetzte. Gleichzeitig kam das ebenfalls permanent in Japan stationierte Carrier Air Wing Five (CVW 5) an Bord. Im August 1998 erreichte die Kitty Hawk Yokosuka. Im November erhielt sie als nun dienstältestes Schiff der US-Flotte die Ehre, den First Navy Jack als Gösch zu hissen. 2001 erging die Order an jedes Schiff der Flotte, für die Dauer des Krieges gegen den Terror ebenfalls diese Gösch zu zeigen, die Kitty Hawk führte sie aber noch immer auch als dienstältestes Schiff. Im März 1999 verlegte der Träger zu einer dreimonatigen Übung in die Gewässer um Guam. Im April wurde jedoch der Marschplan des Trägers geändert. Die Kitty Hawk sollte die Enterprise im Arabischen Golf ablösen, da deren vorgesehene Ablösung stattdessen kurzfristig ins Mittelmeer geschickt worden war, um Angriffe im Rahmen des Kosovokrieges fliegen zu lassen. Im April lief die Kitty Hawk wieder in arabische Gewässer ein. Neben über 8800 Flügen zur Durchsetzung und Überwachung der irakischen Flugverbotszone warfen Trägerflugzeuge 20 Tonnen Munition auf Bodenziele im Irak ab. Im Juli wurde sie von der Theodore Roosevelt abgelöst, nachdem der Kosovokrieg zu Ende gegangen war. Über die Jahrtausendwende lag das Schiff im Dock zu Instandhaltungsarbeiten. Während Übungseinsätzen überflogen am 17. Oktober 2000 zwei russische Kampfjets den Träger, ohne dass sie vorher abgefangen worden wären. Dies lag laut US Navy an Kommunikationsfehlern. Im Frühjahr 2001 nahm die Kitty Hawk an einer gemeinsamen Übung mit der Royal Australian Navy und dem Canadian Forces Maritime Command teil. Anlässlich der Feier des 50-jährigen Jubiläums des ANZUS-Abkommens war die Kitty Hawk als US-amerikanische Vertreterin in Woolloomooloo Bay, Sydney. Im Juni ging die Kitty Hawk in Yokosuka in die Werft, wo Rolling-Airframe-Missile-Starter installiert wurden. Dort lag sie auch während der Terroranschläge am 11. September 2001. Nach einer auf Grund der Geschehnisse verkürzten Probefahrt wurde die Kitty Hawk am 1. Oktober im Rahmen der Operation Enduring Freedom ins Arabische Meer verlegt. Auf dieser Fahrt waren nur 15 Fluggeräte an Bord, da die Kitty Hawk vor Ort als Basis für Spezialeinheiten dienen sollte. Ab dem 12. Oktober kamen von der omanischen Insel Masirah 600 Soldaten der Task Force Sword mit 20 Helikoptern an Bord. Diese führten bis Dezember Angriffe gegen Taliban-Ziele in Afghanistan durch. Nach 74 Tagen im Kampfeinsatz kehrte der Träger nach Japan zurück. Anfang 2002 fanden Instandhaltungsarbeiten statt, im Anschluss Erprobungs- und Trainingsfahrten. Nachdem im Sommer 2002 insgesamt sechs Besatzungsmitglieder der Kitty Hawk auf Landgang in Japan wegen Einbruch, Raub und Drogenschmuggel festgenommen worden waren, wurde der Kommandant des Schiffs, Thomas A. Hejl, seines Kommandos enthoben. Zusätzlich zu der schlechten Führung der Mannschaft wurde ihm zum Verhängnis, dass der Träger unter seinem Kommando 2002 vor Singapur eine Boje gerammt hatte und sich dabei einen Propeller und die zugehörige Welle beschädigte. Im Februar 2003 fand wieder eine Verlegung in den Persischen Golf statt. Dort angekommen, wurden zunächst Flüge im Rahmen der Operation Southern Watch durchgeführt. So befand sich das Schiff zu Beginn des Irakkrieges bereits vor Ort. Seine Flugzeuge warfen am ersten Tag des Krieges 37 lasergelenkte Bomben auf irakische Ziele ab, bis Ende April wurden es Abwürfe über rund 400 Tonnen Munition. Zurück in Japan, wurde der Träger bis Oktober eingedockt und modernisiert. 2004 und 2005 nahm das Schiff an mehreren Übungen und Manövern teil, 2006 war die Kitty Hawk einer von drei Trägern im Manöver Valiant Shield, der größten Flottenansammlung im Pazifik seit dem Vietnamkrieg. Auch im Oktober 2006 war die Kitty Hawk mit ihrer Kampfgruppe zu Manövern auf See vor Okinawa. Während dieser Fahrt konnte ein chinesisches, dieselelektrisch getriebenes U-Boot der Song-Klasse die Gruppe unbemerkt verfolgen und in die Gruppe eindringen. Es wurde erst dann von Flugzeugen des Trägers gesichtet, als es schließlich circa fünf Meilen entfernt von der Kitty Hawk auftauchte. Damit befand sich die Kitty Hawk vor der Entdeckung des Bootes in dessen Angriffsdistanz. Zu Thanksgiving 2007 sollte die Kitty Hawk in Hongkong liegen, um dort der Crew die Feiertage mit vielen eingeflogenen Familienmitgliedern zu ermöglichen. Zusammen mit ihren Eskorten näherte sich die Kitty Hawk dem Hafen im November, wurde jedoch von der lokalen Hafenbehörde abgewiesen, die vorgeblich nichts von dem laut US Navy seit Monaten geplanten Besuch wusste. Nach ersten Versuchen, die Verwirrungen zu klären, musste die Kampfgruppe die Küste verlassen, da dort schlechtes Wetter erwartet wurde. Erst als die Kampfgruppe bereits wieder auf dem Weg nach Yokosuka war, erlaubte China die Einfahrt; die Gruppe drehte jedoch nicht mehr um. Diese Episode fiel in eine Zeit, in der China und die USA sich über Handelsverträge uneinig waren und der US-Kongress die Congressional Gold Medal, die höchste zivile Auszeichnung des Kongresses, an den Dalai Lama Tendzin Gyatsho verliehen hatte. 2008 nahm die Kitty Hawk noch an einer Übung mit Japans Marine teil und verließ am 28. Mai Yokosuka endgültig, um über Hawaii nach San Diego zurückzukehren. Als neuer Träger für Yokosuka wurde die George Washington ausgewählt. Diese Entscheidung wurde vor dem Hintergrund der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki in Japan kritisch aufgenommen, da die Washington ein Träger der Nimitz-Klasse und damit nuklear angetrieben ist. Da die Kitty Hawk jedoch der letzte konventionell angetriebene Träger der US Navy war, gab es keine Alternative und die japanische Regierung stimmte dem Plan zu. Auch der Gouverneur der Präfektur Kanagawa, Shigefumi Matsuzawa, gab seinen anfänglichen Widerstand auf. Außerdienststellung Bereits am 22. Mai 2008, sechs Tage bevor die Kitty Hawk in Yokosuka ablegen und sich auf den Weg nach Pearl Harbor machen sollte, um einen Großteil der Crew an die George Washington abzugeben, damit die in Japan stationierten Seeleute dort verbleiben konnten, brach auf der George Washington ein Feuer aus. Das Schiff musste zur Reparatur nach San Diego geschickt werden. Die Kitty Hawk wurde, nachdem klar geworden war, dass die Reparatur länger dauern würde, vorerst nach Apra Harbor auf Guam umgeleitet. Da die Washington jedoch schwerer beschädigt war, als zu Beginn gedacht, nahm die Kitty Hawk bei der 2008er-RIMPAC-Übung deren Platz ein. Erst Anfang August trafen sich die beiden Träger zum Besatzungsaustausch in San Diego. Am 25. September erreichte der neue Träger Yokosuka. Die Kitty Hawk hingegen wurde am 31. Januar 2009 außer Dienst gestellt. Ihren Platz in der Flotte übernahm das jüngste Schiff der Nimitz-Klasse, die George H. W. Bush. Am 12. Mai 2009 wurde das Schiff auf der Puget Sound Naval Shipyard and Intermediate Maintenance Facility in Bremerton, Washington, stillgelegt, um bis zur Indienststellung der Gerald R. Ford als Reserve zur Verfügung zu stehen. Was mit der Kitty Hawk geschehen sollte, war zunächst ungeklärt. Eine Gruppe aus Wilmington, North Carolina, wollte das Schiff neben die dort vertäute North Carolina legen und wie diese als Museumsschiff herrichten. Es wäre einer der letzten Flugzeugträger gewesen, mit dem dies möglich gewesen wäre, da er noch einen konventionellen Antrieb besaß. Die nuklear angetriebenen Träger sind wegen des Aufwandes, den man zur Deaktivierung der Kernreaktoren betreiben müsste, als Museumsschiff ungeeignet. Im Jahr 2013 meldete eine Gruppe aus Pensacola ebenfalls Interesse an der Kitty Hawk an, um sie im dortigen Hafen auszustellen. Zuvor hatte sich die Gruppe auf die USS Forrestal konzentriert, die sich jedoch aufgrund ihres schlechten Zustands nicht eigne. Aufgrund einer Navy-Aufrüstungsforderung von US-Präsident Donald Trump wurde Mitte 2017 die Reaktivierung des Flugzeugträgers erwogen. Am 20. Oktober 2017 wurde sie jedoch aus dem Naval Vessel Register gestrichen. Vier Tage später gab das Naval Sea Systems Command bekannt, dass sie abgewrackt werden soll. Im Herbst 2021 wurden die USS Kitty Hawk und die USS John F. Kennedy (CV-67) für jeweils einen Cent an International Shipbreaking Limited in Brownsville zur Verschrottung verkauft. Das Schiff verließ Bremerton am 15. Januar 2022 per Schlepper Michele Foss Richtung Brownsville. Nach einer mehrmonatigen Fahrt um Kap Horn traf der Schleppzug am 31. Mai in Brownsville ein. Literatur Richard F. Miller: A Carrier at War: On Board the USS Kitty Hawk in the Iraq War. Potomac Books, Washington D.C. 2005, ISBN 1-57488-960-5. Weblinks Webseite über die Kitty Hawk (englisch) Kitty Hawk im Naval Vessel Register (englisch) Kitty Hawk Veterans Association (englisch) Einzelnachweise Kitty-Hawk-Klasse Schiff im Vietnamkrieg New York Shipbuilding
205462
https://de.wikipedia.org/wiki/Sengsengebirge
Sengsengebirge
Das Sengsengebirge ist ein nach Norden vorgeschobenes Faltengebirge der Oberösterreichischen Voralpen und wird den Nördlichen Kalkalpen zugerechnet. Das stark verkarstete Gebirge besteht vorwiegend aus Wettersteinkalk, entwässert größtenteils unterirdisch und ist von mehreren großen Höhlen durchzogen, darunter der Klarahöhle mit über 31 Kilometern Länge. Die höchste Erhebung ist mit der Hohe Nock. Seit 1976 ist ein Großteil des Sengsengebirges Naturschutzgebiet und seit 1997 in den Nationalpark Kalkalpen integriert. Der Name lässt sich auf die im Mittelalter einsetzende großflächige Nutzung seiner Wälder durch Sensenschmieden zurückführen, von denen heute nur wenige erhalten sind. Die Bauern der Region nutzten die herrschaftlichen Wälder, welche heute größtenteils von den Österreichischen Bundesforsten bewirtschaftet werden, für die Herstellung von Holzkohle. Bis ins 19. Jahrhundert diente eine Vielzahl von Bergweiden der Almwirtschaft. Touristisch wurde das Sengsengebirge Anfang des 20. Jahrhunderts erschlossen und bietet vielfältige Möglichkeiten für Wander-, Schneeschuh- und Skitouren sowie einige Kletterrouten. Geographie Das Sengsengebirge besitzt eine maximale Ausdehnung zwischen der Steyr im Westen und der Krummen Steyrling im Osten von 20 km und von Nord nach Süd von 6 km; es umfasst eine Gesamtfläche von etwa 75 km². Die Westgrenze bildet das obere Steyrtal bei Klaus an der Pyhrnbahn und St. Pankraz. Südlich der Einmündung des Hinteren Rettenbachs in die Teichl bis zum Haslersgatter schließt das Windischgarstner Becken an. Die Krumme Steyrling bis Bodinggraben bildet die Ostgrenze und trennt das Sengsengebirge vom Reichraminger Hintergebirge. Die Nordgrenze verläuft von Bodinggraben über den Schießplatz Ramsau-Molln bis zur Steyr. Verwaltungsmäßig befindet sich das Sengsengebirge zur Gänze im Bezirk Kirchdorf. Anteil am Sengsengebirge haben (alphabetisch geordnet) die Gemeinden Molln, Rosenau am Hengstpaß, Roßleithen und St. Pankraz. Im Süden verläuft im Steyr- und im Teichtal die Pyhrn Autobahn, und das Sengsengebirge ist über die Anschlüsse bei St. Pankraz und Roßleithen erschlossen. Parallel zur A9 verläuft die Pyhrnpass Straße. In St. Pankraz und Roßleithen existieren Haltestellen der Pyhrnbahn. Im Norden befindet sich die Steyrtal Straße und das Gebiet kann über den Talort Molln, wo sich auch das Nationalparkzentrum befindet, erreicht werden. Geomorphologie Typisch für das Sengsengebirge ist die durch den steilen Schichtbau bedingte ausgeprägte Kettenform. Die Nordabstürze sind sehr steil, felsig und erreichen Wandhöhen von bis zu 600 Metern. Die Südhänge sind weniger exponiert und teilweise durch sekundäre Plateaus unterbrochen. Zwischen Spering im Westen und Rohrauer Größtenberg im Osten weist das Gebirge einen gratartigen Charakter auf, der sich erst ab dem Rottalsattel verliert, wo sich das Gebirge zu einem kleinen Plateau weitet. In der breiten Kuppenlandschaft um den Hohen Nock und den Gamsplan ( – ) und in den schüsselförmig südwestwärts absinkenden Karen oder Gruben ( – ) ist eine alpine Karren- und Dolinenlandschaft ausgebildet. Zwischen Rettenbacher Höhe und Koppenalm bilden die Knödelböden (auch Knodelboden) eine langgezogene Uvala. Die Untergrenze des Karren- und Dolinenphänomens kann generell mit rund angegeben werden. Gipfel Geologie Tektonisch ist das Sengsengebirge eine mächtige, nach Norden gekippte (nordvergente) Antiklinale der Staufen-Höllengebirgs-Decke, die zur Tirolischen Deckeneinheit (Tirolikum) gehört, wobei im Süden der Hangendschenkel mit einem Winkel zwischen 30 und 40 Grad ansteigt und sich bis zum Sengsengebirgs-Nordrand allmählich in eine saigere bis leicht überkippte Schichtstellung dreht. Unmittelbar nördlich befindet sich die Grenze zur Reichraminger Decke des Bajuvarikums, welche beim tirolischen Deckenvorstoß teilweise überschoben wurde. In ihrem zentralen Teil besteht die Höllengebirgsdecke fast ausschließlich aus Wettersteinkalk, der vom Anisium bis zum frühen Karnium der Trias vor etwa 247 bis 235 Millionen Jahren aufgebaut wurde. Im Gegensatz zum senkrecht stehenden Wettersteinkalk des Nordrands, wo dessen Deckschichten abgeplatzt sind, findet sich am Gebirgsfuß im Süden teilweise die lithostratigraphisch ursprüngliche Abfolge der Schichten wieder. Es sind dies die Lunz-Formation, Opponitz-Formation und Hauptdolomit. Der Hauptdolomit, der vor allem die Reichraminger Decke bildet, lagerte sich während des späten Karniums und des Noriums vor etwa 235 bis 208 Millionen Jahren ab. Ehemalige Vergletscherung Das Sengsengebirge war während der Eiszeiten teilweise vergletschert, wobei das Plateau um den Hohen Nock eisfrei war und die neogene Altlandschaft erhalten blieb. An den Nordflanken bildeten sich jedoch Gletscher, deren Nährgebiet wohl unter den steilen Nordabfällen zwischen Schillereck, Hochsengs und Seehagelmauer lag und sich nach Osten bis unter den Hohen Nock hin fortzog. Es wird angenommen, dass während des Hochglazials dieser „Sengsengebirgs-Gletscher“ in einem Westabschnitt sich wenigstens bis in den Talboden von Hopfing erstreckte. Entsprechende Moränenreste finden sich oberhalb der verfallenen Almfläche Mistleben, an den Feichtauer Seen sowie auf der Hochfläche Feichtau. Die Moränenreste im Hochkar unter dem Hohen Nock gehören zu einem Ostabschnitt, der in das Blöttenbachtal nach Osten abfloss. Südseitig dürfte sich ein kleiner Lokalgletschers gebildet haben, der unter dem Schneeberg nahe dem Hohen Nock entsprang, im Kar zur Koppenalm und weiter über das Budergrabenkar gegen den Rettenbach abfloss. Hydrogeologie Der tiefgründig verkarstete Wettersteinkalk entwässert unterirdisch. So befinden sich in den Höhenlagen keine Seen oder Bäche. Die Entwässerung des Karststockes erfolgt vorwiegend nach Süden über die zwei Karstriesenquellen von Vorderem Rettenbach (Teufelskirche) mit einer mittleren Schüttung von 1028 l/s und Hinterem Rettenbach mit einer mittleren Schüttung von 1100 l/s. Das Merkensteinbründl am Hang des Gamsplan stellt mit den höchstgelegenen Quellaustritt des Sengsengebirges dar. Im Sengsengebirge liegen nur wenige kleine Stillgewässer, zu erwähnen sind die beiden Feichtauer Seen, die auf Höhe nördlich unterhalb der Seehagelmauer liegen. Der kleinere See besitzt weder Zu- noch Abfluss und ist als Weiher klassifiziert. Der größere der beiden Feichtauer Seen wird von einer auf Seehöhe austretenden perennierenden Quelle gespeist. Das Wasser der für die Höhenlage kräftigen beiden Quelläste dürfte aus den Rauhwacken der hier wandbildenden Lunzer Schichten kommen. Östlich der Feichtauer Seen liegt der Herzerlsee, ein Moorsee. Höhlen Der gut verkarstungsfähige Wettersteinkalk bietet im Zusammenwirken mit dem übrigen Trennflächengefüge günstige Voraussetzungen für die Höhlenbildung. Mit Stand 2019 sind in der Katastergruppe 1651 (Sengsengebirge) des Österreichischen Höhlenverzeichnisses 77 Höhlen eingetragen. Die meisten Höhleneingänge liegen zwischen einer Höhe von bis Es handelt sich meist um schachtartige Höhlen, nur wenige weisen eine ausgeprägte Horizontalerstreckung auf. Mit einer vermessenen Länge von 31.086 m ist die Klarahöhle (Kat.Nr. 1651/xx) die längste Höhle im Sengsengebirge und die elftlängste Höhle Österreichs. Unterhalb der Rettenbachhöhle (Kat.Nr. 1651/1), dem sogenannten Teufelsloch, entspringt der Hintere Rettenbach. Bekannt ist ebenfalls die Eiskapelle im Steyreck (Kat.Nr. 1651/3). Mit dem Kraterschacht (Kat.Nr. 1651/24) befindet sich im Sengsengebirge auch eine bedeutende Eishöhle, deren mächtige Höhleneisvorkommen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen sind. Klima Im Rahmen der Forschungstätigkeit im Nationalpark Kalkalpen wurden seit 1993 rund 43 Klimastationen eingerichtet. Davon liegen einige im Sengsengebirge, wie die Messstationen auf der Kogleralm (südseitig) und der Feichtaualm (nordseitig). Die Klimadaten zeigen eine für die Gebirge der Nördlichen Kalkalpen typische Temperatur- und Niederschlagsverteilung: kühle und niederschlagsreiche Sommer und niederschlagsarme Winter. Die Jahresniederschläge bewegen sich in einer Größenordnung von 1200 bis knapp 2100 mm, wobei der Niederschlag kontinuierlich mit der Seehöhe zunimmt. Maximalwerte werden im Bereich Rohrauer Größtenberg und Hoher Nock erreicht. In freien höher gelegenen Bereichen dominieren West- und Nordwestwinde, die häufig mit Niederschlag einhergehen. Bedingt durch den oftmaligen Wolkenstau am Kalkalpen-Nordrand fällt im Bereich des Hauptkammes über dem Hopfingboden für die Höhenlage überdurchschnittlich viel Schnee. Auf der Feichtaualm () kann die Schneebedeckung auf eine durchschnittliche Dauer von 174 Tagen geschätzt werden. Schneehöhen von drei Metern sind keine Seltenheit. Die Südseite profitiert bei Nordstaulage oftmals von deutlich besserem Wetter und weist auch geringere Niederschlagsmengen als die Nordseite auf. Durch die Höhendifferenz von etwa 1500 Metern ergeben sich markante Temperaturunterschiede zwischen den Tallagen und den Gipfelregionen des Sengsengebirges. Die durchschnittliche Jahrestemperatur beträgt am Südfuß etwa 8,6 – 10,0 °C, während am Gipfel des Hohen Nock die Jahresdurchschnittstemperatur 1 °C nicht überschreitet. Flora und Vegetation Bei den Waldgesellschaften dominieren an den Flanken des Sengsengebirge Fichten- und Rotbuchenwälder. Die Fichte (Picea abies) bildet mit etwa 45 % den Hauptteil des Baumbestandes. Ihre breite ökologische Potenz hinsichtlich der Boden- und Wasserhaushaltsansprüche ermöglicht ihr ein Vorkommen in allen Waldgesellschaften. Sie wächst südseitig auf abschüssigen, trockenen Kalkplatten ebenso wie an der Nordseite rund um die Feichtauer Seen. Die Buche (Fagus sylvatica) ist mit etwa 30 % im Gebiet vertreten. Sie bildet vor allem an der Nordabdachung ausgedehnte Bereiche. Die Europäische Lärche (Larix decidua) prägt die höheren Lagen bis , wo sie die Waldgrenze bildet. Je nach Standort gibt es auch Weiß-Tannen (Abies alba), Waldkiefern (Pinus sylvestris), Gemeine Eschen (Fraxinus excelsior) und Berg-Ahorne (Acer pseudoplatanus). Die Gesellschaft der Bergkiefer (Pinus mugo) dominiert die Höhenlagen. An den Südhängen zieht sie in den Gräben bis auf tief hinunter, wie zum Beispiel im Schröcksteingraben. Andererseits steigt sie bis in die Gipfelregion des Hohen Nock und lässt nur extreme Fels- und Windzonen frei. An windexponierten und im Winter teilweise abgeblasenen Lagen bilden sich alpine Rasen, in denen vor allem die Horst-Segge (Carex sempervirens) und das Kalk-Blaugras (Sesleria varia) dominieren. Im Norden des Großen Feichtausee liegt ein kleines Fichtenhochmoor. Im Bereich der Mayralm liegen zwei Moore. Der Eisboden ist ein Versumpfungsmoor, der Vorderanger ein Verlandungsmoor. Im Vorderanger wächst das in Oberösterreich sehr seltene Scheuchzers Wollgras (Eriophorum scheuchzeri). Der Großteil der endemischen Pflanzenarten der Nordostalpen wächst im Sengsengebirge. Als Auswahl seien erwähnt: Krainer Kratzdistel (Cirsium carniolicum) Kerner-Lungenkraut (Pulmonaria kerneri) Anemonen-Schmuckblume (Callianthemum anemonoides) Traunsee-Labkraut (Galium truniacum) Österreichische Wolfsmilch (Euphorbia austriaca) Fauna Das Sengsengebirge ist reich an Wildarten. Rehe (Capreolus capreolus), Rothirsche (Cervus elaphus) und Gämsen (Rupicapra rupicapra) sind in bedeutenden Populationen vorhanden; auch Schneehasen (Lepus timidus) leben im Gebiet. Von den Raubtieren (Carnivora) sind Eurasischer Luchs (Lynx lynx), Stein- (Martes foina) und Baummarder (Martes martes) sowie Rotfuchs (Vulpes vulpes) vorhanden. Der Braunbär (Ursus arctos) konnte seit 2004 nicht mehr nachgewiesen werden. Als Neozoon ist der Waschbär (Procyon lotor) im Sengsengebirge verbreitet. Alpendohlen (Pyrrhocorax graculus) und Kolkraben (Corvus corax) sind häufig anzutreffen. Mit Alpenschneehuhn (Lagopus muta), Birkhuhn (Lyrurus tetrix), Haselhuhn (Tetrastes bonasia) und Auerhuhn (Tetrao urogallus) sind vier Raufußhuhnarten im Gebiet heimisch. Das Sengsengebirge ist mit zwei bis drei Brutpaaren auch Verbreitungsgebiet des Steinadlers (Aquila chrysaetos). Für den Alpensalamander (Salamandra atra) sind die alpinen Matten oberhalb der Baumgrenze von Bedeutung. Von den Reptilienarten sind Kreuzotter (Vipera berus) und Bergeidechse (Zootoca vivipara) weiter verbreitet. In der Rettenbachhöhle und in der Klarahöhle wurde der Höhlenlaufkäfer Arctaphaenops muellneri nachgewiesen, ein Endemit des Sengsen- und Reichraminger Hintergebirges. Für viele Tiere der alpinen Regionen bildet das Sengsengebirge zusammen mit dem Höllengebirge die Nordgrenze ihrer Verbreitungsareale in Oberösterreich. Dies gilt für den Alpensalamander ebenso wie für den Steinadler und die Alpendohle. Geschichte Die Bezeichnung Sengsengebirge lässt sich von der im Mittelalter einsetzenden großflächigen Nutzung seiner Wälder durch die Sensenschmieden herleiten. Das Gebirge hieß vorher einfach Langer Berg. Im Umkreis entstanden früher eine Reihe von Sensenbetrieben (Innung in Kirchdorf an der Krems), von denen heute nur sehr wenige erhalten sind. In diesem Zusammenhang ist die Eisenwurzen zu erwähnen, wo seit 2500 Jahren Eisen verhüttet und verarbeitet wird. Die Sensenwerke bezogen die zur Eisenverarbeitung notwendige Holzkohle aus den herrschaftlichen Wäldern und das Kohlebrennen war ein wichtiger Erwerbszweig der Bauern. Jeder Sensenschmiedemeister hatte dafür gewidmete Waldungen und Bauern, die für ihn dort Kohle brannten. Vor zweihundert Jahren war etwa jeder vierte Bauer im Krems-, Steyr- und Teichltal ein „Kohlbauer“. In einem Verlassbrief vom Jahr 1748 überließ Franz Anton von Lamberg dem Sensenschmiedmeister an der Rossleithen, Wolf Leopold Schreckenfux, eine Waldung am „inneren Grestenberg und Steyreck“ zur Nutzung. Die herrschaftlichen Wälder waren demnach an die eisenverarbeitenden Betriebe „verliehen“. Die Dauer einer solchen Verpachtung oder „Verlasses“ war oft zeitlich nicht begrenzt. Im Jahr 1666 erwarb Reichsgraf Johann Maximilian von Lamberg das Gebiet zusammen mit der Herrschaft Steyr von Kaiser Leopold I. In der Folge wurden große Teile des Gebietes ausschließlich als Jagdrevier und gräfliches Leibgehege der Familie Lamberg genutzt. Außer der Bewirtschaftung der Almen und der gräflichen Jagd war jede Nutzung und Veränderung verboten. Erst nach dem Tod von Franz Emerich von Lamberg wurde das Jagdrevier mehrmals verpachtet. Der bekannteste Pächter war Franz Ferdinand von Österreich-Este. Die Bärnriedlau war einer der wichtigsten Stützpunkte bei den großen herrschaftlichen Jagden. 1901 wurde die Hütte revitalisiert und ausgebaut. Reitsteige zur Anreise wurden angelegt. Im Jahr 1938 verkaufte Vollrath Raimund von Lamberg die gesamten Liegenschaften der Herrschaft Lamberg für 3,1 Millionen Reichsmark an das Deutsche Reich. Mit dem Österreichischen Staatsvertrag von 1955 ging ehemaliges Deutsches Eigentum und somit auch die Herrschaft Lamberg und der überwiegende Teil des Sengsengebirges in das Eigentum der Republik Österreich über. Der Rechtsstreit über den Rückstellungsantrag des Grafen Lamberg wurde 1961 mit einem Vergleich und der Zahlung von 800.000 Schilling an dessen Erbin beendet. Seither wird der größte Teil des Sengsengebirges von den Österreichischen Bundesforsten bewirtschaftet. Wilderei Das wildreiche Sengsengebirge zog sowohl Jäger als auch Wilderer an. Die Herrschaft in Steyr erließ bereits 1657 Verordnungen zur Ausrottung der heimlichen Wildbretschützen. Geld- und Freiheitsstrafen standen an der Tagesordnung. Nicht selten kamen auch Folterinstrumente zum Einsatz. Ab 1677 wurde der hölzerne Esel angewandt. Selten eskalierte jedoch das Zusammentreffen von Jägern und Wilderern. So fand am 29. Oktober 1923 auf der Mayralm ein Zusammenstoß zwischen Jägern, Gendarmen und Wilderern statt, wobei der 33 Jahre alte Jäger Vinzenz Hobel und der Wilderer Johann Farnberger, vulgo Sperl Hans, erschossen wurden. Das Jägerkreuz, eine Inschrift auf einem großen Stein, auf der Mayralm erinnert an dieses Ereignis. In St. Pankraz gibt es ein Wilderermuseum. Almwirtschaft Eine große Anzahl von Almen diente der Almwirtschaft, deren Bedeutung bereits im 19. Jahrhundert stark zurückgegangen ist. Flurnamen wie Haidenalm und Kühböden deuten auf die seinerzeit größere Verbreitung hin, und zahlreiche Grundmauern verfallener Hütten erinnern daran. Im Bereich der Großmulden zwischen und , an der Südseite des Sengsengebirges, bestanden bis 1862 neun Almen: Kaltwasser, Fotzen, Pernkopf, Kogler, Brettstein, Bärnriedelau, Koppen, Rettenbach-Hüttstatt, Gyrer (Gierer). Aus Weideakten geht hervor, dass bis 1862 in diesem Gebiet Weiderechte für 200 Stück Hornvieh, 220 Schafe und 90 Geißen bestanden haben. Diese Zahlen wurden bei den Regulierungen 1862 allgemein reduziert und 1882 erfolgte die Ablösung von Weiderechten für mindestens 108 Stück Hornvieh, 90 Schafe und 70 Geißen. Aufgrund der für das natürliche Gleichgewicht zu hohen Viehzahl kam es auf den Almböden zu Degenerationserscheinungen bis hin zur Verkarstung. Die Wasserversorgung wurde zunehmend schwierig und die Auftriebszahlen sanken. Gegenwärtig (2018) werden nur noch die Feichtaualm nördlich des Sengsengebirges und die Mayralm im Osten bewirtschaftet. Das Servitutsrecht für die Feichtaualm umfasst 95 Hektar Weidefläche mit einem Auftriebsrecht für 104 Stück Hornvieh. Die Weidefläche der Mayralm beträgt 15 Hektar. Siedlungen und Landwirtschaft Im Sengsengebirge sind nur kleinflächige Ansiedlungen angelegt. Dauerhaft bewohnte Siedlungen befinden sich am Südfuß des Gebirges. Von West nach Ost sind dies: Pernkopf, Spering, Koppen und Rißriegl. Diese Rodungsinseln sind als Siedlungsraum und Weidegebiete die wesentlichen landwirtschaftlichen Betriebsflächen. Im Gebiet Rißriegler werden im Bereich der Waldweide Schafe aufgetrieben. Weitere offene Wiesenbereiche befinden sich im Südosten des Gemeindegebietes von St. Pankraz (Rohrauer Fichten, Saubachgut und Rohraugut) und dem Spannriegl im Gemeindegebiet von Roßleithen. Bergsport Wandern Touristisch wurde das Sengsengebirge mit der Pachtung der Feichtauhütte durch die Alpenvereinssektion Steyr 1921 erschlossen. Der Hohe Nock entwickelte sich zu einem beliebten Bergziel, während die anderen Gipfel kaum besucht wurden. Dies änderte sich erst in den 1970er Jahren mit der Errichtung des Sengsengebirgs-Höhenwegs, wodurch der westliche Abschnitt des Sengsengebirge erschlossen wurde. 1976 wurde zwischen Hochsengs und Gamskogel auf das Uwe-Anderle-Biwak (Hochsengs-Biwak) der Sektion Molln-Steyrtal errichtet. Das markierte und beschilderte Wegenetz im Sengsengebirge wird vom Österreichischen Alpenverein gewartet. Der Sengsengebirgs-Höhenweg durchquert das Gebirge von Osten nach Westen. Dieser Weg trägt die Nummer 469 und führt über die Gipfel Schillereck, Hochsengs, Gamskogel, Rohrauer Größtenberg und Hoher Nock, wo er seinen höchsten Punkt findet. Anstiege auf das Gebirge gibt es an der Nord- und Südseite. Die bekanntesten sind: Weg 460: Vom Speringbauer zum Sattel Auf der Huttn (Funkstation) unterhalb des Spering Weg 461: Von St. Pankraz über die Bärenriedlau zum Hohen Nock Weg 463: Budergrabensteig, vom Hinteren Rettenbach zum Hohen Nock Weg 465: Vom Klauser Stausee zum Spering Weg 466: Von der Feichtau zum Hohen Nock Entlang des Höhenwegs finden sich keine bewirtschafteten Stützpunkte. Nächtigungsmöglichkeiten befinden sich im Biwak bei der Funkstation unterhalb des Spering sowie im Uwe-Anderle-Biwak. Nördlich der Feichtauer Seen befindet sich die Feichtauhütte, eine Selbstversorgerhütte des Alpenvereins. In der Nähe liegt die privat bewirtschaftete Polzhütte. Im Gebiet östlich des Hohen Nock gibt es keine markierten Wege. Wintersport Das Sengsengebirge ist auch für Schneeschuh- und Skitouren geeignet. Bekannte und in den Karten verzeichnete Skitouren sind etwa: Weg 463: Budergrabensteig, vom Hinteren Rettenbach zum Hohen Nock Vom Koppengut über den Brettstein zum Rohrauer Größtenberg Vom Haslersgatter über die Mayralm zum Mayrwipfl Alpinismus Im Gegensatz zu anderen spektakuläreren Gebirgsgruppen setzte die klettertechnische Erschließung erst spät etwa ab 1910 ein. Vor allem Franz Tham und Adam Döppl gelangen in dieser Zeit schwierige Erstbegehungen an der Nordseite des Hohen Nocks. Heute gibt es am Nockpfeiler im Norden und auf der Nockplatte im Süden einige Kletterrouten bis zum Schwierigkeitsgrad V. Naturschutz 1976 wurden die zentralen Teile um den engeren Karststock auf 3400 Hektar als Naturschutzgebiet Sengsengebirge ausgewiesen, das 1997 zur Gänze in den Nationalpark Kalkalpen eingegliedert wurde. Heute ist mit Ausnahme südlicher und westlicher Randbereiche das gesamte Gebirge Teil des geschützten Gebiets. Die Rodungsinsel Rießriegl oberhalb des Hinteren Rettenbachtales wird dauerhaft bewohnt und ist vom Nationalpark-Areal ausgenommen. Das Europaschutzgebiet Nationalpark Kalkalpen, 1. Verordnungsabschnitt, etwas größer als der Nationalpark selbst, wurde gemäß FFH- und Vogelschutzrichtlinie als Teil des Netzwerks Natura 2000 nominiert. Weiters erfolgte im Bereich der ursprünglichen Nationalparkfläche auch eine Ausweisung als Ramsargebiet. Mit der Teufelskirche existiert im Sengsengebirge ein einziges Naturdenkmal. Rezeption Numismatik und Philatelie Der Hauptkamm des Sengsengebirges ist auf der 50 Euro-Goldmünze „Im tiefsten Wald“ aus der Serie „Naturschatz Alpen“ abgebildet. Sie wurde am 17. Februar 2021 in einer Auflage von 20.000 Stück ausgegeben. Sagen Der Ursprung der Feichtau-Seen wird in einer Sage erwähnt. Literatur Weblinks Nationalpark Kalkalpen Einzelnachweise Raumeinheit in Oberösterreich Gebirge in den Alpen Sengsengebirge Gebirge in Europa Gebirge in Oberösterreich Geographie (Rosenau am Hengstpaß) Geographie (Molln) St. Pankraz (Oberösterreich) Orographie des Einzugsgebiets Steyr Region in Europa
209533
https://de.wikipedia.org/wiki/Kals%20am%20Gro%C3%9Fglockner
Kals am Großglockner
Kals am Großglockner ist eine Gemeinde mit Einwohnern (Stand ) im österreichischen Bezirk Lienz (Osttirol) und bezirksweit die flächenmäßig drittgrößte Gemeinde. Das Gemeindegebiet von Kals umfasst das gesamte Kalser Tal sowie einen kleinen Teil des Iseltals. Der Hauptort Ködnitz selbst liegt rund 30 Kilometer nordnordwestlich der Stadt Lienz. Wirtschaftlich spielen in der Gemeinde die Landwirtschaft und der Tourismus eine wichtige Rolle, wobei Kals von der Lage am Großglockner (), dem höchsten Berg Österreichs, profitiert. Die Gemeinde liegt im Gerichtsbezirk Lienz. Geographie Lage Kals am Großglockner liegt im Nordosten Osttirols an der Grenze zu Salzburg und Kärnten. Das Gemeindegebiet von Kals befindet sich inmitten der Hochgebirgslandschaft der Hohen Tauern und umfasst das gesamte vom Kalserbach geformte Kalser Tal mit seinen nach Osten verlaufenden Seitentälern. Hierzu gehören unter anderem das Lesachtal, das Ködnitztal und das Teischnitztal. Zum Gemeindegebiet gehören Teile der Granatspitzgruppe, der Glocknergruppe und der Schobergruppe mit einer Vielzahl von Bergen von mehr als 3000 m Höhe. Höchster Punkt des Gemeindegebietes ist der Großglockner (), der tiefste Punkt der Gemeinde befindet sich am Kalserkraftwerk in Unterpeischlach in Gemeindegliederung Die Gemeinde Kals am Großglockner besteht aus einer gleichnamigen Katastralgemeinde und war bis 1810 in neun Rotten unterteilt. Heute wird das Gemeindegebiet in elf Fraktionen gegliedert. Diese sind von der Mündung des Kalserbachs in die Isel Richtung Norden aus gesehen: Unterpeischlach, Oberpeischlach, Staniska (mit dem Weiler Haslach), Arnig, Lesach (mit den Weilern Pradell und Elleparte), Lana, Ködnitz, Glor-Berg, Großdorf, Unterburg und Burg (mit Taurer-Spöttling). Ein Ortsteil Kals existiert hingegen offiziell nicht, jedoch wird oftmals der Ortsteil Ködnitz mit Kals gleichgesetzt und ist so auch durch Ortstafeln gekennzeichnet. Flächennutzung Kals am Großglockner hat durch seine hochalpine Lage innerhalb der Hohen Tauern einen großen Umfang an nicht nutzbaren Flächen, die rund 41,1 % des Gemeindegebiets ausmachen. An zweiter Stelle rangieren Almen, die etwa 35 % des Gemeindegebietes umfassen. Auch Wälder spielen auf dem Gemeindegebiet von Kals eine wichtige Rolle, mit rund 20 % liegt diese Nutzungsart an dritter Stelle. Alle anderen Flächenformen sind anteilsmäßig von relativ geringer Bedeutung. Wiesen umfassen 2,8 %, Gewässer 0,8 % und Bauflächen 0,02 %. Ackerland spielt heute mit 0,01 % eine sehr untergeordnete Rolle. Nachbargemeinden Kals am Großglockner ist im Westen durch die Granatspitzgruppe von Matrei in Osttirol getrennt. Die Gemeinde Matrei ist dabei nicht nur die flächenmäßig größte Gemeinde Osttirols, sie verfügt nach Lienz auch über die zweithöchste Bevölkerungszahl und ist als wirtschaftliches, soziales sowie medizinisches Zentrum des nördlichen Osttirols auch für die Kalser Bevölkerung von Bedeutung. Die Pfarrkirche und die Volksschule des Ortsteils Huben werden zudem auch von der Bevölkerung des südlichen Kalsertals genutzt. Neben Huben im Südwesten grenzt Kals im Süden entlang der Isel und in der Folge getrennt durch die Schobergruppe an die Gemeinde St. Johann im Walde. Die Schobergruppe bildet in der Folge auch die Grenze zu Ainet und Nußdorf-Debant. Die Grenze zur Kärntner Gemeinde Heiligenblut am Großglockner im Osten und zum salzburgerischen Uttendorf im Nordosten wird durch die Glocknergruppe gebildet. Berge Das Kalser Gemeindegebiet ist im Westen, Norden und Osten von den Gebirgsgruppen der Granatspitz-, Glockner- und Schobergruppe umschlossen. Der Hauptkamm der stark vergletscherten Glocknergruppe trennt das Gemeindegebiet von Kals von den Bundesländern Salzburg und Kärnten. Hier liegt mit dem Großglockner () der höchste Berg Österreichs. Weitere bekannte Berge des von Nordwesten bis Südosten verlaufenden Glocknerhauptkammes sind der Hohe Kasten (), das Eiskögele (), die Rosmariswandköpfe (), die Glocknerwand () und der Kleinglockner (). Im Süden schließt an die Glocknergruppe die Schobergruppe an. Mit dem Hochschober (), dem Glödis (), dem Roten Knopf () und dem Bösen Weibl () liegen auch hier die wichtigsten Erhebungen auf dem Kalser Gemeindegebiet. Im Westen trennt die Granatspitzgruppe das Kalser Gebiet von Matrei in Osttirol. Wichtigste Erhebungen sind hier der Große Muntanitz (), die Vordere Kendlspitze () und der Kalser Bärenkopf (). Flüsse Bestimmendster Fluss auf dem Gemeindegebiet ist der 21,36 Kilometer lange Kalserbach, der das Kalser Tal von Norden nach Süden durchfließt. Hinzu kommen seine wichtigsten talbildenden Zuflüsse, der Teischnitzbach, der Ködnitzbach und der Lesachbach, die alle östlich des Kalserbaches entspringen. Die an den Abhängen der Granatspitzgruppe entspringenden Bäche konnten hingegen keine größeren Täler ausbilden. Durch die Mündung des Kalserbaches im Iseltal hat Kals auch einen kleinen Anteil an der Isel. Klima Auf Grund der Tallage kann sich eine geschlossene Wolkendecke im Kalser Tal nur kurz halten, da föhniger Wind aus Nord oder Nordwest die Wolken regelmäßig auflockert. Dadurch ist auch die Zahl der Nebeltage mit 19 vergleichsweise gering. 142 Tagen mit Niederschlag stehen 124 trübe und 57 heitere Tage gegenüber. Die niedrigsten Jahresmittelwerte der Lufttemperatur wurden in Kals mit 3,5 °C gemessen, die höchsten liegen bei über 5 °C. 1994 wurde mit 6,1 °C der höchste je gemessene Wert erreicht. Zudem lagen in den 1990er Jahren die Jahresmittelwerte nie unter 4 °C. Der Jahresniederschlag ist im Hauptort Ködnitz mit 850 mm gegenüber höheren Lagen in der Gemeinde relativ gering. Im Bereich der Lucknerhütte () fallen beispielsweise 1.300 mm Niederschlag pro Jahr. Während Februar und März den geringsten Niederschlag verzeichnen, fällt im Juni, Juli und August die größte Niederschlagsmenge. Eine geschlossene Schneedecke bildet sich in der Regel ab Ende November/Anfang Dezember und bleibt bis Mitte März bestehen. Geschichte Kals bis zum Mittelalter Das Kalser Tal dürfte bereits in der Altsteinzeit von Jägern und Sammlern aufgesucht worden sein. Als wichtigste Fundstelle dieser Zeit erwiesen sich die 1975 bei einem Kapellenbau entdeckten 50–70 Steinbockschädel, die teilweise kreisförmig um eine Feuerstelle angeordnet waren. Neueste Funde aus dem Jahre 1995 stellen eine Verbindung zu einer mesolithischen Kultur um die Zeit zwischen 9.000 und 5.300 v. Chr. her. Weitere wichtige Funde auf dem Kalser Gemeindegebiet sind die ältesten Keramiken Osttirols aus der Vasi-a-bocca-quadrata-Kultur und ein neolithischer Steinhammer aus einem herzförmigen Prasinitstein (um 2000 v. Chr.). Während der späteren Eisenzeit (La-Tène-Zeit) geriet das Gebiet schließlich in den Einflussbereich der Kelten, die gegen Ende des zweiten Jahrhunderts v. Chr. das Königreich Noricum gründeten. Die Kelten unterhielten rege Handelsbeziehungen mit den benachbarten Römern und anerkannten 15 v. Chr. die römische Oberhoheit über ihr Königreich. Kals war während dieser Periode vermutlich durch seinen Übergang am Kalser Tauern ins benachbarte Pinzgau von verkehrstechnischer Bedeutung. Kals im Mittelalter Nach der Schlacht bei Aguntum 610 zwischen Baiern und Slawen drangen die Slawen in die Täler Osttirols vor und siedelten sich auch im Kalser Tal an. Romanische Bevölkerungsteile konnten sich jedoch noch längere Zeit in führenden Wirtschaftspositionen halten. Nach dem Verlust der slawischen Vormachtstellung gegen die Baiern setzte ab 769 durch die Gründung des Klosters Innichen die Christianisierung ein. 811 legte Karl der Große die Drau als Diözesangrenze fest. Kals fiel dadurch in die kirchliche Einflusssphäre Salzburgs, die bis 1818 bestehen blieb. Bairische Siedler siedelten sich ab dem späten achten Jahrhundert verstärkt im Kalser Tal an. Trotz einer schleichenden Germanisierung wurde im Kalser Tal vermutlich bis ins 13. Jahrhundert auch Slawisch gesprochen und auch die romanische Sprache starb im Mittelalter nur langsam aus. Im 11. Jahrhundert zerfiel das 976 gegründete Herzogtum Kärnten in vier Gaue. Der westlichste, Lurngau genannt, umfasste auch das Kalser Tal und unterstand den Grafen von Lurngau (Meinhardiner). Meinhard von Görz erbte 1253 Tirol und vereinte es mit seinen Ländereien. Nach Meinhards Tod wurde der Besitz unter seinen Söhnen geteilt und Kals fiel an Albert II., der seinen Besitz in Landgerichte teilte und um 1280 das Niedergericht Kals gründete. Als Bestandteil der Lurngaus vergab der Herzog das Kalser Tal als Lehen. Wie in der gesamten Herrschaft Lienz galt auch hier das Freistiftrecht, das dem Lehnsherren umfangreiche Rechte übertrug und die Bevölkerung bis 1782 stark belastete. Erstmals urkundlich erwähnt wurde Kals am 19. August 1197 im Zuge eines Gerichtstages in Patriasdorf, einem heutigen Teils von Lienz, bei dem „Rainardus plebanus de Calce“ (Pfarrer Reinhard von Kals) als Zeuge genannt wurde. 1274 wurde auch die Kalser Rupertskirche urkundlich genannt. 1366 wurde die nahe gelegene Filialkirche St. Georg neu geweiht. Kals in der frühen Neuzeit Nachdem die Ehe des Grafen Leonhard von Görz kinderlos geblieben war, erbte 1500 Maximilian I. das Gebiet Osttirols. Aus Geldmangel verkaufte er am 10. August 1501 jedoch die Stadt Lienz sowie das Landgericht und die zugeordneten Ämter an das Geschlecht der Familie Wolkenstein-Rodenegg. Er selbst behielt sich nur die Landeshoheit vor. Für die Kalser Bauern bedeutete dies eine Fortführung der starken Belastungen durch das Freistiftrecht. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts erlebte der Kupferbergbau in Kals einen Aufschwung. 1607 wurde in Unterpeischlach auch eine eigene Schmelzhütte errichtet. Kurze Zeit später brach jedoch der Bergbau in den Iseltälern wieder zusammen. Auch die Herrschaft der Grafen von Wolkenstein Rodenegg ging bereits 1653 nach einem Konkurs zu Ende. Das Landgericht Lienz mit dem Zugericht Kals wurde in der Folge vom Haller Damenstift erworben. Das Freistiftrecht blieb weiterhin bestehen. Auch Proteste der Kalser Bauern gegen die hohen Abgaben änderten daran nichts. Nach der Aufhebung des Damenstiftes 1783 durch Kaiser Joseph II. kam es zumindest zu einer kleinen Entlastung, nachdem Kaiser Joseph 1789 zwei Drittel der Rückstände per Erlass getilgt hatte. Napoleonische Kriege und beginnender Tourismus Nach der Niederlage der österreichischen Truppen in der Schlacht bei Austerlitz musste Österreich Tirol an Bayern abtreten. Die Tiroler wollten sich jedoch mit der Besatzung nicht abfinden und wagten im April 1809 unter Führung von Andreas Hofer den Aufstand. Nach einer siegreichen Schlacht an der Lienzer Klause im August 1809 organisierten die benachbarten Matreier im Winter 1809 den neuerlichen Widerstand gegen die feindlichen Truppen. Die Führung der 150 Kalser Schützen übernahm der Wirt Rupert Groder. Auf Grund der Bedrohung durch die rund 900 Iseltaler Schützen schlossen die Franzosen am 9. November in Unterpeischlach einen Waffenstillstand. Bereits im Dezember erfolgte jedoch die endgültige Besetzung Osttirols durch die Franzosen, die am 28. Dezember in Kals einrückten und anstelle des gesuchten Schützenkommandanten Rupert Groder seinen Bruder Stephan erschossen. Kals wurde in der Folge den neugeschaffenen drei illyrischen Provinzen zugeschlagen, jedoch bereits 1813 von der Herrschaft der Franzosen befreit. Das dringendste Problem der Kalser blieb in der Folge die Abgabenbelastung durch das Freistiftrecht. Dem Brunecker Kreishauptmann Theodor von Kern gelang es 1835, die Hälfte aller Abgaben zu streichen und die Revolution von 1848 führte zur endgültigen Bauernbefreiung und Grundentlastung. Kurze Zeit später begann der Tourismus zu einem wichtigen wirtschaftlichen Standbein für Kals zu werden. 1855 erfolgte die Erstbesteigung des Großglockners von der Kalser Seite und Ende der 1860er Jahre, nach der Erstbesteigung des Großvenedigers, setzte auch in Kals ein verstärkter Tourismus ein. Gefördert von Johann Stüdl wurde Kals zum führenden Glockner-Talstützpunkt und zahlreiche Kalser fanden als Bergführer eine zusätzliche Verdienstmöglichkeit. Zwar wurde Kals durch den Anschluss von Lienz an die Drautalbahn leichter erreichbar, ins Kalser Tal führte jedoch nur ein Karrenweg. 1912 wurde daher mit dem Bau einer Straße begonnen, die allerdings erst 1927 fertig gestellt werden konnte. Kals im 20. Jahrhundert Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, dem 51 Kalser zum Opfer gefallen waren, sorgte eine Grippewelle auch für Opfer unter der Zivilbevölkerung. Die Inflation nach dem Ende des Krieges traf die Kalser als Selbstversorger hingegen weniger hart. Ab 1925 setzte auch wieder ein Zuwachs im Tourismus ein und die Verkehrsinfrastruktur im Kalser Tal wurde wesentlich verbessert. Die Weltwirtschaftskrise verschonte jedoch auch die Kalser nicht und die stark gesunkenen Vieh- und Holzpreise führten zu einzelnen Hofversteigerungen. Vom Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich profitierte die Kalser Bevölkerung zunächst durch Entschuldungsmaßnahmen und zahlreiche Förderungen, die Gemeindeverwaltung wurde im Gegensatz zu anderen Gemeinden kaum verändert. Bei der Volksabstimmung über den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich stimmten in Kals rund 90 % (österreichweit 99,73 %) für den Anschluss. Kals war durch seinen Selbstversorgungscharakter wenig von den Rationalisierungsmaßnahmen betroffen, litt aber allmählich unter immer höheren Vorschreibungen zur Ablieferung von Lebensmitteln. Auch die Überwachung und Unterdrückung der freien Meinungsäußerung nahm im Verlauf des Krieges immer stärkere Ausmaße an. Trotz seiner Randlage blieb Kals jedoch nicht vom Bombenkrieg verschont. Bereits im Sommer 1942 hatte ein Notabwurf Glor getroffen. Zudem wurden am 20. Jänner 1945 drei Kinder auf dem Schulweg von einer Bombe getötet, die in ein Futterhaus einschlug. Ihren Dienst an der Front bezahlten zudem 57 Kalser mit ihrem Leben. Nach dem Ende des Krieges führten 1945 schwere Regenfälle und 1950/51 zahlreiche Lawinenabgänge im Winter zu teilweise großen Zerstörungen. Die daraufhin durchgeführten Investitionen in die Wildbachverbauung und den Lawinenschutz brachten mehr Sicherheit, aber auch Arbeit ins Kalser Tal. Gleichzeitig wurden ab Mitte der 1950er Jahre die Landwirtschaftsmethoden der Kalser Bauern vom Ackerbau hin zur Viehzucht umgestellt. Prägend für die Geschichte von Kals nach 1945 wurde der Streit um den geplanten Stausee im Dorfertal, für den sich insbesondere ÖVP-Landes- und Bezirkspolitiker, der ÖGB sowie die Energiewirtschaft einsetzten. In einer Volksabstimmung kippte jedoch die Kalser Bevölkerung 1987 das Projekt, dessen endgültiges Aus 1989 von Energieminister Robert Graf verkündet wurde. Mit der Errichtung des Nationalparks Hohe Tauern konnte der sanfte Tourismus nachhaltig gefördert werden. Bevölkerung Bevölkerungsstruktur Die Gemeinde hatte laut Volkszählung 2001 1.338 Einwohner. 96,6 % der Bevölkerung besitzen die österreichische Staatsbürgerschaft. Zur römisch-katholischen Kirche bekennen sich 98,0 % der Einwohner, 0,8 % sind ohne religiöses Bekenntnis. Die Altersstruktur von Kals ist gegenüber dem Bundesländerschnitt deutlich jünger. So sind in Kals 21,7 % der Einwohner jünger als 15 Jahre (Gesamttirol: 18,4 %) und 59,6 % zwischen 15 und 59 Jahre alt (Gesamttirol: 63,0 %). Der Anteil der Einwohner mit mehr als 59 Jahren liegt mit 18,8 % im Landesschnitt (18,6 %). Bevölkerungsentwicklung Hatte Kals 1615 noch 1.262 Bewohner gezählt, so reduzierte sich die Bevölkerungszahl während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch Auswanderung der Menschen aus dem Kalser Tal auf unter 1.000 Einwohner. Im Zuge der Kriegsereignisse und durch Krankheiten sank die Bevölkerung 1919 auf nur noch 880 Personen ab. Es folgte danach wieder ein kontinuierlicher Anstieg der Einwohnerzahl, sodass sich die Bevölkerungszahl bis 1971 um rund 55 % erhöht hatte. Nach einem Bevölkerungsrückgang bis in die 1990er Jahre stieg die Einwohnerzahl bis 2001 wieder merkbar an. Seitdem verlor die Gemeinde jedoch wieder Einwohner durch die Abwanderung aus dem Kalsertal. Die Geburtenbilanz war hingegen in den letzten Jahren nahezu ausgeglichen. Kultur und Sehenswürdigkeiten Zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten in der Gemeinde gehören die zahlreichen Kirchen und Kapellen, die sich verstreut auf dem gesamten Gemeindegebiet befinden. Der größte sakrale Bau befindet sich mit der Kalser Pfarrkirche im Ortsteil Ködnitz und ist dem Ortsheiligen St. Rupert geweiht. Bei der urkundlich bereits 1274 erwähnten Kirche handelt es sich um einen ursprünglich gotischen Bau, der zwischen 1744 und 1770 barockisiert wurde. Umgeben wird die Pfarrkirche vom Kalser Friedhof, in dem ein Denkmal für die verunglückten Glocknertouristen steht. Unweit der Pfarrkirche liegt auch das gotische Widum Kals am Großglockner aus dem Jahre 1481, der älteste Profanbau in der Gemeinde Kals. Durch die ortsunübliche Bauweise mit unregelmäßiger Fensteranordnung und einem steilen Satteldach nimmt das Gebäude einen besonderen Stellenwert ein (renoviert 2006). Eine zweite bedeutende Kirche befindet sich zwischen den Fraktionen Ködnitz und Großdorf. Die St. Georgs-Kirche wurde 1366 geweiht und verfügt über einen für das kleine Langhaus relativ hohen Turm. Neben natürlichen Sehenswürdigkeiten wie der Daberklamm mit dem dahinterliegenden Dorfertal und dem Dorfersee oder den vergletscherten Südwesthängen des Großglockners befinden sich im Kalser Tal auch Relikte jahrhundertealter Wirtschaftsstrukturen. Beispiel hierfür sind die letzten sechs erhaltenen und restaurierten Stockmühlen am Kalserbach, die den Touristen von einem eigenen Mühlenverein zugänglich gemacht wurden und noch heute Korn mahlen. Des Weiteren wurde auch je ein ehemaliger Bergwerksstollen in Fallwindes und in Ganotz für Besucher geöffnet. Kunst und Kultur Das Kalser Liedgut wird von mehreren Vereinen erhalten. Neben dem traditionellen Kirchenchor, der bereits 1741 urkundlich genannt wurde und der bereits im 19. Jahrhundert spielenden Trachtenmusikkapelle tritt auch der 1975 gegründete Frauenchor Kals für die Erhaltung von Brauchtum und Kalser Liedgut ein. Die 1990 gegründeten Kalser Stubenfliegen kümmern sich ebenso um die Erhaltung alter Kalser Lieder wie die 2005 geschaffene Gruppe VoKals. Um 1985 gründete sich auch die Volksbühne Kals, die im renovierten Kino eine Bühne einrichtete und jährlich wechselnde Stücke zur Aufführung bringt. Vereinswesen Kals verfügt über ein breites Spektrum des Vereinswesens (ca. 30 Vereine). Die wichtigsten Vereine sind die Freiwillige Feuerwehr, die Musikkapelle und die Kalser Schützenkompanie. Daneben gibt es u. a. den bereits 1869 gegründeten Bergführerverein, die Schützengilde (Scheibenschießen) und den Jagdverein, der das 18.000 ha große Jagdrevier in Kals betreut. Bei den sechs kirchlichen Prozessionen im Jahr wirken die Musikkapelle, die Schützenkompanie und die Fahnenabordnungen der Feuerwehr, Bergführer und Schützengilde mit. Sport Mit der 1958 gegründeten Sportunion Kals verfügt die Gemeinde über einen Sportverein mit rund 250 Mitgliedern. Besonderes Anliegen ist dem Verein die Kinder- und Jugendförderung. 150 der 250 Mitglieder sind Kinder und Jugendliche. Gegliedert ist der Verein in die Sektionen Ski, Fußball, Tischtennis, Stockschützen, Volleyball und Motorik. Seit 1988 verfügt der Verein über einen eigenen Sportplatz mit Sportheim. 1989 wurde die Infrastruktur um Asphaltstockbahnen und 1990 um eine Naturrodelbahn mit Zeitnehmung erweitert. Wirtschaft und Infrastruktur Zur Wirtschaftsgeschichte und der Geschichte des Schulwesens siehe: Geschichte von Kals am Großglockner Arbeitsstätten Laut Arbeitsstättenzählung 2001 gibt es in Kals 64 Arbeitsstätten mit 168 Beschäftigten, wovon 109 unselbständige Beschäftigte sind. Wichtigste Branche in der Gemeinde ist demnach das Beherbergungs- und Gaststättenwesen, das mit 37 Betrieben (88 Beschäftigte) mehr als die Hälfte der Betriebe stellt. Weiterhin von Bedeutung ist die Branche Verkehr und Nachrichtenübermittlung mit 25 Beschäftigten sowie das Unterrichtswesen mit 19 Beschäftigten. Auffallend ist, dass es in Kals keinen Betrieb mit 20 oder mehr Beschäftigten gibt. Die geringe Beschäftigungsmöglichkeit in der Gemeinde verursacht zudem eine hohe Pendlerrate. Bei 39 Einpendlern sind 355 Einwohner von Kals außerhalb ihrer Heimatgemeinde beschäftigt. Rund 38 % der Auspendler müssen dabei außerhalb des Bezirkes Lienz ihrer Arbeit nachgehen. Land- und Forstwirtschaft In Kals gab es 1999 insgesamt 98 land- und forstwirtschaftliche Betriebe, die insgesamt 11.706 ha bewirtschafteten. Dabei wurden 26 Betriebe im Haupterwerb und 55 Betriebe im Nebenerwerb geführt. 17 Betriebe waren im Eigentum von juristischen Personen. Wichtigste Einnahmequelle der Kalser Bauern ist die Viehzucht, wobei Kals bis in die 1970er Jahre für den Kalser Ochsen bekannt war. Danach folgte die Umstellung vom Pinzgauer zum Fleckvieh und die Bauern wechselten von der Ochsenmast zur Fütterung von Einstellern. Nach einem Preisverfall und dem EU-Beitritt begannen jedoch immer mehr Bauern wieder mit der Ochsenmast. Neben der Rinderzucht spielt auch die Schafzucht sowie die Milchlieferung eine wichtige Rolle. Die höchste Milchquote erreichten die Kalser Bauern 2001, als von 36 Bauern rund 535.000 kg Milch abgeliefert wurden. 2003 sank die Quote bei nur noch 27 Lieferanten auf rund 492.000 kg Milch. Prägend für die Kalser Landwirtschaft ist auch die Almwirtschaft, die von 75 % der Bauern, insbesondere im Dorfertal, noch aktiv betrieben wird. Die Forstwirtschaft in der Gemeinde Kals liegt vor allem in der Hand der Agrargemeinschaft Kals, die 1972 von mehr als hundert Mitgliedern gegründet wurde. Hauptanteilseigner ist die Gemeinde Kals mit 60 %, da diese den Gemeindewald in die Agrargemeinschaft einbrachte. Haupteinnahmequelle ist der Holzverkauf, der jährlich 2.000 bis 3.000 Festmeter beträgt. Durch den Rückgang im Brennholzabsatz entschloss sich die Agrargemeinschaft zur Vermarktung von Hackschnitzeln. Mussten die Hackschnitzel zunächst noch außerhalb der Gemeinde Kals verkauft werden, so betreibt die Osttiroler Hackschnitzelgenossenschaft heute zwei Heizwerke in der Gemeinde. Die Agrargenossenschaft liefert als größter Teilhaber jährlich rund 800 Schüttraummeter Hackschnitzel an die beiden Anlagen. Das Kalser Sägewerk, das 1985 von der Agrargemeinschaft übernommen wurde, war unter anderem durch hohe Transportkosten und den Holzpreisverfall immer wieder von der Stilllegung bedroht. Tourismus Der Tourismus spielt in der Kalser Wirtschaft eine tragende Rolle und wird vom Tourismusverband Kals am Großglockner (1953 als Verschönerungsverein gegründet) koordiniert. Die Grundlage für den Sommertourismus stellte dabei die Erstbesteigung des Großglockners von Kalser Seite im Jahr 1855 dar, wobei der Tourismus insbesondere ab den 1950er Jahren einen bedeutenden Aufschwung nahm. Das Wachstum konnte bis in die 1980er Jahre gehalten werden, wobei das Wanderwegenetz zwischen 1960 und der Mitte der 1970er Jahre von 80 auf 200 km erweitert wurde. Nach einem Nächtigungstief in den 1990er Jahren konnten die Nächtigungszahlen durch einen Ausbau der Wintersportmöglichkeiten wieder gesteigert werden. 2003 lagen die Nächtigungszahlen bei 68.539 Winternächtigungen und 78.356 Sommernächtigungen. Wichtigster Faktor im Sommertourismus ist das Wandern und Bergsteigen, wobei der Glocknertourismus eine herausragende Stellung einnimmt. Der Grundstein für den Wintertourismus wurde in Kals 1961 mit der Errichtung des Einsessellifts Glocknerblick gelegt. Ab 1995 wurde das Skigebiet (Bergbahnen Kals) deutlich erweitert und verfügte über drei Viersessellifte und drei Schlepplifte, ferner über rund 25 km gespurte Langlaufloipen. Auffallend an der Tourismusstruktur zu jener Zeit war der geringe Anteil der Gewerbebetriebe im Vergleich zu den Privatzimmervermietern (nur drei Hotels) sowie die geringe Größe der Betriebe. Hinzu kam ein relativ hoher Anteil von Zimmern ohne sanitären Komfort. Neben einer Verbesserung der gegebenen Strukturen plante Kals eine Steigerung der Bettenzahlen von 1.520 (2003) auf 2.000, was auch die auf Grund der geringen Auslastung gefährdete wirtschaftliche Existenz der damaligen Kalser Bergbahnen sichern sollte. Eine Verbindung des Skigebiets mit den Goldried Bergbahnen in Matrei in Osttirol wurde erstellt und unter dem gemeinsamen Namen Großglockner Resort Kals–Matrei am 8. Dezember 2008 eröffnet. 2012 eröffnete die Schultz Gruppe, die auch die Bergbahnen in Kals und Matrei betreibt, das Gradonna Mountain Resort, eine luxuriöse Hotel- und Chaletanlage mit rund 500 Betten direkt an der Skipiste. 2008 war Kals eines von 17 Gründungsmitgliedern der Bergsteigerdörfer-Initiative des ÖAV im Zeichen touristischer Nachhaltigkeit. Der Bau der Chaletanlage außerhalb des historischen Ortskerns war mit den Kriterien der Initiative jedoch nicht vereinbar, woraufhin Kals dieses Qualitätssiegel Ende des Jahres 2011 wieder aberkannt wurde. Verkehr Mit der Felbertauernstraße B 108 verfügt die Gemeinde im Süden des Gemeindegebietes über einen Anschluss an das höherrangige Straßennetz. Die verkehrsmäßige Aufschließung der Gemeinde selbst erfolgt durch die Kalser Straße L 26. Diese beginnt in Huben (Gemeinde Matrei) und verläuft über die Kalser Ortsteile Oberpeischlach, Staniska, Lesach und Ködnitz bis Großdorf. Während das östlich verlaufende, hintere Ködnitztal mit dem Lucknerhaus über eine Mautstraße erreichbar ist, ist das Kalser Dorfertal ab der Siedlung Taurer nur mehr für die Almbesitzer befahrbar. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist Kals mit Linienbussen der ÖBB-Postbus GmbH erreichbar. Die Linie 4408 bindet die Gemeinde dabei täglich bis zu neunmal an die Bezirkshauptstadt Lienz an (Fahrzeit 48 Minuten). Geführt wird die Linie von Großdorf (Haltestelle Kals am Großglockner Taurer) über Huben bis zum Bahnhof von Lienz, wo sich der nächstgelegene Anschluss an das Bahnnetz befindet. Im Westen des Ortes befindet sich die Talstation der Seilbahn Kals 1 und führt in das Großglockner Resort Kals–Matrei. Bildung Im Jahr 1969 eröffneten Schulgebäude (renoviert 2000–2003) im Ortsteil Ködnitz sind die Volksschule, die Neue Mittelschule sowie der Kindergarten untergebracht, die zu einem Bildungszentrum zusammengefasst sind. Die zweiklassige Volksschule besuchen 2018 rund 40 Kinder, wobei sich der Volksschulsprengel beinahe mit dem Kalser Gemeindegebiet deckt. Nur die Kinder aus Unterpeischlach werden in der Volksschule Huben eingeschult. Die Kalser Hauptschule wurde 1976 als Expositur der Hauptschule Matrei gegründet und wird seit 1994 als selbständiger Standort geführt. Die Neue Mittelschule besuchen 46 Kinder (2018). Der Hauptschulsprengel ist mit dem Gemeindegebiet identisch. 1984 wurde in Kals auch eine Musikschule gegründet. Sicherheit Während die Polizei keine eigene Inspektion in der Gemeinde hat, besteht seit 1896 in Kals eine Freiwillige Feuerwehr, ebenso wie eine Ortsstelle des Österreichischen Bergrettungsdienstes. Politik Der Gemeinderat als oberstes Gremium der Gemeinde umfasst 13 Sitze und wird alle sechs Jahre im Zuge tirolweiter Gemeinderatswahlen gewählt. Gleichzeitig wird der Bürgermeister in einer Direktwahl bestimmt, wobei es bei keiner absoluten Mehrheit für einen Kandidaten zu einer Stichwahl kommt. Stärkste Kraft in der Gemeindepolitik ist von jeher die ÖVP, die bei den Gemeinderatswahlen ähnlich wie im gesamten Bundesland nicht als einheitliche Partei, sondern im Rahmen von mehreren der ÖVP nahestehenden Listen antritt. Die bündische Gliederung der ÖVP in Bauern-, Wirtschaftsbund und ÖAAB spiegelt sich dabei teilweise auch in den konkurrierenden Listen im Kalser Gemeinderat wider. Stärkste Liste im Kalser Gemeinderat war ab 2004 die Liste Ortsbauernschaft Kals am Großglockner (Bauernbund), die 2004 42,3 % (− 4,9 Prozentpunkte) erreichte und damit ihre absolute Mandatsmehrheit verlor. Sie stellt mit Nikolaus Unterweger auch den Bürgermeister, der seit 1992 an der Spitze des Gemeinderates steht und 2004 mit 86,2 % in einer Direktwahl bestätigt wurde. Hinter der Ortsbauernschaft Kals folgten bei den Wahlen 2004 die Listen Tourismus und Wirtschaft (Wirtschaftsbund) mit 22,1 % (+ 5,9 Prozentpunkte) und die Liste AAB mit 21,1 % (+ 3,9 Prozentpunkte). Klarer Wahlverlierer war neben der Ortsbauernschaft die Liste FÜR KALS – Freiheitliche und Unabhängige die mit 14,5 % rund 5 Prozentpunkte einbüßte. Bei der Gemeinderatswahl 2010 wurde Nikolaus Unterweger erneut mit 64,9 % zum Bürgermeister gewählt. Er trat bei der Gemeinderatswahl mit der Heimatliste Kals am Großglockner an, die 36,2 % sowie fünf Mandate erreichte. Unterwegers Gemeinderatsliste büßte damit auch 2010 deutlich an Stimmanteilen ein. Am stärksten steigern konnte sich die Liste Tourismus und Wirtschaft, die sich 2010 von 22,1 % auf 35,3 % verbessern konnte und vier Mandate erreichte. Ebenfalls stark schnitt die Liste FÜR KALS – Unabhängige Bürgerliste Kals am Großglockner ab, die 28,5 % und vier Mandate erreichte. In der Liste für Kals arbeiten dabei der ÖAAB und die FPÖ zusammen. Wie stark die ÖVP in Kals tatsächlich verankert ist, zeigt ein Blick auf die Landtagswahlen von 2003, wo sie 74,04 % der Stimmen erreichte. Wappen Blasonierung: Auf goldenem Grund fünf aufrechte, unten vereinte schwarze Spitzen. Während die vier äußeren Spitzen lediglich bis zur Mitte des Wappenschilds reichen, verläuft die mittlere Spitze bis an den oberen Wappenrand und symbolisiert dabei den Großglockner. Am rechten Rand der mittleren Spitze ist zudem leicht abgesetzt der Kleinglockner erkennbar. Das Wappen wurde der Gemeinde Kals 1978 verliehen. Sonstiges Im Gemeindegebiet von Kals wurden im Rahmen des Projektes zur Wiederansiedlung von Bartgeiern in Österreich mehrfach junge Bartgeier freigelassen. Persönlichkeiten Ehrenbürger Johann Stüdl (1839–1925), Prager Kaufmann und Förderer des Alpinismus Söhne und Töchter der Gemeinde Rupert Huter (1834–1919), Priester und Botaniker Virgil Groder (1856–1924), Maler Sepp Huter (1929–2001), Kapellmeister und Komponist Rupert Schwarzl OFM (* 1947), Provinzial der Franziskanerprovinz Austria 2007-2011 Fabio Wibmer (* 1995), Mountainbiker Literatur Maria Eder, Anna Holzer: „Lebensbilder“ Kals am Großglockner 1994. Katholischer Tiroler Lehrerverein (Hrsg.): Bezirkskunde Osttirol. Innsbruck 2001, ISBN 3-7066-2267-X. Simon Kurzthaler: Geschichte – Kunst – Kultur. Begegnungen in der Nationalparkregion Hohe Tauern. Innsbruck 1997, ISBN 3-7066-2148-7. Hilda Antonia Leimser: Geschichte von Kals am Großglockner durch die Jahrhunderte. Kals am Großglockner 1998. Louis Oberwalder: Kals. Dem Himmel nahe. Kals am Großglockner 2004. Weblinks Website der Gemeinde Geschichte-Tirol: Die Geschichte von Kals Archivaufnahmen aus und über Kals am Großglockner im Onlinearchiv der Österreichischen Mediathek (volkskundliche Filme) Einzelnachweise Schobergruppe Glocknergruppe Wintersportgebiet in Tirol Archäologischer Fundplatz in Tirol Archäologischer Fundplatz in Europa Granatspitzgruppe
231988
https://de.wikipedia.org/wiki/Hausrotschwanz
Hausrotschwanz
Der Hausrotschwanz (Phoenicurus ochruros) ist eine Singvogelart aus der Familie der Fliegenschnäpper (Muscicapidae). Er ist etwas kleiner als der Haussperling und vor allem an seinem rostorangen Schwanz und dem ansonsten dunklen Gefieder zu erkennen. Hausrotschwänze sind Nischenbrüter und waren ursprünglich ausschließlich im Gebirge beheimatet. Erst seit ungefähr 250 Jahren ist die Art im Tiefland verbreitet und auch in Siedlungsgebieten in der Nähe des Menschen anzutreffen. Die Nahrung besteht hauptsächlich aus Insekten, die von einer Warte aus meist am Boden, seltener auch in der Luft, gefangen werden. Der Gesang des Hausrotschwanzes ist charakteristisch, da der Mittelteil eher einem kratzenden Geräusch ähnelt. Er zählt tageszeitlich zu den ersten gesangsaktiven Vögeln. Die Hausrotschwänze West- und Mitteleuropas sind Kurzstreckenzieher und überwintern vorwiegend im Mittelmeerraum. Sie verlassen dabei als eine der letzten wegziehenden Arten das Brutgebiet und kehren früh im Jahr bereits zurück. Der Hausrotschwanz wird als ungefährdet eingestuft und gehört zu den Singvogelarten, deren Bestände in Europa gegen Ende des 20. Jahrhunderts deutlich zugenommen haben und weiterhin stabil sind. Aussehen und Merkmale Der Hausrotschwanz ist mit einer Körperlänge von 14 bis 15 Zentimetern geringfügig kleiner und vor allem schlanker als der Haussperling. Das namengebende Kennzeichen der Gattung sind die rostorange gefärbten Oberschwanzdecken und Schwanzfedern, wobei beim Hausrotschwanz das mittlere Steuerfederpaar dunkelbraun ist. Dieses Merkmal ist in allen Kleidern sowohl beim Männchen als auch beim Weibchen vorhanden. Der braunschwarze Schnabel ist verhältnismäßig lang, an der Basis breit und von recht langen Schnabelborsten umkränzt. Die schwarzen, schlanken Beine sind auffallend lang, die Sitzhaltung ist aufrecht. Charakteristisch für die Art sind auch das häufige Knicksen und Schwanzzittern. Das Gewicht liegt zwischen 14 und 20 Gramm, im Mittel bei 16,2 Gramm. Die Flügel sind relativ lang, die Flügellänge mitteleuropäischer Vertreter der Art reicht von 85 bis 91 Millimetern, die Spannweite beträgt ungefähr 26 Zentimeter. Federkleid und Mauser Wie alle Rotschwänze ist der Hausrotschwanz geschlechtsdimorph. Die Oberseite adulter Männchen ist zur Brutzeit dunkel schiefergrau. Die Stirn ist schwarz, manchmal mit einem weißen Stirnfleck. Zügel, Wangen und die Unterseite vom Kinn bis zum Bauch sind schwarz, die Unterseite ist heller und grauer. Die dunkelbraungrauen Hand- und Armschwingen haben einen weißen Saum, der bei den mittleren Armschwingen besonders deutlich ist und einen weißen Flügelspiegel bildet. Dieser ist nur beim sitzenden Vogel sichtbar und kann im Sommer kaum mehr erkennbar sein. Im Herbst und Winter wirken die Männchen durch graue Federsäume insgesamt etwas heller. Weibchen sind deutlich unscheinbarer gefärbt als Männchen. Bürzel und Oberschwanzdecken erscheinen gegenüber dem Männchen weniger leuchtend und eher rotbraun als rostorange. Oberseits sind die Weibchen einheitlich graubraun gezeichnet, nur Mittel- und Unterbauch sind verwaschen grauweiß und damit heller. Jungvögel sehen wie Weibchen aus, die Unterseite ist jedoch scheckiger und stärker gewölkt. Nach der Jugendmauser, bei der nur ein Teil des Gefieders gewechselt wird, sind die jungen Weibchen im Feld nicht mehr von Altvögeln zu unterscheiden. Auch ein Großteil der Männchen sieht im ersten Lebensjahr noch immer wie Weibchen aus, denn der Hausrotschwanz weist eine verzögerte Gefiederreifung (engl. delayed plumage maturation) auf. Dieses Phänomen ist bei Singvogelarten mit sexuell unterschiedlicher Färbung nicht ungewöhnlich. Eine Besonderheit beim Hausrotschwanz ist, dass nicht alle der einjährigen Männchen diese verzögerte Gefiederreifung mit dem auch als cairei-Morphe bezeichneten „Hemmungskleid“ zeigen. Die anderen einjährigen Männchen, etwa 15 Prozent, zeigen das „Fortschrittskleid“ – die paradoxus-Morphe. Sie ähneln damit schon stark adulten Männchen, ihnen fehlen aber die weißen Flügelspiegel und die dunklen, schwärzlichen Flügelfedern der Mehrjährigen. Die Jahresmauser ist eine Vollmauser in der für Singvögel üblichen Abfolge und findet in Mitteleuropa zwischen Mitte Juli und Mitte Oktober statt. Die Dauer der Handschwingenmauser beträgt 50 Tage und liegt im für Kurzstreckenzieher normalen Bereich. Stimme Der Reviergesang besteht im Regelfall aus einer klar in drei Abschnitte gegliederten Strophe, die 2,5 bis etwa 4 Sekunden dauern kann. Der Anfangsabschnitt klingt etwas mühsam und gepresst und lässt sich ungefähr mit „jirr tititi“ wiedergeben, wobei die Lautstärke gegen Ende hin zunimmt. Nach einer Pause von ungefähr einer Sekunde folgt der charakteristische kratzende, geräuschartige Mittelteil, der in den wieder deutlich modulierten Schlussteil übergeht – etwa wie „krchrch-tütititi“. Diese Strophe kann mehrfach aneinander gereiht werden. Der Schlussteil und auch der Mittelteil werden gelegentlich weggelassen, die Tendenz zu unvollständigen Strophen nimmt gegen Ende der Saison zu. Variationen treten vor allem im Schlussteil auf, wobei es geografische sowie intra- und interindividuelle Unterschiede gibt. Bei den zentralasiatischen Rassen ist der Gesang deutlich einförmiger, weil bei diesen der Anfangs- und Schlussteil aus identischen Elementen besteht. Wie bei Versuchen mit Klangattrappen gezeigt werden konnte, wird diese Form des Gesangs auch von den europäischen Artgenossen noch erkannt, was auf den einheitlichen Aufbau des Anfangsteils zurückzuführen ist. Neben dem Gesang sind am häufigsten zwei Rufe zu hören, die oft auch kombiniert werden und beide als Kontakt-, Alarm- oder Erregungsruf Verwendung finden. Dies ist zum einen ein kurzes, nach oben gezogenes „huid“, „fit“ oder „sit“, zum anderen ein schnalzendes, aggressiv klingendes „tk-tk“ oder „tuc-tuc“. Besonders letzterer Ruf wird bei Annäherung von Bodenfeinden schnell gereiht vorgetragen. Unterscheidung von Haus- und Gartenrotschwanz In Europa brütet neben dem Hausrotschwanz der nahe verwandte Gartenrotschwanz (Phoenicurus phoenicurus). Adulte Männchen des Gartenrotschwanzes sind zur Brutzeit an der weißen Stirn, der schwarzen Gesichtsmaske und der rostorangen statt braungrauen Unterseite leicht zu unterscheiden. Schwieriger ist die Unterscheidung der Weibchen, die der Gartenrotschwänze unterscheiden sich von weiblichen Hausrotschwänzen durch die helle, meist weißlich-isabellfarbene Kehle und die deutlich hellere rostorange bis isabellbraune Unterseite. Verbreitung, Wanderungen und Lebensraum Verbreitung Der Hausrotschwanz hat als einzige Rotschwanzart ein Verbreitungsgebiet, das von den zentralasiatischen Gebirgsregionen westwärts bis in die Bergregionen des Mittelmeerraums und Europas sowie in die gemäßigten Tieflandregionen Nordost-, Mittel- und Westeuropas reicht. Die Ostgrenze des Verbreitungsgebiets liegt etwa bei 111° östlicher Länge in China. Die Vorkommen im Nordosten, d. h. in der Mongolei und im Süden Russlands, sind durch die nördlichen zentralasiatischen Gebirgszüge geprägt und dürften bis in die Quellregion des Jenissei bei 52° nördlicher Breite reichen. Weiter in westlicher Richtung wird die Nordgrenze des Brutareals von Gebirgsausläufern und den Vorbergen Mittelasiens geprägt und verläuft vom Altai-Gebirge bis zum Hindukusch grob in südwestlicher Richtung. Im Süden verläuft die Verbreitungsgrenze über die Südabdachung des Himalayas zum Hindukusch. Die Tiefländer, Steppen und Halbwüsten Turkmeniens und Usbekistans unterbrechen das Brutgebiet des Hausrotschwanzes, erst im Kopet-Dag- und Elburs-Gebirge und dem Kaukasus tritt die Art wieder auf, isolierte inselartige Vorkommen existieren auch im Südiran. Im Mittelmeerraum ist der Hausrotschwanz ebenfalls überwiegend auf die Gebirgslagen beschränkt. Im Südwesten reicht das Brutgebiet bis zum Hohen Atlas, im östlichen Mittelmeerraum bis ins Libanongebirge. Erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts hat sich die Art in den Mittelgebirgsregionen und auch im Tiefland in Europa nach Norden hin ausgebreitet, während die Karpaten, die Alpen, das Zentralmassiv und die Pyrenäen wohl seit längerem besiedelt sind. Seit dieser Zeit hat der Hausrotschwanz ein Gebiet von schätzungsweise 1,6 Millionen Quadratkilometern neu erobert. Die Nordgrenze der Verbreitung reicht in Europa nun bis 65° nördlicher Breite, die Art brütet beispielsweise in Südengland, Südschweden, Lettland und seit 1966 auch im Südwesten Finnlands. Die Eroberung von Tieflandregionen hat in Europa auch in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts noch angehalten, Brutnachweise gibt es beispielsweise vereinzelt in den Küstengebieten Mittelfinnlands und im Wolgatiefland bei Kasan. Die Besiedlungsdichte ist allerdings in den Gebirgslagen deutlich höher als im Tiefland. Wanderungen Die Hausrotschwänze der Westpaläarktis sind spät wandernde Kurzstreckenzieher und überwintern überwiegend im Mittelmeerraum bis an den Nordrand der Sahara und bis zur Sinai-Halbinsel. Die nördliche Grenze des regelmäßigen Überwinterungsgebiets entspricht grob der 7,5–10 °C Januarisotherme. Die Populationen der Südwestpaläarktis sind überwiegend Standvögel, können aber auch über relativ kurze Strecken aus den Bergregionen in die nahegelegenen Tiefländer abwandern. Stärker von den Brutgebieten getrennt sind die Überwinterungsareale der Hausrotschwänze Zentralasiens und des Westhimalayas. Diese überwintern von den Tiefebenen Nordwestindiens und Pakistans über den Südiran, die Arabische Halbinsel bis ins Hochland von Äthiopien und Somalia. Das Winterquartier der Populationen des östlichen Himalayas, Tibets und Westchinas reicht von Nordburma bis Südindien. Der Wegzug der mitteleuropäischen Hausrotschwänze beginnt im letzten Septemberdrittel, das Zugmaximum tritt Anfang bis Mitte Oktober auf, und der Zug klingt im November langsam aus. Vereinzelt werden mitteleuropäische Hausrotschwänze auch im Winter im Brutgebiet beobachtet, die Zahl der Beobachtungen scheint bislang aber unbedeutend. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass die milden Winter der letzten Jahre eine schrittweise Änderung des Wanderverhaltens zur Folge haben könnten. Der Heimzug nach Mitteleuropa beginnt schon ab Januar, die ersten Vögel treffen Ende Februar in den Brutgebieten ein. Mitte März ist der Heimzug am lebhaftesten, in Ost- und Nordeuropa treffen die letzten Heimkehrer erst Anfang Juni ein. Nicht selten schießt ein Teil der Vögel über das Ziel hinaus. Insbesondere Jungvögel wurden regelmäßig in Schottland oder sogar bis 69° nördlicher Breite in Norwegen beobachtet. Solche Zugwegprolongationen dürften ein wesentlicher Faktor bei der Arealausweitung des Hausrotschwanzes gewesen sein. Während die Reviertreue mehrjähriger Vögel sehr stark ist, kehren einjährige Hausrotschwänze praktisch nie an den Geburtsort zurück. Auch dieser erhebliche Dispersionsdrang dürfte bei der Neueroberung von Lebensräumen eine Rolle spielen. Einen Großteil ihres Weges legen Hausrotschwänze offenbar in für Singvögel typischem Breitfrontzug zurück, die Höhenzüge des Schweizer Jura haben allerdings eine deutliche Leitlinienwirkung. Die Frage nach den Anteilen von Tag- und Nachtzug ist nach wie vor umstritten. Einerseits zeigen Vögel in Gefangenschaft im Herbst sprunghaft ansteigende nächtliche Zugunruhe, andererseits weisen Fangergebnisse im Jura und an Alpenpässen überwiegend tagsüber gerichtete Fortbewegungen nach. Vermutet wird, dass in der frühen Phase des Zuges der Hausrotschwanz sich tagsüber in einer Art „Schleichzug“ fortbewegt, bei der er unterwegs relativ viel Zeit für das Jagen aufwendet. Wenn später weite Strecken zurückzulegen sind, zieht er hingegen nachts – wie andere insektivoren Zugvögel – mit anschließender Tagesrast in insektenreichen Gebieten. Lebensraum Als einzige Vogelart der Westpaläarktis besiedelt der Hausrotschwanz alle Höhenstufen von Meereshöhe bis in die alpine, sporadisch sogar bis in die untere nivale Höhenstufe. Schon die Primärhabitate der Art umfassen eine breite Palette trockener bis feuchter Berg- und Felsregionen, zudem besiedelt der Hausrotschwanz inzwischen eine Vielzahl vom Menschen geschaffener Lebensräume. Allen Primärhabitaten gemeinsam ist der offene, weitgehend übersichtliche Charakter sowie das Fehlen höherer, dichter Vegetation. Diese Lebensräume weisen zumindest einzelne Felsen oder Blöcke auf, die als Brutplätze oder Warten wichtig sind. Die klimatischen und orografischen Rahmenbedingungen der Primärhabitate unterscheiden sich erheblich. Beispiele sind sanfte, spärlich bewachsene, mit Geröll bedeckte Berghänge und Kuppen in der Mongolei, steile Schluchten und Hänge mit angrenzenden Hochgebirgs-Halbwüsten in den Trockentälern des inneren Himalaya oder auch felsige Hochmatten und Blockhalden an Gletscherrändern in den Hochgebirgen Europas und Asiens. Brutnachweise gibt es in den Alpen bis am Gornergrat und im Himalaya bis etwa . Das Spektrum der vom Hausrotschwanz besiedelten Sekundärhabitate ist außerordentlich breit, der Zusammenhang zu den Primärhabitaten ist zwar nicht in allen Fällen offensichtlich, bei näherer Betrachtung aber erkennbar. Ein Schlüsselfaktor dieser Lebensräume ist die Existenz zumindest einzelner übersichtlicher, kurzrasiger oder vegetationsarmer Bereiche, die bevorzugt bejagt werden. Bei der Wahl der Neststandorte ist der Hausrotschwanz ausgesprochen flexibel und störungsunempfindlich. Es gibt Sekundärhabitate inner- und außerhalb menschlicher Siedlungen. Beispiele sind Kiesgruben, Steinbrüche, von Stützmauern durchzogene Weinberge und praktisch alle Typen von Wohn-, Gewerbe- und Industrieanlagen. In Europa dürften Siedlungen mittlerweile 90 Prozent des Gesamtbestands beherbergen. Offene, übersichtliche Habitate werden auch nach der Brutzeit und während des Zuges als Rastplätze bevorzugt. Siedlungsvögel nutzen im Spätsommer ebenso umliegendes Kulturland, insbesondere Ackerbrachen und abgeerntete Maisfelder. Besonders beliebte Rastplätze während des Zuges sind Flussufer, vor allem bei Schlechtwetter. Ried- und Schilfgebiete hingegen werden trotz ihres Nahrungsreichtums und des offenen bis halboffenen Charakters gemieden. Nahrung und Nahrungserwerb Die Nahrung des Hausrotschwanzes besteht vor allem aus wirbellosen Kleintieren, aber auch pflanzliche Nahrung, insbesondere Beeren, spielt eine gewisse Rolle. Das Beutespektrum ist vielfältig, es umfasst mehr als 50 Insektenfamilien, verschiedene Spinnentiere – vor allem Webspinnen und Weberknechte – sowie verschiedene Arten weiterer vor allem bodenbewohnender Gliederfüßer und Schnecken. Die Größe der Beutetiere liegt hauptsächlich zwischen zwei und acht Millimetern. Daneben erbeutet der Hausrotschwanz gelegentlich auch Schmetterlingsraupen und Regenwürmer, die bis zu sieben Zentimeter lang sein können. Derartig große Beutetiere werden vor Verzehr oder Verfütterung gequetscht oder zerstückelt. Der Verdauungstrakt des Hausrotschwanzes zeigt Anpassungen an tierische Nahrung. Ob die Beeren eine besondere physiologische Bedeutung haben oder ein entsprechendes Angebot nur opportunistisch ausgenutzt wird, ist umstritten. Der Hausrotschwanz ist hauptsächlich ein Wartenjäger. Typisch ist dabei das Lauern auf am Boden befindliche Beutetiere von erhöhten Positionen, beispielsweise auf Steinen, Felsen, Pfosten oder Dächern, seltener Sträuchern oder Bäumen. Am häufigsten wird die Beute mit geradlinigen Sturzflügen erreicht, Richtungswechsel des fixierten Objekts kann der Hausrotschwanz kompensieren. Die Entfernung zur Beute liegt meist zwischen zwei und drei Metern, kann aber auch über zehn Meter betragen. Regelmäßig werden auch Fluginsekten erbeutet, der Luftraum ist aber von sekundärer Bedeutung. Auch den Rüttelflug setzt der Hausrotschwanz zum Nahrungserwerb ein und kann auch auf diese Weise Beutetiere an Felsen oder Gehölzen ablesen oder Beeren von Sträuchern pflücken. Alternativ zur Wartenjagd sucht der Hausrotschwanz auf vielfältige Weise direkt am Boden nach Nahrung. Hierfür ist er mit seinen langen Läufen und gleich langen Innen- und Außenzehen gut angepasst. Meist bewegt er sich dabei hüpfend, seltener laufend fort. Zusammenfassend zeigt der Hausrotschwanz beim Nahrungserwerb eine hohe Flexibilität und vielfach opportunistisches Verhalten bei kurzfristig verfügbarer Nahrung – beispielsweise wird die gute Sichtbarkeit von Insekten nach Neuschneefall im Gebirge ausgenutzt. Verhalten Hausrotschwänze sind wenig soziale Vögel, auch außerhalb der Brutzeit sind sie bei der Nahrungssuche fast immer alleine. Nur während des Zuges bei Schlechtwetter oder bei lokalen Massierungen von Beute – beispielsweise an Flussufern – können kurzfristig lockere Verbände auftreten, aber selbst in solchen Fällen wird eine erhebliche Individualdistanz eingehalten. Aktivität und Komfortverhalten In Mitteleuropa beginnen Hausrotschwänze von März bis Juni etwa eine, mitunter auch zwei Stunden vor Sonnenaufgang mit dem Gesang. Damit gehören sie mit den Amseln zu den frühesten morgendlichen Sängern, in den Alpen kann nur der Gesang des Steinschmätzers noch früher einsetzen. Besonders zu Beginn der Brutperiode kann der Hausrotschwanz mit kleinen Pausen bis in die späte Abenddämmerung ununterbrochen singen. Dabei gibt er bei gutem Wetter durchschnittlich mehr als 5000 Strophen von sich, die reine Gesangszeit liegt bei über sechs Stunden. Gelegentlich ist der Gesang auch nachts zu hören. Auch gibt es Berichte über Hausrotschwänze, die nachts an einer Straßenlaterne schwärmende Insekten fangen. Besonders während der Mauser sieht man die Vögel beim Sonnenbaden, seltener sind Wasserbäder und nur ausnahmsweise Staubbäder zu beobachten. Territorialität und antagonistisches Verhalten Der Zeitraum der Reviergründung durch die Hausrotschwanz-Männchen erstreckt sich in Mitteleuropa über einen Zeitraum von bis zu sechs Wochen nach Ankunft im Brutgebiet. Wie bei anderen Singvogelarten kommen die jungen Männchen später im Brutgebiet an und haben damit bei der Revierauswahl bereits einen Nachteil. Das Angebot an auffälligen Singwarten dürfte bei der Wahl des Reviers ein mindestens ebenso wichtiges Kriterium darstellen wie das Nistplatzangebot. Der Hausrotschwanz ist unter den Singvogelarten bei der Auswahl der Singwarten am selektivsten und bevorzugt die exponiertesten Plätze, typisch sind im Primärhabitat die höchsten verfügbaren Felsen oder im Sekundärhabitat die Giebelspitzen. Baumkronen werden auch genutzt, wenn auch äußerst selten. Diese Präferenz äußerst auffälliger, hoher Warten ist für einen vorwiegend am Boden nach Nahrung suchenden Vogel ungewöhnlich. Für die Reviergröße in Sekundärhabitaten liegen die Angaben in der Literatur zwischen 0,35 und 7 Hektar. In einigermaßen geeigneten Lebensräumen dürften die Reviere aber kaum größer als 2 Hektar sein, die mittlere Größe liegt deutlich darunter. Für die Primärhabitate fehlen verlässliche Angaben, es ist jedoch davon auszugehen, dass die Reviere oft weit auseinander liegen und es weniger feste Reviergrenzen gibt. Auf Konkurrenten im Randbereich der Reviere und auf Eindringlinge reagieren revierhaltende Hausrotschwänze deutlich und unmittelbar. Das Spektrum der Reaktionen reicht von Gesangsduellen über vorsichtige, schleichende Annäherung mit Drohgebärden bis zu aggressiven, überfallartigen Attacken. Gegenüber artfremden Mitbenutzern des Reviers hingegen zeigen sich Hausrotschwänze wenig aggressiv, selbst der verwandte Gartenrotschwanz wird meist geduldet. Vom größeren Steinschmätzer wird der Hausrotschwanz viel häufiger attackiert als umgekehrt. Wie Weibchen gefärbte einjährige Hausrotschwanz-Männchen („Hemmungskleid“), die in ein Revier eines älteren Männchens eindringen, scheinen von den Revierinhabern genauso heftig attackiert zu werden, wie Eindringlinge im Adultkleid. Dies steht im Widerspruch zur „female mimicry“-Hypothese. Dieses von Sievert Rohwer und seinen Mitarbeitern 1980 veröffentlichte Erklärungsmodell über den adaptiven Wert schlichter Jugendkleider unterstellt, dass wie Weibchen gefärbte geschlechtsreife junge Männchen die überlegenen Älteren über ihren Status täuschen könnten und dadurch im Vorteil wären. Gegen diese These spricht auch, dass einjährige Männchen im „Hemmungskleid“ minderwertigere Reviere halten als die gleichaltrigen Männchen im „Fortschrittskleid“ und – vermutlich als Folge davon – auch seltener verpaart sind. Auffällig beim Hausrotschwanz ist der Herbstgesang, der in Mitteleuropa nach der Mauser im September und Oktober zu hören ist. Er wird fast ausschließlich von adulten Männchen vorgetragen und bereitet bereits die Reviergründung der folgenden Brutsaison vor. Fortpflanzung Hausrotschwänze werden am Ende des ersten Lebensjahres geschlechtsreif, dies gilt auch für die wie Weibchen gefärbten Einjährigen im „Hemmungskleid“. Vertreter der Art führen vorwiegend eine monogame Saisonehe. Reviertreue und individuelle Präferenzen für bestimmte Reviere können aber auch dazu führen, dass die Partner eines Jahres im folgenden Jahr wieder gemeinsam Junge aufziehen. Polygynie wurde mehrfach nachgewiesen, einjährigen Männchen gelingt es dabei nur unter äußerst günstigen Bedingungen, zwei Weibchen zu erobern. In weiten Teilen seines süd- und mitteleuropäischen Areals gelingen dem Hausrotschwanz zwei, seltener auch drei Jahresbruten. Infolge der asynchronen Ankunft im Brutgebiet besteht eine zeitliche Überschneidung der Erst- und Zweitbruten auch innerhalb einzelner Populationen. Die Häufigkeit der Zweitbruten variiert nach Höhenlage und Breitengrad. Zudem schaffen mehrjährige Männchen signifikant häufiger eine zweite Brut als Einjährige. Balz und Paarbildung Die Weibchen, die in Mitteleuropa einige Tage bis zwei Wochen später als die Männchen im Brutgebiet eintreffen, entscheiden sich offenbar nicht sofort für einen Partner, sondern streunen mehrere Tage herum. Möglicherweise sammeln sie Informationen über Revierqualitäten und den Status potentieller Partner. In der frühen Paarbildungsphase sind ausgedehnte Verfolgungsjagden die auffälligste Verhaltensweise. In den Hetzpausen kommt es zu ritualisierten Imponier- und Balzgesten, in denen mehrjährige Männchen ihren Flügelspiegel zur Geltung bringen. Auch gemeinsame Inspektionen potentieller Nistplätze sind Vorbereitungen auf das Brutgeschehen. Zu Beginn der Partnerbeziehungen werden Kopulationen durch längere Aufforderungs- und Imponiergesten eingeleitet, später in der Saison fordert das Weibchen kurz durch geduckte Körperhaltung und Flügelzittern zur Begattung auf. Die nur wenige Sekunden dauernden Kopulationen finden häufig an exponierten Stellen statt, beispielsweise auf Dachfirsten. Neststandort und Nest Der Hausrotschwanz ist vorwiegend Nischen-, seltener auch Halbhöhlenbrüter. Im Primärhabitat dienen wie bei anderen Vögeln des Hochgebirges Felsspalten und -nischen als Neststandort. Im Siedlungsgebiet zeigt die Art eine erstaunliche Flexibilität bei der Nutzung von Niststandorten, zudem erweisen sich die Vögel als unempfindlich gegenüber Störungen, Lärm und Gestank. In der Literatur finden sich ausführliche Aufstellungen extremer Niststandorte – beispielsweise das Gestänge eines Generators, der täglich 10 bis 12 Stunden in Betrieb war und dessen Standort während der Jungenaufzucht wiederholt wechselte. Selbst bei den meisten Extremstandorten ist aber eine Vorliebe für etwas dämmrige, gut geschützte, überdachte oder abgedeckte Plätze erkennbar. Künstliche Nisthilfen werden gelegentlich angenommen, aber nicht bevorzugt. Sowohl die Wahl des Nistplatzes als auch der Bau des Nests erfolgt fast ausschließlich durch das Weibchen. Nistmaterial wird meist im näheren Umkreis gesammelt. Dabei verstehen es die Weibchen, Größe und Umfang des Nests an die Gegebenheiten anzupassen, um die bestmögliche Wärmeisolation und Abschirmung zu erreichen. Das Nest ist ein recht voluminöser, solider Napf mit einer vergleichsweise tiefen Mulde. Unterbau, Außenrahmen und Mittelteil bestehen vor allem aus längeren, trockenen Halmen, daneben wird häufiger auch Moos verwendet, seltener kleinere Wurzelbestandteile, Flechten, Federn oder Papier. Für die Innenauspolsterung verwenden die Weibchen hauptsächlich Tierhaare und Federn, seltener Glaswolle oder Watte. Für die Zweitbrut wird meist ein neues Nest gebaut, andererseits werden mitunter schon für die Erstbrut vorjährige Nester wieder verwendet. Es gibt auch drei Jahresbruten, in Sachsen-Anhalt trifft dies im mehrjährigen Mittel bei 10 % der Brutpaare zu. Gelege und Brut Die spitzovalen Eier sind reinweiß, nur selten zart hellblau angehaucht. Im Mittel messen sie ungefähr 20 × 15 Millimeter und wiegen etwas über zwei Gramm. Wie bei den meisten Singvögeln findet die Eiablage vorwiegend in den frühen Morgenstunden statt, jeweils mit einem Tag Abstand. Das durchschnittliche Vollgelege enthält fünf Eier. Die Gelegegröße zeigt in Europa nur geringe saisonale, geografische und höhenabhängige Variation. Am zweithäufigsten sind Vierergelege, Sechsergelege sind seltener, aber noch normal. Das Weibchen beginnt nach der Ablage des letzten Eies oder in der vorausgehenden Nacht mit der Bebrütung. Die Brutdauer beträgt in Mitteleuropa 12 bis 17, im Mittel 14 Tage. Eine Brutbeteiligung des Männchens kommt nur in Ausnahmefällen in vernachlässigbarem Umfang vor. Entwicklung der Jungen Die Jungvögel schlüpfen weitgehend synchron, oft innerhalb weniger Stunden. Die Eischalen werden unmittelbar nach dem Schlupf ausgetragen, der Kot wird in den ersten Tagen gefressen und die Nestlinge werden vom Weibchen gehudert. Später werden die Kotballen der Jungen in erheblicher Entfernung vom Nest abgelegt, dieser beträchtliche energetische Aufwand wird als Abwehrstrategie gegen Nesträuber gedeutet. Die Nestlingszeit dauert zwischen 12 und 19 Tagen, im Regelfall verbleiben die Jungvögel 15 bis 17 Tage im Nest. Frisch geschlüpfte Junge wiegen ungefähr 1,5 Gramm und können das Geburtsgewicht in etwa 10 Tagen verzehnfachen. Ab dem elften Lebenstag sind junge Hausrotschwänze weitgehend befiedert. Beide Geschlechter beteiligen sich an der Fütterung, Weibchen füttern regelmäßiger und etwas häufiger als Männchen, letztere übergeben einen Teil der Beute an das Weibchen und bringen größere Beutestücke zum Nest. Beide Elternteile betreuen die Jungen auch nach dem Ausfliegen, meist etwa 10 Tage, in Ausnahmefällen auch bis zu drei Wochen. In Erwartung des Futters sitzen die Flügglinge häufig exponiert in Bodennähe, beispielsweise auf Zäunen – und werden dabei nicht selten von Katzen erbeutet. Die Stummelschwänze der Jungvögel brauchen nach dem Ausfliegen zwei bis drei Wochen, bis sie die den Altvögeln entsprechende Länge erreicht haben. Verlustursachen und Lebenserwartung Die Ei- und Nestlingsverluste sind vergleichsweise gering, da die Nester meist gut geschützt und für Nestfeinde schwer erreichbar sind. Unter normalen Umständen schlüpfen aus 85 bis 90 Prozent der Eier Junge, und 90 bis 95 Prozent der geschlüpften Jungvögel fliegen aus. Totalverluste besonders exponierter Nester wirken sich spürbar auf die Verlustrate aus, im Siedlungsbereich ist mehr als ein Drittel dieser Fälle auf menschliche Störungen zurückzuführen. In Berglagen können Kälteeinbrüche die Nestlingssterblichkeit drastisch erhöhen. Zu weiteren Verlusten kommt es durch Ektoparasiten und durch den Kuckuck, der regelmäßig – vor allem im Alpenraum – seine Eier in Nester des Hausrotschwanzes legt. Die bedeutendsten Prädatoren für die Altvögel sind der Sperber und mit einigem Abstand die Schleiereule. Auffällig ist, dass Hausrotschwänze im Gegensatz zu anderen Vögeln wie Amseln, Haussperlingen oder Buchfinken im Siedlungsgebiet selten dem Straßenverkehr zum Opfer fallen. Möglicherweise hängt dies mit der Wendigkeit und Reaktionsfähigkeit auf bewegte Objekte zusammen, die für den Hausrotschwanz als Wartenjäger wichtig sind. Für die Altersstruktur von Hausrotschwanz-Populationen ergeben Beobachtungsdaten und Hochrechnungen übereinstimmend, dass ungefähr die Hälfte der geschlechtsaktiven Vögel einjährig ist. Weitere 40 Prozent sind zwischen einem und drei Jahre alt, nur etwa 3 Prozent sind fünf Jahre und älter. Das bisher bekannte Höchstalter eines freilebenden Hausrotschwanzes beträgt zehn Jahre. Bestand und Bestandsentwicklung Der weltweite Bestand der Art wurde für 2012 grob auf 32 bis 58 Millionen geschlechtsreife Individuen geschätzt. Kurzfristige, vor allem witterungsbedingte Schwankungen, sind unbedeutend. In Europa haben die Bestände, trotz zeitweiliger lokaler Bestandsrückgänge – vor allem in Frankreich und England, gegen Ende des 20. Jahrhunderts deutlich zugenommen, in den letzten 10 Jahren (Stand 2019) sind sie stabil. Insofern wird die Art nicht als gefährdet eingestuft. Im Tiefland und im Siedlungsgebiet Mitteleuropas war der Hausrotschwanz Mitte des 19. Jahrhunderts noch weit seltener als der Gartenrotschwanz, das auch heute noch gültige umgekehrte Verhältnis wurde erstmals Anfang des 20. Jahrhunderts dokumentiert. Auffällig waren die Bestandszunahmen am Ende des Zweiten Weltkriegs in vielen der zerstörten Städte. Die vorübergehenden Bestandseinbußen nach Beseitigung der Trümmerlandschaft konnte der Hausrotschwanz in der Folgezeit wegen der Ausdehnung der überbauten Flächen und der Siedlungsbereiche weitgehend kompensieren. Systematik Verwandtschaftsbeziehungen der Rotschwänze Die Rotschwänze wurden mit der Unterfamilie der Schmätzer traditionell der Familie der Drosseln (Turdidae) zugerechnet. Sowohl die Befunde der DNA-Hybridisierung als auch jüngere Ergebnisse der Sequenzierung des mitochondrialen Cytochrome-b-Gens legen allerdings nahe, dass die Schmätzer und damit auch die Rotschwänze näher mit den Fliegenschnäppern (Muscicapidae) als mit den Drosseln verwandt sind. Innerhalb der Rotschwänze dürfte der tibetische Feldrotschwanz der nächste Verwandte des Hausrotschwanzes sein. Diese Art stimmt mit dem Hausrotschwanz nicht nur im Färbungsmuster weitgehend überein – zumindest mit dessen „ursprünglicheren“ östlichen Rassen. Der Feldrotschwanz hat zudem, als einzige weitere Rotschwanzart, wie der Hausrotschwanz eine verzögerte Gefiederreifung. Laut im Jahr 2006 durchgeführten molekulargenetischen Untersuchungen gehört der Gartenrotschwanz nicht zu den am nächsten mit dem Hausrotschwanz verwandten Rotschwanzarten, obwohl es in der Kontaktzone nicht selten zu fertilen Hybriden kommt. Es wird vermutet, dass Haus- und Gartenrotschwanz erst durch die neuzeitliche Arealausweitung des Hausrotschwanzes wieder in Kontakt kamen und es so trotz fehlender reproduktiver Isolation hier zur Artaufspaltung kommen konnte. Unterarten Die insgesamt fünf bis sieben anerkannten Unterarten unterscheiden sich hauptsächlich in der Gefiederfärbung der adulten Männchen. Entsprechend morphologischen und molekulargenetischen Befunden werden diese Unterarten in drei Unterartgruppen eingeteilt: gibraltariensis-Gruppe Die westlichen Rassen weisen eine graue bis hellgraue Bauchfärbung und einen deutlichen Flügelspiegel auf. Die Aufspaltung dieser Gruppe in die zwei Unterarten erfolgte vermutlich während der letzten Eiszeit. Phoenicurus ochruros gibraltariensis (J. F. Gmelin, 1789): Diese Unterart besiedelt Europa und Nordwest-Afrika. Das Aussehen entspricht obiger Beschreibung. Phoenicurus ochruros aterrimus (von Jordans, 1923): Die Populationen in Portugal sowie in Zentral- und Südspanien zeigen vor allem an Nacken und Rücken eine intensivere Schwarzfärbung. Die Abgrenzung von P. o. gibraltariensis als eigene Unterart ist allerdings umstritten. ochruros-Gruppe Das Aussehen der Populationen in Kleinasien und dem Nahen Osten wandelt sich fließend von Westen, wo die Männchen oberseitig mehr rußschwarz sind und den gibraltariensis-Formen ähneln, nach Osten, wo die Vögel oberseitig eher aschgrau und unterseitig zunehmend rotbraun sind und bereits Ähnlichkeiten mit den ostasiatischen Formen zeigen. Phoenicurus ochruros ochruros (S. G. Gmelin, 1774): Die phänotypisch sehr variable Nominatform besiedelt Kleinasien, den Kaukasus und den Nordwesten des Iran, die Vertreter dieser Rasse sind kleiner als P. o. gibraltariensis. Phoenicurus ochruros semirufus (Hemprich & Ehrenberg, 1833): Die Männchen dieser Unterart sind unterhalb von Kinn und Brust schwarz und sonst einschließlich der Achselfedern kräftig kastanienbraun sowie oberseits sehr dunkel gefärbt. Diese Rasse besiedelt das Hochland von Syrien, dem Libanon und Israel. phoenicuroides-Gruppe Die Rassen des östlichen Verbreitungsgebiets, die als die ursprünglichen Formen der Art angesehen werden, erinnern mit ihren rotbraun gefärbten Bäuchen und Achselfedern recht stark an Gartenrotschwänze. Phoenicurus ochruros phoenicuroides (F. Moore, 1854): Diese Populationen besiedeln Zentralasien und den Westen des Himalaya. Die Vertreter sind kleiner und weisen unterschiedliche Färbungen auf, haben aber stets graue Farbtöne auf dem Oberkopf. Phoenicurus ochruros rufiventris (Vieillot, 1818): China, Tibet sowie der zentrale und der östliche Himalaya werden von dieser Unterart besiedelt. Die Vertreter dieser Rasse sind deutlich größer als P. o. phoenicuroides, zudem sind Kopf und Rücken nicht aschgrau, sondern gleichmäßig tiefschwarz gefärbt. Phoenicurus ochruros xerophilus (Stegmann, 1928): Die Populationen von Xinjiang und Qinghai unterscheiden sich durch eine blassrötliche Bauchfärbung. Die Abtrennung als eigene Unterart von P. o. rufiventris ist umstritten. Hausrotschwanz und Mensch Etymologie und Benennung Wie im Deutschen (Rotschwänze) bezieht sich die Gattungsbezeichnung in vielen Sprachen auf den rötlichen Schwanz der Vögel. Gleiches gilt für die wissenschaftliche Bezeichnung Phoenicurus, die griechischen Ursprungs ist ( und oura ‚Schwanz‘). Das Artepitheton verbindet die Endung -uros mit dem griechischen Adjektiv ōchros, das ‚blass‘ bedeutet und ihn vom Gartenrotschwanz (Phoenicurus phoenicurus) abhebt, der einen leuchtenderen Schwanz besitzt. Im Deutschen wird der Hausrotschwanz auch Hausrötel genannt, daneben haben sich in den etwas mehr als 200 Jahren, die die Art nun in der Nähe des Menschen brütet, einige Namen eingebürgert, die oft nur lokale Bedeutung haben. Dabei wird vielfach nicht zwischen Haus- und Gartenrotschwanz unterschieden. Umgangssprachlich werden beide Arten einfach als Rotschwänzchen bezeichnet, oder vor allem in der Schweiz auch als Rotzigeli, was das Gleiche bedeutet. Insbesondere in Tirol und Bayern gibt es in einigen Abwandlungen die Bezeichnung Brantele, was auf den großen Schwarzanteil des Gefieders zurückzuführen ist, der mit Ruß oder Kohle in Verbindung gebracht wird. Eine weitere ähnlich motivierte Bezeichnung ist Zagelmönch, was so viel bedeutet wie ‚Mönch mit Schwanz‘. Die etwas derben Bezeichnungen Wackelarsch oder Schwappelarsch sind auf das Schwanzzittern zurückzuführen. Volksglaube Die Nähe zum Menschen hat der Art auch eine gewisse Bedeutung im Volksglauben eingebracht. Im Schweizer Kanton Bern gilt der Hausrotschwanz als Glücksbringer, andernorts soll er ein Haus vor Feuer schützen – in manchen Gegenden gilt aber auch das genaue Gegenteil. In ländlichen Gebieten hat man dem Hausrotschwanz zudem unterstellt, seine Anwesenheit stünde im Zusammenhang damit, dass Kühe rote Milch gäben. Den wahren Grund kannte man damals nicht – nämlich dass die Milch infolge entzündeter und blutender Milchdrüsen (Mastitis) rötlich wurde. Literatur Armin Landmann: Der Hausrotschwanz. AULA-Verlag, Wiesbaden 1996, ISBN 3-89104-551-4 U. N. Glutz von Blotzheim, K. M. Bauer: Handbuch der Vögel Mitteleuropas (HBV). Band 11/I: Schmätzer und Verwandte: Erithacinae. AULA-Verlag, ISBN 3-923527-00-4. Jochen Hölzinger: Die Vögel Baden-Württembergs. Band 3/1, Singvögel/Sperlingsvögel, Eugen Ulmer Verlag; Stuttgart 1999, ISBN 3-8001-3493-4. Josep del Hoyo, Andrew Elliott, David A. Christie: Handbook of the Birds of the World. Band 10: Cuckoo-shrikes to Thrushes. Lynx Edicions, Barcelona 2005, ISBN 978-84-87334-72-6. Heinz Menzel: Der Hausrotschwanz. Neue Brehm Bücherei, Magdeburg 1995, ISBN 3-89432-221-7. Weblinks Hausrotschwanz bei der Schweizerischen Vogelwarte Sempach Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch) Federn des Hausrotschwanzes Einzelnachweise Fliegenschnäpper Wikipedia:Artikel mit Video Sommervogel
248708
https://de.wikipedia.org/wiki/Virush%C3%BClle
Virushülle
Die Virushülle () ist eine bei bestimmten Viren vorhandene äußere Struktur, die aus Lipiden einer Phospholipid-Doppelschicht der ursprünglichen Wirtszelle und darin eingelagerten viralen Proteinen besteht. Die Virushülle umschließt meistens ein Kapsid, in das wiederum die virale Nukleinsäure verpackt ist. Je nach Virusart entsteht die Hülle aus der Zellmembran an der Zelloberfläche oder aus Membranen des Endoplasmatischen Retikulums (ER) bzw. Golgi-Apparates im Inneren der Zelle. Das Vorhandensein einer Virushülle ist ein wichtiges Kriterium bei der Einteilung von Viren, der sogenannten Virus-Taxonomie. Dabei werden die behüllten Viren von den unbehüllten oder „nackten“ Viren abgegrenzt. Während unbehüllte Viren die infizierte Zelle stets durch Zerstörung der Wirtszelle verlassen müssen, können behüllte Viren ohne eine solche Lyse durch Knospung () freigesetzt werden. Die Virushülle hat eine große Bedeutung bei der Aufnahme von Viren in die Zelle, der Stabilität gegenüber Umwelteinflüssen und Desinfektionsmitteln sowie der erleichterten Fähigkeit zur Veränderung der Virusoberfläche. Diese Variabilität durch eine Virushülle ist ein evolutionärer Vorteil gegenüber unbehüllten Viren. Sie ermöglicht behüllten Viren, die Immunabwehr eines Wirtes leichter zu unterlaufen oder sich besser an einen neuen Wirt anzupassen. Deutlich werden diese Eigenschaften der Virushülle beispielsweise daran, dass sämtliche beim Menschen neu auftretenden Viren (Emerging Viruses), die eine reale oder potentielle Gefährdung durch eine Pandemie darstellen, behüllte Viren sind, so z. B. das HI-Virus, SARS-Coronavirus 1 und 2, Influenzavirus, Ebolavirus und West-Nil-Virus. Entdeckung Die Anfänge der Virologie und die Definition der Viren als neue Art infektiöser Erreger sind mit zwei unbehüllten Viren verknüpft: Dem Tabakmosaikvirus (Dmitri Iwanowski 1892 und Martinus Beijerinck 1898) und dem Maul-und-Klauenseuche-Virus (Friedrich Loeffler und Paul Frosch 1897). Das von Walter Reed 1901 entdeckte Gelbfieber-Virus war das erste beim Menschen identifizierte Virus und zugleich das erste beschriebene behüllte Virus. Diese Untersuchungen beschränkten sich jedoch auf Übertragungswege, die Morphologie der Viren blieb bis auf die Eigenschaft der besonderen Kleinheit (Unsichtbarkeit im Lichtmikroskop) zunächst unbekannt. Diese Barriere der ungenügenden mikroskopischen Auflösung konnte erst in den 1930er-Jahren mit der Entwicklung des Elektronenmikroskops durch Helmut und Ernst Ruska überwunden werden. Schon die ersten Aufnahmen mit dieser neuen Technik zeigten Umrisse von Viren mit länglicher oder runder Gestalt. Eine Differenzierung der Feinstruktur der Viren und Darstellung der Virushülle war mit den frühen Kontrastfärbungen jedoch noch nicht möglich. Immerhin schlug Helmut Ruska 1943 nach Untersuchung damals vorhandener Virusisolate eine erste Einteilung der Viren nach Größe und Form vor. Bis dahin wurden die Viren nach dem befallenen Wirt und der jeweiligen Erkrankung eingeteilt. In den 1950er-Jahren konnten auch Viren in den von Renato Dulbecco und Harry Eagle entwickelten Zellkulturen gezielt angezüchtet und in großen Mengen vermehrt werden. Durch die Reinheit und Konzentration dieser Viruspräparation wurde die genauere Bestimmung der chemischen Zusammensetzung und damit des Lipidanteils von Viren möglich. Bis zur Etablierung dieser Technik musste man sich auf die Virusisolierung aus infizierten Wirten oder auf die 1932 entwickelte und 1946 für die Virusvermehrung verbesserte Anzucht in bebrüteten Hühnereiern beschränken. Einige Viren verloren ihre Fähigkeit, die Hühnerembryonen zu infizieren, wenn man die Viruslösung vorher mit verschiedenen Stoffen behandelte, darunter auch fettlösende Verbindungen wie Ether (Diethylether) oder Detergenzien wie Natriumdesoxycholat. Diese sogenannte „Ether-Empfindlichkeit“ von Viren wurde nur bei einigen Viren wie den Influenzaviren oder den Herpesviren beobachtet, andere wie das Poliovirus oder das Maul-und-Klauenseuche-Virus waren auch nach einer Behandlung mit Ether noch infektiös. Die Ether-Empfindlichkeit wurde so zu einem weiteren wichtigen Kriterium bei der Einteilung von Viren und konnte in den 1950er-Jahren auch schon mit dem Nachweis von Lipiden bei gereinigten Viren in Verbindung gebracht werden. Ether-empfindliche Viren wiesen einen Lipidanteil von 20–30 % auf. Dass der Lipidanteil der Viren im Zusammenhang mit einer Membranstruktur stehen könnte, wurde damals bereits vermutet. Die Existenz von lipidhaltigen Biomembranen bei Zellen konnte schon durch die Untersuchungen von Gorter und Grendel 1925 bewiesen werden, und es lag nahe, eine ähnliche Struktur bei lipidhaltigen Viren anzunehmen. Entscheidend war der Beweis, dass die Zusammensetzung der Lipidkomponenten der Viren derjenigen der jeweiligen Wirtszellen ähnelte, in denen die Viren angezüchtet wurden. Der erste Hinweis auf eine Virushülle in elektronenmikroskopischen Bildern kann im Nachhinein in einer Untersuchung von Coriell 1950 nachverfolgt werden. Er isolierte Herpes-simplex-Viren aus Herpesbläschen. Dabei beobachtete er eine eigenartige, runde Form der Viren mit einer zentralen Aussparung, die er als „Doughnut-ähnlich“ beschrieb. Heute wird dieses typische Erscheinungsbild der Herpesviren als „Spiegeleiform“ bezeichnet, dies meint ein ikosaedrisches Kapsid im Innern umgeben von einer sehr dicken Virushülle. Erst ab 1959, als ein besonderes Kontrastierungsverfahren mit Uransalzen für die Elektronenmikroskopie entwickelt wurde, stellte sich die Struktur der Viren viel differenzierter dar, so dass auch die Virushülle sichtbar gemacht werden konnte. Noch heute ist diese sogenannte Negativkontrastfärbung die wichtigste Methode zur elektronenmikroskopischen Darstellung von Viren. Mit der Erforschung der zellulären Membranen in den 1960er- und 1970er-Jahren ging auch eine Erweiterung des Verständnisses der Virushüllen einher. Dies wurde durch verfeinerte Techniken zur Strukturaufklärung der Hüllproteine wie der Röntgenbeugung, der Gefrierbruch-REM und der NMR-Spektroskopie ermöglicht, aber auch dank neuer Überlegungen über die Eigenschaften von Biomembranen wie dem Flüssig-Mosaik-Modell von Singer und Nicholson. In den letzten zwanzig Jahren lieferte besonders die Kryo-Elektronenmikroskopie entscheidende Einblicke in die Feinstruktur der Virushüllen. Mit dieser Technik ist es möglich, die Form und Anordnung einzelner Hüllproteine zu bestimmen und mit einer fourier-gestützten Bildverarbeitung die Virushülle mit einer Auflösung von 0,6–1 nm darzustellen. Aufbau der Virushülle Eine Virushülle besteht immer aus viralen Hüllproteinen, die in eine Phospholipid-Doppelschicht eingebettet sind. Die Einlagerung der Hüllproteine in die Membran geschieht bereits während ihrer Synthese an den Ribosomen des rauen Endoplasmatischen Retikulums (rER). Entweder kann die Virushülle sich bereits hier aus der Membran des rER bilden oder die mit Hüllproteinen besetzten Membranbereiche werden durch den normalen zellulären Membranfluss zur Zellmembran, Kernmembran oder dem Golgi-Apparat transportiert. Dadurch, dass sich die Hüllproteine beim Prozess der Umhüllung in kleineren Membranflächen konzentrieren und zusammenlagern, werden zelluläre Membranproteine verdrängt, die dann nicht in die Virushülle eingebaut werden. Aufgrund dieser Verdrängung zellulärer Membranproteine besteht die Lipid-Doppelschicht der Virushülle nicht aus unveränderten zellulären Membranen, sondern nur aus deren Lipidanteil. Der Anteil an eingelagerten Hüllproteinen ist meist so hoch, dass der Lipidanteil an der Oberfläche an keiner Stelle unbedeckt vorliegt. Die Lipidmembran der Virushülle ist daher für Antikörper nicht mehr direkt zugänglich. Bei einigen Viren wie beispielsweise den Hepadnaviridae ist der Proteinanteil der Virushülle so hoch, dass die Virushülle fast ausschließlich aus dicht gepackten Hüllproteinen besteht. Diese sind sehr regelmäßig angeordnet und gegenüber Umwelteinflüssen und Detergenzien resistenter als andere behüllte Viren. Lipidanteil Die Lipidmembran der Virushülle besteht, wie auch alle zellulären Membranen, aus einer Doppelschicht von Phospholipiden. Diese besitzen einen hydrophilen Kopf, der die Oberflächen der Membran bildet, und zwei nach innen gerichtete, lipophile Kohlenwasserstoffketten. Die am Aufbau der Virushülle beteiligten Phospholipide sind Phosphatidylcholine (auch Lecithine genannt), Phosphatidylethanolamine, Phosphatidylserine, Phosphatidylinositol und Sphingomyeline. Letztere sind nur in der äußeren Schicht der Phospholipidmembran vorhanden. Zu den Phospholipiden tritt noch ein unterschiedlich hoher Anteil an Cholesterin hinzu. Die zellulären Membranen, und damit auch die Virushüllen, variieren in der Zusammensetzung der verschiedenen Phospholipide und dem Gehalt an Cholesterin. Ein hoher Cholesteringehalt ist für die Zellmembran typisch, während die Membranen des Endoplasmatischen Retikulums und des Golgi-Apparates nur wenig Cholesterin enthalten. Der Cholesteringehalt einer Membran, ausgedrückt als C/P-Quotient (Molarer Cholesterin/Phospholipid-Quotient), beeinflusst entscheidend die Morphologie einer Membran, so sind cholesterinreiche Membranen (also mit einem typischen C/P-Quotienten von 0,4 bis 0,8) stabiler, weniger flexibel und mit 5–6 nm um etwa ein Drittel dicker als cholesterinarme. Da die Lipidzusammensetzung einer Virushülle in erster Näherung jener der ursprünglichen zellulären Membran entspricht, sind diese Unterschiede auch zwischen Virushüllen zu finden, die von der Zellmembran oder von intrazellulären Membransystemen abstammen. Bei genauer Betrachtung weicht die Lipidzusammensetzung der meisten Virushüllen in geringem Umfang von ihrer Ursprungsmembran ab. Wie diese selektive Aufnahme von Lipidkomponenten in die Virushülle geschieht, ist derzeit noch unklar. Man vermutet einen bevorzugten Einbau von verschiedenen Phospholipiden während der Aggregation von Hüllproteinen in der Membran, wobei die Hüllproteine mit den Lipiden unterschiedlich stark wechselwirken und die Bindung der Hüllproteine untereinander bestimmte Phospholipide bevorzugt. Die Entdeckung der sogenannten Lipid Rafts, also in einer zellulären Membran schwimmenden Mikroareale mit hohem Cholesteringehalt, hat einen inhomogenen Aufbau dieser Membranen aufgezeigt. Diese Lipid Rafts scheinen auch für den selektiven Einbau in die Virushülle bedeutsam zu sein. Bei einigen Viren ist die Präsenz dieser Mikroareale sogar für die Einlagerung der Hüllproteine und die Entstehung der Virushülle eine notwendige Voraussetzung, da sie die Dichte viraler Hüllproteine regional erhöhen und damit die Aggregation ermöglichen. Umgekehrt ist die Präsenz von Cholesterin in der Virushülle einiger Viren für das Eindringen in die Zelle notwendig. So verminderte die Anzüchtung des Caninen Staupevirus in Zellkulturen, denen ein Hemmstoff für die Cholesterinsynthese beigegeben wurde, seine Fähigkeit weitere Zellen zu infizieren um 80 %. Gleiches wurde auch bei Virushüllen des Varizella-Zoster-Virus beobachtet, die nicht an der cholesterinreichen Zellmembran entstehen. Tabelle: Vergleich der Lipidkomponenten von typischen zellulären Membranen (rER: raues ER, sER: glattes ER) und Virushüllen (Humanes Immundefizienzvirus HIV-1, sphärische Antigen-Partikel des Hepatitis-B-Virus sHBV). Zur besseren Vergleichbarkeit sind die Lipidkomponenten jeweils in molare Prozent des Lipidanteils für die Leberzelle der Ratte aus den Daten von M. K. Jain (1980) umgerechnet. Die sER-Membran enthält zusätzlich 2,0 % Diphosphatidylglycerin (Cardiolipin). Wie aus einem Vergleich der in obiger Tabelle aufgelisteten Lipidkomponenten hervorgeht, kann man durch die Bestimmung der Lipidzusammensetzung einer Virushülle auf die zelluläre Ursprungsmembran rückschließen. Im angeführten Beispiel besitzt das HIV-1 die typische Zusammensetzung der Zellmembran und die sphärischen, leeren HBV-Partikel − die in ihrer Lipidzusammensetzung den kompletten Virionen entsprechen − dem Lipidprofil des rauen ER. Die spezifische An- und Abreicherung der Komponenten im Vergleich zur Ursprungsmembran ist ebenfalls erkennbar. Da die Lipidzusammensetzung der Membranen verschiedener Zelltypen variieren kann, sind auch entsprechende Abweichungen der Virushülle bei einem Virus zu erwarten, wenn es sich im Organismus oder in der Zellkultur in verschiedenen Zelltypen vermehrt. Auch kann es innerhalb einer einzigen Zelle zu leicht unterschiedlichen Lipidanteilen kommen, wenn die Zellmembran eine gerichtete Polarität besitzt wie z. B. bei Zellen, die an einem Lumen angeordnet sind. So können sich an apikalen oder basalen Bereichen der Zellmembran unterschiedliche Virushüllen bilden. Die Bedeutung der Lipidkomponenten für die wichtigen Funktionen der Virushülle wie Virusaufnahme, Infektiosität, Membranfusion und Zusammenbau der Viruspartikel wurde lange Zeit nicht erkannt, da das Hauptaugenmerk auf der Erforschung der Hüllproteine lag. Viele Untersuchungen an unterschiedlichen Viren zeigen jedoch in jüngster Zeit, wie sehr die Lipide durch Protein-Lipid-Interaktionen die Funktion der Hüllproteine erst ermöglichen; insbesondere die Anreicherung von Cholesterin in den Lipid Rafts scheint die Funktion der Virushülle entscheidend zu beeinflussen. Die Lipidmembran hat hierbei einen erheblichen Einfluss auf die Anordnung der Hüllproteine und ihre korrekte Faltung als Tertiärstruktur. Virale Hüllproteine In ähnlicher Weise wie zelluläre Transmembranproteine sind die viralen Hüllproteine (; im Unterschied zu Kapsidproteinen, en. , CP) in die Lipidmembran eingelagert. Eine oder mehrere transmembranäre, lipophile Proteindomänen durchqueren die Lipidmembran und trennen damit eine kleinere innere Domäne von einer größeren äußeren. Bei den meisten Hüllproteinen liegt der Carboxyl-Terminus innen, so dass die Hüllproteine zu den Klasse-1-Membranproteinen gehören. Die nach innen gerichtete Domäne (auch „intrazellulärer Anker“ oder Ankerdomäne genannt) ist hydrophil und kann die Bindung an nachfolgende innere Strukturen vermitteln. Im klassischen Fall ist dies ein Kapsid. Bei Viren mit mehreren Kapsiden oder komplex aufgebauten Viren bindet die innere Domäne an weitere Proteine, die die Unterseite der Virushülle zusätzlich auskleiden. Diese liegen zwischen Kapsid und Hülle im Matrixraum und werden daher als Matrixproteine bezeichnet. Im einfachsten Falle besteht die innere Domäne des Hüllproteins aus einem gefalteten Ende des Proteins. Durchquert das Hüllprotein mehrmals die Lipidmembran („multipass“), ist die innere Domäne eine sich daraus ergebende Schleife. Die Wechselwirkung zwischen den inneren Domänen, entweder direkt ohne weitere Bindungspartner oder indirekt über Matrixproteine oder Kapsid, ist die bestimmende Kraft zur Krümmung der Membran während der Umhüllung. Die Transmembran-Domäne besteht aus einer lipophilen α-Helix, deren Länge der Dicke der Lipidmembran angepasst ist. Jene Viren, die an der dickeren, cholesterinreichen Zellmembran umhüllt werden, benötigen für die Helix z. B. 26 Aminosäuren (Influenzavirus). Werden die Viren an der Membran des rER umhüllt, genügen 18–20 Aminosäuren (Gelbfieber-Virus) für eine transmembranäre Helix. Die Strukturaufklärung eines Hüllproteins mag daher einen Hinweis darauf geben, an welcher Membran die Virionen gebildet werden. Das virale Hüllprotein kann auch mehrere Transmembran-Domänen besitzen, deren Helices eng aneinander liegende Bündel in der Membran bilden. Die Hüllproteine der Familie Flaviviridae besitzen zwei transmembranäre Helices, deren enge Bindung aneinander durch eine hydrophile Flanke vermittelt wird; diese Domänen besitzen somit eine amphiphile Struktur. Da die Helices die Lipide der Membran verdrängen, kann man die allgemeine Regel aufstellen, dass der Lipidanteil einer Virushülle umso geringer wird, je mehr transmembranäre Domänen die Hüllproteine besitzen. Der äußere Teil eines Hüllproteins ist meist an vielen Stellen glykosyliert, also mit kurzen Zuckerresten (Oligosaccharide) kovalent verknüpft, weshalb virale Hüllproteine zu den Glykoproteinen gezählt werden. Dieser äußere Teil des Hüllproteins ist wesentlich für die Bindung an Rezeptoren und die Membranfusion bei der Virusaufnahme. Die äußeren Domänen werden auch durch Antikörper der Immunabwehr erkannt, so dass sich in exponiert gelegenen Epitopen oft sehr variable Abschnitte befinden, die man meist als hypervariable Regionen (HVR) bezeichnet. Die HVR der Hüllproteine führen zu einer hohen immunologischen Flexibilität des Virus, da sie durch häufige Mutationen die Bindung von Antikörpern einschränken und sich an unterschiedliche Zellrezeptoren neuer Wirte schnell anpassen können. Die Aufgaben der äußeren Domäne – Rezeptorbindung und Membranfusion – können in einem Hüllprotein vereinigt oder auf mehrere, kooperierende Hüllproteine verteilt sein. Mit nur wenigen Ausnahmen lagern sich die Hüllproteine zu Komplexen aus mehreren gleichen oder verschiedenen Hüllproteinen zusammen. Diese Oligomere können bei entsprechender Größe in der elektronenmikroskopischen Darstellung als sogenannte „Spikes“ oder Peplomere sichtbar werden. Sehr charakteristische Spikes lassen sich beispielsweise bei den Virusfamilien Orthomyxoviridae und Coronaviridae darstellen; letztere erhielten durch diese Charakteristik der Virushülle auch ihren Namen. Die Anzahl verschiedener Hüllproteine und die Zusammensetzung der Hüllprotein-Oligomere ist für viele Virusgattungen charakteristisch. Nur ein Hüllprotein liegt bei den Rhabdoviren vor, das einfache Trimere bildet ([G]3). Bei Retroviren, z. B. dem Rous-Sarkom-Virus, lagern sich zwei Glykoproteine (SU und TM) zu einem Heterodimer zusammen, das sich wiederum mit zwei weiteren Heterodimeren zu einem Hexamer anordnet ([SU-TM]3). Alphaviren verfügen über zwei (E1, E2) oder drei Hüllproteine (E1-3), die sich nach Zusammenlagerung zu größeren Dreierkomplexen anordnen ([E1-E2-E3]3). Bei Viren, die an der Zellmembran knospen, werden die Hüllproteine zunächst in die Zellmembran eingelagert und diese damit mit Proteinen angereichert, welche die Fähigkeit zur Membranfusion besitzen. Diese Veränderung der Zellmembran kann dazu führen, dass Zellmembranen benachbarter Zellen durch die viralen Hüllproteine miteinander fusionieren können und damit Riesenzellen, sogenannte Synzytien bilden. Dies kann für das Virus von Vorteil sein, da sich mit der Verschmelzung von Zellen die Infektion ausbreiten kann und ein größerer Syntheseapparat für die Viren zur Verfügung steht; dies ist z. B. beim Respiratory-Syncytial-Virus der Fall. Die Fusion von Zellen in der Haut durch Hüllproteine des Masernvirus verursacht eine lokale Entzündung, die dann als typische rötliche Flecken einer Maserninfektion sichtbar werden. Viele Viren haben jedoch Strategien entwickelt, um die Bildung von Synzytien zu verhindern, da diese auch das Knospen neuer Viren behindern kann. Die Fusionseigenschaft der Hüllproteine wird in diesem Fall erst durch einen zusätzlichen Reifungsschritt aktiviert, in dem die Fusionssequenz entweder erst nach einem Verdau durch eine Protease oder Glykosidase freigelegt wird oder ein saures Milieu (pH < 6,0) eine Konformationsänderung des Hüllproteins herbeiführt, durch die die Fusionssequenz erst nach außen gestülpt wird. Das bekannteste Beispiel ist das Hüllprotein Hämagglutinin der Orthomyxoviren, das erst durch eine Neuraminidase aktiviert werden muss und eine pH-abhängige Fusionsaktivität besitzt. Hüllproteine erfüllen in der Zellmembran auch gelegentlich andere Funktionen während der Virusvermehrung als nur die Umhüllung des Virions. Hierzu können sie sich alternativ zu neuen Strukturen anordnen und wie beispielsweise beim SARS-Coronavirus Poren bilden, die zur Lyse der Zelle führen. Symmetrische Virushüllen Der innere Anteil der Hüllproteine kann mit einem umhüllten Kapsid dergestalt interagieren, dass stets nur ein Hüllprotein (oder ein zusammengelagertes Dimer bzw. Trimer der Hüllproteine) an nur ein Kapsomer bindet. Durch diese feste Anordnung wird die Form und Symmetrie des inneren ikosaedrischen Kapsids auf die äußere Virushülle übertragen und es ergeben sich trotz der Beweglichkeit der Lipidmembran streng ikosaedrisch aufgebaute Virushüllen. Diese Form der sogenannten „Morphogenese von innen nach außen“ findet sich bei der Gattung Alphavirus der Familie Togaviridae (z. B. dem Semliki-Forest-Virus und Sindbis-Virus) und der Gattung Flavivirus der Familie Flaviviridae. Bei den größeren Viren der Familie Bunyaviridae (80–120 nm) ist ebenfalls eine regelmäßige Anordnung der Hüllproteine in Form eines Ikosaeders nachweisbar (Triangulationszahl T=12), jedoch kein symmetrisches, ikosaedrisches Kapsid, das diese Symmetrie von innen stützen könnte. Hier gibt die enge Wechselwirkung der Hüllproteine untereinander die Form der Virushülle vor, was man auch als eine „Morphogenese von außen nach innen“ bezeichnen kann. Bei den Bunyaviren werden drei helikale Kapside in der Virushülle verpackt, was ähnlich den Influenzaviren einen Austausch der RNA-Segmente (Reassortment) und eine hohe genetische Flexibilität ermöglicht. Diese Flexibilität der Influenzaviren aufgrund mehrerer, unregelmäßiger Kapside bzw. RNA-Stränge wird durch eine ungeordnete und damit sehr instabile Virushülle erkauft, die bereits durch Austrocknung und milde Detergenzien inaktiviert werden kann. Der Familie Bunyaviridae hingegen verleiht die symmetrische und somit festere Anordnung der Hüllproteine eine vergleichsweise hohe Stabilität, so dass diese − wie z. B. bei der Gattung Hantavirus − in ausgetrocknetem Zustand monatelang infektiös bleiben und selbst eine Ausscheidung über den Urin überstehen, obwohl Harnstoff als Detergens wirkt und andere behüllte Viren inaktiviert. Sonderformen Bei wenigen Virusfamilien ist eine Phospholipidmembran nicht als äußere, umhüllende Struktur vorhanden, sondern befindet sich im Inneren der Virionen. Besonders außergewöhnlich sind hier zwei Familien von Bakteriophagen, die Corticoviridae und Tectiviridae, bei denen sich die Lipidmembran im Inneren eines ikosaedrischen Kapsids befindet. Diese Struktur wird nicht als Virushülle bezeichnet, da sie weder außen liegt noch typische Aufgaben einer Virushülle wie die Anheftung an die Zelloberfläche erfüllt. Das bei den Tectiviridae vorhandene Membranbläschen dient nach Anheftung des Kapsids an die Bakterienoberfläche dem aktiven Eindringen der doppelsträngigen Bakteriophagen-DNA in die Wirtszelle. Bei Vertretern der Familie Poxviridae besteht die Virushülle aus einer Doppelmembran mit einer äußeren und zusätzlich inneren Phospholipid-Doppelschicht. Innerhalb des Zytosols liegen die Pockenviren mit einer einfachen Umhüllung vor. Diese erste Umhüllung entsteht nicht durch Knospung aus einer zellulären Membran, sondern durch den Zusammenbau einer vollständig neuen Lipidmembran an der Außenseite des noch unreifen, später doppelkonkaven Kapsids. Zum Neuaufbau der Membran werden abgebaute Membranbestandteile aus dem Übergangsbereich zwischen Golgi- und ER-Membran (Intermediäres Kompartiment) verwendet. Das einfach umhüllte Viruspartikel erhält dann durch Knospung an der Golgi-Membran eine zweite, äußere Virushülle. Entstehung während der Virusvermehrung Die Synthese der Hüllproteine und die Entstehung der Virushülle markiert die letzte Phase im Vermehrungszyklus eines behüllten Virus; zuvor muss das virale Genom repliziert und eventuell in ein Kapsid verpackt werden. Der Vorgang der Umhüllung eines Virus, auch Knospung („budding“) genannt, entspricht einer spezifischen Verpackung in einem abgeschnürten Membranbläschen. Innerhalb von Zellen ist die ständige Bildung und Fusion von Membranbläschen ein physiologischer Vorgang zum Stofftransport, der sogenannten Exozytose bzw. Endozytose. Ein behülltes Virus nutzt diese schon vorhandenen Eigenschaften und Mechanismen des Membranflusses, in dem es diesen modifiziert und durch die viralen Strukturproteine steuert. Die Energie, die zur Krümmung der Lipidmembran und zur Bläschenbildung erforderlich ist, entstammt ausschließlich der Wechselwirkung der Hüllproteine untereinander, der Hüllproteine mit inneren Strukturen wie Matrixproteinen und Kapsiden oder der Kapside mit der Lipidmembran; eine Zufuhr von Energie beispielsweise in Form von ATP ist hierzu nicht notwendig. Die energetisch günstigere Zusammenlagerung der Hüllproteine überwindet beispielsweise bei Togaviren die für die Lipidmembran energetisch ungünstigere Krümmung mittels Wasserstoffbrückenbindungen, ionischen Bindungen und besonders durch hydrophobe Wechselwirkungen. Die Entstehung der Virushülle – gleichgültig an welchem Membransystem – wird daher lediglich von der Translation, dem Transport und der Konzentration der Virusproteine am jeweiligen Membrankompartiment gesteuert. Die Knospung als spontane Zusammenlagerung von Kapsid, Lipidmembran und Hüllproteinen, ist im Hinblick auf ihre thermodynamische Betrachtung von großem Interesse. Zu ihrer Beschreibung wurden vielfach Modelle herangezogen, um die Wechselwirkung der beteiligten Komponenten berechnen zu können. In Übereinstimmung mit der in vitro gemessenen Dauer, die der Knospungsvorgang in Anspruch nimmt, konnten auch im Modell 10 bis 20 Minuten berechnet werden. Als limitierende Prozesse wurden die Diffusion der Hüllproteine entlang der Lipidmembran und die Verdrängung von Wassermolekülen zwischen Hülle und Kapsid abgeleitet. Die Modellrechnungen lassen auch eine bevorzugte Knospung von Viren an jenen Stellen der zellulären Membranen erwarten, an denen bereits morphologisch eine Krümmung der Lipidmembran vorliegt. Dies stimmt mit den elektronenmikroskopischen Untersuchungen von infizierten Zellen überein, in denen knospende Viren überwiegend an den gekrümmten Seiten des Golgi-Apparates oder der Zellmembran gefunden wurden. Die Mechanismen der Umhüllung sind an der jeweiligen zellulären Membran im Prinzip ähnlich. Das erste Modell zur Knospung wurde am Beispiel des Semliki-Forest-Virus (SFV) entwickelt. Hier führt die Bindung des intrazellulären Ankers der Hüllproteine an ein bereits geschlossenes Kapsid zur Krümmung der Lipidmembran. Daraus wurde die These abgeleitet, dass zur Entstehung einer Virushülle das Vorhandensein von Hüllproteinen und die Bindung an Kapsidproteine zwingend notwendig sei. Dieses frühe Modell wurde erheblich eingeschränkt, als man bei Retroviren eine Umhüllung von Kapsiden auch ohne Anwesenheit der Hüllproteine (Env-Protein) beobachtete, wenn die Kapsidproteine (Gag-Proteine) alleine in transfizierten Zellkulturen zur Verfügung stehen. Neben dem Spezialfall für das Gag-Protein der Retroviren, gibt es drei weitere, wichtige Varianten der Knospung (vgl. Abbildung). Der einfachste Weg ist die leichte Krümmung der Lipidmembran durch die Wechselwirkung der Hüllproteine über ihre inneren Ankerdomänen. Ein geschlossenes Kapsid bindet an diese aggregierten Hüllproteine und treibt durch die Interaktion mit den Hüllproteinen die Knospung voran (siehe Abbildung, Fall A). Im zweiten Fall (B) erfolgt der Zusammenbau des Kapsids erst nach Bindung an die Hüllproteine. Die Interaktion von Kapsidproteinen und Hüllproteinen ermöglicht erst die Bindung der Nukleinsäure und komplettiert das Virus während der Knospung. Diese Variante kann auch durch ein zwischen Hülle und Kapsid vermittelndes Matrixprotein ergänzt werden. Bei Viren, die keine symmetrischen Kapside besitzen (beispielsweise das Bovine Virusdiarrhoe-Virus und das verwandte Hepatitis-C-Virus), genügt die Bindung der Nukleinsäure an basische Proteine (Nukleo- oder Coreproteine), die ähnlich den Matrixproteinen an der Innenseite der Membran mit den Hüllproteinen interagieren. Bei der dritten Variante (C) wird die Interaktion der intrazellulären Anker der Hüllproteine erst durch die Bindung an Matrixproteine ermöglicht. Nachdem diese Interaktion zu einer ersten Krümmung der Lipidmembran geführt hat, kann nun ein Kapsid (wie bei den Herpesviren) oder auch mehrere helikale Kapside (wie bei den Orthomyxoviridae) gebunden und umhüllt werden. Knospung an der Zellmembran Die Entstehung der Virushülle an der Zellmembran erfordert zunächst einen Transport der Hüllproteine an die Zelloberfläche. Die viralen Proteine entstehen an den Ribosomen des rauen ER, wobei die Hüllproteine noch während der Synthese mit ihrer transmembranären Domäne die Membran des ER durchstoßen und in sie eingelagert werden. Über das Membransystem des Golgi-Apparates werden die Hüllproteine glykosyliert. Die nun modifizierten (reifen) Hüllproteine werden in abgeschnürten, exozytotischen Vesikeln an die Zellmembran transportiert und fusionieren mit ihr. Jene Domänen der Hüllproteine, die zuvor in das Lumen des ER gerichtet waren, sind nun extrazellulär angeordnet. Die an die Zellmembran herangeführten restlichen Viruskomponenten (Kapside, Nukleinsäure und eventuelle Matrixproteine), können nun umhüllt werden. Der Entstehungsweg über die Zellmembran setzt die Einlagerung viraler Hüllproteine voraus, was zu der bereits erwähnten Bildung von Synzytien führen kann (siehe Abschnitt Hüllproteine). Diese nach außen präsentierten Virusproteine können jedoch zusätzlich von Immunzellen als fremd erkannt werden, so dass eine frühe Immunantwort gegen die Hüllproteine erfolgen kann. Alle Viren, deren Hüllen sich von der Zellmembran ableiten, werden durch Fusion der Hülle mit der Zellmembran auch wieder aufgenommen. Diese Art der Aufnahme (fusion from without) ermöglicht eine Infektion ohne einen Transport in einem Endosom. Wichtige Virusfamilien, die sich durch eine Knospung an der Zellmembran auszeichnen, sind beispielsweise die Retroviridae, Orthomyxoviridae, Togaviridae und alle Virusfamilien mit einer einzelsträngigen RNA negativer Polarität (ss(-)RNA) als Genom (Ordnung Mononegavirales), also den Bornaviridae, Rhabdoviridae, Filoviridae und Paramyxoviridae. Knospung an der Golgi- und ER-Membran Da die Hüllproteine zunächst immer in die Membranen der intrazellulären Membransysteme eingelagert sind, kann auch schon hier eine Knospung erfolgen. Bei diesem Entstehungsweg kann entweder die Lipidmembran des ER oder – nach Vesikeltransport – des Golgi-Apparates gewählt werden. Dies wird vorwiegend durch die eventuell notwendigen Modifikationen der Hüllproteine bestimmt, die fast nur durch die Enzyme des Golgi-Apparates vollzogen werden können. Sehr häufig erfolgt die Knospung am Übergangsbereich der beiden Membransysteme, dem sogenannten Intermediären Kompartiment. Das behüllte Viruspartikel befindet sich nach der Knospung stets im Lumen der Membransysteme, von wo sie im Inneren eines Transportvesikels (Exosom) nach außen befördert werden. Diese intrazelluläre Behüllung der Viren kann sich ohne Zerstörung der Zelle vollziehen, da keine Virusproteine die Zelloberfläche verändern und zur Ausschleusung der Viren die normale Exozytose genutzt wird. Bei der Infektion der nächsten Wirtszelle müssen alle diese Viren von einem Endosom aufgenommen werden, mit dessen Membran die Virushülle fusioniert (fusion from within). Wichtige Virusfamilien mit einer intrazellulären Knospung sind die Coronaviridae, Hepadnaviridae und Flaviviridae. Knospung an der Kernmembran Die Mitglieder der Virusfamilie Herpesviridae sind in ihrem Aufbau, ihrer Vermehrungsstrategie und auch in der Entstehung der Virushülle ein Sonderfall, da die sehr großen Kapside der Herpesviren im Zellkern zusammengebaut werden, in dem auch die doppelsträngige DNA der Viren synthetisiert wird. Bereits bei sehr frühen elektronenmikroskopischen Untersuchungen an Zellen, in denen sich das Herpes-simplex-Virus vermehrt, konnte man knospende Kapside an der Innenseite der Kernmembran und behüllte Viruspartikel in der den Kern umgebenden perinukleären Zisterne erkennen. Da die perinukleäre Zisterne über Membranschläuche mit dem rauen ER verbunden ist, nahm man an, dass die umhüllten Virionen dann über Membranbläschen des Golgi-Apparates aus der Zelle geschleust werden. Eine Untersuchung der Lipidzusammensetzung der Virushülle ergab jedoch, dass die Lipidkomponenten nicht denen der Kernmembran entsprechen, sondern das Lipidprofil der Golgimembran besitzen. Dieser Befund führte zu der Entdeckung, dass die Herpesviren zuerst durch Knospung an der Kernmembran eine Virushülle erlangen. Diese fusioniert jedoch wieder mit der äußeren Membran der perinukleären Zisterne und gibt so das nackte Kapsid in das Zytosol frei. Erst durch eine zweite Knospung in ein abgeschnürtes Membranbläschen des Golgi-Apparates, das mit viralen Hüll- und Matrixproteinen angereichert ist, erhält das Kapsid seine endgültige Hülle. Diese sogenannte sekundäre Behüllung entspricht dann erst der Virushülle der freigesetzten Viren. Leere Virushüllen und „Defekte Viren“ Bei einigen Viren sind die Hüllproteine in der Lage, ohne eine weitere Bindung an eine innere Struktur eine Knospung hervorzurufen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Wechselwirkung zwischen den inneren Ankerdomänen der Hüllproteine besonders hoch ist. Das Resultat sind leere oder unvollständig gefüllte Virushüllen. Die Existenz dieser leeren Hüllen wurde zuerst bei Untersuchungen des sogenannten „Australia Antigen“ entdeckt, das zur Entdeckung des Hepatitis-B-Virus (HBV) durch B. Blumberg führte. Das entdeckte Antigen besteht aus den drei Hüllproteinen des HBV (HBs-Antigen). Im Blut von HBV-Infizierten ist das HBs-Antigen überwiegend in leeren, sphärischen Partikeln mit einem Durchmesser von 22–24 nm und leeren schlauchartigen Strukturen („Tubuli“) von variabler Länge zu finden. Unter etwa 1.000 bis 10.000 HBs-Antigen-haltigen Partikeln ist nur ein infektiöses, komplettes Virus (42 nm) nachzuweisen. Dieser gewaltige Überschuss an leeren Virushüllen dient vorrangig dazu, Antikörper gegen das Hüllprotein zu neutralisieren und damit ihre Bindung an die kompletten Viren zu verhindern. Leere Virushüllen, die wie im Beispiel des HBV oft kleiner sind als die kompletten Viren, werden auch bei einer fehlerhaften oder unvollständigen Verpackung segmentierter Genome (z. B. Influenzavirus) gefunden, wenn sie in Zellkulturen angezüchtet werden. Diese Partikel werden auch als defective interfering particles (DIP) oder virus-like particles (VLP) bezeichnet. Beim Hepatitis-C-Virus wurde die Existenz unvollständiger Partikel im Blutserum von Patienten vermutet, da ein wechselndes stöchiometrisches Verhältnis von Coreprotein zu RNA nachweisbar ist. Ein besonderes Beispiel der Virushülle liefert das Hepatitis-D-Virus, da es selbst keine Gene für eine ausreichende Verpackung mit Hüllproteinen besitzt. Es ist auf die Anwesenheit des HBV in derselben Zelle angewiesen, da es nur mit den Hüllproteinen des HBV verpackt und freigesetzt werden kann. Es wird daher als defektes oder abhängiges Virus (Virusoid) bezeichnet. Die Kapside behüllter und unbehüllter Viren Bei Virushüllen mit hohem Lipidanteil sind die Hüllproteine flexibel angeordnet und können sich seitwärts in der Membran bewegen. Diese flüssige Eigenschaft der Virushülle bedeutet, dass auch dann eine geschlossene Umhüllung vorliegt, wenn ein Fehler in der Anordnung der Hüllproteine oder eine Lücke in der Oberflächensymmetrie auftritt. Eine solche Fehlanordnung würde bei unbehüllten Viren zu einem mangelhaften Schutz des Genoms oder zum Zerfall des Kapsids führen. Unter dem Schutz einer Virushülle besteht für die Struktur des Kapsids im Vergleich zu unbehüllten Viren eine größere Freiheit, da diese nicht mehr unmittelbar dem Schutz des Genoms vor Nukleasen dienen oder einen Angriffspunkt für das Immunsystem darstellen. Die Kapside behüllter Viren können daher auch Lücken aufweisen oder nur netzartig das Genom umkleiden. Dies hat bei Retroviren und den nahe verwandten Hepadnaviren (z. B. dem Hepatitis-B-Virus) eine große Bedeutung, da das noch unbehüllte, aber geschlossene Kapsid während der Vermehrung noch ATP und Nukleotide aufnehmen kann, um das schon verpackte Genom zu komplettieren. Bei den Kapsiden einiger behüllter Viren lassen die Lücken auch eine Freisetzung des Genoms z. B. an der Kernpore zu, ohne dass das Kapsid im Cytosol vorher zerfallen muss. Biologische Bedeutung Virushülle als Pathogenitätsfaktor Als äußere Struktur ist die Virushülle für alle Eigenschaften eines Virions verantwortlich, die den Infektionsweg, die Aufnahme in die Zelle und die Abwehr durch das Immunsystem betreffen. In dieser durch die Virushülle vermittelten Auseinandersetzung mit dem Wirtsorganismus haben sich im Laufe der viralen Evolution Mechanismen herausgebildet, die für die Vermehrung des Virus von Vorteil sind und als Virulenz- oder Pathogenitätsfaktoren bezeichnet werden. Eines dieser Phänomene ist das sogenannte Molekulare Mimikry, also die Nachahmung von Proteinen des Wirtsorganismus durch Hüllproteine, die dadurch vom Immunsystem nicht mehr als fremd erkannt werden oder sogar Funktionen dieser Proteine nachahmen können. Ein Beispiel für diese immunologische Tarnung ist die Ähnlichkeit von Teilen des Hüllproteins einiger Virusarten der Familie Coronaviridae mit dem Fc-Fragment des IgG-Antikörpers. Auch das Hüllprotein E2 des Hepatitis-C-Virus ist strukturell einem Teil des IgG-Antikörpers (ab-Fragment) ähnlich. Neben einer solchen Tarnung durch strukturelle Nachahmung kann auch die spezifische Bindung von Wirtsproteinen an die Virushülle genutzt werden. Dies liegt im Falle der spezifischen Bindung von Albumin an die Hülle des Hepatitis-B-Virus vor. Neben der reinen Nachahmung wirtseigener Proteine zur Tarnung können die Hüllproteine auch Bindungseigenschaften der Wirtsproteine imitieren. Bei den Retroviren der Gattung Lentivirus ist die Ähnlichkeit der äußeren Domäne des Hüllproteins gp41 mit Interleukin-2 beschrieben worden; hier wird die Bindung an Interleukin-Rezeptoren von Immunzellen imitiert, die als Zielzellen dieser Viren gelten. Die Fähigkeit von Retroviren in der Zellkultur, ohne ein eigenes Hüllprotein eine Knospung zu induzieren, wird bei der gentechnischen Erzeugung von künstlichen Viruspartikeln genutzt, um Partikel mit veränderten Oberflächeneigenschaften herzustellen. So können in die Hülle dieser sogenannten Pseudotypen fremde Hüllproteine eingelagert werden, um beispielsweise die Bindung dieser an Rezeptoren untersuchen zu können oder sie in der Forschung als virale Vektoren einzusetzen. Die Bildung von Pseudotypen scheint an die Existenz der schon erwähnten Lipid Rafts gebunden zu sein. Auch bei natürlichen Infektionen ist die Entstehung von Pseudotypen beschrieben. So können zwei Virusarten bei gleichzeitiger Infektion einer Zelle die unterschiedlichen Hüllproteine gemischt in eine neu entstehende Hülle einlagern oder ein Virus kann gänzlich mit der Hülle des anderen Virus verpackt werden. Dieses Phänomen der Pseudotypen-Entstehung wird auch als Phänotypische Mischung („Phenotypic mixing“) bezeichnet. Virushülle und Virusinaktivierung Der Verlust der Virushülle oder die Entfernung der Lipidkomponenten aus der Hülle verhindern, dass das behüllte Virus die Wirtszelle infizieren kann. Dieser Umstand wird zur Inaktivierung von behüllten Viren genutzt, um eine Verbreitung des Virus zu unterbinden. Die empfindlichste Komponente der Virushülle, die Lipidmembran, kann durch fettlösende Alkohole wie Ethanol oder 2-Propanol zerstört werden. Bei einem hohen Lipidanteil der Virushülle wie bei den Orthomyxoviren genügen schon milde Detergenzien oder Seifen, um die Infektiosität des Virus herabzusetzen. Bei der Inaktivierung von möglichen behüllten Viren wie HIV, HBV und HCV in Blutprodukten zur Transfusion kann eine Kombination von milden Lösungsmitteln und Detergenzien verwendet werden. Entstehung von Pandemien und „neuen Viren“ Die hohe immunologische Flexibilität der Hüllproteine erlaubt es einigen behüllten Viren, sich in verschiedenen Wirtsspezies vermehren zu können. So können Infektionen artübergreifend neu entstehen oder Zwischenwirte als Überträger genutzt werden. Die von Gliederfüßern (beispielsweise Stechmücken und Zecken) übertragenen Viren, die sogenannten Arboviren, sind daher überwiegend behüllte Viren. Die einzige unbehüllte Gattung Coltivirus, deren Mitglieder als Arboviren übertragen werden können, besitzen als Ersatz für die Flexibilität der Virushülle ein zweites Kapsid. Viren sind meist dann besonders pathogen, wenn sie in einer Wirtspopulation neu auftreten. Daher haben die behüllten Viren, die den Wirtsübergang vom Tier zum Mensch besonders begünstigen, ein besonders hohes Potential für neu beim Menschen auftretende Infektionen. Literatur Aktuelle Literatur Stephen C. Harrison: Principles of Virus Structure. In: David M. Knipe, Peter M. Howley et al. (eds.): Fields’ Virology. 4. Auflage. Philadelphia 2001, ISBN 0-7817-1832-5, S. 53–85 John A. T. Young: Virus Entry and Uncoating. In: Fields’ Virology. S. J. Flint, L. W. Enquist, V. R. Racaniello und A. M. Skalka: Principles of Virology. Molecular Biology, Pathogenesis, and Control of Animal Viruses. 2. Auflage. ASM-Press, Washington DC 2004, ISBN 1-55581-259-7 Joe Bentz (ed.): Viral Fusion Mechanisms. CRC-Press, Boca Raton 1993, ISBN 0-8493-5606-7 Robert Brasseur (ed.): Molecular Description of Biological Membranes by Computer Aided Conformational Analysis. Vol. 1, CRC-Press, Boston 1990, ISBN 0-8493-6375-6 Historische Literatur Wolfhard Weidel: Virus – Die Geschichte vom geborgten Leben. Berlin / Göttingen / Heidelberg 1957 Frank Fenner, B. R. McAuslan et al. (eds.): The Biology of Animal Viruses. Academic Press, New York / London, 1. Auflage 1968, 2. Auflage 1974, ISBN 0-12-253040-3 Alena Lengerová: Membrane Antigens. Fischer, Jena 1977 Weblinks Graphik zu äußeren und inneren Lipidkomponenten des HIV-1 (PNAS 2006) Kryo-EM-Analyse der Hülle eines Alphavirus Einzelnachweise Virologie
249864
https://de.wikipedia.org/wiki/Walchensee
Walchensee
Der Walchensee ist einer der tiefsten (maximale Tiefe: 190 m) und zugleich einer der größten (16,40 km²) Alpenseen Deutschlands. Er liegt 75 km südlich von München in den Bayerischen Voralpen, auf 800 m Meereshöhe und mit seiner gesamten Fläche einschließlich der Insel Sassau in der Gemeinde Kochel am See. Im Osten und Süden grenzt sein Ufer an die Gemeinde Jachenau. Grundeigentümer von See- und Inselfläche ist der Bayerische Staat (verwaltet durch die Bayerischen Staatsforsten im Unterschied zu den meisten anderen größeren Seen Bayerns, die der Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen unterliegen). Als ursprünglich natürlicher See dient er seit 1924 als Wasserspeicher für das am Kochelsee 200 m tiefer gelegene Walchenseekraftwerk. Etymologie Der Namensbestandteil Walchen gilt als mehrdeutig. Er kann auf die „Walchen“ oder „Welschen“ verweisen, wie im älteren Deutsch die benachbarte romanische Bevölkerung der Alpen oder südlich der Alpen bezeichnet wurde. Das setzte nicht zwingend eine noch ansässige romanische Bevölkerung voraus (wogegen die sonstigen Ortsnamen der Gegend sprechen), sondern konnte auch nur ein Hinweis sein, dass der Ort auf dem Weg Richtung Welschland liegt. Dafür spricht, dass auf Landkarten des 16. Jahrhunderts der See als Italico dicto (nach Italien führend) bezeichnet wurde, weil durch das Walchenseetal ein Reiseweg über Mittenwald und Innsbruck nach Italien führte. „Walch“ kann aber auch „feucht, lau, mild“ bedeuten oder für „wälzen, quetschen“ stehen. Eine andere, wegen des inlautenden „ch“ aus sprachlichen Gründen unhaltbare Interpretation geht vom lateinischen Lacus vallensis aus, was so viel heißt wie „ein im Tal gelegener See“. Zum Sprachlichen vergleiche auch die Artikel Walensee, Walchsee und Wallersee. Geographie Entstehung Der Walchensee füllt eine tektonisch bedingte Senke, die einen Teil der Bayerischen Synkline darstellt und aus den Gesteinen der oberen, alpinen Trias besteht (Hauptdolomit, Plattenkalke, Kössener Schichten). Dieser tektonischen Entstehung verdankt der See seine Tiefe von 190 m. Das nordwestliche Felsenufer zeigt deutlich die sehr steile Lagerung der Gesteinsschichten hin zum See. Die Entstehung durch gebirgsbildende Kräfte lässt den Schluss zu, dass der Walchensee zu den ältesten Seen Deutschlands zählt. Während der Eiszeiten wurde die Morphologie des Gebiets und damit auch des Walchensees mehrfach von Gletschern des Isar-Loisach-Gletschers geprägt. Gliederung Nach dem Geographen Alois Geistbeck (1885) wurde der Walchensee von Süden nach Norden in drei unterschiedlich große Becken bzw. Seeteile gegliedert: Obersee oder Altlacher See Weitsee (auch Tiefsee genannt) Urfeldersee (Untersee, heute ist die Bezeichnung Urfelder Bucht geläufiger) Die Grenze zwischen der seichten Urfelder Bucht und dem tiefen Weitsee bildet die von 15 auf 180 Meter Tiefe steil abfallende Desselwand bzw. die nördlich und oberhalb davon liegende, von Geistbeck beschriebene schmalrückige Gesteinsbank, deren bis zu 10 m unter dem Wasserspiegel heraufdringende Stelle der Urfelder Berg ist () und die im Osten am Desseleck beginnt. Die Grenze zwischen dem Weitsee und dem Obersee (Altlacher See) bildet im Osten die Insel Sassau und ihre Verlängerung bis zum 210 Meter entfernten Ostufer des Sees Am Steineck. Die Wassertiefe dazwischen beträgt nur 15 bis 23 Meter, weshalb die Insel schon mit einer Halbinsel verglichen worden ist. Sassau und das Steineck bilden die südliche Begrenzung der Breiten Bucht, die sich im Norden bis zu der kleinen Halbinsel Buchenort erstreckt. Neben der großen Halbinsel Zwergern gibt es noch mehrere kleine Halbinseln, darunter Hirschhörnl (zwischen der Sachenbacher Bucht im Norden und dem Stillen Winkel im Süden) und Buchenort (im Norden durch den Stillen Winkel und im Süden durch die Breite Bucht begrenzt) am Ostufer und Breitort (zwischen Niedernacher Bucht im Osten und Altlacher Tal im Westen) am Südufer. Im Obernacher Winkel nahe dem Südufer gab es früher die sehr kleine Katzeninsel, die heute jedoch mit dem Festland verbunden und nur bei Höchstwasserständen von diesem getrennt ist. Der tiefste Punkt des Walchensees liegt auf gut einen Kilometer ostsüdöstlich des namensgebenden Felssporns Kirchel oberhalb der Uferstraße (B 11) beim nördlichen Eingang des Kirchelwandtunnels und oberhalb des steilen nordwestlichen Felsufers. Am steilsten fällt der Seegrund vom Seeufer beim Kirchel ab, wo es auf einer Horizontaldistanz von 180 Metern auch 180 Meter in die Tiefe geht, was einer Neigung von 45° entspricht. Der Schweb innerhalb der Tiefenlinie von 190 Metern ist unter dem Namen Kirchel Grund bekannt. Er hat eine Fläche von knapp einem Quadratkilometer und ist tischeben, mit Schwankungen von nur zwei Metern. Lage und angrenzende Ortschaften Rund 27 km Ufer umranden den Gebirgssee, der ein durchschnittliches Wasservolumen von 1,3 km³ hat. Die Jachen, als natürlicher Abfluss des Sees, entwässert nach Osten durch das Tal der Jachenau zur Isar hin. Den größten natürlichen Zufluss bildet die Obernach, die im Südwesten in den See mündet. Zusammen mit dem künstlichen Zufluss (siehe Kapitel Kraftwerk Walchensee) erschließt sich auf diese Weise ein Einzugsgebiet von rund 780 km². Der See liegt auf einer Höhe von und wird von bewaldeten Bergen umrahmt. So im Nordwesten von der Herzogstand-Heimgartengruppe (1.731 m und 1.790 m), daran anschließend westlich vom See das Tal der Eschenlaine, auf dessen Südseite der Simetsberg (1.836 m) als erster Ausläufer des Estergebirges anschließt. Im Süden des Sees trennt der lange Rücken des Altlachberges mit dem Altlacher Hochkopf (1.326 m) als höchste Erhebung den Walchensee vom Tal der Isar. Am östlichen Ufer beginnt die Jachenau, ein lang gezogenes Tal, das Richtung Lenggries führt. Im Nordosten schließt der Jochberg (1.565 m) den Talkessel. Zwischen Jochberg und Herzogstand liegt der Pass Kesselberg, der den Walchensee vom 200 Meter tiefer gelegenen Kochelsee trennt. Direkt am Westufer liegt der kleine Luftkurort Walchensee mit ca. 600 Einwohnern. Wie die anderen noch kleineren Ortschaften Urfeld (an der Nordspitze), Zwergern (Westufer) und die am orographisch linken Ufer der Obernach gelegenen Häuser von Einsiedl (im äußersten Südwesten) gehört Walchensee zur Gemeinde Kochel am See. Die auf dem rechten Ufer der Obernach gelegenen Häuser in Einsiedl sowie Altlach am Südufer, Sachenbach am Ostufer und Niedernach im äußersten Südosten dagegen gehören zur Gemeinde Jachenau. Zwischen den Orten Walchensee und Einsiedl ragt die 140 Hektar große Halbinsel Zwergern mit dem gleichnamigen Weiler zwei Kilometer in den See. Die Oberfläche des Sees hat annähernd die Form eines mit einem Eck nach Norden gerichteten Dreiecks mit der Basis am Südufer von Einsiedl bis Niedernach von 6,9 km Seitenlänge und einer von Breitort bis Urfeld 4,9 km messenden Höhe. Klima Aufgrund seiner Lage im Talkessel ist der See größtenteils vor nördlichen und östlichen Windströmungen geschützt. Die relativ niedrige Bergkette, die unmittelbar am Südufer beginnt, lässt eine optimale Sonneneinstrahlung zu, so dass das Klima insgesamt milder ist, als es im Gebirge zu erwarten wäre. Während der Sommermonate entsteht bei sonnigem Wetter über den aufgeheizten Südhängen des Herzogstands und des Jochbergs eine ausgeprägte Thermik. Die stabilen Thermikwinde wehen in der Regel in Richtung Südwest. Vereinigen sich die so in die Höhe transportierten feuchten Luftmassen des Walchensees mit denen des nördlich gelegenen Kochelsees durch einen leichten, vorherrschenden Hauptwind aus Nordost, können besonders heftige Gewitter entstehen. Bei Föhn weht dagegen ein warmer Fallwind aus Richtung Süd; die damit einhergehende trockene Luft sorgt für eine sehr gute Fernsicht. Geschichte Schon seit vorhistorischer Zeit fühlte sich die einheimische Bevölkerung vermutlich eng mit dem See verbunden. So war es zum Beispiel bis in das 18. Jahrhundert üblich, geweihte Goldmünzen an der tiefsten Stelle des Sees zu versenken. Der Fischreichtum des Sees führte dazu, dass die Klöster Benediktbeuern und Schlehdorf schon 740 n. Chr. erste Besitzansprüche stellten. Urkundlich erwähnt wurde der See erstmals 763, allerdings nur als geographische Bestimmung ohne Namen. Im 11. Jahrhundert erscheint der See unter dem Namen „Walhense“, 1441 als „Wallersee“, 1698 als „Walchensee“. Der Name wird mit „See, an dem Romanen wohnten“ erklärt. Die romanischen Walchen lebten nach Abzug der römischen Besatzung im 5. Jahrhundert weiter in Südbayern. Bis zur Säkularisation 1803 war dieser im Besitz der beiden Klöster, wobei das Kloster Benediktbeuern über die größeren Rechte verfügte. Um 1130 ließ Abt Konrad von Benediktbeuern nach Absprache mit Bischof Heinrich I. von Freising, dem das am Walchensee beteiligte Kloster Schlehdorf unterstand, am Westufer des Sees roden und machte mit einem ersten Haus für Fischer den Anfang der dortigen Besiedelung. Um 1160 begann die Besiedelung der Halbinsel Zwergern durch das Kloster Schlehdorf. Um 1900 wurde in München die Idee für das Kraftwerk Walchensee geboren, das das Gefälle zwischen dem Walchensee und dem fast 200 Meter tiefer gelegenen Kochelsee zur Stromerzeugung nutzt. Dazu wurden bereits 1903 Tauchversuche zur Erkundung des Seeuntergrundes durchgeführt. Treibende Kraft war Oskar von Miller, der auch das Deutsche Museum 1903 gegründet hat. Das wasserpolizeiliche Genehmigungsverfahren zog sich bis 1918 hin. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Bauarbeiten begonnen. Am 24. Januar 1924 trieb zum ersten Mal Walchenseewasser eine Turbine am Ufer des Kochelsees an. Im Laufe des Zweiten Weltkrieges versuchten mindestens zwei Flugzeuge, auf dem See eine Notwasserung durchzuführen; beide versanken anschließend. Am 24. April 1945 wurde von der Wehrmacht und Beamten der Reichsbank zumindest ein Teil der letzten Reserven der Deutschen Reichsbank nach Einsiedl, einer kleinen Siedlung am Südwestufer gebracht. Anschließend wurde das Vermögen an einem unbekannten Ort auf dem Steinriegel (oberhalb des heutigen Obernachkraftwerkes) vergraben. Es handelte sich dabei um 365 Säcke mit je zwei Goldbarren, 9 Briefumschläge mit den Dokumenten zu dem Gold, 4 Kisten mit Gold, 2 Säcke mit Goldmünzen, 6 Kisten mit dänischen Münzen sowie 94 Säcke mit anderen Fremdwährungen. Bei der ausländischen Währung handelte es sich vor allem um US-Dollar und Schweizer Franken. Am 6. Juni 1945 wurde das Vermögen an die Alliierten übergeben. Es fehlten jedoch 100 Goldbarren sowie sämtliche Schweizer Franken und Dollarnoten. Möglicherweise gab es noch andere Depots, an denen Wertgegenstände, wie zum Beispiel weitere Devisen oder Juwelen, versteckt wurden. Bis heute wird über deren Existenz und ihre genaue Lage spekuliert. Der Walchensee wurde spätestens ab den 1930er Jahren zu einem häufig aufgesuchten Ziel für Ausflügler aus München und anderen oberbayerischen Städten sowie Urlaubern. Heute lebt die einheimische Bevölkerung in erster Linie vom Fremdenverkehr. Bis zum 31. Dezember 1969 gehörte der Walchensee zum gemeindefreien Gebiet Kochel, das ansonsten aus dem westlichen Teil der ausgedehnten früheren Waldbesitzungen des Klosters Benediktbeuern bestand (mit einer Fläche von 53,82 km² einschließlich des Walchensee), und wurde mit diesem am Folgetag in die Gemeinde Kochel am See eingemeindet. Am selben Stichtag wurde das Ostufer mit dem gemeindefreien Gebiet Jachenau in die Gemeinde Jachenau eingegliedert. Vorher gehörte am Ostufer nur die Exklave Sachenbach zur Gemeinde Jachenau. Biologie Ökologie Das klare Gewässer mit einer durchschnittlichen Sichttiefe von 8 bis 10 m verdankt seine türkis-grüne Färbung dem relativ hohen Anteil an Kalziumkarbonat. Wohl auch aufgrund des Motorbootverbots entspricht das Wasser des Walchensees der Gewässergüteklasse I (=unbelastet). Die Wassertemperaturen sind, wie für einen Bergsee typisch, relativ niedrig. Sie bewegen sich im Sommer zwischen 17 und 22 °C und im Frühling/Herbst um die 10 bis 16 °C. Die Nährstoffbelastung des ohnehin oligotrophen (nährstoffarmen) Walchensees ist seit Mitte der 1980er Jahre durch die Verbesserung der Abwasserreinigung zwischen Seefeld und Wallgau weiter zurückgegangen. Der Walchensee einschließlich der Uferstreifen ist Landschaftsschutzgebiet. Von der Gesamtlänge des Südufers von 7 km sind ca. 2,5 km für Erholungszwecke, z. B. als Badestrand, nutzbar. Das übrige Ufer besteht zum großen Teil aus Steilufer. Das Seeufer selbst ist bis auf wenige Ausnahmen im Westen nicht bebaut. Die Insel Sassau (2,9 ha) steht unter Naturschutz, d. h. das Betreten der Insel ist ganzjährig verboten. Die Insel ist 367 m lang und im Westen bis 93 m breit (im Osten nur halb so breit). Sie erhebt sich bis zu 12 m über den Wasserspiegel. Fauna und Flora Bereits vor über 500 Jahren wurden neue Fischarten im Walchensee eingebürgert. 1480 wurden Renken aus dem nahe gelegenen Kochelsee eingesetzt und etwas später auch Saiblinge aus dem Tegernsee. Der See lässt sich in eine Uferzone sowie in eine Boden- und Freiwasserzone einteilen. In der nebenstehenden Tabelle sind alle Fischarten nach diesen Lebensräumen aufgelistet. Über 50 % der dort lebenden Fischarten sind in Bayern in ihrem Bestand bedroht oder zumindest gefährdet, wie z. B. der Wels oder der Perlfisch. Die Große Teichmuschel steht ebenfalls auf der Roten Liste der gefährdeten Pflanzen und Tiere. 2003 wurde vom Bezirk Oberbayern ein Projekt gestartet, um den Edelkrebs (Astacus astacus) wieder anzusiedeln. 2.000 Krebse wurden zu diesem Zweck im Eibsee eingefangen und im Walchensee ausgesetzt. Für viele Vogelarten bieten das Seeufer sowie die Insel Sassau hervorragende Brutmöglichkeiten und für Zugvögel ein sicheres Winter- oder Durchzugsquartier. Neben Rothals- und Schwarzhalstaucher sowie Stockente und Blesshuhn kommen hier auch Gänsesäger und Eistaucher vor. Nahe der Uferzonen wachsen direkt unter der Wasseroberfläche in einigen Buchten Flutender Wasserhahnenfuß und Ähriges Tausendblatt. Kiesel- und Grünalgen kommen dagegen als pflanzliches Plankton zusammen mit tierischem Plankton (Wasserflöhe, Hüpferling) in praktisch allen Bereichen des Sees vor. Ebenfalls in der Uferzone wachsen das heimische Schilfrohr und Teichbinsen. Seerosen und Teichrosen bieten nicht nur Ringelnattern zuverlässigen Schutz. Tourismus Auf den Fahrenbergkopf fährt bis kurz unterhalb des Gipfels vom Frühjahr bis Herbst eine Seilbahn (Herzogstandbahn). Von dort erreicht man vorbei am Herzogstandhaus in 30 bis 45 Minuten Gehzeit den Gipfel des Herzogstands. Vergleichbar mit den anderen großen Seen, z. B. dem Tegernsee, spielt auch der Walchensee eine große Rolle für den Fremdenverkehr in der Region. Die klare Sicht unter Wasser mit einer Sichtweite von bis zu 40 Meter und einer ganzen Reihe von Auto-, Boots- und sogar Flugzeugwracks ist für Taucher besonders interessant. Zusätzlich zu den sonst üblichen Aktivitäten wie Baden oder Spazierengehen können Erholungssuchende hier auch in den umgebenden Bergen wandern oder in den Wintermonaten mit Tourenski die Berge erkunden. Für den Tourismus am Walchensee spielt auch der Wind eine große Rolle. Aufgrund der Lage ist der Walchensee ein thermisches Revier und bietet für Windsurfer, Kitesurfer und Segler hervorragende Bedingungen um den jeweiligen Sport auszuüben. Der thermische Wind entsteht bei schönem Wetter meist gegen 12 Uhr in Urfeld und zieht dann langsam über den ganzen See. An normalen Sommertagen erreicht der Wind eine Stärke von 3 bis 4. Die besten Windtage sind die nach Durchzug einer Kaltfront, wenn die Luft thermisch noch am aktivsten ist. Einfluss auf guten Wind am Walchensee hat dabei die Grundwindrichtung, die möglichst aus Nord bis Ost wehen sollte. Kommt der Wind aus südlichen Richtungen, sind die Chancen auf guten Wind eher schlecht. Auch eine wichtige Rolle spielt der Temperaturunterschied zwischen Tag und Nacht, wobei 5 °C in der Nacht und 20 °C am Tag besser ist als 15 °C in der Nacht und 30 °C am Tag. Wenn im Herbst und im Frühjahr im Voralpenland Nebel steht, in den Bergen aber die Sonne scheint, kommt es gelegentlich zu einer besonderen Situation. Im Laufe eines solchen Tages kann es dazu kommen, dass sich die Basis des Nebels hebt und dieser über den Kesselberg und den Walchensee zieht. Dabei kann der dann recht kalte Wind mit Stärke 6 bis 7 über den Walchensee wehen. Am Walchensee gibt es aber nicht nur Wind aus nordöstlichen Richtungen. Hat es in den Alpen Föhn, kann dieser auch am Walchensee wehen. Der Föhn kommt aus südlichen Richtungen und ist auch am Walchensee meist sehr böig. Die Windstärke bei Föhn ist sehr unterschiedlich und variiert zwischen 1 und 10. Kraftwerk Walchensee Bereits 1924 wurde das Speicherkraftwerk Walchensee am Südufer des Kochelsees vom Bayernwerk in Betrieb genommen. Sechs Rohre leiten seitdem das Wasser des Walchensees zu den ca. 200 Meter tiefer gelegenen Turbinen des Wasserkraftwerks. Um die Verfügbarkeit von Wasser für das Kraftwerk zu erhöhen, werden durch einen 7 km langen Stollen der Rißbach aus dem Karwendel sowie ein Teil des Wassers der Isar dem See zugeführt. Insgesamt verfügt der Walchensee über ein durchschnittliches Volumen von 1,3 Mrd. m³. Zwei kleinere Wasserkraftwerke wurden auch direkt am Walchensee erbaut: am Ende des Stollens bei Niedernach im Südosten sowie das Kraftwerk Obernach im Südwesten des Sees. Nur während der Wintermonate wird dem See in großem Umfang Wasser entnommen, um den Fremdenverkehr während der Hauptsaison nicht zu beeinträchtigen. In den Wintern 1963 und 1980 war der See vollständig zugefroren. Höchststau: Normalstau: Mindeststau: Besonderheiten Wracks Am Seegrund befinden sich mehrere Wracks, unter anderem auch die von drei Flugzeugen. Aus dem Zweiten Weltkrieg stammen eine Messerschmitt Bf 109 sowie ein britischer Bomber vom Typ Avro Lancaster. Bei den Trümmern eines weiteren Flugzeugs handelt es sich um die Reste einer Aero Commander 680W. Der zweimotorige Hochdecker mit dem Kennzeichen D-IMON stürzte am 27. Dezember 1978 in den See, nachdem das Leitwerk abgebrochen war. Das Flugzeug lag im flachen Wasser und wurde unmittelbar nach dem Absturz mitsamt der Besatzung geborgen. Bei Tauchern als Erkundungsziel beliebt sind die Wracks eines VW Käfers und eines Fords, die in Ufernähe liegen. Der See als Drehort Aufgrund seines reizvollen Aussehens diente der Walchensee bereits mehrmals als Drehort, vor allem für Filme mit historischen Themen. So wurde dort unter anderem 1959 die Serie Tales of the Vikings mit Christopher Lee gedreht. Ein Jahr später war der See Schauplatz in dem Drama Bis dass das Geld Euch scheidet … mit Luise Ullrich und Gert Fröbe. Der gleiche Filmproduzent Artur Brauner hatte auch schon 1955 einige Szenen für den Film Liebe, Tanz und 1000 Schlager mit Caterina Valente, Peter Alexander und Rudolf Platte am gleichen Ort gedreht. 2008 drehte Michael Herbig in der Sachenbacher Bucht die Realverfilmung von Wickie und die starken Männer. Zu diesem Zwecke wurden dort das Wikingerdorf Flake und weitere Ausstattung errichtet. Nach eingehender europaweiter Suche war dieser Drehort gewählt worden. Vom Wikingerdorf sind nach Ende der Dreharbeiten sechs der Hütten am See verblieben, die nach ihrer Verlagerung in den Ort Walchensee als touristischer Anziehungspunkt für Familien mit Kindern dienen. Vier der Hütten wurden abgebaut und auf dem Gelände der Bavaria Filmstadt bei München wiedererrichtet. Michael Herbig nahm 2009 als Lockvogel für die Sendung Verstehen Sie Spaß? die Einwohner des oberbayerischen Ortes Walchensee auf den Arm: Er gab vor, die Gemeinde als Wickieland vermarkten zu wollen. Landschaftsmalerei Im Jahre 1834 verewigte der Maler Lorenzo Quaglio den Walchensee in einem Ölgemälde, das er schlicht „Der Walchensee“ nannte und heute im Münchner Stadtmuseum hängt. Nach dem Ersten Weltkrieg erwarb der Künstler Lovis Corinth in Urfeld am Walchensee ein Grundstück, auf dem ihm seine Frau Charlotte Berend-Corinth ein Haus baute. Von 1919 bis zu seinem Lebensende 1925 verbrachte der Impressionist zusammen mit seiner Frau die Sommermonate am See. Sein Erfolg als Landschaftsmaler beruhte schon zu seinen Lebzeiten vor allem auf seinen Bildern mit dem bekannten Walchensee-Motiv, das sich auf insgesamt über 60 seiner Bilder findet. Ca. 100 graphische Werke von Lovis Corinth sind im Walchensee-Museum in Urfeld ausgestellt. Galerie Siehe auch Liste der Seen in Bayern Literatur Cornelia Oelwein: Die Geschichte des Walchensees und seiner Fischerei. Edition Alpenblick & Seenland, Uffing am Staffelsee 2010, ISBN 978-3-9813813-0-6 Martin Siepmann, Brigitta Siepmann (Hrsg.): Landschaft in Bayern. Bayerland, Dachau 1995, ISBN 3-89251-200-0 Josef Rambeck: Die Baraber vom Walchensee. Deutscher Baugewerksbund, Berlin 1931 Emil Becker: Der Walchensee und die Jachenau - Eine Studie. Edlingers Verlag, Innsbruck 1897 Weblinks Website des Walchensee-Museums in Urfeld Einzelnachweise See im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen See in Europa SWalchensee Betauchter See Geographie (Kochel am See) Landschaftsschutzgebiet in Oberbayern Schutzgebiet (Umwelt- und Naturschutz) in Europa
264980
https://de.wikipedia.org/wiki/Samtgemeinde%20Brookmerland
Samtgemeinde Brookmerland
Die Samtgemeinde Brookmerland ist ein Gemeindeverband im Landkreis Aurich in Ostfriesland. Die Samtgemeinde besteht aus den Mitgliedsgemeinden Marienhafe, Leezdorf, Osteel, Rechtsupweg, Upgant-Schott und Wirdum. Verwaltungssitz ist Marienhafe. Das Brookmerland, wie es umgangssprachlich auch genannt wird, hat auf 77,25 Quadratkilometern Einwohner. Daraus ergibt sich eine Einwohnerdichte von Einwohnern je Quadratkilometer, die nicht nur über dem ostfriesischen (), sondern auch leicht über dem niedersächsischen Vergleichswert (), jedoch unter dem der Bundesrepublik (etwa 230) liegt. Das Gebiet der Gemeinde liegt auf einem Teil der historischen Region Brookmerland, deren Bezeichnung von dem altfriesischen bzw. altniederdeutschen Wort brōk stammt, das für eine moorige Bruchlandschaft steht, die früher kaum besiedelt war. Diese zog sich vom Westrand des Ostfriesischen Geestrückens von der Ley (Norder Tief) bis zur Flumm (Fehntjer Tief) hin. Zum kulturellen Erbe der Samtgemeinde zählen die historischen Kirchen in Marienhafe und Osteel mitsamt ihren Orgeln. Daneben gibt es weitere historische Gebäude wie Steinhäuser (ehemalige Häuptlingsburgen), Gulfhöfe und Windmühlen. Wirtschaftlich ist die Gemeinde von mittelständischen Betrieben, hauptsächlich für die Nahversorgung, geprägt. Auch der Tourismus spielt eine bedeutende Rolle, wobei sich die Gegend um Marienhafe als ehemaliger Zufluchtsort des Seeräubers Klaus Störtebeker als Störtebekerland vermarktet. Die Landwirtschaft spielt bei der Flächennutzung eine bedeutende Rolle. Insgesamt ist die Samtgemeinde Brookmerland eine Auspendler-Gemeinde in die Städte Emden, Aurich und Norden, in deren Mitte Brookmerland liegt. Geografie Lage und Ausdehnung { "type": "ExternalData", "service": "geoshape", "ids": "Q633537" } Brookmerland liegt im westlichen Teil der ostfriesischen Halbinsel in Niedersachsen nordnordwestlich von Emden und südöstlich von Norden im Landkreis Aurich. Es grenzt unmittelbar an die Stadt Norden und liegt westlich der Kreisstadt Aurich. Die Nordseeküste ist nur wenige Kilometer entfernt, am kürzesten ist es zur Leybucht, die sich westlich des Samtgemeindegebiets befindet. Brookmerland ist mit 171 Einwohnern je km² im innerostfriesischen Vergleich überdurchschnittlich dicht besiedelt und liegt damit auch leicht über der Einwohnerdichte des Landes Niedersachsen (Vergleichszahlen: Ostfriesland 148, Niedersachsen 168), jedoch unter dem bundesrepublikanischen Durchschnitt von 230 Einwohnern je km². Die einzelnen Mitgliedsgemeinden haben jedoch sehr unterschiedliche Besiedelungsdichten: Während Wirdum einen Wert von 69 Einwohnern je km² aufweist, liegt die Einwohnerdichte von 500 Einwohnern je km² im eng begrenzten Hauptort Marienhafe höher als in allen anderen ostfriesischen Kommunen, Städte wie Emden und Leer eingeschlossen. Überdurchschnittlich stark besiedelt sind auch die im Moor angelegten Streusiedlungen Leezdorf und Rechtsupweg, während neben Wirdum auch Upgant-Schott und Osteel aufgrund ihrer großen Gemarkungsflächen und eines hohen Anteils von Landwirtschaftsflächen unter dem Samtgemeindedurchschnitt liegen. Geologie und Böden Das Gebiet der Samtgemeinde Brookmerland ist an der Oberfläche geologisch von Schichten des Pleistozäns und des Holozäns bestimmt. Die erdgeschichtlich älteren Teile des Pleistozäns sind die Geestgegenden im Nordosten des Gemeindegebietes, auf denen zum Teil holozäne Moorschichten aufliegen. Der Westen und der Süden des Gemeindegebietes liegen in der Marsch, ebenfalls eine holozäne Schicht. Das zentrale Gemeindegebiet um Marienhafe, Osteel, Upgant-Schott, Rechtsupweg und Leezdorf weist teils anmoorige Podsol- und Gley-Podsol-Böden in zumeist feuchter Lage auf. Die anmoorigen Gebiete sind nach Kultivierungsmaßnahmen inzwischen größtenteils abgetorft. Der weitere Untergrund besteht aus Sand, der teilweise schwach lehmig ist, oft über Lehm und Ton. Östlich von Leezdorf und Rechtsupweg schließen sich in geringerem Umfang Hochmoorböden sowie stark humose Böden auf mittlerweile abgetorften Flächen an. Westlich einer ungefähren Linie Osteel-Siegelsum befinden sich Marschböden. Dabei handelt es sich um zwei schmale Streifen von Knickmarschböden, die kalkfrei bis schwach kalkhaltig sind. Weiter westlich, im Bereich der früheren Leybucht, gibt es kalkreichere Seemarschböden. Der Süden des Gemeindegebietes um Wirdum besteht zum Großteil aus Seemarschböden, die nach der Eindeichung der Leybucht gewonnen wurden. Auch dort schließen im Osten schmale Streifen von Knickmarschböden an. Die kleinen Hochmoorflächen im Osten des Samtgemeindegebietes bestehen aus der höher liegenden Weißtorfschicht und einer Schwarztorfschicht darunter, die wiederum auf mineralischem Gestein aufliegt. Das Alter der ostfriesischen Hochmoore wird im Allgemeinen auf zirka 5000 Jahre geschätzt. Nachdem der leichtere Weißtorf abgeräumt war, wurde der Schwarztorf zu brikettähnlichen Quadern gepresst, die als Heizmaterial dienten. Die abgetorfte Fläche wurde später kultiviert, dazu waren verschiedene Bodenverbesserungsmaßnahmen erforderlich. Grundsätzlich eignen sich kultivierte Moorböden aufgrund ihrer Nährstoffarmut eher als Grünland. Die Gley-Böden sind durch hohe Grundwasserstände gekennzeichnet. Ähnliches gilt für die Podsole in feuchter Lage, den Übergangsbildungen zum Gley. Auch sie müssen im Samtgemeindegebiet dräniert werden und werden zumeist als Grünland genutzt. Seemarschböden haben einen hohen Kalkgehalt von vier bis zwölf Prozent, was für die ackerbauliche Nutzung von Belang ist. Da sie wesentlich aus Schlick bestehen, sind etwa sechs Prozent organische Substanzen. Hohe Grundwasserstände, besonders im Frühjahr und Herbst, machen eine Dränage durch zahlreiche Entwässerungsgräben (Schloote) erforderlich. Ein hoher Kalkgehalt im Boden erlaubt bessere landwirtschaftliche Erträge. Die jungen Seemarschböden haben zumeist eine hohe bis sehr hohe Bodenwertzahl. Die etwas küstenferneren Knick- und Brackmarschböden entstanden aus den feineren und deshalb dichteren Sedimenten, die in früheren Zeiten landeinwärts getrieben wurden. Aufgrund der höheren Dichte sind die tonigen Böden schwerer und weisen oft Staunässe auf. Zudem sind sie kalkärmer. Die abgesackten Knick- und Brackmarschböden bei Wirdum und Siegelsum liegen unter Normalnull. Die höchstgelegenen Stellen sind die zum großen Teil abgetorften Hochmoorböden bei Leezdorf und Rechtsupweg bis etwa vier Meter über Normalnull. Gewässer Westlich von Marienhafe liegt die „Quelle“ der Abelitz, eines mäandrierenden Flüsschens, das durch das Gemeindegebiet fließt und südlich von Wirdum in das Alte Greetsieler Sieltief mündet. Dieses entwässert über das Knockster Tief in die Ems. Die Abelitz wird bei Marienhafe aus mehreren Entwässerungsgräben, regional Schloot genannt, gespeist und nimmt in ihrem Verlauf weitere Schloote auf. Neben den Schlooten fließt der Abelitz die Maar zu, die ihren Ursprung in der Nachbargemeinde Südbrookmerland hat. Kurz vor der Einmündung in das Alte Greetsieler Sieltief nimmt die Abelitz noch den Abelitz-Moordorf-Kanal auf, der im Auricher Stadtteil Georgsfeld seinen Ursprung hat und teils kanalisiert durch das Südbrookmerland fließt. Die Abelitz entwässert somit einen Großteil der Samtgemeinde Brookmerland und der Gemeinde Südbrookmerland, wofür der I. Entwässerungsverband Emden mit Sitz im Krummhörner Hauptort Pewsum zuständig ist. Das Alte Greetsieler Sieltief fließt südlich von Wirdum durch das Gebiet der Samtgemeinde und nimmt das Wirdumer Tief auf, einen kurzen Kanal, der früher die Verkehrsanbindung von Wirdum per Boot in die Krummhörn und nach Emden sicherstellte. Flächennutzung Mit 81,34 Prozent liegt der Anteil der Landwirtschaftsflächen am Gesamtgebiet über dem ostfriesischen Durchschnitt von 75 Prozent, der seinerseits deutlich über dem bundesrepublikanischen Durchschnitt von 52 Prozent liegt. Neun Hektar dieser Fläche sind noch als ursprüngliche(s) Moor bzw. Heide zu bezeichnen. Der Löwenanteil der Landwirtschaftsflächen ist Grünland. Das Brookmerland ist nur wenig bewaldet – selbst innerhalb des waldarmen Ostfriesland, das im bundesrepublikanischen Vergleich eine extrem unterdurchschnittliche Waldfläche (etwa 2,5 Prozent) aufweist. Es gibt nur wenige kleinere aufgeforstete Flächen auf den Wilden Äckern östlich von Upgant-Schott sowie in den hochmoornahen Gebieten nordöstlich von Leezdorf und Rechtsupweg. Die Wasserflächen im Gebiet der Samtgemeinde sind, von wenigen kleinen Tümpeln und Kolken abgesehen, ausschließlich Tiefs, Kanäle und Entwässerungsgräben. Gliederung der Samtgemeinde Die Samtgemeinde Brookmerland besteht aus sechs Mitgliedsgemeinden. Dies sind neben dem Hauptort und Verwaltungssitz Marienhafe die Gemeinden Leezdorf, Osteel, Rechtsupweg, Upgant-Schott und Wirdum. Daneben gibt es noch weitere Ortschaften, die zum Gebiet der jeweiligen Mitgliedsgemeinde gehören. Tjüche und Siegelsum bildeten bis kurz vor der Gemeindereform eigenständige Gemeinden und wurden nach Marienhafe beziehungsweise Upgant-Schott eingemeindet. Weitere kleinere Ortschaften und Wohnplätze, besonders in den Gemeinden Osteel und Wirdum, sind auf frühere Neuanlagen nach Eindeichungen zurückzuführen, so beispielsweise Osteeler Altendeich und Wirdumer Altendeich. Nachbargemeinden Das Brookmerland grenzt im Norden und Nordwesten an die Stadt Norden, im Nordosten an die Samtgemeinde Hage, im Osten an die Gemeinde Großheide, im Südosten an die Gemeinde Südbrookmerland, im Südwesten an die Gemeinde Krummhörn und im äußersten Süden an die Gemeinde Hinte. Klima Das Brookmerland liegt in der gemäßigten Klimazone, hauptsächlich im direkten Einfluss der Nordsee. Im Sommer sind die Tagestemperaturen tiefer, im Winter häufig höher als im weiteren Inland. Das Klima ist insgesamt von der mitteleuropäischen Westwindzone geprägt. Nach der effektiven Klimaklassifikation von Köppen befindet sich die Samtgemeinde in der Einteilung Cfb. C steht für ein warm-gemäßigtes Klima, Cf für ein feucht-gemäßigtes Klima mit warmen Sommern b. Die nächstgelegene Wetterstation auf dem ostfriesischen Festland befindet sich in Emden (siehe dort für weitere Informationen). Schutzgebiete Im Gebiet der Samtgemeinde befindet sich ein Naturschutzgebiet. Es handelt sich dabei um den Bahnkolk Upgant-Schott im gleichnamigen Ortsteil, der aus einem zu Beginn des Ersten Weltkrieges durch Sandabbau entstandenen See sowie den angrenzenden Uferbereichen besteht. Das NSG ist 8,7 Hektar groß und steht seit 1973 unter Schutz. Seit 2007 ist der Niederungsbereich Bollandswater bei Siegelsum als Landschaftsschutzgebiet ausgewiesen (Größe: 17,3 Hektar). Hinzu kommen ein Tümpel am Schiffsleidingsweg in der Gemarkung Upgant-Schott und ein Teich in der Ortslage Upgant-Schott, die seit 1987 unter Schutz stehen, sowie Resthochmoorflächen in Leezdorf und Rechtsupweg (seit 1989), die allesamt als Naturdenkmäler ausgewiesen sind. Geschichte Ur- und Frühgeschichte Funde aus ur- und frühgeschichtlicher Zeit sind im Gebiet der Samtgemeinde bislang nicht entdeckt worden. Auf dem Gebiet der unmittelbar an Leezdorf und Rechtsupweg anschließenden Ortschaft Berumerfehn, einer Moorkolonie in der Nachbargemeinde Großheide, wurde allerdings 2004 eine Keule entdeckt, deren Alter auf etwa 2700 v. Chr. geschätzt wird. Es handelt sich um eine etwa 70 Zentimeter lange Keule aus Eibenholz, die der Jungsteinzeit zugeordnet wird. Zumindest für den Geest- und Moorbereich im Übergang von der Samtgemeinde zur östlichen Nachbargemeinde ist damit die Anwesenheit von Menschen in diesem Zeitraum bestätigt. Mittelalter Bis ins frühe Mittelalter war das Brookmerland weitgehend unbesiedelt und stellte eine natürliche Grenze zwischen dem Feder- und dem Emsgau (etwa das heutige Gebiet Emden/Hinte/Krummhörn) und den Gauen Norditi (Norderland) und Östringen dar. Auch kirchenhistorisch trennte diese Grenze den Herrschaftsbereich des Bistums Münster (Feder- und Emsgau) von dem des Erzbistums Bremen (Norderland und Östringen). Bodenfunde deuten auf eine dünne Besiedlung in der Zeit um 800 hin, die spätestens ab 1100, möglicherweise bereits im 10./11. Jahrhundert zunahm. Das in den Urbaren des Klosters Werden genannte Cuppargent wurde als das heutige Upgant identifiziert, von dem angenommen wird, dass es bereits im 9. Jahrhundert entstand und das damit das älteste urkundlich erwähnte Dorf des Samtgemeindegebietes ist. Funde in Kirchen des südlichen Brookmerlands gibt es aus dem 11. und 12., aber auch schon aus dem 9./10. Jahrhundert, so in Wiegboldsbur, das als Uuibodasholta ebenfalls in den Werdener Urbaren genannt wird und der älteste urkundlich erwähnte Ort des Südbrookmerlands ist. Unter den Funden sind Tuchgewebe, ein Sarkophagdeckel und eine Randscherbe aus dieser Zeit. Nur grob datiert ist ein Keramikfund aus Upgant auf 700 bis 1000 n. Chr. Da die Forscher sich einig sind, dass fast alle steinernen Kirchbauten hölzerne Vorgängerkirchen hatten, muss die Besiedlung des Raumes bereits vor dem Steinkirchenbau eingesetzt haben, der für das nördliche Brookmerland auf das 13. Jahrhundert datiert wird. Da zudem Kirchen erst gebaut wurden, nachdem sich genügend Siedler in einer Bauerschaft zusammengefunden hatten, kann die Besiedlung des Brookmerlands schon sehr viel früher angenommen werden als die ältesten Kirchen vermuten lassen. Das Brokmerland wurde von Siedlern aus der Marsch, vornehmlich entlang der Ems, urbar gemacht. Die Siedlung in Reihendörfern ergab sich aus den geologischen Gegebenheiten, die die Siedler vorfanden. Im Brookmerland reichten damals die Hochmoore bis an den Geestrand heran. Um sie nutzbar zu machen, bauten die Siedler ihre Dörfer in Reihenform und entwässerten die Moore, indem sie parallele Entwässerungsgräben anlegten. Jeder Siedler hatte ein Anrecht auf einen Streifen Moor in einer vereinbarten Breite. Grundsätzlich unbegrenzt war die Länge des zu kolonisierenden Stück Moores, allerdings war sie schon aufgrund der zur Verfügung stehenden technischen Mittel begrenzt. Die Nutzung der Moore beschränkte sich deshalb zunächst auf die Randzonen. Das Ergebnis waren Reihendörfer mit ihren Upstreeken. Die Brokmer wurden erstmals in der Östringer (Rasteder) Chronik von 1148 erwähnt, was darauf hindeutet, dass sie damals bereits eine gewisse Bedeutung hatten. Ab 1251 traten die Brokmänner als eigenständige Landesgemeinde Brookmerland auf. Sie gliederte sich zunächst in drei Mittelbezirke mit je zwei Hauptkirchen, Marienhafe und Engerhafe, Wiegsboldsbur und Burhafe (heute Einzelhöfe in der Victorburer-Marsch), Bedekaspel und Südwolde (Blaukirchen). Die Kirchenbezirke gehörten zum Bistum Münster. Hauptversammlungsort der Brokmannen war wohl zunächst die Kirche Wiegboldsbur. Im 13. Jahrhundert hatte das Brookmerland eine erste Blütezeit, in die der Bau der großen Kirchen fällt, von denen die (ehemals dreischiffige) Kirche Marienhafe die größte ist. Sie war damals die größte Kirche im nordwestdeutschen Raum und noch 1462 erteilte Papst Pius II. einen Ablass für den Besuch der Kirche, für die Schenkung von Einrichtungsgegenständen sowie für Geldspenden zur Erhaltung der Kirche curia beate Marie. Der Bischof von Münster würdigte die wachsende Bedeutung der Gegend, indem er sie Mitte des 13. Jahrhunderts zu einem eigenen Sprengel erhob. Zuvor gehörte sie zu den Dekanaten Uttum und Hinte. Nach Ekkehard Wassermann fällt die Entstehung des Marktortes Marienhafe mit der Ausweitung der Leybucht durch Sturmfluten zusammen. Anders als frühere Autoren geht er davon aus, dass bereits die Sturmfluten des 12. Jahrhunderts einen Ausläufer schufen, der bis Marienhafe heranreichte und damit dem Flecken einen Zugang zur See für den Handel verschaffte. Darauf weise die Tatsache hin, dass es in Marienhafe kaum Bauern, wohl aber Gewerbetreibende gab. Auch der Bau der Kirche ab dem Jahre 1240 habe „die Ansammlung einer nicht unerheblichen Summe Geldes“ vorausgesetzt. Die Anbindung an die Leybucht und damit an die offene See datiert Wassermann „wahrscheinlich“ auf die Julianenflut 1164. Mit diesem Aufstieg Marienhafes ging nach Wassermann auch eine Verlagerung des politischen Zentrums aus dem heutigen Südbrookmerland (namentlich Wiegboldsbur) nach Marienhafe einher. Um 1240 gründeten Prämonstratenser aus Steinfeld das Kloster Aland. Urkundlich wurde es erstmals 1255 als Nonnenkloster erwähnt und als Ripa beatae Maria Virginis oder prepositus de Insula bezeichnet. Die Leybucht reichte im Mittelalter bis an das Kloster heran. Möglicherweise wurde es von den Mündungsarmen eines Flusses umflossen, die es zur Insel machten. Nach der schweren Nordseesturmflut vom 1. Januar 1287 sollen dort 90 Ordensschwestern gelebt haben. Wirtschaftliche Basis des Klosters war sein Grundbesitz, der bis zu 400 Hektar umfasst haben soll. Diese Ländereien befanden sich in unmittelbarer Umgebung des Klosters. Daneben hatte der Konvent Besitzungen im benachbarten Uppigen und in Osteel. Nach der Konsulatsverfassung wurden in den friesischen Landesgemeinden die Konsuln und Richter jeweils für ein Jahr vom Volk gewählt. Die besitzende Bevölkerung hatte damit die politische Führung und die Gerichtsbarkeit inne. Jährlich fanden Versammlungen der Vertreter der sieben friesischen Seelande statt. Der Upstalsboom ist eine noch bekannte Begegnungsstätte aus dieser Zeit. Das Brookmerland verfügte über eine eigene Gerichtsbarkeit und mit dem Brokmerbrief auch über eine eigene Verfassung. Dieser berichtet als ausführlichste friesische Rechtsquelle von der Landes- und Gerichtsverfassung des Brookmerlandes, dessen Recht auf dem Willen des zusammengetretenen Volkes beruhte. Ende des 13. Jahrhunderts schloss sich das Auricherland dem Brokmerland an und bildete das vierte Viertel der Landesgemeinde. Nach dem Ende der Herrschaft der Häuptlingsfamilie tom Brok um 1450 trennte sich das Auricherland wieder vom Brokmerland. Häuptlingszeit Die Konsulatsverfassung hatte bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts Bestand. Danach wurde sie nach und nach abgelöst, als mächtige Familien die Häuptlingswürde übernahmen. Im Brookmerland war es die Familie Kenesma, die in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Häuptlingswürde zugesprochen bekam. Danach benannte sie sich in tom Brok um und errichtete die Burg Brooke neben der schon bestehenden bischöflichen Burg in Oldeborg. Später errichteten die tom Brok in Aurich eine zweite Burg. Der Hauptort Marienhafe entwickelte sich in dieser Zeit zu einem bedeutenden Handelsplatz. Nach schweren Sturmfluten 1374 und 1377 wurde er zum Seehafen. Damit bestand die Möglichkeit, Waren aus dem Brookmerland auf dem Wasserwege ins Münsterland zu transportieren. Die Wattflächen Leybucht und Kuipersand vor Marienhafe haben ihre Namen von der alten dreischiffigen Marienhafer Großkirche. Deren Dach war auf der Nordseite mit Kupfer (Kuiper = friesisch-niederländisch für Kupfer) und auf der Südseite mit Schiefer (Ley = altdeutsch für Schiefer) gedeckt, so dass die Kirche von See her durch den wechselnden Blick auf die Kupfer- und die Schieferseite für Eingeweihte einen Hinweis auf die auch bei Niedrigwasser befahrbar bleibenden Priele und sonstigen Wasserflächen gab. Ohne dieses Wissen waren der Ort und sein tideabhängiger Hafen von See her praktisch uneinnehmbar. Im ausgehenden 14. Jahrhundert fanden die Likedeeler genannten Seeräuber Unterschlupf in Marienhafe. Ob sich der berühmt-berüchtigte Klaus Störtebeker auch darunter befand, ist nicht urkundlich nachzuweisen. Widzel tom Brok hatte den damals noch jungen Hafen den Likedeelern oder Vitalienbrüdern geöffnet. Diese nutzten den Ort als Schutz, zum Stapeln der geraubten Waren und auch für deren Absatz. Dafür revanchierten sie sich beim Kampf der Häuptlinge des Brookmerlandes um die Vorherrschaft in Ostfriesland. Dies wurde schließlich durch mehrere Strafexpeditionen der Hansestadt Hamburg unterbunden, die sie gegen die Seeräuber und die mit ihnen sympathisierenden Häuptlinge unternahmen. Dabei wurde Marienhafe aufgrund seines sicheren Hafens vor der Zerstörung bewahrt. Faldern und Larrelt bei Emden sowie andere ostfriesische Bauten wurden dagegen geschleift. Die tom Brok hatten zunächst mit Erfolg versucht, eine Landesherrschaft über die Frieslande diesseits und jenseits der Ems zu errichten. Ocko II. erbte schließlich derart große Herrschaftsgebiete, dass er sich Häuptling von Ostfriesland nennen konnte. In der Folgezeit kam es jedoch zwischen Focko Ukena und Ocko tom Brok zu Streitigkeiten, die in offene Kriegshandlungen ausuferten. Nach einem ersten Sieg Ukenas über Ocko II. bei Detern 1426 verband sich Focko mit dem Bischof von Münster und zahlreichen ostfriesischen Häuptlingen gegen den auf das Brokmerland zurückgezogenen Ocko und schlug ihn am 28. Oktober auf den Wilden Äckern bei Upgant-Schott endgültig. Er wurde nach Leer verbracht und blieb vier Jahre lang inhaftiert. 1435 verstarb er machtlos als Letzter seines Geschlechts in Norden. Die nachfolgende Herrschaft Focko Ukenas im Brookmerland blieb nur ein kurzfristiges Intermezzo. Nachdem das Volk gerade dem Joch der tom Brok entkommen war, fühlten sich viele von den neuen Machthabern verraten, da diese wie die tom Brok die friesische Freiheit zu verraten schienen. Nach der Eroberung von Oldersum und Aurich schlossen die ostfriesischen Landesverbände und die kleineren Häuptlinge am 14. November 1430 unter Führung des Häuptlings Edzard Cirksena aus Greetsiel den Freiheitsbund der Sieben Ostfrieslande. Um 1440 wurden die Cirksena Richter und Vormünder, Häuptlinge des Brookmerlandes und des Auricherlandes und traten dort nach dem Zwischenspiel der Ukena die Erbfolge der tom Brok an. Sie mussten jedoch Rücksicht auf die Gemeindefreiheit und das Landesrecht nehmen. Die Landesgemeinden hatten sich neu konstituiert. So gab es wieder ein Brookmerland, ein Auricherland und im Südwesten des Auricherlandes ein eigenes Süderland (Bangstede, Ochtelbur, Riepe und Simonswolde). Unter den Cirksena (1464–1744) Als die Cirksena 1464 in den Reichsgrafenstand erhoben wurden, machten sie die von ihren Burgen beherrschten Bereiche zu Ämtern: das Brookmerland gehörte wie das Auricherland fortan zum Amt Aurich und bestand aus der Nordbrookmer Vogtei mit Osteel, Marienhafe und Siegelsum und der Südbrookmer Vogtei mit den Kirchspielen Engerhafe, Victorbur, Wiegboldsbur, Bedekaspel und Forlitz-Blaukirchen. Diese Teilung besteht noch heute mit der Samtgemeinde Brookmerland einerseits und der Gemeinde Südbrookmerland andererseits. 1498 begann auf Befehl des Grafen Edzard der Große die planmäßige Eindeichung von Teilen der Leybucht. Dabei wurde von Wirdum aus in Richtung Marienhafe ein Deich angelegt, der sowohl den großen südlichen Ausläufer der Leybucht als auch den Meeresarm bei Marienhafe von der See abschnitt. Eine Sturmflut machte das Werk jedoch noch im selben Jahr wieder zunichte. Erst unter der Regentschaft der Gräfin Anna wurde ein erneuter Versuch unternommen, die Deichlinie noch weiter seewärts angelegt und so das Wirdumer Neuland eingedeicht. Den Zuwachs beanspruchte das Grafenhaus; es entstanden dort Domänen, die an siedlungswillige Bauern verpachtet wurden. 1585 wurde auch das Osteeler Neuland eingedeicht, die letzte Einpolderung auf dem heutigen Gemeindegebiet. Durch die Eindeichung des Wirdumer Neulands verkürzten sich einzelne Wege erheblich. So war nach der Trockenlegung die Passage aus Richtung Norden/Marienhafe über Wirdum nach Emden oder um die Rest-Leybucht herum nach Greetsiel schneller möglich als zuvor. Bedeutend für die ostfriesische Kirchengeschichte war das Religionsgespräch, zu dem Gräfin Anna am 10. Mai 1552 auf Veranlassung der Emder Prediger Gellius Faber und Hermann Brassius nach Wirdum lud. Dort sollte der Streit mehrerer Norder Pastoren um die Auslegung des Abendmahls beigelegt werden. Zwei von ihnen, Wilhelm Lemsius und Johann Forstius, folgten mehr der lutherischen, während Adolph Fusipedius der reformierten Anschauung zuneigte. Alle drei kamen deshalb in Wirdum mit Faber und Brassius zusammen. Ergebnis des Gesprächs war die Formula Wirumana, die unter maßgeblicher Federführung Fabers entstand. Sie lautet: „Wir bekennen, laut der Schrifft, dass Christus, unser Herr, wahrer Gott und Mensch, bey dem Abendmahl ist, und krefftiglich da wirdet, und andeuth und gibt uns seinen wahren Leib und Blut, und kein anderes, denn dasselbe, das am Galgen des Kreutzes geopffert ist, mit allen den Gaben, die er damit verdienet hat, welche dennoch anders nicht können nützlich zur Seeligkeit empfangen und geniessen, denn durch den Glauben.“ Weiter heißt es: „Die aber mit unbußfertigen hertzen und unglauben, das würdige Sacrament geniessen und dazu gehen, die machen sich schuldig an dem Leibe und Blute des Herrn, und essen ihnen selbst das Gericht, damit dass sie nicht unterscheiden den Leib des Herrn.“ Ein dauerhafter Erfolg war ihr nicht beschieden. Ostfriesland spaltete sich in der Folge in einen reformierten Westen und einen lutherischen Osten. Unter preußischer Herrschaft (1744–1806/15) Als der letzte Fürst von Ostfriesland kinderlos starb, kam das Fürstentum durch eine Exspektanz 1744 an Preußen. Der preußische König Friedrich II. hatte aus fiskalischen Gründen großes Interesse am weiteren Landesausbau in seiner neuen Provinz. Dazu wurden neue Polder eingedeicht und nach Verabschiedung des Urbarmachungsedikts 1765 rund 80 neue Moorkolonien in Ostfriesland besiedelt. Eine davon war Rechtsupweg, wo sich seit 1771 Neusiedler aufhielten. Etwas älteren Datums ist die benachbarte Moorkolonie Leezdorf. Ein erster Siedler namens Johann Hinrichs ist schon für das Jahr 1706 bezeugt; er siedelte sich an der Leetze an, einem Wasserlauf, der aus dem Moor in Richtung Osteel floss. Es dauerte allerdings bis 1756, ehe weitere Menschen in die neue Kolonie vordrangen. Auf Geheiß Friedrichs wurde Leezdorf 1767 als Dorf anerkannt. Die Einwohnerzahl in den neuen Moorkolonien nahm in den folgenden Jahrzehnten deutlich zu. So gab es in Leezdorf im Jahre 1810 bereits 146 Bewohner. Da sich die Siedler nicht, wie es in Fehnsiedlungen der Fall war, an geplanten und eigens gegrabenen Kanälen niederließen, sondern die Besiedlung ungeplant verlief, blieben Leezdorf und auch Rechtsupweg bis ins mittlere/späte 20. Jahrhundert hinein ausgeprägte Streusiedlungen. Erst spät nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden Dorfmittelpunkte. Landwirtschaftliche Grundlage der Moorkolonien war die Moorbrandkultur. Dabei wurden im Sommer kleine Gräben angelegt, um ein Stückchen Moor zu entwässern. Im Herbst wurde das Moor in Schollen gehackt, die im Winter durchfroren und im darauffolgenden Frühjahr geeggt wurden. Im späten Frühjahr zündeten die Kolonisten die derart bearbeiteten Moorflächen an und legten Samen von zumeist Buchweizen, einem Knöterichgewächs, in die Asche. Buchweizen wächst sehr schnell, konnte bereits nach wenigen Wochen geerntet werden und wurde im Anschluss daran verarbeitet. Angebaut wurden auch Kartoffeln, Roggen und Hafer. Der Moorboden war durch diese Form der Bearbeitung allerdings nach einigen Jahren ausgelaugt, so dass die Erträge sanken. Leezdorf und Rechtsupweg teilten daher das Schicksal vieler weiterer ostfriesischer Moorkolonien jener Tage: Die Dörfer verarmten, wie es im benachbarten Südbrookmerland auch in Moordorf geschah. Der Marktflecken Marienhafe war in der Mitte des 18. Jahrhunderts der wirtschaftliche Mittelpunkt des nördlichen Brookmerlands. Darauf weist eine Statistik der Berufsgruppen aus dem Jahr 1769 hin. Demnach wurden im Flecken „lediglich drei Landwirte und 14 Tagelöhner, aber elf Weber, zehn Schuster, acht Schneider, sechs Zimmerleute, fünf Bäcker, fünf Kaufleute, drei Böttcher, zwei Drechsler, zwei Schmiede und jeweils ein Sattler, Grützemacher, Rossmüller, Krüger, Brauer, Fuhrmann, Glasmacher, Rademacher“ verzeichnet, darüber hinaus ein Chirurg, der gleichzeitig der Vogt des Fleckens war. Hannoversche Zeit und Kaiserreich (1815–1918) Marienhafe zählte um 1820 insgesamt 408 Einwohner, Siegelsum 192, die Moorkolonie Neu-Siegelsum 85, Tjüche 118, Upgant und Schott zusammen 795, Wirdum 613 und Rechtsupweg 297. Besonders in den Poldergegenden im östlichen und südlichen Teil des Brookmerlands gab es darüber hinaus viele Höfe, so zählte Wirdumer Neuland um jene Zeit 83 Einwohner. Das heutige Samtgemeindegebiet war in hannoverscher Zeit auf drei Ämter aufgeteilt: Während Wirdum und Umgebung zum Greetsieler und Osteel zum Norder Amt gehörten, gehörte der restliche Teil des Gebiets zum Amt Aurich. In den 1840er-Jahren begann in Ostfriesland der Bau steinerner Chausseen. Das Brookmerland wurde 1848 an dieses Straßennetz angeschlossen, als die Chaussee aus Richtung Aurich und Emden über Georgsheil in Richtung Norden fertiggestellt war. Sie war der Vorläufer der Bundesstraße 72. Während Marienhafe im 19. Jahrhundert seinen Charakter als Versorgungsort für das Umland behielt, waren die umliegenden Dörfer weiterhin deutlich von der Landwirtschaft geprägt. Dies galt sowohl für die Moorkolonien als auch für den alten Geestort Osteel: 1867 kamen auf 1306 Einwohner 285 Pferde, 974 Stück Rindvieh und 770 Schafe. Eine Familie hatte durchschnittlich drei Kühe, zwei Schafe und ein Pferd. In den Moorkolonien waren die wirtschaftlichen Verhältnisse deutlich bescheidener: Im selben Jahr verzeichnete Leezdorf 500 Einwohner mit 50 Pferden, 199 Stück Rindvieh und 209 Schafe. Auf zwei Familien kam nicht einmal ein Pferd, eine Familie hatte durchschnittlich nicht einmal zwei Kühe oder Schafe. Im Jahr 1869 wurde der Ort Leezdorf auf Wunsch der Einwohner von der Muttergemeinde Osteel abgetrennt und bildet seither eine eigenständige Gemeinde. Als die preußische Regierung 1885 die alte Ämterstruktur zugunsten von Landkreisen abschaffte, wurde das Brookmerland dem Landkreis Norden zugeschlagen. Der Bau der Küstenbahn 1883 bedeutete den Eisenbahnanschluss. Haltestellen wurden in Marienhafe und Osteel angelegt. Erst 1892 gab es von Marienhafe aus eine Straßenverbindung über Rechtsupweg in Richtung Moorhusen. Der Moorthunweg, die Verbindung von Osteel nach Leezdorf, wurde 1907/08 als Landstraße ausgebaut. Damit erhielt die Moorkolonie mehr als 100 Jahre nach ihrer Gründung und 60 Jahre später als Marienhafe, Osteel und Upgant-Schott ebenfalls eine gepflasterte Straße. Andere Wege im Ort wie in Rechtsupweg blieben noch jahrzehntelang unbefestigt. Weimarer Republik und Nationalsozialismus Die Sozialdemokraten spielten in den Anfangsjahren der Weimarer Republik in den einzelnen Ortschaften eine wichtige Rolle. Spätestens seit 1928 liefen ihnen allerdings, wie in vielen anderen Gemeinden Ostfrieslands, die Nationalsozialisten den Rang ab. Wie im gesamten Nordwesten Niedersachsens erhielt in der Weimarer Republik die Landvolkbewegung Auftrieb, nachdem sich 1927 eine Missernte ereignet und die Bauern zusehends in Existenznöte gebracht hatte. Durch die Konzentration auf Mengen statt auf Qualität waren die Probleme jedoch zum Teil auch hausgemacht. Wie auch in anderen Landesteilen flatterte die schwarze Fahne, Symbol der Schwarzen Schar des Florian Geyer im Bauernkrieg, als Zeichen des Protests. Die Nationalsozialisten mit ihrer Blut-und-Boden-Ideologie sahen sich als ideale Sachwalter der Nöte der Landwirte und fanden in vielen Gemeinden entsprechenden Zulauf. In Leezdorf votierten im März 1933 drei Viertel der Einwohner für die NSDAP. Anders sah es hingegen im Marschendorf Wirdum mit einem hohen Anteil an Landarbeitern aus, die traditionell die linken Parteien SPD und KPD wählten: Hier errangen die Sozialdemokraten allein bei der Reichstagswahl 1928 die absolute Mehrheit der Stimmen, und noch bei der Reichstagswahl im März 1933 kamen SPD und KPD zusammen auf exakt das gleiche Stimmergebnis wie die extrem rechten Parteien NSDAP und DNVP zusammen: jeweils 48,5 Prozent. Die Bauern im Samtgemeindegebiet wurden im Reichsnährstand gleichgeschaltet. Die Verabschiedung des Reichserbhofgesetzes stieß bei vielen Bauern auf Proteste, da sie sich in ihrer wirtschaftlichen Entscheidungsfreiheit beschränkt sahen. In den Moorkolonien wie Leezdorf und Rechtsupweg kam hinzu, dass die landwirtschaftlichen Grundstücke oft zu klein waren, um eine Vollbauernstelle darzustellen. Das Verbot, Erbhöfe zu veräußern, traf somit diejenigen Betriebe an der unteren Größenbegrenzung eines Erbhofes von 7,5 Hektar ganz besonders. Obwohl es viele richterliche Urteile zugunsten der klagenden Kleinbauern gab, blieb der Anteil der Erbhofbauern in der Region dennoch über dem Reichsdurchschnitt. Juden hatten sich in den vergangenen Jahrhunderten im Flecken Marienhafe niedergelassen, wo sie als Gewerbetreibende ausreichende Verdienstmöglichkeiten fanden. 1925 betrug ihr Anteil an der Bevölkerung vier Prozent. Noch bei der Kommunalwahl im März 1933 hatte es ein jüdischer Bürger mit der Liste Schönthal geschafft, in den Gemeinderat gewählt zu werden. Er wurde nach Protesten allerdings zum Rücktritt gezwungen. Nach der Machtergreifung sahen sich Juden auch in Marienhafe Verfolgungen ausgesetzt und mussten ihre Betriebe verkaufen. Sie kamen alle während der NS-Zeit in Konzentrationslagern um oder starben auf der Flucht. Im Zweiten Weltkrieg errichtete die Organisation Todt bei Osterupgant ein Ausweichlager für ausgebombte Familien aus Emden. Das Lager hatte etwas Komfort; die Baracken verfügten unter anderem über eigene Gemüsegärten zur Selbstverpflegung. Während des Krieges wurde das Gebiet nur wenig von Kriegshandlungen betroffen. Leezdorf wurde durch einige Bombenabwürfe getroffen. Im Dezember 1941 stürzten dort zwei Flugzeuge ab. In den einzelnen Orten gab es mehrere Kriegsgefangenenlager, deren Insassen nahezu komplett in der Landwirtschaft eingesetzt wurden. Noch kurz vor Kriegsende wurden im Raum Marienhafe Panzersperren errichtet. Die Einwohner erreichten jedoch mit Protesten, dass sie wieder abgerissen wurden und der Ort Anfang Mai 1945 kampflos an die heranrückenden alliierten Truppen (Kanadier und Polen) übergeben werden konnte. Nach Kriegsende diente ganz Ostfriesland nördlich des Ems-Jade-Kanals, also auch das Brookmerland, als Internierungsgebiet für deutsche Soldaten. Allein in Leezdorf waren kurzfristig etwa 1700 Soldaten interniert, die dort in Zelten und auf Höfen untergebracht waren. Gegen Ende 1945 wurden die meisten von ihnen entlassen. Nachkriegszeit In den Jahren nach 1945 nahmen die Orte des heutigen Samtgemeindegebietes Flüchtlinge aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches auf. Die Zahl schwankte stark: In der Moorkolonie Leezdorf mit ihren ohnehin sehr beengten Wohnverhältnissen waren es 1946 lediglich 9,2 und 1950 7,5 Prozent. In der anderen Moorkolonie Rechtsupweg lagen die Zahlen mit 6,8 Prozent (1946) und 8,1 Prozent (1950) ebenfalls sehr niedrig. Im Flecken Marienhafe hingegen waren es 25,7 und 27,2 Prozent. Der Marschenort Wirdum, in einem landwirtschaftlich sehr produktiven Gebiet gelegen, verzeichnete 1946 einen Flüchtlingsanteil von 22,2 und vier Jahre später von 22,8 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Die zunehmende Mechanisierung in der Landwirtschaft führte in den folgenden Jahrzehnten dazu, dass immer mehr Menschen Arbeit in anderen Branchen suchten, was im industrie- und gewerbearmen Brookmerland zumeist Pendeln bedeutete. In Leezdorf waren beispielsweise noch 1950 68 Prozent aller Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig, nur drei Prozent pendelten zu einem Arbeitsplatz außerhalb des Ortes. Zehn Jahre später wurden bereits mehr Auspendler als Beschäftigte in der Landwirtschaft gezählt (47 zu 42 Prozent). Ziel der Auspendler war neben der Kreisstadt Norden auch Emden: Die damalige Großwerft Nordseewerke zog viele Arbeitskräfte aus dem Umland an, seit 1964 auch das Volkswagenwerk Emden, das noch heute eine große Bedeutung als Arbeitgeber für das Brookmerland hat. Bezeichnenderweise führten noch vor der Eröffnung anderer Linien die ersten regelmäßigen Buslinien von Leezdorf als Werksverkehr nach Emden. Die Samtgemeinde Brookmerland wurde am 1. August 1969 gegründet und bestand zunächst aus sieben Mitgliedsgemeinden. 1971 stieß als achte Wirdum hinzu. Um den Status als Samtgemeinde aufrechterhalten zu können, wurde es notwendig, dass die beiden Kleinst-Gemeinden Tjüche und Siegelsum sich größeren Gemeinden anschlossen. Tjüche kam 1972 zu Marienhafe, Siegelsum im selben Jahr zu Upgant-Schott. Seither besteht die Samtgemeinde Brookmerland aus sechs Mitgliedsgemeinden. Gemeinsam mit den anderen Kommunen des Landkreises Norden kam das Brookmerland im Zuge der Kreisreform in Niedersachsen 1977 zum Landkreis Aurich. Seit den 1950er- und 1960er-Jahren wurde die Infrastruktur der Ortschaften stark ausgebaut. Wege wurden asphaltiert und verbreitert, weite Teile des Samtgemeindegebiets nach und nach an die Kanalisation angeschlossen. Die Bundesstraße (damals B 70, heute nach Umbenennung B 72) erhielt 1978 eine Ortsumgehung, die auf einem Damm um Marienhafe herumgeführt wird. Dadurch wurde der bis dahin stark vom Durchgangsverkehr in Richtung Küste betroffene Ortskern entlastet. Ausgebaut wurde in den vergangenen Jahrzehnten auch die Infrastruktur im kulturellen und sportlichen Bereich. Die Samtgemeinde hat darüber hinaus den Tourismus als zusätzliches Standbein entdeckt, was 2006 in der Ernennung Marienhafes zum Staatlich anerkannten Erholungsort gipfelte. Entwicklung des Gemeindenamens Das Gebiet der Gemeinde liegt auf einem Teil der historischen Region Brookmerland, deren Bezeichnung von dem altfriesischen bzw. altniederdeutschen Wort brōk stammt, das für eine moorige Bruchlandschaft steht, die früher kaum besiedelt war. Diese zog sich vom Westrand des Ostfriesischen Geestrückens von der Ley (Norder Tief) bis zur Flumm (Fehntjer Tief) hin und war von einer Reihe von flachen Binnenseen, vom Großen Meer bis zum Sandwater, durchsetzt. Dazu kommt ein zu mer verschliffenes mann mit dem Herkunftsanhängsel er. Brookmerland bedeutet also nichts anderes als „Land der Mannen aus dem Moor“. Politik Ostfriesland ist in seiner Gesamtheit eine traditionelle Hochburg der SPD. Innerhalb dieser Region gehört der Altkreis Norden, zu dem auch das Brookmerland gehört, neben Emden zu den Landstrichen, in denen die Sozialdemokratie seit mehreren Jahrzehnten am deutlichsten verwurzelt ist. Besonders für die Marschgebiete gilt dies bereits seit der Weimarer Republik, teils auch schon länger. Bereits bei der Bundestagswahl 1949 erreichte die SPD in sieben der damals acht Gemeinden des Samtgemeindegebiets die Mehrheit, lediglich in Siegelsum lag die rechtsgerichtete Deutsche Partei vorne. In Rechtsupweg, Upgant-Schott und Osteel errangen die Sozialdemokraten zwischen 40 und 50 Prozent, in Leezdorf, Marienhafe, Tjüche und Wirdum zwischen 30 und 40 Prozent der Stimmen. Die CDU, die in Ostfriesland erst spät organisatorisch Fuß fasste, lag lediglich in Osteel und Tjüche zwischen zehn und zwanzig Prozent und kam in allen anderen Gemeinden nicht über zehn Prozent hinaus. Bei der Bundestagswahl 1953 errang sie immerhin im vom Handel geprägten Hauptort Marienhafe die relative Mehrheit, in allen anderen Gemeinden erhielt die SPD die relative oder sogar absolute Mehrheit der Stimmen. In den folgenden anderthalb Jahrzehnten konnte die CDU zwar aufholen, jedoch nie mit der SPD gleichziehen. Bei der Bundestagswahl 1969 erreichten die Christdemokraten in Leezdorf, Marienhafe und Siegelsum eine absolute Mehrheit, in den anderen Ortsteilen dominierte weiterhin die SPD. Bei der „Willy-Brandt-Wahl“ 1972 errangen die Sozialdemokraten ihr bis dahin bestes Ergebnis und holten in Marienhafe die relative, in allen anderen Ortsteilen die absolute Mehrheit der Stimmen, wobei die Mehrheit mit Ausnahme von Siegelsum in den übrigen Ortsteilen bei mehr als 60 Prozent der Stimmen lag. Wie bei den Bundestagswahlen stellte die SPD in den Landtagswahlkreisen, zu denen das Brookmerland jeweils gehörte, stets den direkt gewählten Abgeordneten. Auch auf Landkreisebene und auf kommunaler Ebene ist das Brookmerland für gewöhnlich eine Hochburg der SPD. Lediglich in einzelnen Gemeinderäten in den Mitgliedsgemeinden ist sie weniger dominant vertreten, auf Samtgemeindeebene erreichte sie auch bei der jüngsten Kommunalwahl im September 2011 wieder die absolute Mehrheit der Stimmen. Zurückzuführen ist dies nicht zuletzt auf einen hohen Anteil von Auspendlern im Brookmerland, die als Arbeiter im Emder Volkswagenwerk beschäftigt und in hohem Maße gewerkschaftlich organisiert sind. Dies bemerkte bereits T. Schmidt in seiner Untersuchung über das Wahlverhalten bei Bundestagswahlen bis 1972. Im Jahr 2009 begann im Brookmerland eine Debatte über die Zusammenführung der sechs Mitgliedsgemeinden der Samtgemeinde zu einer Einheitsgemeinde. Samtgemeinderat Der Rat der Samtgemeinde Brookmerland besteht aus 30 Ratsfrauen und Ratsherren. Hinzu kommt als stimmberechtigtes Mitglied kraft Amtes der Samtgemeindebürgermeister, derzeit Gerhard Ihmels (SPD). Im Rat sind drei Parteien und zwei Wählergemeinschaften vertreten. Die 30 Ratsmitglieder werden durch eine Kommunalwahl für jeweils fünf Jahre gewählt. Die aktuelle Amtszeit begann am 1. November 2016 und endet am 31. Oktober 2021. Die letzte Kommunalwahl vom 12. September 2021 ergab das folgende Ergebnis: Die Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl 20121lag mit 56,56 % unter dem niedersächsischen Durchschnitt von 57,1 %. Da die Samtgemeinde Brookmerland aus sechs Mitgliedsgemeinden besteht, gibt es dort keine Ortsräte wie in vielen Einheitsgemeinden. Die rein örtlichen Funktion, die die Ortsräte in Einheitsgemeinden innehaben, werden von den Mitgliedsgemeinden übernommen. Zu den Wahlergebnissen in den Mitgliedsgemeinden siehe die Artikel über die Mitgliedsgemeinden. Die Samtgemeinde verfügt über den Verwaltungsapparat, der nicht nur die im NKomVG sowie der Hauptsatzung festgelegten Aufgaben, sondern auch die Verwaltungsgeschäfte für die Mitgliedsgemeinden übernimmt. Die Mitgliedsgemeinden haben – mit Ausnahme der Gemeinde Wirdum – demzufolge keine eigene Verwaltung. Samtgemeindebürgermeister Hauptamtlicher Samtgemeindebürgermeister der Samtgemeinde Brookmerland ist Gerhard Ihmels (SPD). Bei der Samtgemeindebürgermeisterwahl 2021 musste er in einer Stichwahl noch einmal gegen die Einzelbewerberin Ida Bienhoff-Topp antreten, die er für sich entschied. Bei der Samtgemeindebürgermeisterwahl am 25. Mai 2014 kandidierte der bisherige Amtsinhaber Ihmels ohne Gegenkandidaten erneut und wurde mit 84,03 % der Stimmen wiedergewählt. Die Wahlbeteiligung lag bei 42,65 %. Ihmels trat seine weitere Amtszeit am 1. November 2014 an. Im Mai 2021 kündigte Ihmels an, sich bei den turnusmäßigen Wahlen im September des gleichen Jahres erneut dem Votum der Einwohnerschaft zu stellen und für eine weitere Amtszeit kandidieren zu wollen. Im ersten Wahlgang konnte sich keiner der Kandidaten mit der erforderlichen Mehrheit durchsetzen. Den zweiten Wahlgang entschied Ihmels für sich. Vertreter in Landtag und Bundestag Im Niedersächsischen Landtag (Legislaturperiode bis 2027) sind zwei Abgeordnete aus dem Wahlkreis 86 Aurich (Aurich, Südbrookmerland, Ihlow, Großefehn, Brookmerland, Großheide) vertreten. Bei der letzten Landtagswahl in Niedersachsen vom 9. Oktober 2022 gewann der Auricher Sozialdemokrat Wiard Siebels das Direktmandat mit 44,7 % der Stimmen. Über die Landesliste der CDU zog Saskia Buschmann in den Landtag ein. Das Brookmerland zählt zum Bundestagswahlkreis Aurich – Emden. Dieser umfasst die Stadt Emden und den Landkreis Aurich. Bei der Bundestagswahl 2021 wurde der Sozialdemokrat Johann Saathoff direkt wiedergewählt. Über Listenplätze der Parteien zog kein Kandidat der Parteien aus dem Wahlkreis in den Bundestag ein. Die Brookmerländer stimmten bei den Erststimmen mit absoluter Mehrheit für Saathoff und bei den Zweitstimmen mehrheitlich für die SPD. Wappen Partnerschaften Partnerstadt der Gemeinde ist Melksham, eine kleine Handelsstadt in England (23.000 Einwohner) an den Ufern des River Avon im Westen von Wiltshire. Religion Das Brookmerland ist überwiegend lutherisch geprägt, befindet sich aber am Übergang zur deutlich reformiert geprägten Krummhörn. Die fünf lutherischen Kirchen in Marienhafe, Osteel, Leezdorf, Rechtsupweg und Siegelsum gehören seit 2013 zum Kirchenkreis Norden (vorher: Kirchenkreis Emden). Die Kirchengemeinde in Wirdum hingegen ist reformiert. Daneben gibt es in Marienhafe seit 1929 und in Leezdorf seit 1934 noch eine Neuapostolische Gemeinde. Deren Kirchen wurden 1994 bzw. 1980 geweiht. Kultur und Sehenswürdigkeiten Kirchen und Orgeln Von den vier historischen Kirchen in Brookmerland ist die St.-Marien-Kirche die älteste und bedeutendste. Die ehemalige Sendkirche wurde Mitte des 13. Jahrhunderts im Stil der französischen Frühgotik errichtet und war bis zu ihrem Teilabriss im Jahr 1829 die größte Kirche im Küstengebiet der Nordsee. Der Turm mit seinen kleinen rundbogigen Blendnischen und Schallarkaden diente als Seezeichen und wurde nach Klaus Störtebeker benannt, der hier Ende des 14. Jahrhunderts Unterschlupf fand. Von der ehemaligen dreischiffigen basilikalen Anlage mit Querschiff und sechsgeschossigem Turm blieben als Torso das verkürzte und erniedrigte Hauptschiff und der Turm mit vier Geschossen erhalten. Die auf diese Weise geschaffene rechteckige Einraumkirche wird statt der ursprünglichen Gewölbe heute mit einer hölzernen Voutendecke abgeschlossen. Einst schmückten eine reiche bildhauerische Bauplastik mit Fabelwesen und Ungeheuern in 48 Nischen Chor und Querschiff und 200 Sandsteinreliefs die Traufe rund um die Kirche, deren Überreste im Turmmuseum aufbewahrt werden. Die Langseiten werden in drei Felder gegliedert, in die je zwei spitzbogige Fenster eingearbeitet sind, während die Ostmauer durch Blendfenster verziert wird. Im Inneren finden sich stark profilierte Wandpfeiler und oberhalb der Fenster ein Obergaden. Zur Innenausstattung gehören das romanische Taufbecken aus Bentheimer Sandstein (Beginn des 13. Jh.) und die Barockkanzel aus der Cröpelin-Werkstatt (1669). Die barocke Orgel von Gerhard von Holy (1710–1713) ist ein Kulturdenkmal von europäischer Bedeutung. Das zweimanualige Werk verfügt über 20 Register und ist weitgehend erhalten. Die Warnfried-Kirche in Osteel stammt ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert, orientierte sich architektonisch an der Marienhafer Kirche und teilte auch deren Schicksal: Von der ursprünglichen Kreuzkirche mit Querschiff und Chor blieb nach einem Teilabbruch im Jahr 1830 nur das verkürzte Langschiff; der sechsgeschossige Turm wurde auf die Hälfte abgetragen. Wie auch in Marienhafe befand sich in den zweischaligen Mauern ursprünglich ein Laufgang, während außen in 47 Nischen Statuen angebracht waren. Wertvollstes Ausstattungsstück ist die Renaissance-Orgel aus dem Jahr 1619, für die Edo Evers Teile des alten Gehäuses und einige Register verwendete, die aus seinem Neubau der Norder Orgel übrig geblieben waren. Das Instrument von europäischem Rang ist die zweitälteste Orgel in Ostfriesland. Die 13 Register sind nahezu vollständig original erhalten. Aus dem Jahr 1699 datiert die Kanzel von Egbert Harmens Smit, über der ein Schalldeckel mit hohem Aufbau und reich geranktem Schnitzwerk angebracht ist. Eine Grabplatte um 1700 erinnert an das Wirken des Pastors und Astronomen David Fabricius. Aus dieser Zeit stammen auch weitere Ausstattungsgegenstände wie das Gestühl, der Altartisch und die südlichen Priechen. Die Wirdumer Kirche wurde um 1300 von Mönchen als Filialkirche des Klosters Aland erbaut. Über rechteckigem Grundriss erhebt sich der schlichte romanische Einraum-Saal. Die spitzbogigen Fenster in der Ostseite sind original, während an den Langseiten neue Fenster eingebrochen und die ursprünglichen Portale vermauert wurden. Im frei stehenden Glockenturm hängt eine Bronzeglocke aus dem Jahr 1581. Der Innenraum wurde im 18. Jahrhundert eingreifend umgestaltet: eine hölzerne Voutendecke eingezogen, die Westempore eingebaut und im Osten der Lettner errichtet, auf dem die Orgel ihren Platz gefunden hat. Johann Reil aus dem niederländischen Heede schuf das Instrument im Jahr 1969 mit zehn Registern. Der Innenraum wird durch die Kanzel von Hinrich Cröpelin aus dem Jahr 1699 dominiert. Der mächtige Schalldeckel ist mit Rankenwerk und der Kanzelkorb mit gedrehten Säulen, geflügelten Engelköpfen und geschnitzten Blumengehängen reich geschmückt. Eine Besonderheit stellt der Laufgang dar, der wie die gesamte Kanzel mit geschnitzten und in Gold gefassten Spruchbändern versehen ist. Die Siegelsumer Kirche wurde im Jahr 1822 neu errichtet, nachdem der Vorgängerbau aus dem 13. Jahrhundert im Dreißigjährigen Krieg Schaden genommen hatte und immer baufälliger geworden war. Die kleine Saalkirche wird an den Langseiten durch einen Pilaster in zwei Felder gegliedert und durch ein Satteldach abgeschlossen. Im 15. Jahrhundert entstand der mächtige Westturm mit seinem spätgotischen Kielbogenportal. Er dient zugleich als Glockenstuhl und als Eingang in den schlicht gestalteten Innenraum. Ältester Einrichtungsgegenstand ist die Renaissance-Kanzel von 1613. Der Bildhauer Ockels aus Leer gestaltete im Jahr 1887/88 den Altar mit einer Kreuzigungsszene. Im Jahr 1845 schuf Arnold Rohlfs eine kleine seitenspielige Brüstungsorgel mit sechs Registern, die weitgehend erhalten ist. Pfeifenattrappen im seitlichen Rankenwerk lassen das Instrument größer erscheinen. Profanbauwerke In Upgant-Schott befindet sich die Ulferts Börg, ein Steinhaus innerhalb einer weiträumigen, von einer Graft umgebenen Hofanlage an der Osterupganter Straße. Der älteste Teil ist ein zweigeschossiger Backsteinbau mit gewölbtem Keller aus dem 15. Jahrhundert, ergänzt um einen barocken Verbindungsflügel aus dem 18. Jahrhundert zum heutigen Haupthaus. Auf das Jahr 1597 datiert ist der älteste Teil der Haneburg, ebenfalls Teil einer großen Hofanlage in Upgant-Schott. Beim Bismarckhof in Wirdum steht ein altes Steinhaus, das einst Wohnteil eines Bauernhofes war. Mit Hilfe der Dendrochronologie wurde es auf das Jahr 1517 datiert. Es verfügt über einen gotischen Staffelgiebel, eine Spitzbogenblende über dem Kreuzstockfenster und gemauerte Zierbänder. Nahe Wirdum befinden sich zwei Warften, die die Reste der untergegangenen Beningaburg beherbergen. Neben der Marienhafer Kirche und dem Friedhof gehören auch zwei angrenzende historische Häuser (Haus Dieker und Haus Weerts) zu einer denkmalgeschützten Gruppe im Ortskern. Eine weitere denkmalgeschützte Gebäudegruppe bilden die Mühle mit Magazinbauten sowie das Müllerhaus im Süden Marienhafes. Geprägt wird der Marienhafer Ortskern darüber hinaus von zwei weiteren historischen Bauten, die beide als Hotel dienen: den Häusern „Zur Waage“ und „Zur Post“. Die Leezdorfer Mühle, ein 1896–1897 erbauter Galerieholländer, steht zusammen mit dem daneben befindlichen Müllerhaus unter Denkmalschutz. Darüber hinaus sind in Leezdorf drei Landarbeiterhäuschen und ein Gulfhof denkmalgeschützt. Ein weiterer Galerieholländer befindet sich in Marienhafe. Eine technische Besonderheit ist die Doppelkolbenwasserpumpmühle aus dem Jahr 1872, die vor dem Hof Dreenhusen in Wirdum steht. Sie ist lediglich sieben Meter hoch und diente bis 1919 zur Entwässerung des tief liegenden Gebietes und später zum Füllen einer Viehtränke. 1919 stillgelegt, wurde sie von 1986 bis 1988 restauriert und ist heute, als einzige ihrer Art in Deutschland, wieder funktionstüchtig. Insbesondere rund um Wirdum, aber auch westlich von Osteel, finden sich große Gulfhöfe. Regelmäßige Veranstaltungen Alle drei Jahre im Sommer finden in Marienhafe für dreieinhalb Wochen die Störtebeker-Freilichtspiele in plattdeutscher Sprache statt. Hierbei wird der Marktplatz für mehrere Wochen mit mittelalterlichen Kulissen dekoriert, Sitztribünen für die Zuschauer und eine Bühne für die Akteure eigens aufgebaut. Die Spiele werden von der Arbeitsgemeinschaft Ostfriesisches Volkstheater e. V. geleitet. Die inhaltlichen Handlungen verändern sich mit jedem neuen Spieljahr. Ein weiterer Höhepunkt im Gemeindeleben ist das alljährliche Störtebeker-Straßenfest. Dieses findet in jedem Jahr am ersten Sonnabend des Monats Juni auf der Einkaufsstraße und rund um den Marktplatz in Marienhafe statt. Daran nehmen zahlreiche ortsansässige Vereine teil. Abends gibt es ein Musikprogramm mit mehreren Live-Bands. Seit 2007 führt der Pilgerweg „Schola Dei“ vom ehemaligen Zisterzienserkloster Ihlow über Marienhafe nach Norden. Mehrmals im Jahr finden geführte Pilgerfahrten statt, teils auch nachts oder mit dem Fahrrad. Sprache Im Brookmerland wird Ostfriesisches Platt gesprochen. Die Sprache ist unter den Erwachsenen durchaus weit verbreitet und findet auch bei offiziellen Geschäften wie Amtsgängen Anwendung. Die Gemeindeverwaltung unterstützt den Gebrauch des Plattdeutschen durch die Aktion „Plattdütsk bi d' Arbeid“. Sport Neben Sportplätzen und Turnhallen an den Schulen verfügt die Samtgemeinde auch über ein Hallenbad und eine Tennisanlage. In Wirdum verfügt die Gemeinde über einen Sportboothafen mit 24 Liegeplätzen, der an das ostfriesische Wasserstraßennetz angeschlossen ist und in erster Linie von den Mitgliedern des Wirdumer Wassersportvereins „Baalk 8“ genutzt wird. Im Industriegebiet an der Bundesstraße in Upgant-Schott befindet sich eine Kartbahn. Eine regelmäßig stattfindende Sport-Großveranstaltung sind die Brookmerland-Meisterschaften für Hobby-Handballer. An ihr nehmen teils mehr als 1000 Sportler teil, die nicht allein aus dem Brookmerland, sondern auch aus dem weiteren Umkreis anreisen. Wirtschaft und Infrastruktur Die Samtgemeinde Brookmerland verfügt kaum über Industriebetriebe. Tourismus und Landwirtschaft sind von Bedeutung, darüber hinaus dient der Flecken Marienhafe als Einkaufsort für die umliegenden Ortschaften. Dort sind eine Vielzahl von Einzelhandelsgeschäften zu finden. In der Gemeinde Upgant-Schott befinden sich die beiden Gewerbegebiete der Samtgemeinde. Im Ortsteil Osterupgant sind vornehmlich großflächigere Handelsbetriebe vertreten, während in einem Gewerbegebiet an der B 72 auch einzelne größere Handwerksbetriebe sowie (wenige) produzierende Unternehmen ansässig sind. Das Brookmerland ist eine Auspendler-Gemeinde. 3742 Einwohner sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt, in der Samtgemeinde gibt es 1078 sozialversicherungspflichtige Arbeitsstellen. 873 Einpendlern aus anderen Kommunen stehen 3537 Auspendler in andere Kommunen gegenüber, was ein negatives Pendlersaldo von 2664 ergibt (Stand: 2007). Eine besondere Stellung innerhalb der Samtgemeinde hat dabei Marienhafe: Alle ländlichen Gemeinden auf dem Festland des Landkreises Aurich haben ein negatives Pendlersaldo. Unter ihnen hat der Flecken jedoch das beste relative Verhältnis zwischen Auspendlern und Einpendlern. Alle anderen fünf Mitgliedsgemeinden der Samtgemeinde haben hingegen einen sehr deutlichen Auspendler-Überschuss. Separate Arbeitsmarktdaten für das Brookmerland werden nicht erhoben. Die Samtgemeinde gehört zur Geschäftsstelle Norden innerhalb des Bezirks Emden-Leer der Bundesagentur für Arbeit. Im Geschäftsbereich Norden lag die Arbeitslosenquote im Dezember 2015 bei 9,8 Prozent. Sie lag damit 3,9 Prozentpunkte über dem niedersächsischen Durchschnitt. Zwei Prozent der abhängig Beschäftigten sind im Landwirtschaftssektor tätig. Die Zahl der insgesamt in der Landwirtschaft tätigen Personen ist jedoch ungleich höher, da die zumeist selbstständigen Landwirte sowie deren mithelfende Familienangehörige in dieser Statistik nicht auftauchen. Im produzierenden Gewerbe finden 20 Prozent, in Handel, Gastgewerbe und Verkehr 33 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ihr Auskommen. In anderen Dienstleistungsberufen sind 45 Prozent der Beschäftigten tätig (Stand: 2014). Landwirtschaft Die Landwirtschaft in der Samtgemeinde ist wesentlich von der Milchwirtschaft geprägt. Neben Grünland finden sich auch Anbauflächen für Futterpflanzen wie Mais. Der Landkreis Aurich lag 2021 auf Platz 14 der größten Milcherzeuger-Landkreise in Deutschland, wozu das Brookmerland zu einem gewissen Grad beiträgt, jedoch weniger als deutlich flächengrößere Kommunen des Landkreises. Innerhalb der Samtgemeinde sind es vor allem die Gemeinden Osteel, Upgant-Schott und Wirdum, die aufgrund ihrer im Samtgemeinde-Vergleich großen Fläche bei zugleich hohem Grünland-Anteil am meisten zur Produktion von Milch beitragen. Energie Landwirtschaftliche Flächen werden auch zur Gewinnung von regenerativ erzeugter Energie genutzt, darunter durch Windkraftanlagen und seit kurzem auch durch Photovoltaikanlagen. Im Juli 2010 wurde eine 3,2 Hektar große Photovoltaikanlage in Osteel in Betrieb genommen. Verkehr Die Samtgemeinde wird in nordwestlich-südöstlicher Richtung von der Bundesstraße 72 durchzogen. Im Bereich Marienhafe wird sie seit den 1970er-Jahren auf einem Damm am Ortskern vorbeigeführt. Diese Bundesstraße verbindet das Brookmerland mit der Nachbarstadt Norden einerseits und mit der Kreisstadt Aurich andererseits. In Georgsheil in der Nachbargemeinde Südbrookmerland besteht ein Anschluss an die Bundesstraße 210, wodurch das Samtgemeindegebiet mit der Stadt Emden und damit mit der Bundesautobahn 31 verbunden wird. Im Westen wird das Gebiet der Samtgemeinde auf einem kurzen Abschnitt von der Landesstraße 4 (Norden-Pewsum) durchzogen. Dort wird die Verbindung in die Krummhörn sichergestellt. Von der L 4 bei Grimersum zweigt die L 26 ab, die über Wirdum nach Upgant-Schott führt und dort in die B 72 einmündet. Die weiteren Hauptverkehrsstraßen im Gemeindegebiet sind allesamt Kreisstraßen und Gemeindestraßen. Das Brookmerland verfügt als einzige ausschließlich ländliche Gemeinde (also ohne Stadtrechte) im Landkreis Aurich über einen noch im Betrieb befindlichen Fernbahnhof. In Marienhafe halten Züge auf der Regionalexpress-Relation Norddeich-Hannover. Diese Vertaktung ist zweistündlich. Da die Bahnstrecke zwischen Emden und Norden eingleisig ist, kommt es im Marienhafer Bahnhof öfter zum Begegnungsverkehr. Bis 1978 gab es darüber hinaus auch einen Bahnhof in Osteel, dieser wurde in jenem Jahr aber stillgelegt. Die nächstgelegenen Bahnhöfe mit InterCity-Anschluss sind diejenigen in Norden und Emden. Die Wasserwege der Gemeinde hatten in früheren Jahrhunderten und teils bis ins 20. Jahrhundert hinein für die Versorgung der Dörfer noch wirtschaftliche Bedeutung. Inzwischen dienen sie neben der Entwässerung nur noch dem Ausflugsverkehr. Die nächstgelegenen Flugplätze sind diejenigen in Emden und Norddeich, wobei der Norddeicher Flugplatz lediglich den Inselflugverkehr und Rundflüge anbietet. Der nächstgelegene internationale Verkehrsflughafen mit Linienbetrieb ist derjenige in Bremen. Öffentliche Einrichtungen Neben der Gemeindeverwaltung mit ihren nachgeordneten Betrieben wie dem Bauhof ist die Polizeistation in Marienhafe zu nennen. Der Oldenburgisch-ostfriesischen Wasserverbandes (OOWV) betreibt ein Wasserwerk in Siegelsum. In dem Dorf befindet sich zudem eine von rund 1800 Messstellen des Radioaktivitätsmessnetzes des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS). Die Messstation misst die Gamma-Ortsdosisleistung (ODL) am Messort und sendet die Daten an das Messnetz. Die über 24 Stunden gemittelten Daten können direkt im Internet abgerufen werden. Medien Traditionell befindet sich die Samtgemeinde Brookmerland im Einzugsbereich der in Norden erscheinenden Tageszeitung Ostfriesischer Kurier sowie der in Leer erscheinenden Ostfriesen-Zeitung, die als einzige Tageszeitung Ostfrieslands regionsweit erscheint. Seit wenigen Jahren hat auch die Auricher Tageszeitung Ostfriesische Nachrichten ein Büro in Marienhafe. Darüber hinaus erscheint wöchentlich das Echo, ein Anzeigenblatt aus dem Hause des Ostfriesischen Kuriers, sowie zweimal wöchentlich ein Anzeigenblatt aus dem Hause der Emder Zeitung, das mittwochs als Heimatblatt und sonntags als Sonntagsblatt herausgebracht wird. Aus der Samtgemeinde berichtet zudem der Bürgerrundfunk-Sender Radio Ostfriesland. Bildung In Marienhafe befindet sich ein Standort der IGS Marienhafe-Moorhusen. Diese Schule ging aus dem Schulzentrum Brookmerland hervor, das sie von 2009 bis 2014 sukzessiv ablöste. 2015 wurde in Marienhafe eine gymnasiale Oberstufe eingerichtet; das erste Abitur wurde 2018 abgenommen. Grundschulen gibt es in den Ortsteilen Osteel, Wirdum, Leezdorf, Rechtsupweg und Upgant-Schott. Wegen zu geringer Schülerzahlen in Wirdum werden die Schüler der dortigen Grundschule in sogenannten Kombi-Klassen unterrichtet: Erst- und Zweitklässler sowie Dritt- und Viertklässler bilden jeweils eine gemeinsame Klasse. Ein Gymnasium gibt es in der Samtgemeinde nicht, die nächstgelegenen sind das Ulrichsgymnasium Norden und das Ulricianum in Aurich. Berufsbildende Schulen befinden sich in Aurich, Norden und Emden. In Emden ist darüber hinaus die nächstgelegene Fachhochschule beheimatet, die nächstgelegene Universität ist die Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Persönlichkeiten Söhne und Töchter der Samtgemeinde In den Orten der (heutigen) Samtgemeinde Brookmerland wurden unter anderem drei Wissenschaftler und vier Politiker geboren. Der Theologe und Leiter der Bibelschule Wiedenest Johannes Warns (1874–1937) kam in Osteel zur Welt, der Theologe, Missions- und Religionswissenschaftler sowie Indologe Hilko Wiardo Schomerus (1879–1945) in Marienhafe. Der Ingenieurwissenschaftler Reint de Boer (1935–2010) stammte aus Upgant-Schott. Aus Osteel stammte der Reichstagsabgeordnete (Nationalliberale Partei) Friedrich Vissering (1826–1885), aus dem Osteeler Ortsteil Schoonorth Jan Fegter (1852–1931), der für die FVP und die DDP dem Reichstag angehörte und zudem als Bauernfunktionär tätig war. Ebenfalls in der Gemarkung Osteel, in Osteeler Altendeich, kam der Reichstagsabgeordnete (DNVP) Dirk Agena (1889–1934) zur Welt. Aus Marienhafe stammte der SPD-Bundestagsabgeordnete und Landrat des Landkreises Norden Georg Peters (1908–1992). Im Bereich Sport und Unterhaltung sind der plattdeutsche Autor Gerd Constapel (* 1938 in Upgant-Schott), der Schauspieler Siemen Rühaak (* 1950 in Osteel) und der vermutlich bekannteste Sohn der Samtgemeinde, der frühere Fußballprofi und heutige Trainer Dieter Eilts (* 1964 in Upgant-Schott), zu nennen. Persönlichkeiten, die vor Ort gewirkt haben Aus Esens stammt David Fabricius (1564–1617). Er war Theologe, bedeutender Amateurastronom und Kartograf und entdeckte die Veränderlichkeit des Sternes Mira. David Fabricius war der Vater von Johann Fabricius, der im Jahre 1611 als Erster eine wissenschaftliche Abhandlung über die Sonnenflecken veröffentlichte. Fabricius senior wurde 1617 im Streit von einem Osteeler Einwohner erschlagen. Seinen Lebensabend verbrachte der in Rahester Moor geborene Musik-Journalist, Liedtexter und ostfriesische Liedermacher Hannes Flesner (1928–1984) in Leezdorf. Literatur Eine etwas ältere und kurze Gesamtdarstellung bieten Rudolf Folkerts/Jakob Raveling: Das Land um den Störtebekerturm. Geschichtliches und Bilder aus Marienhafe und dem Nordbrokmerland. Verlag SKN, Norden 1977, ohne ISBN. Mit der mittelalterlichen Siedlungsgeschichte von Osteel, Tjüche, Siegelsum und Upgant befasst sich Ekkehard Wassermann: Aufstrecksiedlungen in Ostfriesland. Ein Beitrag zur Erforschung der mittelalterlichen Moorkolonisation. (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands, Band 61; zugleich Göttinger geographische Abhandlungen, Heft 80), Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 1985. Eine etwas ältere Darstellung der Besiedlung des Raumes liefert Eberhard Rack: Siedlung und Besiedlung des Altkreises Norden, Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 1967, ohne ISBN. Die landwirtschaftliche Entwicklung und Teile der Historie Wirdums finden sich bei Jannes Ohling (Hrsg.): Die Acht und ihre sieben Siele. Kulturelle, wasser- und landwirtschaftliche Entwicklung einer ostfriesischen Küstenlandschaft. Entwässerungsverband Emden, Pewsum 1963, ohne ISBN. Daneben sind die folgenden Werke, die sich mit Ostfriesland im Allgemeinen beschäftigen, auch für die Historie und Beschreibung der Samtgemeinde insofern bedeutsam, als sie einzelne Aspekte beleuchten: Heinrich Schmidt: Politische Geschichte Ostfrieslands. Rautenberg, Leer 1975 (Ostfriesland im Schutze des Deiches, Bd. 5), ohne ISBN. Wolfgang Schwarz: Die Urgeschichte in Ostfriesland , Verlag Schuster, Leer 1995, ISBN 3-7963-0323-4. Karl-Heinz Sindowski et al.: Geologie, Böden und Besiedlung Ostfrieslands (Ostfriesland im Schutze des Deiches, Bd. 1), Deichacht Krummhörn (Hrsg.), Selbstverlag, Pewsum 1969, ohne ISBN. Menno Smid: Ostfriesische Kirchengeschichte. Selbstverlag, Pewsum 1974 (Ostfriesland im Schutze des Deiches, Bd. 6), ohne ISBN Harm Wiemann/Johannes Engelmann: Alte Wege und Straßen in Ostfriesland. Selbstverlag, Pewsum 1974 (Ostfriesland im Schutze des Deiches, Bd. 8), ohne ISBN. Weblinks Homepage der Samtgemeinde Brookmerland Einzelnachweise Brookmerland
274762
https://de.wikipedia.org/wiki/Daimonion
Daimonion
Als Daimonion ( ) wird in der antiken Literatur eine innere Stimme bezeichnet, die der Überlieferung zufolge dem Philosophen Sokrates warnende Zeichen gab, um ihn von Fehlentscheidungen abzuhalten. Sokrates hielt den Urheber dieser Zeichen für eine Gottheit, die er nicht näher bestimmte. Er folgte den stets ohne Begründung gegebenen Winken der Stimme, die sich nach seinen Angaben immer als sinnvoll und hilfreich erwiesen. Wenn das Daimonion schwieg, deutete er dies als Billigung seines Verhaltens. Da er über seine Erfahrungen mit dem inneren Ratgeber redete, war seine Beziehung zu der mysteriösen Instanz in seiner Heimatstadt Athen allgemein bekannt. Gegner warfen ihm vor, eine religiöse Neuerung einzuführen. Diese Beschuldigung trug dazu bei, dass er im Jahr 399 v. Chr. zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Glaubhafte zeitgenössische Angaben zum Daimonion liegen nur spärlich vor. Die Hauptquellen sind Schilderungen von Sokrates’ Schülern Platon und Xenophon. Das Phänomen galt schon in der Antike als rätselhaft, führte zur Legendenbildung und gab zu unterschiedlichen Erklärungen Anlass. Platoniker betrachteten den Zeichengeber als hochrangigen Daimon, als ein göttliches Geistwesen, das als persönlicher Schutzgeist des Philosophen fungierte. Christliche Autoren sahen in dem Ratgeber teils einen Schutzengel, teils einen bösartigen Dämon. In der modernen Forschung gehen die Meinungen über die Interpretation der Quellen auseinander. Ein zentrales Diskussionsthema ist die Frage, wie Sokrates seinen Anspruch, sich nur an der Vernunft zu orientieren, mit der Befolgung unbegründeter Ratschläge von unklarer Herkunft vereinbaren konnte. Wortbedeutung Das Wort Daimonion (‚Gottheit‘, ‚Dämon‘) ist die Substantivierung der Neutrumform des Adjektivs daimónios (‚göttlich‘, ‚dämonisch‘), das von dem Substantiv Daimon (griechisch δαίμων daímōn ‚göttliches Wesen‘, ‚Dämon‘) abgeleitet ist. Bei Platon kommt es nach einer verbreiteten, aber umstrittenen Forschungsmeinung als elliptischer Ausdruck vor, das heißt als Adjektiv, wobei das zugehörige Substantiv – in diesem Fall Zeichen – ausgelassen ist. Dann ist die Bedeutung das göttliche/dämonische [Zeichen]; gemeint ist die Mitteilung der inneren Stimme. Nach einer alternativen Interpretation verwendet Platon das Wort ebenso wie sein Zeitgenosse Xenophon als Substantiv mit der Bedeutung ‚das Göttliche im Allgemeinen‘, ‚eine unbestimmte Gottheit‘. Dann ist nicht das Zeichen gemeint, sondern dessen Urheber. Ein Daimon ist in der griechischen Mythologie, Volksreligion und Philosophie entweder ein Gott oder ein gottähnliches Geistwesen, das eine Mittelstellung zwischen Göttern und Menschen einnimmt. Ein solches Mittelwesen, ein „Dämon“, kann hilfreich oder feindselig sein. Es handelt sich also nicht um Dämonen im Sinne der noch heute nachwirkenden christlichen Vorstellung von der durchweg bösartigen Natur aller Dämonen. In den Quellen wird der Ausdruck Daimon insbesondere dann verwendet, wenn von einer Einwirkung aus einer übermenschlichen Sphäre die Rede ist, die nicht auf einen bestimmten namentlich bekannten Gott zurückgeführt wird, sondern auf eine unbekannte höhere Macht. Demgemäß beziehen sich auch das zugehörige Adjektiv daimonios und dessen Substantivierung auf eine nicht näher bestimmte göttliche Instanz. Diese Unbestimmtheit ist ein wichtiger Aspekt des philosophischen Wortgebrauchs bei den frühen Sokratikern, den Schülern des Sokrates. Der vage, abstrakte Ausdruck daimonion soll andeuten, dass die Zeichen der göttlichen Instanz zwar wahrgenommen werden, der Urheber selbst aber im Dunkel bleibt und daher nur allgemein als „etwas Göttliches“ beschrieben werden kann. Unklar ist dabei, ob der Zeichengeber einer der Götter der Volksreligion ist oder ein eigenständiges „dämonisches“ Geistwesen, das mit Sokrates Kontakt aufnimmt, oder eine geheimnisvolle rein innerliche Instanz, die sich nur im Geist des Sokrates betätigt. Berichte aus der Epoche der Klassik Allen Darstellungen von Zeitgenossen des Sokrates ist gemeinsam, dass das Daimonion als warnende Instanz erscheint, die von einzelnen Fehlern abhält, ohne dies zu begründen oder nähere Aufklärung zu geben. Für die Umwelt sind die Hinweise des Daimonions nicht wahrnehmbar; Sokrates ist der einzige, der die Stimme hört. Er ist immer nur der passive Empfänger von überraschenden Warnsignalen, die ihm „widerfahren“. Es kommt nie vor, dass er die Initiative ergreift, um ein Zeichen bittet oder etwas von der göttlichen Instanz zu erfahren versucht. In Platons Darstellung beziehen sich die Warnungen des Daimonions ausschließlich auf einzelne kurz bevorstehende Entscheidungen in der jeweiligen konkreten Situation, allgemeines Wissen wird nicht vermittelt. Das Ausbleiben eines warnenden Zeichens deutet Sokrates als stillschweigende Zustimmung der höheren Macht zu seiner aktuellen Absicht. Da das Daimonion keine Begründungen oder Bewertungen gibt, hat es keine Ähnlichkeit mit einem moralischen Sinn oder einer Stimme des Gewissens. Seine Winke dienen nicht nur der Vermeidung von ethisch relevanten Fehlentscheidungen, vielmehr verhindern sie generell, auch bei trivialen Anlässen, ein „unrichtiges“ Vorgehen, das erfolglos bliebe oder nachteilige Folgen hätte. Da Sokrates in seinem großen Freundes- und Bekanntenkreis von seinen Erlebnissen mit der höheren Macht zu erzählen pflegte, waren diese allgemein bekannt. In Athen wurde viel darüber gesprochen. Das Daimonion war eine der Besonderheiten, durch die Sokrates seinen Mitbürgern als merkwürdiger Außenseiter auffiel. Die zeitgenössischen Hauptquellen sind Berichte von zwei Schülern des Sokrates, Platon und Xenophon. Die wichtigsten Angaben stehen in der Apologie des Sokrates, der von Platon literarisch gestalteten Version der Verteidigungsrede, die Sokrates vor dem athenischen Volksgericht hielt, als er im Jahr 399 v. Chr. wegen Gottlosigkeit und Verführung der Jugend angeklagt war. Der Apologie zufolge lautete die Anklage, er missachte die Götter des Staatskults und führe neue daimonia – göttliche Wesen, Mächte oder Wirkungen – ein, also einen illegalen Kult. Damit war offenbar sein Daimonion gemeint. In der Verteidigungsrede erklärt Sokrates, warum er zwar Privatleuten Ratschläge erteilt, nicht aber vor der Volksversammlung als Redner und Ratgeber der Menge auftritt und mitgestaltend in die Politik eingreift. Mit Recht warne ihn das Daimonion, seine innere Stimme, vor einer solchen politischen Betätigung. Der Grund dafür ist aus seiner Sicht, dass jemand wie er, der unter keinen Umständen bereit ist, etwas Unrechtes hinzunehmen, sich sowohl in einer Demokratie als auch in einer Oligarchie den Herrschenden widersetzen muss. Mit einer solchen Haltung kann man aber nicht politisch erfolgreich sein. Wer konsequent für Gerechtigkeit eintritt, wird sogar umgebracht, wenn er sich in die Politik einmischt, und damit wäre niemandem gedient. Sokrates beschreibt das Daimonion in der Apologie als „etwas Göttliches und Daimonisches“, das ihm widerfährt. Nach seinen Worten greift die göttliche Stimme seit seiner Kindheit nur ein, um ihm von einzelnen Absichten abzuraten; Empfehlungen spricht sie niemals aus. Oft unterbricht ihn das Daimonion mitten im Reden. Bisher hat es sich häufig gemeldet, um ihn von etwas abzuhalten, und zwar immer dann, wenn er sich falsch verhalten wollte, auch bei geringen Anlässen. Sokrates spricht von einem „Zeichen des Gottes“, das ihn stets vor falschen Schritten warne, jetzt aber hinsichtlich des Prozesses und angesichts der bevorstehenden Todesstrafe schweige. Aus dem Ausbleiben der göttlichen Warnung folgert er, dass die Unbekümmertheit und Offenherzigkeit, mit der er vor Gericht auftritt und ein Todesurteil in Kauf nimmt, nichts Schlechtes sein könne, und dass es keinen Grund gebe, den Tod für ein Übel zu halten. Anderenfalls hätte das Daimonion interveniert und ihm Einhalt geboten. Auch in einigen der fiktiven, literarischen Dialoge Platons, in denen der Autor seinen Lehrer Sokrates als Gesprächspartner auftreten lässt, wird das Daimonion erwähnt. Im Euthyphron erfährt man, dass die Anklage gegen Sokrates mit der Beschuldigung, er erfinde neue Götter, begründet wurde. Dieser Vorwurf bezog sich auf die Behauptung des Philosophen, er höre die göttliche Stimme. Im Euthydemos erzählt Sokrates, dass ihn eines Tages das „gewohnte göttliche Zeichen“ gehindert habe, aufzustehen und den Umkleideraum des Lykeion-Gymnasions zu verlassen. Weil er geblieben sei, habe sich dann ein philosophisches Gespräch mit Hinzukommenden ergeben. In der Politeia spielt Sokrates beiläufig auf die Warnung des Daimonions vor politischer Betätigung an und bemerkt dazu, er wisse nicht, ob er bisher der einzige Mensch sei, der ein solches Zeichen erhalte. Im Phaidros meldet sich die Stimme, um Sokrates bei einem Spaziergang vom Aufbruch abzuhalten; der Grund ist, dass er erst sein Gewissen reinigen und eine unmittelbar zuvor begangene Verfehlung berichtigen soll. Sokrates versteht, was die Stimme meint, er ahnte es schon vorher: Er hat schlecht über den Gott Eros geredet und damit eine Verleumdung begangen. Das hat er nun zu widerrufen. Im Theaitetos kommt Sokrates auf Schüler zu sprechen, die sich von ihm getrennt haben, aber später wieder um Aufnahme gebeten haben. In manchen dieser Fälle habe ihm das Daimonion angezeigt, dass er den Bittenden abweisen solle. Auch im Ersten Alkibiades, einem Dialog, der entweder von Platon selbst verfasst wurde oder in seinem Umfeld entstand, ist vom Daimonion die Rede. Dort teilt Sokrates mit, „ein gewisses daimonisches Hindernis“ habe ihn bisher davon abgehalten, an den jungen Alkibiades heranzutreten, doch jetzt leiste es keinen Widerstand mehr. Anscheinend hat – so Sokrates – die Gottheit das Gespräch früher nicht zugelassen, da Alkibiades, der künftige berühmte Politiker und Stratege, noch zu unreif war und ein Zusammensein mit ihm daher fruchtlos geblieben wäre. Eine etwas andere Darstellung gibt Xenophon in seinen Erinnerungen an Sokrates. Nach Xenophons Wortgebrauch ist unter daimonion nicht das göttliche Zeichen zu verstehen, sondern das Göttliche schlechthin, die Gottheit im Allgemeinen als Urheber der Warnungen. Damit ist keine Sokrates persönlich zugeordnete Instanz gemeint. Teilweise bestätigt Xenophons Version die Angaben Platons; auch ihr zufolge pflegte Sokrates zu behaupten, das Daimonion gebe ihm Zeichen, was ihm seitens der Ankläger die Beschuldigung eintrug, er missachte die herkömmliche Religion und führe neuartige göttliche Wesen ein. Im Gegensatz zu Platon teilt Xenophon jedoch mit, die Zeichen des Daimonions hätten nicht nur Sokrates’ eigene Angelegenheiten betroffen, vielmehr habe es ihm auch Hinweise für seine Freunde gegeben, und es habe nicht nur von Fehlentscheidungen abgeraten, sondern auch Gutes empfohlen. Der Ausgang habe dann gezeigt, dass die Ratschläge denen, die sie befolgten, zugutegekommen seien, während andere ihre Ignorierung der göttlichen Winke später bereut hätten. Dem Vorwurf der Feinde des Philosophen, er habe eine illegitime religiöse Neuerung eingeführt, hält Xenophon entgegen, die Warnungen des Daimonions seien normale Weissagungen aus der Welt der allgemein anerkannten Götter gewesen. Eine Besonderheit von Xenophons Schilderung ist eine Einzelheit, für die er sich auf Hermogenes, einen Schüler des Sokrates, beruft. Diesem habe der bereits angeklagte Philosoph auf den Vorschlag, seine Verteidigung vorzubereiten, geantwortet, die beste Rechtfertigung sei sein bisheriges Leben. Er habe zwar zunächst geplant, für die Gerichtsverhandlung eine Rede zu entwerfen, doch dann habe das Daimonion diese Absicht missbilligt. Demnach war die Stellungnahme des Sokrates vor dem Gericht improvisiert. Wie Cicero berichtet, war „in Büchern der Sokratiker“ oft vom Daimonion die Rede. Offenbar faszinierte das Thema den Umkreis des Philosophen. Diese Literatur ist mit Ausnahme der Werke Platons und Xenophons nicht erhalten geblieben. Ausführlich wird im Theages auf das Daimonion eingegangen. Dieser Dialog galt in der Antike als Werk Platons, wird aber in der neueren Forschung überwiegend als nicht authentisch betrachtet. Er entstand wohl im 4. Jahrhundert. Der unbekannte Autor gibt ein fiktives Gespräch wieder, in dem sich Sokrates mit Demodokos, einem angesehenen Bürger, und dessen ehrgeizigem Sohn Theages unterhält. Demodokos möchte erreichen, dass sein junger Sohn unter die Schüler des Sokrates aufgenommen wird. Der Philosoph zögert jedoch; er weist auf das Daimonion hin, erzählt von seinen bisherigen Erfahrungen mit dieser Instanz und will abwarten, ob sie abrät. Die hier gegebene Beschreibung der göttlichen Stimme entspricht weitgehend den Angaben in Platons echten Dialogen, weist aber auch einen gewichtigen Unterschied zu ihnen auf: Im Theages ist die Funktion des inneren Ratgebers wie bei Xenophon stark ausgeweitet. Das Daimonion beschränkt sich in diesem Dialog nicht auf Hinweise, die persönliche Angelegenheiten des Sokrates betreffen, sondern es ermöglicht dem Philosophen auch, vor schädlichen Vorhaben anderer zu warnen, etwa vor verhängnisvollen militärischen Unternehmungen. Damit verleiht die Gottheit, die hinter dem Daimonion steht, den Worten des Sokrates eine zusätzliche Autorität, die über seine philosophische Kompetenz hinausreicht. Hellenistische und kaiserzeitliche Deutungen Spätestens in der römischen Kaiserzeit, ansatzweise schon ab dem 4. Jahrhundert v. Chr., kam es zu einem Wandel im Verständnis des Phänomens der inneren Stimme. In den zeitgenössischen Darstellungen Platons und Xenophons hatte der Ausdruck daimonion dazu gedient, den unbestimmten, mysteriösen Charakter des göttlichen Urhebers der Zeichen anzudeuten. Damit hatten sich die Sokratiker offenbar an der authentischen Wortwahl des Sokrates orientiert. Dieser Sprachgebrauch sollte der voreiligen Identifizierung mit einer bestimmten Gottheit der Mythologie und Volksreligion vorbeugen. Kaiserzeitliche Rezipienten hingegen hielten sich nicht mehr an diese skeptische Zurückhaltung; das sokratische Daimonion wurde mit dem Daimon, einem persönlichen Schutzgott, gleichgesetzt und erhielt dadurch eine klare Bestimmung. Bei den kaiserzeitlichen Platonikern war dies die gängige Interpretation. Man nahm an, dass jeder oder zumindest jeder gute Mensch einen Daimon als Beschützer habe. Die Besonderheit der Eingebungen des Sokrates sah man nur in der außergewöhnlichen Qualität seiner Beziehung zu seinem herausragenden Daimon. So wurde das Daimonion des Sokrates in die allgemeine Dämonenlehre integriert und in diesem Rahmen interpretiert. Das Phänomen fand besondere Beachtung, weil es Gelegenheit bot, das Ineinandergreifen des Göttlichen und des Menschlichen zu erforschen. Man versuchte zu ergründen, worum es sich bei der göttlichen Stimme handelte und in welcher Weise sie wirksam wurde. Nach Ciceros Angaben interessierte sich der Stoiker Antipatros von Tarsos, der im 2. Jahrhundert v. Chr. lebte, für das Daimonion des Sokrates und sammelte zahlreiche Berichte darüber. Die Schrift des Antipatros, eine Abhandlung über Weissagung, war zu Ciceros Zeit noch bekannt, ist aber heute verloren. Bei den Epikureern stieß die überlieferte Rolle des Daimonions auf heftige Ablehnung. Nach ihrer Lehre mischen sich die Götter nicht in menschliche Angelegenheiten ein. Die Epikureer meinten, dass Sokrates, den sie extrem negativ beurteilten, die göttlichen Hinweise aus Angeberei erfunden habe. Der jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus erwähnte in seiner Schrift Über die Ursprünglichkeit des Judentums (Gegen Apion) die von „einigen“ vertretene Meinung, die Mitteilungen des Sokrates über das Daimonion seien scherzhaft gemeint. Um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert setzte sich der Mittelplatoniker Plutarch eingehend mit dem Rätsel auseinander. Seine griechische Schrift Über das Daimonion des Sokrates ist ein philosophischer Dialog, in dem die Gesprächsteilnehmer verschiedenartige Erklärungsversuche zum göttlichen Zeichen des Sokrates erörtern. Die fiktive Handlung spielt zwei Jahrzehnte nach der Hinrichtung des berühmten Denkers. Den Ausgangspunkt bildet eine Stellungnahme des Galaxidoros, eines Teilnehmers, der Mitteilungen übermenschlicher Wesen für Aberglauben hält. Er lobt Sokrates, der sich nur auf seine Vernunft und auf Beweisbares verlassen habe, statt auf Träume, Erscheinungen und Weissagungen zu achten. Demnach glaubte Sokrates zwar an die Götter, nicht aber an Gespenster und Fabeln, und war daher in der Lage, die Philosophie auf eine seriöse Grundlage zu stellen. Dieser Einschätzung wird aber von einem Gesprächspartner entgegengehalten, dass der Philosoph den Hinweisen seines Daimonions gefolgt sei, die sich als berechtigt erwiesen hätten, was man in Anbetracht der Berichte von Augenzeugen nicht als Schwindel abtun könne. Galaxidoros versucht, das Phänomen mit einer banalen Erklärung herunterzuspielen: Er vermutet, Sokrates habe nur in bestimmten Zweifelsfällen, wenn keine der rationalen Erwägungen den Ausschlag geben konnte, auf ein äußeres Zeichen, etwa ein Niesen, geachtet und davon seine Entscheidung abhängig gemacht. Diese Interpretation stützt sich zwar auf eine Überlieferung, die angeblich aus dem Umfeld des Sokrates stammt, stößt aber auf Widerspruch, denn sie scheint dem großen Denker ein unwürdiges Verhalten zu unterstellen. Darauf findet Galaxidoros eine geschickte Erwiderung. Er macht geltend, ein an sich unbedeutendes Vorzeichen könne durchaus ein bedeutendes Ereignis ankündigen, so wie etwa ein geringfügiges Symptom das Zeichen einer gravierenden Erkrankung sein könne oder ein leichtes Wölkchen einem Sturm vorangehe. Anschließend wird die Diskussion durch eine Ablenkung unterbrochen, doch später wird der Gesprächsfaden wieder aufgegriffen. Nun trägt Simmias von Theben, der Gastgeber des Kreises, eine andere Deutung vor. Als Schüler des Sokrates verfügt Simmias über die Autorität eines Augenzeugen. Er berichtet, der Lehrmeister habe zwar nähere Auskunft über sein Daimonion verweigert, doch habe sein Verhalten ein Indiz geliefert. Er habe nämlich auf Erzählungen von Visionen ablehnend reagiert, für Berichte über göttliche Stimmen hingegen habe er sich sehr interessiert. Daraus habe man in seinem Schülerkreis geschlossen, dass das Daimonion wohl kein optischer Eindruck sei, sondern eine innere Stimme oder das geistige Erfassen einer lautlosen Mitteilung, deren Urheber ein höheres Wesen sei. Nach Simmias’ Theorie traten die Mitteilungen zwar im Wachzustand ins Bewusstsein des Sokrates, aber dies geschah so, wie man im Traum die Vorstellungen und geistigen Wahrnehmungen bestimmter Worte empfängt und dabei glaubt sie zu hören, obwohl keine wirkliche Stimme erschallt. Im Prinzip sind – so die Hypothese des Simmias – solche Stimmen auch für andere Menschen wahrnehmbar, doch steht dem ein Hindernis entgegen: „der Mangel an Harmonie, die Unruhe in ihnen selbst“. Nur wer über „ein ungestörtes Gemüt und eine von keinen Stürmen erregte Seele“ verfügt, also wie Sokrates nicht unter dem Zwang der Affekte steht, kann die Botschaften vernehmen. Die Sonderstellung des Sokrates erklärt Simmias mit der außerordentlicher Empfänglichkeit dieses Mannes. Sein Geist sei rein und ungetrübt von Leidenschaften gewesen und daher hochempfindlich und befähigt, jeden Eindruck sehr schnell aufzunehmen. Plutarch hielt nicht strikt an der Überlieferung in Platons Apologie fest, der zufolge das Daimonion immer nur abriet und niemals etwas empfahl. Bei ihm erhält die göttliche Stimme eine beratende Funktion, die über das bloße Warnen und Abhalten hinausgeht. Im dritten Viertel des 2. Jahrhunderts verfasste der als Schriftsteller und Redner tätige Mittelplatoniker Apuleius die lateinische Abhandlung De deo Socratis (Über den Gott des Sokrates), die schriftlich verbreitete Fassung eines Vortrags, in dem er seine Dämonenlehre darlegte. In diesem Rahmen behandelte er unter anderem das Daimonion. Er meinte, das „göttliche Zeichen“, von dem bei Platon die Rede ist, sei wohl etwas Sichtbares gewesen, das heißt, Sokrates habe seinen Daimon nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit den Augen wahrgenommen. Nach diesem dämonologischen Modell kann der Daimon dem Menschen als äußere Gestalt erscheinen, zeigt sich aber gewöhnlich innerlich als innere Stimme; er weilt „nach Art des Gewissens“ unmittelbar im Innersten der Seele. Im Fall des Sokrates begnügte sich der Daimon mit Warnungen, da dieser Mann ein so vollendeter Weiser war, dass er keine Anleitung zur Erfüllung seiner Aufgaben benötigte. Bei Apuleius ist die Sonderstellung des Sokrates als privilegierter Empfänger göttlicher Mitteilungen deutlich relativiert. Er erscheint nicht als einzigartiger Liebling der Gottheit, sondern als Vorbild, dem man nacheifern soll und dem man ähnlich werden kann. Im Prinzip ist jeder Mensch befähigt, ein Philosoph wie Sokrates zu werden und wie dieser in ein enges Verhältnis mit dem göttlichen Bereich zu treten, denn jeder hat seinen eigenen Daimon, einen hilfreichen Schutzgeist und Berater, an dem er sich so orientieren soll wie der große Athener an seinem Daimonion. Ein weiterer Mittelplatoniker, der sich mit dem Thema beschäftigte, war der Rhetor Maximos von Tyros, der im späten 2. Jahrhundert lebte. In einer seiner Reden ging er auf das Daimonion des Sokrates ein, wobei er sich an Skeptiker wandte, die an der Realität des Phänomens zweifelten. Er stellte es als weissagende Instanz dar, die nicht erstaunlicher sei als die allgemein geschätzten bekannten Orakel. Wie schon Apuleius zog er eine Parallele zu einem vergleichbaren Phänomen in Homers Ilias, wo die Göttin Athene erscheint, um Achilleus Einhalt zu gebieten. Nach Maximos’ Deutung handelt es sich um einen realen hilfreichen Daimon, der dem Philosophen als Schutzgeist beistand. Dem Verständnis dieses Interpreten zufolge ist das nichts Einzigartiges, es stellt keine Besonderheit des Sokrates dar, denn herausragende Persönlichkeiten stehen nach dem Willen der Götter in der Obhut persönlicher daimonischer Helfer. Ein vernichtendes Urteil fällte im ausgehenden 2. und frühen 3. Jahrhundert der christliche Apologet Tertullian, der die ganze Überlieferung von der außergewöhnlichen Weisheit des Sokrates als Irreführung entlarven wollte, um die Philosophie durch Kritik an ihrem herausragenden Repräsentanten zu diskreditieren. Nach seiner Darstellung war das Daimonion ein reales Wesen, das einen verderblichen Einfluss ausübte und den ruhmsüchtigen Philosophen von der Hinwendung zum Guten abhielt. Tertullian sah eine „dämonische“ Macht am Werk im Sinne der christlichen Vorstellung, der zufolge Dämonen teuflische Geschöpfe sind, die nur Unheil stiften. Das Daimonion habe mit Apollon zusammengewirkt, der ebenfalls ein solcher bösartiger Dämon sei. Mit seinen Ausführungen initiierte Tertullian die christliche Interpretation, die das Daimonion in die Reihe der bösen Dämonen stellt. So dachte auch der Apologet Minucius Felix, der wohl in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts den Dialog Octavius schrieb. Der Verfasser des Cyprian von Karthago († 258) zugeschriebenen Traktats Quod idola dii non sint hielt das Phänomen ebenfalls für teuflisch. Positiv urteilte hingegen ein Zeitgenosse Tertullians, der Kirchenvater Clemens von Alexandria. Er fasste das Daimonion als Schutzengel auf. Spätantike Deutungen Die spätantiken Neuplatoniker befassten sich in ihren Platon-Kommentaren mit der Deutung des Daimonions. Nach ihrer Dämonologie, die von Platons Konzept ausgeht, ist jedem Menschen ein Daimon als ständiger Begleiter, Schutzgeist und Schicksalslenker zugeordnet. Sokrates als vorbildlicher Mensch hatte einen besonders erhabenen geistigen Führer, der mehr als ein Mittelwesen zwischen Menschen und Göttern war; sein Ratgeber war ein Gott. Im 4. oder beginnenden 5. Jahrhundert griff der Gelehrte Calcidius in seinem Kommentar zu Platons Timaios den Vergleich mit dem scheinbaren Hören von Stimmen im Traum auf. Ausführlich ging im 5. Jahrhundert der einflussreiche Neuplatoniker Proklos in seinem Kommentar zum Ersten Alkibiades auf das Thema ein. Er erörterte die Natur der Kommunikation zwischen dem Philosophen und seinem Schutzgeist und die Frage, warum das Daimonion nur abriet und nie zuriet. Dabei betonte er, dass die göttliche Stimme nicht wie beim gewöhnlichen menschlichen Hören von außen gekommen sei, sondern von innen. Sie habe sich auf Warnungen beschränkt und keine Anregungen gegeben, weil Sokrates keinen Ansporn zu guten Taten benötigt habe. Der Schutzgeist des Sokrates gehöre dem Bereich der reinigenden Macht des Gottes Apollon an. Besonders gründlich untersuchte er ein Problem, mit dem sich schon der namhafte Neuplatoniker Iamblichos und Proklos’ Lehrer Syrianos auseinandergesetzt hatten: die Frage, warum das Daimonion zuließ, dass Sokrates sich mit einem unwürdigen Menschen wie Alkibiades abgab. Ein weiterer neuplatonischer Gelehrter, der sich zum göttlichen Zeichen äußerte, war Hermeias von Alexandria, der wie Proklos den Unterricht des Syrianos besucht hatte. Hermeias befasste sich in seinem Kommentar zu Platons Phaidros mit dem Thema. Er betonte, dass das Daimonion weder ein Teil der Seele noch die personifizierte Philosophie sei, wie manche glaubten. Vielmehr sei es der persönliche Schutzgeist. Einen solchen hat – so Hermeias – zwar jeder Mensch, aber nur den diszipliniert Philosophierenden gelingt es, seine Anwesenheit zu bemerken. Erforderlich ist eine tugendhafte Lebensweise und Hinwendung zum göttlichen Bereich, wie sie Sokrates praktizierte. Die Mitteilungen des Daimonions werden nicht mit dem körperlichen Ohr gehört, sondern durch einen Wahrnehmungsakt der Seele mittels des Seelenfahrzeugs erfasst. Der Grund, aus dem sich der göttliche Ratgeber des Sokrates auf das Abraten beschränkte, war sein Respekt vor der menschlichen Selbstbestimmung. Hätte das Daimonion nicht nur gewarnt, sondern auch zugeraten, so wäre die Folge gewesen, dass sich der Philosoph wie ein unvernünftiges und fremdbewegtes Wesen, das nichts aus sich selbst heraus tut, verhalten hätte. Im 6. Jahrhundert ging einer der letzten paganen Neuplatoniker, Olympiodoros der Jüngere, in seinem Kommentar zum Ersten Alkibiades nur knapp auf das Daimonion ein. Auch spätantike Kirchenschriftsteller nahmen zu dem Phänomen Stellung. Sie vertraten unterschiedliche Deutungen. Der Kirchenvater Eusebius von Caesarea erwog im frühen 4. Jahrhundert die Möglichkeit, dass das Daimonion für Sokrates die Funktion eines Schutzengels hatte. Sein Zeitgenosse Laktanz hingegen, ein namhafter Apologet, zählte das Daimonion zu den bösen Dämonen. Im frühen 5. Jahrhundert polemisierte Augustinus in seinem Werk Vom Gottesstaat gegen die Dämonenlehre des Apuleius. Er war der Überzeugung, alle Dämonen seien bösartig, und wandte sich gegen die Behauptung des Apuleius, die innere Stimme des Sokrates sei die eines wohlwollenden Dämons gewesen. Für Augustinus gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder war der Ratgeber des Sokrates kein Dämon oder er war schlecht. Mittelalterliche und neuzeitliche Rezeption Mittelalter und Frühe Neuzeit Im Früh- und Hochmittelalter waren die einschlägigen Werke Platons und Xenophons ebenso wie die spätere griechische Literatur den lateinischsprachigen Gelehrten West- und Mitteleuropas unbekannt. Sie konnten aber der Schrift des Apuleius Über den Gott des Sokrates und der Polemik des Augustinus Informationen über das Thema entnehmen. Der Humanist Giannozzo Manetti, der 1440 die erste Sokrates-Biographie seit der Antike verfasste, beschrieb das Daimonion nach den ihm zugänglichen antiken Quellen. Manetti vertrat mit Berufung auf die „wahrheitsgemäße“ Darstellung Platons die Meinung, das Daimonion sei ein Wächter oder Schutzengel, den Sokrates bei seiner Geburt erhalten habe. Der Humanist und Platoniker Marsilio Ficino (1433–1499) befasste sich eingehend mit der Dämonologie des antiken Platonismus und speziell mit der Lehre vom persönlichen Dämon als Schutzgeist des Menschen. Dabei setzte er sich in erster Linie mit der Dämonenlehre des Proklos auseinander. Auf das sokratische Daimonion ging er am ausführlichsten in seinem kleinen Kommentar (argumentum) zu Platons Apologie ein. An die Vorstellungen der spätantiken Neuplatoniker anknüpfend stellte er fest, der Dämon des Sokrates sei ein saturnischer Feuergeist und gehöre zu der höchsten Klasse in der hierarchischen Rangordnung der Schutzgeister. Diese Geistwesen seien so erhaben, dass man sie als Götter zu bezeichnen pflege. Herausragende Philosophen wie Sokrates und Plotin hätten solche Begleiter. Ficino erörterte auch die Frage, wie man sich das „Hören“ der Stimme des Schutzgeistes vorzustellen hat. Seine Absicht war, dieses platonische Gedankengut in sein christliches Weltbild zu integrieren. Der humanistische Philosoph Michel de Montaigne (1533–1592), der Sokrates bewunderte, äußerte sich zurückhaltend zum Daimonion. Nach seiner Vermutung war das Zeichen des antiken Denkers „ein gewisser Antrieb des Willens, der sich bei ihm einstellte, ohne den Ratschlag seiner Vernunft abzuwarten“. Diese Anwandlungen waren zwar unbedacht und ungeordnet, aber wahrscheinlich stets bedeutend und würdig, befolgt zu werden. Montaigne meinte, jeder fühle in sich die Schattenbilder solcher Regungen eines plötzlich ungestüm auftauchenden Gedankens. Er selbst hatte, wie er berichtet, derartige Regungen, wenngleich seltener als Sokrates, und war ihnen zu seinem Glück und Nutzen gefolgt. Daher könne man meinen, sie hätten etwas von göttlicher Eingebung. Denis Diderot behandelte 1754 in seiner Schrift Pensées sur l’interprétation de la Nature (Gedanken zur Interpretation der Natur) die Frage der intuitiven Fähigkeiten in der Naturforschung. Nach seinen Ausführungen verleiht eine große Fertigkeit im Experimentieren ein Ahnungsvermögen, das den Charakter der Inspiration hat. Wenn man sich darüber wie Sokrates täuscht, nennt man es einen vertrauten Dämon. Sokrates hatte eine so erstaunliche Fertigkeit im Beurteilen von Menschen und im Abwägen von Umständen, dass sich auch in den schwierigsten Fällen eine schnelle und richtige Kombination insgeheim in ihm vollzog. Das ermöglichte ihm eine Voraussage, von der das Ereignis selbst kaum abwich. Diesen Vorgang verglich Diderot mit dem Spürsinn in der experimentellen Physik. Er stellte die Frage, wie man die Fähigkeit, neue Verfahren und Experimente und künftige Ergebnisse mit dem Ahnungsvermögen zu „wittern“, auf eine andere Person übertragen könne. Seine Antwort lautete: Derjenige, der die Gabe besitzt, müsste zuerst in sich gehen, um deutlich zu erkennen, worin sie besteht, und dann den „vertrauten Dämon“ durch klare, verständliche Begriffe ersetzen und diese den anderen auseinandersetzen. Die Fähigkeit könnte beispielsweise das Voraussetzen oder Wahrnehmen von Gegensätzen oder Analogien zwischen einzeln betrachteten Objekten oder das Erkennen von Wechselwirkungen zwischen im Zusammenhang betrachteten Dingen betreffen. Voltaire hielt das Daimonion für eine Scharlatanerie des Sokrates; er meinte, es handle sich um einen Aberglauben. In der Malerei wurde das Motiv vereinzelt aufgegriffen. Auf einem 1776 entstandenen Ölgemälde von François-André Vincent spricht Sokrates mit Alkibiades, während ihm das engelhafte Daimonion von hinten zuflüstert. Der dänische Maler Nicolai Abildgaard schuf 1784 ein Ölgemälde, das Sokrates mit zwei schattenhaften Geistwesen zeigt, seinem Daimonion und einem bösartigen Dämon. Das Daimonion hindert den Dämon daran, den Philosophen anzusprechen. Das Motiv des guten und des schlechten Geistwesens, die den Menschen begleiten, stammt aus der Darstellung in Giannozzo Manettis Sokrates-Biographie. 19. Jahrhundert Friedrich Schleiermacher befand, das Daimonion sei kein persönlicher Charakter und keine Erscheinung irgendeiner Art gewesen. Vielmehr handle es sich um „das authentische Gebiet solcher schnellen sittlichen Urteile, die sich nicht auf deutliche Gründe zurückführen lassen, und die er [Sokrates] also nicht seinem eigentlichen Ich zuschrieb“. Georg Wilhelm Friedrich Hegel befasste sich eingehend mit dem Thema. Er betonte in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie den subjektiven, partikulären Charakter des Daimonions. Man dürfe bei dem „berühmten Genius des Sokrates“, einer „so viel beschwatzten Bizarrerie seines Vorstellens“, keinesfalls an einen Schutzgeist oder Engel oder an das Gewissen denken. Für Hegel ist das Gewissen „die Vorstellung allgemeiner Individualität, des seiner selbst gewissen Geistes, der zugleich allgemeine Wahrheit ist“. Der „Dämon des Sokrates“ hingegen ist die „ganz notwendige andere Seite“, die „Einzelheit des Geistes“. Er steht in der Mitte zwischen dem Äußerlichen der Orakel und dem rein Innerlichen des Geistes. Nach Hegels Verständnis machte das Daimonion Sokrates zu einem Vorläufer der modernen Subjektivität. Trotz dieses zukunftsweisenden Aspekts beurteilte der Berliner Philosoph das Phänomen jedoch kritisch; er betrachtete es als Ausdruck eines pathologischen Zustands und befand: „Sokrates ist getrieben.“ Hegels abschätziges Urteil hatte seinen Grund im Inhalt der Mitteilungen der „göttlichen Stimme“, in deren Beschränkung auf Rat über „partikuläre Erfolge“ und damit auf „Zufälligkeiten“ statt einer Bezugnahme auf Allgemeingültiges. Immerhin sah Hegel im Daimonion den Anfang davon, dass „der sich vorher nur jenseits seiner selbst versetzende Wille sich in sich verlegte und sich innerhalb seiner erkannte“. Dies sei „der Anfang der sich wissenden und damit wahrhaften Freiheit“. Søren Kierkegaard analysierte das Phänomen ausführlich in seiner Dissertation von 1841. Nach seinem Befund ist Platons Darstellung, wonach die Stimme stets nur warnend eingriff, der „Gedankenlosigkeit“ Xenophons, der eine antreibende Rolle hinzufügte, vorzuziehen. Das Wort Daimonion ist der Ausdruck für etwas durchaus Abstraktes, das nach Art eines Instinktes wirkt. Diese Abstraktion setzte Sokrates an die Stelle der konkreten Individualität der Götter, womit er in ein polemisches Verhältnis zur Staatsreligion trat. Somit entsprach die Anklage in diesem Punkt den Tatsachen; „das Dämonische“ bezeichnet „das ganz und gar negative Verhältnis des Sokrates zum Bestehenden in religiöser Hinsicht“. Aus Kierkegaards Sicht ist das Daimonion kritisch zu bewerten. Sokrates konnte sich damit behelfen, es verschaffte ihm Sicherheit, doch war dies „bloß das egoistische Befriedigtsein einer partikularen Persönlichkeit“. Darüber urteilte Kierkegaard, man könne hier sehen, dass „die Subjektivität in ihrem sich Ergießen zum Stehen gebracht wird“, dass sie „sich in einer partikularen Persönlichkeit verschließt“. Arthur Schopenhauer versuchte das Phänomen im Rahmen seiner Theorie der Ahnungen zu erklären. Nach seiner Auffassung sind negative Ahnungen und Vorgefühle Auswirkungen von „theorematischen“ Träumen, die sich im tiefen Schlaf abspielen und von denen nichts im Bewusstsein zurückbleibt als ihr Eindruck auf das Gemüt, der „als weissagendes Vorgefühl, als finstere Ahndung“ nachklingt. Ein solcher Eindruck bemächtigt sich der Person dann, wenn die ersten mit dem im Traum gesehenen Unglück zusammenhängenden Umstände in der Wirklichkeit eintreten. Dazu passt für Schopenhauer das immer nur abmahnende Eingreifen der inneren Stimme des Sokrates. Friedrich Nietzsche bezog das Daimonion in sein vernichtendes Urteil über Sokrates ein. Er bezeichnete es als „Gehörs-Hallucinationen“, die ins Religiöse interpretiert worden seien. Dies sei eines der Merkmale der Dekadenz des Sokrates. Das Phänomen sei vielleicht „ein Ohrleiden, das er sich gemäß seiner herrschenden moralischen Denkungsart nur anders, als es jetzt geschehen würde, auslegt“. In der abmahnenden Funktion der inneren Stimme meinte Nietzsche einen Schlüssel zum Wesen des Sokrates gefunden zu haben. Nach seinen Worten zeigte sich die „instinctive Weisheit“ bei dieser „gänzlich abnormen Natur“ nur, um dem bewussten Erkennen hindernd entgegenzutreten. Während bei allen produktiven Menschen der Instinkt die schöpferisch-affirmative Kraft ist und das Bewusstsein sich kritisch und abmahnend gebärdet, wurde bei Sokrates der Instinkt zum Kritiker und das Bewusstsein zum Schöpfer. Darin sah Nietzsche einen monströsen Defekt. Nur vereinzelt diente das Daimonion als Motiv in der bildenden Kunst. Der britische Präraffaelit Simeon Solomon schuf um 1865 die Zeichnung Socrates and his Agathodaemon. Dort steht der engelhafte Schutzgeist als nackter junger Mann neben dem Philosophen. 20. und 21. Jahrhundert In der Forschung des 20. und 21. Jahrhunderts bildet gewöhnlich das Material in Platons Werken die Ausgangsbasis der Untersuchungen zum Daimonion, während Xenophons Angaben nur ergänzend herangezogen werden. Man geht davon aus, dass entgegen Xenophons Darstellung das Daimonion tatsächlich, wie Platon behauptet, nur abriet und nie zuriet, wenngleich das Abraten auch als Ermutigung zum jeweils gegenteiligen Verhalten aufgefasst werden kann. Diese Gewichtung der Quellen hängt damit zusammen, dass beim Versuch, die philosophische Position des historischen Sokrates zu rekonstruieren, Platons Sokratesbild generell favorisiert wird. Hinzu kommt, dass Platon bei der Gerichtsverhandlung anwesend war und Xenophon nicht. Allerdings enthalten sich manche Philosophiehistoriker ausdrücklich eines Urteils über die Frage, ob Xenophons Version nicht doch eine zumindest teilweise bessere Überlieferung bieten könnte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und im 21. Jahrhundert ist im philosophiegeschichtlichen Diskurs vor allem die Frage erörtert worden, wie Sokrates die Respektierung der Autorität des Daimonions mit seinem Anspruch, sich nur von einleuchtenden Argumenten überzeugen zu lassen, vereinbaren konnte. Unterschiedliche Lösungsvorschläge haben kontroverse Diskussionen ausgelöst. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1919) hielt das immer abmahnende Eingreifen der inneren Stimme für einen Hinweis auf die Impulsivität des Sokrates, die er beherrschen lernte. Die Fähigkeit, solche inneren Warnungen zu beachten, habe sich der Philosoph durch eine Selbstkontrolle erworben, „die ihm bei seiner Leidenschaftlichkeit sehr nötig war“. Manche seiner Schüler hätten ihm eine wirkliche Sehergabe zugetraut und ihm einen begleitenden, dienstbaren Dämon beigelegt. Sie hätten keine Autorität neben ihm gelten lassen und nur noch dem neuen Dämon gehuldigt. Dies habe schließlich zum Vorwurf der Gottlosigkeit und eines schlechten Einflusses auf die Jugend geführt, der Sokrates im Prozess zum Verhängnis wurde. Nach dem Urteil von Werner Jaeger (1944) beweist das Daimonion, dass Sokrates neben seiner geistigen Fähigkeit „das Instinkthafte in höchstem Maß besaß, das der Rationalismus so oft vermissen läßt“. Dies und nicht die Stimme des Gewissens sei die Bedeutung des Daimonions. Olof Gigon (1947) sah im Daimonion in erster Linie ein geschichtliches Phänomen, einen Charakterzug des historischen Sokrates, der an das Zeichen geglaubt habe. Für die frühe „Sokratesdichtung“, die Überlieferung der ersten Sokratikergeneration, in der „die reine Faktizität des Vorgefallenen durch Aus- und Umdeutung zu symbolischem Sinne erhoben wird“, sei ein solcher Zug nicht notwendig gewesen. Sie habe ihn aber vorgefunden und aufgenommen, „eher so, dass sie sich mit ihm abfand“, ohne dabei seine „dramatischen und geistigen Möglichkeiten“ voll auszunützen. Erst später sei das Daimonion als Sonderphänomen auf dem Hintergrund einer allgemeinen spekulativen Dämonologie gedeutet worden. Karl Jaspers (1957) verortete das Daimonion jenseits des rationalen Bereichs. Nach seiner Darstellung gab es konkrete einmalige Situationen, in denen Sokrates nicht durch rechtes Denken eine Entscheidung begründen konnte. Daher benötigte er göttliche Hilfe, und diese bildete „die Grenze, an der es Gehorsam ohne Einsicht gibt“. Die Stimme brachte ihm keine Erkenntnis, und er folgte ihr ohne Einsicht. Sie war keine objektive Instanz, sondern inkommunikabel. Daher konnte er sich nicht zur Rechtfertigung auf sie berufen, sondern nur hinweisend von ihr berichten. Zu einer völlig anderen Einschätzung gelangte Martha Nussbaum (1986). Sie meinte, das Daimonion sei kein Gott im traditionellen Sinn, sondern – als Neutrum – ein „göttliches Ding“, nämlich die menschliche Vernunft als Mittelding „zwischen dem Tier, das wir sind, und dem Gott, der wir sein könnten“. Es handle sich um eine ironische Anspielung auf die für Sokrates allein maßgebliche Autorität der Vernunft, die für ihn der „Gott“ sei, der wirklich Respekt verdiene. Gernot Böhme (1988) wies darauf hin, dass Sokrates die Winke der inneren Stimme ohne weiteres als Einflüsterungen oder Warnungen der Götter hätte bezeichnen können. Stattdessen drückte er sich sehr unbestimmt und äußerst zurückhaltend aus. Er beharrte auf dem Phänomen, weigerte sich aber, es auf die traditionellen Urheber, die Götter, zurückzuführen. Seine auffällig reduzierte Redeweise ist – so Böhme – ein Produkt der Aufklärung, die bereits hinter ihm liegt. Sie ist auch von seinen Anklägern so verstanden worden, als sie ihn beschuldigten, die Götter der Stadt nicht zu verehren. Für Böhme gehört das Daimonion notwendig zu dem „Typ Mensch“, den Sokrates verkörpert. Dieser Typus hat sich gegenüber heterogenen Handlungsantrieben – seien es göttliche Anregungen oder aus dem Unbewussten herrührende Triebe – abgeschottet, um als Täter der eigenen Taten aufzutreten. Aber gerade als der Typus, der durch Bewusstheit organisiert ist, ist er besonders sensibel für die heterogenen Antriebe, die er in sich vorfindet. Das Daimonion ist als letztes Residuum solcher Impulse zu verstehen, nicht als ein tieferes Selbst des Sokrates, denn er erfährt es als etwas, das er nicht selbst ist. Als Bewusster hat er alle positiven Handlungsantriebe in sein Selbst übernommen. Die negativen, die „schlicht ein Nein sind“, kommen aus einem Bereich, dessen er nicht Herr ist, über den er keine Rechenschaft geben kann, den er aber akzeptiert. Er wollte das Irrationale zurückdrängen, stieß aber auf Grenzen dieses Programms und entwickelte dann lieber Formen des Umgangs mit dem Irrationalen, statt es zu leugnen. Gregory Vlastos (1989, 1991) hielt zwar das Daimonion für eine „außerrationale“ Informationsquelle, befand aber, das Nebeneinander von vernunftgemäßer Überlegung und göttlicher Stimme sei kein Problem gewesen, denn Sokrates habe keineswegs zwei verschiedene Systeme der Rechtfertigung von Annahmen gehabt. Nach Vlastos’ Interpretation waren die Hinweise des Daimonions für den Philosophen keine von der Vernunft unabhängige und ihr überlegene Quelle ethischer Gewissheit. Vielmehr legte er die Zeichen im Licht seiner kritischen Vernunft aus. Sie verschafften ihm eine subjektive Bestärkung, hatten aber nie solches Gewicht, dass sie seine rational begründeten Entscheidungen hätten ändern können. Maßgeblich waren nur die Vernunftgründe. Der von Vlastos vorgetragenen Interpretation widersprachen Thomas C. Brickhouse und Nicholas D. Smith (1994), die meinten, das Daimonion sei vernunftgemäßen, aber dennoch falschen Beschlüssen entgegengetreten und habe deren Ausführung verhindert. Nach dem Befund von Michael Bingenheimer (1993) hingegen bestand die von Brickhouse und Smith angenommene Möglichkeit eines Konflikts zwischen Vernunft und göttlicher Stimme nicht. Bingenheimer deutete die Erfahrung des Daimonions als eine aus der religiösen Sphäre sich einstellende Sicherheit des Sokrates, mit seinem Tun und Denken in Übereinstimmung mit der göttlichen Weltordnung zu sein – „Ausdruck einer glücklichen Persönlichkeit, für die vernunftgemäßes und religiöses Handeln in eins fällt“. Franz Vonessen (1993) kam zum Ergebnis, das Daimonion sei nicht eine besondere Instanz, sondern die Stimme eines Daimons. Dieser ist nach Vonessens Verständnis der Ausführungen Platons keine von außen an Sokrates herantretende Gottheit, sondern als Innengott in ihm selbst zu finden: Der Daimon ist mit der Vernunft identisch. Vernunft ist zwar jedem Menschen gegeben und somit hat jeder einen solchen persönlichen Daimon, aber nicht jeder ist mit dem Göttlichen, das in ihm wohnt, in lebendigem Kontakt. Die Sonderstellung des Sokrates, der als einziger die göttliche Stimme hörte, ist aus der Sicht der Platoniker darauf zurückzuführen, dass er die Weisheit so weit erlangt hat, wie sie überhaupt von Menschen erreicht werden kann: „Das heißt, für ihn steht die Vernunft nicht mehr über dem Ich, sondern das Ich fällt mit ihr, mit dem obersten Seelenteile, zusammen.“ Mark L. McPherran (1996) stimmte Vlastos darin zu, dass die Zeichen außerrationale Phänomene gewesen seien und dass Sokrates sie wenn immer möglich einer Überprüfung unterzogen habe. Man dürfe sie aber nicht, wie es bei Vlastos’ Deutung der Fall sei, auf eine bloße gefühlsmäßige Ahnung reduzieren. Vielmehr seien sie für Sokrates durchaus die Basis für die Konstruktion von Ansprüchen auf ein besonderes moralisches Wissen gewesen, und er habe angenommen, dass es für dieses Wissen eine vernunftgemäße Grundlage gebe, wenngleich er keine Unfehlbarkeit habe unterstellen können. McPherrans Überlegung dazu ist: Da sich die Zeichen immer auf Zukünftiges bezogen, das zum jeweiligen Zeitpunkt nicht oder nur in begrenztem Maß einschätzbar war, war es durchaus mit einer rationalen Grundhaltung vereinbar, solchen Hinweisen Vertrauen zu schenken. Die Zuverlässigkeit der Informationsquelle konnte jeweils nachträglich überprüft werden, und da sie sich dabei stets bestätigt hatte, war die Entscheidung, ihr weiterhin zu vertrauen, rational begründbar. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangte Richard Kraut (2000). Er meinte, Sokrates habe die Verlässlichkeit seiner inneren Stimme über einen längeren Zeitraum kritisch geprüft und sich dann erst ihrer Leitung anvertraut. Daher sei seine Haltung rational begründet. Kraut betonte, die befremdliche Wirkung der Ausführungen des Philosophen vor Gericht sei zwangsläufig eingetreten, denn sein Anspruch auf eine einzigartige göttliche Privatoffenbarung habe arrogant gewirkt und sei für konservative religiöse Kreise eine Herausforderung gewesen. C. David C. Reeve (2000) identifizierte den Urheber der Warnungen des Daimonions mit dem Gott Apollon. Zumindest gelte dies für den Standpunkt von Platons Dialogfigur Sokrates, unabhängig von der Frage nach deren Verhältnis zur historischen Person. Thomas C. Brickhouse und Nicholas D. Smith (2005) wandten sich gegen den „reduktionistischen“ Ansatz von Vlastos, der dem Quellenbefund nicht gerecht werde, und setzten ihm eine empiristische, „reliabilistische“ Interpretation entgegen. Demnach konnte Sokrates aufgrund einer Vielzahl von Erfahrungen zu der rationalen Folgerung kommen, die Hinweise des Daimonions seien verlässlich und hilfreich, auch wenn er über deren Ursprung und den Grund der Zuverlässigkeit kein Wissen besaß. Der empirische Befund reichte als triftige Begründung für diese Folgerung aus. Mark Joyal (2005) erinnerte an die Bedeutung des „sokratischen Problems“, der generellen Ungewissheit über die Ansichten des historischen Sokrates. Er wies darauf hin, dass diese Unsicherheit auch das Verständnis des Daimonions betrifft. Die Debatten drehen sich um das Sokratesbild der jeweils erörterten literarischen Quelle, während die Frage nach der historischen Wahrheit offen bleibt. Anthony A. Long (2006) machte gegen Vlastos’ Sichtweise geltend, dass man das Bekenntnis des Sokrates zur Vernunft nicht mit der Annahme eines irrationalen Daimonions vereinbaren könne. Somit sei davon auszugehen, dass der Philosoph das Handeln dieser Instanz und seine Beachtung der Warnungen als rational aufgefasst habe. In vielen Fällen habe er klare Gründe gefunden, die das Abraten der inneren Stimme als sinnvoll erschienen ließen. Den Hintergrund habe seine Überzeugung gebildet, dass die menschliche Vernunft göttlichen Ursprungs sei und daher im Einklang mit dem Bestreben der Gottheit stehe und dass eine göttliche Stimme ihrer Natur nach nur Vernünftiges verkünden könne. Zahlreiche Erfahrungen hätten ihn in diesem Verständnis bestärkt, und die Zuverlässigkeit der Warnungen habe ihm einen guten Grund gegeben, der Informationsquelle zu vertrauen. Weitere Forschungsdiskussionen drehen sich um die Fragen, ob die Stimme des Daimonions einem der traditionellen Götter der griechischen Mythologie, etwa Apollon, zuzuordnen ist, wie Luc Brisson (2005) meint, und ob der Mitteilende ein allwissender Weltlenker ist, wie Mark L. McPherran (2005) glaubt, oder ob es sich nur um eine innere Instanz handelt, die nicht von der Außenwelt her eingreift, sondern sich nur im Geist des Sokrates betätigt, wie Gerd Van Riel (2005) annimmt. Literatur Aufsatzsammlungen Pierre Destrée, Nicholas D. Smith (Hrsg.): Socrates’ Divine Sign: Religion, Practice, and Value in Socratic Philosophy. Academic Printing and Publishing, Kelowna 2005, ISBN 0-920980-91-0 Nicholas D. Smith, Paul B. Woodruff (Hrsg.): Reason and Religion in Socratic Philosophy. Oxford University Press, Oxford 2000, ISBN 0-19-513322-6 Untersuchungen zur Rezeption in der Klassik Anthony A. Long: How Does Socrates’ Divine Sign Communicate with Him? In: Sara Ahbel-Rappe, Rachana Kamtekar (Hrsg.): A Companion to Socrates. Blackwell, Malden 2006, ISBN 1-4051-0863-0, S. 63–74 Mark A. Joyal: ‘The Divine Sign Did Not Oppose Me’: A Problem In Plato’s Apology? In: Mark Joyal (Hrsg.): Studies in Plato and the Platonic Tradition. Essays Presented to John Whittaker. Ashgate, Aldershot 1997, ISBN 0-86078-647-1, S. 43–58 Untersuchungen zur nachklassischen Rezeption Klaus Döring: Plutarch und das Daimonion des Sokrates. In: Mnemosyne 37, 1984, S. 376–392 Mark Joyal: Tradition and Innovation in the Transformation of Socrates’ Divine Sign. In: Lewis Ayres (Hrsg.): The Passionate Intellect. Transaction, New Brunswick/London 1995, ISBN 1-56000-210-7, S. 39–56 Geert Roskam: Voice or Vision? Socrates’ Divine Sign and Homeric Epiphany in Late Platonism and Beyond. In: American Journal of Philology 135, 2014, S. 359–385 Geert Roskam: Socrates’ δαιμόνιoν in Maximus of Tyre, Apuleius, and Plutarch. In: Françoise Frazier, Delfim F. Leão (Hrsg.): Tychè et Pronoia. La marche du monde selon Plutarque. Centro de Estudos Clássicos e Humanísticos da Universidade de Coimbra, Coimbra 2010, ISBN 978-989-8281-52-4, S. 93–108 Weblinks Michael Trapp: Representing Socrates’ daimonion, from Heiligenkreuz to Simeon Solomon Anmerkungen Griechische Philosophie Platonismus Sokrates
280332
https://de.wikipedia.org/wiki/Tremolo%20%28Gitarre%29
Tremolo (Gitarre)
Tremolo ist im Musikerjargon eine verkürzte, auf den Musikinstrumentenbauer Leo Fender zurückgehende Bezeichnung für „Tremolo-System“, ein mechanisches Vibratosystem (verkürzt als „Vibrato“ bezeichnet), das aus einer Vorrichtung am Saitenhalter von Gitarren besteht, mit der mittels einer Hebelbewegung mit einem sogenannten Tremolo- oder Vibratohebel Tonhöhenschwankungen erzeugt werden können. Wird der Hebel bewegt, ändert sich die Spannung der Saiten und damit deren Tonhöhe. Die Bezeichnung „Tremolo“ (von lateinisch tremere ‚zittern‘) für Vibratosysteme von Gitarren lässt sich zwar auf die „zitternde“ Bewegung bei der Betätigung des Vibratohebels zurückführen, sie ist jedoch in Hinsicht auf den die Tonhöhe betreffenden Effekt (siehe Vibrato) irreführend und von der ursprünglich als Tremolo bezeichneten Spieltechnik und dem damit verbundenen Klangeffekt zu unterscheiden. Weitere Bezeichnungen sind Wang Bar oder Whammy Bar (Kurzform Whammy), im deutschsprachigen Musikerjargon Jammer- oder Wimmerhaken. Geschichte Parallel zur Entwicklung der E-Gitarre entwickelte sich das Tremolo. Bereits im Jahr 1929 meldete Clayton „Doc“ Kaufmann sein „Kaufmann Vibrola“-Tremolo zum Patent an. Das „Vibrola“ besteht aus einem Saitenhalter, der mit einer Feder und einem Hebel ausgestattet ist. Wird der Hebel bewegt, bewegt sich der Saitenhalter und ein leichtes Vibrato ist zu hören. Das ursprüngliche „Vibrola“ konnte nachträglich auf alle Archtop-Gitarren installiert werden, bei denen aufgrund der starken Wölbung der Gitarrendecke Saitenhalter und Brücke voneinander getrennt waren. Die erste Serienfertigung des Tremolos erfolgte für die Firma Rickenbacker, wo es auf einigen Modellen bis heute zum Einsatz kommt (Abbildung hier). Das „Vibrola“ fand Anklang bei experimentell veranlagten Gitarristen (Musiker und Erfinder Les Paul verwendete 1941 eine abgewandelte Version des „Vibrola“ auf seiner Experimentalgitarre „The Log“), blieb jedoch zunächst ein Exot. Neben dem geringen Tonumfang schreckte vor allem die schlechte Stimmstabilität viele Gitarristen ab. Merle Travis, ein Countrygitarrist, wandte sich in den 1940er Jahren an den Motorradmechaniker Paul Bigsby, der sein verschlissenes „Vibrola“ reparieren sollte. Bigsby erkannte die Schwächen der Konstruktion und stellte für Travis ein ganz neues Tremolo her. Das „Bigsby Vibrato“, welches u. a. mit der Feder aus einer Harley-Davidson ausgestattet war, konnte ebenfalls als Austausch für den Saitenhalter von Archtop-Gitarren montiert werden. Als Bigsby 1948 mit der Produktion eigener E-Gitarren begann, wurde das Tremolo sowohl als serienmäßige Zusatzausstattung der Bigsby-Gitarren als auch als Zubehörteil für andere Instrumente angeboten. Die Firma Gibson bot auf ihren ersten vollwertigen E-Gitarren kurze Zeit später ebenfalls die Option an, serienmäßig ein Bigsby-Vibrato zu installieren. Leo Fender, der zur gleichen Zeit seine erste E-Gitarre Telecaster auf den Markt brachte, beobachtete diese Entwicklung genau. Fenders Gitarren zeichneten sich durch eine flache Decke aus, bei der die Nachrüstung mit einem Bigsby-Vibrato nur mit großem Aufwand möglich war. Für das neue Modell Stratocaster musste ein anderer Weg gewählt werden. Während die ersten Prototypen der Stratocaster ebenfalls eine Tremolokonstruktion besaßen, bei der Saitenhalter und Brücke getrennt waren, entwickelte Leo Fender schnell eine kombinierte Saitenhalter/Brückenkonstruktion. Dieses System war klein, optisch unauffällig und erlaubte durch das Kippen der Brücke ein Herunterstimmen der Saiten bis hin zum völligen Erschlaffen. Aus nicht geklärten Gründen meldete Fender das System unter dem Namen „Tremolo“ zum Patent an und nicht unter dem korrekten Terminus „Vibrato“. Diese Verwechslung zieht sich durch das gesamte Programm der Firma, da die Verstärker der Marke Fender, die tatsächlich über ein Tremolo (im Sinne von periodischen Lautstärkeschwankungen) verfügen, mit dem falschen Zusatz Vibrato bezeichnet werden. Dieses System ging mit der Stratocaster 1954 in Serie. Durch die große Verbreitung der Stratocaster bürgerte sich in der Folgezeit der falsche Begriff „Tremolo“ für die Vibrato-Vorrichtung von Gitarren ein. Eine überarbeitete Version der ursprünglich für die Stratocaster vorgesehenen Tremolokonstruktion kam später bei der Fender Jazzmaster und der Fender Jaguar zum Einsatz. Während die Entwicklung der Tremolos in den 1960er Jahren stagnierte, entwickelten verschiedene Hersteller in den 1970er Jahren Konzepte, um Tremolos – allen voran das Tremolo der Stratocaster – stimmstabiler zu machen. Am radikalsten war die Entwicklung von Floyd Rose, der durch das Festklemmen der Saiten an Brücke und Steg eine nahezu vollkommene Stimmstabilität auch bei extremem Einsatz erreichte („Locking Tremolo“). Dieses System basiert auf dem ursprünglichen Konzept des Stratocaster-Tremolos, beinhaltet jedoch viele feinmechanische Detaillösungen, um die hohe Stimmstabilität zu erreichen. Das „Locking Tremolo“ stellt in seinen verschiedenen Ausführungen den bisherigen Endpunkt der Entwicklung dar. Verschiedene Typen von Tremolos Bigsby Vibrato Das Bigsby-Vibrato, welches seit den 1940er Jahren nahezu unverändert von der Firma Bigsby Guitars hergestellt wird, ist ein Saitenhalter, bei dem die Saiten um eine drehbar gelagerte Stahlwelle gewickelt werden. Bewegt man den Vibratohebel, werden die Saiten auf- oder abgewickelt. Dem Saitenzug wirkt eine massive Feder entgegen, die ursprünglich aus dem Motor eines Harley-Davidson-Motorrades stammt. Die Feder befindet sich bis heute im Ersatzteilprogramm von Harley-Davidson. Das Bigsby-Vibrato erlaubt durch die Verwendung einer Druckfeder Tönhöhenschwankung in beide Richtungen (1–2 Halbtöne) und wird meist da eingesetzt, wo einem klaren Gitarrenton noch ein leichtes „Schimmern“ hinzugefügt werden soll, z. B. in Jazz, Country und Rock ’n’ Roll. Bis heute ist das Bigsby-Vibrato stark verbreitet bei den in diesen Stilistiken eingesetzten Archtop-Gitarren der Marken Gretsch und Gibson. Hörbeispiele finden sich bei Countrymusikern wie Merle Travis und Chet Atkins ebenso wie bei Vertretern des Rockabilly, wie z. B. den Stray Cats. Abhängig von der Geometrie der verwendeten Gitarre und der verwendeten Brücke kann ein Bigsby-Vibrato unterschiedlich gut funktionieren. Werden die Saiten an der Brücke stark geknickt oder erzeugt die Brücke starke Reibung an den Saiten, verstimmt sich die Gitarre bei Gebrauch des Vibratos sehr schnell. Laufen die Saiten in einem sanften Winkel über die Brücke oder ist diese sehr reibungsarm (z. B. durch das Anbringen von kleinen Rollen, über die die Saiten laufen), funktioniert ein Bigsby nahezu verstimmungsfrei. Hörbeispiel: Fender bzw. Vintage Tremolo Das Fender Tremolo (von einigen Herstellern wegen des Copyrights von Fender auch „Vintage Tremolo“ genannt) bezeichnet die ursprüngliche Form des Stratocaster-Tremolos. Da die Stratocaster eine der am meisten verkauften E-Gitarren ist, ist auch ihr Tremolo am weitesten verbreitet und hat entscheidend zur Entwicklung neuer Systeme, aber auch der Namensverwechslung „Tremolo“ bzw. „Vibrato“ beigetragen. Es besteht aus einem Saitenhalter, bei dem die Saiten in einen Stahlblock direkt unter der Brücke eingefädelt werden. Die Saiten laufen aus dem Stahlblock direkt über die Brückenkonstruktion. Die Brücke wird nur an einer Seite von Schrauben gehalten, so dass es mittels des Tremolohebels möglich ist, sie in Richtung Hals zu kippen. Auf der Rückseite des Korpus sind Federn eingebaut, die dem Saitenzug entgegenwirken und die Brücke in die Waagerechte ziehen. Je nach Einstellung der Federn ist es möglich, dass das Tremolo auf dem Korpus aufliegt und ein Verstimmen nur nach unten möglich ist. Oft werden die Federn jedoch so justiert, dass das Tremolo in einer leicht gekippten Stellung verbleibt, um auch Verstimmungen nach oben zu ermöglichen. Weiterentwicklungen des Vintage-Typs sind meist so konstruiert, dass sie in der Grundstellung einige Millimeter über der Decke schweben. Ein Verstimmen in beide Richtungen ist bei einem schwebenden System von vorneherein möglich. Aufgrund seiner Bauweise erlaubt das Tremolo ein großes Verstimmen der Saiten. Besonders im Bereich nach unten ist es möglich, die Saiten mit einer Hebelbewegung soweit herunterzustimmen, dass sie schlaff auf dem Griffbrett aufliegen. Dieser Effekt wird als „Divebomb“ bezeichnet, da man so Klangeffekte erzielt, die an herabstürzende Flugzeuge erinnern. Eindrucksvoll zelebrierte Jimi Hendrix diesen Effekt bei seiner Version des „The Star-Spangled Banner“ auf dem Woodstock-Festival, wo er in die US-amerikanische Nationalhymne mit Hilfe des Tremolos den Klang von angreifenden Flugzeugen und explodierenden Bomben einwebte. Nachteil von so extremer Behandlung ist jedoch ein Verstimmen der Gitarre, wenn das Tremolo in die Ruhestellung zurückkehrt. Bei Hendrix' Auftritt in Woodstock kann man in mehreren Szenen des Films erkennen, wie der Musiker seine Gitarre nachstimmt. Hörbeispiel: Locking Tremolo bzw. Floyd Rose Das Floyd Rose Tremolo (oft auch „Locking Tremolo“ genannt) unterscheidet sich von herkömmlichen Tremolo-Systemen sehr wesentlich, denn hier laufen die Saiten weder beweglich über einen Sattel noch über Brücken-Reiter, sondern sind an beiden Enden fixiert: Das System ist Reibungsfrei, die Saiten können sich nach dem Tremolieren nirgends verhaken/verrutschen, also auch nicht verstimmen. Der wesentliche Unterschied zu herkömmlichen Tremolo-Systemen besteht also darin, dass die Tonhöhe nicht allein durch eine veränderte Saitenspannung bei identischer Länge erwirkt wird, sondern durch die Veränderung der Saitenlänge selbst. Diese verstimmungsfreie Mechanik bietet aber auch drei wesentliche Nachteile gegenüber frei beweglich geführten Saiten: 1.) Oktavreinheit: Da die Feinstimmung eines Floyd Rose Tremolos mit Justierschrauben direkt an den Brücken-Klemmen vorgenommen wird, kann dies dann nur noch über die Veränderung der Saiten-Längen geschehen: zu Ungunsten einer kontrollierbaren Oktavreinheit. 2.) Stimm-Prozedur: Die Gitarre muss einmal über die üblichen Wirbel-Mechaniken am Gitarren-Kopf gestimmt werden. Dann werden die Saiten am Sattel fest eingeklemmt, wozu Werkzeug nötig ist. – Ein Spontanes Umstimmen der Saiten um Halb- oder Ganztöne ist danach nicht mehr möglich. Reißt bei einem Konzert eine Saite, ist ungewiss, ob die Stimmung dann erhalten bleibt, denn das Brücken-System gerät aus seinem Gleichgewicht. 3.) Spielbarkeit/Klanggebung: Das Floyd-Rose-System hat durch die Stimm-Mechaniken der Brücke eine ziemlich hohe Bauhöhe. Dadurch wird das Anzupfen der Saiten sehr nah an der Brücke (schärfere Intonation: Twang) behindert. Auch lässt sich der Handballen der Spielhand nicht so gut auflegen, ohne das Tremolo zu bewegen, wie es bei herkömmlichen Tremolo-Systemen (Fender, Gretsch, Gibson …) problemlos ist. Das ursprüngliche Tremolo von Floyd Rose besteht aus folgenden Teilen: Sattel – Auflagepunkt der Saite. Saitenhalter – Kleiner Metallblock, der die Saite im Sattel festklemmt. Sattelschraube – Mit der Sattelschraube wird die Intonation der Saite eingestellt. Wird die Schraube gelockert, kann der Sattel einige Millimeter vor und zurück bewegt werden. Zur Justierung wird ein Inbusschlüssel benötigt. Feinstimmer – Schraube, um die jeweilige Saite zu stimmen Tremolohebel – Mit dem Tremolohebel wird das Tremolo während des Gitarrenspiels bewegt, um die Tonhöhenschwankungen hervorzurufen. Klemmsattel – Der Sattel wird am Kopf der Gitarre vor den Mechaniken eingesetzt, um die Saiten festzusetzen. Je nach Modell benötigt man einen Inbusschlüssel oder einen Schraubenzieher, um die Saiten am Sattel festzuklemmen. Saitenniederhalter – Metallstab, der auf der Kopfplatte installiert wird um die Saiten in einem bestimmten Winkel zum Klemmsattel zu führen. Federn – Die Federn befinden sich im Innern der Gitarre und bewirken einen Gegenzug zu den Saiten. Durch diesen Gegenzug wird das Tremolo in der Grundstellung gehalten. Je nach verwendeten Saiten können bis zu fünf Federn eingesetzt werden. Federhalter – die Federn sind am Federhalter aufgehängt. Der Federhalter kann mit Hilfe zweier Schrauben so eingestellt werden, dass das Tremolo bei Nichtgebrauch in der schwebenden Grundstellung verbleibt. Inbusschlüssel – Das Floyd Rose Tremolo benötigt meist drei verschiedene Inbusschlüssel für Saitenwechsel und Einstellung. Ein sehr nützliches Hilfsmittel ist die sogenannte Backbox. Weitere Typen Tremolos werden von verschiedenen Herstellern angeboten, wobei die Mehrzahl der Modelle Weiterentwicklungen des Bigsby- oder Vintagetyps darstellen. Das System der Fender Jazzmaster bzw. Jaguar war Leo Fenders Version des Bigsby-Prinzips. Im Gegensatz zum Bigsby verwendete Leo ein bewegliches Metallblech, an dem die Saiten aufgehängt werden. Während dieses Tremolo von Klang und Spielgefühl tatsächlich dem Bigsby-Vibrato ähnelt, hat es einen entscheidenden konstruktiven Nachteil: Durch die flache Decke der Gitarren üben die Saiten nur geringen Druck auf die Brücke aus. Dies ist bei dem Jazzmaster-Tremolo, welches nur durch den Druck der Saiten zusammengehalten wird, fatal: Je nach verwendeten Saiten produziert das Tremolo rasselnde Störgeräusche, die durch mitschwingende Metallteile des Tremolos hervorgerufen werden. Aus diesem Grund überzeugten Mitarbeiter Leo Fender, dieses System nicht auf der Stratocaster einzusetzen. Gibson entwickelte ein ebenfalls vom Bigsby-System inspiriertes Tremolo mit dem Namen „Maestro“. Bei diesem sind die Saiten an einem gebogenen Metallblech aufgehängt, welches in sich federn kann. Das „Maestro“ ist vor allem auf Gitarren des Typs „SG“ und „Firebird“ zu finden. Einen ganz eigenen Weg wählte Brian May (Gitarrist der Band Queen) bei dem Tremolo seiner Gitarre „Red Special“: Da May diese Gitarre als Jugendlicher selbst konstruierte, benutzte er für das Tremolo Materialien, die im Haus zu finden waren. Der Tremolohebel ist der Bremshebel eines alten Fahrrads, der Griff des Hebels ist der Kopf einer Stricknadel seiner Mutter. Der massive Metallblock, der ähnlich der Jazzmaster die Saiten aufnimmt, ist an einem alten Brotmesser drehbar gelagert. Die Feder stammt – wie bei Bigsby – aus dem Motor eines alten Motorrads. Da das Tremolo der Fender Stratocaster die weiteste Verbreitung fand, sind die verschiedenen Variationen dieser Konstruktion nahezu unüberschaubar. Die wichtigste Strömung innerhalb dieser Weiterentwicklungen betrifft das Bestreben, die Stimmstabilität zu verbessern. Sowohl Fender selbst, als auch andere Hersteller haben etwa die Aufhängung des Tremolos von sechs auf zwei Schrauben reduziert, um unnötige Reibung zu vermeiden. Weiter gibt es neben den Systemen von Floyd Rose verschiedene Systeme, die ebenfalls mit einem Festklemmen der Saiten arbeiten. Auch wird versucht mit speziellen Stimmmechaniken, die die Saite schon beim Aufziehen feststellen, einen ähnlichen Effekt zu erreichen. Weiter wurde immer wieder versucht, den Eigenklang des Tremolos zu verbessern, indem man stabilere Konstruktionen verwendete. Besonders die Ausführung aus massivem Metall bringt eine Verbesserung des Sustains gegenüber der von Fender verwendeten Blechkonstruktion. Besonders die Tremolos des amerikanischen Herstellers „Wilkinson“ beinhalten die verschiedenen Weiterentwicklungen, ohne sich optisch wie mechanisch weit von dem ursprünglichen Tremolo zu entfernen. Eine revolutionäre Entwicklung gelang in den 80er Jahren Ned Steinberger mit dem Transposing-Tremolo, welches lange Zeit exklusiv auf seinen Headless-Instrumenten ausgeliefert wurde. Erstmals bleibt hier beim Betätigen des Tremolohebels der gesamte, gespielte Akkord erhalten. Das System kann zudem mit dem Hebel in verschiedene Positionen „gelockt“ werden, wodurch ein Umstimmen (Transposing) der gesamten Gitarre während des Spiels möglich ist. Anders als bei den Messerkanten-Systemen ist hier ein freischwebender Teil mit speziellen Saitenhaltern über Lager mit den Seitenteilen der Grundplatte verbunden. Die Saiten laufen dann über einzeln verstellbare Rollsättel. Somit gerät das Tremolo auch bei extremer Auflage der Schlaghand nicht aus der Stimmung. Allerdings ist ein „Divebomb“ (drücken des Hebels bis die Saiten auf den Tonabnehmern aufschlagen) dadurch unmöglich. Eine integrierte Feder, die von außen mit einer Schraube verstellt werden kann, sorgt für eine leicht anpassbare Nullstellung. Um die nötige Stimmstabilität zu erreichen, wurde ein völlig neuer Ansatz verwendet. Statt der bisher üblichen Saitenklemmen griff man auf „Double-Ball“-Saiten zurück. Diese verfügen an beiden Enden über Kugeln (engl. ball end), die Stimmung der Gitarre wird über spezielle Mechaniken am Tremolo vorgenommen. Dadurch ist ein schneller Saitenwechsel möglich und auch die Stimmprozedur gestaltet sich wesentlich angenehmer als bei den klassischen Locking-Tremolos. Einer der bekanntesten Transtrem-Anwender ist Eddie Van Halen, der sich das System sogar in einige Exemplare seiner Signature-Gitarren von Musicman und Peavey einbauen ließ. Empfehlenswerte Hörbeispiele für den besonderen Sound des Steinberger Tremolos sind u. a. „Get Up“ und „Summer Nights“ auf dem Van Halen Album „5150“. Die Firma Washburn entwickelte in den 1980er Jahren ein an die Technik des Floyd-Rose-Systems angelehntes Tremolo mit dem Namen WonderBar. Der Vorteil dieses Systems lag darin, dass es auch bei Instrumenten nachgerüstet werden konnte, die zuvor kein Vibratosystem hatten. Da das Wonderbar-Tremolo auf der Gitarre aufgesetzt wurde, musste das jeweilige Instrument nicht mit einer großen Aussparung versehen werden. Es mussten lediglich vier Löcher gebohrt werden, um das System zu montieren, bei manchen Gitarren war die Montage in vorhandenen Schraublöchern möglich. Washburn warb damit, dass sein System stimmsicherer als die der konkurrierenden Unternehmen Floyd Rose und Kahler sei. Eine der ersten serienmäßig mit dem System ausgelieferten Gitarren war die Washburn AF-40V. Elektronische Simulation Im Bereich der elektronischen Effektgeräte wurden verschiedene Ansätze entwickelt, den Klang eines Tremolos zu simulieren. Schon in den 1950er Jahren begannen Firmen wie Fender und Vox, Tremoloeffekte in ihre Verstärker zu integrieren. Diese waren zunächst einfache Schaltungen, die -gemäß dem ursprünglichen Wortsinn- die Lautstärke des musikalischen Signals in kurzen Zeitabständen modulierten. Getreu der Namensverwechslung Tremolo-Vibrato erhielten die entsprechenden Verstärker der Marke Fender den Namenszusatz „Vibro“. Ursprüngliche, die Lautstärke verändernde Tremolos wurden auch schnell als externe Effektgeräte verfügbar. Hörbeispiel: Mit Einzug der digitalen Tonverarbeitung wurde es möglich, auch die Tonhöhe der Gitarre durch Effekte zu beeinflussen. Das sogenannte pitch shifting wurde für Gitarristen so weiterentwickelt, dass ein Verschieben der Tonhöhe auch in Echtzeit während des Spiels möglich wurde. Eines der bekanntesten Effektgeräte dieses Typs ist das „DigiTech Whammy“, bei dem die Tonhöhe während des Spiels durch ein Pedal geändert werden kann. Die so erzeugbaren extremen Tonhöhenänderungen sind u. a. auf Tom Morellos Solo in dem Song „Killing in the name“ (Rage Against the Machine) zu hören. Das Tremolo in der Musik Parallel zur technischen Entwicklung veränderte sich der Gebrauch des Tremolos in der Musik. In der Anfangszeit der E-Gitarre wurde das Tremolo lediglich dazu benutzt, langen Tönen oder Akkorden ein leichtes Schimmern hinzuzufügen. Besonders in der Popmusik der 1950er und 1960er Jahre, welche teilweise noch stark von Jazz und Swing beeinflusst war, wurde der klare, cleane Gitarrensound (oft auch Twang genannt) mit leichten Tremolos verziert. Berühmte Beispiele sind verschiedene Einspielungen der Shadows, deren Gitarrist Hank Marvin den Klang des Tremolos seiner Stratocaster fest in sein Spiel integrierte. Weiter ist der Gebrauch des Tremolos beispielhaft zu hören auf den Aufnahmen der Country- und Rock-’n’-Roll-Musiker Chet Atkins und Duane Eddy. In den 1960er und 1970er Jahren begannen viele Gitarristen, mit neuen Ideen wie dem Einsatz von Effekten und einem kreativen Einsatz des Tremolos neue Klänge zu erschaffen. Am weitesten ging dabei Jimi Hendrix, der nicht nur extremen Gebrauch des Tremolos machte, sondern auch durch weitere exzentrische Spielweise („Spielen“ der Gitarre mit den Zähnen und das Entzünden des Instruments auf der Bühne) die Grenzen der E-Gitarre auslotete. Weiter zeigten Gitarristen wie David Gilmour von Pink Floyd oder Steve Hackett von Genesis, wie man den Klang einer Gitarre mit Einsatz des Tremolos und Effekten verfremden kann. In den ausgehenden 1970er Jahren begann mit der Einführung des nahezu verstimmungsfreien Floyd-Rose-Tremolos eine neue Herangehensweise an das Gitarrenspiel. Edward Van Halen von der Band Van Halen zeigte auf dem über weite Strecken unbegleiteten Gitarrensolo Eruption auf dem 1978 erschienenen Debütalbum der Band eine ganz neue Spieltechnik auf der Gitarre. Neben dem flüssigen Einbau von Divebombs und anderen Tremolotechniken in das Spiel führte Van Halen auch neue Griff- und Anschlagtechniken wie das Tapping sowie das Sweep Picking vor. Weitere Vertreter dieses später Shredding genannten Spielstils sind Steve Vai, Joe Satriani und Paul Gilbert. Literatur Tony Bacon, Dave Hunter: Totally Guitar – the definitive Guide (englisch), Gitarrenenzyklopädie. Darin: Kapitel Guitar maintenance – set-up: vibratos, S. 79–88, Mit Beschreibung unterschiedlicher Vibrato-Typen. Backbeat Books, London 2004. ISBN 1-871547-81-4 Tony Bacon: Gitarren – Alle Modelle und Hersteller. London/Wien 1991, ISBN 3-552-05073-6 George Gruhn, Walter Carter: Elektrische Gitarren & Bässe – Die Geschichte von Elektro-Gitarren und Bässen. PPV, Bergkirchen. ISBN 3-932275-04-7 Heinz Rebellius: Warum ist die Strat die Strat? In: Gitarre und Bass. MM-Musik-Media, Ulm 2004,10, S. 98–102. Michael Schneider, Vilim Stößer: Guitar Basics – Alles, was Gitarristen wissen müssen! Darin: Kapitel Vibrato und Saiten, S. 64–76. Presse Projekt Verlag, Bergkirchen 2003. Weblinks „The Log“, Les Pauls Experimentalgitarre mit „Vibrola“ (englisch) E-Gitarre von Bigsby mit Tremolo aus dem Jahr 1952 (englisch) Einzelnachweise und Anmerkungen E-Gitarre Gitarren-Spieltechnik Musikalisches Effektgerät es:Tremolo
298364
https://de.wikipedia.org/wiki/Bahretal
Bahretal
Die Gemeinde Bahretal im sächsischen Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge liegt südlich von Pirna. Sie erstreckt sich über die Nordabdachung des östlichen Erzgebirges, das Elbtalschiefergebiet zwischen Gottleuba und Dohna. Mit ihren Nachbarstädten Liebstadt und Bad Gottleuba-Berggießhübel ging sie im Jahr 2000 die Verwaltungsgemeinschaft Bad Gottleuba-Berggießhübel ein. Geografie Landschaft Die Gemeinde ist durch eine hügelige Mittelgebirgslandschaft geprägt. Die Dörfer sind als Reihendörfer in hoch- und spätmittelalterlichen Rodungsgebieten (Waldhufenflur) entstanden (mit der Ausnahme von Niederseidewitz, das zum Teil ein erweiterter Rundling in einer Blockflur ist) und liegen zwischen 240 und in den Tälern der Bahre und Seidewitz sowie auf den Höhen dazwischen. Einige markante Erhebungen auf dem Gemeindegebiet sind die Berge Schärfling (), Herbstberg (), Roter Berg (), Mühlberg () und Bahreberg (). Lage Das Flüsschen Bahre, welches als Bahrebach etwa 1,5 km nördlich des Ortes Breitenau (Stadt Bad Gottleuba-Berggießhübel) bei entspringt und bei Gersdorf durch drei weitere Quellbäche (Gersdorfer Bach, Wingendorfer Bach und Bornaer Bach) gespeist wird, durchzieht die Gemeinde. Zwischen den Ortsteilen Borna-Gersdorf und Friedrichswalde-Ottendorf wurde 1970 ein Rückhaltebecken fertiggestellt, das nach dem Hochwasser der osterzgebirgischen Flüsse (Gottleuba, Bahre, Seidewitz, Müglitz) 1957 geplant wurde. Durch die Ortsteile Nentmannsdorf und Niederseidewitz fließt auch die Seidewitz, die kurz hinter Zuschendorf die Bahre in sich aufnimmt und in Pirna in Höhe des Senioren- und Pflegeheims an der Einsteinstraße in die Gottleuba fließt, die wiederum kurz darauf in die Elbe mündet. Gemeindegliederung Bahretal besteht aus den acht Ortsteilen Borna, Friedrichswalde, Gersdorf, Göppersdorf, Nentmannsdorf, Niederseidewitz (auch: Seidewitz; mit Oberseidewitz und Zwirtzschkau), Ottendorf und Wingendorf. Geschichte Die Entwicklung der Orte im Mittelalter (etwa ab 1300) wurde wesentlich durch die Familien von Bünau auf Liebstadt und Weesenstein und von Bernstein, von Lindenau und von Carlowitz in Ottendorf geprägt. Sie wurden hauptsächlich über das Schloss Ottendorf (erbaut im 16./17. Jahrhundert) sowie das Rittergut Gersdorf verwaltet. Entstehung und Namensgebung Gersdorf wurde erstmals 1299 als Gerhardisdorf urkundlich erwähnt. Der Name stammt von einem Lokator (Locator, lateinisch so viel wie Verpächter, Vermieter), der die Besiedlung im Auftrag der zuständigen Feudalherren (wahrscheinlich aus Liebstadt oder Pirna) organisierte und Siedler anwarb. Ähnliches trifft auf die Ortsnamen von Ottendorf, Friedrichswalde und Göppersdorf zu. In der genannten Urkunde wurde auch der heutige Ortsteil Gabel als Villa Gabele erwähnt. Der Name stammt vermutlich vom slawischen Jablonne und bedeutet soviel wie „Apfelbaumort“. Der Name Bornas leitet sich vom wendischen Borne ab, was „Lehmbach“ oder „Lehmfeld“ bedeutet. Seine erstmalige Erwähnung stammt aus dem Jahre 1388. 1311 wurden Friedrichswalde sowie seine Kirche erstmals urkundlich bezeugt. Seine Gründung führen Historiker auf Friedrich von Karaz zurück, der zwischen 1206 und 1220 mehrfach in Urkunden genannt wurde. Wie alle Dörfer der Region wurden auch Göppersdorf und Wingendorf (auch Groß- und Kleingöppersdorf) durch fränkische und thüringische Bauern besiedelt. Das „große und cleyne“ Gotfridersdorf (wiederum der Name eines Lokators Gottfrid) wurde erstmals um 1437 urkundlich erwähnt. Seit dem 16. Jahrhundert schreibt sich der Ort Göppersdorf. Die Waldhufendörfer gehörten bis 1855 zur Herrschaft Liebstadt. 1486 heißt es erstmals „im dorffe zcu Wenigißdorff, kleyne Gopperßdorff genannt“. Über Namensformen wie „Weinigsdorff“, „Wiengendorff“, „Windtorff“ und „Wittichendorff“ erhielt der Ortsteil 1557 den endgültigen Namen Wingendorf. Der Name von Nentmannsdorf ist sächsisch und leitet sich vom Namen Nantwin (althochdeutsch so viel wie „nantha“ = wagemutig oder kühn, „wini“ = Freund), der wahrscheinlich auch als Heiliger verehrt wurde, ab. Die erste Erwähnung findet sich 1338. die von Niederseidewitz im Jahr 1411. Zu Nentmannsdorf wird auch der Laurich (früher ein Gasthof) gerechnet. Zu Niederseidewitz gehören die Siedlungsbereiche Eulmühle und Zwirtzschkau. Ottendorf wurde 1299 erstmals erwähnt. Wahrscheinlich fällt die erste urkundliche Erwähnung sogar auf 1294, denn die Urkunde zeigt zwar 1344 als Datum, die handelnden Personen verweisen aber auf das Jahr 1294. Gegründet wurde das Dorf wohl von Otto von Donin, was somit zu Beginn des 13. Jahrhunderts erfolgt sein könnte. Der Name variiert in der Folgezeit nur wenig: Othendorff und Ottindorff. Historische Besitzverhältnisse, Gerichts- und Schankwesen sowie Parochie Borna In der Entstehungszeit gehörte das Dorf wahrscheinlich zunächst zur Burg Dohna, gelangte aber im Ergebnis der Dohnaischen Fehde zu Weesenstein. 1406 wurde es in einem Lehnbrief des Günther von Bünau auf Weesenstein erwähnt. Einige Jahre später (1455) wurde es im Gesamtlehnbrief derer von Bünau für Liebstadt erwähnt. Dies wurde auch in weiteren Lehnbriefen bis 1554 immer wieder bestätigt. Danach wechselten die Besitzer mehrfach. Der Ort wird als Pfandobjekt eingesetzt oder verkauft. Er gehörte in den Folgejahren den Besitzern (von Bernstein, von Bünau, von Reichenbach, von Metzsch, von Wolffersdorff, von Leyser, von Carlowitz) der umliegenden Schlösser in Liebstadt, Weesenstein, der Rittergüter in Gersdorf, Ottendorf, Krebs oder Giesenstein. 1731 befand es sich sogar im Besitz des Grafen Moritz von Sachsen. Seit dem 17. Jahrhundert ist in Borna auch ein Richtergut (Erb- und Lehngericht) nachweisbar. Seit 1507 unterlag Borna auch dem Liebstädter Bier- und Salzzwang (gemäß einem Vergleich der Städte Lauenstein und Liebstadt von 1494). Allerdings wird bereits zwei Jahre später mit Rücksicht auf Klagen des Rates zu Pirna angewiesen, dass die zu Liebstadt gehörenden Dörfer ihr Bier auch in Pirna kaufen dürfen. Der Vergleich von 1494 wird noch bis in das 18. Jahrhundert hinein immer wieder bestätigt. Die Kirche wird wie der Ort bereits 1388 in einer Urkunde der Dohnaer Burggrafen erwähnt. Vermutlich war sie zu dieser Zeit selbstständig. Später (1495) gehörte sie zu Pirna und zum Archidiakonat Nisan. Mit der Reformation, hier 1539 eingeführt, kommt die Bornaer Kirche zu Liebstadt. Als Pfarrhaus diente das Diakonat in Liebstadt. Allerdings bekam Borna 1894 ein eigenes Standesamt. Friedrichswalde Der Ort gehörte, soweit Urkunden vorliegen, zur Herrschaft Weesenstein. 1553 wurden Zwistigkeiten wegen des Bierschankes im Ort zwischen Weesenstein und dem Rat zu Pirna beigelegt. 1649 wurde der Besitzer des Friedrichswälder Lehngerichtes salzschankberechtigt. Trotz des Pirnaer Bierzwanges wurde um 1699 in Friedrichswalde Weesensteiner Bier ausgeschenkt. 1816 bekam das Erblehngericht das Recht zur Einkehr, des Schlachtens, Backens, Handelns, des Branntweinbrennens und -verkaufs sowie des Bierschanks mit beliebigen Bezugsort. Die Kirche wurde wie der Ort 1311 erstmals urkundlich erwähnt. Wie Borna gehörte sie 1495 zu Pirna und zum Archidiakonat Nisan. Seit 1501 wurden Teile von Niederseidewitz nach Friedrichswalde gepfarrt. Von 1640 bis 1644 wurde die Friedrichswälder Kirche mangels eines Pfarrers von Ottendorf aus verwaltet. Gersdorf Gersdorf teilte sich bis ins 17. Jahrhundert in Obergersdorf oder Gabel und Niedergersdorf. Dabei diente Niedergersdorf in den ersten urkundlichen Erwähnungen lediglich der Lagebeschreibung des Dorfes Gabel. Beide Dörfer gehörten zu dieser Zeit offensichtlich zur Landgerichtsbarkeit der Dresdner Pflege (Ende 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts unter der Herrschaft von Markgraf Friedrich von Dresden). Im Jahre 1304 wurden Gersdorf und Ottendorf ausdrücklich aus der Belehnung der Burggrafen zu Dohna mit der Dresdner Pflege herausgenommen. Mit Einschränkung der burggräflichen Rechte gehören beide Dörfer aber laut Zinsregister von 1378 schließlich doch zu Dohna. Mit dem Ausgang der Dohnaischen Fehde dürfte der Besitz der beiden Dörfer wieder an den Markgrafen gefallen sein. In den Folgejahren wurden verschiedene Einzelpersonen mit einzelnen Gütern, Personen oder Dingen belehnt (zum Beispiel die Familie von Bernstein auf Ottendorf oder von Nebelschütz). Weiterer Besitz lag offensichtlich auch bei zwei in Niedergersdorf ansässigen Adelsfamilien. Eine war wahrscheinlich die Familie von Körbitz („de Gurbewicz“, „von Gorwicz“), als Besitzer des Vorwerks, das später zum Rittergut ausgebaut wurde. Die andere war wahrscheinlich die Familie von Wurgwitz als Besitzer des Niedervorwerks. 1473 fiel das Vorwerk durch Verkauf an einen Heintzen von Rottwerndorff unter Mitbelehnung von Hans und Georg von Rottwerndorff. 1578 besaß die Familie von Bünau auf Liebstadt ganz Gersdorf. 1639 wurde Gersdorf an den Obersten Ludwig von Kahlen verkauft, 1657 gehörte es Bernhard Adolph von Meczsch, 1734 befand es sich im Besitz des Grafen Moritz von Sachsen und 1752 im Besitz der Familie von Leyser. Nach Klara Auguste von Ponikau (1784) wurde der Generalleutnant von Leyser Besitzer (noch 1840 nachweisbar), der das Rittergut ausbaute, die Gersdorfer Ruine bauen ließ und einiges für die wirtschaftliche Entwicklung des Dorfes tat (Musterwirtschaft, Edel-Schäferei, Gartenbau). Gersdorf hat nie über eine eigene Kirche verfügt und wurde seit alters nach Ottendorf gepfarrt. Über die Gerichtsbarkeit gibt es bis auf die Erwähnung eines Richters im Jahre 1788 keine gesicherten Angaben. Im Erbgang gelangte das Rittergut Gersdorf in den Besitz der Familie von Rayski und von dieser in den der Grafen von Breßler. Der kaiserlich-deutsche Diplomat Joachim Graf von Breßler-Rayski Freiherr von Apel (1873–1916) war der letzte Majoratsherr auf Gersdorf. Seine Stiefmutter Hedwig-Huberta Gräfin von Breßler geborene Gräfin von Matuschka wurde als letzte Eigentümerin des Rittergutes im Herbst 1945 entschädigungslos enteignet. Das Gersdorfer Schloss wurde in der Folgezeit nach dem Befehl der Sowjetischen Militäradministration aus dem Jahr 1947 – neben 120 weiteren Schlössern und Herrenhäusern in Sachsen – abgebrochen. Göppersdorf und Wingendorf Göppersdorf ist ein 1437 erstmals als Gotfridestorf erwähntes Waldhufendorf, welches sich in einem Seitental des Wingendorfer Baches auf 340– Höhe befindet. Der Name leitet sich wahrscheinlich von einem Gottfried genannten Lokator ab. Auch Wingendorf wurde 1437 als vorwiegend am rechten Ufer des Wingendorfer Baches liegendes kleinen Gotfridsdorf erwähnt. Der Name geht auf die unmittelbare Nachbarschaft zu Göppersdorf zurück. 1470 wurde der Ort als Weingendorf (mundartlich weng/wing = wenig) bezeichnet. Göppersdorf und Wingendorf gehörten zunächst der Familie von Bernstein zu Ottendorf. 1447 erfolgte der Verkauf an Elizabeth von Cziko(w), die ebenfalls eine Geborene von Bernstein war. Mitbelehnt wurden ihre Brüder und Vetter. Bereits 1455 erschienen die Dörfer im Besitz von Liebstadt (Gesamtlehnbrief derer von Bünau). Allerdings verblieb offensichtlich ein Teil von Wingendorf bei der Familie von Bernstein. Kirchlich gehörten die Dörfer ebenfalls zu Liebstadt. Bereits zur Reformationszeit wurden beide Orte dahin gepfarrt. Das Richtergut (Kretschmar) wurde gelegentlich im Zusammenhang mit der Nennung eines Richters und seiner Besteuerung (erstmals 1661) erwähnt. Beide Dörfer gehören mit Ober- und Erbgerichten bis zur Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit durch die Reichsjustizgesetze 1877 zur Gerichtsbarkeit des Liebstädter Rittergutes. Nentmannsdorf Nentmannsdorf wurde in seinen ersten urkundlichen Erwähnungen (1417) als zur Herrschaft Wehlen zugehörig bezeichnet. In den Lehnbriefen wurde diese Zugehörigkeit 1515 bestätigt. Allerdings gehörten die Vasallen von Nentmannsdorf bereits zur Pflege Dohna (1445, 1458) bzw. zum Amt Pirna (1548). Später wurden einzelne Güter oder Rechte an verschiedene Besitzer vergeben (von Wurgwitz, Nebelschitz, von Rottwerndorf, von Bernstein und von Bünau). 1586 erhielt Hans von Lindenau zu Ottendorf das Dorf einschließlich des Kalksteinbergwerks. Es verblieb in Ottendorf bis zur Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit. Das Richtergut wurde 1472 als zu von Wurgwitz gehörig bezeichnet. 1484 wurde Hans von Bernstein „mit eynem halben gericht“ belehnt. Nentmannsdorf unterstand noch 1699 dem Pirnaer Bierzwang, hat sich aber nicht daran gehalten. Nentmannsdorf wurde 1501 und 1548 nach Liebstadt gepfarrt, nach 1617 wahrscheinlich, ab 1634 sicher nach Burkhardswalde. Seidewitz (Nieder- und Oberseidewitz, Zwirtzschkau) Die Güter gehörten in der Entstehungszeit verschiedenen Besitzern (von Torgaw, von Biberach, von Gorwicz, von Mogelin, von Karlewitz, von Worgewitz). 1501 und 1542 wurde auch die Familie von Bünau (Weesenstein) als Besitzer genannt. Aber auch unter dieser Herrschaft wurden verschiedene Dienste (zum Beispiel Pflugdienste, Geschirrdienste), Zinsen und Ähnliches anderen Orten oder Personen zugewiesen. 1724 wurden Nieder- und Oberseidewitz dem Bünauischen Rittergut Meusegast zugeordnet. 1733 gehörten sie wieder zu Weesenstein. 1501 wurden Niederseidewitz nach Friedrichswalde und Oberseidewitz nach Dohna gepfarrt. 1539 gehörten beide Orte zur Parochie Friedrichswalde. Ottendorf 1304 belehnte Markgraf Friedrich den Burggrafen Otto von Dohna mit der Landgerichtsbarkeit bis zur Lockwitz, behielt sich aber die Gerichtsbarkeit über Ottendorf und Gersdorf ausdrücklich vor. 1400 verlieh der Landesherr den Ottendorfer Sitz und das Vorwerk an Barbara von Sullwitz. 1412 wurden schließlich etliche Mitglieder der Familie Karas und von Torgaw mit Ottendorf belehnt. 1445 befand sich das Dorf im Besitz der Familie von Bernstein. Kurzzeitig verschwanden die Bernsteins aus den Akten, tauchten aber 1529 wieder auf. Wegen hoher Schulden mussten sie das Gut schließlich einem Schwager (Dedo Rauchhaubt) 1582 verkaufen. Dieser veräußerte es bereits ein Jahr später an Thamme von Sebottendorff zu Rottwerndorff. Schließlich kam Ottendorf 1586 in den Besitz von Hans von Lindenau. Die Familie von Lindenau verkaufte 1598 an Rudolf von Bünau zu Weesenstein. Nach seinem Tode (1661) wurden der kursächsische Minister Sebastian Hildebrand von Metzsch und Albrecht Christian von Kromsdorf als Besitzer geführt. 1681 tauchte erstmals von Carlowitz (zunächst als Pächter) auf. 1682 bis 1709 wurde schließlich Georg Heinrich von Carlowitz als Lehns- und Gerichtsherr zu Ottendorf genannt. Ottendorf blieb bis 1945 im Besitz der Familie von Carlowitz. Das Richteramt zu Ottendorf war walzend, d. h. der Erbherr konnte einen Einwohner des Ortes damit beauftragen oder es wieder von ihm nehmen. Das Kirchlehen wurde erstmals 1447 erwähnt. Die Kirche wurde 1522 bis 1524 renoviert. 1698 wurde das Schiff gewölbt und 1900 fand ein weiterer größerer Umbau statt. Der immer noch genutzte Friedhof wurde 1885 mit einer Totenhalle angelegt. Zur Kirchgemeinde zählten Ottendorf, Gersdorf und Dohma. Geschichtliche und wirtschaftliche Entwicklung bis 1945 In Borna wurde seit 1551 Kalksteinabbau betrieben. 1713 lieferte Borna den Marmor für den Plattenbelag in der alten Katholischen Hofkirche Dresden. Durch die Kalkbrüche erlangten die Bornaer einen gewissen Wohlstand. Wie in Borna wurde auch in Nentmannsdorf seit 1586 Kalkstein abgebaut (noch im 21. Jahrhundert baut die Sächsische Baustoffunion SBU Dresden Amphibolit im Hartsteinwerk Nentmannsdorf im Seidewitztal ab und ProStein gewinnt in Friedrichswalde Diabas). Der Bergbau verhalf auch den Nentmannsdorfern zu einigem Wohlstand. Der Untertageabbau erlebte um 1878 mit dem Bau der Talstraße von Pirna nach Liebstadt noch einmal einen kräftigen Aufschwung. In den 1960er Jahren wurden die Brüche aus Rentabilitätsgründen stillgelegt. Die Lage an der Alten Dresden Teplitzer Poststraße führte zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit marodierenden Truppen im Dreißigjährigen und im Siebenjährigen Krieg sowie besonders während des Napoleonischen Krieges 1813 (hier lieferten sich Russen und Franzosen auch in den Nentmannsdorfer Kalkbrüchen blutige Gefechte, von dem noch die Napoleonschanze bei Herbergen zeugt), Not und Elend über die Bewohner der Region. 1877 wurde die Freiwillige Feuerwehr Gersdorf gegründet; sie sorgt seitdem für den Brandschutz und die allgemeine Hilfe. Ihre Feuertaufe musste sie bereits ein Jahr nach der Gründung bestehen. Sie löschte vier brennende Wohnhäuser in Berggießhübel und ging als „Retter von Berggießhübel“ in die dortige Stadtgeschichte ein. Auch in Gersdorf selbst hatte sie Bewährungsproben zu bestehen: zum Beispiel beim Brand des Rittergutes am 19. Juli 1888, zu dem sie vormittags um 10:45 Uhr alarmiert wurde, doch ein Sturm führte dazu, dass trotz energischen Eingreifens 13 Häuser den Flammen zum Opfer fielen. Das Hochwasser im Jahr 1927, als das 50-jährige Feuerwehrjubiläum gefeiert werden sollte, war eine weitere Bewährungsprobe. Das für den 28. August 1927 geplante Jubiläumsfest musste ausfallen und wurde am 28. und 29. Februar 1928 nachgeholt. Die Hochwasserschäden waren immens, der Pirnaer Anzeiger berichtete über „beträchtliche Wald- und Flurschäden“. Geschichtlicher Überblick nach 1945 1955 brannte der Turm des Rittergutes Gersdorf ab, so dass die Gesamtansicht des Ortes eine deutliche Veränderung erfuhr. Wegen ihrer Nähe zur tschechoslowakischen Grenze waren die Dörfer 1968 durch den Truppenaufmarsch der Roten Armee stark betroffen. Starke Panzerverbände blockierten während des Prager Frühlings die Straßen der Region. 1970 und 1973 erfolgten erste Zusammenlegungen der Dörfer zu den Gemeinden Friedrichswalde-Ottendorf, Nentmannsdorf-Niederseidewitz und Borna-Gersdorf. Als nach der Wende der Freistaat Sachsen neu entstanden war, folgte 1994 eine Gemeindegebietsreform, nach welcher diese Gemeinden sowie Göppersdorf und Wingendorf zur Gemeinde Bahretal zusammengelegt wurden. Im Jahr 2000 haben sich die Städte Bad Gottleuba-Berggießhübel und Liebstadt mit der Gemeinde Bahretal zu einer Verwaltungsgemeinschaft zusammengeschlossen mit Bad Gottleuba-Berggießhübel als erfüllender Gemeinde. Die Gemeinde, die sich über die Täler der Bahre und Seidewitz erstreckt, hatte beim Hochwasser im Sommer 2002 starke Schäden genommen. Besonders betroffen war die Infrastruktur der Gemeinde, insbesondere Straßen und Brücken. Allein im Tal der Bahre mussten fünf Brücken neu gebaut bzw. saniert werden. Dazu kamen umfangreiche Arbeiten zur Sanierung der Flussläufe, ihrer Stützmauern und der Straßen. Mit der Sanierung der Dorfstraße in Borna wurden diese Arbeiten zum größten Teil Ende 2004 abgeschlossen. Insgesamt summierten sich die Schäden in der Gemeinde auf etwa 10 Millionen Euro. Religion 28 % der Einwohner sind evangelisch, 2 % katholisch. Auf evangelisch-lutherischer Seite ist die Kirchgemeinde Liebstadt-Ottendorf der sächsischen Landeskirche zuständig, auf katholischer Seite die Pfarrei St. Heinrich und St. Kunigunde in Pirna, Bistum Dresden-Meißen. Politik Seit der Gemeinderatswahl am 26. Mai 2019 verteilen sich die 14 Sitze des Gemeinderates folgendermaßen auf die einzelnen Gruppierungen: Wählerinitiative Bahretal (WIB): 12 Sitze, Stimmenanteil 82,0 % FWB: 2 Sitze, Stimmenanteil 18,0 % Die Wahlbeteiligung lag bei 71,2 % (2014: 50,8 %). Kultur, Sport und Bildung siehe auch: Liste der Kulturdenkmale in Bahretal Sehenswürdigkeiten Die Gemeinde Bahretal verfügt über drei Kirchen in den Ortsteilen Ottendorf, Friedrichswalde und Borna. Die Kirche in Ottendorf ist romanischen Ursprungs und damit die älteste in der Gemeinde. Im 14. Jahrhundert wurde sie gotisch erneuert. Besonders sehenswert sind Fresken im Chorraum mit Abbildungen der Apostel und Evangelisten, die um 1500 entstanden sind, aber erst in letzter Zeit wiederentdeckt wurden. Eng verbunden ist die Geschichte der Kirche mit den Besitzern des Ottendorfer Schlosses. Hans von Lindenau stiftete der Kirche 1591 eine komplette Innenausstattung. Besonders beeindruckend ist der geschnitzte, dreigeschossige Renaissancealtar von Franz Dittrich d. Ä. sowie das Porträt des Stifters, eine Arbeit von Lucas Cranach d. J. Später wurde die Kirche die Grablege der Familie von Carlowitz. Davon zeugen zahlreiche Epitaphien im Chorraum und Kirchenschiff. Der Kirchenbau in Friedrichswalde geht auf das Jahr 1647 zurück. Im Dreißigjährigen Krieg mussten der Ort Friedrichswalde und auch die Kirche schwere Verwüstungen hinnehmen. Aus den Trümmern erstand ein neues Kirchengebäude. Der Turm und der Westgiebel kamen Ende des 19. Jahrhunderts hinzu, und die Innenausstattung wurde dem Zeitgeschmack angepasst und neogotisch erneuert. Zu den Gottesdiensten erklingt eine Orgel der Gebrüder Jehmlich, gebaut 1905. Die Kirche in Borna wurde erstmals im 14. Jahrhundert erwähnt. Damals war sie eine Kapelle für die Bergleute. 1752 musste sie wegen Baufälligkeit abgerissen werden. Bereits ein Jahr später weihten die Dorfbewohner an gleicher Stelle den Neubau mit schlichtem Äußerem ein. Er sitzt weithin sichtbar auf einem Hügel. Umso bemerkenswerter ist die Innenausstattung mit dem spätbarocken Ädikula-Kanzelaltar (1756), ein Werk des Dresdner Hofmarmorierers Andrea Salvatore Aglio. Der Marmor stammt aus den Bornaer Brüchen. Der Altar ist ein Geschenk an die Bornaer – als Gegenleistungen für Marmorlieferungen an den Dresdner Hof. Die Orgel stammt vom Dresdner Orgelbauer Jahn und wurde 1858 geweiht. 1981 wurde sie vom Nentmannsdorfer Siegfried Creuz restauriert. 1880 erfuhr die Kirche eine weitere Renovierung im Innern. Ihre drei Bronzeglocken (eine ältere Glocke trug die Jahreszahl 1563) musste die Kirche in den letzten beiden Weltkriegen jeweils zur Waffenproduktion abgeben. Sie wurden durch Stahlgussglocken ersetzt. 1976 konnte mit den Spenden der 100 Gemeindemitglieder ein neues Bronzegeläut in der Apoldaer Glockengießerei in Auftrag gegeben werden. 2003 feierte die Kirche ihr 250. Jubiläum und wurde aus diesem Anlass außen renoviert. In Nentmannsdorf (Nr. 35a) wurde 1995 von Norbert Creuz (einem gelernten Porzellanmaler) im Seitengebäude seines Bauernhofes ein Bauernmuseum mit der so genannten „Garagenorgel“ (seit 1978) seines Vaters Siegfried Creuz eröffnet. Nach vorheriger Anmeldung kann man auch eine Hörprobe dieses Instruments erleben. Bis 1989 wurde sie auch zu Konzerten gespielt. Oberhalb von Gersdorf ist die Gersdorfer Ruine ( – um das Jahr 1800) zu besichtigen. Diese wurde als künstliche Ruine errichtet und sollte als Jagdunterkunft dienen. Die Ruine gilt als Ausdruck romantischer Naturschwärmerei im beginnenden 19. Jahrhundert. Besonders die landschaftliche Lage der Gemeinde mit ihren Hügeln und Tälern ist hervorzuheben. Hinzu kommen zwischen Gersdorf, Cotta und Berggießhübel interessante Sandsteinformationen, die Felsenbrücken () und die Zehistaer Wände. Kulturelle Höhepunkte und Freizeitaktivitäten Kultureller Höhepunkt ist das jährlich Anfang August stattfindende Ortsfest in Gersdorf, 1968 begonnen. Das Ortsfest hat dabei immer in Verbindung mit dem Vogelschießen der Freiwilligen Feuerwehr stattgefunden. Erstmals wurde dieses Vogelschießen 1885 veranstaltet. Seit 1997 veranstaltet der Motorsportclub Bahretal e. V. jährlich die Sachsenmeisterschaft im Auto-Rodeo-Cross auf dem Nentmannsdorfer Weinberg. Bei diesen drei Autorennen pro Jahr treten Teams aus ganz Deutschland gegeneinander an, um den begehrten Titel Sachsenmeister im Auto-Rodeo-Cross zu erringen, der seit 1996 vergeben wird. Zu einer Tradition soll „Borna singt und musiziert“ werden. Diese Veranstaltung fand 2003 erstmals statt. Weitere Veranstaltungen werden regelmäßig durch den Heimatverein Borna-Gersdorf e. V. und die Freiwillige Feuerwehr Bahretal (sie entstand aus den Freiwilligen Feuerwehren Borna-Gersdorf, Göppersdorf-Wingendorf, Friedrichswalde-Ottendorf und Nentmannsdorf-Niederseidewitz) organisiert. Auch die Sportvereine und die in der Gemeinde ansässigen Betriebe und Handwerker beteiligen sich regelmäßig an den kulturellen Aktivitäten in den Ortsteilen. Gelegentlich bildet auch das Schloss Ottendorf die Kulisse für kleinere klassische Konzerte, Lesungen oder Rockkonzerte. Die Jugend, besonders aus Ottendorf und Friedrichswalde, trifft sich im Club am Rückhaltebecken, einer ehemaligen Baubaracke, zum Quatschen, Billard oder Tischtennis spielen oder zum Feiern. Weitere Jugendclubs befinden sich in Borna und Göppersdorf. Seit dem 1. Januar 2000 hat auch der Landesverband Sachsen der Jeunesses Musicales Deutschland in Niederseidewitz zu seinen Sitz. Die Musikalische Jugend Deutschland, Landesverband Sachsen e. V. versteht sich ebenso wie der Bundesverband als Fachverband für junge Musiker, veranstaltet mehrere Kurse pro Jahr, fördert den internationalen Austausch von jugendlichen Künstlern und ist bei Jugend musiziert engagiert. Sport Seit den 1990er Jahren haben sich mehrere Sportvereine gebildet, die das sportliche Leben der Gemeinde bestimmen, beispielsweise die Volleyballmannschaften des SV Nentmannsdorf e. V. und die Eishockeymannschaft der Borna-Gersdorfer Büffel (1999). In drei Ortsteilen der Gemeinde bestehen Reiterhöfe. Der MSC Bahretal e. V. betreibt eine eigene Cross Strecke, auf der regelmäßig Auto-Cross Rennen stattfinden. Seit 1997 sind in Gersdorf auch die Budo-Kampfkünste vertreten. Im Verein ANSHIN Traditionelles Karate Gersdorf wird dort zweimal in der Woche Karate trainiert. Schule Schulen gab es in den Ortsteilen Friedrichswalde (1555), Gersdorf (1842), Göppersdorf (1806), Nentmannsdorf (1830) und Ottendorf (1548, aber bereits 1419 soll in einem Vertrag der Schulgarten erwähnt worden sein). Die noch existierenden Schulgebäude stammen aus den Jahren 1837 (Nentmannsdorf), 1842 (Gersdorf), 1868 (Göppersdorf) und 1892/93 (Ottendorf). Bereits in den 1960er und 1970er Jahren gab es eine Konzentration auf die Schule in Gersdorf. Dazu wurde Mitte der 1960er Jahre in Gersdorf ein neues Schulgebäude gebaut. Da dennoch die Raumkapazitäten nicht reichten und einzelne Unterrichtsstunden in den Nachbargemeinden abgehalten werden mussten sowie die Bausubstanz den Erfordernissen eines modernen Unterrichts nicht mehr standhielt, wurde in den 1980er Jahren eine gänzlich neue Schule gebaut. Dieser typische DDR-Plattenbau wurde 1989 eingeweiht. Mit dem Schulgesetz für den Freistaat Sachsen vom 3. Juli 1991 wurden zum Schuljahresbeginn am 1. August 1991 aus der allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule (POS) Borna-Gersdorf die Grund- und die Mittelschule Gersdorf. Die Gemeinde Bahretal ist wie viele andere nicht vom Rückgang der Geburtenrate und damit der Schülerzahlen verschont geblieben. Somit musste die Grundschule zum 1. August 2001 schließen. Die Beschulung der Grundschüler erfolgt seitdem in der Grundschule in Liebstadt. Seit Juli 2006 ist die Mittelschule auch geschlossen. Die meisten Schüler besuchen nun die Oberschule in Bad Gottleuba. Infolgedessen gibt es morgens und mittags in Gersdorf ein großes Bustreffen, um alle Schüler nach Bad Gottleuba befördern zu können. Wirtschaft und Verkehr Wirtschaft Haupterwerbszweige waren und sind die Landwirtschaft und die Steinbrüche (Marmor, Kalkstein, Diabas oder „Grünstein“, Amphibolit). Mit der endgültigen Schließung des Kalkwerkes Borna (von 1965 bis 2000 prägten die drei Hochöfen das Bild Bornas) im Jahr 2000 fiel ein wesentlicher Arbeitgeber in der Region weg. Zu DDR-Zeiten wurden in Nentmannsdorf noch Fotoapparate repariert. Eine Präzisionssysteme-Firma nutzte das Grundstück später. Sie wanderte aber bald, weil sie nicht erweitern konnte, ins Gewerbegebiet nach Dohna ab. Geblieben sind neben der Landwirtschaft ein Steinbruch in Friedrichswalde, eine Reihe von Dienstleistungs- und Handwerksbetrieben. Im Jahr 2003 hat sich die österreichische Anlagenbau-Firma Zeta neu angesiedelt, die Nentmannsdorf als Ausgangspunkt für ihre Expansion auf den deutschen Markt nutzen will. Der Steinbruch in Nentmannsdorf wurde 2008 stillgelegt, in ihm wurde Diabas abgebaut. Nun soll er zu einem Taucherzentrum werden. Verkehr Bahretal liegt an der historischen Alten Dresden-Teplitzer Poststraße. Auf dem Gemeindegebiet befinden sich mehrere Postmeilensäulen: eine rekonstruierte Ganzmeilensäule (1729) am Ehrlichtteich bei Göppersdorf (Originalteil im Schloss Kuckuckstein in Liebstadt), eine restaurierte Halbmeilensäule (1729) zwischen Niederseidewitz und Nentmannsdorf sowie ein originaler Viertelmeilenstein (1729) am Weg vom Seidewitztal nach Niederseidewitz. Zwei nicht mehr vorhandene Viertelmeilensteine bei Borna / Gersdorf und Wingendorf wurden 2012 als Restleistung der DEGES laut Planfeststellungsbeschluss zur Bundesautobahn 17 angefertigt und aufgestellt. Durch die Gemeinde verlaufen von Pirna her mehrere Staats- und Kreisstraßen. Unter ihnen ist die das östliche Gemeindegebiet streifende S173 als Hauptmagistrale von besonderer Bedeutung. Sie führt von Pirna über Berggießhübel zum Grenzübergang Bahratal und weiter nach Ústí nad Labem (Aussig). Weitere Tangenten führen in den Tälern der Bahre (K8757) und der Seidewitz (S176) sowie auf der Höhe von Pirna-Zuschendorf nach Herbergen (K8760) durch das Gemeindegebiet. Beim Bau der Autobahn 17 erhielt die Gemeinde in Höhe der Ortsteile Nentmannsdorf und Friedrichswalde eine Anschlussstelle (AS Bahretal). Die A 17 durchschneidet auf insgesamt 11 km beginnend mit der Seidewitztalbrücke bis nach Börnersdorf das Gemeindegebiet. Außerdem wurde bei dieser Gelegenheit im Dezember 2008 die S170 als 3,7 km lange Neubautrasse von der Anschlussstelle Bahretal bis zur S173 in Cotta fertiggestellt. Die Strecke ist gleichzeitig die Ortsumfahrung der Ortsteile Friedrichswalde und Ottendorf. Kern der etwa 18 Mill. € teuren Strecke ist die 325 m lange Bahretalbrücke, die das Tal der Bahre in einer Höhe von bis 28 m überspannt. Die Gemeinde wird durch den öffentlichen Nahverkehr des Regionalverkehrs Sächsische Schweiz-Osterzgebirge (RVSOE) mit den Linien von Pirna nach Wingendorf, Berggießhübel, Bad Gottleuba und Liebstadt (zum Teil auch im Zuge des Schülertransportes) erschlossen. Seit Juli 2003 sind jedoch keine Fahrten am Wochenende mehr im Angebot. Der nächste Bahnhof befindet sich in Pirna. Literatur Förderverein Dorfentwicklung Bahretal e. V. (Hrsg.): Geschichte und Geschichten der Gemeinde Bahretal., Bahretal 2008ff. (zwischen 2008 und 2013 erschienen 15 Hefte) Christoph Bieberstein: Gewerblich-industrielle Kulturlandschaften: Herausforderung für Kulturlandschaftsforschung und Regionalentwicklung. Untersuchungen am Beispiel des historischen Kalkgewerbes im Raum Pirna (Elbtalschiefergebirge). Dissertation TU Dresden, Dresden 2013. (Digitalisat; PDF; 43,1 MB). Christoph Bieberstein: Vom historischen Kalkgewerbe und Altbergbau in der Gemeinde Bahretal. Bahretal 2013. Johannes August Detterle: Burkhardswalde (Ephorie Pirna): Geschichte der Kirchfahrt und der vier zu ihr gehörenden Dörfer Burkhardswalde, Biensdorf, Großröhrsdorf, Nenntmansdorf. Verlag Glöß, Dresden 1900. (Digitalisat). Alfred Meiche: Historisch-Topographische Beschreibung der Amtshauptmannschaft Pirna. Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha v. Baensch Stiftung, Dresden 1927. (). Sächsische Zeitung. Regionalausgabe Pirna. 18. Februar 2004, 13. Juli 2004, 23. Juli 2004 und 27. Juli 2004. Weblinks Website der Gemeinde Bahretal Brigitte Kolba: Bahretal – Lebensqualität auf dem Dorf. Dem demografischen Wandel aktiv begegnen. Vortrag Sächsischer Demografiekongress am 24. Januar 2011 (Abruf am 29. August 2013; PDF; 3,7 MB). Informationen zur Geschichte des Kalkabbaus in Borna Einzelnachweise Ort im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge Gemeindegründung 1994
328985
https://de.wikipedia.org/wiki/Priapsw%C3%BCrmer
Priapswürmer
Als Priapswürmer (Priapulida) oder Rüsselwürmer bezeichnet man einen Stamm wurmförmiger Häutungstiere (Ecdysozoa) mit verdicktem rüsselartigen Kopf, die allesamt im oder auf dem Meeresboden leben. Ihre nächsten Verwandten sind vermutlich Hakenrüssler (Kinorhyncha) und Korsetttierchen (Loricifera), mit denen sie in einem Taxon Scalidophora zusammengefasst werden. Sie sind wegen ihres an das männliche Geschlechtsorgan erinnernden Aussehens nach dem griechischen Gott der Manneskraft, Priapos, benannt, der gewöhnlich mit einem enormen Penis dargestellt wird. Sie wurden erstmals von Carl von Linné in seinem Werk Systema Naturae als Priapus humanus, übersetzt "Menschlicher Penis", erwähnt. Die Priapswürmer sind ein artenarmer Stamm mit 19 bekannten Arten. Aufbau Priapswürmer haben einen meist plumpen, zylindrisch geformten Körper, dessen Länge zwischen 0,05 Zentimetern bei Tubiluchus corallicola und 39 Zentimetern bei Halicryptus higginsi liegt. Obwohl von kreisförmigem Querschnitt, sind die inneren Organe zweiseitig symmetrisch angeordnet. Äußere Form Am Vorderende tragen die Tiere einen kurzen rüsselförmigen "Kopf", der auch als Proboscis oder Introvert bezeichnet wird. Dahinter befindet sich der oberflächlich in 30 bis 100 Ringe geteilte Rumpf, der jedoch intern nicht segmentiert ist. Er ist bedeckt von chitinhaltigen Dornen, den Scaliden, sowie von zahlreichen Grübchen und Papillen, die wohl allesamt als Sinnesrezeptoren dienen. Die Dornen werden darüber hinaus auch zur Fortbewegung eingesetzt. Besonders häufig treten sie, meist in Form dorniger Haken, auch in der Pharynxregion auf dem Introvert auf, wo sie in mehreren Längsreihen angeordnet sind und wahrscheinlich auch zum Beutefang benutzt werden. Am Hinterende können sich ebenfalls Haken befinden; sie dienen wohl zur Fortbewegung. Einige Arten besitzen zudem entweder einen langen, einziehbaren Schwanz, der vermutlich zur Verankerung im Sediment dient, oder ein bis zwei büschelige Schwanzanhänge. Letztere kommen besonders bei Tieren vor, die in sauerstoffarmen Sedimenten leben; sie dienen daher wahrscheinlich eher dem Gasaustausch, daneben vielleicht auch der Regulation des Salzhaushalts oder der Wahrnehmung chemischer Substanzen. Haut, Muskulatur und Pseudocoelom Die Körperwand ist ein Hautmuskelschlauch, der aus einer chitinhaltigen nichtzelligen Außenhaut, der Cuticula, einer als Epidermis bezeichneten Innenhaut sowie aus zwei Schichten quergestreifter Muskulatur besteht. Die Cuticula setzt sich zusammen aus einer außenliegenden kollagenhaltigen Epicuticula, einer aus Proteinen aufgebauten Exocuticula und einer chitinhaltigen Endocuticula und wird regelmäßig gehäutet. Die Epidermis besteht aus einer einlagigen Zellschicht; unter ihr befindet sich erst eine Schicht Ringmuskulatur, der eine weitere Schicht Längsmuskulatur folgt. Am Vorderende sitzen zusätzlich zwei Gruppen spezialisierter Längsmuskeln, die Introvert-Retraktor-Muskeln, die dem Wurm ermöglichen, das Introvert in den Rumpf einzuziehen und somit zu schützen. Zwischen der innersten Muskelschicht und dem Verdauungstrakt samt assoziierter Muskeln befindet sich die Leibeshöhle. Sie wurde lange Zeit als echtes Coelom angesehen, also als flüssigkeitsgefüllter Hohlraum, der von Epithelgewebe begrenzt wird, das während der Embryonalentwicklung aus Zellen des Mesoderm hervorgeht. Es ist aber nach neueren Erkenntnissen wohl nicht von einer eigenen Zellschicht umkleidet und stellt damit ein so genanntes Pseudocoelom dar; eine Ausnahme bilden lediglich die Keimdrüsen und vielleicht auch der Schlund, die anscheinend von einem echten Coelom umgeben sind. Das Pseudocoelom ist von einer Flüssigkeit gefüllt, in der neben amöboiden Fresszellen auch rosafarbene Blutzellen zirkulieren, die den sauerstoffbindenden Blutfarbstoff Hämerythrin enthalten und deshalb als Hämerythrocyten bezeichnet werden. Sie erlauben den Würmern vermutlich den Aufenthalt in ihrem teilweise sauerstofflosen (anoxischen) Lebensraum. Neben seiner Funktion in der Weiterleitung von Nährstoffen und Gasen durch den Körper dient das Pseudocoelom auch als hydrostatisches Stützskelett. Verdauungs- und Ausscheidungsorgane Der Verdauungstrakt beginnt mit dem Mund, an den sich ein muskulöser und von innen mit zahlreichen "Zähnchen" besetzter Schlund anschließt. Er kann ein- und ausgestülpt werden und wird in letzterem Zustand auch als Mundkegel bezeichnet – die Zähnchen kommen dann außen zu liegen. Hinter dem Schlund schließt sich manchmal eine weitere Höhlung an, das Polythyridium, das wohl als Muskelmagen der weiteren Zerkleinerung der Nahrung dient, die dann im mit zahlreichen Einstülpungen, den Microvilli, besetzten Mitteldarm aufgenommen wird. Nicht verwertbare Reststoffe gelangen in einen kurzen Enddarm, der im endständigen After endet. Der gesamte Verdauungstrakt ist von zwei Muskelschichten umgeben, innenliegender Ringmuskulatur und außenliegender Längsmuskulatur. Die Ausscheidung flüssiger Abfallstoffe findet durch zwei paarig angelegte büschelige Organe statt, die als Protonephridien bezeichnet werden und im hinteren Rumpf links und rechts des Darmes an speziellen Bändern, den Mesenterien, aufgehängt sind. Sie bestehen aus feinen Röhrchen, an deren Ende mindestens zwei einfach bewimperte Zellen, die Solenocyten, sitzen. Zusammen mit dem von der zylindrischen Keimdrüse ausgehenden Ei- beziehungsweise Samenleiter münden sie in einem gemeinsamen Urogenitaltrakt, der durch kleine Öffnungen, die Nephridioporen, am Rumpfende mit der Außenwelt verbunden ist. Nervensystem und Sinnesorgane Das Nervensystem besteht aus einem Nervenring, der am Vorderende des Kopfes um den Mund herum verläuft. Von ihm zieht ein einfacher, ungepaarter und ganglienloser Nervenstrang in der Mitte der Bauchseite nach hinten, von dem seinerseits in regelmäßigen Abständen Ringnerven abzweigen. Er selbst endet in einem Schwanzganglion. Der Sinneswahrnehmung dienen die zahllosen Grübchen (Flosculi), Noppen (Papillen) und Dornen (Scaliden), die hohl sind und jeweils eine einfach begeißelte Sinnesnervenzelle beherbergen. Verbreitung und Lebensraum Die größeren Priapswurm-Arten leben nur in den kalten zirkumpolaren Gewässern der Arktis und Antarktis, an den Küsten Nordamerikas östlich bis etwa auf die Höhe des US-Bundesstaats Massachusetts, westlich bis etwa Zentralkalifornien sowie in Nord- und Ostsee; von Süden auch um das argentinische Patagonien herum. Die kleineren Arten, besonders aus der Familie Tubiluchidae, finden sich dagegen weltweit in marinen Gewässern, auch in den Tropen, speziell in der Karibik und vor den Küsten Mittelamerikas. Alle Tiere leben benthisch, also auf dem Meeresboden, wo sie sich derart in sauerstoffarme Sedimente eingraben, dass die Mundöffnung auf der Sedimentoberfläche liegt. Sie kommen von der Gezeitenzone bis in etwa 500 Meter Wassertiefe vor; manche Arten finden sich im Wattenmeer oder im brackigen Wasser vor Flussmündungen. Die kleineren Arten leben auch interstitial in den Lücken zwischen den feinen Körnern von Muschel- oder Korallensand. Eine besondere ökologische Nische hat die Art Halicryptus spinulosus gefunden, die in nahezu sauerstofffreien (anoxischen), sulfidgesättigten Sedimenten der Ostsee lebt und offensichtlich in der Lage ist, große Konzentrationen dieses Gifts zu tolerieren beziehungsweise innerhalb des eigenen Körpers abzubauen. Insbesondere die größeren Wurmarten sind heute in erster Linie auf arten- und damit konkurrenzarme Lebensräume spezialisiert und spielen ökologisch im Vergleich zu anderen Bewohnern des Meeresbodens nur noch eine untergeordnete Rolle. Ernährung und Fortbewegung Die größeren Arten leben allesamt räuberisch von wirbellosen Tieren mit weichem Körper wie Vielborstern (Polychaeta), aber auch anderen Priapswürmern. Ihrer Beute lauern sie im Sediment eingegraben auf, packen sie mit den dornigen Haken ihres Introverts und schieben sie als Ganzes durch permanentes Ein- und Ausstülpen des Mundkegels immer weiter in den Schlund, wo sie durch die feinen Zähnchen klein gehäckselt wird. Beim Ausstülpen des Mundkegels gelangen die Zähnchen nach außen und helfen so mit, die Beute sicher zu ergreifen. Die kleineren Arten ernähren sich dagegen eher von organischem Abfall und den darin enthaltenen Bakterien. Maccabeus filtert eventuell Nährstoffe aus dem Wasser, erzeugt dazu allerdings anscheinend keinen Atemwasserstrom wie andere Filtrierer. Ausgekleidete Wohnröhren, wie sie von anderen meereslebenden Würmern angelegt werden, sind bei den Priapswürmern unbekannt. Priapswürmer bewegen sich mit Hilfe ihres rüsseligen Introverts vorwärts und können sich, wenn auch bei den erwachsenen Tieren mit Schwierigkeiten, in weiche Sedimente eingraben, indem sie dort abwechselnd ihre vordere und hintere Körperregion verankern. Zu Beginn eines Zyklus wird der Körper am Hinterende durch Entspannung der dortigen Ringmuskulatur verdickt und bildet dort auf diese Weise den so genannten Penetrationsanker. Die restliche Ringmuskular kontrahiert hingegen und verringert damit den Körperquerschnitt. Da die Flüssigkeit im Pseudocoel praktisch immer dasselbe Volumen einnimmt, stülpen sich bei entspannter Längsmuskulatur Introvert und Schlund nach vorne aus. Dadurch, dass nun durch eine vom Hinterende ausgehende wellenförmige Kontraktion der Ringmuskulatur immer mehr Flüssigkeit aus dem Rumpf in das Introvert gelangt, dehnt sich dieses erheblich aus und verankert nun seinerseits den Körper an der Vorderseite. Durch Kontraktion der Längsmuskulatur und der Introvert-Retraktormuskeln wird der Rest des Körpers nach vorne nachgezogen, so dass nach Aufbau eines neuen Penetrationsankers am Hinterende der Zyklus von vorne beginnen kann. Fortpflanzung und Entwicklung Priapswürmer sind getrenntgeschlechtliche Tiere, obwohl sich Männchen und Weibchen meist nicht unterscheiden lassen. In der Gattung Maccabeus sind keine Männchen bekannt, sie vermehrt sich daher wahrscheinlich parthenogenetisch, also ohne Befruchtungsvorgang. Samen und die kleinen Eier mit relativ hohem Dottergehalt werden bei den größeren Arten meist im Spätwinter freigesetzt und extern befruchtet. Meist geben zuerst die Männchen, dann die Weibchen ihre Keimzellen ins Meerwasser ab. Bei den kleineren Arten kommt eventuell auch eine interne Befruchtung im Körper des Weibchens vor. Die Entwicklung der Tiere verläuft bei einer Art (Meiopriapulus fijiensis) direkt, meist aber über ein ebenfalls bodenlebendes Larvenstadium. Der Rumpf der Larven ist von einem Korsett, der Lorica, aus zehn Cuticulaplatten bedeckt, von denen je eine bauch- und rückenseitig, drei auf jeder Seite und zwei kleinere am Vorderende liegen (deshalb "loricate" Larve benannt). Wie bei den erwachsenen Tieren ist auch bei den Larven das Vorderende als Introvert ausgebildet und in den Rumpf einstülpbar. Am Hinterende befinden sich spezielle "Zehen", die mit Klebedrüsen versehen sind und wahrscheinlich der Anheftung am Sediment dienen. Vor der Metamorphose, also der Umwandlung zum erwachsenen Tier, durchläuft die Larve zahlreiche Häutungen, bei denen auch die Lorica jeweils erneuert wird. Während der komplexen Entwicklungsphase, die womöglich bis zu zwei Jahre andauern kann, ernährt sie sich vermutlich detrivor, also von organischen Abfallstoffen. Am Ende dieser Zeit steht die Metamorphose selbst, bei der die Lorica verloren geht; Häutungen finden jedoch auch bei den erwachsenen Tieren weiterhin statt. Stammesgeschichte Vergleiche mit modernen Taxa sehen die nächsten Verwandten der Priapswürmer recht eindeutig in den Hakenrüsslern (Kinorhyncha) und Korsetttierchen (Loricifera), mit denen sie das Taxon Scalidophora bilden. Die drei Gruppen teilen zahlreiche Merkmale, so die mit Chitin verstärkte Außenhaut, die darauf befindlichen chitinhaltigen Borsten oder Stacheln, der Sinneswahrnehmung dienende Grübchen (Flosculi) sowie zwei Gruppen von Introvert-Retraktor-Muskeln, die vorne am Gehirn ansetzen. Welche der beiden Tierstämme die evolutionäre Schwestergruppe darstellt, ist hingegen weitaus stärker umstritten; alle drei kombinatorisch möglichen Varianten sind von Zoologen vorgeschlagen und begründet worden. Für eine engere Verwandtschaft von Priapswürmern und Korsetttierchen spricht das Vorhandensein eines von der Cuticula gebildeten Korsetts, das bei den ersteren im Larvenstadium vorhanden ist, für eine enge Verwandtschaft von Priapswürmern und Hakenrüsslern dagegen die Tatsache, dass das Schlundgewebe nicht aus Epithelmuskelzellen besteht, sondern sich von embryonalem Mesoderm ableitet. Die dritte Alternative, ein Schwestertaxon-Verhältnis zwischen Hakenrüsslern und Korsetttierchen mit den Priapswürmern als Außengruppe, wird durch den vorstreck-, aber nicht ausstülpbaren Mundkegel der beiden ersteren Taxa begründet. Seit dem Jahr 2004 sind aus Hunan in Südchina Embryo-Fossilien der Art Markuelia hunanensis bekannt. Sie entstammen der erdgeschichtlichen Epoche des mittleren bis späten Kambriums vor etwa 500 Millionen Jahren und werden durch eine kladistische Analyse als Vertreter der Stammlinie der Scalidophora angesehen, lassen sich also keiner der modernen drei Gruppen zuordnen, aus denen dieses Taxon besteht. Markuelia hunanensis war möglicherweise segmentiert – falls sich dieser Befund und zugleich die kladistische Analyse bestätigen sollte, wäre der Verlust der Segmentierung ein gemeinsames abgeleitetes Merkmal (Synapomorphie) sowohl der Priapswürmer als auch der Korsetttierchen und würde damit deren Schwestergruppenverhältnis unterstreichen. In die weitere Verwandtschaft der Priapswürmer gehören Faden- (Nematoda) und Saitenwürmer (Nematomorpha), mit denen die Scalidophora das Taxon Cycloneuralia bilden. Allesamt werden sie in die Häutungstiere (Ecdysozoa) eingeordnet, zu denen auch die Panarthropoda mit den Gliederfüßern (Arthropoda) als wichtigster Gruppe gerechnet werden. Fossile Überlieferung Anders als die meisten weichkörperigen Tiere sind die Priapswürmer auch fossil bekannt; bisher wurden mindestens elf Arten beschrieben, die sich formell auf sieben Gattungen aufteilen. Sie finden sich schon im kanadischen Burgess-Schiefer, der vor 530 Millionen Jahren in der erdgeschichtlichen Epoche des mittleren Kambriums entstand, sind also schon von Anbeginn des modernen Äons, des Phanerozoikums, erhalten. Priapswürmer waren neben den Gliederfüßern (Arthropoda) die bedeutendste Wirbellosen-Gruppe des Kambriums und stellten bis zum Ordovizium die dominanten Raubwürmer des Meeresbodens. In der frühkambrischen Maotianshan-Fauna aus China stellen sie mit über 40 % der Individuen die häufigste Gruppe und sind hier häufiger als die (allerdings artenreicheren) Arthropoden. Die in der gesamten Zönose häufigste Gattung lebte als weitgehend unbeweglicher, teilweise im Substrat eingegrabener Räuber/Aasfresser, diesen Lebensstil teilten acht andere Gattungen. Die zweithäufigste Gattung lebte als kleiner grabender Sedimentfresser. Die frühkambrischen Priapuliden weisen also einige Ähnlichkeiten in der Lebensweise und Ernährung mit den rezenten Formen auf, von denen sie sich vor allem durch das häufige Vorkommen am "normalen" Meeresboden unterschieden, während die modernen Formen eher auf Extremhabitate beschränkt sind. Erst mit dem Auftreten kieferbewehrter Vielborster (Polychaeta) aus den Reihen der Ringelwürmer (Annelida) verloren die Priapuliden an ökologischer Bedeutung und verschwanden bis zum Silur weitgehend aus der fossilen Überlieferung, weswegen Priapswürmer auch schon als "basic failure", also als (evolutionärer) Fehlschlag gesehen wurden. Lediglich eine weitere fossile Gattung, Priapulites, konnte aus der späteren erdgeschichtlichen Epoche des Karbon beschrieben werden; sie lässt sich bereits in die moderne Familie Priapulidae einordnen. Die fossil erhaltenen Arten lebten wie ihre modernen Verwandten räuberisch als Bestandteil des Benthos, also des weichen schlammigen Meeresbodens. Die acht Zentimeter lange Art Ottoia prolifica, deren Häufigkeit schon im wissenschaftlichen Namen zum Ausdruck kommt, lauerte Hyolithiden (Hyolitha) auf, seltsamen, wurmartigen, heute ausgestorbenen Tieren des Paläozoikums, die Verwandte der Armfüßer (Brachiopoda) sind. Reste von Artgenossen im Darm von Ottoia prolifica deuten darüber hinaus auf Kannibalismus hin. Neben Ottoia verfügten auch Arten der Gattungen Corynetis und Anningvermis aus dem Maotianshan-Schiefer Chinas bereits über Schlundzähnchen, sie wiesen zudem schon Schwanzanhänge auf. Stammesgeschichtlich bilden die fossilen Arten (mit Ausnahme von Priapulites) vermutlich die Schwestergruppe der modernen Arten, wie eine systematische Analyse ergab. Die Arten Corynetis brevis, Anningvermis multispinosus, Acosmia matiania, Paraselkirkia sinica und Xiaoheiquingella peculiaris wurden allerdings bisher nicht in diese mit einbezogen: Die als Paleoscolidea bezeichneten Gattungen wurden lange Zeit nicht zu den Priapswürmern gerechnet und mit verschiedenen anderen Tiergruppen alliiert; nach moderner Auffassung gibt es aber keinen Grund, sie von den anderen fossilen Formen systematisch besonders zu unterscheiden. Im Gegensatz zu den anderen Formen war bei ihnen der Körper auch beim geschlechtsreifen Tier mit Plättchen (Scaliden) unterschiedlicher Form und Größe bedeckt. Zwei traditionell zu den Priapswürmern gerechnete Gattungen, Ancalagon und Fieldia, gehören auf der anderen Seite wahrscheinlich nicht zu dieser Gruppe, sondern sind möglicherweise Vertreter der Stammlinie aller Scalidophora. Priapswürmer als paläontologische Modellorganismen Aufgrund des vergleichsweise häufigen Vorkommens fossiler Priapswürmer in kambrischen Sedimenten eignen sich diese gut für die Untersuchung makroevolutionärer Fragestellungen. Ein wichtiges Problem in Bezug auf die Evolutionsgeschichte der vielzelligen Tiere (Metazoa) betrifft zum Beispiel die Natur der so genannten Kambrischen Radiation. Dabei handelt es sich um eine nur wenige Millionen Jahre lange Zeitspanne im Kambrium, innerhalb derer erstmals zahlreiche moderne Taxa mit ihren morphologisch zum Teil erheblich verschiedenen Grundplänen auftraten. Neben der Frage nach der Ursache dieser plötzlichen "Explosion" ist man heute auch daran interessiert, ob die morphologische Vielfalt innerhalb eines gegebenen Taxons damals größer war als in der Gegenwart. Hintergrund dieser Fragestellung ist die von einigen Paläontologen geäußerte Vermutung, dass das Kambrium in der Tierwelt eine Zeit des "Experimentierens" mit verschiedenen Körperbauplänen war, von denen sich in der Folge nur einige wenige durchsetzen konnten. Untersuchungen an fossilen Gliederfüßern stützen diese These bedingt, liefern allein jedoch nicht notwendigerweise ein repräsentatives Bild. Zu diesem Zweck wurden die erhaltenen Priapswurmfossilien phänetisch analysiert: Im Gegensatz zur kladistischen Analyse, die der Aufdeckung der stammesgeschichtlichen Verwandtschaftsverhältnisse dient und bei der Bildung höherer Taxa nur gemeinsame abgeleitete Merkmale heranziehen darf, werden dabei auch die "primitiven", also von einem gemeinsamen Vorfahren stammenden Charakteristika in die Untersuchung mit einbezogen; sie eignet sich daher besonders für quantitative Vergleiche der morphologischen Typenvielfalt zweier Gruppen. Das Ergebnis einer phänetischen Untersuchung ist die Positionierung aller Arten in einem mehrdimensionalen Raum, der fachsprachlich als "morphospace" bezeichnet wird. Jeder Art entspricht genau ein Punkt dieses Raumes; der Abstand zweier Punkte spiegelt den Grad der morphologischen Unterschiede zwischen den beiden zugehörigen Arten wider. Durch Verbindung jedes Punktes mit seinem nächsten Nachbarn entsteht schließlich ein Netz, das das Ausmaß struktureller Ähnlichkeit (nicht notwendigerweise aber stammesgeschichtliche Verwandtschaft) anzeigt. Die Untersuchungen ergaben, dass alle kambrischen Formen im "morphospace" eine nah beieinander liegende Gruppe, einen so genannten "Cluster" bilden. Die einzige aus dem Cluster heraus laufende Linie verbindet diesen mit der aus dem Karbon stammenden Gattung Priapulites, an welche die modernen Formen angebunden sind. Diese bilden jedoch keinen Cluster, sondern zwei sehr weit auseinander liegende Gruppen, die von den Arten der Familie Tubiluchidae einerseits und allen anderen modernen Formen andererseits gebildet werden. Letztere nehmen selbst ein relativ diffuses Gebiet ein, sind also ebenfalls nicht eng im "morphospace" konzentriert. Dieses Ergebnis wird heute wie folgt gedeutet: Die morphologische Vielfalt kambrischer Formen ist bedeutend kleiner als die heutige. Zumindest bei den Priapswürmern kann von einem postkambrischen Zusammenbruch des Formenreichtums keine Rede sein. Anders als vielfach angenommen, haben sich moderne Priapswürmer in ihrem Aufbau von ihren ausgestorbenen Vorfahren deutlich abgesetzt. Dies steht im Gegensatz zu Ergebnissen bei den Gliederfüßern (Arthropoda), bei denen sich die von ausgestorbenen und modernen Formen eingenommenen "morphospace"-Gebiete weitgehend überlappen. Priapswürmer haben daher noch nach dem Kambrium wesentliche morphologische Neuerungen hervorgebracht – was zumindest für dieses Taxon die These widerlegt, dass das Kambrium eine besondere Zeit der evolutionären "Experimente" war, nach der wesentliche Fortentwicklungen des "Bauplans" durch eine straff integrierte genetische Steuerung der embryologischen Entwicklung stark eingeschränkt waren. Die morphologischen Veränderungen hängen vielleicht mit der Verdrängung der Priapswürmer aus ihrem ursprünglichen Lebensraum in die heutigen, ökologisch marginalen Gebiete zusammen. Diese These wird dadurch gestützt, dass die Arten der Familie Tubiluchidae, die im morphologischen Raum deutlich getrennt von den anderen modernen Formen zu liegen kommen, auch einen anderen, wesentlich lebensfreundlicheren Lebensraum besiedeln. Interessanterweise ergab eine Einbeziehung (moderner) Formen der Hakenrüssler und Korsetttierchen in die phänetische Analyse eine wesentlich engere morphologische Beziehung zu den ausgestorbenen Priapswürmern – ob dies auf eine wesentlich konservativere evolutionäre Entwicklung bei diesen beiden Tiergruppen hinweist, ist allerdings unklar. Systematik Man unterscheidet insgesamt achtzehn moderne Arten, die in vier Ordnungen innerhalb einer Klasse aufgeteilt werden. Die Priapulomorpha haben als einzige Ordnung Schwanzanhänge und teilen sich ihrerseits in zwei Familien auf, die großen Priapulidae, deren Männchen und Weibchen sich nicht voneinander unterscheiden lassen und die mittelgroßen Tubiluchidae, die Sexualdimorphismus, also ein unterschiedliches Aussehen der Geschlechter, zeigen. Anders als die anderen Priapswürmer leben letztere in sauerstoffreichen, warmen Flachgewässern gemäßigter und tropischer Zonen mit hoher Artenvielfalt. Die Priapulomorpha sind wahrscheinlich polyphyletisch, also eine künstliche Gruppe, die beiden Familien also vermutlich keine Schwestertaxa. Die Halicryptomorpha sind große räuberische Tiere ohne Schwanzanhänge. Es gibt nur eine Familie, Halicryptidae mit zwei Arten in der Gattung Halicryptus; Halicryptus higginsi ist der längste Priapswurm überhaupt. Die Meiopriapulomorpha sind ein monotypisches Taxon, enthalten also nur eine Art, Meiopriapulus fijensis in der Familie Meiopriapulidae. Die Tiere sind kleiner als zwei Millimeter und besitzen keine Zähnchen im Schlund; sie ernähren sich vermutlich detrivor, also von organischen Reststoffen, und sind lebendgebärend mit direkter Entwicklung der Larven. Sie besitzen als einzige Art dieses Taxons ein echtes histologisches Coelom. Die Seticoronaria schließlich, weniger als drei Millimeter groß, sind vermutlich Filtrierer, die Nährstoffe aus dem Wasser aufnehmen. Sie besitzen eine charakteristische Hakenreihe am Rumpfende und am Vorderende eine Tentakelkrone, die vermutlich auch der Sinneswahrnehmung dient. Es existiert eine Gattung Maccabeus mit zwei Arten in einer Familie Chaetostephanidae. Ein vorgeschlagenes Schema der stammesgeschichtlichen Verwandtschaftsverhältnisse der Ordnungen zueinander wird durch das folgende Diagramm wiedergegeben: Literatur R. C. Brusca, G. J. Brusca: Invertebrates. Zweite Auflage. Sinauer Associates, 2003, ISBN 0-87893-097-3, S. 365. E. E. Ruppert, R. S. Fox, R. D. Barnes: Invertebrate Zoology, A Functional Evolutionary Approach. Siebte Auflage. Brooks/Cole, 2004, ISBN 0-03-025982-7, S. 772. Wissenschaftliche Literatur R. D. Adrianov, V. V. Malakhov: Priapilida (Priapulida): Structure, development, phylogeny, and classification. KMR Scientific Press, 1996, S. 266 X.-P. Dong, P. C. J. Donoguhe, H. Cheng, J. B. Liu: Fossil embryos from the Middle and Late Cambrian period of Hunan, south China. In: Nature. 427, 2004, S. 237. D.-Y. Huang, J. Vannier, J.-Y. Chen: Anatomy and lifestyles of Early Cambrian priapulid worms exemplified by Corynetis and Anningvermis from the Maotianshan Shale (SW China). In: Lethaia. 37, 2004, S. 21. V. Storch: Priapulida. In: F. W. Harrison, E. E. Ruppert (Hrsg.): Microscopic Anatomy of Invertebrates. Wiley-Liss, 1991, S. 333. M. A. Wills: Cambrian and recent disparity: The picture from priapulids. In: Paleobiology. 24, 1998, S. 177. Einzelnachweise Weblinks Priapuliden-Seite von C. Lemburg mit ausführlichen Informationen zum Taxon Vielzellige Tiere
348980
https://de.wikipedia.org/wiki/Bingh%C3%B6hle
Binghöhle
Die Binghöhle ist eine natürliche Karsthöhle bei Streitberg, einem Ortsteil der oberfränkischen Gemeinde Wiesenttal im Landkreis Forchheim (Bayern). Die Höhle reicht im Frankendolomit des Malm Beta bis zu 60 m unter die Erdoberfläche und erstreckt sich als einzige der fränkischen Höhlen in geschichtetem Kalkstein. Sie stellt eine heute trockenliegende Flusshöhle dar, die einstmals von einem Zubringer der damals höher fließenden Wiesent durchflossen wurde. Die Binghöhle gehört zur Erlebniswelt Jurahöhle. Sie wurde 1905 von dem Unternehmer Ignaz Bing aus Nürnberg entdeckt, nach dem sie auch benannt ist, und wird seit 1906 als Schauhöhle geführt. Da ein Gang durch die Binghöhle in unmittelbarer Nähe die verschiedensten Tropfsteinformationen zeigt, wird die Bezeichnung Tropfstein-Galeriehöhle verwendet. Geographie Die Tropfsteinhöhle liegt in der Fränkischen Schweiz am südwestlichen Steilhang des Schauertals, das von Norden her ins Wiesent­tal mündet. Die Höhenlage beträgt , die Höhle erstreckt sich etwa 60 m oberhalb der Gemeinde. Bis zum Eingang sind es 375 m in westnordwestlicher Richtung von der Kirche von Streitberg aus. Die Höhle im Städtedreieck von Nürnberg, Bayreuth und Bamberg ist über die B 470, die von Forchheim nach Pegnitz führt, zu erreichen. Geschichte Von der Binghöhle war ursprünglich eine Länge von etwa 230 m bekannt. 1936 wurden weitere 70 m Ganglänge entdeckt und der heutige Ausgang gebaut. Entdeckung und Erschließung Der Kommerzienrat Ignaz Bing, Besitzer der Nürnberger Bing-Werke, erwarb im Jahre 1899 von der Witwe Fürst eine Villa in Streitberg, das er von früheren Kuraufenthalten her kannte. Eine Leidenschaft von Bing war das Graben nach Altertümern in den verschiedenen Höhlen der Umgebung. Von seinem Nachbarn Braungart wurde Bing auf einige Felsspalten am Hang oberhalb der Villa Marie hingewiesen. Mit dem Einverständnis des Försters, der diese Fuchs- und Dachslöcher in seinem Revier kannte, ließ Bing ab Juli 1905 in einer dieser Felsspalten graben. In einer Felsnische, die als „Grotte im Petersholz“ bezeichnet wurde und der Familie Braungart gehörte, kamen bei den Grabungen alsbald fossile Knochen und prähistorische Scherben zum Vorschein. Zunächst wurde ein 30 m langer Gang untersucht, wobei bis zu 1,8 m hohe Sedimente ausgegraben wurden. In seiner Villa bewahrte Bing diese auf, nachdem er sie sorgfältig beschriftet und auf Papptafeln montiert hatte. Bei den Grabungen wurde bald ein begehbarer Raum erschlossen. Über diesen Fund berichtete der Wiesent-Bote, die Lokalzeitung der Fränkischen Schweiz, am 10. August 1905: „Ebermannstadt, 9. Aug. In der Waldung des Gutsbesitzers Braungart in Streitberg entdeckte Herr Kommerzienrat Bing von Nürnberg, welcher dort eine Villa besitzt und während seines Aufenthaltes häufig Grabungen nach prähistorischen Funden vornehmen läßt, vor einigen Tagen eine Höhle. Fast täglich werden Grabungen in derselben vorgenommen, und man hofft, dieselbe bald dem Besuche eröffnen zu können. Verschiedene Versteinerungen u. Knochengebilde wurden bis jetzt gefunden.“ Die Höhle ging ein paar Tage später in den Besitz von Bing über. Am 18. August berichtete die Zeitung: „Streitberg, 16. Aug. In der von Hrn. Kommerzienrat Bing aus Nürnberg entdeckten und in dessen Besitz übergegangenen Tropfsteinhöhle wurden neue Abteilungen von großer Ausdehnung eröffnet, in welchen sich Tropfsteinbildungen von märchenhafter Schönheit vorfinden. Die Höhle selbst liegt nur 5 Minuten von Streitberg entfernt an einem waldigen Abhang des romantischen Schauertales und kann schon heute als eine der interessantesten und schönsten Höhlen der Fränkischen Schweiz bezeichnet werden. Es wird damit für Streitberg ein hervorragender Anziehungspunkt geschaffen, welcher für die Entwicklung dieses Kurortes selbst eine große Bedeutung haben dürfte.“ Zusätzliche Informationen über die Erschließung der Höhle liefert ein weiterer Bericht im Wiesent-Boten: „Streitberg, 13. Sept. (Instandsetzungsarbeiten) Die von dem Großindustriellen Herrn Kommerzienrat Bing aus Nürnberg unweit Streitberg entdeckte und käuflich erworbene Höhle wird wahrscheinlich den Namen ihres Besitzers erhalten. Die Arbeiten an derselben werden jetzt und wahrscheinlich auch während des Winters fortgesetzt werden, damit bei Beginn der nächstjährigen Saison die Höhle dem Besuch unterstellt werden kann. Nach dem Ergebnis der bisherigen Forschungen zu schließen, dürfte diese Höhle allen anderen Höhlen der hießigen Gegend an Sehenswürdigkeiten übertreffen und einen weiteren Anziehungspunkt der ohnedies an Naturschönheiten reichgesegneten fränkischen Schweiz bilden. Unter den verschiedenen Versteinerungen hat man auch einzelne sehr schöne Tellinarien gefunden.“ Weitere Erschließung Durch Sprengarbeiten konnte am Ende des ersten Höhlenteils eine feste Sinterschicht beseitigt und so eine Fortsetzung geschaffen werden. Dieser neue Höhlenteil mit einer Länge von etwa 50 m endete wiederum an einer Verfüllung. Dieser Höhlenteil, die heutige Tropfsteingalerie, war sehr niedrig, so dass man an den meisten Stellen nur schwer hindurchschlüpfen konnte. In vier Monaten schwerer Arbeit wurde ein schmaler Gang angelegt, wobei die mächtige Sinterschicht durchbrochen werden musste. Am Ende dieses Abschnittes wurde seitlich, nahe bei der Höhlendecke, eine kleine, etwa 1½ m lange enge Öffnung im Felsen entdeckt. Durch diese Öffnung war es möglich, den dahinterliegenden Raum auf einige Meter Tiefe auszuleuchten. Man konnte feststellen, dass sich die Höhle dahinter fortsetzte, nachdem eine brennende Kerze einen schwachen Luftzug anzeigte. Für einen Erwachsenen war das Loch jedoch viel zu eng, und da Sprengungen ausgeschlossen waren, war es vorerst nicht möglich, die Öffnung zu erweitern. Am 31. Oktober erklärte sich schließlich der 13-jährige Konrad Braungart bereit, durch den Spalt zu kriechen. Er berichtete nach einer Weile, dass sich jenseits des kleinen Felsdurchganges noch eine weitere große Höhle befinde. Um Tropfsteine im Deckenbereich nicht zu beschädigen, ging man in die Tiefe unter den hier niedergebrochenen Fels. Man folgte zunächst einer mit Höhlenlehm gefüllten Spalte und durchschlug eine den Höhlenboden bildende 2 m dicke Sinterdecke, die einst durch einen Höhlensee gebildet worden war. So wurde ein künstlicher Durchgang geschaffen zum Vorraum des neuen Höhlenteils, den man zum großen Teil aufrecht durchschreiten konnte. Dieser Höhlenteil endete in der Kristallgrotte, später Prinz-Ludwig-Grotte genannt. Ein vor dieser Grotte liegender Höhlensee, der die ganze Höhlenbreite einnahm, wurde mit einem Steg überbrückt. Über diese neu entdeckten Höhlenbereiche berichtete der Wiesent-Bote: „Streitberg, 2. Novbr. (Großartiger Höhlenfund.) Wohl Niemand hatte bisher geglaubt, daß die fränkische Schweiz in sich noch Höhlen unentdeckt berge, wie eine solche vorgestern neuerdings im Schauertale bei Streitberg entdeckt wurde und die an Schönheit, Form und Größe alle bisherigen Höhlen der fränkischen Schweiz übertrifft. Bereits vor einigen Monaten hatte Kommerzienrat Bing von Nürnberg, der sich hier niedergelassen hat, eine Höhle mit prächtigen Gebilden entdeckt, in der in letzter Zeit fleißig gearbeitet wurde, um sie der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Vorgestern stießen nun die Arbeiter unvermutet auf eine noch weit größere und an Naturschönheiten viel prächtigere Höhle, als die erste und die bisherigen Höhlen. Sie ist ca. 180 m lang und 40 bis 80 m breit. Die überaus reichlich und sehr verschiedenartig vorhandenen Tropfsteingebilde wie Säulen, Pfeiler, Gardinen, Figuren an Wänden und Decken sind von blendend weißer Farbe, glänzend wie Kristall und geben hellen Klang. Das Ende dieser Höhle schließt ein mehrere Meter großes Wasserbassin ab, das dem ganzen noch einen besonderen Reiz verleiht. Durch diese Entdeckung ist unser Ort um eine unschätzbare Sehenswürdigkeit reicher geworden.“ Christian Kellermann, Rektor in Nürnberg, fasste die Vorgänge über die Entdeckung und Erschließung in einen ausführlichen Bericht, der in mehreren Zeitungen im November 1905 erschienen ist, zusammen: „Auf die Idee, daß hinter der unscheinbaren Felsspalte im Petersholz etwas Größeres stecken könnte, kam Bing wohl durch die Erzählungen des Jagdpächters, daß dessen Hund gelegentlich für längere Zeit dort verschwunden seien. So beschloß er, als die ersten 30 m der Höhle ausgegraben waren und keine Funde mehr kamen, am Ende des Ganges die dort anstehende Sinterdecke durchbrechen und den darunter befindlichen Höhlenlehm ausräumen zu lassen, und man gelangte so in den Teil, der heute als ,Tropfstein-Galerie' gezeigt wird. Der Durchgang ist in die alte Höhlenfüllung eingetieft, so daß man den reichen Sinterschmuck, auf Augenhöhe' betrachten kann. Nach 40 m schien auch dieser Gang wieder zu enden; doch nahm man unter der Decke eine enge Öffnung wahr. Da von den Erwachsenen keiner hindurchpaßte, ließ sich – am 31. Oktober – der 13-jährige Konrad Braungart überreden, hindurchzuschlüpfen, blieb lange aus und berichtete so begeistert von den nachfolgenden Räumen, daß wiederum ein Felsdurchbruch gewagt wurde, der auch in einen weiterführenden, nun hohen Spaltengang mündete. Der Charakter der Höhle ändert sich gegenüber dem ersten Teil vollständig, indem hier hohe Spaltengänge vorherrschen, die aber stellenweise auch reich mit Sinterformen geziert sind. An einem kleinen See mit einer darüberliegenden prächtigen Tropfsteinkammer endete dieser dritte, 180 m lange Höhlenteil.“ 1906–1916 Erste Jahre als Schauhöhle Die Höhle wurde während des Winters 1905/1906 für Besucher ausgebaut, und im Frühjahr 1906 begann der Führungsbetrieb. Als Höhlenaufseher wurde Bings bewährter Grabungshelfer Konrad Arndt eingesetzt. Seine höhlenbegeisterte Nichte Olga Hirsch wirkte gelegentlich als Führerin mit. Ein Raum der Höhle wurde nach ihr benannt. Eine kostenlose Broschüre mit Fotos, die an die Besucher ausgegeben wurde, erschien Ende Februar. Im ersten Jahr wurden über 7000 Höhlenbesucher mit Hilfe von Acetylenlicht (Karbidlampen) durch die Höhle geführt. Für das nächste Frühjahr plante aber Bing schon eine elektrische Beleuchtung, die dann auch im Winter 1907/1908 installiert wurde. Der dazu benötigte Gleichstromgenerator und die Pufferbatterie wurden in einem dazu beim Höhleneingang erbauten Maschinenhaus untergebracht. Die Nachbargemeinde Muggendorf sah sich mit ihrer Rosenmüllerhöhle in ihrer touristischen Anziehungskraft plötzlich überflügelt und warb mit einer Serie von Anzeigen, die in ein- bis dreiwöchigem Abstand, insgesamt 16-mal, während des Sommers 1906 im Wiesent-Boten erschien, für einen Besuch ihrer Höhle. 1909 lief im Nürnberger Kinematographen-Salon Noris-Theater ein Film über die Binghöhle. Die Höhle wurde daraufhin die größte Attraktion der Gegend. Der Wiesent-Bote berichtete immer wieder, dass Vereine und Gruppen ihren Ausflug in die Fränkische Schweiz mit einem Besuch der Binghöhle krönten. Bei jeder größeren Veranstaltung in der Region Nürnberg stand ein Besuch der Binghöhle auf dem Programm. In solchen Fällen pflegte der Besitzer persönlich zu führen und den Teilnehmern anschließend in seiner Villa ein Frühstück zu reichen. Die Delegierten des Verbandes der bayerischen Geschichts- und Urgeschichtsvereine waren im Sommer 1907 zu Gast. Im Juni 1908 besuchte Prinz Ludwig, der spätere König Ludwig III., mit Familie und Gefolge Streitberg und die Binghöhle. Die prachtvolle Prinz-Ludwig-Grotte wurde nach ihm benannt. Die Teilnehmer des 44. Deutschen Anthropologentages besuchten im August 1913 die Höhle. Im Juni 1914 beehrte Kronprinz Rupprecht von Bayern die Binghöhle mit seinem Besuch. Die Höhle wurde aber nicht nur von Majestäten besucht, sondern auch die Mitbürger erfreuten sich der Aufmerksamkeit des Kommerzienrates. In den Jahren 1910 und 1911 war die Höhle an mehreren Sonntagen im November und Dezember für die Bewohner der Fränkischen Schweiz bei freiem Eintritt geöffnet. Während des Ersten Weltkriegs, im September 1914, lud Bing Verwundete ein, die im Distriktskrankenhaus in Ebermannstadt untergebracht waren. Dies wiederholte sich während des Krieges noch mehrfach. 1916 und 1917 konnten auch Teilnehmer der Kinderferienkolonie Heiligenstadt kostenlos die Höhle besuchen. Bis zum heutigen Tag haben die Einwohner von Streitberg das Recht auf freien Eintritt. Forschungsarbeiten 1913–14 Bing suchte auch nach der Fortsetzung der Höhle. Er ließ im Winter 1913/14 in der Prinz-Ludwig-Grotte eine Sinterdecke durchschlagen. Am Höhlenende entstand so ein kleiner Schacht, der in eine Geröllschicht abgeteuft wurde. In Gangrichtung wurde ein 12 m langer Stollen vorangetrieben. Dann grub man wieder nach oben, wo man nach dem Durchbrechen einer Sinterdecke in einen 30 m langen, niedrigen, tonnengewölbten und tropfsteinverzierten Raum gelangte. An diesem Ende befanden sich verfüllte Spalten, und es wurde ein Schlot nach oben bemerkt. Darüber meldete der Wiesent-Bote im Dezember 1913: „Es besteht seit langem die Vermutung, daß die berühmte Binghöhle mit ihrem gegenwärtigen Abschlusse nicht ihr Ende erreicht hat. Herr Geh. Kommerzienrat Bing läßt nun gegenwärtig Arbeiten in dieser Hinsicht ausführen […]“ Im Frühjahr 1914 folgte dann die Erfolgsmeldung: „Nachdem das wunderbare Schlußbild der Höhle nicht zerstört werden durfte, wurde seitlich mit vieler Mühe ein unterirdischer Stollen gegraben, der auch tatsächlich zu einem Innenraum führte, welcher eine Länge von über 50 m zeigt und noch weitere Aufschluß-Möglichkeiten bietet.“ Die weiteren Forschungsarbeiten wurden durch den im August 1914 ausbrechenden Weltkrieg unterbunden. Am 24. März 1918 starb Ignaz Bing im Alter von 78 Jahren. Mit seinem Testament bedachte er die Gemeinde Streitberg mit einer wohlausgestatteten Schulbücherei als großzügiger Stiftung. Bing selbst gab wenige Jahre vor seinem Tod in seinem Tagebuch im Jahre 1915 eine Betrachtung zu der von ihm entdeckten Höhle: „Die von mir entdeckte und erschlossene Bing-Höhle bildet für den Franken-Jura das hervorragendste Naturwunder, zu dem alljährlich Tausende wandern, um sich daran zu erfreuen und zu erheben. Der Besitz der Höhle ist ein unveräusserlicher, und in gewissem Sinne ein unvergänglicher. Er wird meinen Namen noch den fernen Geschlechtern überliefern […]“ 1919–1932 1919, elf Monate nach dem Tod von Ignaz Bing starb auch seine Gattin Ida. Das Erbe der Höhle traten seine sechs Kinder an. Sie ließen die Höhle von Ludwig Bergen in Nürnberg verwalten, der 1922 dem gegründeten Hauptverband deutscher Höhlenforscher mit der Binghöhle als Schauhöhlenbetrieb beitrat. Die Höhle war während der Inflationszeit 1923 nur noch am Samstagnachmittag und an den Sonn- und Feiertagen geöffnet. In den späteren 1920er Jahren wurden die Besuche der Höhle wieder zahlreicher. 1928 wechselte die Gemeinde Streitberg von der instabilen eigenen Stromversorgung zum Elektrizitätswerk Ebermannstadt. Daraufhin wurde auch die Binghöhle an das Netz angeschlossen. Das bis dahin betriebene Aggregat wurde aufgegeben. 1929 zog in das freigewordene Maschinenhaus ein Kiosk ein, der neben Ansichtskarten auch Getränke und Erfrischungen anbot, was das Missfallen der ortsansässigen Gastwirte hervorrief. Deswegen wollte die Gemeinde zunächst die Genehmigung verweigern. Als Pächter bewarb sich allerdings ein Invalide, für den der Kiosk eine gewisse Existenz bot, worauf das Bezirksamt Ebermannstadt die Konzession erteilte. Im Jahr 1930 gedachte der Heimatschriftsteller August Sieghardt (Redakteur in Grassau am Chiemsee) in zahlreichen begeisterten Zeitschriftenartikeln des Erschließers Bing. Er pries ihn ob seiner Verdienste für die Fränkische Schweiz. Im August 1931 bildete der Besuch der Höhle noch einmal ein Glanzlicht bei der Tagung der deutschen Höhlenforscher in Nürnberg, obwohl die Weltwirtschaftskrise schon ihre Schatten auf das gesellschaftliche Leben warf. Die versammelten Wissenschaftler wurden bei einer Exkursion nach Streitberg mit einem glänzenden Empfang wie in alten Zeiten von der Familie Bing bewirtet. Darüber berichtete Sieghardt: „Die in der Höhle angebrachte Gedächtnistafel für den Entdecker und einstigen Besitzer der Binghöhle, den verstorbenen Streitberger Ehrenbürger Geh. Kommerzienrat Ignatz Bing, war mit einem Lorbeerkranz geschmückt. Nach der Besichtigung wurde den Höhlenfahrern von der Binghöhlenverwaltung ein Imbiß gereicht. […]“ Der von Anbeginn bei der Erschließung und der Betreuung der Höhle tätige Konrad Arndt wurde mit der Bronzeplakette des Hauptverbandes deutscher Höhlenforscher ausgezeichnet. Im selben Jahr, 1931, wurden in der Teufelshöhle neue Schauräume entdeckt. Damit diese nicht so viele Besucher von der Binghöhle abzog, wurde zwischen den beiden Höhlenverwaltungen und dem Fränkische Schweiz-Verein e. V. (FSV) ein Abkommen geschlossen. Der Besuch beider Höhlen sollte mit ermäßigten Eintrittspreisen honoriert werden. Streitberg wollte nicht hinter der Teufelshöhle und ihrer „Wundererde“ zurückstehen. Dem Höhlenlehm wurden gewisse heilkräftige Wirkungen nachgesagt, und die Betreiber der Teufelshöhle vermarkteten ihn als Höhlenfango. Die Gemeinde Streitberg suchte daraufhin ebenfalls nach der „Wundererde“. 1932 wurde die Firma Streitberger Höhlen-Heil-Fango gegründet. Diese bezog vorwiegend ihren Lehm aus anderen Höhlen, es wurde aber auch Material aus der Binghöhle verwendet. Drittes Reich 1933, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, wurden alle jüdischen Geschäfte boykottiert. Daraufhin streckte auch die Gemeinde Streitberg ihre Hand nach der Höhle aus. Es wurde zunächst ein genehmer Verwalter eingesetzt. Im März 1935, nach einem Erlass des bayerischen Innenministeriums, fiel die Höhle als jüdischer Besitz bei der vom Staat verfügten Arisierung an die Gemeinde Streitberg. Sie wurde mit einem Kaufvertrag vom 30. März 1935 gegen eine Zahlung von 39.000 Reichsmark übereignet. Um jegliche Erinnerung an die jüdischen Vorbesitzer, die Nachkommen des Entdeckers Ignaz Bing, zu tilgen, wurde die Höhle von da an nur noch als Streitberger Höhle bezeichnet. Anlässlich dieser Besitzübergabe äußerte August Sieghardt in verschiedenen Zeitungen im April 1935: „[…] Daß der Hauptanziehungspunkt des Kurortes Streitberg und der ganzen westlichen Fränkischen Schweiz, die Streitberger Tropfsteinhöhle, ein jüdisches Unternehmen war, hat gar manchen deutschen Volksgenossen abgehalten, diese Höhle zu besuchen und auch in der Verkehrswerbung für Streitberg bildete dies oftmals ein Hemmnis. […] Die Vorliebe des Frankenführers für Streitberg ist den dortigen Parteigenossen der schönste Lohn für den Kampf, den sie jahrelang um die Befreiung Streitbergs von Fremdrassigen geführt haben.“ Bei der Gemeinde als neuer Besitzerin wurde nun der Forschungseifer geweckt. Es wurde nach einem zweiten Höhlenausgang gesucht, und man bemerkte auch den von Bing in der Prinz-Ludwig-Grotte vorangetriebenen Durchbruch. Der Bürgermeister wandte sich, da die Höhlenforschung nun unter staatlicher Kontrolle stand, Anfang 1936 an das Gaukulturamt Bayerische Ostmark, Abteilung Heimatpflege: „Schließlich wird Sie interessieren, daß es uns gelungen ist am Ende der Höhle einen neuen Ausgang entdeckt zu haben, wodurch den Besuchern der zeitraubende Rückweg erspart bleiben würde, wenn der Ausgang passierbar wäre.“ Im März 1936 führte der Leiter der Gaustelle für Höhlenforschung, Helmuth Cramer, eine Vermessung der Höhle durch. Der Beginn der Arbeiten zog sich aber wegen verschiedener organisatorischer Hindernisse bis in den Winter 1936/1937 hin. Da der Führungsbetrieb im Sommer aufrechterhalten bleiben sollte, konnte man ohnehin nicht mit den Erschließungsarbeiten beginnen. Die Streitberger Hitler-Jugend, Jungen der 7. und 8. Schulklasse, mussten sich entlang des Hanges im Schauertal aufstellen, und innerhalb der Höhle wurden Klopfzeichen gegeben. Dadurch fand man im Hang des Schauertales die nächstgelegene und für einen Ausgang geeignete Stelle. Man begann damit, den Durchbruch gangbar zu machen. Aus der Höhle mussten 120 m³ Erd- und Steinmassen entfernt werden. Am neuen Ausgang wurden etwa 400 m³ Erde bewegt. Diese Arbeiten wurden von zwölf Mann in 100 Tagschichten durchgeführt. Der neue Ausgang konnte am 13. April 1938 eingeweiht werden, was eine wesentliche Verbesserung für den Führungsbetrieb war. Bisher mussten die Besucher durch die Höhle zurückgehen, wobei es bei der Begegnung mit der nächsten Gruppe zum Gedränge kam. Die elektrische Beleuchtung wurde ebenfalls erneuert und die Vergitterung der Tropfsteine reduziert. Am Hang des Schauertales wurde zwischen dem Ausgang und dem Eingang der Höhle ein Fußweg angelegt. Die Fränkische Berg- und Wandersportzeitung berichtete am 17. Mai 1938 über die Erkundungs- und Erschließungsarbeiten: „Es war für die Streitberger Hitler-Jugend eine Freude, bei der Suche nach dem vermutlichen Höhlenausgang mitwirken zu können. 120 Kubikmeter Erd- und Steinmassen mußten aus der Höhle entfernt werden. Die Erdbewegung am neuen Ausgang der Höhle betrug ca. 400 Kubikmeter. Diese Arbeiten wurden von 12 Mann in 100 Tagschichten geleistet.“ 1945–1954 Besitzstreit Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte wieder ein verstärkter Höhlenbesuch ein. Dadurch konnte die Gemeinde Streitberg ihre Schulden aus dem Kauf der Höhle verringern. Für die Gemeinde war es im Juli 1946 ein Schock, als sie von den Rechtsanwälten der Bingschen Erben, gestützt auf das Rückerstattungsgesetz der amerikanischen Militärregierung, angefragt wurde, ob sie bereit sei, die Höhle freiwillig zurückzugeben oder die Bing-Erben entsprechend mit Geld zu entschädigen. So kam dann die Höhle im März 1947 mit allen Zugehörungen unter die Kontrolle des Landesamtes für Vermögensverwaltung und Wiedergutmachung. Dadurch fiel für die Gemeinde die Höhle als Einnahmequelle weg. Der gesamte Betrieb unterstand nun einem Treuhänder. Das Amt bot nach einer Vorstellung des Bürgermeisters der Gemeinde an, die Höhle zu pachten. Am 1. Juni 1947 begann das Pachtverhältnis und verschaffte der Gemeinde wieder eine gewisse Einnahme, so dass sie ihren Verpflichtungen wieder nachkommen konnte. Die Treuhänderschaft endete am 10. September 1950, und die Höhlenverwaltung ging wieder an die Gemeinde zurück. Die Rückgabeforderung der Bing-Erben bestand aber noch immer. Es folgten vergebliche Verhandlungen vor einem Güteausschuss und der Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Bayreuth. Nach zähem Ringen um die Forderungen beider Seiten fand am 14. Mai 1954 ein Ortsbesichtigungstermin statt. Man fand dabei einen Vergleich: Durch eine zusätzliche Zahlung der Gemeinde von 45.000 DM an die Bing-Erben wurde der Gemeinde endgültig das Eigentum an der Höhle zugesprochen. 1954–1996 Bis in die 1950er Jahre hinein wurde aus Gewohnheit von der Streitberger Höhle gesprochen. Es setzte sich aber immer mehr der überkommene Name Binghöhle wieder durch. Der Lehmabbau wurde auch wieder in Betracht gezogen und 1951 eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen, um sich diese Möglichkeit offenzuhalten. Es wurde jedoch nur Lehm in geringen Mengen für den Eigenbedarf entnommen. Die Versicherung stellte als Bedingung: „Voraussetzung ist dabei, daß nur Grabarbeiten in Frage kommen (nicht Sprengungen) und der Abtransport des Lehmes der Höhle in Tragbutten bis zur Vorhöhle erfolgt. Dort wird die Umladung in Kisten vorgenommen, die ab Höhleneingang vom Abnehmer übernommen werden.“ Bis 1954 wurde der Kiosk im alten Maschinenhaus von einem Pächter betrieben. Der Schauhöhlenbetrieb schloss sich 1956 dem 1955 neugegründeten Verband deutscher Höhlen- und Karstforscher (VdHK) an. Je nach Bedarf wurden Verbesserungen an der Infrastruktur vorgenommen. 1964 wurde beim Ausgang ein Parkplatz angelegt, 1970 die Zufahrtsstraße asphaltiert, 1992 der Ausgang der Höhle überdacht und 1996 eine neue Toilettenanlage gebaut. 100 Jahre Binghöhle, 2005 Im Frühjahr 2003 begannen die Vorbereitungen zum bevorstehenden hundertjährigen Binghöhlenjubiläum. Die Forschungsgruppe Höhle und Karst Franken (FHKF) erhielt von der Gemeinde Wiesenttal den Auftrag, die Höhle und ihr Umfeld karstkundlich zu bearbeiten. Im Winter 2003/2004 wurde die Höhle neu vermessen. Daran schloss sich im Frühjahr 2004 die Oberflächenaufnahme des gesamten Schauertales an. Für alle weiteren Arbeiten stand nun entsprechendes Karten- und Planmaterial zur Verfügung. Der Verein konnte einen Großteil der Maßnahmen mit eigenen Fachleuten durchführen. Im Herbst 2004 wurden vorsichtig die Maschengitter, die zum Schutz der Tropfsteine angebracht waren, und die alten Leitungen entfernt. Ein Elektrounternehmen aus Streitberg übernahm die Installation der neuen Leitungen. Im Vorfeld waren in der Teufelshöhle Dauerlichtversuche mit LED-Strahlern durchgeführt worden. Dabei wurde eine Testfläche 5000 Stunden lang intensiv bestrahlt, um die Intensität der Algenbildung zu erkennen. Dabei stellte sich heraus, dass LED-Licht (weiß) zu einer geringeren Lampenflora führt als die Verwendung von Halogenstrahlern. Bei der Neuinstallation der Beleuchtung war zu berücksichtigen, dass keine Leitungen sichtbar sein sollten. Man entschied sich für ein Mischkonzept aus Halogen- und LED-Strahlern, um die Höhle so wenig wie möglich auszuleuchten. In der Höhle wurden die durch die Lampen im Laufe der Zeit entstandenen Moose und Farne an den Tropfsteinen und Höhlenwänden entfernt. Die Wegbeleuchtung für den sicheren Tritt der Besucher wurde mit nach oben abgeschirmten Lampen bewerkstelligt. Es wurden Telefonanschlüsse an den Verteilerkästen angebracht, um bei Unfällen rasch mit dem Kassenhaus in Verbindung treten zu können. Die Hinweisschilder für die einzelnen Abteilungen und Tropfsteinformationen wurden aus hinterleuchtetem geätzten Glas hergestellt, was zu einem außergewöhnlichen optischen Effekt führte. Ein solches Verfahren wurde zum ersten Mal in einer Schauhöhle erprobt. Die Absperrungen und Geländer wurden in Edelstahl ausgeführt und dabei so weit reduziert, dass die Tropfsteine der Höhle weitaus besser zur Geltung kamen. Bei den intensiven Arbeiten in der Höhle wurden auch Tropfsteine beschädigt. So fielen zwei jeweils über 2 m hohe dünne Kerzenstalagmiten im Bereich des Kerzensaals um und zerbrachen in mehrere Teile. Sie konnten durch die fachliche Unterstützung eines Steinmetzmeisters wieder zusammengefügt werden, so dass die Bruchstellen nicht mehr sichtbar sind. In den Wintermonaten 2004/2005 wurde auch ein neues Kassenhäuschen gebaut. Am 15. März 2005 wurde die renovierte und umgebaute Höhle wiedereröffnet. Ein offizieller Festakt aus diesem Anlass fand am 22. April 2005 statt. Die Höhle wurde von Geistlichen beider Konfessionen gesegnet und anschließend mit dem Schirmherrn, Staatsminister Werner Schnappauf, begangen. Einen Tag später fand auf dem Parkplatz am Höhlenausgang eine umfangreiche Ausstellung von Lampen und Vermessungsgeräten statt. Auf einem Monitor wurde eine Animation der Oberflächenvermessung der Höhle als Drahtmodell gezeigt. Die Überquerung des Schauertales durch einen Seilartisten in über 40 m Höhe über den Dächern von Streitberg vom Eingang der Höhle zur Streitburg stellte einen Höhepunkt der Feierlichkeiten dar. Zu Ehren des Entdeckers wurde am Höhleneingang eine neue Schrifttafel angebracht: „Ignaz Bing (1840–1918), jüdischer Unternehmer in Nürnberg und Besitzer der größten Spielwarenfabrik, war ein großer Gönner, Förderer und Ehrenbürger von Streitberg und entdeckte 1905 die nach ihm benannte Höhle.“ Es wurden insgesamt 1200 ehrenamtliche Arbeitsstunden geleistet. Die Kosten der Renovierung der Höhle betrugen 200.000 Euro. Sie wurden zum Teil finanziert mit Fördergeldern in Höhe von 132.000 Euro, davon 63.000 Euro aus dem Europäischen Regionalfonds und 23.800 Euro aus dem Regionalen Wirtschaftsförderungsprogramm des Freistaates Bayern, der die Binghöhle als überregional bedeutsam einstufte. 40.000 Euro gab die Oberfrankenstiftung, und weitere 6000 Euro kamen von anderen Sponsoren. Beschreibung Der Weg durch die Höhle führt an den verschiedenen Abteilungen, Grotten und Formationen vorbei, die alle mit Namen belegt sind: Vom Eingang geht es in die Vorhöhle, zur Tropfsteingalerie, zur Kellermannsgrotte mit der Riesensäule, zum Kerzensaal, zur Venusgrotte, durch die Katakomben zum Muschelfelsen, zur Olgagrotte, zur Nixengrotte, in die Fantasiegrotte, am Höhlensee vorbei zur Prinz-Ludwig-Grotte mit den Drei-Zinnen, schließlich in die Neue Abteilung und zum Ausgang. Im vorderen Teil der Höhle, im ausgegrabenen Abschnitt, sind Reste einer Sinterdecke zu sehen, die als großflächige Kalkablagerungen über älteren Verfüllungen entstanden sind. Unterhalb dieser Sinterdecke befindet sich eine große Wandfläche mit napfähnlichen Lösungsformen, die in der Regel unter dem Wasserspiegel entstehen. Auf der rechten Seite kommt man nach 15 m zu Rinnenkarren, die durch Überrieseln mit korrosivem Wasser, das der Schwerkraft folgte, entstanden sind. Diese Laugungsformen müssen sich ergeben haben, bevor der Gang durch Sedimente verfüllt wurde. Im gleichen Bereich bildeten sich an einer Querkluft eine etwa 7 m hohe Deckenspalte und eine Raumerweiterung. In diesem Bereich ist die Schichtung des Gesteins besonders gut zu sehen. Durch Sprengarbeiten konnte am Ende des ersten etwa 30 m langen Höhlenteiles eine Fortsetzung der Höhle geschaffen werden. Das ehemalige Höhlenende zeigen zwei durchbrochene Sinterdecken vor dem künstlichen Durchbruch an. Von hier führt der Weg zur etwa 40 m langen sogenannten Tropfsteingalerie. Rechts über einer Sinterdecke sieht man nach einer Gangverengung Wasserstandsmarken und darunter die Reste einer ehemaligen Verfüllung. Die Wasserstandsmarken werden durch horizontale, einige Zentimeter breite Sinterwülste gebildet, welche die ehemaligen Wasserhöhen anzeigen. Die ersten freistehenden Tropfsteine, Stalagmiten genannt, kommen kurz danach. In diesem Bereich erweitert sich der Raum etwas. An der horizontal verlaufenden Decke ist links besonders gut die Anlage der Höhle an einer Schichtfuge zu erkennen. Um die Höhle für Besucher gangbar zu machen, musste die Verfüllung entfernt und über eine lange Strecke die Sinterdecke durchbrochen werden. An beiden Seiten und am größten Stalagmit befinden sich deutliche Wasserstandsmarken. Mehrere Stalagmiten haben hier eine kristalline Oberfläche, gebildet durch den abgelagerten, durchsichtigen gelblichen Kalk. Anschließend kommt man zum nächsten Abschnitt, der Tropfsteingalerie, in der ebenfalls Wasserstandsmarken zu sehen sind. Die Decke wird bei der Tropfsteinformation Altar durch eine etwa 7 m hohe Spalte unterbrochen, die eine Sinterfahne und Wandversinterung aufweist. An der Deckenspalte fällt eine Raumerweiterung auf, gebildet in zwei Phasen bei der Entstehung der Höhle; sie wird Urknall genannt. Hier war die Höhle ursprünglich zu Ende. Nach einem künstlichen Durchbruch geht es etwas nach oben. Zurückliegend befindet sich oberhalb der Durchbruchsstelle eine etwa 1 m mächtige Sinterdecke mit aufsitzenden Stalagmiten, die bis zu 1,2 m Höhe erreichen. Den Höhlenteil, der nach dem Durchbruch folgt, nennt man Kellermannsgrotte oder auch Dr. Kellermannsgrotte mit der Riesensäule; er ist nach dem 1918 verstorbenen Christian Kellermann benannt, der die Höhle 1908 zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieb. Nach etwa 20 m gelangt man zur Riesensäule, die sich in der Mitte des Führungsweges befindet. Sie ist ein palmenstammförmiger, etwa 2,5 m hoher Stalagmit, der als einer der schönsten Tropfsteine der Höhle gilt. Er ist kegelförmig aufgebaut, und seine Oberfläche ist nicht glatt, sondern eigentümlich abgestuft, so dass er einem Palmen­schaft ähnelt, an dem die abgestorbenen Reste alter Blätter stehengeblieben sind. Die Riesensäule berührt mit einem ganz dünnen Kalkfaden die Decke. Über diesen Stalagmiten schrieb Kellermann: „Fast möchte man sagen, ein weiser Baumeister habe, um die Schönheit dieses einen Gebildes ins rechte Licht zu setzen, alle anderen Tropfsteinbildungen hier verbannt.“ Der Gang musste in diesem Bereich um etwa 1 m künstlich aufgeschüttet werden, um einen Weg für die Besucher an der Riesensäule vorbei zu schaffen, da diese im untersten Teil die komplette Höhlenbreite ausfüllt. Trotzdem bleibt auf der rechten Seite nur ein ganz schmaler Durchschlupf. Der Riesensäule sind durch die vielen Berührungen der Besucher, bedingt durch die Lage mitten im Weg, deutliche Abnutzungsspuren und Verfärbungen anzusehen. Kurz vor der Riesensäule befindet sich rechts ein Gitter zum Schutz der dahinter befindlichen Tropfsteine, das etwa 2 cm dick versintert ist. Das Gitter befindet sich unter einer starken Tropfstelle und gibt einen Anhaltspunkt für die Wachstumsgeschwindigkeit des Sinters. In Kopfhöhe befinden sich dahinter Laugungsnäpfe an den Wänden. An der horizontalen Decke vor der nächsten Deckenabsenkung sind Haarrisse im Gestein, Sinterleisten und Ansätze von Stalaktiten erkennbar. Von hier geht es durch einen Gang mit Wänden aus geschichteten Felsmassen, Zyklopenmauern genannt, weiter zum Kerzensaal. Entlang des Ganges verläuft an der Decke eine enge, aber deutliche Spalte. Der Kerzensaal ist der größte Raum der Höhle. Der Raum ist nach oben durch Versturz und spätere Auslaugung erweitert. Der Name Kerzensaal leitet sich von einer Reihe regelmäßig angeordneter schneeweißer, schlanker, hoher Stalagmiten auf den gut sichtbaren Versturzblöcken ab. Anschließend befinden sich rechts drei schlanke weiße, bis zu 2,5 m hohe Kerzenstalagmiten. Die dünnste Nadel hat bei einer stattlichen Höhe von über 2 m einen Durchmesser von 12 cm. Die folgende Raumerweiterung wurde durch parallele quer verlaufende Deckenspalten begünstigt. In der Venusgrotte fallen rechts drei durch tektonische Ereignisse schräggestellte Tropfsteinsäulen, die an der Wand bereits wieder angesintert sind, auf. Eine vierte Säule dürfte erst bei den Erschließungsarbeiten schräg aufgestellt worden sein. Eine dreieckige durchscheinende Sinterfahne befindet sich auf der linken Seite. Der folgende Katakombengang weist bei einer Höhe von 4 bis 5 und einer Breite von 1½ bis 2 m nur wenige Wandsinter und stellenweise Laugungsnäpfchen auf. Bei einer Gangkrümmung befindet sich links an der Wand in etwa 1½ m Höhe der Muschelfelsen mit Tausenden von herausgewitterten Fossilien. Als Nächstes kommt man zum Diamant-Felsen mit glitzernden Kristallen. Danach folgt ein gewundener Gang, der sich kurz verzweigt. Darauf folgt, in der Hauptrichtung weitergehend, eine Engstelle mit einem Stalagmiten. Von dort geht es durch die Olgagrotte zur Nixengrotte weiter, in der sich ein etwa 0,8 m breiter und 1,5 m langer durchscheinender Sintervorhang und ein mit kristallklarem Wasser gefülltes Sinterbecken befinden. Über dieses Sinterbecken sagte Kellerman: „Wir befinden uns gegenüber einem geheimen Laboratorium der Natur, wo die Kristalle wachsen, ein Anblick, der selten einem menschlichen Auge geboten wird.“ In einer Querspalte dahinter befinden sich noch weitere Sinterfahnen. Der folgende Gang mit Laugungsnäpfen in etwa 1 m Höhe führt zur Phantasiegrotte, oder Fantasia genannt. Die Laugungsnäpfe weisen eine asymmetrische Form auf und zeigen an, dass in diesem Höhlenteil zeitweise ein Höhlenbach geflossen ist. Im vorderen Teil der Phantasiegrotte geben durchgebrochene Sinterdecken die Höhe der ursprünglichen Sohle an. Hier befinden sich die Harfe, ein etwa 70 cm breiter und 2 m hoher Sintervorhang, und weitere Tropfsteine. Bei dieser Tropfsteingruppe wurden noch vor ein paar Jahren während einer Führung durch Anklopfen verschieden hohe Töne erzeugt. Da die Schwingung zu Schäden an den Tropfsteinen führen kann, wird dies nicht mehr durchgeführt. Mit der Prinz-Ludwig- oder Kristall-Grotte folgt der letzte größere Raum der Höhle. Links befindet sich ein noch teilweise gefülltes Wasserbecken. Die Innenwände sind großflächig mit Perlsinter überzogen, der unter dem Wasserspiegel entstanden ist. In diesem Becken findet man häufig an der Wasseroberfläche oder an feuchten Stellen weißliche Tierchen von wenigen Millimetern Länge. Die Insekten stammen aus der Ordnung der Springschwänze. In diesem See wurden im Jahre 2005 bei Wasserproben kleine Bathynella-Krebse entdeckt. Diese Urzeitkrebse galten seit etwa 80 Jahren in Franken als ausgestorben und haben sich in den letzten etwa 350 Millionen Jahren kaum verändert. Diese abschließende Grotte zeigt einen reichen Sinterschmuck, wobei sich im Hintergrund verstürzte Tropfsteine, die schon wieder angewachsen sind, befinden. Die Grotte wird von den Drei Zinnen geprägt, einer Tropfsteinformation aus drei miteinander verwachsenen Stalagmiten und drei darüber liegenden Stalaktiten. Hier war auch das vorläufige Ende der Höhle. In der Kristall-Grotte wurde dann 1936 unter der Sinterdecke der Höhlengang weitergegraben. Damit konnten weitere Räume zugänglich gemacht werden. In diesem Abschnitt, Neue Räume genannt, gelangt man durch einen Anstieg. Von dort blickt man zurück auf die drei durchgebrochenen Sinterdecken mit den dazwischen gelagerten Sedimenten. Durch eine enge, aufwärtsführende Spalte mit Resten einer ehemaligen Verfüllung gelangt man zu dem 1936 fertiggestellten künstlichen Ausgang. Historische Höhlenbeschreibung Der Nürnberger Oberstudienrat Kellermann, der an der Erschließung der Höhle maßgeblich beteiligt war, fasste kurze Zeit nach ihrer Entdeckung seine Eindrücke von der Binghöhle wie folgt zusammen: „Über all der Herrlichkeit ruht der zauberische Hauch der Ursprünglichkeit und Unberührtheit. Im tiefen Höhleninnern erstrahlen die Wände noch in blendendem Weiß, noch haben nicht, wie anderwärts, rohe Hände die leicht zerbrechlichen Gebilde beschädigt. Andere Höhlen übertreffen diese Höhle wohl an Weite der Hallen, aber keine der bekannten Höhlen der Fränkischen Schweiz reicht an sie nur entfernt hin, an Mannigfaltigkeit und Schönheit der hier meist in handgreiflicher Nähe vor uns stehenden Tropfsteinausscheidungen, aus keiner kennt man so glänzende Kristallbildungen und so zierliche durchscheinende Stalagmiten aus reinem Kalkspat, nirgends finden sich so mannigfaltige Sinterbecken. Man wird weit reisen müssen, bis man etwas der Höhle Ebenbürtiges findet.“ Geologie Die Binghöhle liegt in horizontal gelagerten, etwa 20 m mächtigen geschichteten Kalken des Malm Beta. Sie ist zwar engräumig von Jura-Schwammriffen umgeben, die Bildung der Höhle vollzog sich aber ausschließlich im Bereich des gebankten Kalksteins. Dieser zeigt im Eingangsbereich dünnbankige Schichten mit einer durchschnittlichen Mächtigkeit von 25 bis 30 cm, im übrigen Verlauf der Höhle aber meist dickere Bänke mit einer Mächtigkeit von etwa 1½ m. Die Binghöhle ist im näheren Umkreis die einzige Höhle, die im gebankten Kalk angelegt ist. Bedingt durch die Anlage an Schichtfugen verläuft die Höhle weitgehend horizontal. Sie durchzieht den Berg mit einer durchschnittlichen Breite von 1 bis 2 und einer Höhe von 2 bis 4 m als durchgehender Gang. Der dünnbankige Werkkalk, in dem die Binghöhle liegt, neigt zu starkem Verbruch. In diesen dünnbankigen Schichten entstehen in der Regel nur kleinräumige Höhlen, so dass Raumerweiterungen nur an einigen Querklüften im Gestein möglich waren. In tieferen Bereichen der Höhle weisen die Bänke größere Mächtigkeiten bis zu 1½ m auf, dadurch konnten sich aufgrund der massiveren Ausbildung des Werkkalks auch einige größere Räume, wie der Kerzensaal, bilden. Die Binghöhle ist im Höhlenkataster Fränkische Alb (HFA) als C 15 (6133-1049) registriert. Entstehung durch Wasser Zunächst bildete sich die Höhle im stehenden Grundwasser entlang der weitgehend horizontal verlaufenden Schichtfugen. Später kam es dann, nach der Eintiefung der Wiesent, zu einem druckfreien Abfluss des Wassers. Der ehemalige Höhlenfluss schnitt sich immer tiefer in die ursprüngliche Röhre ein und formte die Höhle. Durch den turbulenten Höhlenfluss entstanden typische Fließfacetten. Die Binghöhle ist deshalb eines der seltenen Beispiele einer Flusshöhle. Dies ist in der heutigen Landschaft nicht mehr erkennbar, da das Schauertal und das Wiesenttal in der heutigen Form zur damaligen Zeit noch nicht bestanden haben. Auch die Hochfläche im Norden war um viele Meter höher. Das Wiesenttal tiefte sich immer mehr ein, und der Karstwasserspiegel folgte der Absenkung; so waren die hochgelegenen Abflusssysteme nicht mehr an der Entwässerung beteiligt. Im Umfeld der Binghöhle veränderte sich dadurch die Situation dramatisch. Das Wasser hatte das Gangsystem verlassen und floss obertägig in das nun tiefer liegende Wiesenttal ab. Es schnitt sich dabei tief in die Felsen ein, so dass die heutige Geländeform entstand. Der Wasserlauf fiel trocken, und die Binghöhle wurde von der Hochfläche her mit lehmigen Sedimenten zugeschüttet. Einen Hinweis auf die starke Schüttung des Flusslaufes in der Binghöhle ergaben auch die Arbeiten bei der Erschließung 1905. In dem herausgeschafften Erdreich vom Eingangsbereich befanden sich vielfach abgefallene Tropfsteine, die dorthin geschwemmt worden waren. Im vorderen Höhlenausgang befindet sich eine weite Ausbuchtung, die furchenartige Tropfsteinbildung aufweist. Der Karstwasserspiegel folgte der zunehmenden Eintiefung der Täler nach unten. Der Wasserlauf in der Höhle wurde damit immer geringer, bis er schließlich ganz versiegte. Das unterirdische Bachbett wurde mit Sedimenten zugeschwemmt, die aus der Höhle stammten oder von oben durch Spalten oder aus Seitenhöhlen in die Haupthöhle gelangt waren. Es bildeten sich nach der Trockenlegung Tropfsteine und Sinterdecken und plombierten weite Teile des Gangsystems. Diesen Vorgang kann man im Bereich der Tropfsteingalerie und am Höhlenausgang sehr gut erkennen, da dort bei der Erschließung der Höhle die Sinterdecken durchbrochen worden sind. Diese waren als großflächige Kalkablagerungen über älteren Verfüllungen entstanden. Bedingt durch die Plombierung einzelner Abschnitte bildeten sich, lange nachdem die Tropfsteinbildung begonnen hatte, zeitweise Wasseransammlungen in der Höhle. Diese setzten am Boden der Höhle eine feste Kalksinterdecke ab, welche stellenweise eine Mächtigkeit von 1 m erreichte. Teilweise standen dadurch auch Bodentropfsteine in den Wasseransammlungen, was sich durch Kalkablagerungen an den Tropfsteinen erkennen lässt, sogenannte Flutmarken. Fließfacetten Von dem ehemaligen Höhlenfluss sind noch die durch strömendes Wasser entstandenen Fließfacetten an den Höhlenwänden vorhanden. Diese lassen sich besonders gut zwischen der Nixengrotte und der Phantasiegrotte erkennen. Die Facetten sind umso kleiner, je größer die Strömungsgeschwindigkeit war. Die Fließfacetten weisen im Querschnitt ein elliptisch langgezogenes und asymmetrisches Profil auf. Anhand ihrer Form – in Strömungsrichtung ein flaches und in die Gegenrichtung ein steiles Ende – kann man ablesen, dass der Fluss vom jetzigen Ausgang zum Eingang der Höhle geflossen ist. Auf der Länge der heutigen Höhle hatte dieser Fluss ein Gefälle von etwa 0,5 %. Die Binghöhle hatte offenbar mehrere aktive Flussphasen, da sich auf alten Tropfsteingenerationen Fließfacetten belegen lassen. Es wechselten zeitlich getrennte Perioden mit fließendem Wasser und trockene Phasen, in denen sich Sedimente ablagerten und Tropfsteine entstanden. Zwischen diesen Phasen gab es wiederum Zeitabschnitte, in denen die Höhle mit stehendem Wasser geflutet war. Während dieser Phasen bildeten sich sogenannte Stillwasserfacetten, die im stehenden Wasser durch Laugung entstanden sind. Diese lassen sich im Bereich vor der Tropfsteingalerie erkennen. Der Wechsel der verschiedenen Phasen mag ein Indiz für wechselnde Klimabedingungen im Laufe der Jahrtausende währenden Entstehungsgeschichte der Binghöhle sein. Höhlenfluss An drei Stellen des Höhlenganges wurde anhand der Größe der Fließfacetten, die durchschnittlich eine Länge von 6 cm haben, die Geschwindigkeit und damit die Schüttung ermittelt. Man konnte so herausfinden, welche Wassermengen in der aktiven Phase des Flusses die Binghöhle durchströmt haben. Es ergab sich ein theoretischer Durchfluss von 1550 Litern pro Sekunde. Dies ist etwa dreimal so viel wie bei der größten Karstquelle der Fränkischen Schweiz, der Stempfermühlquelle bei Behringersmühle. Diese hat eine Schüttung von 570 Litern pro Sekunde. Man kann annehmen, dass sich dieser ehemalige Wasserkanal am Beginn der Eintiefung des Schauertales in einer Höhe von etwa 380 m noch fortsetzt und kilometerlang unter der Hochfläche erstreckt, bei einer angenommenen damaligen Wasserführung von 1550 Litern pro Sekunde. Allerdings dürften diese Strecken, so wie das Ende der Binghöhle, ebenfalls mit Sedimenten verschüttet sein. Allgemein sind die heutigen Abflussmengen im Bereich der Binghöhle gegenüber früher sehr gering. Im Schauertal entspringen zwei Quellen, die eine Schüttung von 10 und 7 Liter pro Sekunde haben. Insgesamt fließen im Schauertal etwa 17 bis 20 Liter pro Sekunde ab. Druckröhren In die Höhle münden an einzelnen Stellen schachtartige Höhlungen von beträchtlicher Länge senkrecht nach oben oder seitlich angesetzt. Diese wurden durch herabstürzendes Wasser ausgeweitet und weisen Tropfsteinbildungen auf. Diese Deckenröhren wurden zusammen mit blinden Abzweigungen als sogenanntes Druckleitungsstadium gebildet. Im Zuge der Eintiefung der Wiesent und des damit verbundenen Absinkens des Grundwasserspiegels wurde dies unterbrochen. Fortan kam es zu einem druckfreien Abfluss des Wassers, und kleinere Nebenröhren fielen trocken. Die Raumerweiterung beschränkte sich nicht mehr auf geschlossene Leitungsformen. Der ehemalige Höhlenfluss schnitt sich in die ursprünglichen Röhren immer tiefer ein. Druckröhren, ebenfalls vom Wasser gebildet, münden an mehreren Stellen von der Seite in die Binghöhle. Diese röhrenartigen Kanäle können von einer Person teilweise durchkrochen werden und haben einen ungefähr kreisförmigen Querschnitt. Außerdem bildeten sich zahlreiche kleine, vielfach verzweigt verlaufende Röhren durch Wasser, das sich während der Höhlenbildung unter hydrostatischem Druck seinen Weg durch die horizontalen Schichtfugen bahnte. Tropfsteine Die Binghöhle besitzt Tropfsteine in großer Formenvielfalt, die sich nach dem Trockenfallen des Höhlenbaches mehrphasig gebildet haben. Die Sinterbildung und die Ablagerungen wechselten sich ab, weshalb alte Tropfsteingenerationen zum Teil in Sedimenten eingebettet oder von einer jüngeren Tropfsteingeneration überwachsen sind. Es gibt Deckenformationen (Stalaktiten und Sinterröhrchen), Bodenformationen (Stalagmiten) und Wandsinterpartien. Die Bodentropfsteine treten in der Binghöhle in vielen verschiedenen Formen auf, wie die palmenstammförmige Riesensäule oder die sehr schlanken, mehrere Meter hohen Kerzenstalagmiten im Kerzensaal. Die Binghöhle weist in ihrem Sinterinventar eine mineralogische Besonderheit auf. Diese ist auf die besondere geologische Sonderstellung der Höhle im Werkkalk zurückzuführen. Zahlreiche Tropfsteine sind makrokristallin, in einigen Fällen sogar monokristallin, wie im Kerzensaal. Bei den meisten anderen Höhlen, vor allem im Dolomitgestein, weisen die Tropfsteine aufgrund des negativen Einflusses der Magnesiumionen im Tropfwasser eine polykristalline Struktur auf. Die Binghöhle befindet sich in kalkigem Muttergestein, dadurch fehlt der störende Einfluss des Magnesiums bei der Kristallisation. So konnten sich monokristalline Tropfsteine mit einer außergewöhnlichen Transparenz bilden, die das Licht einer elektrischen Lampe hell-rötlich durchdringen lässt. Die kristallinischen Tropfsteine haben auch die Eigenschaft, durch Anschlagen glockenhell zu klingen. Sie führen dabei Schwingungen aus, die mit der Hand zu spüren sind. An überhängenden Wandabschnitten oder schrägen Decken haben sich durch abrinnendes Sickerwasser Sinterfahnen und Sintervorhänge gebildet. In der Phantasiegrotte befindet sich mit der Harfe ein durchscheinender Sintervorhang, das schönste Beispiel dieser filigranen Sinterformationen. Zahlreiche Tropfsteine in der Tropfsteingalerie weisen horizontal verlaufende Sinterleisten auf. Diese Randlinien stellen Wasserstandslinien einer früheren Wasserspiegelhöhe dar. Blumenkohlartige Formen haben sich unterhalb der Wasserstandsmarken als Kalkausscheidungen unter dem Wasser gebildet. Der Höhlenboden war ursprünglich von großflächigem Kristallrasen bedeckt. Diese Kristalle wurden im Zuge der Erschließungsarbeiten weitgehend zerstört. Man findet diese nur noch in unerschlossenen Seitenteilen der Höhle. In der Höhle befinden sich auch mehrere Sinterbecken, wie in der Nixengrotte und der Prinz-Ludwig-Grotte. In einem dieser Becken befinden sich bis zu sieben Zentimeter lange, fünf Zentimeter breite und drei Zentimeter hohe, allseitig entwickelte Drusen rhomboedrischer, stark glänzender Kalkspatkristalle. In einigen Sinterbecken finden sich auch viele kleinere, lose neben- und übereinander liegenden Drusen mit zahlreichen glitzernden Kristallflächen. In anderen Becken haben sich zusammenhängende, vollständig ebene Sinterdecken gebildet oder der Kalk hat sich in Form blumenkohl>artiger Masse abgelagert. Excentriques stellen eine Besonderheit unter den Tropfsteinen dar und sind in den fränkischen Höhlen große Raritäten. Sie wachsen scheinbar von der Schwerkraft völlig unbeeinflusst in alle Richtungen. In der Binghöhle befinden sich an einigen schwer zugänglichen Stellen Excentriques mit einer Länge von bis zu 14 Zentimetern. Sie zählen damit zu den größten bisher bekannten Exemplaren in der Fränkischen Schweiz. In der Venusgrotte befinden sich einige Stalagmiten, die durch tektonische Ereignisse wie Erschütterungen durch Felsniederbruch schräggestellt sind. Diese Tropfsteine sind mittlerweile in dieser schrägen Position bereits wieder an der Wand angesintert. Besiedlung durch Menschen und Tiere Bei den Erschließungsarbeiten wurde der mit Schutt verfüllte vordere Teil der Höhle ausgegraben. Dabei kamen verschiedene menschliche Relikte zutage. Über die gefundenen Stücke wurden jedoch keine genaueren schriftlichen Aufzeichnungen angefertigt. Bing war kein Archäologe und beschäftigte auch keinen solchen Fachmann bei seinen Grabungen. Die Arbeiten wurden mit grobem Gerät ausgeführt, so dass man wohl manche Objekte übersah. Bei den Grabungen wurden menschliche Spuren bis etwa 35 m nach dem Eingang der Höhle gefunden. Von da an verringert sich die Breite der Höhle von zunächst zwei bis zweieinhalb Metern auf weniger als einen Meter. Sie hat in diesem Bereich eine Höhe von zwei bis zweieinhalb Metern. 15 m hinter dem Höhleneingang liegt die Höhlendecke an einer Stelle bis zu sechseinhalb Meter hoch, allerdings nicht über die gesamte Gangbreite, sondern nur in einer schmalen Kluft. Das Anlegen einer Feuerstelle wäre an dieser Stelle am günstigsten gewesen. Insgesamt wurden fünf Feuerstellen mit Resten von Holzkohle gefunden. Angesichts der angetroffenen Kulturschicht dürfte der Eingangsbereich der Höhle damals höchstens eineinhalb bis zwei Meter hoch gewesen sein und damit zu unbequem und kaum geeignet für einen längeren Aufenthalt. Spuren der Kulturschichten sind heute noch stellenweise an den Höhlenwänden zu erkennen. Anhand der Funde in den verschiedenen Ablagerungsschichten konnten drei voneinander getrennte Zeitperioden festgestellt werden, in denen Menschen die Höhle aufgesucht haben. In der untersten Kulturschicht, die zur Bronzezeit gehört, wurden die meisten Scherben von Keramikgefäßen gefunden. Diese befanden sich in einer Tiefe von 100 bis 140 Zentimetern und umfassten Teile von mindestens zehn Gefäßen, die Reste von grob getöpferter Gebrauchskeramik, die noch ohne Hilfe der Töpferscheibe hergestellt worden waren. Überwiegend waren es großvolumige Gefäße mit bis zu 36,5 Zentimetern Randdurchmesser. Lediglich ein kleineres krugähnliches Gefäß war darunter. Unter den Funden befanden sich auch wenige menschliche Knochenreste, wie vier Bruchstücke einer Schädeldecke, der Teil eines Unterkiefers mit zwei völlig abgeschliffenen Backenzähnen, ein einzelner Backenzahn und zwei Bruchstücke von Langknochen. Wegen der Oberflächenbeschaffenheit und des gleichen Erhaltungszustandes dürften sie zu demselben Individuum gehört haben. Der zweite Aufenthalt von Menschen in der Höhle ist etwa auf 1500 Jahre nach der Bronzezeit zu datieren. Im vordersten Höhlenteil hatte sich das Bodenniveau durch Humus>bildung und Gesteinsschutt noch weiter erhöht. Dadurch befanden sich die Relikte auf einer höheren Ebene, etwa 50 bis 60 Zentimeter unter der Oberfläche. Für einen längeren Aufenthalt war die niedrigere Höhle noch unwirtlicher geworden. So wurden nur Reste von etwa sieben Gefäßen gefunden. Fünf mit einem Durchmesser von 25 bis 29 Zentimetern waren von höherer Qualität und auf der Töpferscheibe hergestellt worden. Bei den beiden anderen Gefäßen handelte es sich um kleines tassenartiges Geschirr mit elf Zentimetern Randdurchmesser. Die Form und Machart der Gefäße deutet auf die Keltenzeit hin. Funde von einer dritten Besiedlung dürften aus dem Mittelalter stammen. Es handelte sich lediglich um drei Scherben von ein und demselben Tongefäß und um verschiedene Eisengegenstände. Nach diesem dritten, sehr kurzen Aufenthalt von Menschen geriet die Höhle wieder in Vergessenheit. Der Eingang wurde durch Hangschutt und Humusablagerungen mehr und mehr zugeschüttet. Bis zur Entdeckung durch Bing blieb die Höhle etwa 750 Jahre unberührt. Bei den Ausgrabungen durch Bing wurden in den teilweise bis zu 1,8 m hohen Sedimenten im Eingangsbereich auch die Überreste von Tieren gefunden. Bei den Knochenfunden handelte es sich um die des Bibers, Dachses, Hirsches, Hundes, Iltisses, der Katze, des Rehs, Schneehasen, Schweins, Wiesels, Wisents und der Ziege. Außerdem wurden viele Vogelknochen, darunter die Klauen eines großen Adlers, und Fischreste gefunden. Teilweise lebten die Tiere in der Höhle und verendeten dort oder sie wurden als Nahrungsmittel durch die Menschen in die Höhle geschafft. Überreste vom Höhlenbären hat man erstaunlicherweise nicht gefunden, obwohl diese in den anderen fränkischen Höhlen sehr verbreitet waren. Flora und Fauna Lampenflora Das Eindringen von Pflanzen in den Tiefenbereich einer Höhle ist wegen der absoluten Dunkelheit verwehrt. Bei Schauhöhlen bietet die künstliche Beleuchtung der Pflanzenwelt allerdings auch weit entfernt vom Höhleneingang eine Existenzmöglichkeit. Diese Pflanzengemeinschaft wird als Lampenflora bezeichnet und setzt sich überwiegend aus Moos- und Farnarten zusammen. Die Sporen gelangen mit Sickerwasser aus der Erdoberfläche durch Klüfte in die Höhle. Zur Verbreitung der Pflanzen tragen auch die Höhlenbesucher bei. Jedoch haben anspruchsvolle Blütenpflanzen kaum eine Überlebenschance und treten deswegen nur selten in der Form von blassen, kurzlebigen Keimlingen in Erscheinung. Die Höhle und die Tropfsteine wurden 2004/2005 während der Sanierung grundlegend von den Pflanzen gereinigt, so dass diese jetzt nur noch vereinzelt anzutreffen sind. Vor der Reinigung konnten fünf verschiedene Moosarten nachgewiesen werden, von denen das Spaltzahnmoos die häufigste Art war. Es gab auch zwei Farnarten, den Braunen Streifenfarn und den Zerbrechlichen Blasenfarn. Untersuchungen im Jahr 1989 zeigten, dass im Bereich der Tropfsteingalerie 93 Prozent aller Lampen dicht von Lampenflora umgeben waren. In tieferen Regionen der Höhle, in der Kellermannsgrotte und im Kerzensaal, wiesen 75 Prozent aller vorhandenen Lampen eine dichte Lampenflora auf. Ein fortgeschrittener Vergrünungsprozess führt unweigerlich zu erheblichen Schäden an den Tropfsteinen. Im Rahmen der Sanierungsarbeiten wurde auch die elektrische Beleuchtung teilweise durch LED-Technik ersetzt, um der Lampenflora entgegenzuwirken. Höhlentiere Es wurden bisher 27 verschiedene Tierarten in der Binghöhle nachgewiesen. Nicht bei allen handelt es sich um echte Höhlentiere, viele davon können auch außerhalb der Höhle existieren. Höhlenfremde Tiere geraten nur zufällig in die Höhle, weil sie sich dorthin verirren. Diese Tiere gehen bald zugrunde, da die Höhle nicht ihrem eigentlichen Lebensraum entspricht. Es finden sich auch einige Tierarten, die sich dort nur saisonal aufhalten und sich nicht an das Höhlenleben anpassen, zum Beispiel Schmetterlinge. Einige Nachtfalterarten suchen jedoch bereits im Spätsommer gezielt die Binghöhle auf, wie der Wegdornspanner und die Zackeneule, um dort in der Nähe des Eingangs in großer Zahl zu überwintern. Die überlebenden Falter verlassen erst im Frühjahr für die Eiablage die Höhle wieder. Die größte Gruppe der Tierarten in der Binghöhle gehören zu den Höhlenfreunden (Troglophilen), die ihr gesamtes Leben in der Höhle verbringen; sie können aber auch in der Außenwelt existieren. Dazu zählen die Höhlenspinnen und die Pilzmücken. Zu den häufigsten Bewohnern der Binghöhle gehören die bereits genannten Springschwänze mit einer Größe von einem bis zwei Millimetern. Diese Tiere leben vorwiegend auf der Wasseroberfläche der zahlreichen Sinterbecken. Es konnten in der Binghöhle bisher sieben verschiedene Springschwanzarten nachgewiesen werden. Die Binghöhle beherbergt drei Tierarten, die immer Gefangene der Unterwelt sind. Es handelt sich um echte Höhlentiere, die sich hochspezifisch an das Höhlenleben angepasst haben und nicht mehr an der Erdoberfläche überleben könnten, nämlich eine Springschwanzart, eine Spinne und ein Krebs. Der Grundwasserkrebs Bathynella stellt die größte Besonderheit dar. Dieses bizarre Tier lebt in der Kristallgrotte in einem Wasserbecken. Das lebende Fossil gilt als Abkömmling einer Tiergruppe, die schon vor 350 Millionen Jahren im Zeitalter des Karbon reich entfaltet war. Lange glaubten die Paläontologen, dass diese Krebse schon seit vielen Millionen Jahren ausgestorben seien. Der Krebs zählt mit einer Körperlänge von einem Millimeter zu den Winzlingen unter den echten Höhlentieren und ist deswegen nur sehr schwer aufzuspüren. Fossilien Die Binghöhle weist als Besonderheit im Gegensatz zu den fossilfreien Dolomithöhlen zahlreiche Jurafossilien auf. Es handelt sich dabei hauptsächlich um versteinerte Meeresorganismen. Darunter befinden sich zwei Arten von Armfüßern: Rhynchonellen mit einer gerippten Schalenstruktur und Terebrateln mit weitgehend glatten Schalen. Ebenso häufig finden sich auch Gehäusefragmente und isolierte Stacheln von Seeigeln, im Bereich der Prinz-Ludwig-Grotte auch Stielglieder und Seelilien. Zu den häufigen Fossilien zählen auch die Überreste von Belemniten, die mit den heutigen Sepien und Kalmaren verwandt sind. Von diesen Tintenfischen blieben nur die spitz-konisch geformten Rostren als Teil des Innenskeletts übrig. Tourismus Führungen Die Führungen in der Binghöhle gehen über gut begehbare Wege und Treppen in die einzelnen Abteilungen und an den Tropfsteinformationen vorbei. Am Ende der Höhle geht es 55 Treppenstufen nach oben zum Ausgang am Parkplatz. Von dort sind es etwa 300 m zurück zum Eingang. Eine Führung dauert 30 bis 40 Minuten. Dabei wird ein Weg von etwa 300 m zurückgelegt. Es werden auch Sonderführungen für Kinder durchgeführt wie die Märchenführung oder die Abenteuerführung. Besucherzahlen Im ersten Jahr als Schauhöhle kamen über 7000 Besucher. Von da an nahmen die Besucherzahlen regelmäßig zu, mit gelegentlichen Rückgängen wie zu Beginn der 1930er Jahre, bedingt durch die Weltwirtschaftskrise. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte wieder ein verstärkter Höhlenbesuch ein. Lange Zeit bewegten sich die Besucherzahlen zwischen 30.000 und 50.000 pro Jahr mit gelegentlichen Spitzen von bis zu 70.000 Besuchern. In den 1980er Jahren lagen die Besucherzahlen fast durchwegs über 40.000, nur 1985 und 1986 wurde diese Zahl unterschritten. Anfang der 1990er Jahre erlebte die Höhle einen erneuten Aufschwung mit jährlich über 50.000 Besuchern. 1991 kamen 54.436 und 1995 54.464 Besucher, das waren die höchsten Besucherzahlen der letzten 25 Jahre. Danach gingen die Zahlen, wie bei vielen anderen Schauhöhlen, zurück. Im Jahr 2003 war mit 30.798 Besuchern der Tiefpunkt der letzten 25 Jahre erreicht. Bedingt durch das hundertjährige Jubiläum der Höhle im Jahre 2005, bei dem auch Sonderführungen angeboten wurden, kamen 44.700. Im Jahre 2011 kamen 31.851 Besucher. In den Jahren 2007 bis 2011 besuchten im Jahresdurchschnitt 34.407 Besucher die Höhle. Mit diesen Werten befindet sich die Binghöhle im oberen Mittelfeld bei den Schauhöhlen in Deutschland. Bei den fränkischen Höhlen nimmt sie hinter der Teufelshöhle (153.900 Besucher im Durchschnitt der Jahre 2007 bis 2011) den zweiten Platz ein. Insgesamt kamen in den letzten 30 Jahren etwa 1,2 Millionen Besucher, was einen jährlichen Durchschnitt von etwa 42.000 bedeutet. Geotop Die Höhle ist vom Bayerischen Landesamt für Umwelt als Geotop 474H006 und Naturdenkmal ausgewiesen. Siehe hierzu auch die Liste der Geotope im Landkreis Forchheim. Siehe auch Liste der Schauhöhlen in Deutschland Literatur Fabian Brand, Renate Illmann, Ferdinand Leja, Dieter Preu, Dr. Hardy Schabdach: Die Binghöhle bei Streitberg – Auf den Spuren eines unterirdischen Flusses. Herausgegeben von der Marktgemeinde Wiesenttal, Schmittdruck Großenbuch 2006, ISBN 3-00-018547-X, S. 60. Brigitte Kaulich, Hermann Schaaf: Kleiner Führer zu Höhlen um Muggendorf. Verlagsdruckerei Schmidt GmbH, Neustadt/Aisch 2002, ISBN 3-922877-00-1. Herausgeber: Forschungsgruppe Höhle und Karst Franken e. V.: Der Fränkische Höhlenspiegel, Heft 53. Nürnberg 2006, Seite 6–11, . Herausgeber: Höhlenverwaltung Streitberg/Fränkische Schweiz: Binghöhle. Druckhaus Bayreuth 1971. Chr. Kellermann: Die Geschichte der Binghöhle bei Streitberg. In Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft in München. von Dr. Christian Kittler, Dritter Band, 2. Heft. K. b. Hof- und Univ.-Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen, München 1908, S. 172–186. Hans Binder, Anke Lutz, Hans Martin Lutz: Schauhöhlen in Deutschland. Aegis Verlag, Ulm 1993, ISBN 3-87005-040-3, S. 70–71. Friedrich Herrmann: Höhlen der Fränkischen und Hersbrucker Schweiz. Verlag Hans Carl, Nürnberg 1991, ISBN 3-418-00356-7, S. 75–76. Stephan Kempe (Hrsg.): Welt voller Geheimnisse – Höhlen. Reihe: HB Bildatlas Sonderausgabe. Hrsg. v. HB Verlags- und Vertriebs-Gesellschaft, 1997, ISBN 3-616-06739-1, S. 100. Stephan Kempe & Wilfried Rosendahl (Hrsg.): Höhlen: verborgene Welten. – Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Darmstadt, 2008, ISBN 978-3-534-19899-3, S. 168. Stephan Lang: Höhlen in Franken. Ein Wanderführer in die Unterwelt der Fränkischen Schweiz. Verlag Hans Carl, Nürnberg 2000, ISBN 3-418-00385-0, S. 68–70. Dr. Hardy Schabdach: Unterirdische Welten, Höhlen der Fränkischen- und Hersbrucker Schweiz. Verlag Reinhold Lippert, Ebermannstadt 2000, ISBN 3-930125-05-6, S. 41–47. Helmut Seitz: Schaubergwerke, Höhlen und Kavernen in Bayern. Rosenheimer Verlagshaus, Rosenheim 1993, ISBN 3-475-52750-2, S. 43–46. Weblinks Binghöhle – offizielle Seite Schauhöhlen in Deutschland – Binghöhle Buchbeschreibung – Die Binghöhle bei Streitberg Höhlen - Zeugen der Vergangenheit? Arte TV, Bayerischer Rundfunk (2015), 26min, Höhlenforscher in der Binghöhle Einzelnachweise Höhle in Europa Höhle in Bayern Schauhöhle Fränkische Schweiz Bodendenkmal in Wiesenttal Geotop im Landkreis Forchheim Geographie (Wiesenttal) Höhle der Fränkischen Alb Naturdenkmal im Landkreis Forchheim Karsthöhle in Deutschland
377374
https://de.wikipedia.org/wiki/U-Bahn%20Frankfurt
U-Bahn Frankfurt
Die U-Bahn Frankfurt ist das Stadtbahnsystem der Stadt Frankfurt am Main und nach der S-Bahn Rhein-Main und vor der Straßenbahn Frankfurt am Main wichtigster Verkehrsträger des öffentlichen Personennahverkehrs in der Stadtregion Frankfurt. Die U-Bahn wird täglich von fast 400 000 Fahrgästen benutzt. Das Netz wurde seit 1968 in mehreren Stufen in Betrieb genommen. Es besteht aus drei Stammstrecken mit innerstädtischen U-Bahn-Tunneln und oberirdischen Strecken in den Außenbereichen. Die oberirdischen Abschnitte haben unterschiedliche Ausbaustandards vom unabhängigen bis zum straßenbündigen Bahnkörper. Die Frankfurter U-Bahn hat neun Linien, davon acht Linien in der Innenstadt, mit zusammen 27 Tunnelbahnhöfen und 59 oberirdischen Stationen. Auf dem 65 Kilometer langen Streckennetz wurden im Jahr 2016 über 132 Millionen Fahrgäste befördert. Zuletzt kamen am 12. Dezember 2010 mit der U8 und der U9 zwei neue Linien hinzu, die den Universitätscampus und das Neubaugebiet am Riedberg erschließen. Die U-Bahn-Linie U9 ist die erste Linie, die nicht die Innenstadt berührt. Allgemeines Eigentümerin von Strecken, Fahrzeugen und einem großen Teil der Bahnhöfe ist seit 1996 die Verkehrsgesellschaft Frankfurt am Main mbH (VGF). Die stadteigene Gesellschaft ging aus der Verkehrsabteilung der Stadtwerke Frankfurt hervor, die zuvor Betreiberin des städtischen Schienen- und Busverkehrs war. Die Schienenverkehrsleistungen sind bis zum 31. Januar 2031 an die VGF vergeben. Auftraggeberin der VGF ist die städtische Nahverkehrsgesellschaft traffiQ. Wie alle Linien des öffentlichen Personennahverkehrs in Frankfurt gehört die U-Bahn seit 1995 zum Tarifgebiet des Rhein-Main-Verkehrsverbunds (RMV). Von 1974 bis zur Gründung des RMV waren die Stadtwerke Gesellschafter im Vorgängerverbund, dem Frankfurter Verkehrsverbund (FVV). Geschichte Aufgrund ihrer langen Planungs- und Baugeschichte und der unterschiedlichen Vorgeschichte der oberirdischen Teilstrecken weist die Frankfurter U-Bahn eine Reihe von technischen und betrieblichen Besonderheiten auf, die sie von reinen U-Bahn-Systemen unterscheiden und als Stadtbahn charakterisieren. Anfang der 1950er Jahre entstanden die ersten Planungen, die damals schon stark überforderte Straßenbahn zu entlasten. 1958 waren in Frankfurt bereits mehr als 100 000 Kraftfahrzeuge zugelassen, und mehr als 180 000 Pendler täglich beanspruchten die Verkehrsinfrastruktur. Verschiedene Alternativen zum Bau eines modernen Schnellverkehrssystems und zur Trennung der oberirdischen Verkehrsströme wurden diskutiert. Am 5. April 1960 beantragte die SPD-Fraktion, die Stadtverordnetenversammlung möge sich auf eine Hochbahn vom System Alweg festlegen. Oberbürgermeister Werner Bockelmann befürwortete jedoch von vorneherein den Bau einer U-Bahn, die allerdings als kostspieligste Variante galt. Am 7. Juli 1960 beauftragte das Stadtparlament daher einen Städteplaner mit der Erstellung einer planerischen Gesamtübersicht, um die Kosten der drei Systeme Alweg-Bahn, U-Bahn und U-Straßenbahn miteinander vergleichen zu können. Federführend für die Planung wurde der im Oktober 1961 gewählte Verkehrsdezernent Walter Möller. Die Entscheidung fiel schließlich Ende 1961 zugunsten des U-Bahn-Systems, das in mehreren Abschnitten unter Nutzung der vorhandenen Straßenbahninfrastruktur entstehen sollte. In der ersten Bauphase sollten vorerst die Tunnelstrecken der Innenstadt errichtet werden, die über provisorische Rampen an die angrenzenden Straßenbahnstrecken angeschlossen werden sollten. Erst in der zweiten Bauphase sollten die Tunnel über die Innenstadt hinaus verlängert werden und an für den Stadtbahnbetrieb geeignete ausgebaute oberirdische Strecken in den Vororten anschließen. In der dritten Bauphase wäre dann der Wandel von der Stadtbahn zu einer U-Bahn vollzogen worden, die vollkommen unabhängig vom Straßenverkehr in Tunneln, Einschnitten und auf Dämmen verkehren sollte. Am 28. Juni 1963 erfolgte der erste Rammschlag für den Bau des 3,2 Kilometer langen Tunnels unter der Eschersheimer Landstraße. Für die erste Ausbaustufe bis 1975 – etwa den heutigen Stammstrecken A und B entsprechend – wurde mit Baukosten von 565 Millionen DM gerechnet. Der neue Oberbürgermeister Willi Brundert verglich den „kühn begonnenen U-Bahn-Bau“ 1964 in seinen Dimensionen mit dem mittelalterlichen Dombau. Bereits nach einem Jahr drohte das ehrgeizige Mammutprojekt an Finanzierungsproblemen zu scheitern. Sinkende Steuereinnahmen und eine zugunsten von Bund und Ländern orientierte Abgabenpolitik trieben schon Mitte der 1960er vielerorts die Kommunen nahe an den Ruin. 1964 war Frankfurt mit 1,4 Milliarden DM die am höchsten verschuldete Stadt Deutschlands, bei einem ordentlichen Haushaltsvolumen von 733 Millionen DM. Unter dem Druck, den defizitären Haushalt stabilisieren zu müssen, kürzte die Stadtverordnetenversammlung zwischen 1964 und 1965 die langfristige Investitionsplanung von 2,7 Milliarden auf 1,7 Milliarden DM und deutete zeitweise sogar an, die Eschersheimer Landstraße nach Abschluss der Tunnelarbeiten als „unbefahrbare Wüstenei“ zurückzulassen. Am 17. August 1966 fand anlässlich eines Tages der offenen Tür die erste Probefahrt des neuen U1-Triebwagens auf einem bereits fertiggestellten 500 Meter langen Tunnelabschnitt unter der Eschersheimer Landstraße statt. Am 23. August 1966 verhängte die Stadtverordnetenversammlung einen vorübergehenden Baustopp für den gerade begonnenen zweiten Bauabschnitt der U-Bahn, die Stammstrecke B. Am 4. Oktober 1968 um 13 Uhr gab Bundesverkehrsminister Georg Leber das Startsignal für den ersten U-Bahn-Zug in der Station Hauptwache. Mit einem zweitägigen Volksfest wurde die Betriebsaufnahme der Frankfurter U-Bahn als „dritte U-Bahn in Deutschland nach Berlin und Hamburg, und als 35. U-Bahn der Welt“ gefeiert. Der Bau der knapp neun Kilometer langen U-Bahn-Linie A1 von der Hauptwache zum Nordwestzentrum hatte schließlich 344 Millionen DM gekostet, von denen der Bund 56 Millionen und das Land Hessen 129 Millionen getragen hatten. Bald nach der Eröffnung gab es Kritik an der Konzeption des stufenweisen Netzausbaus, weil die durch Zäune abgetrennten oberirdischen Streckenabschnitte und die angrenzenden Tunnelrampen die betroffenen Stadtteile zerschnitten. Überdies zeigte sich bald, dass die Tunnelrampen in der Eschersheimer Landstraße und der Friedberger Anlage, anders als ursprünglich geplant, keine Provisorien blieben, sondern jahrzehntelang in Betrieb bleiben mussten. Daher ging man in den 1970er Jahren dazu über, die Tunnel gleich mit ihrer endgültig geplanten Länge zu errichten. Wo ein Weiterbau bis zum geplanten Endzustand noch nicht möglich war, endeten Stadtbahnlinien vorübergehend an unterirdischen Stationen. 1974 ging die zweite unterirdische Strecke vom Theaterplatz zur Konstablerwache in Betrieb, die 1978 zum Hauptbahnhof und 1980 nach Bornheim verlängert wurde. Mit der Inbetriebnahme der dritten Stammstrecke von Bockenheim zum Zoo im Herbst 1986 war das innerstädtische Tunnelnetz weitgehend fertiggestellt. Die Einweihung war von heftigen Protesten gegen das Konzept der schienenfreien Innenstadt begleitet. Anders als ursprünglich geplant wurden die verbliebenen Straßenbahnlinien in der Altstadt nicht stillgelegt, sondern weiterbetrieben und später sogar ausgebaut. Es folgten langjährige, teilweise dogmatisch geführte kommunalpolitische Auseinandersetzungen über den weiteren Ausbau der U-Bahn. Nach der Kommunalwahl 2005 stoppte die neue schwarz-grüne Koalition im Römer die baureife Planung zum Bau der sogenannten DII-Strecke von Bockenheim nach Ginnheim und erklärte, keine weiteren U-Bahn-Strecken mehr zu bauen. Dennoch wurde seit 2000 die systemtechnische Trennung von Straßenbahn und U-Bahn vorangetrieben. Während auf den Straßenbahnlinien seit 2007 im Regelbetrieb nur noch moderne Niederflurfahrzeuge verkehren, werden die U-Bahn-Stationen Schritt für Schritt auf Hochbahnsteige umgerüstet und nach und nach alle Linien auf den Betrieb mit den 2,65 Meter breiten U5-Triebwagen umgestellt. Dies gilt auch für die lange Zeit umstrittene Linie U5 trotz ihres straßenbündigen Verkehrskörpers auf der schmalen Eckenheimer Landstraße. Bis Oktober 2016 wurden auf dieser Linie daher noch die umgebauten Straßenbahnwagen des Typs Ptb eingesetzt, die als einzige einen Fahrgastwechsel an Stationen mit und ohne Hochbahnsteig ermöglichten. Seit Sommer 2008 wird das Liniennetz auch wieder ausgebaut. Seit diesem Zeitpunkt verkehrt die vorher reine Tunnellinie U4 ab ihrem ehemaligen Endpunkt an der Seckbacher Landstraße in Frankfurt-Bornheim weiter bis nach Enkheim, wobei sie bestehende Betriebsgleise über den Betriebshof Ost nutzt. Als vorerst letzte Erweiterung folgte im Dezember 2010 die Inbetriebnahme der U8 und U9 zum Riedberg. Der Bau der 2011 beschlossenen Verlängerung der Linie U5 vom Hauptbahnhof ins Europaviertel hat mit ersten vorbereitenden Bauarbeiten 2013 begonnen. Die Eröffnung ist derzeit für 2025 geplant. Liniennetz Das Liniennetz besteht aus den neun Linien U1 bis U9. Die Bahnen fahren in einem von der Nahverkehrsgesellschaft traffiQ gestalteten Taktfahrplan. Die Takte variieren nach den verschiedenen Verkehrszeiten Hauptverkehrszeit (HVZ), Nebenverkehrszeit (NVZ) und Schwachverkehrszeit (SVZ). Anfangs folgte die Liniennummerierung den Streckenbezeichnungen (A1 bis A4 und B1). Seit 1978 werden die U-Bahn-Linien fortlaufend nummeriert: A1 bis A3 wurden zu U1 bis U3, B1 zu U5. Die Verstärkungslinie A4 entfiel. 1980 kam die Linie U4 hinzu, 1986 U6 und U7, 2010 U8 und U9. Alle Linien fahren auf dem gemeinsamen Abschnitt der Grundstrecke um einen halben beziehungsweise drittel Takt versetzt, so dass in der Hauptverkehrszeit auf den Grundstrecken A und B ein einheitlicher 2½-Minuten-Takt und auf der Grundstrecke C ein 3½-Minuten-Takt entsteht. In der Hauptverkehrszeit fährt jeder dritte Zug – sonst jeder zweite Zug – der Linie U4 nach Enkheim, die übrigen enden in Bornheim. Die Linien U4 und U5 verkehren in den hessischen Sommerferien in der Hauptverkehrszeit nur im 7½-Minuten-Takt. Streckennetz Das Streckennetz besteht aus den vier regelspurigen Strecken A, B, C und D. Aufgrund der Entwicklung aus dem Straßenbahnnetz weisen die Radsätze der Wagen im Spurkranzbereich sowie Radlenker und Herzstücke von Weichen und Kreuzungen wie bei vielen vergleichbaren Betrieben in Deutschland Straßenbahnmaße auf. Die Betriebslänge aller Strecken beträgt 64,85 Kilometer. Zentrale Streckenabschnitte werden als Grundstrecke oder Stammstrecke bezeichnet; diese verzweigen sich in mehrere Anschlussstrecken, die im Regelfall von nur einer Linie befahren werden und gelegentlich auch als Ausbaustrecken bezeichnet werden. Die Begriffe Grundstrecke und Anschlussstrecke sowie deren Bezeichnungen basieren auf den Namen der Bauabschnitte. Abschnitte der Grundstrecken wurden mit dem jeweiligen Buchstaben der Strecke und einer nachgestellten römischen Ziffer bezeichnet – Abschnitte der Anschlussstrecken mit einer arabischen Ziffer. Die Bezeichnung der Anschlussstrecken A1, A2, A3 und B1 wurde bis 1978 auch zur Benennung der Linien verwendet. Ausbaustandards Die Frankfurter U-Bahn unterliegt wie alle Stadtbahnen, Straßenbahnen und U-Bahnen in Deutschland den Vorschriften der Straßenbahn-Bau- und Betriebsordnung. Die Tunnelstrecken sowie der oberirdische Abschnitt zwischen Römerstadt und Ginnheim sind vollständig als unabhängige Bahnkörper ausgebaut, die meisten anderen oberirdischen Streckenabschnitte teilweise als unabhängiger Baukörper, teilweise als besonderer Bahnkörper. Diese Abschnitte weisen zahlreiche Bahnübergänge für Straßenverkehr und Fußgänger auf. Die U5 verkehrt im Abschnitt zwischen Eschenheimer Anlage und Marbachweg weitgehend auf straßenbündigem Bahnkörper. Grundstrecken Anschlussstrecken Anmerkungen: A-Strecke Die A-Strecke mit ihren drei Anschlussstrecken umfasst etwa die Hälfte des Frankfurter U-Bahn-Netzes und vereint verschiedene Ausbaustandards, sie verknüpft U-Bahn-, Hochbahn-, Eisenbahn- und Stadtbahnabschnitte. Die A-Strecke ist die wichtigste Nord-Süd-Achse im Stadtverkehr und verläuft vom Südbahnhof durch die City und die Eschersheimer Landstraße nach Heddernheim. Dort teilt sie sich in zwei Äste, die nach Oberursel (U3) und Bad Homburg (U2) führen. Der von den Linien U1, U2, U3 und U8 gemeinsam befahrene Abschnitt der Strecke besitzt acht unterirdische und sechs oberirdische Haltestellen. Die Strecken nach Bad Homburg und Oberursel gehörten ursprünglich der Frankfurter Lokalbahn AG. Sie verlaufen weitgehend abseits des Straßennetzes und besitzen durch Schranken gesicherte Bahnübergänge. Auch das Stück zwischen Oberursel Bahnhof und Hohemark ist eine nach Stadtbahnkriterien ausgebaute ehemalige Kleinbahnstrecke. Zwischen den Haltestellen Zeilweg und Wiesenau der Oberurseler Strecke zweigt die U-Bahn nochmals ab (U1) und geht auf eine neu errichtete, teilweise unterirdische Strecke durch die Nordweststadt bis nach Ginnheim. Zwischen den Haltestellen Heddernheimer Landstraße (auf dem Abschnitt nach Ginnheim) und Wiesenau (auf dem Abschnitt nach Oberursel) bildet ein Teil der D-Strecke mit den beiden Strecken ein Gleisdreieck. In Niederursel zweigt die D-Strecke dann in Richtung Riedberg ab. Der Bau der A-Strecke begann 1963. Ursprünglich war geplant, die Strecke vom Stadtzentrum bis nach Eschersheim zur Station Weißer Stein im Tunnel zu errichten. Aus finanziellen Gründen wurde jedoch nur der südliche Tunnelabschnitt errichtet und die Strecke nördlich der Miquelallee über eine Rampe an die Oberfläche geführt. Im weiteren Verlauf liegt die Strecke ebenerdig auf dem Mittelstreifen der Eschersheimer Landstraße. Trotz der oberirdischen Trassierung wurden die Stationen sehr aufwändig gebaut und verfügten über großzügige unterirdische Verteilergeschosse, vereinzelt war auch der ebenerdige Zugang per Ampel möglich. Die Streckengleise wurden aus Sicherheitsgründen zusätzlich beidseitig eingezäunt, ein Überqueren der Straße ist seitdem für Fußgänger nur noch an wenigen Stellen ampelgesichert möglich. Die erste Strecke führte von der Hauptwache zur Nordweststadt und wurde am 4. Oktober 1968 eröffnet. Sie besaß fünf unterirdische Bahnhöfe in der Innenstadt (Hauptwache, Eschenheimer Tor, Grüneburgweg, Holzhausenstraße und Miquel-/Adickesallee) sowie den unterirdischen Endbahnhof Nordweststadt in der gleichnamigen Großsiedlung. Die neue Linie, genannt A1, fuhr mit Fahrzeugen des Typs U2 (siehe unten). Als Betriebshof der U-Bahn diente das Depot der Städtischen Straßenbahn in Heddernheim. Die alte Abstellhalle in Eschersheim aus den Zeiten der Lokalbahn wurde vom Gleisnetz getrennt. Die Halle steht noch heute, auch wenn man ihre ursprüngliche Verwendung nicht mehr erkennt. Gleichzeitig wurden auch die Straßenbahnlinien 23, 24 und 25 in den neuen Tunnel verlegt. Die Fahrzeuge der U-Straßenbahnlinien wurden tunnelgängig gemacht, das heißt, sie erhielten Verbreiterungen an den Türen zur Überbrückung der Lücke zwischen (zu schmalem) Fahrzeug und Bahnsteig. Anders als die U-Bahn endeten diese U-Straßenbahnen nicht an der Hauptwache, sondern erreichten über eine Rampe in der Großen Gallusstraße wieder das Straßenbahnnetz der Innenstadt. Ab 1968 verkehrten folgende vier Linien durch den neuen Tunnel: U-Bahn A1 Nordweststadt–Hauptwache (ersetzte zwischen Heddernheim und Hauptwache die Straßenbahnlinien 23 und 26, heute U1) U-Straßenbahn 25 Bad Homburg–Hauptbahnhof/Heilbronner Straße (spätere Linie A2, heute U2) 24 Oberursel Hohemark–Hauptbahnhof/Pforzheimer Straße (spätere A3, heute U3) 23 Bonames–Neu-Isenburg (ehemalige Linie 8 Heddernheim – Riedhof, spätere A4). 1971 wurde die bisherige Straßenbahnlinie 25 in Bad Homburg bis Gonzenheim zurückgezogen, die Linienbezeichnung in A2 geändert und die bisherigen Straßenbahnfahrzeuge durch Triebwagen der Serie „U2“ ersetzt. Die als Provisorium geplante Endstation hat bis heute Bestand. 1973 wurde in der Innenstadt die U-Bahn um eine Station bis zum Bahnhof Theaterplatz (seit 1992 Willy-Brandt-Platz) verlängert. Dort entstand nach Eröffnung des ersten Teilstücks der B-Strecke 1974 der erste Umsteigebahnhof zwischen zwei Strecken. 1974 wurde der Tunnel in der Nordweststadt bis zur oberirdischen Station Römerstadt verlängert und die Abstell- und Wendeanlage Römerstadt in Betrieb genommen. 1978 wurde die Linie um einen Hochbahnabschnitt bis zur Endstation der Straßenbahn in Ginnheim verlängert. Im selben Jahr wurde die Oberurseler Strecke der früheren Lokalbahn ins U-Bahn-Netz übernommen. Auf beiden neuen Taunusstrecken verkehrten nun ebenfalls Fahrzeuge des Typs U2 betrieben. Der Mischbetrieb mit U-Straßenbahn-Wagen endete, die Tunnelrampe in der Großen Gallusstraße wurde stillgelegt, die Verstärkungslinie A4 entfiel. Die tunnelgängigen Straßenbahnfahrzeuge wurden wieder für den Straßenbahnbetrieb zurückgebaut. Mit der Betriebsaufnahme der S-Bahn Rhein-Main im Mai 1978 erfolgte die Umbenennung der Linien A1, A2 und A3 in U1, U2 und U3 (die B1 wurde zeitgleich in U5 umbenannt). 1975 begannen die Bauarbeiten an der südlichen Verlängerung der A-Strecke unter dem Main hindurch nach Sachsenhausen. Dieses Teilstück wurde am 29. September 1984 in Betrieb genommen und enthielt zwei unterirdische Bahnhöfe, Schweizer Platz und Südbahnhof. Am Südbahnhof entstand nach Fertigstellung des S-Bahn-Tunnels unter dem Main hindurch (1990) ein weiterer Umsteigeknoten zwischen beiden Schnellbahnnetzen. Mit der Verlängerung nach Sachsenhausen erreichte das A-Streckennetz seine Ausdehnung bis 2009. Außer der Zusammenlegung zweier Haltestellen und der Einrichtung einer neuen in Oberursel sowie dem Bau des Hochbahnhofs Niddapark zur Bundesgartenschau 1989 gab es hier keinen Zuwachs mehr. In den 1990er und 2000er Jahren beschränkten sich die Bautätigkeiten an der A-Strecke weitgehend auf das Angleichen der Bahnsteighöhen. Ziel ist, alle Bahnsteige auf eine einheitliche Höhe von 80 cm über Schienenoberkante zu bringen. Bei den oberirdischen Stationen war dies mit der Anlage ebenerdiger Zugänge (über Fußgängerampeln) verbunden. Einige Bahnhöfe der ältesten Frankfurter U-Bahn-Strecke wurden darüber hinaus saniert und umgestaltet (etwa die Stationen Grüneburgweg, Heddernheim und Nordwestzentrum) oder mit Aufzügen versehen (Holzhausenstraße). Am 30. Juni 2008 begann der Bau des D-IV-Streckenabschnitts über den Riedberg. Die neue Wohnsiedlung Riedberg ist seit dem Fahrplanwechsel am 12. Dezember 2010 mit zwei neuen Haltestellen über einen weiteren Ast der A-Strecke an die Innenstadt und an die Nordweststadt angebunden. Die 12,3 Kilometer lange Linie U8 verkehrt zwischen Südbahnhof und der Station Riedberg. Sie bedient bis Niederursel alle Stationen der U3, bevor sie hinter der Station nach Nordosten abbiegt und nach der Station Uni-Campus Riedberg die neue Endstation Riedberg erreicht. Die 10,3 Kilometer lange Linie U9 beginnt an der Endstation der U1 in Ginnheim und führt mit dieser bis zur Station Heddernheimer Landstraße, bevor sie in Richtung Wiesenau abzweigt. Sie führt dann zusammen mit der U8 bis Riedberg und fährt von dort weiter via Kalbach nach Nieder-Eschbach. Zwischen Kalbach und Nieder-Eschbach verkehrt sie zusammen mit der U2. In Sachsenhausen ist in den kommenden Jahren kein Weiterbau der dort endenden Linien zu erwarten. Seit 2007 ist in Planung, die Züge der Linie U2 am sogenannten Fürstengleis im Bahnhof Bad Homburg enden zu lassen. Die Trasse beginnt an der heutigen Endstation in Gonzenheim, die abgebrochen und westlich der Gotenstraße unterirdisch neu errichtet werden soll. An Stelle der bisherigen Endstation soll die Stadtbahnstrecke in einen 350 Meter langen Tunnel abgesenkt werden und parallel zur Frankfurter Landstraße die Bahnstrecke Frankfurt–Friedrichsdorf unterqueren. Danach soll sie an den Bahndamm herangeführt werden und, parallel zu diesem und auf dessen Niveau, die Lange Meile überqueren. Der Planfeststellungsbeschluss erging im Januar 2016. Dennoch ist mit einem baldigen Baubeginn nicht zu rechnen. Laut einem Artikel der FAZ „reagierte der Oberbürgermeister Alexander Hetjes (CDU) verhalten auf die Nachricht aus Darmstadt. ‚Das heißt zunächst noch gar nichts‘, sagte er mit Blick auf die ausstehende Finanzierungsvereinbarung.“ und die FAZ weiter: „Sollte der Planfeststellungsbeschluss rechtskräftig werden und auch die Finanzierungsvereinbarung stehen, ist nach früheren Angaben mit weiteren zwei Jahren für die Planung und danach zweieinhalb Jahren Bauzeit zu rechnen.“ 2018 stimmten die Bürger Bad Homburgs in einem Bürgerentscheid für das Bauprojekt. Der Oberbürgermeister kündigte daraufhin erste Schritte an, „um die detaillierte Planung der Strecke in Auftrag geben zu können“. B-Strecke Die B-Strecke besteht aus drei unterschiedlichen Streckenabschnitten. Die unterirdische Stammstrecke verläuft vom Hauptbahnhof unter dem Bahnhofsviertel und der Altstadt zur Konstablerwache. Ihr Bau begann 1966, ihre Inbetriebnahme erfolgte in zwei Abschnitten 1974 (Theaterplatz–Konstablerwache) und 1978 (Hauptbahnhof–Theaterplatz). Nördlich der Konstablerwache verzweigt sich die Strecke in zwei Äste mit sehr unterschiedlichem Ausbaustandard. Der ältere, seit 1974 von der Linie U5 (bis 1978: B1) genutzte Zweig, wird in der Eschenheimer Anlage über eine Rampe an die Oberfläche geführt und verläuft vom Scheffeleck aus über Eckenheimer Landstraße und Marbachweg zur Gießener Straße. Zwischen Scheffeleck und der Einmündung des Oeder Weg verläuft die Strecke auf etwa 1200 Metern Länge straßenbündig, weiter nördlich mit Ausnahme eines Abschnittes um die ehemalige Station Neuer jüdischer Friedhof auf einem besonderen Bahnkörper. 1974 bis 2003 gab es auf diesem Streckenabschnitt auch Parallelverkehr mit verschiedenen Straßenbahnlinien. An der Glauburgstraße zweigt noch heute eine Betriebsstrecke zum Streckennetz der Straßenbahn Frankfurt am Main ab, am Marbachweg eine Betriebsstrecke zur A-Strecke sowie zur Wagenhalle Eckenheim. 1978 wurde die Strecke entlang der Gießener Straße nach Preungesheim verlängert. Eine weitere Verlängerung zur S-Bahn-Station Frankfurter Berg ist geplant. Die Planung wurde zuletzt 2012 von der Stadtverordnetenversammlung bestätigt, jedoch ohne konkrete Terminvorgaben. Der zweite Streckenast von der Konstablerwache unter der Berger Straße mit den Stationen Merianplatz, Höhenstraße und Bornheim Mitte, auf dem seit 1980 die Linie U4 verkehrt, war dagegen von Anfang an eine echte U-Bahn. Sie endete bis 2008 am U-Bahnhof Seckbacher Landstraße. 2008 wurde sie unter Nutzung bestehender Betriebsgleise des Betriebshofes Ost über zwei Kilometer zur Station Schäfflestraße auf der C-Strecke verlängert. Ein Teil der Züge fährt seitdem weiter im Parallelverkehr mit der U7 bis nach Enkheim. Von 1980 bis 1998 endete die U5 von Norden kommend im Bahnhof Konstablerwache, weil die nur 2,35 Meter breiten Stadtbahnfahrzeuge des Typs Pt nicht zusammen mit den 2,65 Meter breiten U3-Triebwagen auf der Tunnelstrecke einsetzbar waren. Mit dem Umbau der Wagen des Typs Pt zum Ptb wurde die Lücke zwischen den Fahrzeugen in Straßenbahnbreite und den Bahnsteigen der U-Bahnhöfe durch Vorbauten im Türbereich ausgeglichen. Seitdem können die Züge der Linie U5 wieder die Tunnelstrecke unter der Altstadt gemeinsam mit der U4 benutzen. Die 2001 in Betrieb gegangene westliche Streckenverlängerung vom Hauptbahnhof zur Bockenheimer Warte ist zurzeit Frankfurts jüngster U-Bahn-Tunnel. Durch ihn wird insbesondere die Messe Frankfurt erschlossen. Planerisch gehört der Abschnitt jedoch als Baulos D I zur D-Strecke. Von Sommer 2013 bis Oktober 2016 erhielten die oberirdischen Stationen der U5 schrittweise 800 mm hohe Bahnsteige. Mit Abschluss der Bauarbeiten an der Station Musterschule am 9. Oktober wurde die Linie U5 als letzte auf die breiteren U5-Triebwagen umgestellt. Die bisher eingesetzten Wagen des Typs Ptb wurden daraufhin abgestellt und größtenteils ausgemustert. Am westlichen Ende wird die U5 bis 2025 in das Europaviertel verlängert. Der Erörterungstermin im Planfeststellungsverfahren fand im Dezember 2014 statt, der Planfeststellungsbeschluss erging im Juni 2016. Geplant ist die unterirdische Führung vom Hauptbahnhof unter dem alten Polizeipräsidium und der nachfolgenden Blockbebauung hindurch zur neuen Station Güterplatz bis zur Warschauer Straße und von dort über eine Rampe oberirdisch in der Mitte der Europaallee zu den Stationen Emser Brücke, Europagarten, einem Gemeinschaftstunnel mit dem Straßenverkehr unter dem Europagarten hin zur Endstation Wohnpark am Rebstock. C-Strecke Die C-Strecke ist eine wichtige Ost-West-Achse im Frankfurter Stadtverkehr. Sie besitzt in den dicht bebauten, innerstädtisch geprägten Stadtteilen zwölf unterirdische Bahnhöfe, darunter die beiden gemeinsam mit der im City-Tunnel verkehrenden S-Bahn genutzten viergleisigen Stationen Hauptwache und Konstablerwache. An die Tunnelstrecke schließen sich im Westen zwei und im Osten eine weitere ebenerdige U-Bahn-Strecke an. In Praunheim und Hausen beginnen die westlichen Streckenäste. Sie folgen alten Straßenbahntrassen bis zur Tunnel-Rampe am Industriehof. Die Stationen wurden zunächst nur teilweise nach Stadtbahnmaßstäben umgebaut. Mit der Eröffnung der C-Strecke bis Zoo am 11. Oktober 1986 sollte ursprünglich das Konzept einer schienenfreien Innenstadt verwirklicht werden. Die U-Bahn nach Hausen ersetzte die damaligen Straßenbahnlinien 18 und 21, die zuvor über die heutige Endhaltestelle hinaus die komplette Praunheimer Landstraße bis zur Niddabrücke befahren hatte. Am anderen Streckenende hinter der Station Heerstraße kreuzen die Gleise diese einstige römische Heeresstraße (Elisabethenstraße). Anschließend führen sie teils parallel zur Heerstraße bis zur Stadtbahnzentralwerkstatt. Ab der Station Industriehof vereinigen sich die beiden Streckenäste und führen in den Tunnel durch Bockenheim bis zur Bockenheimer Warte, wo auf die von der Linie U4 bediente D-Strecke umgestiegen werden kann. Das Westend wird im Verlauf der Bockenheimer Landstraße unterquert und an der Alten Oper die Frankfurter City erreicht. In einem gemeinsamen mit der S-Bahn genutzten viergleisigen Tunnel werden die unter der Zeil liegenden Verkehrsknoten Hauptwache und Konstablerwache angefahren. Am Bahnhof Konstablerwache halten S- und U-Bahn-Züge am selben Bahnsteig. Diese Situation gibt es in Deutschland nur noch in Köln-Chorweiler, am Berliner U-Bahnhof Wuhletal und am Münchener U-Bahnhof Neuperlach Süd. Im dreigleisigen Bahnhof Zoo teilt sich der C-Tunnel in zwei Äste. Der südliche endet eine Station weiter am Ostbahnhof, der nördliche führt durch das Ostend und Bornheim zur Eissporthalle. An das dortige Tunnelende schließt sich eine Stadtbahnstrecke an, die den Straßen Am Erlenbruch und Borsigallee folgt und nach sechs oberirdischen Stationen in Enkheim endet. Der Bau der C-Strecke erfolgte in bergmännischem Vortrieb und nahm damit weit mehr Rücksicht auf das bestehende Stadtgefüge als die früheren Bauarbeiten. Das Herzstück der C-Strecke, der Zeiltunnel, war bereits beim Bau des City-Tunnels der S-Bahn mit errichtet worden. An diesen schloss sich im Osten nur noch ein kurzes Stück bis zum vorläufigen Endbahnhof Zoo an. Im Westen folgte der Tunnel derselben Strecke wie die allererste (1872) Pferdebahnstrecke der Stadt. Bei der Architektur der U-Bahnhöfe wurde in weit größerem Maße als zuvor auf eine attraktive Gestaltung Wert gelegt. Die Verlängerung der C-Strecke durch das Ostend nach Enkheim wurde 1992 nach siebenjähriger Bauzeit eröffnet und wird seitdem von der Linie U7 befahren. Die oberirdische Strecke ist ebenfalls eine umgebaute Straßenbahnstrecke. Die bisher letzte Erweiterung der C-Strecke war die Verlängerung der Linie U6 um eine Station vom Zoo zum Ostbahnhof, die im Jahr 1999 in Betrieb ging. Als zweiter von mittlerweile drei Untergrundstationen in Frankfurt erhielt dieser Bahnhof ein Glasdach und direkten Tageslichteinfall. Die über 20 Jahre alte Strecke ist noch nicht sanierungsbedürftig. Die einzige größere Aufwertungsmaßnahme auf der C-Strecke war 2004 der Umbau der oberirdischen Anschlussstrecke der Linie U6. Die Stationen wurden mit Hochbahnsteigen ausgestattet. Eine Ausnahme ist die Station Fischstein, die bis Dezember 2010 in Richtung Industriehof verlegt wurde und als letzte Station der C-Strecke Hochbahnsteige bekam. Im Sommer 2012 wurden die Bahnsteighöhe in den Stationen der C-Strecke von 87 auf 80 cm abgesenkt, im Allgemeinen durch Aufschotterung im Bahnsteigbereich. Anschließend begann die schrittweise Umstellung zunächst der U6 und danach der U7 auf die neuen U5-Triebwagen. Im Gegenzug wurden die alten Triebwagen der Bauarten Ptb, U2h und U2e ausgemustert. Die Umstellung war im Sommer 2014 abgeschlossen. Derzeit gibt es Planungen, die Streckenäste jeweils an ihren Enden nach Osten und Westen zu erweitern. Die größte Erweiterung, die Verlängerung der U6 nach Fechenheim und möglicherweise weiter bis Hanau, steht in Konkurrenz zum Bau der nordmainischen S-Bahn-Strecke. Der Bau aller genannten Strecken ist unwahrscheinlich und wird zum Teil nicht weiterverfolgt. Nach dem Beschluss der Römer-Koalition vom 9. Juni 2017 zum Bau eines neuen Stadtteils entlang der Autobahn A5 zwischen Praunheim und Niederursel sowie Steinbach im Westen, gibt es Überlegungen, die U-Bahn-Linie U7 über die jetzige Endstation Heerstraße hinaus in Richtung Steinbach zu verlängern. D-Strecke Von der D-Strecke existieren bisher nur zwei kurze, nicht miteinander verbundene Teilstrecken. Der Abschnitt zwischen Hauptbahnhof und Bockenheimer Warte (D I) wird vorerst von der Linie U4 befahren, die Riedbergspange (D IV) von den Linien U8 und U9. Oft werden diese Abschnitte jeweils zur A- bzw. B-Strecke hinzugezählt, mit denen sie betrieblich eine Einheit bilden. Dies gilt auch für die Strecke zwischen Ginnheim und Niederursel, die bereits zwischen 1968 und 1978 schrittweise als Teil der A-Strecke (Anschlussstrecke A1) in Betrieb ging. Der geplante Tunnelbau zwischen Ginnheim und Bockenheimer Warte (DII-Strecke) wurde 2006 nach der Kommunalwahl aufgegeben. 2010 schlugen Frankfurter Bürger eine alternative, zum Teil oberirdisch verlaufende Streckenführung vor, die unter anderem auch die Platensiedlung, den Campus Westend der Universität Frankfurt sowie die Bundesbank bedienen würde. Diese unter dem Namen Ginnheimer Kurve bekannte Planung wurde seit 2011 im Auftrag des Magistrats auf Realisierbarkeit geprüft. Nach einem im Juli 2015 vorgelegten Magistratsbericht betragen die Baukosten für die Ginnheimer Kurve maximal 194 Millionen Euro. Alternativ soll eine kürzere Trassenvariante über den Europaturm und die Rosa-Luxemburg-Straße mit einem Investitionsvolumen von maximal 174 Millionen Euro geplant werden. Ende 2015 beschloss das Frankfurter Stadtparlament, den Lückenschluss grundsätzlich durchzuführen, ohne sich jedoch auf eine der beiden Varianten festzulegen. Allerdings soll der Baubeginn für das Projekt erst in einigen Jahren stattfinden. Mit dem seit den 1970er Jahren geplanten Bau der zweiten Mainunterquerung (D III) zwischen Hauptbahnhof und Niederrad ist in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Im aktuellen Maßnahmenplan Schiene ist das Bauprojekt nicht enthalten. Infrastruktur und Betrieb Tunnelbau Beim Bau der U-Bahn Frankfurt kamen im Laufe der Zeit unterschiedliche Verfahren zum Einsatz. Der Tunnelabschnitt zwischen Dornbusch und Theaterplatz (heute Willy-Brandt-Platz) wurden 1963 bis 1966 noch vollständig in offener Bauweise erstellt. Dafür wurde eine entsprechend tiefe Baugrube ausgehoben und mit Hilfe zahlreicher in den Boden eingerammter Stahlträger und Bohlwände gesichert (Berliner Verbau). Der Bau der Altstadtstrecke 1966 bis 1971 konnte nur im nördlichen Streckenabschnitt zwischen Friedberger Anlage und Kurt-Schumacher-Straße in offener Bauweise erfolgen. Unter der Altstadt verläuft der Tunnel nicht entlang von Straßenzügen, daher kam hier erstmals in Frankfurt die bergmännische Bauweise zum Einsatz. Das erste Baulos wurde im Schildvortrieb erstellt, mit Anfahrschächten am Dom und am Börneplatz, das westliche Baulos zwischen Römerberg und Weißfrauenstraße in der Neuen Österreichischen Tunnelbauweise (NÖT). Diese wurde später wegen der geringeren Lärm- und Verkehrsbelastung während der Bauzeit zum Standard, lediglich die Bahnhöfe wurden weiterhin nach Möglichkeit in offener Bauweise errichtet. Eine Lösung für den Tunnelbau in schmalen Straßen sind die Strecken in der Berger Straße (Haltestellen Merianplatz, Höhenstraße und Bornheim Mitte) sowie die Haltestelle in der gleichnamigen Leipziger Straße, die zwei eingleisige Strecken- bzw. Bahnsteigtunnel übereinander besitzen. Beim Bau der Mainunterquerung Anfang der 1980er Jahre waren aufwendige Maßnahmen zur Grundwassersicherung erforderlich, darunter Injektionen und Vereisung. Betriebshöfe Ein Großteil der Fahrzeuge ist in zwei großen Betriebshöfen stationiert: Der Betriebshof Heddernheim, nördlich der gleichnamigen Station, beherbergt die Fahrzeuge der A-Linien (U1 bis U3, U8, U9). Der Betriebshof liegt unmittelbar an der A-Strecke im Anschluss an den Bahnhof Heddernheim. Der Betriebshof besteht bereits seit 1910, diente immer der Frankfurter Straßenbahn und wurde mit Betriebsaufnahme der ersten U-Bahn-Linie 1968 deren Betriebshof. Er wurde zwischenzeitlich auf das ehemalige Betriebsgelände der Firma Dünges & Schüssler erweitert und befindet sich nun beidseitig der Gleisanlagen. Der Betriebshof Ost in Seckbach wurde 2003 eröffnet und ist seitdem die Heimat der Fahrzeuge der B- und C-Linien (U4 bis U7) und einem Teil der Straßenbahnlinien 11, 12 und 18. Der Betriebshof besitzt Gleisverbindungen zu den Bahnhöfen Seckbacher Landstraße (B-Strecke) und Johanna-Tesch-Platz bzw. Schäfflestraße (C-Strecke). Die Eröffnung des Betriebshofs Ost war ein wichtiger Schritt zur Trennung von Stadt- und Straßenbahnnetz. Zuvor mussten die Züge der B- und C-Linien nach Betriebsschluss, teilweise auch mitten in der Hauptverkehrszeit, über Straßenbahngleise quer durch die Stadt zu ihren (Straßenbahn-)Betriebshöfen Gutleut und Eckenheim fahren; ein betrieblich unbefriedigender Zustand, der nun weitgehend beendet ist. Stadt- und Straßenbahn nutzen, neben den Werkstätten der Betriebshöfe, gemeinsam die Stadtbahn-Zentralwerkstatt (STZW) für größere Arbeiten an den Fahrzeugen. Sie befindet sich im Stadtteil Rödelheim an der Heerstraße, nach der gleichnamigen Endstation der Linie U7 an einem Abzweig der C-Strecke. Sie kann aber, teils über Betriebsstrecken, auch von der A- und der B-Strecke aus angefahren werden. Abstellanlagen Aus Kapazitätsmangel der Betriebshöfe werden weiterhin die folgenden überwachten Abstellanlagen benutzt: In Oberursel-Bommersheim besteht die Wagenhalle Bommersheim mit Außengleisen, die von der ehemaligen Frankfurter Lokalbahn stammt. Sie liegt zwischen den Stationen Bommersheim und Oberursel Bahnhof. Hier werden die meisten Fahrzeuge der Linie U3 abgestellt (zehn Zweiwagenzüge). Die Abstellanlage Römerstadt liegt zwischen den Stationen Römerstadt und Niddapark. Hier stehen drei Dreiwagenzüge der Linie U1. Der ehemalige Betriebshof Eckenheim in der Nähe der Stationen Eckenheimer Landstraße/Marbachweg und Marbachweg/Sozialzentrum wird nach wie vor für sechs Zweiwagenzüge der Linie U5 benutzt. Am U-Bahnhof Eschenheimer Tor übernachtet ein Zug der Linie U2 auf einem nördlich der Station gelegenen Wendegleis. In der Wendeanlage des U-Bahnhofes Bockenheimer Warte stehen jeweils zwei Züge der Linien U6 und U7. Die Wendeanlage der Station Seckbacher Landstraße wird zum Abstellen von zwei Zügen der Linie U4 genutzt. Weitere Abstellanlagen befinden sich bei einzelnen Bahnhöfen, die auch regelmäßig Endhaltestellen sind: Südbahnhof und Zoo (unterirdisch) sowie Oberursel Bahnhof. Einzig am Südbahnhof werden in den Wintermonaten (als Ersatz für die im Winter nicht genutzte Abstellanlage Römerstadt) Züge abgestellt. An allen anderen zuletzt genannten Abstellanlagen werden derzeit planmäßig keine Züge mehr über Nacht abgestellt. Betriebsleitstelle Seit 1979 wird der Betrieb der U-Bahn Frankfurt, ebenso wie der Straßenbahn Frankfurt am Main und der Busverkehr, von einer zentralen Betriebsleitstelle aus gesteuert. Seit 1987 kommt dabei ein Rechnergestütztes Betriebsleitsystem zum Einsatz. Bis März 2018 hatte die Betriebsleitstelle ihren Sitz in der Elefantengasse in der nordöstlichen Innenstadt. 2015 begann ein Projekt zum Neubau der Leitstelle in einer benachbarten Liegenschaft. Dabei wurde ein neues Leitsystem installiert und in die neue Betriebsleitstelle auch die Sicherheits- und Service-Zentrale und die Betriebsüberwachung integriert. Im März 2018 nahm die neue Leitstelle ihren Betrieb auf. U-Bahnhöfe Die Architektur der Frankfurter U-Bahnhöfe kann in drei Bauphasen eingeteilt werden: 1960er und 1970er Jahre Der ersten Phase gehören fast alle Bahnhöfe im Stadtzentrum an. Stadtrat Walter Möller erließ 1962 die Planungsaufträge für den Modellbahnhof Eschenheimer Tor (A). Als Vorgabe war klar gegeben, dass sich die Frankfurter Bahnhöfe stark von denen der U-Bahnen in Hamburg oder Berlin unterscheiden sollen. Von den sechs eingeladenen Architekturbüros nahmen vier am Auftrag teil, die Entwürfe wurden jeweils mit 5000 DM honoriert. Anfang 1963 kam man zu dem Entschluss, dass der Entwurf der Architekten Wolfgang Bader und Artur C. Walter die Frankfurter U-Bahn am besten repräsentiere. Die ersten Stationen zeichnen sich durch emaillierte Stahlplatten in Vorwandkonstruktion aus, die zeitlos und einfach zu verarbeiten waren. Zudem dienten sie als Träger des Orientierungssystems, das im Auftrag von Bader und Walter die Grafikdesigner Hans Michel und Wolfgang Schmidt entwickelten. Ein ebenfalls von den Architekten beauftragter Entwurf der Bildhauerin Ingrid Hagner, die Emailplatten zusätzlich mit abstrahierten Halbfiguren zu versehen, blieb unrealisiert. Jede Station bekam eine eigene Kennfarbe: Fast alle Tunnelstationen der A-Strecke sind für Vierwagenzüge neuester Bauart ausgelegt. Nur die zuerst fertiggestellte Station Miquel-/Adickesallee war noch für die kürzeren U1-Wagen geplant worden. Zwar passen vier Wagen des geringfügig längeren Typs U2 an den Bahnsteig, nicht jedoch vier Wagen der längeren Typen U4 und U5, bei denen die letzte Tür des Zuges im Tunnel zum Stehen kommt. Auf eine Verlängerung des Bahnsteigs hat man aus Kostengründen verzichtet; stattdessen wird die betroffene Tür nicht freigegeben, wenn ein solcher Zug die Station Miquel-/Adickesallee anfährt. Die Fahrgäste werden mit Ansagen und durch Hinweisschilder über die Besonderheit informiert. Die Stationen Grüneburgweg und Nordweststadt (heute Nordwestzentrum) wurden später umgebaut und verloren ihre Emailleplatten. Die blaue Wandverkleidung der Station Grüneburgweg wurde durch eine grüne Wandverkleidung aus keramischen Fliesen ersetzt. Auch die Linien bekamen ihre Kennfarbe: Die Länge der Striche über dem Stationsnamen gibt dem Fahrgast Aufschluss, wo sich der nächste Ausgang befindet. Umsteigebahnhöfe wie Hauptwache hatten rote Stützpfeiler, die restlichen Stationen graue. Dieses Farbkonzept wurde jedoch nur bei der ersten Ausbaustufe der A-Strecke angewendet. Schon bei der Station Theaterplatz hat man sich davon gelöst. Die Stationen der B-Strecke erhielten Waschbeton-Platten. Die Decken sind niedrig, die Bahnsteige schmal, die Wegeführung oft unübersichtlich und stark verästelt. Die aufwändig gestaltete Station Dom/Römer hat erst durch einen behutsamen späteren Umbau ihre heutige Gestalt erhalten. Als Reminiszenz an die ehemalige Altstadt wurden nachträglich Spolien zerstörter Gebäude integriert. Zur ersten Bauphase gehören: Theaterplatz (heute: Willy-Brandt-Platz) (A, B), Hauptwache (A, C, S), Eschenheimer Tor, Holzhausenstraße, Miquel-/Adickesallee, Hauptbahnhof (B, S), Dom/Römer und Konstablerwache (B, C, S) (außerdem auch Taunusanlage, Flughafen und Schwalbach auf der S-Bahn). 1980er Jahre Beim Bau der C-Strecke wurde mehr Wert auf die Architektur der Stationen gelegt als bei den früheren Strecken. Die Gestaltung sollte auf die Umgebung der Stationen Bezug nehmen. Das Ergebnis ist oft farbenprächtig, die gestalterische Qualität jedoch recht unterschiedlich. Die Stationen Alte Oper und Westend dürften zu den sehenswertesten gehören, wobei letztere mit ihrer schlichten Schönheit bereits auf die Ästhetik der dritten Bauphase um die Jahrtausendwende verweist. Verantwortlich für beide Stationen war die Architektengruppe um A.C. Walter. Im Westend erschuf man Pfeiler, die an Palmen erinnern sollen, während die Station Alte Oper eher an den Renaissancestil des Opernhauses angelehnt ist. Die blauen Säulen an den Wänden sollen an die Orgel der Alten Oper erinnern. Diese Station war die erste freitragende, also ohne Stützpfeiler gebaute, Untergrundstation im Frankfurter U-Bahn-Netz. Auf der zwei Jahre zuvor eröffneten Verlängerung der A-Strecke nach Sachsenhausen ist vor allem der komplett in bergmännischer Bauweise aus zwei Tunnelröhren mit entferntem Zwischenraum entstandene Bahnhof Schweizer Platz bemerkenswert. Die tief in der Erde gelegene gewölbeartige Station vermittelt mehr den Raumeindruck einer dreischiffigen romanischen Krypta, als den eines Verkehrsbauwerks. Nicht einmal die Heiligenstatue fehlt: hinter dem stadteinwärts führenden Gleis steht die Heilige Barbara, die Schutzpatronin der Bergleute und der Tunnelbauer. Hierfür war der Architekt Willy Orth verantwortlich, der auch die Station Kirchplatz auf der C-Strecke mit ihren sakralen Blendarkaden entwarf. Die 1992 eröffnete Verlängerung der C-Strecke zur Eissporthalle setzte weniger ungewöhnliche gestalterische Akzente als die der Bahnhöfe im Westend und Bockenheim, auch die 1990 in Betrieb genommene Untergrundstation Ostendstraße der S-Bahn besitzt wesentlich höhere gestalterische Eigenständigkeit. An der C-Strecke nach Osten wurden alle Bahnhöfe nach demselben Schema erschaffen, sie unterscheiden sich in erster Linie nur durch ihre Farbgebung und die Wandgestaltung. Ein weiteres Beispiel eigenständiger Gestaltung ist die Station Nordwestzentrum. Sie wurde 1989 mit Mitteln des anliegenden Einkaufszentrums komplett erneuert. Sie wurde mit Marmor verkleidet und erhielt ein Glasfenster von der B-Ebene auf den Bahnsteig. Zur zweiten Bauphase Frankfurter U-Bahnhöfe zählen Schweizer Platz, Südbahnhof, Kirchplatz, Leipziger Straße, Bockenheimer Warte (C), Westend, Alte Oper, Zoo, Habsburgerallee, Parlamentsplatz, Eissporthalle, die umgebauten Stationen Grüneburgweg und Nordwestzentrum, außerdem die unterirdischen S-Bahnhöfe Ostendstraße, Lokalbahnhof und Mühlberg. Seit 1995 Der U-Bahnhof Ostbahnhof (1999) besaß als erster direkten Tageslichteinfall auf den Bahnsteig und läutete somit eine dritte Phase der Frankfurter Untergrundbahnhöfe ein. Positive Kritiken erhielten vor allem die Stationen Messe/Festhalle und Bockenheimer Warte (D), die mit hohen Decken und grobem Sichtbeton gestaltet sind. An der Station Messe wurde das Lichtdesign so angepasst, dass die Messebesucher automatisch zum richtigen Ausgang geleitet werden. Dieser erscheint nämlich heller und breiter als der in die andere Richtung führende Ausgang Hohenstaufenstraße. Der Ausgang ins Europaviertel ist noch verschlossen und im Rohbau belassen. Sobald das Gebiet bebaut wird, wird dieser Ausgang geöffnet. In der Station Bockenheimer Warte sollte eigentlich, wie im bereits 1986 eröffneten Teil der Station, über dem Bahnsteig ein Magazin für die Universitätsbibliothek entstehen. Da die Universität den Standort Bockenheim aufgeben will, wurden die Pläne fallengelassen und es entstand die hohe Bahnsteighalle. Zu dieser Architekturphase gehören: die genannten S-Bahnhöfe Kaiserlei, Ledermuseum und Offenbach Marktplatz sowie die U-Bahnhöfe Ostbahnhof, Messe/Festhalle und Bockenheimer Warte (D). Seit den 1990er Jahren werden bei Bau von Frankfurter Untergrundstationen Glasdächer eingebaut, die Tageslicht auf den Bahnsteig fallen lassen, zu finden auf den Bahnhöfen Messe/Festhalle (B/D), Ostbahnhof (C) und Offenbach-Kaiserlei (S-Bahn). Fahrzeuge Allgemeines Für den U-Bahn-Betrieb kamen bisher fünf verschiedene sechsachsige Fahrzeugtypen zum Einsatz, von denen zwei noch heute in Verwendung sind. Die Baureihen werden mit dem Buchstaben U und einer fortlaufenden Ziffer bezeichnet. Seit der Umstellung der Linienbezeichnungen von A/B/C auf U (1978) besteht Verwechslungsgefahr zwischen den Linienbezeichnungen (U1 bis U9) und den Fahrzeugbaureihen (U1 bis U5). Ergänzt wurde der Fahrzeugpark von 1968 bis 1978 durch die Baureihe Mt, für den Tunnelbetrieb mit Klapptrittstufen und Verbreiterungen ausgerüsteten sechsachsigen Straßenbahntriebwagen mit passenden vierachsigen Beiwagen und von 1974 bis 2016 durch die Baureihe Ptb (ehemals Pt), achtachsigen tunnelgängigen Straßenbahnwagen mit Klapptrittstufen und später eingebauten Verbreiterungen im Einstiegsbereich. Die Fahrspannung beträgt 600–800 Volt Gleichstrom, die Stromzuführung erfolgt über Oberleitung. Die U-Bahn-Fahrzeuge sind 2,65 Meter breit, die Straßenbahnwagen 2,35 Meter. Die aktuell eingesetzten Fahrzeuge sind alle entweder mit zwei Führerständen ausgerüstet (Zweirichtungswagen) oder verkehren nur in gekuppelten Einheiten mit zwei Führerständen (Typ U5-50). Sie sind – abgesehen von den Bauarten U4 und U5 – jeweils nur mit dem gleichen Wagentyp kuppelbar. Die U-Bahn-Fahrzeuge verkehren im Linienbetrieb in Zügen bestehend aus maximal vier Triebwagen. Auf den Linien U3, U8 und U5 sind aufgrund von begrenzten Bahnsteiglängen lediglich Verbände aus bis zu drei Triebwagen möglich. Die aus ehemaligen Straßenbahnfahrzeugen bestehenden Züge verkehrten mit maximal drei Triebwagen (Typ Ptb) oder einem Trieb- und einem Beiwagen (Typ Mt/mt). Die Fahrzeuge werden mit automatischen Scharfenbergkupplungen verbunden. Während des laufenden täglichen Betriebes können daher Züge bedarfsgerecht gekürzt bzw. verlängert werden. Das An- bzw. Abhängen von Wagen durch einen Rangierfahrer dauert etwa 90 Sekunden. Die Fahrgäste können in dieser Zeit (mit Ausnahme in den abzuhängenden Wagen) im Zug verbleiben. Stadtbahnfahrzeuge U6/U1-Wagen Von diesem von DÜWAG entwickelten und hergestellten sechsachsigen Prototyp (erstmals auf der Internationalen Verkehrsausstellung 1965 in München präsentiert und im Mai 1966 nach Frankfurt gebracht) wurden nur zwei Fahrzeuge gebaut, die weitgehend auf den bisher gelieferten Straßenbahnwagen basierten. Neu waren die elektronische Steuerung des Typs Simatic mit der Möglichkeit, mehrere Triebwagen zu Zugverbänden kuppeln zu können, und der Wagenkasten mit nur einer Stufe an den Eingängen bei einer Fußbodenhöhe von 930 mm. Dies ermöglichte den Einstieg von Bahnsteigen mit 320 bis 560 mm Höhe ohne Klapptrittstufen. Eine Serienfertigung der beiden zunächst als U6, dann als U1 bezeichneten Wagen unterblieb jedoch. Sie wurden hauptsächlich für Fahrschul- und Probefahrten verwendet und verkehrten nur wenige Jahre im Linienbetrieb. Sie wurden bereits 1976 abgestellt, da sie nicht mit anderen U-Bahn-Wagen kuppel- und vielfachsteuerbar waren. Ein Exemplar blieb erhalten, es ist seit 1986 im Verkehrsmuseum in Frankfurt-Schwanheim zu besichtigen. Mit den U6-Wagen wurden auch diverse Farbgebungen ausprobiert. Sie waren zu Anfang Elfenbein mit Grau als Akzentfarbe lackiert, entsprechend den damals üblichen Straßenbahnfarben. Blau-Hellblau wurde verworfen, weil es den in München bereits im Bau befindlichen Wagen zu ähnlich sah. Eine vollständig rote Versuchslackierung (nur bis 1968) wurde ebenfalls zugunsten der Frankfurter Stadtfarben Rot und Weiß (die später für die U2-Wagen übernommen wurden) verworfen. Technische Daten: U2-Wagen Die mit den beiden Prototypen gemachten Erfahrungen hatten eine Vielzahl an Änderungen zur Folge. Die U2-Serienfahrzeuge wurden von 1968 bis 1978 in drei Baulosen mit insgesamt 97 Fahrzeugen von DÜWAG gebaut. Fünf Fahrzeuge wurden 1980 bei einem Großbrand auf dem Gelände des Betriebshofes Heddernheim zerstört. Als Ersatz wurden in den Jahren 1984 und 1985 nochmals sieben gleichartige Nachbauten beschafft. Alle Fahrzeuge besaßen bei einer Fußbodenhöhe von 97 cm eine feste Trittstufe auf etwa 68 cm Höhe. Damit waren sie ausschließlich für den Einsatz auf der A-Strecke mit Bahnsteighöhen von 32 bzw. 56 cm geeignet. Im Zuge des Umbaus der A-Strecke auf eine Bahnsteighöhe von 80 cm wurde ein Teil der Fahrzeuge zum Typ U2h mit einer Einstiegshöhe von 87 cm umgebaut. Bei dieser Unterbauart verblieb im Türbereich eine feste Stufe, dafür konnte sie weiterhin an 56 cm hohen Bahnsteigen eingesetzt werden. Ab 2009 wurden diese Züge ausgemustert und durch die neuen U5-Fahrzeuge ersetzt. Der Einsatz der Unterbauart U2h endete Anfang 2013. Die beiden U2h-Triebwagen 303 und 304 erhielten 2011 ihre ursprüngliche rot-weiße Farblackierung und werden als Museumswagen erhalten bleiben. Auch der U2h-Triebwagen 305 bleibt als Museumswagen erhalten und erhielt 2015 die rot-weiße Farblackierung. Mit dem Einsatz der U4-Triebwagen ab 1994 wurden freiwerdende U2-Wagen für den Einsatz auf den Linien U4 und U7 umgebaut. Bei ihnen wurde die Trittstufe im Eingang ganz beseitigt, da auf der B- und C-Strecke die Bahnsteighöhe 87 cm betrug. Die als U2e bezeichnete Unterbauart erhielt zudem größere Fahrerkabinen und jeweils eine barrierefreie Tür pro Wagenseite. Anfang 2015 verkehrte der Typ U2e noch planmäßig auf der Linie U4 und vereinzelt auf der U7. Seit Sommer 2015 verkehren planmäßig keine U2e-Wagen mehr. Wegen einzelnen technischen Defekten an den U5-Wagen wurden drei U2e-Wagen reaktiviert und fuhren vereinzelt auf der Linie U7, auch die Museumsfahrzeuge 303–305 wurden eingesetzt. Am 3. April 2016 wurden die U2-Triebwagen nach 48 Einsatzjahren mit einer Sonderfahrt verabschiedet. Technische Daten: U3-Wagen Zur Eröffnung der Linie U4 nach Bornheim im Jahr 1980 lieferte der Hersteller DÜWAG 27 neue Fahrzeuge des Typs U3, die bis 2015 ausschließlich auf dieser Linie fuhren. Die Wagen erhielten die Nummern 451 bis 477. Eine zweite, wesentlich größere Serie sollte 1986 für den Betrieb auf der C-Strecke bestellt werden. Aus Kostengründen wurde dieser Plan jedoch fallen gelassen und auf der C-Strecke die reichlich vorhandenen Fahrzeuge vom Typ Pt eingesetzt. Die Fahrzeuge waren für den ausschließlich unterirdischen Betrieb ausgelegt und in leichterer Bauweise als die Vorgängerbauart U2 konstruiert, die durch den Betrieb auf oberirdischen Stadtbahnstrecken ein weit höheres Risiko von Unfällen mit Kraftfahrzeugen trug. Im Gegensatz zu den Typen U2 und P, die Fahrzeugfronten aus glasfaserverstärktem Kunststoff aufweisen, bestanden die Wagenkästen des Typs U3 vollständig aus Stahl. Die Fahrzeuge hatten eine Einstiegshöhe/Fußbodenhöhe von 97 cm und waren somit für 87 cm hohe Bahnsteige ausgelegt, was ihre Einsatzmöglichkeit auf die B- und C-Strecke beschränkte. Sie besaßen schon seit Auslieferung einen komplett ebenen Innenraum. Hierdurch konnten die Türen im Gegensatz zum Typ U2 gleichmäßiger auf die Fahrzeuglänge verteilt werden. Es gab keine Trittkästen mehr, die bei der Platzierung der Einstiegstüren eine Rücksicht auf die Drehgestelle notwendig machen. Die Fahrzeuge wurden ab Mitte der 1990er Jahre nach und nach in die Farbe Subaru-vista-blue umlackiert und ihre Sitzbezüge wurden ausgetauscht. Wie bei den Fahrzeugen des Typs U2e wurde in jedem Wagen an einem Türpaar die Mittelstange entfernt, um einen barrierefreien Einstieg zu schaffen. In den 1990er Jahren wurden in den nächtlichen Betriebspausen mit zwei eigens umgebauten Wagen dieses Typs (Nr. 476 und 477) auf der B-Strecke erfolgreich Testfahrten für führerloses Fahren durchgeführt. In den tatsächlichen Einsatz mit Fahrgästen kam das System aber nie. Die Fahrzeuge wurden nach Beendigung der Versuche wieder zurückgebaut. Die Fahrzeuge waren wie die komplette B-Strecke technisch für eine Stromzuführung über seitliche Stromschienen vorbereitet. Es gibt jedoch keine Planungen, den derzeitigen Oberleitungsbetrieb aufzugeben. 2015 wurden die Fahrzeuge im Rahmen des barrierefreien Ausbaus der Linien U4 und U5 und dem dadurch notwendigen Einsatz von Fahrzeugen vom Typ U5 von der Linie U4 auf die Linie U6 verlegt. 2017 endete der Betriebseinsatz der U3-Wagen. Die Fahrzeuge 451, 452 und 453 werden als zukünftige Museumsfahrzeuge in ihren Ursprungszustand zurückversetzt. Technische Daten: U4-Wagen Die Baureihe U4 ist eine Weiterentwicklung des Typs U3, technisch und optisch aber vor allem mit den Straßenbahnwagen des Typs R verwandt. Die 39 Fahrzeuge wurden als bislang letzte Baureihe für Frankfurt von Siemens und DUEWAG entwickelt und 1994–1998 geliefert. Sie verkehren derzeit ausschließlich auf der A- und der D-Strecke, hauptsächlich auf den Linien U1, U2 und U9. Die Fahrzeuge sind für eine Bahnsteighöhe von 80 cm ausgelegt, besitzen einen ebenen Innenraum und gewähren an allen Türen einen barrierefreien Einstieg. Nach einem Unfall im Jahr 2007 wurden die Wagen 517 und 532 ausgemustert. Technische Daten: U5-Wagen Die Baureihe U5 ist der neueste Fahrzeugtyp. Sie wurde erstmals international ausgeschrieben und 2005 beim Hersteller Bombardier in Auftrag gegeben, der die Ausschreibung mit dem Modell Flexity Swift gewonnen hat. Zunächst wurden 146 Fahrzeuge bestellt. Die ersten wurden im Mai 2008 geliefert und seit September 2008 eingesetzt. Die Baureihe besteht wie ihre Vorgänger aus zweiteiligen, sechsachsigen Gelenktriebwagen. Die erste Bestellung umfasste neben 54 klassischen Zweirichtungsfahrzeugen erstmals in Frankfurt eine zweite Variante mit 92 unechten Zweirichtungswagen mit nur einem Führerstand sowie einen Wagenübergang am anderen Ende. So sollen im regulären Betrieb je zwei Halbzüge dieser Variante gemeinsam eine durchgehend begehbare Einheit doppelter Länge bilden (insgesamt 46 Doppeleinheiten). Diese beiden Varianten werden als U5-25 und U5-50 bezeichnet, der sich aus der Länge der Züge in Metern herleitet. Die Fahrzeuge sind mit der Baureihe U4 kuppelbar, um ein Höchstmaß an betrieblicher Flexibilität zu erreichen; die Zulassung dafür erfolgte im Juli 2014. Solche Gemischtverbände fahren seit Anfang 2015 vereinzelt auf den Linien U1 und U2. Während das äußere Erscheinungsbild dem U4-Wagen angepasst wurde, orientiert sich die Innengestaltung an den Straßenbahnwagen der Reihe S. Am 15. Dezember 2011 wurden weitere 78 Wagen, davon 40 U5-25 und 19 Doppelzüge U5-50, bestellt, die 2015 bis 2017 ausgeliefert werden. Im Einsatz befinden sich 96 Fahrzeuge vom Typ U5-25 und 130 vom Typ U5-50. Geplant war die Beschaffung von 22 Einheiten ohne Führerstand, die es ermöglichen, eine Einheit aus zwei U5-50 und einer oder zwei zusätzlichen Mitteleinheiten bilden zu können. Dadurch entsteht ein Zug, der auf einer Länge von 75 oder 100 Metern durchgängig begangen werden kann. Bei einer Überholung im Werk bei Bombardier in Bautzen wurden die Wagen 601 und 602 der Bauart U5-25 beim Hochwasser auf dem Werksgelände im Jahre 2010 beschädigt. Da sie fahruntauglich sind, stehen sie seit dem Ausbau der noch verwendbaren Einzelteile der Frankfurter Feuerwehr als Übungszug im Feuerwehr- und Rettungstrainingszentrum zur Verfügung, der Wagen 601 wurde im Jahr 2016 mit einer gasbetriebenen Brandsimulationsanlage ausgerüstet und steht seitdem zusammen mit dem Wagen 602 im FRTC. Technische Daten: Modifizierte Straßenbahnfahrzeuge Die zu Anfang erwähnte Ausbauplanung sah vor, neu errichtete Tunnel an bestehende Straßenbahnstrecken anzuschließen. Da diese aus Kostengründen meist nicht für den Einsatz von 2,65 m breiten Stadtbahnfahrzeugen umgebaut werden sollten, wurden anfangs einige Straßenbahnwagen für den Tunneleinsatz umgerüstet (Typ Mt und deren Beiwagen, Typ mt), später auch neue Stadtbahnwagen des Typs Pt angeschafft, die dank Klapptrittstufen sowohl im Straßenbahnnetz als auch auf den Tunnelstrecken verkehren konnten. In der VÖV-Statistik wurden diese sogar als U-Bahn-Wagen geführt. Tests mit zwei dreiteiligen N-Wagen (Wagen 801 und 802) verliefen nicht zufriedenstellend, sie kamen daher nicht im Mischbetrieb zum Einsatz. Mt/mt Die Linien A3 und A4 wurden bis 1978 mit sechsachsigen, zweiteiligen U-Straßenbahnwagen des Typs Mt (mit vierachsigen Beiwagen mt) betrieben. Die 26 aus Straßenbahnwagen des Typs M/m umgebauten Züge wurden mit Klapptrittstufen und Verbreiterungen auf der Türseite, sogenannten Blumenkästen, ausgestattet, um die Lücke zwischen den 2,35 Meter breiten Wagen und den für 2,65-Meter-Wagen ausgelegten Bahnsteigen zu schließen. Für diese Modifikation wurden die erste und die letzte Tür des M-Wagens einflügelig umgebaut, da es sonst Probleme im Lichtraumprofil und der Fahrzeugverjüngung gegeben hätte. Nach Beendigung des U-Straßenbahn-Betriebes auf der A-Strecke 1978 wurden alle Wagen wieder zu normalen Straßenbahnwagen zurückgebaut und bis zur Ausmusterung 1998 im Straßenbahnnetz eingesetzt. Pt/Ptb Die in drei Bauserien 1972 bis 1978 beschafften 100 P-Triebwagen waren von Anfang an sowohl für das U-Bahn-Netz als auch das Straßenbahnnetz vorgesehen. Ursprünglich waren nur 30 Fahrzeuge mit Klapptrittstufen für den Einsatz an Hochbahnsteigen ausgerüstet (Unterbauart Pt). Sie kamen ab 1974 auf der U5 (bis 1978: B1) zum Einsatz. 1986 und 1992 wurden die übrigen 70 Fahrzeuge zum Typ Pt umgebaut und auf den Linien U6 und U7 eingesetzt. Wegen der geringen Fahrzeugbreite von 2,35 Meter konnten die Fahrzeuge zunächst nicht im Mischbetrieb mit den 30 Zentimeter breiteren U-Bahnwagen der Typen U2 und U3 verkehren. Deshalb wurden 1998 59 Fahrzeuge zum Typ Ptb umgebaut, der im Bereich der Türen durch Blumenkästen verbreitert war. Die Pt-Wagen wurden 2007 ausgemustert und anschließend ins Ausland verkauft. Die verbreiterten Fahrzeuge des Typs Ptb waren auf der U5 bis 2016 im Einsatz, solange der Umbau auf Hochbahnsteige nicht abgeschlossen war. Fahrgastzahlen Literatur Weblinks Stadtwerke Verkehrsgesellschaft Frankfurt am Main mbH, Betreiber der U-Bahn Frankfurt traffiQ, Lokale Nahverkehrsgesellschaft der Stadt Frankfurt am Main: Pläne und Karten, Fahrpläne Trampage Frankfurt (private Webseite zu ÖPNV in Frankfurt) Hessenschaubericht zur Eröffnung der Frankfurter U-Bahn am 4. Oktober 1968 Fotos der Frankfurter U-Bahn auf public-transport.net (privat) Einzelnachweise Frankfurt am Main
434968
https://de.wikipedia.org/wiki/Chorda%20dorsalis
Chorda dorsalis
Die Chorda dorsalis („Rückensaite“; von lateinisch chorda „Saite“ und dorsum „Rücken“) oder auch Notochord, Achsenstab, selten Urwirbelsäule und häufig schlicht Chorda, ist das ursprüngliche innere Achsenskelett aller Chordatiere (Chordata) und für sie das namensgebende Merkmal. Die Chorda dorsalis ist ein langer, dünner und biegsamer Stab im Rückenbereich. Alle Chordatiere legen zumindest als Embryonen eine Chorda dorsalis an, die manchmal noch von einer bindegewebigen Chordascheide umhüllt ist. Zu den Chordata gehören drei heute noch lebende Tiergruppen: die Lanzettfischchen (Leptocardia), die Schädeltiere (Craniata) und die Manteltiere (Tunicata). Bei den Lanzettfischchen und einigen erwachsenen Schädeltieren durchzieht die Chorda dorsalis die gesamte Körperlänge zwischen Neuralrohr und Darmkanal. Bei den übrigen heutigen Schädeltieren bildet sie sich vollständig oder bis auf kleine Reste zurück, weil sie von der Wirbelsäule (und den Zwischenwirbelscheiben) ersetzt wird. Manteltiere (Tunicata) bilden hingegen nur im Ruderschwanz der Larve eine Rückensaite aus. Die Chorda dorsalis besitzt sowohl eine Skelett- als auch eine Entwicklungsfunktion. In ihrer Skelettfunktion dient sie als nachgiebiges Innenskelett, das die Körpergestalt streckt und stabilisiert, sowie als Ansatzstelle für Muskeln, die den Körper krümmen. Die Entwicklungsfunktion liegt im Wesentlichen darin, während der Embryonalentwicklung die Bildung bestimmter anderer Gewebe und Organe einzuleiten, unter anderem des Zentralnervensystems. Begriff Im Jahr 1828 veröffentlichte der deutsch-baltische Naturforscher Karl Ernst von Baer seine Beobachtungen zur Entwicklung von Hühnerembryonen. In den Embryonen war ihm eine Struktur aufgefallen, die sich während der Neuralleistenbildung rückenseitig des Darmkanals der Länge nach durch den Körper zog. Damit hielt der Begriff der Chorda dorsalis Einzug in das gerade entstehende Forschungsfeld der Entwicklungsbiologie. Während der nächsten 20 Jahre wurden außerdem mehrere rezente Chordatiere anatomisch untersucht, die ihre Chordae dorsales im Erwachsenenalter behielten. Schließlich erwähnte im Jahr 1847 der britische Paläontologe Richard Owen die Rückensaite erstmals auch bei einem Fossil, dem Plesiosaurus. Richard Owen hatte aber nicht nur den Begriff für die Paläontologie geöffnet, er hatte ihn ersetzt. Statt Chorda dorsalis bevorzugte er seinen eigenen Ausdruck Notochord. In den nächsten Jahrzehnten setzte sich Owens Wortschöpfung im englischen Sprachraum (und damit international) weitgehend durch. Heute beschränkt sich die Verwendung von Chorda dorsalis eher auf deutschsprachige Veröffentlichungen. Die Chorda dorsalis wurde 27 Jahre später von dem deutschen Zoologen Ernst Haeckel herangezogen, um die Gruppenbezeichnung „Chordathiere“ zu konstruieren. Damit lieferte er die Wortgrundlage des Begriffs Chordata (Rückensaitentiere), der im Jahr 1875 vom britischen Zoologen William Sweetland Dallas für eine Übersetzungsarbeit geprägt wurde. Allerdings wird der Begriff heute häufig und fälschlicherweise auf den britischen Genetiker William Bateson zurückgeführt. Aufbau Unter den heutigen Chordatieren existieren vier gewebliche Varianten der Chorda dorsalis. Die Variante, die bei fast allen Schädeltieren vorkommt, wird als ursprünglich angesehen. Demzufolge besaß der letzte gemeinsame Vorfahre aller Chordata eine Chorda dorsalis, wie sie die Schädeltiere heute noch aufbauen. Die anderen drei Varianten stellen dann Vereinfachungen oder Spezialisierungen dar, die in den jeweiligen Entwicklungslinien aus dem ursprünglichen Zustand eigenständig evolviert worden sind. In allen vier Varianten zeigt sich die Rückensaite immer als ein dorsal gelegenes, vorne und hinten zugespitzt endendes und stabförmiges Gebilde. Lanzettfischchen Die Chorda dorsalis reicht beim Lanzettfischchen von der Kopf- bis zur Schwanzspitze und besteht aus einem Stab von Epithelmuskelzellplatten. Das spezialisierte Muskelgewebe wird anfänglich mit Epithelzellen angelegt, die sich anschließend zu Muskelzellen mit quergestreiften Muskelfasern aus den Myofilamenten Paramyosin und Aktin umwandeln. Diese Epithelmuskelzellen zergliedern sich daraufhin weiter zu Epithelmuskelzellplatten. Die flachen Epithelmuskelzellplatten besitzen runde Querschnitte und liegen innerhalb der Chorda dorsalis geldrollenartig hintereinander. Nur wenige der Platten enthalten Zellkerne. Die Dichte der Muskelfasern kann sich zwischen benachbarten Platten stark unterscheiden, wobei dreißig bis vierzig Epithelmuskelzellplatten zusammengenommen die Breite von einem der sich außerhalb anschließenden Rumpfmuskulatur-Streifen (Myomere) haben. Die Platten werden voneinander durch schmale, Gel-gefüllte Interzellularräume getrennt. Die Kraftübertragung der Epithelmuskelzellplatten auf den Körper des Lanzettfischchens erfolgt durch Hemidesmosomen, die zwischen den Platten und der unmittelbar darüber liegenden, innersten Schicht der Chordascheide verlaufen. Im erschlafften Zustand besitzt die Rückensaite einen runden, im angespannten hingegen einen hochovalen Querschnitt. Die Muskelarbeit der Chorda dorsalis ermöglicht dem Lanzettfischchen schlängelndes Schwimmen und rückwärtiges Eingraben in lockeren Meeresgrund. Dem Chordagewebe liegen dorsal und ventral zwei schmale Streifen aus netzartig verzweigten Müller-Zellen auf. Den dorsalen Müller-Zellen und vor allem den Epithelmuskelzellplatten entwachsen kleine Zellfortsätze, die mit Zellplasma gefüllt sind (Plasmafortsätze). An der linken und rechten Ecke der dorsalen Seite der Chorda dorsalis wachsen sie gesammelt weiter und bilden das linke und das rechte Chordahörnchen. Dort passieren sie durch kleine Poren die dünne Chordascheide und erreichen schließlich das Neuralrohr. Am Neuralrohr gehen die Muskelzellfortsätze und Müller-Zellfortsätze synaptische Verbindungen mit den Nervenzellen ein. Jeder Plasmafortsatz bildet eine einzige Synapse. Die synaptische Verschaltung der Chordahörnchen ähnelt entfernt der Muskelinnervation der Spulwürmer (bsp. Ascaris). Deren Muskelzellen des Hautmuskelschlauchs bilden aber viel breitere Plasmafortsätze (Muskelarme), die sich zudem büschelartig endverzweigen und dann mehrere Synapsen mit verschiedenen Nervenzellen ausformen. Manteltiere Bei den Manteltieren kommt die Chorda dorsalis nur im Schwanz vor und besteht aus einem Rohr von Epithelzellen. Das Zellplasma der Epithelzellen ist reich an Glykogen und besitzt manchmal Dottereinschlüsse. Die Epithelzellen können flach bis würfelförmig erscheinen und sie umschließen einen Hohlraum, der mit einer glykoproteinreichen gallertartigen Masse ausgefüllt ist. Die auf den Ruderschwanz beschränkte Chorda dorsalis ist bei den meisten Arten ausschließlich in den stets freischwimmenden Larven vorhanden und dient der Fortbewegung. Nachdem sich die Larve am Meeresuntergrund festgesetzt hat, wird die Rückensaite vollständig abgebaut. Die geschwänzten Manteltiere (Copelata) behalten ihre Rückensaite auch im erwachsenen Zustand, denn sie bleiben ihr Leben lang freischwimmend. Ihre im rechten Winkel abgeknickte Chorda dorsalis dient zur Fortbewegung und zum Zufächeln von Nahrungsbestandteilen. Schädeltiere Die Chorda dorsalis der Schädeltiere reicht von der Mitte des Kopfes bis in die Schwanzspitze. Sie besteht aus chordoidem Gewebe, einer eigenen Form von Stützgewebe. Das chordoide Gewebe erweist sich als eine lange Reihung großer Epithelzellen ohne Zwischenzellsubstanz, die miteinander durch Desmosomen und Gap Junctions verbunden sind. Jede Zelle enthält viele Intermediärfilamente und jeweils (meistens nur) eine große Zellvakuole, prall gefüllt mit einer glykogenreichen Flüssigkeit. Die vakuolisierten Zellen erscheinen bläschenförmig, das Zellplasma ist mitsamt den abgeplatteten Zellkernen an die schmalen Ränder gedrängt. Das chordoide Gewebe wird zuerst als Reihe großer flacher Epithelzellen angelegt (Geldrollenstadium). Daraufhin befüllen sich die Vakuolen und der Zellinnendruck (Turgor) erhöht sich immens. Jede der turgeszenten Zellen weitet sich und die Chorda dorsalis wird insgesamt gestreckt. Der große hydrostatische Druck der turgeszenten Epithelzellen verleiht der Rückensaite ihre Steifheit bei gewisser Biegsamkeit. Sie bildet ein hydrostatisch bedingtes, federndes Achsenskelett. Sehr viele heutige Schädeltiere besitzen nur als Embryonen eine Rückensaite, die danach umfangreich oder gänzlich durch eine Wirbelsäule ersetzt wird. Rezente Hohlstachler (Actinistia): Die Chorda dorsalis der einzigen heutigen Gattung der Quastenflosser, Latimeria, reicht von der Mitte des Kopfes bis in die Schwanzspitze und bleibt auch im erwachsenen Tier vorhanden. Sie besteht aus einem Rohr von Epithelzellen, dessen freier Innenraum von einer öligen Flüssigkeit ausgefüllt wird. Mit einem Durchmesser zwischen 35 und 40 Millimetern besitzt Latimeria die breiteste Rückensaite aller rezenten Tiere. Adulte Chorda dorsalis Bei bestimmten Chordatieren persistiert die Chorda dorsalis bis in das Erwachsenenalter, sie bleibt also vorhanden. Eine solche adulte Chorda dorsalis übernimmt dauerhaft die mechanische Funktion des Achsenskeletts. Sie ist der biegsame Stützstab, der die Länge des Rumpfes aufrechterhält, und bietet den Widerpart für Rumpf- und Schwanzmuskulatur, wodurch Beuge- und Schlängelbewegungen ermöglicht werden. Wenn Längsmuskulatur des Rumpfes kontrahiert, verhindert die Rückensaite, dass sich gleich die ganze Körperseite mit zusammenzieht. Chordascheide Jede adulte Chorda dorsalis wird von einer Chordascheide umhüllt (Vagina notochordalis, Perichordalscheide). Ausschließlich embryonal existierende Rückensaiten besitzen keine oder nur in dünnen Ansätzen Chordascheiden. Die Chordascheide ist zellfrei und besteht aus vielen zugkräftigen kollagenen Fasern. Insgesamt besitzt sie einen straffen Materialcharakter und ist nicht dehnbar. Entgegen der manchmal verbreiteten Auffassung besteht die Chordascheide nicht aus zwei, sondern aus drei Schichten. Membrana elastica externa: Die äußere und dünne Schicht der Chordascheide. Die Membrana elastica externa besteht aus elastischen Fasern. Sie geht in die Chordafaserscheide über. Chordafaserscheide: Der mittlere und hauptsächliche Anteil der Chordascheide. Die Chordafaserscheide besteht aus straffen und nicht-dehnbaren Fasern. Sie ist dafür verantwortlich, dass die Chordascheide insgesamt als nicht-dehnbar erscheint. Membrana elastica interna: Die innere und sehr dünne Schicht der Chordascheide. Die Membrana elastica interna besteht aus einem feinen Netz elastischer Fasern und umgibt unmittelbar die Chorda dorsalis. Fast sofort nach ihrer Entstehung scheiden die Chordazellen eine sie umhüllende, kollagene Schicht aus. Etwas später werden weitere kollagene Fasern abgegeben. Sie schieben sich zwischen die erste Hülle und die Chordazellen. Wenn die Faserbildung schließlich eingestellt wird, hat sich die Chordascheide vollständig aufgebaut. Die erste kollagene Hülle wird zur Membrana elastica externa, die danach eingeschobenen Fasern stellen die Chordafaserscheide und die Membrana elastica interna. Wenn einer adulten Chorda dorsalis Skelettelemente aus Knorpel oder Knochen anliegen (Wirbelelemente) oder sie gar von Wirbelkörpern eingeschnürt wird, bleibt ihre Chordascheide eher dünn. Die Chordascheide geht in die Wirbelkörperbildung ein, indem knorpel- oder knochenbildende Zellen in sie dringen. Die Chordascheide bleibt andererseits auch dünn bei den Lanzettfischchen, obwohl Lanzettfischchen weder Wirbelelemente noch Wirbelkörper besitzen. Das liegt an der geringen Länge der Chordahörnchen, die den Abstand zwischen Rückensaite und Neuralrohr überbrücken müssen. Embryonale Chorda dorsalis Bei vielen heutigen Schädeltieren wird die Chorda dorsalis nur embryonal angelegt. Sie ist ein Übergangsorgan, das später häufig durch eine Wirbelsäule gänzlich ersetzt oder auf kleine Bereiche zwischen und in Wirbelkörpern eingeengt wird. Mit der Entstehung der Wirbelkörper setzt die Rückbildung der Chorda dorsalis ein. Die embryonale Chorda dorsalis besitzt induktive Funktion für die Embryogenese. Sie stößt die Entstehung und Differenzierung anderer Gewebe in ihrer Nachbarschaft an und gilt als wichtigster Induktor der übrigen embryonalen Körperachsenorgane, zu denen noch die Somiten sowie die Neuralleisten und das Neuralrohr gerechnet werden. Die Ursprünge der embryonalen Chorda dorsalis können im Modellorganismus Krallenfrosch (Xenopus laevis) bis zum Blasenkeim (Blastula) zurückverfolgt werden. Der Blasenkeim stellt ein embryonales Stadium dar, das von Lanzettfischchen, Manteltieren und modernen Lurchen durchlaufen wird. Bei den anderen Chordatieren entspricht dem Blasenkeim eine Keimscheibe (Blastodiskus). Der Blasenkeim besitzt bereits ein Oben und ein Unten, seine Gestalt kann in eine animale und in eine vegetative Halbkugel geteilt werden. Die Zellen der vegetativen Halbkugel exprimieren die Morphogene vg-1 (synonym bmp6) und nodal zur Herstellung der Proteine namens Vg-1-related protein und Nodal. Beide Stoffe werden von den Zellen ausgeschüttet und driften zum Mittelbereich des Blasenkeims, der Marginalzone. Die Proteine induzieren in den Marginalzonenzellen die Expression des Morphogens t(brachyury) zur Synthese des Proteins Brachyury. Es entsteht der Mesodermring des Blasenkeims. Danach wechselt der Embryo in die nächste Phase seiner Entwicklung, in die Gastrulation. Nun wird sich bald die Chorda dorsalis ausformen: Die Gastrulation beginnt, wenn sich an einem Punkt kurz unterhalb der Marginalzone der Blasenkeim eindellt und halbmondförmig nach innen stülpt. Die Einstülpung wird Urmund genannt (Blastoporus), dem bei Nabeltieren die Primitivrinne entspricht. Die Brachyury-exprimierenden Zellen der Marginalzone werden von der Einstülpungsbewegung mit erfasst. Sie wandern über den oberen Rand des Urmunds in das Innere des Keims. Der obere Rand des Urmunds wird auch dorsale Urmund-Lippe genannt (Spemann-Organisator), der bei Nabeltieren der Primitivknoten (Hensen-Knoten) entspricht. Nach Flaschenzellen und den Zellen der Prächordalplatte migrieren als dritte Zellgruppe jene Zellen in das Innere des Keims, die als zweites Feld des Spemann-Organisators bezeichnet werden. Sie exprimieren zusätzlich zum Morphogen t(brachyury) das Morphogen not, das zu den Homöobox-Genen (Hox-Gene) gehört. Diese Zellen verbinden sich mit dem Urdarm (Archenteron), einem röhrenförmigen Gebilde, das vom Urmund in das Innere des Keims wächst. Die Zellen bleiben vorerst in der Mitte der oberen Urdarmaußenseite liegen. Dieser Mittelstreifen aus t(brachyury)- und not-exprimierenden Zellen im Dach des Urdarms ist das prächordale Mesoderm, die Chordaanlage. Links und rechts vom Mittelstreifen befinden sich die beiden Seitenstreifen des Urdarmdachs. Auch ihre Zellen stammen ursprünglich aus der Marginalzone, lagen dort aber leicht seitlich zur dorsalen Urmund-Lippe und stellen nun das präsomitische Mesoderm, die Somitenanlagen. Kurz darauf schnürt sich das Gewebe der Chordaanlage wieder vom Urdarm ab. Es wandert aufwärts in den Raum zwischen Urdarm und embryonaler Außenwand, die hier aus animalem Ektoderm besteht. Die Zellen der Chordaanlage wachsen zur stabförmigen Chorda dorsalis, die bei Säugetier-Embryonen anfänglich noch hohl ist. In der Fachliteratur wird häufig bloß diese allerletzte Phase des Prozesses erwähnt, dadurch könnte die Chorda dorsalis als endodermales Gebilde aus Zellen des Urdarms erscheinen. Die Zellen der Chorda dorsalis sind aber schon vorher zu Mesoderm geworden – genauer gesagt zu Chordamesoderm – aufgrund der Expression des Morphogens t(brachyury). Gleichzeitig zur Chorda dorsalis schnürt sich noch das Gewebe der paarigen Somitenanlagen vom Urdarm ab (Enterocoelie). Es wandert seitlich aufwärts in den Raum zwischen Urdarm und embryonaler Außenwand, leicht oberhalb links und rechts zur Chorda dorsalis. Die Zellen der Somitenanlagen formen vorerst das paarige und blasenförmige paraxiale Mesoderm. Die Zellen der neuen Chorda dorsalis exprimieren mehrere Morphogene, unter anderen chrd und nog zur Bereitstellung der Proteine Chordin und Noggin. Die Proteine werden von den Chordazellen abgegeben und diffundieren zu den Zellen jenes animalen Ektoderms, das sich in unmittelbarer Nachbarschaft oberhalb zur Chorda dorsalis befindet. Dort stoppen sie die inhibitorische Wirkung eines Proteins namens BMP-4. Nicht länger gehemmt, differenzieren die Ektoderm-Zellen zu Nerven-Vorläuferzellen (Neuroblasten), aus denen sich anschließend Neuralrohr und Neuralleisten formen werden. Die Chorda dorsalis induziert also den Beginn der Neurulation. Etwa gleichzeitig zerfällt das paarige paraxiale Mesoderm der Länge nach in die Somiten, zwei Reihen mesodermaler Bläschen. Der Zerfall beginnt hinter der Kopfanlage. An ihm ist die Chorda dorsalis zwar nicht beteiligt, sie wird aber maßgeblich das weitere Schicksal der Somiten bestimmen. In Zebrabärbling-Embryonen (Danio rerio) wurde entdeckt, dass die Zellen der Chorda dorsalis vorübergehend vier Homöobox-Gene exprimieren, die hoxb1, hoxb5, hoxc6 and hoxc8 heißen. Deren Genexpressionen geschehen aber nicht gleichzeitig und nicht überall in der Rückensaite. Stattdessen werden sie zeitlich und örtlich nacheinander abgelesen. Zum Beispiel beginnt die Expression des Morphogens hoxb1 im Embryo zehneinhalb Stunden nach der Befruchtung. Sie wird stark heruntergefahren, nachdem das neunte Somitenpaar gebildet wurde, und endet vollständig, wenn das zwölfte Somitenpaar ausgeformt wird. Dabei ist die hoxb1-Expression örtlich auf den vorderen Abschnitt der Chorda dorsalis beschränkt. Die drei anderen Homöobox-Gene werden daraufhin ebenfalls sowohl zeitlich als auch örtlich nacheinander aktiviert und deaktiviert. Die Genprodukte der Hox-Gene tragen wahrscheinlich dazu bei, dass der Rückensaite benachbarte Zellen körperabschnittweise variierte Gewebe ausformen. Die Zellen der Chorda dorsalis exprimieren außerdem das Morphogen shh, mit dem das Protein Sonic hedgehog synthetisiert wird. Sonic hedgehog wird einerseits in die dorsale Seite der Membranen der Chordazellen gebaut. Dadurch werden die Zellen der Unterseite des Neuralrohrs, die der Chorda dorsalis direkt aufliegen, von Sonic hedgehog berührt. Auf dieses Signal hin verdicken sich die berührten Zellen zur Bodenplatte des Neuralrohrs. Die Bodenplattenzellen produzieren nun ihrerseits Sonic hedgehog. Ein Teil davon wird in das Innere des Neuralrohrs gegeben, wobei die Konzentration von Sonic hedgehog mit der Entfernung zur Bodenplatte abnimmt und auf der ungefähren Mitte des Neuralrohrs gänzlich verschwindet. Entlang seines Konzentrationsgefälles führt Sonic hedgehog zu unterschiedlichen Differenzierungen der Neuroblasten. In großer Nähe zur Bodenplatte entstehen V3-Interneurone, darüber Motoneurone und weiter zur Neuralrohr-Mitte noch andere Interneuron-Typen. Die Chorda dorsalis induziert also die dorso-ventrale Gliederung des Neuralrohrs durch membranständiges Sonic hedgehog. Sonic hedgehog wird andererseits in wasserlöslicher Form in den Spalt zwischen Chorda dorsalis und Somiten gegeben. Es erreicht die inneren unteren Anteile der Somiten, die der Chorda dorsalis am nächsten liegen. Auf dieses Signal hin differenzieren sich die Zellen jener Somitenanteile zu Sklerotom-Zellen. Sie lösen sich allmählich von den Rest-Somiten und wandern in Richtung Chorda dorsalis. Dort werden sie sich bald um die Rückensaite legen und sie in (anfänglich noch knorpelige) Wirbelkörper schnüren. Während der einsetzenden Wanderung der Sklerotom-Zellen gibt die Chorda dorsalis aber weiteres Sonic hedgehog ab. Der Stoff ist nun daran beteiligt, einen Teil der Rest-Somiten zu Muskel-Vorläuferzellen (Myoblasten) differenzieren zu lassen. Die Zellen dieser Myotome wechselwirken ihrerseits mit noch nicht abgewanderten Sklerotom-Zellen und wandeln sie zum Syndetomen. Dann emigrieren die Myoblasten und als letzte Somiten-Reste verbleiben die Dermatome. Alle Anteile der Somiten werden schließlich durch den gesamten Körper migrieren und an vielen Stellen Gewebe anlegen: die Sklerotom-Zellen die Wirbelkörper, die Myotom-Zellen die quergestreifte Muskulatur, die Syndetom-Zellen sehnenartige Strukturen und die Dermatom-Zellen die Lederhaut. Die Chorda dorsalis induziert also den Zerfall der Somiten sowie direkt (Sklerotom und Myotom) und indirekt (Syndetom und Dermatom) die Weiter-Differenzierung der Somitenzellen durch wasserlösliches Sonic hedgehog. Mit der Einschnürung durch Wirbelkörper verebbt die induktive Wirkung der Rückensaite. Evolution Die Entwicklung der Chorda dorsalis hängt untrennbar mit der Stammesgeschichte der Chordatiere zusammen. Deren erste Spuren sind mehr als 520 Millionen Jahre alt. Chordata zählen zu den Neumundtieren (Deuterostomia), zu denen noch Stachelhäuter (Echinodermata) und Kiemenlochtiere (Hemichordata) gehören. Die ursprünglichen Neumundtiere waren spiegelsymmetrisch (bilateralsymmetrisch) und besaßen die Veranlagung, Innenskelette (Endoskelette) zu bilden. Es ist nicht geklärt, ob sie festsaßen (benthisch-sessile Lebensweise) oder über den Meeresboden krochen (benthisch-vagile Lebensweise) oder ob sie sich freischwimmend bewegten (pelagische Lebensweise). Hydroskelett Zumindest aber bevorzugten die direkten Ahnen der Chordatiere eine vagile Lebensweise. Anfänglich werden sie sehr wurmähnlich ausgesehen und wahrscheinlich einen ebensolchen Körperbau besessen haben: Direkt unter der Körperoberfläche befand sich ein Hautmuskelschlauch, der aus einer Schicht Längsmuskulatur und einer Schicht Ringmuskulatur bestand. Mittig im Inneren dieses Muskelrohrs befand sich das Darmrohr. Der Raum zwischen Muskelrohr und Darmrohr wurde von der sekundären Leibeshöhle, dem Coelom, eingenommen. Die Leibeshöhle war mit einer Flüssigkeit gefüllt. Der hydrostatische Druck der Leibeshöhlenflüssigkeit hielt Hautmuskelschlauch und Gedärm dauerhaft auf Abstand und beugte inneren Verletzungen vor, weil Darmrohr und Hautmuskelschlauch nicht aneinander rieben. Außerdem diente die Leibeshöhlenflüssigkeit als verformbares, aber nicht kompressibles Hydroskelett. Der evolutionäre Nutzen des Hydroskeletts lag in der Verminderung des Bewegungsenergiebedarfs: Für eine schlängelnd-kriechende Fortbewegung zieht sich die Längsmuskulatur einer Seite des Hautmuskelschlauchs zusammen. Damit sich die Körperseite dabei nicht klumpenartig verdickt und auf die inneren Organe drückt, kontrahiert bei Tieren ohne Hydroskelett gleichzeitig die Ringmuskulatur. Der Einsatz der Ringmuskulatur erhöht den Energieaufwand aber beträchtlich. Ein Hydroskelett leistet andererseits der kontrahierenden Längsmuskulatur hydrostatischen Widerstand und die Ringmuskulaturarbeit kann eingespart werden. Die Beweglichkeit des wurmähnlichen Körpers kann allerdings noch gesteigert werden, wenn in die Leibeshöhle Trennwände gezogen werden. Die Kammerung des Hydroskeletts durch derartige bindegewebige Septen verbessert die Kontrolle über die Verformungen, die der wurmähnliche Körper durch Bewegungen erfährt, so dass Kriech- und Grabbewegungen vereinfacht werden. Außerdem wurden nun effektive Schwimmbewegungen möglich. Evolutionär wurde die erste pelagische Lebensweise weiter verbessert, indem der wurmähnliche und gekammerte Körper gestreckt und seitlich abgeflacht wurde. Dieses evolutionäre Stadium ist möglicherweise in Fossilien der Gattung Yunnanozoon (= Cathayamyrus, Haikouella, Zhongxiniscus) aus dem Unterkambrium erhalten geblieben. Rückensaite Die freischwimmenden, abgeflachten Würmer schlugen daraufhin einen evolutionären Weg ein, der zu den Chordata führte. Es wurden Muskelbänder entwickelt, die parallel an beiden Körperseiten vom Rücken zum Bauch führten (segmentale Körpermuskulatur). Diese Myomere ermöglichten gut koordiniertes schlängelndes Schwimmen. Allerdings wäre ihr Nutzen sehr begrenzt, wenn sie über ein breites Hydroskelett gespannt würden. Darum benötigte segmentale Körpermuskulatur ein neuartiges und schlankes Achsenskelett. Das Achsenskelett diente als Ansatzpunkt für die Muskelbänder und behinderte sie nicht beim Arbeiten. Es gewährleistete schlängelndes Schwimmen und hielt gleichzeitig dauerhaft die stromlinienförmige Körpergestalt aufrecht. Allerdings durfte es nicht zu steif ausfallen, um Bewegungen weiterhin zuzulassen: Die Chorda dorsalis ist das flexible Endoskelett, das als Angepasstheit an die pelagische Lebensweise evolviert worden ist. Die evolutive Herausbildung der Chorda dorsalis ging direkt einher mit einer verlängerten Expression des Gens t(brachyury) in jenen mesodermalen Zellen, die während der frühen Embryonalentwicklung als Mittelstreifen auf der oberen Urdarmaußenseite eingelagert wurden. Mit der Rückensaite wurde das Hydroskelett überflüssig und es ging verloren. Der Antriebsapparat der Chordatiere wurde mit Myomeren und Chorda dorsalis auf die dorsale Körperhälfte beschränkt – als einzigartiger Chorda-Myomeren-Apparat der Chordatiere. Die Myomere wurden noch durch Myosepten getrennt. Das sind dünne Schichten aus Bindegewebe, die Myomere voneinander isolieren. Mit ihnen wurde das Überspringen von Muskelerregungen erschwert, somit die Muskelkoordination verbessert und die Beweglichkeit weiter verfeinert. Eine eher wenig abgewandelte Form solcher Chordata stellen die heutigen Lanzettfischchen dar (Leptocardia). Allerdings wurden bisher keinerlei Fossilien von Ahnen der kleinen und gänzlich Hartteil-freien Lebewesen gefunden. Die ältesten fossil belegten Chordatiere gehörten zur Gruppe der schädellosen Myllokunmingiida und stammten aus Unterkambrium und Mittelkambrium. Ihre Gattungen heißen Haikouichthys (= Myllokunmingia) und Zhongjianichthys sowie Metaspriggina. Das Achsenskelett der Myllokunmingiida bestand aus der Chorda dorsalis. Möglicherweise verfügten sie über kollagenfreies Knorpelgewebe, das aber kaum zum Achsenskelett beitrug. Der Körperbau existierte ganz ähnlich weiter bei den Pikaiidae, deren Evolutionslinie fossil im Mittelkambrium nachweisbar wird. In unterkambrischen Gesteinsschichten wurden zahnähnliche Gebilde gefunden, die Conodonten genannt werden. In jenen Schichten werden sie der Gattung Protohertzina zugeordnet. Conodonten finden sich danach in vielen Gesteinen. Die letzten Vorkommen enden mit der Trias. Die Körper der Tiere, die in sich die Conodonten trugen, wiesen keine Hartteile auf. Die Gestalt der Conodontentiere (Conodontophora) ist nur von extrem wenigen Abdrücken bekannt, zum Beispiel von der viel später lebenden Gattung Clydagnathus aus dem Unterkarbon. Gemäß ihren Fossilien besaßen die Conodontophora langgestreckte lanzettliche Körper mit durchgehenden Rückensaiten. Außerdem trat eine Vorform des Schädels auf. Wegen der Schädel-Vorform verkürzte sich das Vorderende der Chorda dorsalis. Sie begann nicht mehr in der Körperspitze, sondern erst ungefähr in der Mitte des Kopfes, hinter den Augen. Rückensaitenrückbildung Alle bisher genannten Tiere lebten pelagisch. Im Unterkambrium spaltete sich aber auch schon die eigene Entwicklungslinie der Manteltiere (Tunicata) ab. Die älteste Gattung der Manteltiere aus jener Zeit heißt Shankouclava. Während gleichzeitig Myllokunmingiida, Pikaiidae und Conodontophora unter Einsatz ihrer Rückensaiten die pelagische Lebensweise realisierten, schlugen Manteltiere einen anderen Weg ein. In ihrer Entwicklungslinie wurde die Chorda dorsalis, die erst vor wenigen Millionen Jahren evolviert worden war, schon wieder in doppelter Weise abgebaut. Einerseits wurde sie zeitlich auf freischwimmende Larvalstadien beschränkt und andererseits räumlich auf den Ruderschwanz begrenzt. Viel später könnten Manteltiere der Ordnung Aplousobranchia vor dem Erwachsenwerden geschlechtsreif geworden sein (Neotenie). Aus ihren Nachkommen könnten die geschwänzten Manteltiere (Copelata) hervorgegangen sein. Die winzigen Tiere bleiben ihr kurzes Leben lang in einer Art Larvalstadium samt rechtwinkelig abgeknickter Schwanz-Chorda. Wirbelelemente Noch während des Kambriums entstanden aus schädellosen Vorformen die ersten Schädeltiere (Craniata), die Rundmäuler (Cyclostomata). Zur Gruppe der Rundmäuler werden Neunaugen (Petromyzontida) und Schleimaale (Myxinoidea) gerechnet. Ihre weichen, knochenlosen Körper hinterließen jedoch höchst selten Fossilien. Deshalb stammen die bisher ältesten bekannten Neunaugen aus dem Oberdevon (Priscomyzon) und Unterkarbon (Hardistiella). Bei den Neunaugen persistierte stets die Rückensaite. Dorsal angelagert waren aber bogenförmige Knorpelstrukturen, die Neuralbögen (Arcus neurales) genannt werden. Die Neuralbögen waren wahrscheinlich die ersten Wirbelelemente und Frühformen gab es vielleicht schon bei Haikouichthys. Wirbelelemente waren Skelettelemente aus Knorpel oder (später auch) aus Knochen und können die Rückensaite zu allen Seiten flankieren (parachordale Elemente oder perichordale Elemente). Wirbelelemente bewirken eine zusätzliche Verfestigung des Achsenskeletts. Wenn sich Wirbelelemente zur Chorda dorsalis gesellen, wird von Kamptospondylie gesprochen. Zwar wurden bisher an fossilen Neunaugen und anderen fossilen kieferlosen Fischen keine Wirbelelemente entdeckt, dies liegt jedoch sehr wahrscheinlich daran, dass sie aus Knorpel bestanden und nicht erhalten blieben. Die ältesten Fossilien der Schleimaale kommen aus dem Oberkarbon (Myxinikela, Myxineidus). Die Chorda dorsalis der Schleimaale besitzt keinerlei Wirbelelemente, es liegt Aspondylie vor. Die Wirbelelemente wurden rückgebildet, als die einzigartige Beweglichkeit der Schleimaale evolviert wurde, denn sie können ihren Leib verknoten. Unter Schädeltieren besitzen einzig Schleimaale eine aspondyle Rückensaite. Schädel Die Evolution des Schädels verdrängte die Chorda dorsalis aus der Kopfregion. Fortan begann bei allen Schädeltieren die Rückensaite erst hinter der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) an der Basis des hinteren Schädelabschnitts, des Hirnschädels (Neurocranium). Ursprüngliche Schädeltiere besaßen ein Achsenskelett aus einer adulten Chorda dorsalis, die am Hinterende des Schädels ansetzte und von parachordalen Elementen eingefasst wurde, von denen die Neuralbögen die evolutionär ältesten waren. Die Situation kann einerseits an rezenten Neunaugen, andererseits an fossilen, ebenfalls kieferlosen Schalenhäutern nachvollzogen werden (Ostracodermi), die mit Anatolepis ab dem Oberkambrium bekannt sind. Dieser Teil des Körperbaus änderte sich vorerst auch nicht, als die Kiefermäuler (Gnathostomata) aus den Schalenhäutern evolviert wurden. Wegen gewisser Ähnlichkeiten im Bau des Riechorgans gingen sie wahrscheinlich aus einer Schalenhäuter-Gruppe namens Galeaspida hervor. Als erste Kiefermäuler traten im Unterordovizium die Panzerfische auf (Placodermi). Ihre ältesten fossil belegten Gattungen stammen allerdings mit Shimenolepis erst aus dem Untersilur und mit Silurolepis aus dem Obersilur. Schon kurz vor dem Mittelordovizium spalteten sich aus den Panzerfischen die echten Kiefermäuler ab (Eugnathostomata), denn erste Hautschuppen von derartigen Fischen wurden in mittelordovizischen Gesteinsschichten entdeckt. Eine Abspaltung der echten Kiefermäuler von den Panzerfischen wird durch die Fossilien Qilinyu und Entelognathus nahegelegt, die bis in das Obersilur überlebt hatten und deren Schädel Mosaiken aus placodermen und eugnathostomen Knochen enthielten. Aus den basalen echten Kiefermäulern gingen zwei Gruppen hervor, die Knorpelfische (Chondrichthyes) und die echten Knochentiere (Euteleostomi). Ihre basalen gemeinsamen Vorfahren besaßen noch ein Mosaik von Merkmalen beider Nachfolgegruppen, wie es ersichtlich wird am fossilen Fisch Janusiscus, der bis ins Unterdevon vorkam. Die Knorpelfische teilten sich in Stachelhaie (Acanthodii) und Elasmobranchomorpha. Mit Sinacanthus und Kannathalepis können beide Gruppen als Fossilien bis in das Untersilur zurückverfolgt werden. Dabei gingen die Elasmobranchomorpha aus Stachelhaien hervor, was anhand des Schädels, der Bezahnung und des Schultergürtels der Mosaikform Doliodus aus dem Unterdevon nachvollzogen werden kann. Die echten Knochentiere gliederten sich ebenfalls in zwei Evolutionslinien, in Strahlenflosser (Actinopterygii) und Fleischflosser (Sarcopterygii). Frühformen der Strahlenflosser werden mit Andreolepis/Lophosteus und Meemannia aus dem Obersilur beziehungsweise Unterdevon belegt. Aus den gleichen Zeithorizonten stammen die ersten fossilen Frühformen der Fleischflosser namens Guiyu, Psarolepis, Achoania und Sparalepis. Die sieben Gattungen vereinigten in sich mosaikhaft noch Merkmale beider Gruppen, führten jedoch entweder schon ein bisschen mehr in Richtung Strahlenflosser oder in Richtung Fleischflosser. Wirbelsäulen Seit Anatolepis waren ungefähr 70 Millionen Jahre vergangen. Dennoch persistierten die kamptospondylen Rückensaiten sowohl bei allen Panzerfischen und Stachelhaien als auch bei sämtlichen sonstigen, bisher erwähnten Schädeltieren. Dann jedoch wurde die Chorda dorsalis viermal unabhängig voneinander von Wirbelkörpern (Centra) unterbrochen, indem sie umwachsen und eingeschnürt beziehungsweise vollständig durch knorpelige oder knöcherne Wirbelsäulen (Columnae vertebrales) ersetzt wird. Wirbelkörper entwickelten sich aus parachordalen Elementen. Sie wurden in regelmäßigen Abständen in die Chorda dorsalis geschaltet. Wirbelsäulen bewirkten einerseits eine weitere Verfestigung und Versteifung des Achsenskeletts und boten andererseits sehr feste Muskelverankerungen und starken Muskelwiderpart. Wirbelkörper wuchsen um die Chorda dorsalis herum und in sie hinein. Blieb von der Rückensaite ein Rest in der Mitte des Wirbelkörpers vorhanden, liegt intravertebrale Chordapersistenz vor. Ebenso konnte zwischen den Wirbelkörpern etwas Chorda dorsalis verbleiben in intervertebraler Chordapersistenz. Die intervertebralen Chorda-dorsalis-Reste gewährleisten die Beweglichkeit der Wirbelsäule. Doch auch diese letzte Funktion der Rückensaite wurde in einigen Evolutionslinien schließlich aufgegeben. Dann evolvierten Wirbelgelenke, mit denen die Wirbelkörper direkt miteinander beweglich verbunden werden. Auf der anderen Seite konnten Wirbelkörper genauso schließlich untereinander verwachsen, um größtmögliche Steifheit zu evolvieren. In beiden Fällen wurde die Chorda dorsalis überhaupt nicht mehr benötigt und sie involierte vollständig: Neoselachii: Eine Gruppe Elasmobranchomorpha aus den Reihen der Plattenkiemer (Elasmobranchii) evolvierte zu den Neuhaien (Neoselachii). Zu ihnen gehören alle heute lebenden Haie und Rochen. Ihr fossil erster Vertreter stammte aus dem jüngsten Unterdevon und heißt Mcmurdodus. Bei den Neuhaien wurde die Chorda dorsalis durch eine Wirbelsäule aus kalkhaltigem Knorpel (Kalkknorpel) ersetzt. Die Chordascheide verknorpelte und verwuchs mit parachordalen Elementen. Sowohl die Gelenkkörper als auch die Neuralbögen wurden miteinander bindegewebig verbunden. Eine solche Wirbelsäule wäre sehr steif, würde sie nicht wegen ihrer Knorpeligkeit biegsam bleiben und aus bis zu 400 Einzelwirbeln bestehen. Im Inneren der Wirbelkörper blieben Chorda-dorsalis-Reste zurück, es liegt eine intravertebrale Chordapersistenz vor. Actinopterygii: Aus den ursprünglichen Strahlenflossern (Actinopterygii) entwickelten sich im Unterkarbon jene Fische, von denen alle noch heute lebenden Strahlenflosser abstammen. Von dieser Kronengruppe der Strahlenflosser spalteten sich schon damals die Flösselfische (Cladistia) ab, die viele ursprüngliche anatomische Merkmale bewahrt haben und deren erste bekannte fossile Vertreter in einer Gruppe namens Scanilepiformes gesehen werden. An den Flösselfischen kann belegt werden, dass die Strahlenflosser der Kronengruppe eine kräftige knöcherne Wirbelsäule mit intravertebraler und intervertebraler Chordapersistenz entwickelt hatten. Flösselfische der Gattung Serenoichthys aus der Oberkreide besaßen Wirbelsäulen mit etwa 30 Wirbelkörpern. Wegen der höheren Zugfestigkeit von Knochengewebe sind die Wirbelkörper der Strahlenflosser dünner als die der Knorpelfische. Häufig sind sie miteinander locker bindegewebig verbunden und echte Wirbelgelenke fehlen. Zwar wurde schon etwas später bei den Knorpelganoiden (Chondrostei) die Wirbelsäule gegen eine kamptospondyle Chorda dorsalis rückgetauscht, insgesamt aber setzte sich die knöcherne Wirbelsäule unter Strahlenflossern durch. Sie wurde an die Evolutionslinie der Neuflosser (Neopterygii) vererbt, bei denen verschiedene Gattungen als erste fossile Vertreter diskutiert werden. Innerhalb der Neuflosser-Gruppe der Knochenganoiden (Holostei) schritt die Wirbelsäulenverknöcherung bei intravertebraler und intervertebraler Chordapersistenz besonders weit fort. Im Knochenhecht Lepisostes aus der Gruppe der Knochenhechtartigen (Lepisosteiformes) formen sich schließlich echte Wirbelgelenke und die Wirbelkörper verknöchern vollständig – ein einmaliger Befund unter Fischen. Amniota: Ein Zweig der vierfüßigen Landwirbeltiere (Tetrapoda) evolvierte zu den Nabeltieren (Amniota). Ihr erster fossil fassbarer Vertreter aus dem Unterkarbon heißt Casineria. Außerhalb des Wassers fehlte der Auftrieb, um die Tierkörper zu stützen. Stattdessen lastete die Schwerkraft vollständig auf dem Skelett. Daraus entstand der Evolutionsdruck, aus den Wirbelelementen ihrer fleischflossigen Vorfahren echte, tragende Wirbelsäulen zu evolvieren. Wenige breite Wirbelkörper wurden in die Chorda dorsalis gebaut und miteinander gelenkig verbunden. In den Spalten zwischen den Wirbelkörpern wuchsen faserknorpelige Zwischenwirbelscheiben und ersetzten die intervertebrale Chorda dorsalis. Bei vielen heute lebenden Nabeltieren verbleibt ein Rest Rückensaite in den Wirbelkörpern. Nur bei älteren ausgewachsenen Vögeln (Aves) und bei Säugetieren (Mammalia) wird die intravertebrale Chordapersistenz gänzlich beendet. Lissamphibia: Auch die modernen Lurche (Lissamphibia) zählen zu den Landwirbeltieren und ihr Achsenskelett wurde ähnlich daran angepasst, die Körperlast an Land zu tragen. Ihre Wirbelsäulen entwickelten sich allerdings unabhängig von denen der Nabeltiere. Knorpelige Zwischenwirbelscheiben ersetzten die Chorda dorsalis zwischen den gelenkig verbundenen Wirbelkörpern. Bei den heutigen Arten besteht häufig eine intravertebrale Chordapersistenz. Nur unter den echten Starrbrustfröschen (Firmisternia), zu denen beispielsweise die echten Frösche (Ranidae) gehören, wird das Chordagewebe in den Wirbelkörpern vollständig knöchern ersetzt (holochordale Ossifikation). Moderne Amphibien treten fossil erstmals mit Gerobatrachus im Unterperm in Erscheinung, ihre Entwicklungslinie sollte darum etwas früher im Oberkarbon aufgekommen sein. Innerhalb der heutigen Lissamphibien verläuft die embryonale beziehungsweise larvale Herausbildung der Wirbelsäule zeitlich unterschiedlich. Einerseits werden Wirbelkörper bei Schleichenlurchen (Gymnophiona) und Schwanzlurchen (Caudata) verhältnismäßig früh ausgeformt. Andererseits geschieht die Bildung der wenigen Wirbelkörper von Froschlurchen (Anura) verzögert. Darum behalten Froschlurche länger eine durchgehende Chorda dorsalis während ihrer Individualentwicklung. Sie ähneln darin jener ursprünglichen und ausgestorbenen Amphibiengruppe, die als Labyrinthzähner (Labyrinthodontia) zusammengefasst werden. Unter bestimmten Labyrinthzähnern überdauerte eine durchgehende Chorda dorsalis bis ins Erwachsenenalter. Schleichenlurche und Schwanzlurche andererseits tun es jeweils eher den Hülsenwirblern (Lepospondyli) gleich, die unabhängig von ihnen schon im Unterkarbon ebenfalls lang gestreckte und sehr schlanke Körper entwickelt hatten. Die viermalige unabhängige Evolution der Wirbelsäule ging stets von den gleichen Ausgangsstrukturen aus, die bereits im letzten gemeinsamen Vorfahren aller Schädeltiere vorhanden waren: Die Chorda dorsalis und die Wirbelelemente sind unter allen Schädeltieren homologe Merkmale. Die Wirbelsäulen wurden aber vierfach konvergent aus diesen gleichen homologen Ausgangsmerkmalen evolviert. Demzufolge handelt es sich bei den Wirbelsäulen nicht um Homologien, sondern um Homoiologien. Wirbelsäulen brachten den Kiefermäulern so große evolutionäre Vorteile, dass die meisten mit aspondyler oder kamptospondyler Chorda dorsalis inzwischen ausgestorben sind. Die überlebenden Ausnahmen stellen Seekatzen (Chimaeriformes aus der Unterklasse der Holocephali), Knorpelganoiden (Chondrostei), Quastenflosser (Actinistia) und Lungenfische (Dipnoi) mit jeweils wenigen rezenten Arten. Chordoide Gebilde Organe und Organteile, die mehr oder weniger große Ähnlichkeit mit der Chorda dorsalis zu besitzen scheinen, können chordoide Gebilde genannt werden. Die Gebilde sind jedoch weder evolutionäre Vorformen (Orimente) noch Reste (Rudimente) der Rückensaite. Es sind eigenständige Entwicklungen (Homoplasien). Axochord: Ringelwürmer (Annelida) und die übrigen Tiere aus der Gruppe der Lophotrochozoa bilden ein Axochord. Es handelt sich um einen paarigen Streifen aus mesodermalen Muskelzellen, der zwischen dem Verdauungstrakt und dem Bauchmark liegt. Die Axochord-Zellen umgeben sich mit einer gemeinsamen Hülle aus straffem kollagenen Bindegewebe. An ihm setzen paarige Muskelgruppen an, die sich bauchseitig durch die Körper ziehen. Ein Axochord wurde auch bei Pfeilwürmern (Chaetognatha) entdeckt. Somit könnte es sich bei diesem paarigen bauchseitigen Muskelstreifen um eine Struktur handeln, die schon der letzte gemeinsame Vorfahre aller heutigen Urmundtiere (Protostomia) vor ungefähr 542 Millionen Jahren besessen hatte. Bukkalcirren der Lanzettfischchen (Leptocardia): Die Mundöffnung der Lanzettfischchen wird umkränzt von Cirren („Lippententakel“, „Bukkalcirren“, „Mundcirren“). Jeder Cirrus wird von einem dünnen Stäbchen aus einzeln hintereinander aufgereihten, seitlich abgeflachten und filamentreichen Zellen durchzogen. Demzufolge zeigt jedes Stäbchen einen Aufbau, der stark einer winzigen Chorda dorsalis ähnelt. Chorda intestinalis: Die Chorda intestinalis kommt in Plattwürmern (Plathelminthes) der Gattung Nematoplana vor. Sie befindet sich im Darmdach am vorderen Körperende. Die Chorda intestinalis versteift die Körpergestalt des Plattwurms durch turgeszente Zellen. Hypochorda: Die Hypochorda (Subnotochordalstab) ist ein einzelliger flacher Streifen, der bei nicht-amniotischen Schädeltieren während der Embryonalphase angelegt wird. Die Hypochorda trennt sich erst vom Dach des Urdarms, nachdem sich die mesodermalen Chorda- und Somitenanlagen bereits vollständig abgeschnürt haben. Deshalb handelt es sich bei der Hypochorda um endodermales Gewebe. Die Hypochorda wird zwischen Urdarmdach und Chorda dorsalis eingezogen. Ihre Abschnürung erfolgt mit Hilfe eines chemischen Signals, das von der unmittelbar anliegenden Chorda dorsalis ausgeht. Die Hypochorda gibt selbst ein Protein der VEGF-Gruppe ab, das den Aufbau der dorsalen Aorta induziert. Nucleus pulposus: Bei Säugetieren bildet der zentrale Gallertkern (Nucleus pulposus) zusammen mit dem knorpeligen Faserring (Anulus fibrosus) die Zwischenwirbelscheibe. Der Kern besteht aber weder aus Knorpel noch aus Chordamesoderm, sondern aus einer zähflüssigen amorphen Gallerte. Darin befinden sich stark wasserziehende Glykosaminoglykane sowie Kollagenfasern. Die Gallerte stellt eine Art Wasserkissen dar, dessen hydrostatischer Druck den Faserring aufspannt. Der Kern ist kein Rest der Rückensaite, sondern eine ersetzende Neubildung. Die Substanzen des Nucleus pulposus werden aber von den Chordazellen bereitgestellt. Wenn im Embryo eine Zwischenwirbelscheibe angelegt wird, gibt der darin eingeschlossene Chorda-dorsalis-Abschnitt Glykosaminoglykane und Kollagenfasern an die Umgebung. Die abgegebenen Stoffe weiten den Raum auf die Maße des Nucleus pulposus. Anschließend zerfällt die eingeschlossene Chorda dorsalis zuerst in kompakte Chordasegmente. Sie werden weiter zu einem netzartig zerfaserten Rest abgebaut, der Chordareticulum genannt wird. Das Chordareticulum besteht aus wenigen und nicht turgeszenten Epithelzellen des Chordamesoderms. Mit der Zeit werden die Epithelzellen immer weniger, beim Menschen verschwinden die letzten nach dem dritten Lebensjahr. Während des Jugendalters existieren im Gallertkern einzelne Chondrozyten sowie rundliche Zellen, die Fibroblasten ähneln. Beim Erwachsenen wird das Innere des Gallertkerns weitgehend zellfrei. Zudem nehmen allmählich die Anteile der Glykosaminoglykane ab und der Kollagenfasern zu. Dadurch verliert der Kern an Wasser und Ausdehnung. Die Lücke, die seine schrumpfenden Ränder hinterlassen, wird durch hinterher wachsenden Faserknorpel des Faserrings verfüllt. In seltenen Fällen können geringe Reste der Chorda dorsalis am Vorder- oder Hinterende der Wirbelsäule zurückblieben. Die Reste können zu Geschwulsten auswachsen, die Chordome genannt werden. Stomochord: Das Stomochord ist eine steife und gestreckte Aussackung des Verdauungstrakts (Darmdivertikel), die vom Dach des Mundes bei Kiemenlochtieren (Hemichordata) ausgeht und sich nach vorn in den Kopflappen (Prosoma) zieht. Das Stomochord stabilisiert den Übergang vom Kopflappen in den Kragen (Mesosoma). Das Stomochord besitzt nicht die blasen- oder säckchenähnliche Form eines einfachen Darmdivertikels, sondern kann in mehrere Abschnitte gegliedert werden, die sich voneinander in Weite und Form unterscheiden. Vom Munddach entspringt der erste abgeflachte und flaschenähnliche Abschnitt. Hinter seinem flaschenhalsförmigen Ende schließt sich ein mittlerer Abschnitt mit taschenartigen Aussackungen an. Der mittlere Abschnitt geht über in eine dünne Röhre, die sich schließlich zu einem stabförmigen Fortsatz verjüngt. Nur der Fortsatz besitzt eine gewisse Ähnlichkeit zur Chorda dorsalis. Literatur Thomas Stach: Chordate phylogeny and evolution: a not so simple three-taxon problem. In: Journal of Zoology. Band 276, 2008, , S. 117–141. Dietrich Starck: Vergleichende Anatomie der Wirbeltiere Band 2. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg 1979, ISBN 3-540-09156-4, S. 35–66. Derek L. Stemple: Structure and function of the notochord: an essential organ for chordate development. In: Development. Band 132, 2005, , S. 2503–2512. Einzelnachweise Anatomie (Wirbeltiere) Organogenese Stütz- und Bewegungsapparat
446703
https://de.wikipedia.org/wiki/Waldohreule
Waldohreule
Die Waldohreule (Asio otus) ist eine nachtaktive Greifvogelart, die zu den Eigentlichen Eulen (Strigidae) gehört. Sie zählt zur Gattung der Ohreulen und ist eine der häufigsten Eulen in Mitteleuropa. Die Namensgebung geht auf die beiden Federbüschel am Kopf zurück. Aussehen Die Waldohreule hat mit einer Körperlänge von 31 bis 37 cm und einer Flügelspannweite von 86 bis 98 cm etwa die Größe einer Schleiereule. Sie ist wesentlich schlanker als ein Waldkauz und mit einem Gewicht von 220 bis 280 Gramm (Männchen) bzw. 250 bis 370 Gramm (Weibchen) erheblich leichter. Durch die auffallend großen Federohren und das marmorierte Gefieder, ähnelt die Waldohreule optisch dem deutlich größeren Uhu. Die Federohren haben keine Funktion im Zusammenhang mit der Hörleistung der Eule. Zur Verstärkung der Hörleistung dient vielmehr der bei der Waldohreule auffällige Gesichtsschleier, der Ähnlichkeit mit dem Schleier der Sumpfohreule aufweist. Die Iris der Waldohreule ist leuchtend orangegelb. Das Gesicht wird durch eine auffällig hervorstehende Stirnbefiederung geteilt. Die Flügel sind relativ schmal. Das Gefieder der Waldohreule ist auf hellbraunem bis ockergelbem Grund schwarzbraun gestrichelt und gefleckt. Die Hand- und Armschwingen sind deutlich dunkel quergebändert. Allgemein überwiegen bei den Weibchen dunkle, rostbraune Farbtöne. Die Männchen sind dagegen in ihrer Grundfärbung etwas heller. Die Färbung des Gefieders dient der Tarnung; ruhende Vögel im Geäst sind kaum zu entdecken. Die Augen werden durch ein oberes und ein unteres Augenlid sowie durch eine Nickhaut, die das Auge bedecken kann, geschützt. Verbreitung Das Verbreitungsgebiet der Waldohreule umfasst die gesamte Holarktis. Es erstreckt sich von Großbritannien und Irland quer durch Eurasien einschließlich China und der Mongolei bis nach Japan und Sachalin. Die nördliche Verbreitungsgrenze liegt in der Zone des borealen Nadelwaldes. In Afrika kommt sie im Atlasgebirge sowie in den Bergwäldern Äthiopiens vor. Sie ist außerdem auf den Azoren sowie den Kanaren beheimatet. Die Waldohreule besiedelt auch das südliche Kanada und den nördlichen und mittleren Teil der USA. Unterarten Im Verbreitungsgebiet werden derzeit fünf Unterarten unterschieden: Asio otus otus ist die Nominatform. Sie ist in Mitteleuropa beheimatet. Asio otus canariensis lebt auf den Kanaren. Diese Unterart ist deutlich kleiner. Asio otus wilsonianus und Asio otus tuftsi sind beide in Nordamerika beheimatet. Asio otus abyssinicus ist in Ostafrika heimisch. Sie wird von manchen Autoren als eigenständige Eulenart angesehen. Lebensraum Waldohreulen sind in ganz Europa vornehmlich in lichten Wäldern mit offenen Flächen sowie in der Nähe von Feldern mit Feldgehölzen anzutreffen. Da sie Freiflächen für die Jagd benötigen, bevorzugen Waldohreulen offenes Gelände mit niedrigem Pflanzenwuchs. Sie sind auch in Gebieten mit einem hohen Anteil an Dauergrünflächen sowie in der Nähe von Mooren zu finden. Selbst im Hochgebirge kommen sie vor, sofern dort genügend Beute vorhanden ist. Wälder bieten der Waldohreule nur dann hinreichend Lebensraum, wenn es dort ausreichend Freiflächen für die Jagd gibt. Innere Bereiche dichter Wälder werden auch aufgrund der Konkurrenz durch den Waldkauz gemieden. Den Waldrand nutzt die Waldohreule dagegen als Ruheplatz während des Tages sowie als Brutrevier. Sie zieht dabei Nadelbäume vor, die ihr ausreichend Deckung bieten und in denen sich alte Nester von Krähen und Elstern befinden. Wo solche Waldränder fehlen, weicht sie auch in kleinere Gehölzgruppen oder Hecken aus. Die Waldohreule besiedelt auch Randbereiche von Städten, insbesondere wenn diese an landwirtschaftlich genutzte Bereiche oder halboffene Kulturlandschaften grenzen. Außerdem ist sie auf Friedhöfen sowie in Parkanlagen und Gärten anzutreffen. Beobachtungen von Fachleuten der Berliner Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft (siehe Weblinks) legen nahe, dass Waldohreulen zunehmend auch in städtischen Gebieten anzutreffen sind. Territorialverhalten Die Waldohreule zeigt nur in der Umgebung des Brutplatzes ein Territorialverhalten. Das unmittelbare Brutrevier wird durch Gesänge und durch einen Imponierflug gekennzeichnet, bei dem die Waldohreule die Flügel unter dem Körper zusammenklatscht. Bei ausreichendem Nahrungsangebot können die Brutplätze der Waldohreulen sehr nahe beieinanderliegen. Auf einer 15 Quadratkilometer großen Fläche in Schleswig-Holstein, die offenbar ideale Lebensbedingungen bot, wurden 18 Brutnester nachgewiesen. Im Winter finden sich gelegentlich Schlafgemeinschaften von Waldohreulen zusammen, die bis zu 200 Exemplare umfassen können und bei denen die Vögel nur einen geringen Individualabstand halten. Die dabei aufgesuchten Schlafbäume werden mitunter über viele Jahre hinweg genutzt. In Einzelfällen ist die Nutzung von bestimmten Schlafbäumen seit mehr als einhundert Jahren belegt. Im Winterquartier kann es auch zum Vergesellschaften mit anderen Eulenarten, insbesondere der Sumpfohreule (Asio flammeus), kommen. Die Waldohreule zeigt dabei keine Aggressionen gegenüber anderen Arten. Stimme Während der Brutzeit ruft das Männchen in sekundenkurzem Abstand ein dumpfes und monotones „huh“. Dieser Ruf wird etwa alle zwei bis acht Sekunden wiederholt. Das Weibchen antwortet auf diese Rufe in ähnlich monotoner Weise mit „üüiü“ oder „uijo“. Während der Balz lässt das Weibchen auch ein an das Betteln der Jungeulen erinnerndes „chwää“ oder „chwän“ erklingen; vom Männchen ist insbesondere bei Beuteübergaben an das Weibchen ein kräftiges „chwü“ oder „chrööj“ zu hören. Zu den Lautäußerungen gehören auch Fauchen und Schnabelknappen, die vor allem der Feindabwehr dienen. Das Repertoire an Alarmrufen ist sehr groß – der Alarmruf, den die Eulen von sich geben, wenn man sich beispielsweise dem Horst zu sehr nähert, ist ein bellendes oder kläffendes „uäk.uäk“ sowie ein miauendes „kjiiiiauu“. Die Ästlinge der Waldohreule, wie die Jungeulen genannt werden, die zwar bereits das Nest verlassen haben, aber noch auf die Fütterung durch die Elternteile angewiesen sind, können über Stunden während der Nacht ein lautes Fiepen erklingen lassen. Es ist so auffallend, dass bei Bestandskontrollen von Waldohreulen gelegentlich systematisch diese Rufe registriert werden. Jagd und Beutetiere Jagdweise Die Waldohreule jagt während der Dämmerung und in der Nacht. Die Tagesstunden werden nur dann zur Jagd genutzt, wenn die Beute knapp ist (z. B. im Winter). Vor dem Jagdbeginn putzt die Waldohreule sich ausgiebig das Gefieder, jagt dann zwei bis drei Stunden und legt eine Ruhepause ein, die bis weit nach Mitternacht dauert. Anschließend jagt sie nochmals intensiv bis in die Morgendämmerung hinein. Mit diesem Aktivitätsmuster jagen die Eulen insgesamt etwa 5 bis 6 Stunden pro Tag intensiv. Der Flug ist geräuschlos. Der Suchflug erfolgt relativ dicht über dem Boden, wobei die Waldohreule ihre Beute optisch und akustisch ortet. Nimmt sie potentielle Beute wahr, verharrt sie im Rüttelflug und inspiziert die Lokalität, an der sie die Beute vermutet. Die Ansitzjagd, bei der die Eule von einer Warte aus nach Mäusen lauscht, gehört gleichfalls zum Jagdverhalten der Waldohreule. Um Insekten zu jagen, begibt sie sich direkt auf den Boden und liest dort mit ihrem Schnabel die Wirbellosen auf. Um Maikäfer zu fangen, klettert sie geschickt durch das Geäst der Bäume. Beutetiere Die Hauptbeute der Waldohreule sind Mäuse. Im Mittelmeergebiet sind es vorwiegend Echte Mäuse, die von der Waldohreule erjagt werden. In den übrigen Teilen Europas sind es überwiegend Wühlmäuse, wobei hier die Feldmaus (Microtus arvalis) überwiegt. Auch kleinere Singvogelarten zählen zum typischen Beutespektrum. Mit am häufigsten erbeutet werden Sperlinge und Grünlinge. Fortpflanzung Paarung Waldohreulen werden gegen Ende ihres ersten Lebensjahres fortpflanzungsfähig und leben monogam in einer sogenannten Saisonehe. Die Paare bilden sich mitunter schon unter den Vögeln einer winterlichen Schlafgemeinschaft. Typischer ist es jedoch, dass das Männchen im zeitigen Frühjahr durch Paarungsrufe versucht, ein Weibchen in sein Revier zu locken. Zur Balz zeigt das Männchen einen Imponierflug, bei dem die weißen Flügelunterseiten signalhaft präsentiert werden und bei dem die Flügel gelegentlich unter dem Körper zusammengeklatscht werden. Dieses Flügelklatschen zeigt auch das Weibchen während der Flugbalz in der Nähe zum potentiellen Brutplatz. Zur Anpaarungsphase und zur Balz gehört auch ein intensives Rufen, wie bereits im Absatz „Stimme“ beschrieben. Diese Rufe erklingen als Wechselgesänge. Wie bei den anderen europäischen Eulen weist auch hier das Männchen mit leisen Rufen das Weibchen auf den potentiellen Nistplatz hin. Die Waldohreule unterscheidet sich jedoch von den anderen europäischen Arten durch einen spezifischen Bewegungsablauf, der so bei keiner anderen Art zu beobachten ist: Das Männchen lässt sich mit V-förmig steil gehobenen Flügeln zu diesem Platz gleiten, lockt mit leisen „huh“- oder „bu.bu.bu“-Silben und dreht sich in steif vorgebeugter Haltung gegen das Weibchen: die Federohren sind aufgerichtet (Bocksgesicht), die Flügel werden über Rückenniveau angehoben, letztlich „winkend“ auf- und abgeführt; die Eule streckt sich zuletzt in den Fersen zu einer merkwürdigen Buckelhaltung. Mitunter zittern auch die horizontal gehobenen Schwanzfedern. Das paarungswillige Weibchen fliegt nahe zum Männchen, mitunter auf denselben Baumstumpf, duckt sich flach nieder, hebt die Flügel schlaff an und den Schwanz auffordernd in die Horizontale. So starren sich die Partner – oft aus nächster Nähe – an. Das Männchen springt letztlich aus der „Bockshaltung“ direkt auf den Rücken des Weibchens (dabei oft noch eine Drehung um 180 Grad vollführend) und kopuliert unter langsamen Flügelschlag …. (Mebs & Scherzinger, S. 261 f.) Brut Die Waldohreule nistet bevorzugt in verlassenen Nestern von Rabenkrähen, aber auch von Elstern und Greifvögeln, da sie selbst kein Nestmaterial eintragen können. Bei der Auswahl des Nitzplatzes bevorzugten Waldohreulen insbesondere Rabenkrähennester, die sich in Fichten befanden. Auch Bodenbruten und Gebäudebruten sind für die Waldohreule belegt, sie stellen jedoch eine Ausnahme dar. Noch seltener sind Bruten an Felsen. Im Jahr 2017 wurde in der Schweiz die erste Felsbrut in Europa nachgewiesen. Sonst gab es Felsbruten bisher nur in Idaho, Kasachstan und den Kanarischen Inseln. Der Legebeginn für Waldohreulen liegt in Mitteleuropa normalerweise zwischen Ende Februar und Mitte April. Im Stadtgebiet Berlins konnten 2009 sogar bereits Ende März Ästlinge nachgewiesen werden, was allerdings eine Ausnahme darstellt. Das Weibchen brütet bereits ab dem ersten Ei und legt mit einem durchschnittlichen Legeabstand von zwei Tagen durchschnittlich vier bis sechs Eier. Ist aufgrund einer Mäusegradation das Beuteangebot sehr reichlich vorhanden, kann das Gelege ausnahmsweise auch bis zu acht Eier umfassen. Das Weibchen verlässt während der Brutphase und während der ersten Tage der Jungeulen nur für kurze Unterbrechungen die Nistmulde. Die Küken schlüpfen nach einer Brutdauer von 27 bis 28 Tagen und werden von dem Weibchen während ihrer ersten Tage intensiv gehudert. Das Weibchen schneidet aus der vom Männchen herangebrachten Beute kleine Stückchen und füttert sie den Jungeulen unter gluckenden Fütterungslauten. Sind die Nestlinge älter als vierzehn Tage, dann hockt das Weibchen tagsüber am Nistmuldenrand oder in nächster Nähe. Sowohl Männchen als auch Weibchen beteiligen sich an der Verteidigung der Brut. Erst wenn die Jungeulen das Nest verlassen und als Ästlinge in den Baumkronen hocken, beteiligt sich das Weibchen an der Beuteversorgung. Die Jungeulen Die frisch geschlüpften Küken wiegen nur 16 Gramm; ihr feines dünnes Daunenkleid lässt jedoch bereits die später so auffälligen Federohren erkennen. Das Daunenkleid wird später durch ein hellbraunes Zwischenkleid ersetzt, bei dem die jungen Waldohreulen eine auffällige, schwarze Gesichtsmaske tragen. Die Jungeulen verlassen mitunter schon im Alter von drei Wochen die Nistmulde und klettern in die Baumkronen, wo sie in möglichst wenig einsehbarem Geäst verbleiben. Junge Waldohreulen sind geschickte Kletterer, die zum Klettern Krallen, Schnabel und Flügel einsetzen. Nach Einbruch der Dämmerung zeigen sie ihren Standort durch ein hohes „Zieeh“ an, das sie im Abstand von wenigen Sekunden wiederholen. Bereits im Alter von 10 Wochen können die Jungeulen in der Lage sein, selbständig Mäuse zu erjagen. Die Elternvögel füttern jedoch ihren Nachwuchs bis mindestens zur 11. Lebenswoche. Selbständig gewordene Jungeulen legen auf der Suche nach neuen geeigneten Lebensräumen gelegentlich mehrere hundert Kilometer zurück. Aufgrund von Beringungsfunden konnte man nachweisen, dass Wanderungen aus mitteleuropäischem Gebiet bis nach Portugal vorkommen. Die bisher maximal belegte Wanderungsstrecke von Jungeulen beträgt 2.140 Kilometer. Typischer ist jedoch eine Wiederansiedelung in einem Radius von 50 bis 100 Kilometern um den Horst. Fressfeinde und Feindverhalten Die relativ kleine Waldohreule gehört zu den Beutetieren des Uhus. Auch größere Greifvogelarten jagen hin und wieder Waldohreulen. So werden insbesondere die in den offenen Horsten brütenden Weibchen häufig durch den Mäusebussard erbeutet. Auch Marder können vor allem den jungen, noch nicht flugfähigen Küken gefährlich werden. Der Gefährdung durch Fressfeinde versuchen Waldohreulen vor allem durch ihre Tarnung zu entgehen, die ihre Gefiederfärbung bietet. Die brütenden Weibchen, die besonders gefährdet sind, ducken sich tief in ihre Nistmulde. Waldohreulen verfügen außerdem über ein Repertoire an Drohgebärden. Ähnlich wie ein Uhu in einer ausweglosen Situation fächert auch die Waldohreule ihre Flügel zu einem Flügelrad auf und vergrößert damit optisch ihr Erscheinungsbild. Gleichzeitig faucht sie laut und knappt mit dem Schnabel. Dieses Verhalten beherrschen bereits die jungen Ästlinge. Bei akuter Gefahr klettern diese meist in höhere Bereiche der Bäume. Werden sie bis dahin weiter verfolgt, springen sie gegebenenfalls sogar zu Boden. Menschen und Beutegreifer, die sich dem Horst zu sehr annähern, werden gelegentlich durch das so genannte Verleiten abgelenkt. Hierbei täuscht die Eule dem Angreifer eine eingeschränkte Bewegungsfähigkeit vor, indem sie ihre Flügel schlaff herabhängen lässt. Dieses Verleiten geht so weit, dass sie sich unter lauten Alarmrufen flügelschlagend von einem Ast herabtrudeln lässt, um den potentiellen Angreifer vom Nest abzulenken. Zugverhalten Asio otus ist in der Regel ein Teilzieher: Waldohreulen, die normalerweise im nordöstlichen Verbreitungsgebiet des europäischen Kontinents leben, ziehen während des Winterhalbjahrs in Richtung Südwesten. Um den Winter besser zu überstehen, halten sich die Vögel bevorzugt im Umfeld von größeren Städten und Ortschaften auf. Hier findet sich auch in der kalten Jahreszeit noch genügend Nahrung. Waldohreulen, die in klimatisch begünstigten Regionen leben, verlassen ihr angestammtes Gebiet im Winter nicht. Lebenserwartung Von den Jungeulen eines Jahres übersteht nur jede zweite ihr erstes Lebensjahr. In freier Natur lässt sich bisher aufgrund von Beringungsfunden ein Höchstalter von 28 Jahren nachweisen. Bestandsentwicklung Der Bestand an Waldohreulen ist vor allem vom Nahrungsangebot, bzw. von der Kleinsäugerdichte abhängig. Haben die Mäuse (z. B. durch den Einsatz von Pestiziden) nur geringe Zuwachsraten, kommt es im Waldohreulenbestand zu erheblichen Schwankungen. Der Gesamtbestand wurde noch im Jahr 2003 vom IUCN auf etwa 120.000 Tiere geschätzt. Hochrechnungen, die auf neueren europäischen Zahlen beruhen, belaufen sich aber inzwischen auf 1,5 bis 5 Millionen Exemplare. Für Österreich und die Schweiz schätzt man, dass rund 2500 bis 3000 Brutpaare dort ihren Lebensraum haben, für Deutschland geht man von einem Bestand von 25.000 bis 41.000 Brutpaaren aus, der weitestgehend stabil ist. Anthropogene Faktoren, wie die intensivere Nutzung landwirtschaftlicher Flächen, insbesondere die Umwandlung von Grünland und die Beseitigung von Hecken und Feldrainen sind weitere Faktoren für einen Bestandsrückgang. Ähnlich wie bei anderen mitteleuropäischen Eulenarten ist die wichtigste Schutzmaßnahme der Erhalt von strukturreichen, naturnahen Landschaften. Insgesamt wird die Waldohreule von der IUCN als „nicht gefährdet“ („least concern“) eingestuft. Noch nicht hinreichend untersucht ist die Frage, ob die Waldohreule in einigen ihrer Lebensräume durch den Waldkauz verdrängt werden kann. Untersuchungen in den Niederlanden zeigen, dass der Bestand der Waldohreulen zurückgeht, wenn die Anzahl der im Gebiet vorhandenen Waldkäuze ansteigt. Hierbei spielen sicherlich auch die Nahrungs- und die Brutplatzkonkurrenz eine Rolle. Bilder Literatur Jürgen Nicolai: Greifvögel Kompass. Greifvögel und Eulen sicher bestimmen. Gräfe & Unzer, München 1987, ISBN 3-7742-3805-7. Theodor Mebs, Wolfgang Scherzinger: Die Eulen Europas. Biologie, Kennzeichen, Bestände. Kosmos, Stuttgart 2000, ISBN 3-440-07069-7 (gibt umfassend die Lebensweise der dreizehn in Europa vertretenen Eulen wieder). John A. Burton (Hrsg.): Eulen der Welt. Entwicklung, Körperbau, Lebensweise. Neumann-Neudamm, Melsungen 1986, ISBN 3-7888-0495-5. Wolfgang Epple: Eulen. Die geheimnisvollen Vögel der Nacht. Gräfe & Unzer, München 1994, ISBN 3-7742-1790-4 (verglichen mit dem Buch von Mebs und Scherzinger ist dies eher das Buch für „Euleneinsteiger“ – es ist bewusst so einfach geschrieben, dass es auch für Kinder und Jugendliche geeignet ist). Weblinks Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch) Deutsche Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Eulen (AG Eulen) Waldohreule auf owlpages.com (englisch) Eulenwelt.de Berliner Ornithologische Arbeitsgemeinschaft Federn der Waldohreule Einzelnachweise Eigentliche Eulen Vogel des Jahres (Schweiz)
449523
https://de.wikipedia.org/wiki/Proklos
Proklos
Proklos (griechisch Próklos mit dem Beinamen ho diádochos „der Nachfolger“, auch Proklos der Lykier genannt, lateinisch Proclus; * wahrscheinlich 7. oder 8. Februar 412 in Konstantinopel; † 17. April 485 in Athen) war ein spätantiker griechischer Philosoph und Universalgelehrter. Als einer der einflussreichsten Wortführer des Neuplatonismus spielte er in der Geschichte dieser philosophischen und religiösen Strömung eine herausragende Rolle. Er leitete fast ein halbes Jahrhundert lang die neuplatonische Schule von Athen, deren Arbeit er durch seine intensive Lehrtätigkeit und seine zahlreichen Schriften prägte. Das Kernelement der proklischen Philosophie ist die Theorie der Emanation, des stufenweisen Hervorgehens der Vielheit aus einer umfassenden, undifferenzierten Einheit, die als der Ursprung von allem gilt. Auf diesen ewig andauernden Entfaltungsprozess wird die Existenz einer hierarchisch aufgebauten, nach den Emanationsstufen gegliederten Weltordnung zurückgeführt. Da zwischen den unterschiedlichen Ebenen des so strukturierten Weltsystems vermittelnde Instanzen benötigt werden, die den Zusammenhalt der Welt ermöglichen, erhält das Ganze einen sehr komplexen Charakter. Als Gegenbewegung zur Emanation wird ein Zurückstreben des Hervorgegangenen zum Ausgangszustand angenommen. Daraus ergibt sich im proklischen Modell eine triadische (dreischrittige) Struktur des Weltprozesses: Bleiben in der Ursache, Hervortreten aus ihr und Rückwendung zu ihr. Proklos schrieb umfangreiche Kommentare zu Dialogen Platons sowie systematische Darstellungen seiner Philosophie und paganen Theologie, ferner Werke über Themen der Mathematik, Physik und Astronomie. Seine Hymnen an verschiedene Götter lassen sein starkes religiöses Engagement erkennen. Als begeisterter Anhänger der griechischen Religion stand er in Opposition zum Christentum, das damals bereits die Staatsreligion des Römischen Reichs war. Im Mittelalter wirkte das Weltbild des Proklos vielfältig nach, vor allem auf indirektem Weg. Außerordentlich wirkmächtig waren die von seiner Denkweise geprägten Schriften des spätantiken christlichen Theologen Pseudo-Dionysius Areopagita. Auch der auf seinem Emanationskonzept fußende Liber de causis (Buch über die Ursachen) fand viel Beachtung. Ab dem 13. Jahrhundert standen den west- und mitteleuropäischen Gelehrten auch lateinische Übersetzungen von Hauptwerken des Proklos zur Verfügung. Sie beeinflussten namhafte neuplatonisch orientierte Denker, darunter Nikolaus von Kues. In der arabischsprachigen Welt waren im Mittelalter ebenfalls Grundzüge der proklischen Philosophie bekannt. Im frühen 19. Jahrhundert erhielt Hegel vom triadischen Denken des Proklos einen wesentlichen Impuls für seine dialektische Geschichtsdeutung. Damit begann eine „Proklos-Renaissance“. Andererseits richteten Gegner der hegelschen Dialektik heftige Kritik gegen den antiken Neuplatoniker, der als Vorläufer Hegels wahrgenommen wurde. In der neueren Forschung steht das Bemühen um ein genaueres Verständnis des anspruchsvollen proklischen Weltmodells im Vordergrund, doch gehören auch Vergleiche mit Hegel weiterhin zu den aktuellen Themen. Leben Die Familie des Proklos stammte aus Xanthos, einer Stadt in der kleinasiatischen Landschaft Lykien. Sein Vater Patrikios (Patricius) und seine Mutter Markella (Marcella) – beide Namen sind lateinischen Ursprungs – gehörten der dortigen Oberschicht an. Vermutlich war Patrikios der Sohn des Flavius Eutolmius Tatianus, eines Lykiers, der in der Reichsverwaltung bedeutende Ämter bekleidet hatte. Tatianus hatte von 388 bis 392 als Praefectus praetorio Orientis an der Spitze der Zivilverwaltung der wichtigsten Provinzen im Osten des Reichs gestanden, war dann aber beim Kaiser in Ungnade gefallen und in seine lykische Heimat zurückgekehrt. Patrikios war ein wohlhabender Anwalt. Zur Zeit der Geburt des Proklos, die aufgrund eines Horoskops gewöhnlich auf den 7. oder 8. Februar 412 datiert wird, lebte die Familie in der Hauptstadt Konstantinopel, doch kehrte sie bald darauf nach Xanthos zurück. Dort erhielt Proklos den üblichen Schulunterricht bei einem Grammatiklehrer. Nach dem Abschluss der Schulbildung begab er sich nach Alexandria, wo er Rhetorik, Latein und römisches Recht studierte, da er den Beruf seines Vaters ergreifen sollte. Doch eine Reise nach Konstantinopel leitete eine Wende ein; wohl unter dem Einfluss dortiger Gelehrter wandte er sich der Philosophie zu. Nach seiner Rückkehr nach Alexandria gab er die bisherigen Studienfächer auf und begann bei Olympiodoros dem Älteren, einem renommierten Ausleger der Schriften des Aristoteles, Philosophie zu studieren. Außerdem eignete er sich auch mathematische Kenntnisse an. Dabei soll er durch ein außergewöhnlich leistungsfähiges Gedächtnis aufgefallen sein. Nach Beendigung dieser Studien ging Proklos als etwa Neunzehnjähriger – also 430/431 – nach Athen, wo er zunächst den Neuplatoniker Syrianos kennenlernte. Syrianos stellte ihn dem bereits betagten Philosophen Plutarch von Athen vor, dem Gründer und Leiter der neuplatonischen Schule von Athen, die dort die Tradition der Platonischen Akademie fortsetzte. So wurde Proklos ein Schüler Plutarchs, der ihn sehr schätzte und ihn in Aristoteles’ Schrift De anima (Über die Seele) und Platons Dialog Phaidon einführte. Plutarch starb etwa zwei Jahre nach Proklos’ Ankunft. Sein Nachfolger als Schulleiter wurde Syrianos, an den sich Proklos nun als Schüler und Freund anschloss. Syrianos nahm ihn in sein Haus auf, behandelte ihn wie einen Familienangehörigen und betrachtete ihn als seinen Wunschnachfolger in der Schulleitung. Da die Schule über ein beträchtliches Vermögen verfügte und keine Unterstützung durch Außenstehende benötigte, konnte die Philosophengemeinschaft ein materiell sorgloses Leben führen und ihre Unabhängigkeit wahren. Bei Syrianos studierte Proklos, dem üblichen Lehrplan der Neuplatoniker folgend, erst die Schriften des Aristoteles, wofür er weniger als zwei Jahre benötigte, und danach die Philosophie Platons. Als Syrianos um 437 starb, übernahm der erst etwa fünfundzwanzigjährige Proklos die Leitung der Schule, die er dann bis zu seinem Tod 485 innehatte. Diesem Amt verdankte er seinen Beinamen oder Titel diadochos („der Nachfolger“); damit war gemeint, dass er als Nachfolger Platons, der die Akademie um 387 v. Chr. gegründet und bis zu seinem Tod geleitet hatte, das Oberhaupt der platonischen Schule war. Zu seinen namhaftesten Schülern zählten Isidor, Ammonios Hermeiou, Zenodotos und der aus Palästina stammende Marinos von Neapolis, der später seine Nachfolge als Schulleiter antrat. Proklos führte ein asketisches, arbeitsreiches, sehr diszipliniertes Leben und blieb unverheiratet. Nach der rühmenden Schilderung des Marinos von Neapolis war er tagsüber unermüdlich als Lehrer und Schriftsteller tätig, nachts widmete er sich dem Gebet und schlief nur wenige Stunden. Täglich soll er am Morgen mindestens fünf Unterrichtseinheiten (práxeis, „Lektionen“) absolviert haben, wobei es um die Auslegung von Texten der philosophischen Schulautoren ging; danach widmete er sich der schriftstellerischen Arbeit und den Diskussionen mit seinen Kollegen. Abends erteilte er wiederum Unterricht. Die Lehrveranstaltungen fanden in einem Privathaus statt, das Plutarch gehört hatte und nach dessen Tod Sitz der Schule und Wohnstätte ihres Leiters blieb. Dieses Bauwerk identifizieren manche Archäologen mit dem „Gebäude Chi“ am Südhang der Akropolis, das daher „Haus des Proklos“ genannt wird. Das Gebäude Chi wurde 1955 teilweise ausgegraben und vom Ausgrabungsleiter Ioannis Meliades als Sitz der neuplatonischen Schule betrachtet. Die Hypothese von Meliades ist in der Forschung auf Zustimmung, aber auch auf Widerspruch gestoßen. Proklos beschränkte sich nicht auf die Leitung seiner Schule, sondern zählte auch Beteiligung am öffentlichen Leben zu den Aufgaben eines Philosophen. Bei einer städtischen Behörde setzte er sich erfolgreich für die Bildungsförderung durch eine leistungsabhängige Besoldung qualifizierter Rhetoriklehrer ein. Er überprüfte persönlich den Arbeitseifer und die Leistungen derer, die auf seine Empfehlung mit öffentlichen Mitteln unterstützt wurden. Kommunalpolitisch engagierte er sich durch Teilnahme an Bürgerversammlungen, bei denen er das Wort ergriff und zu aktuellen Fragen Stellung nahm. Zum Christentum, das damals die Staatsreligion des Oströmischen Reichs war, stand er in heftiger Opposition; er warf den Christen Ignoranz, Unfrömmigkeit, innere Zwiespältigkeit ihrer Seelen und Zwietracht untereinander vor. Ein Konflikt, der wohl mit seiner antichristlichen Haltung zusammenhing, veranlasste ihn, für ein Jahr nach Lydien auszuweichen, dann kehrte er nach Athen zurück. Er starb am 17. April 485. Seine Gebeine wurden in der Grabstätte des Syrianos beigesetzt, wie dieser es gewünscht hatte. Obwohl die Grabinschrift des Syrianos gefunden wurde, ist die Grabstätte nicht genau lokalisierbar. Werke Proklos war ein außergewöhnlich vielseitiger und fruchtbarer Schriftsteller. Im Lauf seines langen Gelehrtenlebens verfasste er mehr als fünfzig Werke, von denen viele erhalten sind. Obwohl sie alle in griechischer Sprache geschrieben wurden, werden ihre Titel oft lateinisch angegeben. Philosophische Kommentare Im Rahmen seiner Lehrtätigkeit kommentierte Proklos eine Reihe von Werken des Aristoteles und Platons. Ob von seiner mündlichen Aristoteleskommentierung Aufzeichnungen angefertigt wurden, ist unbekannt. Von seinen Kommentaren zu Dialogen Platons ist keiner vollständig überliefert. Zu einem beträchtlichen Teil erhalten sind diejenigen zum Ersten Alkibiades, zum Kratylos (in Form von Auszügen aus Aufzeichnungen eines Schülers), zum Parmenides und zum Timaios sowie eine Sammlung von 17 Abhandlungen zur Politeia, darunter ein Kommentar zum in diesem Dialog enthaltenen Mythos des Er. Gänzlich oder bis auf knappe Fragmente verloren sind seine Kommentare zum Gorgias, Phaidon, Phaidros, Philebos, Sophistes, Symposion und Theaitetos. Von einem Kommentar zu den Enneaden Plotins sind nur Fragmente erhalten. Beim Kommentieren ging Proklos in manchen Fällen nach einer Methode vor, die von den Bedürfnissen des Unterrichts bestimmt war und für die Folgezeit vorbildlich wurde: Er bot jeweils zu einem Abschnitt des kommentierten Werks zunächst eine allgemeine Erörterung des Inhalts, in der er auch auf fremde Lehrmeinungen einging, und anschließend dem Text folgend eine Auslegung von einzelnen Aussagen, die „Lesung“ (léxis), in der er erklärungsbedürftige Stellen erläuterte und Einzelheiten behandelte. Dieses Schema stammte aus der mündlichen Auslegung. Einer Forschungshypothese zufolge hielt sich Proklos in denjenigen Kommentaren, die nur wenig veränderte Fassungen seiner Vorlesungen waren, weitgehend an das Schema, während er in den Fällen, in denen er den Vorlesungstext stärker überarbeitete oder den Kommentar von vornherein als schriftliches Werk konzipierte, freier verfuhr oder ganz auf das Schema verzichtete. Philosophische und religiöse Handbücher und Abhandlungen Die wichtigsten theologisch-metaphysischen Werke des Proklos sind zwei Handbücher. Das eine trägt den Titel Grundlagen (oder: Elemente) der Theologie (Stoicheíōsis theologikḗ, lateinisch Elementatio theologica); es ist eine Zusammenstellung von 211 Lehrsätzen mit der zugehörigen Beweisführung. Das andere, die Platonische Theologie (Peri tēs kata Plátōna theologías, lateinisch Theologia Platonica), ist eine umfassende Darstellung der proklischen Götterlehre in sechs Büchern, die der Autor dem Philosophen Perikles von Lydien widmete. Jedes der sechs Bücher beschreibt eine Stufe der Götterhierarchie mit Heranziehung der entsprechenden Passagen der platonischen Dialoge. Ein Text des Proklos zur theoretischen Begründung von Opfern und Magie, dessen überlieferter Titel Über die priesterliche Kunst sicher nicht authentisch ist, ist nur bruchstückweise überliefert. Drei weitere Abhandlungen über religiöse Themen sind verloren: Über die mythischen Symbole, Über die Mutter der Götter (gemeint ist Kybele) und Über die Herbeirufung (einer Gottheit). Unter der seit dem Spätmittelalter gängigen Bezeichnung tria opuscula („drei kleine Werke“) werden drei religionsphilosophische Abhandlungen des Proklos zusammengefasst. Diese Schriftengruppe ist nur in einer mittelalterlichen lateinischen Übersetzung und in einer abgewandelten griechischen Fassung aus byzantinischer Zeit überliefert; ferner liegen einige Zitate und Auszüge in griechischer Sprache vor. Zwei der Abhandlungen, Über zehn die Vorsehung betreffende Zweifelsfragen und Über die Vorsehung und das Schicksal und das, was an uns liegt, behandeln Probleme, die sich aus der Annahme einer göttlichen Vorsehung ergeben. In der dritten Schrift, Über die Beschaffenheit der Übel, untersucht der Philosoph die Fragen, inwiefern Übel existieren, wo und aus welchem Grund sie bestehen und was über die Art ihrer Existenz ausgesagt werden kann. Verloren sind eine Einführung in die platonische Philosophie, die lateinisch Prolegomena ad Platonis philosophiam genannt wird, sowie mehrere Abhandlungen über einzelne Themen des Platonismus. Eine Entgegnung des Proklos auf die Kritik des Aristoteles an Platons Timaios ist anhand einer indirekten Überlieferung teilweise rekonstruierbar. Eine Schrift, in der Proklos mit achtzehn Argumenten beweisen wollte, dass die Welt weder einen Anfang noch ein Ende habe, ist verloren und ihr authentischer Titel ist unbekannt, doch kann ihr Inhalt anhand einer Gegenschrift des Christen Johannes Philoponos rekonstruiert werden. Nur auszugsweise erhalten ist die Abhandlung Über den Ort (Peri tópou). Kommentare zu Dichtungen Proklos verfasste eine Auslegung von Hesiods Lehrgedicht Werke und Tage sowie einen sehr umfangreichen Kommentar zu den Chaldäischen Orakeln, einer kaiserzeitlichen religiösen Lehrdichtung, die bei den spätantiken Neuplatonikern in höchstem Ansehen stand. Die Deutung der Orakel ist nicht erhalten geblieben, aber anhand byzantinischer Quellen teilweise rekonstruierbar. Die Auslegung von Hesiods Gedicht, die in erster Linie auf Plutarchs Kommentar zu diesem Werk fußt, ist in den Hesiod-Scholien fragmentarisch überliefert. Mathematik und Naturwissenschaft Zum erhaltenen Œuvre des Proklos zählen auch drei Schriften über mathematische und naturwissenschaftliche Themen. Er verfasste einen Kommentar zum ersten Buch von Euklids Elementen (Eis to a' tōn Eukleídou stoicheíōn) mit zwei Vorreden über die Geschichte der Mathematik, die eine wichtige wissenschaftsgeschichtliche Quelle sind. Dieses Werk ist der einzige heute vorliegende antike Euklid-Kommentar. In den Grundlagen der Physik (Stoicheíōsis physikḗ, lateinisch Institutio physica oder Elementatio physica) fasste Proklos Erkenntnisse aus den Büchern 6 und 8 der Physik des Aristoteles zur Bewegungslehre zusammen; außerdem verarbeitete er Material aus dem ersten Buch von Aristoteles’ Abhandlung Über den Himmel. In der Kurzen Darstellung astronomischer Hypothesen (Hypotýpōsis tōn astronomikōn hypothéseōn) behandelte er die Astronomie des Ptolemaios. Diese Schrift gilt als die beste antike Einführung in das unter der Bezeichnung Almagest bekannte Standardwerk des einflussreichen Astronomen, das für das spätantike und mittelalterliche Weltbild eine wegweisende Rolle spielte. Hymnen Als eifriger Verehrer der Götter dichtete Proklos eine Reihe von Hymnen, von denen nur sieben erhalten geblieben sind. Sie zeugen von seiner guten Kenntnis der Verskunst und der epischen Sprache; er spielte oft kunstvoll mit seinen literarischen Vorlagen. Einen Ausdruck einer subjektiven Frömmigkeit sucht man in diesen Gedichten aber vergebens; die Stimmung wirkt echt, aber die Sprache ist konventionell. Es ging Proklos nicht um Affekt, nicht um das Ausdrücken einer gefühlsbetonten, personengebundenen Haltung, sondern um ein sakrales Handeln, das Subjektives und Irrationales ausschließt. Einige der verlorenen Hymnen dienten dem Kult orientalischer Gottheiten, denn Proklos beschränkte sich nicht auf die Anrufung griechischer Götter, sondern hatte auch für fremdländische religiöse Traditionen große Wertschätzung. Er meinte, ein Philosoph solle nicht nur die Götter seiner Stadt feiern, sondern Hierophant des ganzen Kosmos sein. Die sieben erhaltenen Hymnen haben hexametrische Form. Der erste ist an den Sonnengott Helios gerichtet, der zweite an Aphrodite, der dritte an die Musen, der vierte an die Götter im Allgemeinen, der fünfte an Aphrodite als Schutzgöttin von Proklos’ lykischer Heimat. Mit dem sechsten wandte sich der Philosoph an Rhea, Hekate und Zeus, wobei er Zeus mit dem römischen Gott Ianus identifizierte. Der siebte Hymnus ist eine Anrufung der Athene. Lehre Zielsetzung, Voraussetzungen und Grundlagen Proklos verstand sich – wie bei den Neuplatonikern üblich – als getreuer Interpret der Philosophie Platons und Wahrer der authentischen platonischen Tradition. Dabei trat er besonders als Systematiker hervor. Sein Anliegen war die Zusammenstellung des platonischen Gedankenguts und der damit übereinstimmenden Inhalte anderer Traditionen zu einem wohlgeordneten, schulmäßig vermittelbaren Lehrstoff. Es gelang ihm, die neuplatonische Philosophie und Theologie erstmals in ihrer Gesamtheit als einheitliches, geschlossenes System darzustellen, indem er ihre Lehrsätze als Glieder einer Kette von Folgerungen ableitete und sie als notwendige Konsequenzen aus plausiblen Annahmen erscheinen ließ. Damit errichtete er das Gebäude einer umfassenden Weltdeutung, die aus seiner Sicht sowohl wissenschaftlich begründet war als auch mit den richtig verstandenen Aussagen der anerkannten Autoritäten einschließlich der großen Dichter im Einklang war. Ein relativ distanziertes Verhältnis hatte Proklos allerdings zu Aristoteles. Aristotelische Schriften gehörten zwar an der neuplatonischen Philosophenschule zum Lehrstoff, doch beurteilte Proklos Teile der aristotelischen Lehre kritisch. In Fragen, die zwischen den Platonikern und den Aristotelikern strittig waren, nahm er nachdrücklich für die platonische Position Stellung. Die Grundlage für die Konstruktion des proklischen Systems war die Interpretation ausgewählter platonischer Dialoge. Proklos stellte fest, der Parmenides sei für die Metaphysik maßgeblich und der Timaios für die Kosmologie; in diesen beiden Dialogen sei das gesamte platonische Weltbild enthalten. Da die Metaphysik als vornehmster und weitaus wichtigster Teil der Philosophie galt, meinte Proklos, im Parmenides sei der Kern der platonischen Lehre zu finden. Wie alle Neuplatoniker unterschied Proklos scharf zwischen dem nur geistig erfassbaren Bereich der reinen Denkinhalte und der sinnlich wahrnehmbaren Welt der materiellen Dinge. Man sprach von einer „geistigen Welt“ (griechisch kósmos noētós, lateinisch mundus intelligibilis). Es galt als evident, dass die Sinneswelt ein Abbild der geistigen Welt sei, der sie ihre Existenz verdanke. Daraus ergab sich für die Neuplatoniker eine hierarchische Rangordnung, in der das Geistige dem Materiellen prinzipiell übergeordnet ist. Das Niedrigere ist ein Erzeugnis des Höheren, nach dessen Vorbild es gestaltet ist und an dessen Eigenschaften es Anteil hat, soweit seine Daseinsbedingungen das gestatten. Es ist vom Höheren in jeder Hinsicht abhängig, während das Höhere in keiner Weise auf das Niedere angewiesen ist. Das Geistige ist als übergeordneter Bereich das Allgemeinere und Einfachere, das sinnlich Wahrnehmbare tritt verstreut in der Vielfalt und individuellen Besonderheit der einzelnen Sinnesobjekte in Erscheinung. An der Spitze dieser Ordnung, noch über dem Geistigen, steht „das Eine“, das absolut transzendente und vollkommen einfache höchste Prinzip. Es ist der Ursprung von allem und selbst von nichts abhängig. Diese allgemein akzeptierte Grobeinteilung bildete in der Spätantike die Ausgangsbasis für weitere Differenzierung; außerdem waren die Zusammenhänge zwischen den Hauptbereichen zu klären. Schon seit Plotin (205–270), dem Begründer des Neuplatonismus, bemühten sich die Neuplatoniker, ihrem Modell der Gesamtwirklichkeit eine gründlich ausgearbeitete und plausibel begründete Struktur zu geben und damit die Hypothesen ihrer Vorgänger, die heute als „Mittelplatoniker“ bezeichnet werden, zu übertreffen. Plotin hatte eine dreiteilige Grundstruktur der metaphysischen Sphäre mit drei hierarchisch geordneten Prinzipien angenommen: Unter dem absolut undifferenzierten Einen (griechisch to hen) steht der überindividuelle Geist oder Intellekt (griechisch nous), gefolgt vom seelischen Bereich, der den untersten Teil der rein geistigen Welt bildet. Unmittelbar unter dem Seelischen beginnt die Sphäre der Sinnesobjekte, der gestalteten Materie; ihr kommt in der Weltordnung der niedrigste Rang zu. Die spätantiken Neuplatoniker übernahmen die Grundzüge von Plotins Konzept, widersprachen ihm aber in manchen Fragen. Auch untereinander waren sie oft verschiedener Meinung. Im Verlauf der Geschichte des antiken Neuplatonismus zeichnete sich eine Tendenz zu immer komplexerer Ausgestaltung des Weltmodells ab; zusätzliche Instanzen und Zwischenstufen zwischen den verschiedenen Daseinsebenen schienen erforderlich und wurden eingefügt. In diesem Prozess einer fortschreitenden Differenzierung und Verfeinerung des Weltbilds spielte Proklos eine Schlüsselrolle. Er begnügte sich aber nicht damit, Hypothesen aufzustellen und die theoretische Spekulation voranzutreiben. Als Philosophielehrer verfolgte er das Hauptziel, seinen Schülern und Lesern Orientierung im Kosmos zu bieten und ihnen damit zugleich eine Anleitung zu einer idealen Lebensführung nach philosophischen Grundsätzen zu geben. Einsicht in die Beschaffenheit der Welt und Umsetzung der Erkenntnisse im Handeln hingen nach seinem Verständnis unauflöslich zusammen. Das Umfeld für die Praxis bildete das Milieu der Philosophenschule, in der die Platoniker ein gemeinsames Leben führten und durch Freundschaften und familiäre Verknüpfungen miteinander verbunden waren. Wie es der platonischen Tradition und insbesondere der neuplatonischen Denkweise entsprach, bildeten für Proklos Religion und Philosophie eine untrennbare Einheit. Er praktizierte den im spätantiken „Heidentum“ verbreiteten Synkretismus, die Verschmelzung verschiedener religiöser Überlieferungen und philosophischer Schulrichtungen. Die synkretistische Synthese war den Neuplatonikern ein wichtiges Anliegen; sie brachte eine ganzheitliche Weltdeutung hervor, die der christlichen Schöpfungs- und Erlösungslehre als Alternative entgegengestellt werden konnte. Den stabilen Kern von Proklos’ System machten die herkömmlichen Grundüberzeugungen der Neuplatoniker aus; ihnen passte er Gedankengut anderer Herkunft durch entsprechende Interpretation an. Das Bemühen um Harmonisierung war ein wichtiger Teil seiner Arbeit. Die Entwicklung einer allgemeinen Methodenlehre lehnte Proklos grundsätzlich ab. Er meinte, es könne keine abstrakte Methodenlehre mit absoluter Geltung geben, die von allen besonderen Inhalten abstrahiere; vielmehr müsse die Methode den jeweiligen Inhalten angepasst werden. Die Methode sei nur Hilfsmittel und dürfe nicht zum Selbstzweck werden. Die Struktur der Welt Im Modell des Proklos wird die Existenz der Gesamtheit der Dinge auf ein stufenweises Hervorgehen alles Seienden aus dem Ausgangspunkt, dem Einen, zurückgeführt. Mit dem „Hervorgehen“ ist nicht eine Schöpfung oder Entstehung in der Zeit gemeint; vielmehr ist die Welt für Proklos wie für zahlreiche Platoniker zeitlich anfangs- und endlos. Ausdrücke wie „erschaffen“ und „hervorgehen“ dienen in seiner Kosmologie nicht zur Bezeichnung einzelner Ereignisse. Sie sollen nur metaphorisch ausdrücken, dass das Erzeugte oder Hervorgegangene seine Existenz der Existenz der erzeugenden Instanz verdankt. Der Zusammenhang ist, soweit es um die geistige Welt geht, überzeitlich; im Bereich des Zeitlichen kann die Erzeugung als ein endloser Prozess aufgefasst werden. Ein überzeitliches Verhältnis zwischen einer Ursache und einer Wirkung wird zur Unterscheidung von einer ereignishaften Verursachung als „kausale Erzeugung“ bezeichnet. Das Eine ist die oberste, ursprüngliche Realität. Unter ihm sind die einzelnen Wirklichkeitsebenen angeordnet, wobei jede aus der ihr unmittelbar übergeordneten hervorgeht. Das Allgemeinere ist immer das Höherrangige und Hervorbringende, das Speziellere das Niedrigere und Erzeugte. Das Hervorgehen wird in der philosophischen Terminologie als Emanation (Ausfließen, Ausströmen) bezeichnet; die Ebenen werden in der neuplatonischen Fachsprache „Hypostasen“ genannt. So entsteht eine hierarchische Stufenleiter, die bis zur Materie hinabreicht, wo die unterste Existenzweise anzutreffen ist. Die Ursächlichkeit ist nicht so zu verstehen, dass eine Stufe nur von der nächsthöheren hervorgebracht wird; vielmehr wird jede Stufe indirekt durch alle ihr vorangehenden produziert und unmittelbar durch die nächsthöhere. Generell gilt der Grundsatz: Je allgemeiner und damit dem Einen näher eine Ebene ist, desto mächtiger macht sich ihr Einfluss auf alles ihr Nachgeordnete geltend. Der Ursprung von allem Proklos behauptet, es müsse eine erste und höchste Ursache geben. Die Existenz einer Ursache von allem, was ist, hält er für beweisbar. Für die gegenteilige Annahme sieht er drei Möglichkeiten, die nach seiner Argumentation alle absurd sind: Entweder hat Seiendes keine Ursache, dann ist der Satz vom zureichenden Grund verletzt; in diesem Fall ist die Welt chaotisch und somit Wissenschaft unmöglich; oder Ursachen und Wirkungen sind zirkulär, dann muss das Hervorgebrachte das Hervorbringende hervorbringen und die Ursache ist der Wirkung nicht überlegen; oder es gibt eine endlose Ursachenkette, und dann ist Erkenntnis unmöglich. Wissenschaft existiert aber, in der Welt besteht Ordnung, Ursachen stehen über ihren Wirkungen und Seiendes ist erkennbar. Also muss es eine Kausalkette geben, deren erstes Glied die Ursache von allem ihm Nachrangigen ist. Nach der Lehre des Proklos ist es notwendig, dass die Ursache alles Seienden dasjenige ist, an dem alles Seiende Anteil hat, oder fachsprachlich ausgedrückt: dasjenige, was von allem Seienden partizipiert wird. Dies ist im Sinne des platonischen Begriffs der „Teilhabe“ (Methexis) zu verstehen. Mit Teilhabe oder Partizipation ist gemeint, dass dem Partizipierenden die Eigenschaft, für die das Partizipierte verantwortlich ist, zukommt, weil das Partizipierte ihm diese Eigenschaft verleiht. Das Partizipierte hat also als solches immer die Funktion der Ursache, denn es gibt dem Partizipierenden eine bestimmte Beschaffenheit, die das Partizipierende als Entität konstituiert. Die Anzahl der Eigenschaften einer partizipierenden Entität ergibt sich aus der Anzahl der Ursachen, welche diese Entität partizipiert. Die allgemeinste Eigenschaft, die von allem Seienden ausgesagt wird, ist „x ist eines“. Auch auf eine Vielheit trifft diese Aussage zu, wenngleich in schwächerem Grad als auf eine Einheit, denn jede Vielheit ist in gewisser Hinsicht zugleich „eines“ und muss daher am Prinzip „das Eine“ Anteil haben. Die Eigenschaft, eines zu sein, ist somit abgestuft, aber in allem Seienden in geringerem oder höherem Grad vorhanden. Keine andere Eigenschaft ist so allgemein wie diese. Sogar das Nichts ist „eines“ und insofern am „Einen“ beteiligt, es ist nicht ganz und gar nichts. Somit ist „das Eine“ die erste und höchste Ursache und zugleich das erste Prinzip, denn es ist dasjenige, was für das allgemeinste Prädikat verantwortlich ist. Für diese These bringt Proklos einen Beweis vor, mit dem er zu zeigen versucht, dass das Gegenteil des zu beweisenden Satzes absurd sei. Die Schlüssigkeit des Beweises ist in der Forschung umstritten. Hier stellt sich die Frage nach dem Status des Einen in der Ontologie, der Lehre vom Sein oder vom Seienden als solchem. Das Eine muss schlechthin einfach und einheitlich, also absolut undifferenziert sein; es darf keinen Aspekt von Vielheit aufweisen, da es sonst eine noch höhere, ihm übergeordnete Einheit geben müsste, die seine Einheit zu stiften hätte, womit ein infiniter Regress einträte. Somit kann das Eine nicht im Bereich des Seienden zu suchen sein, denn alles Seiende ist „geeinigt“, das heißt, es trägt in sich neben der Einheit auch eine Vielheit und bedarf einer Instanz, die es einigt. Das schlechthin Eine kann aber auch nicht „nicht seiend“ sein in dem Sinn, dass ihm das Sein mangelt, denn dann könnte es nicht den seienden Dingen das Sein verleihen. Also muss das Eine „überseiend“ sein: Es „ist“ nicht, aber es ist das Prinzip von allem, was ist. Es ist absolut transzendent, das heißt, es ist kein „Etwas“, das sprachlich oder gedanklich erfasst werden könnte. Daher kann es nur indirekt durch Spekulation aus den ihm nachgeordneten Entitäten erschlossen werden. Eine Konsequenz aus der absoluten Einfachheit und Undifferenziertheit des Einen ist, dass es von allen positiven Bestimmungen frei sein muss. Man darf ihm also nichts hinzufügen; Bestimmungen – das heißt Aussagen des Typus „Das Eine ist x“ – wären Hinzufügungen und würden als solche die Einheit aufheben, denn sie würden eine Polarität einführen. Sinnvoll sind daher nur verneinende Aussagen, mit denen festgestellt wird, was das überseiende Eine nicht ist. Mit solchen Aussagen nähert man sich dem Einen an, indem man alle Bestimmungen entfernt und damit unangemessene Vorstellungen über das Absolute beseitigt. Dafür verwendet Proklos den Ausdruck trópos tēs aphairéseōs („Vorgehensweise des Entfernens“). Die Verneinungen sind nicht privativ („beraubend“) gemeint, das heißt, sie weisen nicht auf ein Fehlen von etwas hin. Sie sollen nur die Beschränkungen aufheben, die sich aus positiven Bestimmungen immer ergeben. Damit erweisen sich die Verneinungen als produktiv; sie bringen den, der sie vornimmt, der Wahrheit näher. Eine solche Annäherung an die Wahrheit des Einen ist naturgemäß und wünschenswert, denn es entspricht der Natur des Niederen, nach dem Höheren zu streben und zu ihm aufzusteigen. Das Höhere erscheint dem Niederen als „gut“, und das Eine ist als erste Ursache das Höchste und somit aus menschlicher Sicht das Erstrebenswerteste, „das Gute“ schlechthin. Proklos drückt seine Wertschätzung für die Verneinung der Bestimmungen aus, indem er den Aufstieg des verneinenden Denkens zum Einen in religiöser Sprache beschreibt; er sieht darin „einen einzigen theologischen Hymnus auf das Eine durch diese Verneinungen“. Fachsprachlich wird diese Herangehensweise als „negative Theologie“ bezeichnet. Allerdings erweisen sich auch die Verneinungen als unzulänglich, auch sie können dem unsagbaren Absoluten letztlich nicht gerecht werden. Daher müssen auch sie verneint werden. Mit der „Negation der Negation“ wird eine weitere Beschränkung aufgehoben, die sich aus der Polarität des Denkens ergeben hat. Das Denken übersteigt sich selbst, überwindet seine Polarität und schafft damit eine Voraussetzung für das Erfassen von Einheit. Dieses Erfassen, das ein Erfahren ist, ist das Ziel des Philosophen. Das Eine ist erfahrbar, da in der Seele etwas Göttliches ist, das aufgrund seiner Verwandtschaft mit dem Einen eine solche Erfahrung ermöglicht. Den Zugang zum „Einen selbst“ verschafft das „Eine in uns“, das die Seele in sich selbst findet. Die Voraussetzung dafür ist die aktive Bemühung desjenigen, der die Hindernisse entfernt. Die Negation der Negation ist also keine Rückkehr zum Ausgangspunkt nach Beseitigung eines Irrtums, sondern ein Voranschreiten in Richtung auf das Ziel. Vermittlung und Zusammenhalt Für das proklische Modell besteht eine Schwierigkeit in der Notwendigkeit zu erklären, wie aus dem überseienden Einen Seiendes hervorgehen kann und die absolute Transzendenz des Einen dennoch gewahrt bleibt. Eine unmittelbare Erzeugung von Seiendem durch das Eine wäre mit der absoluten Transzendenz des höchsten Prinzips unvereinbar. Daher werden vermittelnde Instanzen benötigt, die zwar überseiend, aber für Seiendes partizipierbar sind. Diese Instanzen nennt Proklos „Henaden“ (Einheiten). Vermittelnd wirken außerdem die beiden Prinzipien des Begrenzenden und des Unbegrenzten, die dort, wo sie als Urprinzipien wirken, ebenfalls als überseiend aufzufassen sind. Das Problem der Vermittlung stellt sich aber nicht nur im Grenzbereich zwischen Transzendentem und Seiendem, sondern auch innerhalb des Bereichs des Seins. Für Proklos ist die Gesamtheit der seienden Entitäten ein Ganzes, dessen Bestandteile untereinander in vielfachem und engem Zusammenhang stehen, insbesondere in Ursache-Wirkung-Beziehungen. Da die Bestandteile von unterschiedlicher Natur sind, ist die Erklärung des Sachverhalts, dass sie trotz ihrer Verschiedenartigkeit zusammenhängen können, eine der Hauptaufgaben der Philosophie. Benötigt wird eine Vermittlung, die eine Gemeinschaft (koinōnía) zwischen zwei unterschiedlichen Entitäten oder Daseinsebenen ermöglicht. Es muss Faktoren geben, welche die Dinge zusammenfügen und zusammenhalten, indem sie zwischen ihnen vermitteln, den Gegensatz überbrücken und so die Welt strukturieren. Vermittlung bewirkt, dass die Glieder eines seienden Ganzen aufeinander bezogen sind und eine Einheit bilden, aber dabei nicht ineinander aufgehen und ihre Unterschiedlichkeit einbüßen, sondern ihr je eigenes Wesen bewahren. Es muss Gründe dafür geben, dass in der Vielheit Einheit, in der Einheit Vielheit bestehen kann. Diese Gründe liegen nach der proklischen Theorie in der „triadischen Gestalt“ (schḗma triadikón) des Seienden, denn es ist die „Trias“ (Dreiheit), die ein „Zugleich“ von Einheit und Unterschiedenheit ermöglicht. Die Besonderheit der Dreiheit besteht darin, dass sie in sich Einheit und Zweiheit umfasst und selbst die „Mischung“ (miktón) beider ist, womit das dritte Element hinzutritt. Sie ist also eine Einheit aus drei Elementen, bei denen es sich sowohl um drei Aspekte einer einzigen Realität als auch um drei Teile eines Verursachungsprozesses handelt. Die Trias ist Einheit in der Differenz. Als Prinzip begründet sie alles Sein und damit auch alles Denken: Da alles Seiende triadisch strukturiert ist, muss sich auch die Bewegung des Denkens, das dem Sein nachgeht, triadisch vollziehen. Diese Struktur zeigt sich in einer Vielzahl von Triaden. Dreiheiten sind überall dort erkennbar, wo die Prinzipien der Identität und der Differenz zusammenwirken, wo sich Einheit entfaltet und damit Vielheit schafft und die Elemente der Vielheit zugleich in der Einheit gesammelt bleiben. Ein Beispiel einer solchen Trias ist „péras (Grenze, Abgrenzendes, Umschließendes), ápeiron (Unbegrenztes, Gestaltloses, Unbestimmtes), miktón (Mischung [von Begrenzung und Grenzenlosem])“. Diese Trias geht durch alles Seiende hindurch und ist auch für das Hervorgehen des Seienden aus dem Überseienden verantwortlich. Das Prinzip der Unbestimmtheit ist zeugende und gebärende „Mächtigkeit“, es bringt Leben hervor; das Prinzip der Begrenzung konstituiert das „Etwas“ als solches, das Bestimmte, Abgegrenzte und damit Definierbare. Diese beiden Prinzipien gehören dort, wo ihnen die größte Ursprünglichkeit und Ursächlichkeit zukommt, dem Bereich des Überseienden an. Wenn sie als Urprinzipien zusammenwirken, entsteht ein „Gemischtes“, das dritte Element der Trias, und das ist das Sein. So erklärt diese Trias die kausale, überzeitliche Erzeugung des Seins. Zu den weiteren Triaden zählen „Seiendheit (Ousia), Selbigkeit, Andersheit“ und „Anfang, Mitte, Ende“. Eine herausragende Sonderstellung nimmt die Trias „monḗ (Verweilen, Verharren), próodos (Hervorgang, Fortschreiten), epistrophḗ (Rückwendung, Rückkehr)“ ein. Sie ist nicht eine Trias neben den anderen, sondern der allen anderen Triaden innewohnende und sie bewegende Grund. Die Einheit ihrer drei Elemente macht den Kern der proklischen Erklärung des Weltzusammenhangs aus; zugleich stellt diese Trias das Strukturprinzip des Geistes und des Denkens dar. Alles Geschehen ist für Proklos zyklisch, und auch die überzeitlichen Zusammenhänge beschreibt er metaphorisch, als wären sie Kreisläufe. Jede Wirkung ist ursprünglich in ihrer Ursache vorhanden. Sie tritt aus der Ursache heraus, schreitet von ihr fort und wendet sich aufgrund einer ihr innewohnenden Tendenz wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurück. Alle Kausalzusammenhänge lassen sich im Rahmen dieser dynamischen triadischen Struktur beschreiben, und alle Prozesse setzen sich aus den drei Aspekten „Verharren in der Ursache“, „Hervorgang aus der Ursache“ und „Rückkehr zur Ursache“ zusammen. Der Grund für den Hervorgang ist die überfließende „Überfülle an Mächtigkeit“ der Ursache, der Grund für die Rückwendung ist das Streben des relativ Unvollkommenen nach größerer Vollkommenheit; im Hervorgang ist die Rückkehr bereits angelegt, die Bewegung vollzieht sich im Kreis. So sind Ursachen und Wirkungen durch diese Trias eng verknüpft, die vielgestaltige Welt kann als Ganzheit und untrennbare Einheit aufgefasst und erklärt werden. Die geistige Welt Unterhalb des Überseienden befindet sich in der hierarchischen Rangordnung die geistige Welt, in der die Vernunft, der Nous, waltet. Sie folgt in der Ursachenkette dem Überseienden und geht dem Seelischen und dem Materiellen voran. Die geistige Welt weist eine komplexe Struktur auf, die von mehreren Triaden bestimmt ist, und umfasst eine Reihe von metaphysischen Entitäten, die zugleich als Gottheiten aufgefasst werden und in Rangklassen eingeteilt sind. Bei der detaillierten Darstellung des Modells der geistigen Welt begründet Proklos die einzelnen gedanklichen Schritte, die ihn zu seinen Annahmen geführt haben. Er legt Wert darauf, dem Leser die Notwendigkeit der Schritte einsichtig zu machen, damit der Aufbau seines komplexen Gedankengebäudes als logisch zwingend erscheint. Für die Grundstruktur ist eine Trias verantwortlich, welche die geistige Welt in drei Hauptbereiche gliedert. Bezeichnungen wie „Bereich“ werden hier ohne räumliche Konnotation verwendet; sie sollen nur zur Unterscheidung von ontologisch „Vorgängigem“ und „Nachrangigem“ dienen, drücken also die Rangordnung aus. Die geistige Welt ist überräumlich und überzeitlich. Der höchste Bereich ist die Stätte des intellektuell Erkannten, des noētón. Dort befinden sich Entitäten, die für andere geistige Entitäten Erkenntnisobjekte sind, aber selbst nicht als Erkennende auf geistige Entitäten anderer Bereiche ausgerichtet sind. Erkenntnis ist Partizipation; das Erkenntnisobjekt ist partizipiert, das Erkennende partizipierend. Der Vorrang der Entitäten des höchsten Bereichs ergibt sich daraus, dass sie von dem, was unter ihnen ist, erkannt und somit partizipiert werden, also diesbezüglich ursächlich sind, selbst aber nicht innerhalb der geistigen Welt andere Bereiche partizipieren, also nicht von anderen geistigen Entitäten abhängen. Das Erkenntnisobjekt ist dem Erkennenden prinzipiell übergeordnet, da sich das Erkennende auf es ausrichtet und nicht umgekehrt. Das Erkannte ist Ursache, das Erkennende ist vom Erkannten verursacht und im Sinne des Rückwendungsprinzips auf seine Ursache ausgerichtet, der es sich erkennend zuwendet. Daher nehmen die „erkannten“ Entitäten in der geistigen Welt den höchsten Rang ein; sie partizipieren nichts Geistiges, sondern nur das, was über dem Geist ist, nämlich die überseienden Henaden und Prinzipien, von denen sie das Sein empfangen. Der mittlere Bereich ist der des sowohl Erkannten als auch Erkennenden: Die dortigen Gottheiten erkennen das, was sich im höchsten Bereich befindet, und werden ihrerseits von dem ihnen Nachrangigen, im untersten Bereich Angesiedelten erkannt. Somit sind sie innerhalb der geistigen Welt sowohl partizipiert als auch partizipierend. Zuunterst befindet sich der Bereich des noerón, des Erkennenden. Dort sind untergeordnete Entitäten, die als Gottheiten das ihnen Vorgängige erkennen, selbst aber nicht für geistige Entitäten anderer Bereiche Gegenstand von Erkenntnis sind. Für das Erkannte ist in der Fachliteratur die Bezeichnung „intelligibel“, für das Erkennende der Ausdruck „intellektuell“ gebräuchlich; wenn aber vom „intelligiblen Kosmos“ die Rede ist, ist die Gesamtheit der geistigen Welt gemeint. Jeder der drei Hauptbereiche ist seinerseits triadisch gegliedert. Dadurch ergibt sich eine Struktur mit verschiedenen Ebenen. Als strukturierendes Prinzip fungiert die Trias „on/ousía (Seiendes/Sein), zōḗ (Leben), nous (Intellekt)“, deren Elemente in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Für die Rangordnung ist auch hier der Grundsatz maßgeblich, dass das Ursächliche und Partizipierte stets über den Wirkungen und dem Partizipierenden steht. Das Ausmaß der Ursächlichkeit einer Entität ist aus der Extension des zugehörigen Prädikats zu erschließen. Am ursächlichsten ist die universellste Ursache in der Welt des Seienden, also diejenige, der das Prädikat mit der größten Extension entspricht. Das ist das Prädikat „x ist“, denn am Sein hat alles Seiende Anteil. Das Sein ist also allem anderen vorgängig. An zweiter Stelle folgt das Leben. Es steht über dem Intellekt, denn alles, was am Intellekt teilhat, hat auch am Leben teil, aber nicht umgekehrt; also ist „Leben“ allgemeiner als „Intellekt“ und somit ursächlicher. Daraus folgt, dass der Intellekt den untersten Rang einnimmt. Die drei Elemente der Trias existieren aber nicht separat, sondern durchdringen einander: Im Sein finden sich Leben und Intellekt nach der Weise des Seins, im Leben Sein und Intellekt nach der Weise des Lebens und im Intellekt Sein und Leben nach der Weise des Intellekts. Im höchsten Hauptbereich, dem des erkannten und keinen anderen Seinsbereich erkennenden Intelligiblen, strukturieren die beiden Triaden „Sein, Leben, Intellekt“ und „Grenze, Grenzenlosigkeit/Grenzenloses, Mischung von Grenze und Grenzenlosigkeit/Grenzenlosem“ gemeinsam. Daraus ergibt sich eine aus drei Triaden zusammengesetzte Trias, die intelligible Trias. Sie ist nach folgendem Schema aufgebaut: Die höchste Ebene, die Seinsebene, ist die der Trias „Grenze, Grenzenlosigkeit, intelligibles Sein“, wobei das intelligible Sein das aus den beiden anderen Elementen „Gemischte“ ist. Diese Ebene geht direkt aus dem Überseienden hervor. Hier dominiert in der Trias das Element Grenze, das heißt, die Mischung erfolgt „gemäß der Grenze“. Daher ist diese Ebene die höchste, denn das Element Grenze hat in der Trias den höchsten Rang und seine Dominanz erzeugt das höchste Mischungsprodukt, das Sein. Die mittlere Ebene, die Lebensebene, geht aus der höchsten hervor. Sie ist von der Trias „Grenze, Grenzenloses, intelligibles Leben“ bestimmt. Hier waltet das Grenzenlose als Urprinzip der „unbegrenzten Wirkmächtigkeit“ (ápeiros dýnamis) und erzeugt durch seine Mischung mit dem Prinzip der Begrenzung das intelligible Leben. Da hier das Grenzenlose innerhalb der Trias dominiert, erfolgt die Mischung „gemäß dem Grenzenlosen“, dem mittleren Element der Trias. Daher ist diese Ebene die mittlere und ihr Mischungsprodukt ist das Leben, das in der Trias „Sein, Leben, Intellekt“ den mittleren Rang einnimmt. Die unterste Ebene, die Intellektebene, wird von der Trias „Grenze, Grenzenloses, intelligibler Intellekt“ bestimmt. Auch hier mischen sich Grenze und Grenzenloses, und diesmal entsteht aus ihrer Mischung der Intellekt des intelligiblen Bereichs. In diesem Fall ist bei der Mischung „das Gemischte“, das unterste Element der Trias „Grenze, Grenzenloses, Mischung beider“, der maßgebliche Faktor. Da gemäß dem untersten Element gemischt wird, kommt das unterste Mischungsprodukt zustande, und dem entspricht der Rang dieser Ebene. Der mittlere Hauptbereich, die Stätte der intelligiblen und zugleich intellektuellen Entitäten, ist ebenfalls durch eine triadisch untergliederte Trias strukturiert. Die intelligible und zugleich intellektuelle Trias ist nach folgendem Schema gestaltet: Auf der höchsten Ebene wirkt die Trias „Sein, Leben, Intellekt“ überwiegend auf die Weise des Seins, ihres höchsten Elements. Der intelligible Aspekt dominiert gegenüber dem Intellektuellen, seine Merkmale prägen die Ebene in erster Linie. Auf der mittleren Ebene wirkt die Trias „Sein, Leben, Intellekt“ nach der Weise des Lebens, ihres mittleren Elements. Dabei sind der intelligible und der intellektuelle Aspekt gleich wirkmächtig. Auf der untersten Ebene wirkt die Trias „Sein, Leben, Intellekt“ überwiegend auf die Weise des Intellekts. Durch die Vorherrschaft des Intellektuellen zeigt diese Ebene ihre Nähe zum unmittelbar nachgeordneten Hauptbereich, dem der intellektuellen Entitäten. Der Hauptbereich des Intellektuellen weist ebenfalls drei Teile auf. Von diesen sind zwei dreifach untergliedert, der dritte besitzt nur ein einziges Element. Somit besteht der intellektuelle Bereich aus insgesamt sieben Entitäten oder Gottheiten, er bildet eine Hebdomade (Siebenheit) mit folgenden drei Teilbereichen: Teilbereich der drei Gottheiten, die Proklos unter der Bezeichnung „intellektuelle Väter“ (noeroí patéres) zusammenfasst. Es handelt sich um drei für den Weltentstehungsmythos der griechischen Volksreligion zentrale Götter: Kronos, dessen Gattin Rhea und den Sohn dieses Paares, den Göttervater Zeus. Sie bilden eine hierarchisch geordnete Trias, in der Kronos als höchste intellektuelle Gottheit für die Grenze, das Sein und den intelligiblen Aspekt des Intellektuellen steht, Rhea als lebenspendende Mutter für das Leben und das wirkmächtige Unbegrenzte und Zeus als unterstes Element der Trias für den „intellektuellen Intellekt“ (noerós nous), den intellektuellen Aspekt innerhalb des intellektuellen Bereichs. Der unterste Rang, den Zeus einnimmt, entspricht der Stellung dieses Gottes im Mythos, wo er als Kind von Kronos und Rhea das von seinen Eltern Verursachte, das „Mischungsprodukt“ ist. Dennoch trägt auch Zeus einen intelligiblen Anteil in sich, da er sich selbst intellektuell erkennt, also für sich selbst intelligibel ist. Kronos zählt zwar im Gesamtrahmen der geistigen Welt zu den intellektuellen Gottheiten, aber aus der Sicht von Zeus ist er intelligibel. Hier zeigt sich besonders deutlich die gegenseitige Durchdringung der Elemente der Triaden. Eine schematische Darstellung der Entitäten der geistigen Welt kann somit nur eine Orientierungshilfe bieten, aber der Komplexität des proklischen Modells nicht gerecht werden. Teilbereich der drei „unbefleckten Wächter“, die in der mythischen Nomenklatur Kureten genannt werden. Diese drei Gottheiten stehen zwischen den intellektuellen Vätern und dem nachgeordneten Bereich des Geschaffenen. Sie werden Wächter genannt, weil sie die intellektuellen Väter „bewachen“. Damit ist gemeint, dass sie die Väter vor einem zu nahen Kontakt mit der Schöpfung bewahren. Dies ist erforderlich, da die Väter – insbesondere Zeus als Schöpfergott – sonst der Gefahr der Verunreinigung durch den Einfluss niedriger Entitäten ausgesetzt wären. Teilbereich der siebten Gottheit. Dieser Teilbereich ist nicht untergliedert. Die Funktion der siebten Gottheit ist die Erzeugung der intellektuellen Unterscheidungen. Sowohl im obersten als auch im untersten der drei Hauptbereiche der geistigen Welt spielt der Intellekt eine wichtige Rolle. Der Intellekt des obersten Bereichs ist der intelligible Intellekt. Er ist die Stufe der geistigen Welt, auf der sich das ursprünglich undifferenzierte Sein erstmals zu einer Vielheit entfaltet. Dies geschieht, indem sich das Sein in verschiedene platonische Ideen ausdifferenziert. Unter „Ideen“ versteht man im Platonismus real existierende, vollkommene und unveränderliche geistige Entitäten, die Urbilder, deren Abbilder die vergänglichen Sinnesobjekte sind. Sie sind die maßgeblichen Muster, die allem sinnlich Wahrnehmbaren Sein und Wesen verleihen. Im proklischen System sind die platonischen Ideen Gedanken des Intellekts, wobei sie nicht als Teile von ihm, sondern als seine Erzeugnisse aufgefasst werden. Den intelligiblen Intellekt identifiziert Proklos mit dem vollkommenen Urlebewesen, das nach Platons Dialog Timaios das Vorbild ist, nach dem der Demiurg, der Schöpfergott, die Welt als beseelten Kosmos erschaffen hat. Der intellektuelle Intellekt ist im proklischen Modell Zeus, der mit dem Demiurgen des Timaios gleichgesetzt wird. Beide Intellekte bringen platonische Ideen hervor, jeder auf seine Art. Der intelligible Intellekt erzeugt die höheren, umfassenderen „intelligiblen Ideen“, die auf seiner Ebene auf intelligible Weise erscheinen. Der intellektuelle Intellekt ist der Erzeuger der untergeordneten, spezielleren, weniger wirkmächtigen „intellektuellen Ideen“; auf seiner Ebene sind alle Ideen auf intellektuelle Weise präsent. Proklos verteidigt Platons Ideenlehre gegen die Kritik des Aristoteles und der Peripatetiker. Er meint, jede der vier dialektischen Methoden (Dihairesis, Definition, Analyse und Beweis) setze Ideen im Sinne der Ideenlehre voraus. Eingehend untersucht er die Frage, ob nicht nur den natürlichen, sondern auch den künstlich erzeugten Objekten eigene platonische Ideen als Ursachen zugeordnet sind, und gelangt zum Ergebnis, dass solche Ideen nicht anzunehmen sind. Die materielle Welt Über den Ursprung der materiellen Welt hat sich Platon im Dialog Timaios ausführlich geäußert. Dennoch waren Grundfragen zu dieser Thematik unter den antiken Platonikern umstritten. Die Ungewissheit ergab sich daraus, dass die Erschaffung des sinnlich wahrnehmbaren Kosmos in dem Dialog in mythischer Sprache geschildert wird und daher stark divergierende Interpretationen möglich sind, je nachdem ob einzelne Aussagen wörtlich genommen oder als Metaphern betrachtet werden. Im Mythos des Timaios werden die Schöpfungsvorgänge so beschrieben, dass der Eindruck entsteht, es sei ein Schöpfungsakt gemeint, der zu einer bestimmten Zeit stattgefunden habe. Demnach hat die sinnlich wahrnehmbare Welt vorher nicht existiert und ist den entstandenen, zeitabhängigen Dingen zuzurechnen. Außerdem wird im Timaios behauptet, der Schöpfergott habe die Materie nicht geschaffen, sondern vorgefunden. Sie habe schon vor der Schöpfung existiert. Damals habe sie sich noch in einem Zustand chaotischer Bewegung befunden. Das Eingreifen des Schöpfers habe das Chaos beendet, und seither bestehe die aktuelle Ordnung des Weltalls. Für eine wörtliche Deutung dieser Aussagen hatten sich die Mittelplatoniker Plutarch und Attikos ausgesprochen. Ihrem Verständnis zufolge hat die Welt tatsächlich einen zeitlichen Anfang, die Materie hingegen ist nicht nur im zeitlichen, sondern auch im kausalen Sinn unerschaffen; sie ist ebenso wie das Eine ein unerzeugtes Urprinzip. Attikos bekannte sich zu einem radikalen Dualismus. Nach seiner Lehre existieren die metaphysische Welt und die Materie unabhängig voneinander und hatten vor dem Schöpfungsakt nichts miteinander zu tun. Erst durch die Schöpfung ist die Materie unter göttlichen Einfluss gekommen. Die Neuplatoniker vertraten einhellig die gegenteilige Auffassung. Sie waren der Meinung, Platon habe die Weltschöpfung nur zum Zweck der Veranschaulichung wie einen zeitlichen Vorgang geschildert. In Wirklichkeit habe er eine überzeitliche, nur als kausales Verhältnis zu verstehende Hervorbringung der Weltordnung gemeint und den geordneten Kosmos für immer bestehend gehalten. Für diese Interpretation des Timaios trat Proklos nachdrücklich ein. Unter anderem brachte er vor, ein guter Schöpfer müsse zu jeder Zeit das Bestmögliche wollen und tun, und das Beste sei nicht zeitlich variabel. Somit könne seine schöpferische Tätigkeit nicht zeitlich begrenzt sein, wenn das Erschaffen das optimale Handeln sei. Eine Unterlassung des Erschaffens in einem bestimmten Zeitraum setze mangelnden Willen oder mangelnde Fähigkeit voraus. Für den Schöpfer komme aber keine dieser beiden Möglichkeiten in Betracht; die erste sei schon wegen seiner Güte auszuschließen, die zweite wegen der Unwandelbarkeit seiner Natur. Hinsichtlich der Urmaterie lehrte Proklos, sie habe zwar ebenso wie die Weltordnung keinen Anfang in der Zeit, aber kausal sei sie erzeugt. Als konsequenter Monist führte er auch die Materie auf das Eine zurück. Nach seiner Argumentation kann es zwei unerzeugte, voneinander unabhängige Prinzipien nicht geben. Wenn es sie gäbe, müssten sie zwei sein. Dies würde aber voraussetzen, dass jedes von ihnen eines wäre und somit an dem Einen teilnähme. Dann wäre das Eine den beiden übergeordnet; es wäre ihr gemeinsames, von beiden partizipiertes Prinzip. Also wären beide von etwas Höherem erzeugt. In der Rangordnung des proklischen Weltmodells nimmt die Materie wie bei allen anderen Platonikern den untersten Rang ein. Das Materielle steht am Ende der Kausalkette und in der Hierarchie tief unter der geistigen Welt. Die Materie ist aber nicht nur von der nächsthöheren Stufe hervorgebracht, sondern von allen ihr vorangehenden Stufen und in erster Linie vom Einen. Vermittelnd wirken dabei wiederum die beiden Prinzipien der Begrenzung und der Unbegrenztheit. Die universale Urmaterie, die Proklos als „erste“ und „einfache“ Materie bezeichnet, ist absolut gestaltlos und undifferenziert; ihre Ursache ist das Prinzip der überseienden Unbegrenztheit. Die Form, welche die an sich formlose Materie gestaltet und ihr eine bestimmte Struktur und Beschaffenheit verleiht, ist eine Manifestation des Prinzips Grenze. Aus dem Zusammenwirken, der „Mischung“ der beiden Prinzipien ergibt sich als „Gemischtes“ die Gesamtheit der sinnlich wahrnehmbaren Dinge. So ist für Proklos die überzeitliche Erschaffung der materiellen Welt zu verstehen. Die Instanz, die den Schöpfungsprozess durchführt, ist der Demiurg. Er erschafft die materielle Welt in zwei „Stufen“, allerdings nicht im Sinne eines realen zeitlichen Ablaufs; die zeitliche Ausdrucksweise dient nur der Veranschaulichung. Die erste Stufe ist die „körperschaffende“, in der einfache Materie zu Körperlichem geformt wird. Das so erzeugte Körperliche identifiziert Proklos mit dem, was sich laut dem Timaios „vor“ der Schöpfung in einem Zustand ungeordneter Bewegung befand. Er schließt aus, dass es sich bei diesem chaotisch Bewegten um die gestaltlose Urmaterie handeln könne, denn Platon selbst bezeichne es als sichtbar, also müsse es eine Form haben. Die zweite Schöpfungsstufe ist nach der Timaios-Auslegung des Proklos die „ordnende“, in der das chaotische Körperliche beseelt wird. Das All erhält eine Seele, die Weltseele, die seine Lenkung übernimmt, die materiellen Dinge ordnet und das Physische auf den Nous, die Vernunft, ausrichtet. Dadurch erlangt die materielle Welt das ihr mögliche Maß an Vollkommenheit. Die Materie wird von nichts partizipiert, ist aber zur Partizipation befähigt; da sie gestaltlos ist, ist sie für jede Gestaltung offen. Als Partizipierendes ist sie auf das von ihr Partizipierte ausgerichtet und für das, was ihr von dort her zukommt, empfänglich. Daher wird ihr die Form und Ordnung, die sie empfangen kann, auch zuteil. Für Proklos ergibt sich aus seinem Schöpfungsverständnis, dass die Existenz der Materie notwendig ist. Sie muss existieren, weil sie für die Vervollständigung des Alls benötigt wird. Zur Vollständigkeit des Kosmos gehören auch die materiellen Formen, die als solche nur in Materie existieren können. Vollständig muss der Kosmos sein, wenn er gut ist; gut muss er sein, da er einen guten Ursprung hat. Alles, was ist, geht aus dem Einen hervor, das Proklos mit dem schlechthin Guten gleichsetzt. Wenn das Gute die Ursache von allem ist, dann muss die Gesamtwirklichkeit ein optimal geordnetes Ganzes bilden, in dem jeder Teil das Ausmaß an Vollkommenheit verwirklicht, das auf seiner Ebene möglich ist. Das muss für die gesamte hierarchische Ordnung der aus dem Guten hervorgegangenen Entitäten gelten, also auch für die materielle, am weitesten vom Ursprung entfernte Ebene. Also muss die Materie die materiellen Formen aufnehmen, sie muss gestaltet und geordnet werden, und zwar nicht erst durch einen zeitlichen Akt, sondern überzeitlich. Da die Schöpfung überzeitlich ist, kommt Materie als konkrete Realität immer nur geformt vor. Sie ist vom Demiurgen so gut wie möglich geordnet und weist daher immer die ihr zukommende Vollkommenheit auf. Seele, Zeit und Ewigkeit Das Seelische verortet Proklos in seiner Welthierarchie, wie im Neuplatonismus üblich, zwischen der geistigen und der materiellen Welt. Im Geist (Nous) sieht er den umfassenden Ursprung und Grund der Seele, der als bewahrendes Prinzip in ihr gegenwärtig ist. Die Seele erscheint ihm als der in anderer Dimension „wieder aufgenommene“ Nous. Sie ist auf abbildhafte Weise Geist, und ihre Gedanken sind Bilder der ursprünglichen Gedanken des Geistes. Im Geist sind Denken und Sein ungetrennt, zwischen ihnen besteht eine dynamische Identität. Denken, Gedanke und Gedachtes bilden eine wesenhafte Einheit. Das Sein der platonischen Idee ist im Geist der Gedanke. Anders verhält es sich in der Seele: Dort ist das Denken seinem Objekt immer untergeordnet und empfängt sein Maß von einem ihm vorgegebenen Sein. Daher muss das Denken der Seele den Übergang vom Gedanken zum Sein leisten. Es muss das im Geist Vereinte trennen und vom einen im Gedanken erfassten Sein zum anderen übergehen. Die Seele denkt diskursiv. Dieser Vorgang zeigt sich in der Dihairesis, einer Methode der Klassifikation und Begriffsbestimmung, mit der man einen allgemeineren Begriff in Unterbegriffe unterteilt, bis man die Definition eines gesuchten Begriffs findet. Dabei geht die Seele so vor, dass sie jede Idee getrennt in sich sieht, nicht aber alle in einem Blick. Während der Geist alles als Eines denkt und im Einzelnen bereits das Ganze denkt, sieht die Seele alles als Einzelnes und kann nur im Nacheinander, durch jedes Einzelne hindurchgehend, das Ganze konstruieren. Im Geist sind alle Gegensätze aufgehoben und eingefaltet, in der Seele sind sie entfaltet. Sie ist das entfaltete Sein des Geistes, der sich in ihr auseinanderlegt. Alles, was im Geist ineinander ist, ist in ihr gesondert. Proklos vergleicht die Seele mit einer immer beschriebenen „Schreibtafel des Geistes“. Sie ist nach der proklischen Lehre auf den Geist ausgerichtet und übersteigt sich auf ihn hin, indem sie nach seiner Vollkommenheit strebt. Ihr Denken ist daher eine Rückbewegung auf ihren Grund und Ursprung hin, an dem sie teilhat, indem sie denkt. Der fundamentale Unterschied zwischen Geist und Seele besteht darin, dass der Geist überzeitlich ist, während die Seele als selbstbewegte Substanz in die Zeit verflochten ist. Der Geist ist der Sphäre des Ewigen zugeordnet, dem zeitlosen Jetzt des aiṓn (der Ewigkeit im Sinne von Zeitlosigkeit oder Überzeitlichkeit). Die Seele ist zugleich überzeitlich und zeitlich; sie hat ein zeitloses Sein, aber ein Wirken in der Zeit. Der zeitliche Aspekt ihrer Existenz ist für die Seele konstitutiv; wenn es ihn nicht gäbe, würde sie sich in nichts vom Nous unterscheiden. Für Proklos ist die Zeit kein Akzidens, sondern eine Substanz (ousia). Wie alle Neuplatoniker hält er sie für anfangs- und endlos. Anderenfalls müsse eine Zeit ihrer Entstehung bzw. Auflösung angenommen werden, was widersinnig sei. Hinsichtlich der Natur der Zeit vertritt Proklos ein Konzept, mit dem er sich von der Auffassung Plotins distanziert. Nach Plotins Theorie darf man die Zeit nicht außerhalb der Seele annehmen; erst durch die Seele und mit ihr gibt es Zeit. Für Proklos hingegen gründet die Zeit in der überzeitlichen Ewigkeit und ist deren Abbild. Sie ist jenseits der Seele und ihr ontologisch übergeordnet und vermittelt zwischen Geist und Seele. Da es die Aufgabe der Seele ist, sich auf den Geist und damit auf die Ewigkeit auszurichten, strebt der Philosoph nach Überwindung der Zeit durch das Denken, das ihn in den Nous führt. Wenn man im philosophischen Bemühen das Auge der Seele nach oben auf den Nous richtet und diese Haltung einübt, kann es geschehen, dass offenkundige Wahrheit in einem zeitlosen Jetzt aufleuchtet, in dem Zeit eliminiert ist. Das Leben der Seelen wird im proklischen System als zyklischer Prozess gedeutet. Sie sind aus ihrer rein geistigen Heimat in die physische Welt hinabgestiegen, haben dort Körper angenommen und wenden sich dann wieder nach oben, ihrem Ursprung zu, um heimzukehren und sich mit dem Nous zu vereinigen. Sie vollziehen also eine Bewegung, die erst abwärts und dann aufwärts führt. Der Weg hinauf ist das Philosophieren, die Gewinnung philosophischer Erkenntnis. Damit ist die Erkenntnis des Überzeitlichen gemeint, die aus der Hinwendung zur geistigen Welt resultiert. Die philosophische Bemühung zielt auf befreiende Reinigung von der Zerstreuung in die Mannigfaltigkeit und Einübung in die Einfachheit durch Sammlung. Sie führt vom Schein der Meinung zur Gewissheit der Wahrheit, die sich in der geistigen Welt als solche offenbart. Die Seele strebt von Natur aus zum Nous, aber sie wird nicht nur von diesem Streben aufwärts geleitet; einen weiteren Antrieb erhält sie von ihrer Sehnsucht nach dem Einen, dem Ursprung schlechthin, der für die Seele zugleich das Gute schlechthin ist. Der Aufstieg verwandelt zwar die Seele, macht sie frei, leicht und „geistartig“ und vergöttlicht sie sogar, aber zu einer absoluten Identität mit dem überzeitlichen Geist oder gar dem Einen kann sie nie gelangen. Ihr Denken bleibt immer ein seelisches und der zeitliche Aspekt ihrer Existenz bleibt erhalten. Sie umkreist das Sein des Geistes mit einer Bewegung, die Proklos als Tanz beschreibt; dem Mittelpunkt des Kreises kann sie sich annähern, aber sie erreicht ihn nie. Selbst wenn es ihr gelingt, zum Einen zu gelangen und es zu berühren, löst sie sich nicht darin auf, sondern bleibt Seele. Ihre Kreisbewegung ist endlos; auf den Aufstieg folgt stets ein neuer Abstieg. Mit seinen Überlegungen zum Auf- und Abstieg der Seelen orientiert sich Proklos weitgehend an den Grundzügen der herkömmlichen neuplatonischen Seelen- und Erlösungslehre, die Plotin als erster dargelegt hat. In einem wesentlichen Punkt widerspricht er Plotin aber nachdrücklich: Er lehnt dessen Behauptung ab, dass die Seele auch während ihres Aufenthalts im menschlichen Körper ständig zugleich mit ihrem obersten Teil in der geistigen Welt präsent bleibe. Nach der proklischen Seelenlehre bleibt beim Eintritt in die Körperwelt nichts „oben“; die Seele löst sich als Ganzes von der geistigen Welt und taucht in die Materie ein. Daher kann sie nicht aus eigener Kraft zurückkehren, sondern bedarf der Hilfe von außen. Somit ist sie auf die Unterstützung von Göttern angewiesen. Bei ihrer Rückwendung zu ihrem Ursprung spielt die Theurgie, ein rituelles Verfahren zur Herstellung einer Verbindung mit dem göttlichen Bereich, eine wichtige Rolle. In der von Proklos praktizierten philosophischen Lebensweise ergänzt eine hingebungsvolle theurgische Praxis die intensive denkerische Arbeit. Nach seiner Einschätzung ist die höchste Stufe der Theurgie „mächtiger als alle menschliche Weisheit und Wissenschaft“. Hinsichtlich des konkreten theurgischen Vorgehens folgt Proklos einer Tradition, die ihm in den Chaldäischen Orakeln vorliegt. Er zeigt sich als begeisterter Anhänger der Lehren dieses von den spätantiken Neuplatonikern sehr geschätzten Werks. Weitere wesentliche Elemente des Zusammenwirkens mit den Göttern sind für ihn Gebet und Hymnus. Sie fördern die Hinwendung zum Nous, sie verbinden den Geist der Götter mit den Worten des Betenden, Rezitierenden oder Singenden. Die Texte der Hymnen enthalten Symbole der Götter, die den Aufstieg der Seele unterstützen. Mit der Hymnendichtung will Proklos nicht seine subjektive Frömmigkeit ausdrücken, sondern objektive Mittel zur Verfügung stellen, mit denen man sich der geistigen Welt als einer objektiven Realität nähern kann. Somit ist das Dichten und Vortragen von Hymnen ein Ausdruck desselben Strebens, dem auch alle philosophischen Bemühungen dienen. Allerdings besteht für Proklos die höchste Form der Hinwendung zum Göttlichen nicht in Worten und Riten, sondern darin, dass man sich – wie es schon Platon forderte – der Gottheit angleicht. Die Bitten, die in Gebeten und Hymnen an die Götter gerichtet werden, haben nicht den Zweck, die Angesprochenen zu einem gewünschten Verhalten zu bewegen, denn wie alle Platoniker bekennt sich Proklos zu dem Grundsatz, dass die Götter nicht durch menschliche Bitten beeinflussbar sind. Vielmehr dienen die Bitten nur der Öffnung der Seele für die erwünschte göttliche Einwirkung. Wie alle Platoniker übernimmt Proklos Platons Theorie der Beseelung der Welt. Dieser Lehre zufolge gibt es eine selbstbewegte Weltseele, welche die Ursache aller Bewegung in der Natur ist und die im Kosmos waltende Vernunft, den Nous, mit der Weltmaterie verbindet. Nach dem im Dialog Timaios erzählten Mythos hat der Demiurg die Weltseele zusammen mit dem Kosmos erschaffen. Proklos wendet sich gegen die Auffassung des Aristoteles, wonach Platon die Weltseele zugleich als Denkvermögen und als ausgedehnte Größe beschrieben hat und das Denken der Seele mit der Kreisbewegung des Alls gleichgesetzt hat. Nach Proklos’ Verständnis ist Platons Weltseele und ihr Denken ausdehnungslos, und die Bewegung des Weltalls soll nur als Bild dienen, mit dem wesentliche Kennzeichen und Inhalte des seelischen Denkens auf eine körperliche Bewegung übertragen werden. Damit verwirft Proklos die wörtliche Interpretation, die für Aristoteles den Ausgangspunkt seiner Kritik am Timaios bildet. Der seelische Bereich, der „Ort“ der Weltseele und der Seelen der sterblichen Lebewesen, ist auch die Wirkensstätte von Göttern, die den Gottheiten der geistigen Welt untergeordnet sind. Zu ihnen zählen Götter wie Poseidon, Hades, Artemis und Apollon, die aus der Mythologie als Geschwister und Nachkommen des Zeus bekannt sind. Die Natur des Schlechten und die Notwendigkeit der Übel Bei der Untersuchung des Schlechten und der Übel (kaká) setzt sich Proklos mit der Schlechtigkeitstheorie Plotins auseinander. Plotin identifiziert das Schlechte mit der Materie. Unter Materie versteht er das absolut Gestaltlose und Eigenschaftslose, das den physischen Objekten, denen ihre Formen Eigenschaften verleihen, zugrunde liegt. Die absolute Schlechtigkeit der ungeformten, ganz und gar „armen“ Urmaterie besteht für Plotin darin, dass sie ihrem Wesen nach gar nichts hat, also in keiner Weise am Guten teilhat. Die Materie als solche ist das „erste Schlechte“, das an sich Schlechte. Sie ist das Prinzip aller Übel, und die einzelnen Übel sind schlecht, insoweit sie an diesem Prinzip teilhaben. Somit hat jedes Übel seine Ursache in der Materie. Beispielsweise lässt sich bei den Seelen das Schlechte darauf zurückführen, dass sie in die Materie gefallen sind und sich ihr angeglichen haben. Proklos bekämpft die Gleichsetzung des Schlechten mit der Materie, indem er zu zeigen versucht, dass diese These in ein auswegloses Dilemma führe. Sein Gedankengang ist: Alles ist entweder Prinzip oder Erzeugnis eines Prinzips. Wenn die Materie als solche schlecht ist, stellt sich die Frage nach dem Prinzip dieser Schlechtigkeit. Es bestehen dann nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist das Schlechte ein eigenständiges, in der Materie liegendes Prinzip, oder nur das Gute und Eine ist Prinzip und die schlechte Materie ist wie alles andere aus ihm hervorgegangen. Die zweite Annahme ist widersinnig: Da die Grundsätze gelten, dass jede Ursache das in höherem Grade ist, was ihr Erzeugnis ist, und dass sich jedes Erzeugnis seiner Ursache angleicht, müsste das Gute als Ursache des ersten Schlechten in höherem Grade schlecht sein als dieses, und das erste Schlechte müsste aufgrund seiner Teilhabe an einer guten Ursache durch Angleichung gut werden. Die andere Möglichkeit – das Schlechte als Prinzip – führt zum Dualismus, zur Annahme zweier gegensätzlicher, voneinander unabhängiger Prinzipien, die miteinander kämpfen. Dann besteht eine Dualität zweier eigenständiger Urprinzipien, des Guten (Einen) und des Schlechten. Das ist jedoch unmöglich, denn eine solche Zweiheit setzt eine den beiden Prinzipien, die Einheiten sind, übergeordnete Ur-Einheit voraus, und dann ist das Schlechte kein Urprinzip, sondern von derselben Ursache erzeugt wie das Gute. Aus der Widerlegung beider Möglichkeiten folgt für Proklos: Es gibt nur ein Urprinzip, das Eine, das für den Menschen das schlechthin Gute ist und auf das sich auch die Materie zurückführen lässt. Das Schlechte kann kein Prinzip sein und die Materie kann nicht schlecht sein. Aufgrund dieser und anderer Überlegungen gelangt Proklos zu einem anderen Verständnis des Schlechten und der Übel als Plotin. Er bestreitet die Existenz eines an sich Schlechten, welches das Gegenteil des absolut Guten wäre, und hält alle Übel für relativ. Den Umstand, dass es überhaupt Schlechtes gibt, hält er für das Resultat einer logischen Notwendigkeit. Diese ergibt sich für ihn daraus, dass zwei Arten der Teilnahme am Guten möglich sind: die ewige, unveränderliche und vollkommene im Bereich des Überzeitlichen und die vorläufige, wandelbare und zwangsläufig beschränkte in der Zeitlichkeit. Eine beschränkte Teilnahme ist als solche unvollkommen. Damit stellt sie eine Art „Beraubung“ dar, denn die so teilnehmende Entität ist partiell eines Gutes beraubt, das sie vollständig hätte, wenn die der Zeitlichkeit inhärenten Beschränkungen dem nicht entgegenstünden. Jedes Übel ist das Gegenteil eines bestimmten Gutes und besteht in dem durch die Zeitlichkeit bedingten partiellen Mangel dieses Gutes. Das absolut Gute hingegen, aus dem alles hervorgeht, kann kein derartiges Gegenteil haben. Ihm kann nichts entgegengesetzt sein. Da alles Seiende seinen Ursprung im Guten hat, muss das Schlechte als etwas Nichtseiendes betrachtet werden. Die einzelnen Übel sind Manifestationen von Nichtseiendem. Konkret handelt es sich jeweils um eine bestimmte Störung der naturgemäßen Ordnung, ein teilweises, zeitweiliges Nichtvorhandensein der Ordnung. Einen einzigen, gemeinsamen Ursprung der Übel kann es nicht geben, denn ein solcher müsste entweder ein erstes Prinzip oder eine Form oder eine Seele sein, doch für jeden dieser drei theoretisch möglichen Ursprünge ist von Natur aus eine Verursachung von Übeln ausgeschlossen. Die Übel bilden keine Einheit, sie stehen im Widerspruch zueinander und haben viele verschiedenartige Ursachen. Da es nichts absolut Schlechtes gibt, sind die Übel dem Guten nicht absolut entgegengesetzt; vielmehr haben sie einen gewissen Anteil an ihm. Alles Schlechte muss mit Gutem vermischt sein. Wenn das Schlechte in der bloßen Abwesenheit des Guten bestünde, wäre es rein passiv und könnte nicht agieren. Die Übel verfügen aber über eine eigene Kraft und Befähigung, mit der sie sich dem Guten widersetzen. Diese Fähigkeit verdanken sie demjenigen Guten, das auch in ihnen anwesend ist. Ohne die Präsenz dieses Guten könnten sie keinerlei Wirkungen haben. Betrachtet man die Natur als Ganzes, so ist die Möglichkeit der Existenz des Schlechten in ihr auszuschließen, denn die Natur ist direkt auf das Prinzip des Guten zurückzuführen und daher für das Schlechte unempfänglich; sie ist rundum gut. Übel können nicht die Natur selbst befallen, sondern nur einzelne materielle Körper und die an diese Körper gebundenen Seelen. Im Körper zeigen sich die Übel als Hässlichkeit oder Krankheit, in der Seele als Schwäche, als Nachlassen der vereinheitlichenden Kraft, die für das richtige, naturgemäße Verhältnis der Seelenteile sorgen müsste. Seelische Übel sind im Allgemeinen größer als körperliche. Sie entstehen, wenn der rationale Seelenteil seine Lenkungsfunktion nicht mehr so ausübt, wie es erforderlich wäre. Auch hier erweist sich das Übel als Störung der Ordnung. Schlechtes wird von der Seele nie als solches gewählt, sondern als vermeintlich Gutes. Vorsehung und menschlicher Wille Nach der Überzeugung des Proklos lenkt die göttliche Vorsehung das Weltall und jedes einzelne Individuum. Dies geschieht aber nicht durch willkürliche Akte der Gottheit, sondern aufgrund einer Naturgegebenheit. Es kann nicht anders sein, denn alles Seiende ist von Natur aus ein Bestandteil der Weltordnung, die das Produkt des Einen ist. Die Vorsehung gründet im Einen und kann mit dessen Einfluss auf das Seiende gleichgesetzt werden. Zwar ist der Abstand zwischen der Ebene des Einen und derjenigen der irdischen Dinge groß, doch hemmt die Distanz die Wirkmacht nicht. Vielmehr gilt der Grundsatz: Je höher und damit machtvoller eine Wirklichkeitsebene ist, desto tiefer reichen ihre Wirkungen hinab. Beispielsweise wirkt das Seelische nur auf die Ebene der Lebewesen ein, während der Nous als höhere Hypostase auch das Unbelebte, dem er Form verleiht, zu gestalten vermag. Nichts ist machtvoller als das durch die Götter vermittelte Wirken des Einen, das die gesamte Wirklichkeit durchdringt. Der metaphysische „Ort“, von dem aus die Vorsehung auf die Bereiche unterhalb der geistigen Welt einwirkt, ist der intellektuelle Bereich der geistigen Welt. Alle Götter üben Vorsehung aus, und unterhalb der göttlichen Ebene sind Wesen wie Daimonen und Heroen, die auch am Wirken der Vorsehung beteiligt sind. Da das Eine für das Seiende das schlechthin Gute ist, kann die Vorsehung nichts anderes anstreben und verwirklichen als das jeweils Bestmögliche. Hier stellt sich für Proklos das Problem der Vereinbarkeit der Vorsehung mit der Existenz der Übel. Er prüft zwei Lösungsansätze, die den Gedanken der Vorsehung mit dem Konzept eines metaphysischen Guten verbinden. Der eine basiert auf der Annahme, dass der Einfluss der Vorsehung nur bis zur Mondsphäre hinabreiche und auf den „sublunaren“ Bereich (alles, was unterhalb des Mondes ist) nicht einwirke. Die Übel seien real, aber auf den sublunaren Bereich beschränkt. Die zweite Lösungshypothese lautet, dass die Vorsehung alles optimal lenke und es daher nichts wirklich Schlechtes gebe. Proklos verwirft beide Ansätze als unbefriedigend. Ein weiteres Konzept, das er untersucht, steht in weit schärferem Gegensatz zu seiner Philosophie als diese beiden. Dabei handelt es sich um einen mechanistischen Determinismus. Dieser Position zufolge ist der Kosmos eine Maschine, die ethisch indifferenten Naturgesetzen folgt. Gesichertes philosophisches Wissen ist nicht erreichbar; die Vorstellung der Willensfreiheit ist eine Illusion; das Gute ist keine objektive Realität, sondern ein Konstrukt des Menschen, das auf willkürlichen, kulturabhängigen Konventionen basiert und Ausdruck des Luststrebens ist. Proklos geht auf einige Argumente ein, die ein Vertreter dieser Weltanschauung vorgebracht hat. Insbesondere widerspricht er der Behauptung, dass eine göttliche, überzeitliche Kenntnis des Künftigen nicht nur die menschliche Willensfreiheit, sondern jede Möglichkeit nichtnotwendiger Ereignisse ausschließe. Proklos unterscheidet – hier einem stoischen Konzept folgend – zwischen natürlichen Übeln, die vom menschlichen Willen unabhängig sind, wie Armut, Krankheit und Tod, und Übeln, die Ergebnisse einer freien Wahl des Menschen sind. Die natürlichen Übel hält er nicht für wirklich schlecht, denn sie seien nur eine unvermeidliche Folge der guten und notwendigen Existenz einer Welt der fließenden Zeit. Wo es ein Werden in der Zeit gebe, da müsse sich auch ein Prozess des Vergehens abspielen; das Verderben eines einzelnen Körpers bedeute die Entstehung eines anderen. Das sei um des endlosen Kreislaufs willen erforderlich, der in einer Welt des zeitlichen Nacheinander stattfinden müsse. Daher sei das Verderben der Körper unter dem Blickwinkel des Ganzen nicht schlecht, und das sei der hier maßgebliche Gesichtspunkt. Es sei mit dem Wirken der Vorsehung im Einklang. Wirklich schlecht sei nur das ethisch Schlechte, das heißt die Übel der einzelnen Seelen. Diese seien aber keine Wirkungen der Vorsehung, sondern Resultate einer in den Seelen auftretenden Schwäche. Nach dem proklischen Modell bedeutet die Lenkung der Welt durch die Vorsehung keinen vollständigen Determinismus aller Abläufe. Es gibt auch etwas, was nicht von der Vorsehung, sondern „von uns“ abhängt. Eine Selbstmächtigkeit der Seele muss angenommen werden. Diese Annahme ergibt sich aus dem Grundsatz, dass die vernünftig agierende Natur nichts vergeblich macht. Wäre alles Seelische restlos von der Vorsehung determiniert, so wäre die menschliche Fähigkeit zur Überlegung und Entscheidungsfindung, deren Betätigung eine Wahlmöglichkeit voraussetzt, überflüssig. Dann hätte die Natur den Menschen nicht mit dieser Fähigkeit ausgestattet. Ein weiteres Argument lautet: Wenn alles determiniert ist, ist auch die Entstehung der Behauptung „Nicht alles ist determiniert“ von der absoluten Notwendigkeit bestimmt. Das bedeutet, dass die absolute Notwendigkeit als Ursache bei den Verursachten eine Bewegung – nämlich eine Behauptung gegen die absolute Notwendigkeit – erzeugt, die sich derjenigen Bewegung, die von der eigenen Natur der Ursache bewirkt ist, entgegensetzt. Für Proklos ist die Annahme, dass eine Ursache etwas ihrer eigenen Natur Entgegengesetztes erzeugt, widersinnig. Daraus folgt, dass die Seele einen nicht von der Vorsehung determinierten Willen hat. Sie kann echte Wahlentscheidungen treffen und dabei aus Schwäche versagen. Philosophische Bewertung der Dichtkunst Auch im Umgang mit der Dichtung war das Anliegen des Proklos philosophisch und religiös. Er hielt Dichter wie Homer und Hesiod für göttlich inspiriert und betrachtete die Chaldäischen Orakel als authentische Offenbarungen von Göttern. Bei der Homer-Auslegung verfuhr er mit Vorliebe nach dem Prinzip der Allegorese. Den aus philosophischer Sicht anstößigen Schilderungen des Verhaltens der Götter bei Homer versuchte er einen für Platoniker einleuchtenden Sinn zu geben, indem er dem Dichter eine verborgene didaktische Absicht unterstellte. Ein Problem stellte für den begeisterten Homer-Verehrer Proklos die prinzipielle Kritik Platons an der Dichtkunst dar. Er löste es, indem er geltend machte, Platon verwerfe nur die nachahmende Dichtkunst, welche die niedrigste Art von Poesie sei. Bei Homer spiele jedoch die Nachahmung nur eine untergeordnete Rolle; in erster Linie sei er göttlich inspiriert und seine Dichtung sei geeignet, die Seele mit der Welt der immateriellen Ursachen zu verbinden. Dann trete die eigene, niedere Natur des Menschen zurück, die Seele werde von der Gottheit erfüllt und erreiche so eine Vereinigung mit ihr. Damit wies Proklos der homerischen Dichtung eine wichtige Aufgabe im Rahmen der metaphysischen Bestrebungen des Neuplatonismus zu. Eingehend bemühte er sich um eine Harmonisierung Platons und Homers. Die Grundlage seines Harmonisierungswillens war seine Überzeugung, die göttlich inspirierten Dichter wie Homer, Hesiod, Orpheus und Pindar seien Theologen und verkündeten die wahre Lehre von den höchsten Prinzipien. Die Unterweisung, die sie den Menschen böten, sei ebenso korrekt wie die Platons, nur verwendeten sie eine andere Darstellungsweise als der Philosoph. Durch allegorische Interpretation der Dichtung könne deren verborgener Sinn gefunden werden; dann zeige sich die Übereinstimmung der poetischen Botschaft mit den philosophischen Erkenntnissen. Mathematisierung der Philosophie Die hohe Wertschätzung der Platoniker für die Mathematik, die auf Platon selbst zurückging, war bei Proklos besonders ausgeprägt. In seinem Euklidkommentar behauptete er, dass ausnahmslos alle Zweige des menschlichen Denkens mathematisierbar seien, darunter auch die Theologie (Metaphysik). Eine Konsequenz dieser Annahme war, dass in seiner Philosophie metaphysische Aussagen die Unerschütterlichkeit von Sätzen der Mathematik erlangten. Nach seiner Überzeugung ermöglicht die Mathematisierung eine Durchdringung aller Wissensgebiete: So wie die Mathematik auf physikalischem Gebiet die Berechnung der Planetenbahnen ermöglicht, lässt sich in der Staatskunde der günstigste Moment für eine politische Aktion berechnen. Auch den Gesetzen der Ethik und der Rhetorik liegen mathematische Gegebenheiten zugrunde; in der Dichtkunst beruhen die Gesetze der Metrik auf bestimmten Proportionen. So erweist sich für Proklos überall die Macht der Mathematik; sie „reinigt das Denken“, „befreit uns von den Fesseln des Irrationalen“ und beschenkt die Seele, indem sie sie zum rein Geistigen hinleitet, „mit einem Leben der Glückseligkeit“. Allerdings ist Proklos nicht der Ansicht, physikalische Phänomene seien restlos auf mathematische Gegebenheiten reduzierbar. Er betont, dass sich mathematische Genauigkeit und Sicherheit in der Naturphilosophie nicht erreichen lasse und dass Sinnesobjekte etwas anderes seien als mathematische Objekte. Sie seien durch eine gewisse Unschärfe und Instabilität charakterisiert, die ihrer mathematischen Erfassbarkeit Grenzen setze. Astronomie Für das neuplatonische Weltbild, das auf der Vorstellung eines optimal geordneten Kosmos basierte, stellte die Unregelmäßigkeit der von der Erde aus beobachteten Planetenbewegungen eine Herausforderung dar. Den kosmologischen Rahmen bildete das in der Spätantike allgemein akzeptierte geozentrische Modell des Astronomen Ptolemaios, dem zufolge sich die Erde in der Mitte des Weltalls befindet und von allen anderen Himmelskörpern umkreist wird. Dieses System erforderte die Annahme von Nebenbewegungen der Planeten neben ihrer Hauptbewegung um den Weltmittelpunkt. Zur Erklärung der Nebenbewegungen diente die Epizykeltheorie, die mittels komplizierter Berechnungen Theorie und Empirie in Einklang bringen sollte. Zu dieser Problematik äußerte sich Proklos in seinem Kommentar zu Platons naturphilosophischem Dialog Timaios, den er im Alter von 27 Jahren schrieb, und in seiner Kurzen Darstellung astronomischer Hypothesen. Er drückte seine Unzufriedenheit mit den mathematischen Konstruktionen aus, die das ptolemäische Modell zur Erklärung der Planetenbewegungen benötigte. Die Astronomen waren gezwungen, zwecks Berücksichtigung zusätzlicher Beobachtungen ihre Konstruktionen dem jeweiligen empirischen Befund anzupassen. Aus dieser Sachlage folgerte Proklos, dass die Astronomie keine exakte Wissenschaft sei. Seine eigene Erklärung für die beobachtete Ungleichförmigkeit der Planetenbewegungen lautete, dass nur die äußerste Himmelssphäre, der Fixsternhimmel, eine völlig gleichförmige und damit perfekte Bewegung aufweise. Als Gegenpol dazu betrachtete Proklos die völlig irregulären, willkürlichen, chaotischen Bewegungen von Objekten auf der Erde. Den geordneten, aber nicht gleichförmigen Planetenbewegungen wies er eine Mittelstellung zwischen diesen beiden Extremen zu. Proklos verwarf das verbreitete Modell starrer „Sphären“, dem zufolge die Gestirne an durchsichtigen, konzentrisch um die Weltmitte angeordneten, sich gleichförmig drehenden Hohlkugeln befestigt sind. Er akzeptierte die Existenz der Sphären, betrachtete sie aber nicht als feste Körper, sondern als Räume von spezifischer Konsistenz mit einem materiellen und einem immateriellen Aspekt. Damit entfiel für ihn die physische Funktion, die man ihnen zuzuweisen pflegte. Rezeption Antike Proklos’ Schüler Marinos von Neapolis würdigte seinen Lehrer in dem Nachruf Proklos oder Über das Glück, den er im Jahr 486 als Rede zum ersten Jahrestag des Todes des Scholarchen vortrug. Der Text ist erhalten geblieben. In der viele Einzelheiten überliefernden Rede verherrlichte Marinos die Tugenden und Leistungen seines Lehrers. Sein Werk wird in der modernen Fachliteratur als Vita Procli (Leben des Proklos) zitiert und ist die Hauptquelle für die Biographie des Philosophen. Wie schon der Alternativtitel der Rede zeigt, war es das Anliegen des Marinos, das Leben des Proklos als besonders glücklich zu erweisen. Er sei unter den berühmten Männern der glücklichste seit langem gewesen, weil er sich in den Tugenden vervollkommnet habe. Nicht nur das Glück der Weisen – die Eudaimonie – sei ihm zuteilgeworden, sondern auch mit den nebensächlichen „äußeren“ Gütern – günstigen Lebensumständen – sei er reichlich gesegnet gewesen. Marinos räumte ein, dass Proklos zu heftigen Reaktionen geneigt habe, wenn er auf Pflichtvergessenheit gestoßen sei. Daher habe man den Eindruck gewinnen können, er sei jähzornig. In Wirklichkeit sei er aber imstande gewesen, sein leidenschaftliches Temperament mühelos zu beherrschen. Der Einfluss des Proklos prägte die letzte Phase der neuplatonischen Schule in Athen, die nach seinem Tod noch einige Jahrzehnte fortbestand, bis Kaiser Justinian I. im Jahr 529 den Lehrbetrieb untersagte. Seine zahlreichen Schüler sorgten für die weitere Verbreitung seines Gedankenguts, seine Meinung hatte bei den Neuplatonikern Gewicht. Von seinem hohen Ansehen auch außerhalb Griechenlands zeugen die Worte seines Schülers Ammonios Hermeiou, der in Alexandria Philosophieunterricht erteilte. Ammonios befand, sein „göttlicher Lehrer“ Proklos habe sowohl als Ausleger des überlieferten Lehrguts als auch mit seiner wissenschaftlichen Ermittlung der Natur der seienden Dinge den Gipfel dessen erreicht, was ein Mensch leisten könne. Allerdings stießen manche Thesen des Proklos in der letzten Generation der Athener Neuplatoniker auf Widerspruch: Damaskios († nach 538), der letzte Leiter der Athener Philosophenschule, setzte sich gründlich und kritisch mit dem proklischen System auseinander und verwarf einen großen Teil der Lehrmeinungen seines Vorgängers. Stark von der Philosophie des Proklos geprägt sind die Schriften eines griechischsprachigen christlichen Theologen, der im späten 5. oder frühen 6. Jahrhundert tätig war, aber als Schriftsteller den Eindruck zu erwecken versuchte, er sei Dionysius Areopagita, ein in der Apostelgeschichte erwähnter Schüler des Apostels Paulus. Heute wird dieser unbekannte Autor Pseudo-Dionysius Areopagita („der angebliche Dionysius Areopagita“) genannt. Seine vermeintliche Identität mit dem Apostelschüler verschaffte seinen im „Corpus Dionysiacum“ zusammengestellten Werken eine außerordentliche Autorität. Dies führte im Mittelalter zu einer intensiven Rezeption des darin enthaltenen proklischen Gedankenguts. Pseudo-Dionysius adaptierte das System des Proklos für seine Zwecke. Dabei knüpfte er insbesondere an das Konzept der „negativen Theologie“ an. In seiner Lehre vom Übel ist der Einfluss des paganen Denkers besonders deutlich erkennbar. Ein philosophischer Gegner des Proklos war der Theologe Johannes Philoponos. Er verfasste im Jahr 529 eine Abhandlung, in der er mit philosophischen Argumenten für die Entstehung des Kosmos in der Zeit eintrat und Proklos eine falsche Auslegung von Platons Timaios vorwarf. Mittelalter Früh- und Hochmittelalter Im frühen und hohen Mittelalter standen den lateinischsprachigen Gelehrten West- und Mitteleuropas keine Übersetzungen der Hauptwerke des Proklos zur Verfügung. Daher machte sich sein Einfluss anfangs nur auf indirektem Weg geltend, vor allem durch die Werke des Pseudo-Dionysius Areopagita, die ab dem 9. Jahrhundert in lateinischer Sprache verbreitet waren und in hohem Ansehen standen. Ab dem späten 12. Jahrhundert kam der Liber de causis (Buch über die Ursachen) hinzu, die von Gerhard von Cremona angefertigte lateinische Übersetzung der arabischen Abhandlung über das reine Gute. Diese Schrift, die hauptsächlich Material aus Proklos’ Grundlagen der Theologie enthielt, wurde irrtümlich Aristoteles zugeschrieben und fand als Lehrbuch starke Verbreitung. Das erste Werk des Proklos, das im Westen durch eine lateinische Übersetzung zugänglich wurde, war die Elementatio physica. Der Übersetzer, der an der Schule von Salerno Medizin studierte, hatte erfahren, dass der Gelehrte Henricus Aristippus, der als Gesandter des normannischen Königs von Sizilien in Konstantinopel gewesen war, von dieser Reise eine griechische Handschrift des Almagest mitgebracht hatte. Daraufhin machte er sich auf den Weg nach Sizilien, wo er Aristippus antraf und Einblick in einige Codices erhielt, die der byzantinische Kaiser dem sizilischen Gesandten übergeben hatte. Unter diesen war eine Abschrift der Elementatio physica, die der Übersetzer um die Mitte des 12. Jahrhunderts ins Lateinische übertrug. Die Qualität seiner Übersetzung wurde durch die Mangelhaftigkeit seiner Griechischkenntnisse und Fehler in seiner Vorlage beeinträchtigt. Spätmittelalter Einer breiteren gebildeten Öffentlichkeit wurde der Name des Proklos erst bekannt, als in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts Wilhelm von Moerbeke einige seiner Hauptwerke ins Lateinische übersetzte. Die erste und im Mittelalter weitaus wichtigste Übersetzung Moerbekes war die der Grundlagen der Theologie, die er 1268 abschloss. Er bemühte sich, den griechischen Text mit größtmöglicher Wörtlichkeit wiederzugeben. 1280 übersetzte er die „drei kleinen Werke“ (Über zehn die Vorsehung betreffende Zweifelsfragen, Über die Vorsehung und das Schicksal und das, was an uns liegt, Über die Beschaffenheit der Übel). Auch den Timaios-Kommentar übertrug er wohl vollständig ins Lateinische; davon sind nur Auszüge erhalten geblieben. In seinen letzten Lebensjahren erstellte Moerbeke seine Übersetzung des Parmenides-Kommentars. Anhand der Elementatio theologica, der lateinischen Grundlagen der Theologie, erkannte Thomas von Aquin, dass der Liber de causis auf Proklos’ Werk fußt. In seinem 1272 verfassten Kommentar zum Liber de causis machte Thomas seine Entdeckung bekannt. Das war der Ausgangspunkt für das Einsetzen des spätmittelalterlichen Interesses an Proklos, das sich auf die Elementatio theologica konzentrierte. Vor allem die Magister der Pariser Universität studierten dieses Werk und beriefen sich darauf; sie erfassten seine Bedeutung schon bald nach seinem Bekanntwerden. Ein früher Rezipient war Heinrich Bate, ein Korrespondenzpartner Moerbekes, der in sein großes Werk Speculum divinorum et quorundam naturalium (Spiegel der göttlichen Dinge und gewisser Naturdinge) eine Fülle von Proklos-Zitaten einfügte. Wichtige Impulse verdankte der Philosoph und Theologe Dietrich von Freiberg († um 1318/1320) der Kosmologie des Proklos. Wie der antike Neuplatoniker deutete Dietrich die Entstehung des Geschaffenen als Emanation aus Gott, den er mit dem neuplatonischen Einen gleichsetzte. Am proklischen Modell orientierte er sich auch darin, dass er zwischen Gott und die sichtbare Welt hierarchisch geordnete Intellekte als Zwischenstufen der kosmischen Ordnung setzte. Wie bei Proklos folgt in Dietrichs Modell auf den Hervorgang der Dinge aus dem Einen die Rückwendung zum Ursprung, die von der Sehnsucht bewirkt wird. Auch in Dietrichs Universum ist alles von der Dynamik des Hervorgangs und der Rückkehr geprägt. An Dietrichs Überlegungen knüpfte im 14. Jahrhundert der neuplatonisch orientierte, stark von Pseudo-Dionysius beeinflusste Gelehrte Berthold von Moosburg an. Er verfasste die Expositio super elementationem theologicam Procli, einen ausführlichen Kommentar zu Proklos’ Elementatio theologica, in dem er sich besonders mit der Metaphysik des höchsten Guten befasste. Aus Bertholds Sicht war Proklos nicht nur ein mit wissenschaftlicher Stringenz vorgehender Denker, sondern zugleich auch als Weisheitslehrer ein „göttlicher Mensch“, der seinen Lesern den Weg zur Vergöttlichung wies. Wohl von Berthold bezog der Prediger Johannes Tauler († 1361) sein Wissen über die Theologie des „Proculus“, der als „heidnischer Meister“ in der Lage gewesen sei, die Gotteserfahrung im Seelengrund zutreffend zu beschreiben. Ein weiterer namhafter Proklos-Rezipient war Dionysius der Kartäuser († 1471), einer der einflussreichsten Scholastiker des ausgehenden Mittelalters. Er zitierte die Elementatio theologica ausgiebig. Nikolaus von Kues (1401–1464) ließ sich in zentralen Bereichen seiner Philosophie von Grundgedanken des Proklos anregen. Intensiv studierte er die Elementatio theologica und den Parmenides-Kommentar, die ihm in der Übersetzung Moerbekes vorlagen. Überdies veranlasste er den italienischen Humanisten Pietro Balbi (Petrus Balbus), die erste lateinische Übersetzung der Platonischen Theologie anzufertigen. Die erste Fassung dieser Übersetzung wurde 1462 vollendet. Nikolaus versah seine Handschriften der drei Werke mit zahlreichen Randnotizen, die teils ausführliche Erläuterungen enthalten. Sein Anliegen war insbesondere die Vertiefung des Verständnisses der absolut transzendenten Einheit und die Klärung des Verhältnisses des Einen zur Vielheit. In der Erkenntnistheorie verwertete er eine Reihe von proklischen Konzepten und Denkstrukturen für seine eigene Lehre, darunter die These, dass der Rückgang des Denkens in sich selbst zur Sicht der eigenen Einheit führe, in der sich die absolute Einheit als konstitutive Voraussetzung des Denkens zeige, wodurch sich eine unbezweifelbare Gewissheit erlangen lasse. Das von Nikolaus entwickelte Konzept des „Nicht-Anderen“, nach dem jedes Einzelne in sich die gesamte Wirklichkeit enthält und die Wahrheit daher nicht im Anderen zu suchen ist, war als Präzisierung und Fortführung der proklischen Theorie des Einen gedacht. Allerdings wich der spätmittelalterliche Philosoph von dem antiken Modell ab, indem er dem göttlichen Nicht-Anderen einen trinitarischen Aspekt zuwies. Arabischsprachiger Raum Im arabischsprachigen Raum wurde Proklos Buruḳlus genannt. Den mittelalterlichen muslimischen Denkern war er in erster Linie als Vertreter der These von der Anfangslosigkeit der Welt bekannt. Seine Schrift über dieses Thema, deren griechischer Originaltext heute verloren ist, lag ihnen in verschiedenen arabischen Übersetzungen vor. Es soll eine vollständige Übersetzung existiert haben, die nicht erhalten geblieben ist. Erhalten sind eine unvollständige, nur die Hälfte der achtzehn Argumente des Proklos enthaltende Übersetzung, die der Gelehrte Ḥunain ibn Isḥāq im 9. Jahrhundert angefertigt hat, sowie eine ebenfalls fragmentarische arabische Fassung, deren Urheber unbekannt ist. Eine dritte, heute verlorene Übersetzung verwendete im 12. Jahrhundert der Gelehrte Muḥammad ibn ʿAbd al-Karīm aš-Šahrastānī in seiner Schrift über die Religionen und philosophischen Richtungen, in der er ausführlich auf die proklische Lehre einging. Auch die Gegenschrift des Christen Johannes Philoponos war den arabischsprachigen Autoren zugänglich. Ins Arabische übertragen wurde auch zumindest ein Teil der Lehrsätze der Grundlagen der Theologie. Eine Sammlung von zwanzig Lehrsätzen mit erheblichen inhaltlichen Veränderungen gegenüber dem griechischen Originaltext wurde irrtümlich dem Philosophen Alexander von Aphrodisias zugeschrieben. Dieses Corpus ist heute unter der modernen Bezeichnung „Proclus Arabus“ (arabischer Proklos) bekannt. Ferner waren die Grundlagen der Theologie die Hauptquelle – nicht die einzige Quelle, wie man früher glaubte – der wohl im 9. Jahrhundert entstandenen arabischen Schrift Kalām fī maḥḍ al-ḫayr (Abhandlung über das reine Gute), die anscheinend aus dem Kreis um den in Bagdad tätigen Gelehrten al-Kindī († 873) stammt. Bei al-Kindī ist der Einfluss der proklischen Theologie deutlich erkennbar. Zur Schulrichtung al-Kindīs gehörte der im 10. Jahrhundert lebende Philosoph Abū l-Ḥasan Muḥammad ibn Yūsuf al-ʿĀmirī. Er verfasste ein Buch über die Kapitel der göttlichen Erkenntnisgegenstände (Kitāb al-fuṣūl fī l-maʿālim al-ilāhīya), das in erster Linie eine Paraphrase der Grundlagen der Theologie ist. Byzantinisches Reich Im Byzantinischen Reich erwachte im 11. Jahrhundert ein neues Interesse an Proklos. Den Anfang machte Michael Psellos, der den zuvor wenig beachteten spätantiken Philosophen wiederentdeckte und dessen Lehre für den Gipfel der antiken griechischen Philosophie hielt. Psellos’ Schüler Johannes Italos setzte sich intensiv mit Proklos’ Grundlagen der Theologie auseinander. Isaak Sebastokrator, ein Bruder des Kaisers Alexios I., verfasste drei Schriften, in die er umfangreiche Paraphrasen aus den „drei kleinen Werke“ des Proklos über Probleme der Vorsehung und des Schlechten aufnahm, wobei er den Inhalt christianisierte. Gegen die von Psellos initiierte positive Rezeption des paganen Denkers wandte sich im 12. Jahrhundert Bischof Nikolaos von Methone. Er verfasste eine Kampfschrift, in der er gegen die proklische Theologie polemisierte. Ab dem 13. Jahrhundert wurde die Kurze Darstellung astronomischer Hypothesen des Proklos im Astronomieunterricht als Lehrbuch verwendet. In dem Streit zwischen dem Theologen Gregorios Palamas und dem humanistisch gesinnten Philosophen Barlaam von Kalabrien, der im 14. Jahrhundert mit seinen Weiterungen die Orthodoxie erschütterte, zählte Proklos zu den Autoritäten, auf die sich Barlaam berief, während Palamas den Neuplatonismus vehement verwarf. Der pagane byzantinische Philosoph Georgios Gemistos Plethon († 1452) beurteilte die proklische Philosophie teilweise kritisch. Er teilte manche der metaphysischen Überzeugungen des Proklos, missbilligte aber dessen Parmenides-Interpretation und die triadische Theologie. Gemistos glaubte, Proklos sei von dem Christen Dionysius Areopagita beeinflusst; er wollte den Platonismus von christlichen Verfälschungen befreien und sich an die authentische pagane Lehre Platons halten. Georgien und Armenien Wahrscheinlich im späten 11. oder frühen 12. Jahrhundert übersetzte der in Konstantinopel ausgebildete georgische Philosoph Ioane Petrizi die Grundlagen der Theologie ins Altgeorgische und schrieb einen Kommentar dazu, in dem er jeden Lehrsatz erklärte. Dabei zog er auch die Platonische Theologie und den Parmenides-Kommentar des Proklos heran und gab sich als Anhänger von dessen Lehre zu erkennen. Er hielt Proklos für den wichtigsten aller Philosophen, denn ihm sei die klare Darlegung dessen, was Platon nur angedeutet habe, zu verdanken. Aus Petrizis Sicht ist die Philosophie des antiken Neuplatonikers mit dem christlichen Trinitätsdogma vereinbar und nicht polytheistisch. Auf der Basis der georgischen Übersetzung der Grundlagen der Theologie entstand im Jahr 1248 eine altarmenische Übersetzung des Werks sowie von Petrizis Kommentar. Sie wurde von einem in Georgien lebenden armenischen Mönch erstellt. Frühe Neuzeit In der Renaissance stand Proklos im Schatten des Pseudo-Dionysius Areopagita, der weiterhin als Schüler des Apostels Paulus galt; man glaubte, der pagane Philosoph habe Gedankengut des christlichen Theologen übernommen. Dieser Ansicht war insbesondere der neuplatonisch orientierte Denker Marsilio Ficino (1433–1499), der als führender Übersetzer und Interpret antiken platonischen Schrifttums hervortrat. Sein Verhältnis zu Proklos war relativ distanziert; er ließ sich zwar vielfach von den Ideen des spätantiken Neuplatonikers anregen, spielte dessen Bedeutung aber herunter. Der zuvor unbekannte Teil von Proklos’ handschriftlich überliefertem Œuvre wurde von den Renaissance-Humanisten entdeckt und der Gelehrtenwelt zugänglich gemacht. Seine Werke wurden von den Platonikern unter den Humanisten rezipiert, aber auch die antiproklische Polemik des mittelalterlichen griechischen Bischofs Nikolaos von Methone fand viel Beachtung. Kardinal Bessarion veröffentlichte 1469 seine gegen den antiplatonischen Gelehrten Georgios Trapezuntios gerichtete Kampfschrift In calumniatorem Platonis (Gegen den Verleumder Platons), in der er sich bei der Verteidigung Platons auf die Platonische Theologie des Proklos stützte. Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) nahm in sein Werk 900 Thesen (Conclusiones nongentae) eine Fülle von proklischem Material auf, darunter 55 Thesen, die er ausdrücklich als von Proklos stammend kennzeichnete. Francesco Patrizi da Cherso (1529–1597) verwertete in seiner Schrift Nova de universis philosophia (1591) Gedanken aus Proklos’ Werken, vor allem aus den Grundlagen der Theologie. Die Erstausgabe des Euklid-Kommentars des Proklos erschien 1533; es folgte eine lateinische Übersetzung, die der Mathematiker Francesco Barozzi 1560 publizierte. Im 16. Jahrhundert wurde dieses Werk in Debatten über Fragen der Philosophie der Mathematik herangezogen, an denen sich neben Barozzi u. a. der Philosoph Alessandro Piccolomini und der Mathematiker Konrad Dasypodius beteiligten. Eines der Themen war die Frage, inwieweit die Mathematik als Wissenschaft betrachtet werden kann, obwohl sie keine Ursachen ermittelt. Johannes Kepler schätzte Proklos. Er zitierte den Euklid-Kommentar ausführlich und bezeichnete ihn als vorbildlich für den philosophischen Umgang mit der Mathematik. Besonders gefiel ihm die Kritik des spätantiken Neuplatonikers an der Kompliziertheit des ptolemäischen Modells der Planetenbewegungen. Im 18. Jahrhundert fand die Philosophie des Proklos wenig Resonanz. Die metaphysischen Anliegen der spätantiken Neuplatoniker waren dem damaligen Zeitgeist fremd, der Philosophiehistoriker Dietrich Tiedemann fällte 1793 ein vernichtendes Urteil. Gängig war die Einschätzung, es handle sich um einen abstrakten und leeren Scholastizismus und um Träumerei. Auch als Dichter wurde Proklos kaum beachtet; immerhin übertrug Johann Gottfried Herder die Hymne auf Athene ins Deutsche. Herder publizierte seine Übersetzung 1795 in der literarischen Monatsschrift Die Horen. Moderne In der frühen Moderne setzte ein verstärktes Interesse an der proklischen Philosophie ein. Der populärwissenschaftliche Schriftsteller Thomas Taylor (1758–1835) übersetzte ab dem späten 18. Jahrhundert die Werke des Proklos ins Englische und machte sie damit einem breiteren Publikum zugänglich. Zu den Lesern, denen er das Gedankengut des Neuplatonikers erschloss, zählte Ralph Waldo Emerson. In fachphilosophischen Kreisen war es vor allem Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der mit seiner dezidierten Anknüpfung an die Denkweise des spätantiken Neuplatonikers eine „Proklos-Renaissance“ initiierte. Die Urteile über die proklische Lehre fielen im 19. und frühen 20. Jahrhundert sehr unterschiedlich aus; neben Bewunderung für das dialektische Moment der Methode und das großangelegte System stand eine teils schroffe Ablehnung der spekulativen Vorgehensweise. Später hat sich in der Fachwelt eine insgesamt positive Einschätzung durchgesetzt. Hegel betrachtete den Neuplatonismus als Vollendung der gesamten antiken Philosophie und die Metaphysik des Proklos als Vollendung des Neuplatonismus und damit als Höhepunkt des antiken Denkens. Er schätzte an Proklos dessen Systematisierung der neuplatonischen Lehre, die Wiederaufnahme und Weiterführung von Platons Dialektik des Einen in der Parmenides-Deutung und die Vermehrung der Hypostasen im Rahmen eines Systems universaler Vermittlung. Hegel zog die Platonische Theologie und die Grundlagen der Theologie heran; ob er auch den Parmenides-Kommentar gelesen hat, ist ungewiss. Nach seiner Ansicht ist Proklos’ Denken „logischer“ als dasjenige Plotins und seine Platondeutung die historisch korrektere. Als Hauptleistung des Proklos betrachtete Hegel die Herausarbeitung der triadischen Struktur, das Konzept der „Dreieinigkeit“. Er teilte die Auffassung des antiken Denkers, der zufolge die mannigfaltigen Manifestationen notwendigerweise aus einer ursprünglichen einfachen Einheit hervorgehen, und nahm wie Proklos eine Rückwendung des Hervorgegangenen zum Ursprung an. Ein fundamentaler Unterschied zwischen den Ansichten der beiden Philosophen besteht jedoch in der Einschätzung der Rolle dieses Prozesses. Hegel sah darin eine dialektische Weiter- und Höherentwicklung; deren Resultat sei ein allumfassendes und daher die Vielheit und die Bestimmungen einschließendes Absolutes, das erst durch den Prozess zu sich selbst komme und damit die noch unbestimmte und daher mangelhafte ursprüngliche Einheit und Einfachheit übertreffe. Nach der proklischen Lehre hingegen ist bereits die anfängliche Einfachheit schlechthin vollkommen, ihre Mächtigkeit besteht gerade in ihrer Bestimmungslosigkeit und jede Vielheit ist von ihr prinzipiell ausgeschlossen. Somit bedarf das Eine der aus ihm hervorgegangenen Entitäten in keiner Weise, das Absolute gewinnt durch den Prozess nichts. Kritiker Hegels sahen seine Nähe zu Proklos und nahmen sie aufs Korn. So befand Ludwig Feuerbach in abwertendem Sinn, Hegel sei „der deutsche Proklus“. Arthur Schopenhauer kritisierte die Methode des Proklos vehement. Der Fehler sei, dass von den Begriffen als dem Gegebenen ausgegangen werde; es werde aus den Begriffen statt in sie gearbeitet. Proklos raffe Abstrakta auf und ignoriere dabei die Anschauungen, „denen allein sie ihren Ursprung und allen Gehalt verdanken“. Als „Begriffsarchitekt“ erbaue er mit unbefangener Dreistigkeit eine Welt von Hirngespinsten. Diese Vorgehensweise sei auch diejenige zeitgenössischer Philosophen wie Hegel und Schelling, die ebenfalls derartigen „hohlen Wortkram“ produziert hätten. Proklos sei ein „seichter, breiter, fader Schwätzer“; er habe das „breiteste, weitschweifigste Gewäsche von der Welt“ verfasst. Eduard von Hartmann urteilte, Hegels triadische Dialektik sei „dem unfruchtbaren Scharfsinn und der schablonenhaften Schematisierungssucht des Proklos geistesverwandt“, der echte Ruhm Plotins sei durch den falschen des Proklos verdunkelt worden. Friedrich Nietzsche sah in Proklos den Repräsentanten einer dem Christentum entgegengesetzten Haltung und äußerte sich 1875 anerkennend: „Am Ausgange des Alterthums stehen noch ganz unchristliche Gestalten, die schöner, reiner und harmonischer sind, als alle christlichen; zum Beispiel Proklos.“ Hermann Cohen, der Begründer der „Marburger Schule“ des Neukantianismus, hielt den Euklid-Kommentar des Proklos für „die beste Philosophie der Mathematik“. Er tadelte jedoch in seiner 1902 publizierten Schrift Logik der reinen Erkenntniss den „schlechten Einfluss“, den Aristoteles durch sein „inneres logisches Missverhältniss zur Mathematik“ auf den Neuplatoniker ausgeübt habe. 1909 veröffentlichte Nicolai Hartmann seine Marburger Habilitationsschrift Des Proklus Diadochus philosophische Anfangsgründe der Mathematik, in der er das philosophische Mathematikverständnis des Proklos aus der Perspektive des in Marburg damals gepflegten neukantianischen Idealismus untersuchte. Der renommierte Philologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff fällte aus literaturwissenschaftlicher Sicht ein ungünstiges Urteil: Die Hymnen seien nur Einkleidungen von Dogmen in die konventionelle epische Hymnenform, in den Kommentaren habe Proklos die Erklärung des kommentierten Werkes ganz aus den Augen verloren und seine ganze philosophische Schriftstellerei habe kaum noch stilistische Aspirationen. Eduard Zeller befand in seinem 1923 in fünfter Auflage erschienenen Handbuch der griechischen Philosophiegeschichte, Proklos habe seine Aufgabe, die Lehre seiner Schule in ihrem wissenschaftlichen Aufbau zum Abschluss zu bringen, mit logischer Meisterschaft gelöst. Er habe eine seltene Stärke des logischen Denkens besessen, doch sei dieses Denken „von Hause aus unfrei“, durch Autoritäten und Voraussetzungen aller Art gefesselt gewesen. So habe er scharfsinnig daran gearbeitet, die Widersprüche und Ungereimtheiten der mythologischen und dogmatischen Überlieferung zu beseitigen. Anerkennenswert seien die Großartigkeit der Anlage des Systems und die Beharrlichkeit, mit der ein Grundgedanke bis in seine feinsten Verzweigungen verfolgt werde, sowie die Kunst, mit der aus ungleichartigen Bestandteilen ein symmetrisches Ganzes gebildet sei. Dennoch hinterlasse das System keinen befriedigenden Eindruck, denn sein Ausbau sei nur der logischen Konsequenz entsprungen, mit der abstrakte Voraussetzungen in immer weitere Abstraktionen ausgesponnen worden seien. Für Karl Praechter, dessen Standardwerk „Ueberweg-Praechter“ 1926 in zwölfter Auflage erschien, war Proklos „der große Scholastiker des Altertums“. Er habe die herkömmlichen Lehren mit allen Mitteln subtilster Begriffsbehandlung bearbeitet und gewaltige überlieferte Vorstellungsmassen zu einem großen Gedankengebäude zusammengefügt. Ernst Bloch schätzte Proklos als Dialektiker; er meinte, der Neuplatoniker habe „das schwierige Fahrwasser des dialektischen Widerspruchs, also der wahren Welt“ befahren und mit dem „Dreiklang der ersten Entfaltungs-Triade: Beharren, Hervortritt, Rückkehr“ ein „Stück Heraklitische Tiefe“ in seinem Denken gehabt. Hegel habe ihn als Geistesverwandten energisch neu entdeckt: „Gleiches wird durch Gleiches erkannt.“ Starke Impulse erhielt die Proklos-Forschung von Werner Beierwaltes, der in einer Reihe von Arbeiten Fragen der proklischen Lehre und ihrer Rezeptionsgeschichte untersuchte und mit seiner erstmals 1965 publizierten, 1979 in zweiter Auflage erschienenen Monographie Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik ein Standardwerk schuf. Beierwaltes bemühte sich nach seinen Worten, einen Eindruck vom Entfaltungsreichtum und der Faszinationskraft des proklischen Denkens zu vermitteln. Dieses könne in der Gegenwart zum Impuls werden, zentrale Fragen der Metaphysik unter veränderten Bedingungen erneut zu durchdenken und fortzubestimmen. Jens Halfwassen würdigte Proklos 2004 als „Hegel der Antike“, als Schöpfer einer Metaphysik, welche „die vollendetste systematische Ausgestaltung des neuplatonischen Denkens“ sei; er habe das umfassendste und differenzierteste aller neuplatonischen Systeme ersonnen. Seine spekulative Begabung und sein „unvergleichlicher Scharfsinn“ verschaffe ihm einen herausragenden Platz in der Geschichte des Neuplatonismus. Gyburg Radke hob 2006 die Differenziertheit und den Reichtum von Proklos’ Platon-Interpretation lobend hervor; er habe die Dialoge in humanistischem Geist aufgefasst und den Parmenides „auch auf der Ebene der Dialoghandlung als Inbegriff der Humanität präsentiert“. Umstritten ist die Einschätzung der Stichhaltigkeit von Proklos’ Argumentation in den Grundlagen der Theologie vom Standpunkt der modernen Logik und der Mengenlehre aus. Kritisiert wird unter anderem, Proklos projiziere die Strukturen der Logik unreflektiert auf diejenigen des Kosmos. Der Mondkrater Proclus ist nach dem Philosophen benannt. Quellenausgabe mit Übersetzung Henri Dominique Saffrey, Alain-Philippe Segonds (Hrsg.): Marinus: Proclus ou Sur le bonheur. Les Belles Lettres, Paris 2001, ISBN 2-251-00496-3 (kritische Edition des griechischen Textes der Vita Procli des Marinos von Neapolis mit französischer Übersetzung und Kommentar) Ausgaben und Übersetzungen der Werke Textausgaben (teilweise mit Übersetzungen) Platonkommentare Michele Abbate (Hrsg.): Proclo: Commento alla Repubblica di Platone (dissertazioni I, III–V, VII–XII, XIV–XV, XVII). Bompiani, Milano 2004, ISBN 88-452-1212-2 (ohne kritischen Apparat, mit italienischer Übersetzung) Ernst Diehl (Hrsg.): Procli diadochi in Platonis Timaeum commentaria. 3 Bände, Teubner, Leipzig 1903–1906 (kritische Edition, Band 1 online, Band 2 online, Band 3 online) Wilhelm Kroll (Hrsg.): Procli diadochi in Platonis rem publicam commentarii, 2 Bände, Teubner, Leipzig 1899–1901 (kritische Edition, Band 1 online, Band 2 online) Robert Lamberton (Hrsg.): Proclus the Successor: On Poetics and the Homeric Poems. Essays 5 and 6 of His Commentary on the Republic of Plato. Society of Biblical Literature, Atlanta 2012, ISBN 978-1-58983-711-9 (unkritische Ausgabe mit englischer Übersetzung) Concetta Luna, Alain-Philippe Segonds (Hrsg.): Proclus: Commentaire sur le Parménide de Platon. Les Belles Lettres, Paris (kritische Edition mit französischer Übersetzung) Bd. 1, Teil 1: Introduction générale, 2007, ISBN 978-2-251-00538-6 Bd. 1, Teil 2: Livre I, 2007, ISBN 978-2-251-00538-6 Bd. 2: Livre II, 2010, ISBN 978-2-251-00560-7 Bd. 3, Teil 1: Introduction au livre III, 2011, ISBN 978-2-251-00563-8 Bd. 3, Teil 2: Livre III, 2011, ISBN 978-2-251-00563-8 Bd. 4, Teil 1: Livre IV, 2013, ISBN 978-2-251-00585-0 Bd. 4, Teil 2: Notes complémentaires et index du livre IV, 2013, ISBN 978-2-251-00585-0 Bd. 5: Livre V, 2014, ISBN 978-2-251-00590-4 Bd. 6: Livre VI, 2017, ISBN 978-2-251-00613-0 Giorgio Pasquali (Hrsg.): Procli diadochi in Platonis Cratylum commentaria. Teubner, Leipzig 1908 (kritische Edition, online; neu abgedruckt in: Francesco Romano (Hrsg.): Proclo: Lezioni sul „Cratilo“ di Platone. L’Erma di Bretschneider, Rom 1989, ISBN 88-7062-696-2, mit Einleitung, italienischer Übersetzung und Kommentar von Romano) Alain Philippe Segonds (Hrsg.): Proclus: Sur le Premier Alcibiade de Platon. 2. Auflage, 2 Bände, Les Belles Lettres, Paris 2003, ISBN 2-251-00388-6 und ISBN 2-251-00393-2 (kritische Edition mit französischer Übersetzung) Carlos Steel (Hrsg.): Procli in Platonis Parmenidem commentaria, 3 Bände, Oxford University Press, Oxford 2007–2009 (kritische Edition, unterscheidet sich teils erheblich von der etwa zeitgleich begonnenen Pariser Edition) Theologie, Metaphysik, Naturphilosophie, Lehre vom Schlechten Joseph Bidez (Hrsg.): Proclus, Περὶ τῆς καθ’ Ἕλληνας ἱερατικῆς τέχνης. In: Joseph Bidez (Hrsg.): Catalogue des manuscrits alchimiques grecs. Bd. 6, Lamertin, Bruxelles 1928, S. 137–151 (kritische Edition), Eric Robertson Dodds (Hrsg.): Proclus: The Elements of Theology. A Revised Text. Oxford University Press, Oxford 1963 (kritische Edition der Stoicheíōsis theologikḗ mit englischer Übersetzung) Helen S. Lang, Anthony David Macro (Hrsg.): Proclus: On the Eternity of the World. De Aeternitate Mundi. University of California Press, Berkeley 2001, ISBN 0-520-22554-6 (kritische Edition mit englischer Übersetzung) Ernst-Otto Onnasch, Ben Schomakers (Hrsg.): Proklos: Theologische Grundlegung. Meiner, Hamburg 2015, ISBN 978-3-7873-1656-4 (griechischer Text der Stoicheíōsis theologikḗ mit deutscher Übersetzung und Kommentar) Henri D. Saffrey, Leendert G. Westerink (Hrsg.): Proclus: Théologie platonicienne. 6 Bände, Les Belles Lettres, Paris 1968–1997 (kritische Edition mit französischer Übersetzung) Erwin Sonderegger (Hrsg.): Proklos: Grundkurs über Einheit. Grundzüge der neuplatonischen Welt. Academia, Sankt Augustin 2004, ISBN 3-89665-270-2 (griechischer Text der Stoicheíōsis theologikḗ nach Dodds [ohne kritischen Apparat] und deutsche Übersetzung) Benedikt Strobel (Hrsg.): Proklos, Tria opuscula. Textkritisch kommentierte Retroversion der Übersetzung Wilhelms von Moerbeke. De Gruyter, Berlin 2014, ISBN 978-3-11-026625-2 (Rekonstruktion der verlorenen griechischen Originaltexte anhand der mittelalterlichen lateinischen Übersetzungen mit ausführlichem Stellenkommentar) Hesiod-Kommentar Patrizia Marzillo (Hrsg.): Der Kommentar des Proklos zu Hesiods „Werken und Tagen“. Narr, Tübingen 2010, ISBN 978-3-8233-6353-8 (kritische Edition mit Übersetzung und Erläuterung) Mathematik und Naturwissenschaft Gottfried Friedlein (Hrsg.): Procli diadochi in primum Euclidis elementorum librum commentarii. Olms, Hildesheim 1967 (Nachdruck der Ausgabe Teubner, Leipzig 1873; kritische Edition, unzulänglich, aber noch immer maßgeblich; online) Karl Manitius (Hrsg.): Procli Diadochi hypotyposis astronomicarum positionum. Teubner, Stuttgart 1974, ISBN 3-519-01732-6 (kritische Edition mit deutscher Übersetzung, online) Albert Ritzenfeld (Hrsg.): Procli diadochi Lycii institutio physica. Teubner, Leipzig 1912 (kritische Edition mit deutscher Übersetzung) Hymnen Robbert M. van den Berg (Hrsg.): Proclus’ hymns. Essays, translations, commentary. Brill, Leiden 2001, ISBN 90-04-12236-2 (mit englischer Übersetzung und ausführlichem Kommentar) Ernst Vogt (Hrsg.): Procli hymni. Harrassowitz, Wiesbaden 1957 (kritische Edition) Übersetzungen (modern) Platonkommentare Dirk Baltzly, John F. Finamore, Graeme Miles (Übersetzer): Proclus: Commentary on Plato’s Republic. Cambridge University Press, Cambridge 2018 ff. Band 1: Essays 1–6, 2018, ISBN 978-1-107-15469-8 Brian Duvick (Übersetzer): Proclus: On Plato Cratylus. Bloomsbury, London 2014, ISBN 978-0-7156-3674-9 André-Jean Festugière (Übersetzer): Proclus: Commentaire sur la République. 3 Bände, Vrin, Paris 1970 André-Jean Festugière (Übersetzer): Proclus: Commentaire sur le Timée. 5 Bände, Vrin, Paris 1966–1968 William O’Neill (Übersetzer): Proclus: Alcibiades I. A translation and commentary. 2. Auflage, Nijhoff, Den Haag 1971, ISBN 90-247-5131-4 Harold Tarrant, David T. Runia, Michael Share, Dirk Baltzly (Übersetzer): Proclus: Commentary on Plato’s Timaeus. 6 Bände, Cambridge University Press, Cambridge 2007–2017 Hans Günter Zekl (Übersetzer): Proklos Diadochos: Kommentar zum platonischen Parmenides. Königshausen & Neumann, Würzburg 2010, ISBN 978-3-8260-4383-3 Sonstige Schriften Matthias Baltes (Übersetzer): Proklos: Über die immerwährende Dauer des Kosmos. In: Matthias Baltes: Die Weltentstehung des platonischen Timaios nach den antiken Interpreten, Teil 2: Proklos. Brill, Leiden 1978, ISBN 90-04-05799-4, S. 134–164 Michael Erler (Übersetzer): Proklos Diadochos: Über die Existenz des Bösen. Hain, Meisenheim am Glan 1978, ISBN 3-445-01882-0 (mit Erläuterungen) Michael Erler (Übersetzer): Proklos Diadochos: Über die Vorsehung, das Schicksal und den freien Willen an Theodoros, den Ingenieur (Mechaniker). Hain, Meisenheim am Glan 1980, ISBN 3-445-02100-7 (mit Erläuterungen) Jan Opsomer, Carlos Steel (Übersetzer): Proclus: Ten Problems Concerning Providence. Bloomsbury, London 2012, ISBN 978-0-7156-3924-5 Max Steck (Hrsg.), Leander Schönberger (Übersetzer): Proklus Diadochus 410–485: Kommentar zum ersten Buch von Euklids „Elementen“. Deutsche Akademie der Naturforscher, Halle (Saale) 1945 Ingeborg Zurbrügg (Übersetzerin): Proklos: Elemente der Theologie. Gardez, Remscheid 2004, ISBN 3-89796-123-7 (mit Erläuterungsheft: Enchiridion – Handbuch. Zur Erläuterung, Kommentierung und Vertiefung der Übersetzung der Elemente der Theologie des Proklos, Gardez, Remscheid 2005, ISBN 3-89796-160-1) Übersetzungen (lateinisch, mittelalterlich) Rainer Bartholomai (Hrsg.): Proklos: Kommentar zu Platons Parmenides 141 E – 142 A. 2., neu bearbeitete Auflage, Academia, Sankt Augustin 2002, ISBN 3-89665-206-0 (lateinische Übersetzung Wilhelms von Moerbeke mit deutscher Übersetzung von Bartholomai) Helmut Boese (Hrsg.): Die mittelalterliche Übersetzung der Stoicheiosis physike des Proclus. Procli Diadochi Lycii elementatio physica. Akademie-Verlag, Berlin 1958 (kritische Edition) Helmut Boese (Hrsg.): Proclus: Elementatio theologica translata a Guillelmo de Morbecca. University Press, Louvain 1987, ISBN 90-6186-244-2 Daniel Isaac (Hrsg.): Proclus: Trois études sur la providence. Les Belles Lettres, Paris 1977–1982 (kritische Ausgabe der lateinischen Übersetzungen Wilhelms von Moerbeke mit französischer Übersetzung sowie einiger griechischer Fragmente) Bd. 1: Dix problèmes concernant la providence, 1977 Bd. 2: Providence, fatalité, liberté, 1979, ISBN 2-251-00290-1 Bd. 3: De l’existence du mal, 1982, ISBN 2-251-00291-X Carlos Steel (Hrsg.): Proclus: Commentaire sur le Parménide de Platon. Traduction de Guillaume de Moerbeke. University Press, Louvain 1982–1985, ISBN 90-6186-124-1 (kritische Edition) Band 1: Livres I à IV, 1982 Band 2: Livres V à VII et Notes marginales de Nicolas de Cues, 1985 Übersetzung (arabisch, mittelalterlich) Gerhard Endress (Hrsg.): Proclus Arabus. Zwanzig Abschnitte aus der Institutio theologica in arabischer Übersetzung. Steiner, Wiesbaden 1973 Literatur Übersichtsdarstellungen Concetta Luna, Alain-Philippe Segonds, Gerhard Endress: Proclus de Lycie. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 5, Teil 2 (= 5 b), CNRS Éditions, Paris 2012, ISBN 978-2-271-07399-0, S. 1546–1674 (enthält umfassende Übersicht über die Werke, berücksichtigt auch die orientalische Rezeption) Matthias Perkams: Proklos. In: Christoph Riedweg u. a. (Hrsg.): Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Band 5/3). Schwabe, Basel 2018, ISBN 978-3-7965-3700-4, S. 1909–1971, 2136–2152 Carlos Steel: Proclus. In: Lloyd P. Gerson (Hrsg.): The Cambridge History of Philosophy in Late Antiquity. Band 2, Cambridge University Press, Cambridge 2010, ISBN 978-0-521-19484-6, S. 630–653, 1124–1128 Einführungen, Gesamtdarstellungen, Allgemeines Radek Chlup: Proclus. An Introduction. Cambridge University Press, Cambridge 2012, ISBN 978-0-521-76148-2 Elena Gritti: Proclo. Dialettica, Anima, Esegesi. Edizioni Universitarie di Lettere, Economia, Diritto, Milano 2008, ISBN 978-88-7916-385-9 Gyburg Radke: Das Lächeln des Parmenides. Proklos’ Interpretationen zur Platonischen Dialogform. De Gruyter, Berlin 2006, ISBN 3-11-019014-1 Lucas Siorvanes: Proclus. Neo-Platonic Philosophy and Science. Yale University Press, New Haven/London 1996, ISBN 0-300-06806-9 Aufsatzsammlungen Werner Beierwaltes: Procliana. Spätantikes Denken und seine Spuren. Klostermann, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-465-03513-8 (Sammlung von Aufsätzen des Verfassers, die teilweise rezeptionsgeschichtliche Themen behandeln) Egbert P. Bos, Pieter A. Meijer (Hrsg.): On Proclus and his influence in medieval philosophy. Brill, Leiden 1992, ISBN 90-04-09429-6 Stephen Gersh (Hrsg.): Interpreting Proclus. From Antiquity to the Renaissance. Cambridge University Press, Cambridge 2014, ISBN 978-0-521-19849-3 (Rezension bei H-Soz-Kult) Alain Lernould (Hrsg.): Études sur le Commentaire de Proclus au premier livre des Éléments d’Euclide. Presses Universitaires du Septentrion, Villeneuve d’Ascq 2010, ISBN 978-2-7574-0155-2 Jean Pépin, Henri Dominique Saffrey (Hrsg.): Proclus lecteur et interprète des anciens. Éditions du CNRS, Paris 1987, ISBN 2-222-04043-4 Matthias Perkams, Rosa Maria Piccione (Hrsg.): Proklos. Methode, Seelenlehre, Metaphysik. Brill, Leiden 2006, ISBN 90-04-15084-6 Alain Philippe Segonds, Carlos Steel (Hrsg.): Proclus et la Théologie Platonicienne. University Press, Louvain 2000, ISBN 90-5867-020-1 Metaphysik Werner Beierwaltes: Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, Klostermann, Frankfurt am Main 1979, ISBN 3-465-01353-0 Dirk Cürsgen: Henologie und Ontologie. Die metaphysische Prinzipienlehre des späten Neuplatonismus. Königshausen & Neumann, Würzburg 2007, ISBN 978-3-8260-3616-3, S. 37–284 Veronika Maria Roth: Das ewige Nun. Ein Paradoxon in der Philosophie des Proklos. Duncker & Humblot, Berlin 2008, ISBN 978-3-428-12273-8 Naturphilosophie Marije Martijn: Proclus on Nature. Philosophy of Nature and Its Methods in Proclus’ Commentary on Plato’s Timaeus. Brill, Leiden 2010, ISBN 978-90-04-18191-5 Benjamin Gleede: Platon und Aristoteles in der Kosmologie des Proklos. Ein Kommentar zu den 18 Argumenten für die Ewigkeit der Welt bei Johannes Philoponos (= Studien und Texte zu Antike und Christentum, Band 54). Mohr Siebeck, Tübingen 2009, ISBN 978-3-16-150043-5 Ethik und Lehre vom Schlechten Nestor Kavvadas: Die Natur des Schlechten bei Proklos. Eine Platoninterpretation und ihre Rezeption durch Dionysios Areopagites. De Gruyter, Berlin 2009, ISBN 978-3-11-021230-3 John Phillips: Order from Disorder. Proclus’ Doctrine of Evil and its Roots in Ancient Platonism. Brill, Leiden 2007, ISBN 978-90-04-16018-7 Reinhard Pichler: Allegorese und Ethik bei Proklos. Untersuchungen zum Kommentar zu Platons Politeia. Frank & Timme, Berlin 2006, ISBN 3-86596-027-8 Mathematik Markus Schmitz: Euklids Geometrie und ihre mathematiktheoretische Grundlegung in der neuplatonischen Philosophie des Proklos. Königshausen & Neumann, Würzburg 1997, ISBN 3-8260-1268-2 Weblinks Überblick Bibliographien Christoph Helmig: Verzeichnis von Ausgaben und Übersetzungen der Werke des Proklos Pieter d’Hoine: Proklos-Bibliographie für den Zeitraum ab 1990 Ausgaben , Edition von Victor Cousin (1864) Tria opuscula, Edition von Victor Cousin (1820) Übersetzungen Platonische Theologie, englische Übersetzung von Thomas Taylor (1816) Stoicheiosis Theologikê, alle 211 Thesen griech./dt. Timaios-Kommentar, englische Übersetzung von Thomas Taylor (1820), Band 1 Timaios-Kommentar, englische Übersetzung von Thomas Taylor (1820), Band 2 Euklid-Kommentar, englische Übersetzung von Thomas Taylor, Band 1 (1788) Euklid-Kommentar, englische Übersetzung von Thomas Taylor, Band 2 (1792) Über zehn die Vorsehung betreffende Zweifelsfragen und Über die Beschaffenheit der Übel, englische Übersetzung von Thomas Taylor (1833) Fragments of the Lost Writings of Proclus, englische Übersetzung von Thomas Taylor (1825) Anmerkungen Philosoph (Antike) Philosoph (5. Jahrhundert) Neuplatoniker Person als Namensgeber für einen Mondkrater Grieche (Antike) Geboren 412 Gestorben 485 Mann
450672
https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss%20Raesfeld
Schloss Raesfeld
Das Schloss Raesfeld [] ist ein Wasserschloss in Raesfeld im Kreis Borken, Nordrhein-Westfalen. Die Geschichte der Anlage reicht bis in die Anfänge des 12. Jahrhunderts zurück. Ende des 16. Jahrhunderts kam die Ritterburg der Herren von Raesfeld in den Besitz derer von Velen. Mitte des 17. Jahrhunderts ließ der Reichsgraf Alexander II. von Velen die Burg zum Residenzschloss im Stil der Renaissance ausbauen. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts starb das Geschlecht der von Velen zu Raesfeld aus; das Schloss wurde nur noch unregelmäßig bewohnt und verfiel allmählich. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts wurden Teile der Anlage abgerissen oder bis ins 20. Jahrhundert als landwirtschaftlicher Gutshof genutzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließen es die Handwerkskammern des Landes Nordrhein-Westfalen als neue Besitzer restaurieren. Heute ist das Schloss Sitz der Fort- und Weiterbildungseinrichtung der Handwerkskammern und wird für kulturelle Veranstaltungen und als Restaurant genutzt. Seit 2007 kann man hier heiraten. Von den ehemals vier Flügeln des Oberburg stehen heute noch der Westflügel mit dem markanten stufenförmigen Turm und der nördlich angrenzende Altbau mit einem wiederaufgebauten Rundturm. Wassergräben trennen die Oberburg von der Vorburg und der dörflichen Schlossfreiheit mit der Schlosskapelle. Der angrenzende Tiergarten gehört zu den wenigen erhaltenen aus der Zeit der Renaissance. Eine natur- und kulturhistorische Ausstellung im modernen Informations- und Besucherzentrum Tiergarten Schloss Raesfeld wird dieser Sonderstellung gerecht. Der Tiergarten ist eingebunden in das European Garden Heritage Network. Architektur und Baugeschichte Die Schlossanlage besteht aus der Oberburg, der Vorburg und der umgebenden Schlossfreiheit mitsamt der Schlosskapelle. Eine Gräfte trennt die einzelnen Teile, die ursprünglich nur über Zugbrücken verbunden waren. Der Kunsthistoriker Richard Klapheck schrieb: „Von Süden gesehen, bildet die Gesamtanlage das eindrucksvolle Bild wunderbar ausgeglichener Baumassen. Nirgendwo eine barocke, gewaltsame Störung trotz der übermächtigen Turmvertikalen. Oberburg und Unterburg sind so zueinander gruppiert, daß das Fortissimo der angeschlagenen Töne zu einer Harmonie zusammenklingt und das Gesamtbild nur Gleichmaß und Ruhe atmet.“ Der Vorgänger der heutigen Anlage ist wahrscheinlich die nicht mehr erhaltene, Burg Kretier genannte Turmhügelburg. Sie stand im großen Esch in der Nähe der Isselquelle etwa drei Kilometer nördlich des heutigen Schlosses. Grabungen in den 1950er und 1960er Jahren und dendrochronologische Untersuchungen ergaben, dass dort um 1117 eine hölzerne Turmhügelburg mit Wassergräben über eine Flachsiedlung des 9. oder 10. Jahrhunderts errichtet wurde. Diese ist vermutlich die 889 n. Chr. im Heberegister des Klosters Werden erstmals urkundlich erwähnte Siedlung Hrothusfeld (gerodetes Feld), auf die der Name Raesfeld zurückgeht. Vermutlich nach 1259 brannte die hölzerne Anlage ab. Sie wurde nicht wieder aufgebaut und verfiel. Stattdessen wurde an der Stelle des heutigen Schlosses eine erste steinerne Burg errichtet. Die Burg hatte die Form eines unregelmäßigen Rechtecks mit Kantenlängen von 8,60 m und 9,30 m. An der Nordwestecke des Nordflügels der Oberburg sind Teile erhalten. Es handelt sich um eine etwa 1,80 m dicke Mauer aus Bruchsteinen und Kalkmörtel mit Schießscharten. Die Burg wurde zum Ende des 14. Jahrhunderts zweigeschossig und auf etwa 30,20 m Länge und etwa 12,40 m Breite erweitert. Außerdem wurde sie um einen Vierkantturm an der südlichen Ecke und einen runden Wehrturm auf der diagonal gegenüberliegenden Ecke im Norden ergänzt. Da der Dachstuhl 1597 abgebrannt war, ließ Alexander I. von Velen die Burg von 1604 bis 1606 durch den Baumeister Heinrich von Borken neu aufbauen. Der teilweise zerstörte Rundturm wurde wieder aufgebaut und erhielt eine welsche Haube. Den Abschluss der Arbeiten bezeugen die Eisenzahlen ‚1606‘ an der Südseite des Flügels. Die Ostwand musste allerdings 1614 erneut aufgebaut werden, da ein Sturm die Wand zerstört hatte. Die Ostseite wurde dabei erstmals mit Schmuckwerk wie Gesimsbändern und Wappen an den Giebelkanten verziert. Der angebrachte vierteilige Erker trägt die Jahreszahl 1561 und stammt ursprünglich vom Schloss Velen. Um 1900 wurde er abgenommen und war bis 1933 wieder am Schloss Velen, um dann erneut nach Schloss Raesfeld zu gelangen. Dieser Backsteinbau wurde als Nordflügel in den Ausbau zum Residenzschloss ab 1643 von Alexander II. von Velen einbezogen. Drei zusätzliche Flügel im Stil der Renaissance schlossen mit dem alten Herrenhaus einen rechteckigen Innenhof ein. Zwei dieser Flügel, die niedrige Galerie mit dem Arkadengang zum Innenhof und der Eingangsflügel zur Oberburg, mitsamt einem prächtigen Eingangsportal, wurden im 19. Jahrhundert abgetragen. Heute steht aus dieser Bauperiode auf der Oberburg nur noch der westliche Wohnflügel mit einem Mansarddach und der Turm. Der beherrschende etwa 50 m hohe Turm schließt sich dem Westflügel im Süden an. Den sechsstöckigen Turm krönt ein bronzener Helm, der sich steil nach oben verjüngt und von einem Zwiebelaufbau abgeschlossen wird. Die eigenwillige Form mit den dreifach abgesetzten Pyramidenstümpfen wird dem Frühbarock zugerechnet. Klapheck bezeichnete ihn als „stein gewordenen Trompetenstoß“. 1959 wurde der Turm mit Kupferblechen neu eingedeckt. Als Baumeister wurde 1646 den Kapuziner und Architekt Michael van Gent engagiert. Dieser war 1585 als Jacobus van Pouke bei Gent geboren und lebte zu dieser Zeit in Münster. Als Michael van Gent 1647 nach Rom berufen wurde, führten Jacob und Johann Schmidt aus Roermond die Arbeiten nach einem Modell van Gents fort. Die Steinmetzarbeiten erledigte Remigius Roßkotten. Um 1648 war die Vorburg und um 1653 die Oberburg fertiggestellt, die Baukosten betrugen insgesamt etwa 80.000 Reichstaler. Als Baumaterial wurden auch bei den neuen Flügeln vor allem Backsteinziegel benutzt. Für die Portale, die Balken und Rahmen der Fenster, die Eckquaderungen und das Schmuckwerk kam heller Baumberger Sandstein zum Einsatz. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhielten die damals rot-weißen Fensterläden und Portale einen rot-gelben Anstrich, wie sie ihn, in Anlehnung an das rot-goldene Wappen derer von Velen, vermutlich im 17. Jahrhundert hatten. Zuvor waren sie vermutlich blau-weiß gestrichen. Die Dächer wurden mit roten Dachziegeln, die Turmhauben mit Moselschiefer eingedeckt. Der Westflügel wird in seiner Höhe von mehreren Gesimsbändern geteilt. In der Vertikalen gliedern ihn die regelmäßigen Steinkreuzfenster. Sie werden im ersten Geschoss von Dreiecksgiebeln bekrönt, in deren Mittelfeld abwechselnd Engelsköpfe und Muscheln dargestellt sind. Im zweiten Geschoss entlasten flache doppelte Bögen mit Kämpfern aus Sandstein über den Fenstern ein von Konsolen getragenes Dachgesims. Die Entlastungsbögen über den Fenstern des Kellergeschosses sind wie in den höheren Etagen des Turmes als einfache halbrunde Bögen ausgeführt, die Kämpfer und Schlusssteine aber aufwändiger aus behauenem Sandstein. Die Hofseite des Westflügels ist repräsentativ gestaltet: Die Eingangstür zum ersten Geschoss in der Südecke ist mit reicher Volutenornamentik und einem darüber befindlichen Ochsenauge geschmückt. Unter den Fenstern des ersten Geschosses befinden sich jeweils steinerne Kartuschen. Die korinthischen Kapitelle der Pilaster zwischen den Fenstern zieren abwechselnd Engelsfiguren und Voluten, sie tragen einen Architrav nach korinthischem Vorbild mit Volutenmäandern. Die Basis der Scheinsäulen bilden mit Löwenköpfen skulptierte Werksteine. Für den Ausbau von Schloss Raesfeld lassen sich in der Umgebung keine vergleichbaren Vorbilder finden. Klapheck sieht Raesfeld im Zusammenhang mit den Schlossbauten im geldrisch-limburgischen Maastal. Raesfeld bezeichnet er als östlichsten Ausläufer einer Maastal-Backstein-Architektur im 17. Jahrhundert zu der er unter anderem die Schlösser Hoensbroek und Schaesberg bei Heerlen und Schloss Leerodt bei Geilenkirchen zählt. Die Schlösser waren Alexander II. selbst wegen verwandtschaftlicher Beziehungen zu den Schlossherren oder zumindest den holländischen Baumeistern bekannt. Das Innere wurde im Zuge des Ausbaus ebenso prachtvoll eingerichtet. Die Räume schmückten Tapeten aus Leder und Gobelins, die Decken waren mit barocken Stuckaturen und Bildern verziert. Die Laibungen der Fenster im Rittersaal des alten Herrenhauses hatte François Walschaerth aus Maastricht mit Göttern und Helden aus der griechischen Mythologie bemalt. Andreas Petersen malte Vögel und Ornamente auf die Saaltüren. Als weitere Räume sind das Paradezimmer, das Schreibzimmer des Grafen, die Bibliothek, das Billardzimmer, die Porzellankammer, das Blaue und das Grüne Zimmer zu nennen. Doch von der Einrichtung war schon bei einer Inspektion im Februar 1772 kaum etwas übrig. Das Inventar kam zum Teil nach Schloss Velen, Übriges wurde während des Leerstands und der Besetzungen fast ausnahmslos geplündert oder zerstört. Bis heute ist ein Cembalo erhalten, das Alexander II. 1640 bei der bekannten flämischen Werkstatt Ruckers erworben hatte. Wie der Portalflügel, der Treppenturm im Innenhof und der Galerieflügel wurde der aus dem 14. Jahrhundert stammende runde Wehrturm im 19. Jahrhundert abgebrochen. 1959 wurden die noch bis zu 2,50 m hohen und 2,70 m starken Reste bis auf das Fundament aus Eichenpfählen abgetragen. Dabei fand man einen dreibeinigen Kochtopf aus Bronze („Grope“) und einen Bartmannskrug aus dem 17. Jahrhundert, die vermutlich bei der Instandsetzung des Turmes um 1600 eingemauert wurden. Der Rundturm wurde 1960 wieder aufgebaut. Nach dem starken Verfall im 18. und 19. Jahrhundert wurde das Schloss 1922 und 1930 bis 1932 renoviert. Von 1950 bis 1957 wurden die Kriegsschäden beseitigt und das Innere des Schlosses umgestaltet. Im Rahmen der Sanierung wurden dabei zahlreiche Wände entfernt und neue Fenster im Nordflügel durchgebrochen. 1951 wurde in der nördlichen Ecke zwischen West- und Nordflügel ein Küchentrakt für die Schlossgastronomie angebaut und der Treppenaufgang zum ersten Geschoss im Innenhof umgebaut. Vorburg Die Vorburg befindet sich auf einer eigenen Insel zwischen Freiheit und Oberburg. Dort waren die Verwaltungs- und Wirtschaftsräume untergebracht. Die Vorburg entstand zwischen 1646 und 1648. Das an der Nordseite quer zur langgestreckten Vorburg gestellte Bauhaus stand schon seit etwa 1600 dort. Es erinnert an ein westfälisches Bauernhaus und wurde auch als Viehstall und Erntekammer genutzt. Neben der Tordurchfahrt zur Freiheit etwa in der Mitte der Vorburg steht auf der Hofseite der Treppenturm, der zum Obergeschoss führt. Im Süden wird die Vorburg vom sogenannten Sterndeuterturm flankiert. Der Turm soll von Alexander II. von Velen für astrologische Untersuchungen genutzt worden sein, wodurch sich auch der Name des Turms erklärt. Bei der Restaurierung des Sterndeuterturms im Jahr 2001 fand man Hinweise, dass auch der Südteil der Vorburg auf älteren, mittelalterlichen Grundmauern aufgebaut worden ist. 1923 wurde im Süden eine Remise angefügt. 1981 bis 1983 wurde die Vorburg grundsaniert. Die Geschosse sind durch umlaufende Gesimsbänder geteilt und Schilder zieren die Trauf- und Firstecken der Giebel; doch insgesamt ist die Vorburg schlichter gestaltet als der Westflügel der Oberburg aus der gleichen Bauphase. Die Steinkreuzfenster tragen keine Dreiecksgiebel oder andere Verzierungen und die Entlastungsbögen sind wie in den oberen Geschossen des Hauptturms halbrund und mit behauenen Kämpfern und Schlusssteinen ausgeführt. Das Dachgeschoss des fünfstöckigen Sterndeuterturms wird von einer Galerie umlaufen. Darüber beginnt eine Welsche Haube, die nach einer Laterne in verkleinerter Form und mit oktogonalem Grundriss wiederholt wird. Der Treppenturm trägt ebenfalls eine Welsche Haube. Auf der Hofseite wurde über der Tordurchfahrt 1649 eine Steintafel eingesetzt, in die die Geschichte des Schlosses in lateinischer Prosa eingeschlagen wurde. Eine Übersetzung der Inschrift befindet sich in der Tordurchfahrt. Von der Freiheit kommend, befindet sich südlich der Tordurchfahrt ein achteckiger Schwebeerker. Über der Einfahrt hing ursprünglich das Allianzwappen von Alexander II. von Velen und seiner Frau Alexandrine von Huyn und Gelen, das heute in der Ausstellung des Besucher- und Informationszentrums zu sehen ist. Freiheit und Kapelle Wallanlagen im Norden und Osten sowie ein Torhaus mit Mauer schützten die dörfliche Burgfreiheit. Um 1729 standen etwa 30 Häuser, in denen die Hof- und Dienstleute der Schlossherren lebten. 1817 zählte die Freiheit noch 233 Bürger. Einige der Häuser in der Freiheit stehen heute unter Denkmalschutz. In einem Haus zeigt der Heimatverein Raesfeld die Ausstellung „Raesfeld 1939–1945“ zum Zweiten Weltkrieg, andere Gebäude werden als Restaurants, Hotels und Geschäfte genutzt. Der Entwurf der Schlosskapelle vom bereits verstorbenen Michael van Gent wurde in eine „moderne Form abgeändert“. Die zur Mittelachse symmetrisch angeordneten Säulen, Rundbögen und die seitlichen Türme mit Welschen Hauben bilden ein repräsentatives Portal, welches auch mit dem geschwungenen Giebel und dem Wappenstein über dem Eingang bereits frühbarocke Formen aufweist. Der Bau der Schlosskapelle wurde von Jacob Schmidt um 1658 ausgeführt. Der Bildhauer Dietrich Wichmann arbeitete als Steinmetzmeister, die Innenausstattung besorgte Andreas Petersen. Das unsignierte Altarbild „Die Anbetung des Herrn“ und acht kleinere, nicht mehr erhaltene Bilder malte François Walschaerth. Claes Obermöller schuf den prächtigen Barockaltar. Die Orgel von Conrad Ruprecht war bis zum Pfingstfest 1659 fertiggestellt. Unter dem Chorraum befindet sich die Familiengruft, in der unter anderem der Schlosserbauer Alexander II. von Velen begraben liegt. Die Totentafel aus schwarzem Marmor wurde noch zu Lebzeiten des Reichsgrafen angefertigt, die Zeilen für die Todesdaten blieben leer. Eine zweite Totentafel in gleicher Ausfertigung ließ Alexander II. für seine erste Frau und seinen Sohn Paul Ernst anbringen. Bei Restaurierungsarbeiten wurde 1962 in der Gruft das „bleierne Herz“ des 1733 verstorbenen Christoph Otto von Velen entdeckt, das sich heute in einer Wandnische der rechten Chorseite befindet. 1901 zog der letzte Schlossvikar aus, heute ist die Kapelle Eigentum der katholischen Gemeinde St. Martin in Raesfeld. Orgel Seit 2010 befindet sich auf der Orgelbühne in der Schlosskapelle eine kleine Orgel, erbaut von der Orgelbaufirma Stockmann (Werl). Das rein mechanische Instrument wurde in einem Orgelgehäuse errichtet, das dem Stil der Einrichtung der Kapelle angepasst wurde. Koppeln: II/I, I/P, II/P Schlosspark und Tiergarten Nördlich des Schlosses wurde ein regelmäßiger, geometrisch ausgerichteter Schlosspark angelegt. Die Arbeiten besorgten „welsche Gärtner und französische Fontainemacher“. Neben der Repräsentation diente ein Teil des Schlossparks auch als Küchengarten. In dem Vertrag mit dem Bildhauer Scharp wird ein 1655/56 angefertigter Springbrunnen beschrieben: „Der Meeresgott Neptun auf einem Berg von Steinen sitzend, umgeben von Krokodilen, Schildkröten und Grottenwesen“. 1668 wurde außerdem ein Brunnen mit fünf Fontainen errichtet. Weitere Arbeiten im Schlosspark lassen sich bis 1713 belegen. Eine Orangerie ist auf der Oßingh-Karte von 1729 eingezeichnet und wird in einer Aufstellung von 1770 erwähnt, sie verschwand vermutlich erst nach 1849. Das Gelände wurde seitdem landwirtschaftlich genutzt. Im Westen des Schlosses ließ Alexander II. von Velen ab 1653 einen „Tiergarten“ als Jagdpark anlegen. Dazu wurde ein etwa 100 Hektar großes Gelände von einem etwa fünf Kilometer langen Wall mit aufgesetzten Palisaden eingefasst. Innerhalb des Tiergartens wurde heimisches Wild wie Wildschweine, Rehe und Rotwild zur Jagd gehalten. Es wurden aber auch exotische Tiere gehalten: Aus Raesfeld stammt von 1664 der älteste Nachweis vom bis dahin unbekannten Damwild in Nordrhein-Westfalen. Johann Moritz von Nassau-Siegen schenkte Alexander II. „damit euer Tiergarten verziehret und vermehret werde“ 1670 eine „amerikanische trächtige Büffelkuh, da Ew. Liebden ein sonderlicher Liebhaber Fremder Tiere und Bester seind“. Die Landschaftsgestaltung im Stil der Renaissance zeigte sich am natürlichen Wechsel von typischen regionalen Landschaftselementen wie Buchenmischwäldern, Nadelmischwäldern und vereinzelten Erlenbrüchen, Weiden, kleinen Äckern und Heiden. Dabei zogen sich Bäche und Teichanlagen wie ein organisches Band vom Schloss im Osten nach Südwesten. Diese Anlage als Nachbildung der Natur diente auch der Machtdemonstration des Schlossherren. Nach dem Tod von Alexander II. führte Ferdinand Gottfried von Velen den Ausbau des Gartens weiter. Dazu zählte ein 1681 angelegter Brunnen mit vier Delfinen, der vermutlich auf der Weinberginsel errichtet wurde. Im Gegensatz zu den meisten Schlossgärten der Renaissance wurde der Raesfelder Tiergarten jedoch nicht wesentlich durch moderne Formen wie den Barockpark oder den englischen Landschaftspark umgestaltet. Die deutlichste Neuerung im 18. Jahrhundert war die Anlage des Langen Teichs, der eine Sichtachse auf das Schloss bildet und die Trockenlegung des Teiches im Südwesten. Mit dem Leerstand des Schlosses geriet auch der Tiergarten in Vergessenheit und verwilderte. Der Wall ist zu zwei Dritteln erhalten, auf einer Flurkarte von 1824 fehlt jedoch bereits die Einfriedung mit Palisaden, sodass das Gelände spätestens seitdem seine Funktion als Tiergarten verloren hatte. Danach wurde das öffentlich zugängliche Waldgebiet nur forstwirtschaftlich genutzt. Anfang der 1990er Jahre wurde eine Karte von Johan Reiner Oßing aus dem Jahr 1729 wiederentdeckt. Das Westfälische Amt für Denkmalpflege kam bei näherer Betrachtung der Karte zu der Einschätzung, dass der Raesfelder Tiergarten zu den ältesten erhaltenen Schlossgärten der Renaissance in Deutschland gehört. Die Idee einer Revitalisierung des ursprünglichen Tiergartens wurde jedoch als nicht bezahlbare, utopische Fantasterei betrachtet. Im Rahmen der Regionale 2004 „links und rechts der Ems“ konnte das Projekt schließlich doch umgesetzt werden. Der gemeinnützige Trägerverein Tiergarten Schloss Raesfeld gründete sich 2003 und schloss mit dem Eigentümer Dietrich von Landsberg-Velen einen Nutzungsvertrag über 25 Jahre für das Gelände. Nach einem Rahmenkonzept des renommierten Landschaftsarchitekten Gerd Aufmkolk wurde der Tiergarten umgestaltet. Dabei ging es wie er sagt „nicht um eine Rekonstruktion im denkmalpflegerischen Sinne“, sondern darum, „die wesentlichen Intentionen aus der Gedankenwelt der Renaissance sichtbar zu machen“. So wurden eine Obstwiese mit 40 Apfel-, Birnen-, Pflaumen- und Kirschbäumen, eine Heidefläche sowie Feuchtwiesen angelegt. Einige Bereiche wurden gelichtet, Gehölzgruppen gefällt und so Freiflächen geschaffen. Sie dienen als Äsungsfläche für das wieder eingesetzte Reh-, Rot- und Damwild, das sich in dem 130 Hektar großen Gelände, umgeben von einem modernen Wildschutzzaun, frei bewegen kann. Der Tiergarten ist weiterhin öffentlich zugänglich und dient als Naherholungsgebiet. Das Gebiet ist durch Rundwanderwege erschlossen. Ein Lehrpfad informiert über Natur und Kultur am Wegesrand, wie die artesische Quelle des Welbrockbachs, die Teichanlagen und eine Mühlenruine aus dem frühen 18. Jahrhundert. Informations- und Besucherzentrum Im Frühjahr 2005 wurde das Informations- und Besucherzentrum Tiergarten Schloss Raesfeld eröffnet. Der moderne Bau, nach einem Entwurf des Architekturbüros Farwick + Grote aus Ahaus, zeichnet sich durch eine Holzkonstruktion aus, die von einer gläsernen Fassade ummantelt wird. Im Foyer des Zentrums erhalten Besucher Auskünfte über touristische Angebote in Raesfeld und der Region, insbesondere im Naturpark Hohe Mark-Westmünsterland. Im Obergeschoss befindet sich die natur- und kulturhistorische Dauerausstellung Auftritt einer Kulturlandschaft – Renaissance-Tiergarten Raesfeld. Sie befasst sich mit der Geschichte des Schlosses und des Tiergartens und vergleicht sie mit anderen Anlagen. Dazu werden Urkunden, Modelle, Karten und Bauteile gezeigt. Unter anderem ist das Allianzwappen von Alexander II. von Velen und seiner Frau Alexandrine, das über der Tordurchfahrt der Vorburg hing und die restaurierte Oßing-Karte von 1729, die zur Entdeckung des renaissancezeitlichen Tiergartens beitrug, im Original ausgestellt. Aber auch Tierpräparate und ein Miniaturmodell des Tierparks aus lebenden Pflanzen, nach dem Vorbild japanischer Gartenkunst, dienen als anschauliche Ausstellungsobjekte. Weitere spielerische Informationselemente stellen die Geschichte des Tiergartens in einen Kontext mit dem Schutz historischer Kulturlandschaften. In der Naturwerkstatt im Erdgeschoss werden praxisorientierte natur- und umweltpädagogische Seminare für alle Altersgruppen angeboten. Der benachbarte Raum bietet Platz für das Forum Raesfeld für nachhaltige Regionalentwicklung, das Vorträge, Tagungen und Seminare zum Beispiel zu Umwelt- und Naturschutz, Land- und Forstwirtschaft anbietet. Geschichte Die Herren von dem Berge Zwischen 1168 und 1174 wurde Rabodo von dem Berge als Burgherr beurkundet. Er entstammte einem einflussreichen edelfreien Adelsgeschlecht aus dem Montferland im Herzogtum Geldern. Die Familie kam vermutlich durch die Heirat von Rabodos gleichnamigem Vater mit einer Tochter aus dem Hause Gemen in den Besitz der Raesfelder Burg. Bei der Burg handelte es sich vermutlich um die heute nicht mehr erhaltene Burg Kretier. Vermutlich ließ Rabodo die St. Martinus geweihte Kirche erbauen, um die herum das Dorf Raesfeld entstand. Der nächste Burgherr war Heinrich von dem Berge, der 1245 urkundlich erwähnt wurde. Dessen Sohn Adam von dem Berge verkaufte 1259 die Raboding-Hof genannte Burg zusammen mit der Gerichtsbarkeit und dem Patronatsrecht der Dorfkirche an seinen entfernten Verwandten Symon von Gemen (um 1231 – vor 1265), der die Burg wohl schon vorher verwaltet hatte. Der Ritter aus dem Geschlecht derer von Gemen nannte sich anschließend Symon von Rasvelde. Vermutlich nach dem Kauf brannte die hölzerne Anlage ab. Sie wurde nicht wieder aufgebaut und verfiel, da Symon an der Stelle des heutigen Schlosses eine erste steinerne Burg errichten ließ. Die Ritter von Raesfeld Die Nachfahren von Simon von Raesfeld blieben etwa 300 Jahre Burgherren auf Raesfeld. Zunächst übernahm sein Sohn Mathias von Raesfeld (um 1245 – um 1318) und später der Enkel Johann I. von Raesfeld (um 1282 – um 1356) die Burg. Letzterer wurde 1336 vom Fürstbischof von Münster, Ludwig II. von Hessen, in den Rat der Landesstände gerufen und schwor dort dem Fürstbischof die Treue. Infolge des Zusammenfalls der Grafschaft Hamaland gewann die Grafschaft Kleve im 14. Jahrhundert an Einfluss im westlichen Münsterland. Das Lehnswesen machte die Burg Raesfeld zum Offenhaus der Grafen von Kleve. Bytter I. von Raesfeld (* um 1325; † zwischen 1403 und 1410), der älteste Sohn von Johann I., wurde als Krieger bekannt. In einem Bündnis mit seinem Schwager Heinrich III. von Gemen sowie Johann und Goswin von Lembeck besiegte er 1374 den Heidener Burgherrn Wennemar. Der südliche Teil von dessen Freigrafschaft kam daraufhin in den Raesfelder Besitz. 1388 kamen Bytter I., sein Sohn Johann II. und 25 Raesfelder Kriegsknechte der Reichsstadt Dortmund zur Hilfe. Die Stadt wurde von Truppen des Kölner Erzbischofs Friedrich III. von Saarwerden und Engelberts III. von der Mark belagert und heuerte Ritter zur Verteidigung ihrer Freiheit an. Während der Streifzüge nahmen die Raesfelder den belagernden Ritter von der Horst gefangen, für ein Lösegeld ließen sie ihn jedoch wieder frei. Im August 1389 plünderten sie im kurkölnischen Vest Recklinghausen. Zum Ende des Jahres 1389 war die Belagerung beendet und Bytter I. von Raesfeld ließ sich auszahlen. Mit dem Kriegslohn und der Beute der Plünderungen ließ er die Burg Raesfeld ausbauen. Die Neuanlage wurde teilweise auf den Fundamenten der alten Steinburg errichtet. Der zu Raesfeld gehörende Besitz umfasste zu Anfang des 15. Jahrhunderts neben der Burg Raesfeld die Häuser Empte bei Dülmen-Kirchspiel, Ostendorf bei Haltern-Lippramsdorf und Hamern bei Billerbeck. Johann II. von Raesfeld (um 1375 – nach 1443) wurde nach dem Tod seines Vaters der neue Burgherr. Er wurde als Raubritter bekannt und der Fürstbischof von Münster, Otto IV., titulierte ihn ganz offen als Straßenräuber. Ein weiterer Zeitgenosse schrieb 1408 „Es war einer, der geheißen Johann von Raesfeld, der schinderte die Straße und nahm viel Gut den Kaufleuten, ihr Gewand und Geld und ihre Taschen, und förderte es auf sein Haus.“ Bei Kaiser Sigismund hingegen stand Johann II. in hohem Ansehen. Für seine Treue als Vasall im Krieg, vermutlich im Hussitenkrieg 1420/21, erhielt er von ihm das Münzrecht. Wegen fehlender Münzmeister, Werkstätten und Edelmetalle machte Johann II. aber wohl keinen Gebrauch von dem Recht, Münzen zu prägen. 1427 schloss Johann II. ein Abkommen mit dem zum Herzog ernannten Adolf IV. von Kleve: Johann II. durfte die Vogteieinnahmen aus dem Kirchspiel Raesfeld für zwölf Jahre behalten und gab dafür das Versprechen, bei der Fehde mit dem Kölner Erzbischof dem Klever Herzog behilflich zu sein. Aus Kleve erhielt Johann II. außerdem die Anweisung und vermutlich auch weitere Gelder zum festungsmäßigen Ausbau der Burg Raesfeld. Die Arbeiten waren 1440 abgeschlossen. Nach 1446 war Bytter II. von Raesfeld (um 1410–1489/90) der Burgherr auf Raesfeld. 1490 folgte sein Sohn Johann III. von Raesfeld (um 1450–1500). Er heiratete 1487 Frederike von Reede († 1536) die nach seinem Tod die Herrschaft über die Burg übernahm. Johann III. hatte noch auf dem Sterbebett verfügt, dass sein ältester Sohn Bytter Burgherr werden sollte, doch Bytter überließ seinem Bruder Johann die Burg Raesfeld. Erbstreit Ab 1523 war Johann IV. von Raesfeld (1492–1551) alleiniger Burgherr, denn seine Mutter Frederike zog auf ein eigenes Haus. Im Sommer 1532 wurde Johann IV. zum Oberbefehlshaber des Reiterheers der kaiserlichen Armee gewählt und zog gen Wien um die Reichsstadt im Türkenkrieg zu verteidigen. 1535 unterstützte er den Fürstbischof von Münster Franz von Waldeck als kommandierender Feldhauptmann bei der Belagerung und Einnahme der Stadt Münster und der Zerschlagung des Täuferreichs von Münster. Als Belohnung erhielt Johann IV. das Recht, eine Mühle in seinem Kirchspiel zu errichten, das Drostenamt in Ahaus als Lehen und 13.000 Goldgulden. Seine dritte Ehefrau Irmgard von Boyneburg schenkte im November 1550 einem Jungen das Leben und damit Johann IV. einen Erben. Im Sommer 1551 starb Johann IV. „eines hastigen Todes“, als er von einer herunterfallenden schweren Eisenstange getroffen wurde. Seine Witwe heiratete 1558 Goswin von Raesfeld (1494–1579/80), einen entfernten Verwandten ihres verstorbenen Mannes. Irmgard zog mit dem jungen Johann zu Goswin auf die Burg Twickel bei Delden; dort, in der Twente, war Goswin Droste. Johann besuchte die Lateinschule in Deventer, doch er starb bereits 1559. Aus Sorge, die Burg Raesfeld und zugehörige Besitztümer und Rechte ohne den Erbsohn an die Verwandten Herren von Velen und Heiden zu verlieren, besetzte der Stiefvater Goswin kurzerhand die Burg und nahm das Erbe für sich ein. Im Namen der eigentlich nun erbberechtigten Herren von Velen und Heiden strengte der Fürstbischof von Münster Bernhard von Raesfeld einen Prozess vor dem Reichskammergericht in Speyer gegen seinen Verwandten Goswin an. 1585 sprach das höchste deutsche Gericht den Herren von Velen per Gerichtsbeschluss die Burg Raesfeld zu und beendete den Erbstreit. Irmgard, die seit dem Tod ihres zweiten Mannes Goswin 1579/80 erneut allein auf Raesfeld regiert hatte, musste nun die Burg mit ihren Kindern verlassen. Die Herren von Velen Hermann VIII. von Velen zu Velen († 1521) hatte Margarethe von Raesfeld zu Raesfeld, eine Schwester Johanns IV. von Raesfeld, geheiratet. Hermanns und Margarethes Sohn, Hermann IX. von Velen zu Velen (1516–1584), war Statthalter und Droste im Emsland, zu Rheine und Bevergern und diente dem Fürstbischof als Hofmarschall. Seine Söhne wurden nach dem Beschluss des Reichskammergerichts 1585 Erben der Burg Raesfeld. Zur Sicherung des Stiftes Münster vor dem Achtzigjährigen Krieg sollte Raesfeld 1589 als Grenzburg erweitert werden, doch spanische Truppen besetzten die Burg 1590 und verhinderten den Ausbau. 1595 erhielt Alexander I. von Velen (1556–1630) bei der Teilung des Vermögens seines 1584 verstorbenen Vaters Hermann IX. den Raesfelder Besitz. Alexander I. hatte zuvor im Dienste des Königreichs Ungarn und der Krone Böhmens, wenn auch ohne großen Erfolg, gegen die Türken gekämpft. Während Alexander I. 1597 als diplomatischer Vertreter des Fürstbischofs von Münster am Wiener Kaiserhof weilte, brannte der Dachstuhl der Raesfelder Burg ab. Alexander I. ließ aus diesem Anlass das zweigeschossige Herrenhaus von 1604 bis 1606 zu Wohnzwecken neu aufbauen. Die Mittel dazu hatte er mit der ihm gehörenden Saline Gottesgabe bei Rheine erwirtschaftet, außerdem bekam er vom Landtag des Stiftes Münster und von den Räten des Landes ein Darlehen über 5000 Reichstaler. 1612 erhielt Alexander I. am Rande der Feierlichkeiten zur Krönung des Kaisers Matthias den Titel Römischer Kaiserlicher Majestät bestallter Obrist und wurde zum Ritter geschlagen. 1613 musste ein Notbau errichtet werden, weil ein heftiger Sturm eine Wand des großen Saales zerstört hatte. Mit diplomatischem Geschick konnte der Burgherr weitere Zerstörungen durch die spanischen Söldner, die unter dem Kommando von Don Loys de Velasco 1615/16 die Burg besetzten, verhindern. 1619 erhielt Alexander I. das Generalkommando über das gesamte münsterische Kriegsvolk. Der Dreißigjährige Krieg erreichte Raesfeld, als die hessischen Truppen unter dem Grafen von Mansfeld im Spätherbst 1622 die Burg besetzten und brandschatzten. 1628 wurde Alexander I. durch Kaiser Ferdinand II. in den Stand eines Reichsfreiherren erhoben. Zwei Jahre später, am 8. August 1630, starb Alexander I. von Velen. Ausbau zum Residenzschloss Sein Sohn Alexander II. von Velen (1599–1675), später auch der westfälische Wallenstein genannt, übernahm die Burg, die er bereits längere Zeit eigenständig verwaltet hatte. Er war bei Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges in den Heeresdienst getreten und hatte es im vereinigten Heer der Grafen von Anholt und von Tilly auf der kaiserlichen Seite zu hohem Ansehen gebracht. Ab 1632 kämpfte Alexander II. im Auftrag des Kurfürsten und Bischofs Ferdinand gegen die hessischen Besatzer Westfalens. 1634 wurde Alexander II. zum Generalwachtmeister der Katholischen Liga befördert und erhielt das Kommando über die gesamten Streitkräfte des Fürstbistums. Als Dank für seine militärischen Erfolge erhielt er für die Burg Raesfeld besondere Neutralität zugesichert. Im Sommer 1641 gelang es ihm zusammen mit dem Grafen von Hatzfeld die von hessischen Truppen besetzte Stadt Dorsten nahe Raesfeld einzunehmen. Am 11. Oktober 1641 wurde Alexander II. die erbliche Reichsgrafenwürde von Kaiser Ferdinand III. verliehen. Von ihm erhielt er 1644 mit dem „privilegium exemptionis fori“ eine eigene Gerichtsbarkeit für seine Reichsgrafschaft. Nach eigenem Wunsch schied Alexander II. 1646 aus dem Heeresdienst aus. Von dem im Kriegsdienst angehäuften Reichtum erzählte man sich im Lande Märchen. Der Fürstbischof Ferdinand sagte über Alexander II.: „Der graeffe von Vele hat in Westfalen einen gueten Krieg gehabt. Er hat wohl ein pahr Millionen genossen.“ Davon ließ er die beschädigte Burg Raesfeld in den Jahren von 1646 bis 1658 zu einem repräsentativen Residenzschloss als Mittelpunkt für sein angestrebtes Reichsfürstentum ausbauen. Zu den Ausbauten zählten drei zusätzliche Flügel am Haupthaus mit einem Turm, eine Vorburg mitsamt dem sogenannten Sterndeuterturm, eine Kapelle sowie üppige Parkanlagen und ein Tiergarten. Während der Bauzeit wohnte die Familie und ihr Personal vor allem auf dem Haus Hagenbeck an der Lippe. Alexander II. war 1653 zum Feldmarschall und Kaiserlichen Kriegsrat ernannt worden, pflegte seine Beziehungen zum Kaiserhof und vertrat den Kaiser auf Feierlichkeiten. Auf Schloss Raesfeld weilten zu dieser Zeit viele hochrangige Persönlichkeiten, so zum Beispiel der Straßburger Bischof und Kurfürst von Brandenburg Friedrich Wilhelm oder der Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen. Zum Besitz Alexanders II. gehörten neben dem Raesfelder Schloss die Häuser Krudenburg und Hagenbeck an der Lippe, Horst an der unteren Ruhr, Megen im Herzogtum Brabant, die Burg Engelrading bei Marbeck und das Schloss Bretzenheim mit seiner reichsunmittelbaren Herrschaft, welche ihm Sitz und Stimme im Reichstag einbrachte. Untergang der Reichsgrafschaft Alexander II. wollte seinen Besitz schon seinem jüngeren Sohn Paul Ernst vermachen, damit er nicht dem finanziell ungeschickten Sohn Ferdinand Gottfried in die Hände gefallen wäre, doch Paul Ernst starb 1657 bei Reims. Um seinen einzig verbliebenen Erben zur Vernunft zu bringen, übertrug Alexander II. ihm schon bald die Verwaltung des Schlosses. Doch schon 1664 verkaufte er heimlich den Hagenbecker Besitz an den Lembecker Schlossherrn Burghard von Westerholt, um eigene Schulden zu tilgen. Nach dem Tod seines Vaters 1675 war Ferdinand Gottfried von Velen (1626–1685) schließlich alleiniger Schlossherr und verkaufte als erstes die Burg Engelrading. Als kaiserlicher Kämmerer und Obrist eines Regiments hatte er kein größeres Einkommen, doch er verschleuderte mit seinem verschwenderischen Lebensstil in den zehn Jahren seiner Schlossherrschaft einen Großteil des Vermögens. Nach dem Tod von Ferdinand Gottfried und seiner Frau Sophie Elisabeth von Limburg-Styrum 1685 wurde ihr ältester Sohn Alexander Otto von Velen (1657–1727) der neue Raesfelder Schlossherr. Er wurde kaiserlicher General der Kavallerie, doch die Forderungen der Gläubiger und die Rückstände bei den Lohnzahlungen für die Bediensteten überstiegen auch Alexander Ottos Einkünfte. Dazu kamen ein Erbstreit mit seinem jüngeren Bruder Christoph Otto und Ansprüche seiner Schwester Charlotte Amalie. 1708 wurde Alexander Otto zum General-Kommandeur der gesamten kaiserlichen Reiterei und 1726, ein Jahr vor seinem Tod, zum Feldmarschall befördert. Zwei seiner Söhne, Hyazinth Joseph und Gabriel Phillip, fielen 1717 als Soldaten vor Belgrad und so sollte Alexander III. von Velen (1683–1733) 1727 das Erbe antreten. Alexander III. überließ das verschuldete Erbe jedoch seinem Onkel Christoph Otto von Velen (1671–1733). Dieser hatte es im kaiserlichen Militär 1708 zum Obristfeldmeister und später zum General gebracht. Christoph Otto war beruflich häufig in den österreichischen Niederlanden und so setzte er wohl seinen Neffen Alexander III. und den Wallonen Phillip Mouvé als Verwalter ein. Im Mai 1733 starb der unvermählte und kinderlose Christoph Otto in Brüssel. Dort wurde er in einer Totengruft beigesetzt, sein Herz wurde aber in einer Bleikapsel konserviert nach Raesfeld verbracht und in der Familiengruft der Schlosskapelle beigesetzt. Alexander III. von Velen trat das Erbe somit doch noch an. Er hatte 1716 Maria Charlotte von Merode (1698–1753) geheiratet, die ein Jahr später den Jungen Alexander (Alexander IV.) Otto Carolus von Velen (1717–1733) gebar. Aber Vater und Sohn starben ebenfalls im Jahr 1733, womit das Geschlecht der von Velen auf Raesfeld im Mannesstamm erlosch. Für diesen Fall hatte Alexander III. einen Erbvertrag mit dem entfernt verwandten Gemener Schlossherrn Otto Ernst Leopold Graf von Limburg-Styrum ausgehandelt. Das Schloss Raesfeld kam so in den Besitz der Herrschaft Gemen. Maria Charlotte, die Witwe von Alexander III., wohnte bis zu ihrem Tod im Oktober 1753 noch gelegentlich im Raesfelder Schloss und kümmerte sich um höfische Angelegenheiten. Danach aber blieb die Schlossanlage nahezu unbewohnt und verfiel allmählich, da sich die Gemener wenig um die Schlossanlage kümmerten. Im Jahr 1800 starb mit dem 15-jährigen Ferdinand August auch die Gemener Linie des Geschlechts Limburg-Styrum aus. Der Gemener Besitz mitsamt dem Raesfelder Schloss fiel an den Freiherrn von Boyneburg-Bömelsberg aus dem schwäbischen Erolzheim. Dieser kümmerte sich ebenso wenig um das leerstehende und verfallende Schloss. Während der Befreiungskriege im Winter 1813/14 quartierten sich kosakische Soldaten, die die französischen Truppen nach der Völkerschlacht bei Leipzig verfolgten, im Raesfelder Schloss ein. Der Zustand des Schlosses lässt sich erahnen, da der Bürgermeister den Offizieren der Kosaken eine angemessenere Unterkunft besorgte. Landwirtschaftlicher Gutshof 1822 kaufte der Freiherr Ignaz von Landsberg-Velen den westfälischen Besitz des fernen Freiherrn von Bömelsberg-Boineburg. Der neue Herr nutzte die Gebäude als landwirtschaftliches Gut. Der verwilderte Park wurde in Ackerland umgewandelt und der Wall zum Verfüllen der versumpften Gräfte genutzt. Baufällige Gebäude wie die Harnischkammer und das Torhaus fielen dem Abriss zum Opfer. Auch der nördliche Rundturm der Anlage wurde mit Ausnahme von Resten des Sockels abgebrochen. Im altehrwürdigen Rittersaal lagerten nun die Kornvorräte und die Räume der Vorburg wurden zur Viehställen. Zwischen 1879 und 1895 ließ der Oberverwalter Friedrich Bonhof die Vorburg renovieren. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs belegten im Dezember 1918 Teile einer bayerischen Division die Räume des Schlosses und machten Raesfeld für Wochen zur Garnison. Im März 1920 kam es während des Vormarschs der Roten Ruhrarmee im Zuge des Ruhraufstandes zu einem Gefecht mit dem Freikorps Loewenfeld, bei dem 50 Kämpfer der Roten Ruhrarmee ihr Leben verloren. 1927 pachtete der Landwirt Heinrich Albermeier das Gut Raesfeld. Mit finanzieller Unterstützung der Provinzialregierung ließ der Schlossbesitzer Max von Landsberg-Velen dringend nötige Reparaturen erledigen. Bundesburg des Bundes Neudeutschland Der Bund Neudeutschland, die bündische Organisation katholischer Schüler an höheren Lehranstalten, pachtete 1929 das Schloss Raesfeld. Nach Renovierungsarbeiten und Neueinrichtung im Frühjahr 1930 fand die Einweihungsfeier der Bundesburg am Pfingsttag 1930 statt. Auf den umliegenden Wiesen wurde dazu eine Zeltstadt für 500 Besucher errichtet. Der Leiter der Burg, Studienrat J. Hasebrink, schrieb „Das Heim besitzt 80 Betten und ausreichend Räume mit Einrichtungen für große Zeltlager und Tagungen unserer katholischen Jugend.“ Regelmäßig zu Pfingsten trafen sich mehrere hundert Jungen der Jugendbewegung vor dem Schloss. Die Gleichschaltung der Jugendverbände mit der Hitler-Jugend 1936/37 führte jedoch zur Auflösung des Bundes Neudeutschland. Garnison, Verbandsplatz und Kriegsgefangenenlager Der Zweite Weltkrieg verhinderte den Umbau des Schlosses für die Nutzung als Kreisschulungsburg der NSDAP. Als im Oktober 1939 Teile der Wehrmacht vom Überfall auf Polen zum Westfeldzug zogen, wurde Raesfeld Garnison für fast 1000 Soldaten. Fünf Jahre später, im Herbst 1944, zog sich die Wehrmacht von der Westfront zurück und Teile quartierten sich erneut auf dem Schloss ein. Im März 1945 wurde das Schloss Raesfeld Hauptverbandsplatz der im Rückzug befindlichen Wehrmacht. Die Rote-Kreuz-Zeichen auf den Dächern verhinderte größere Schäden an dem Schloss durch Fliegerbomben der Alliierten. Mit der Operation Plunder bei Wesel rückte die Front auf wenige Kilometer an Raesfeld heran, bis die britische Armee das Schloss am 28. März schließlich übernahm. Der englische Militärstab richtete in der Vorburg eine Dienststelle ein, während im Haupthaus und im Turm aus den Städten des Ruhrgebiets geflohene Familien unterkamen. Der Rittersaal des Schlosses diente von April 1945 bis März 1946 als Kriegsgefangenenlager für eine Kompanie Wehrmacht-Soldaten. In den Nachkriegsjahren dienten die Schlossgebäude als Notunterkunft für Ostvertriebene und vier Klassen der Raesfelder Volksschule. Sonstige Nutzung Schon im Jahr 1942 hatte der Handwerkerverein Raesfeld e. V. das Schloss erworben. Dieser ließ die im Krieg beschädigte und verfallene Anlage vor allem 1950 bis 1951 restaurieren. Am 1. Januar 2022 kaufte die Gemeinde Raesfeld das Schloss, ausgenommen davon waren lediglich die Remise und die Vorburg. Die Vorburg des Schlosses ist Eigentum der sieben Handwerkskammern Nordrhein-Westfalens sowie des Westdeutschen Handwerkskammertags. Seit 1952 ist das Hauptschloss Sitz der staatlich anerkannten Weiterbildungseinrichtung Akademie des Handwerks Schloss Raesfeld. Die Vorburg wurde in den 1980er Jahren restauriert und beheimatete ab 1982 das Fortbildungszentrum für handwerkliche Denkmalpflege, das heute in der Akademie des Handwerks aufgegangen ist. Der Rittersaal wird seit 1956 vom Kulturkreis Schloss Raesfeld e. V. regelmäßig für Konzerte und literarische Veranstaltungen genutzt, kann aber auch von Privatpersonen gemietet werden. Das Kellergeschoss des Hauptschlosses wird als Restaurant genutzt. Quellen Die ältere Geschichte der Burg Raesfeld liegt im Dunkeln der Geschichte und beruht zum Teil mangels Quellen auf Hypothesen. Neben der Erwähnung der Siedlung „Hrothusfeld“ im Werdener Heberegister des Haupthofes Scirenbeke (Schermbeck) 899 stammen die ältesten Urkunden aus der Stiftsbibliothek Xanten und der Bibliothek des Bistums Münster. Wichtigste Quellen für die Geschichte ab dem 15. Jahrhundert bilden die Akten, Verträge, Briefwechsel, Aufträge und Rechnungen, die sich im Staatsarchiv Münster (Landsberg-Velensches Archiv, Kriegsakten des Landesarchivs Münster, Repertorium Kohl) befinden. Literatur Wilhelm Avenarius: Raesfeld. In: Alte Burgen schöne Schlösser. Eine romantische Deutschlandreise. Gekürzte Sonderausgabe. Das Beste, Stuttgart 1980, ISBN 3-87070-278-8, S. 168–169. Ludger Fischer: Schloss Raesfeld (= DKV-Kunstführer. Nr. 587/1). Deutscher Kunstverlag, München/Berlin 2001 (Digitalisat). Adalbert Friedrich: Schloß Raesfeld – von der Ritterburg zum Handwerkerschloß. Verkehrsverein Raesfeld e. V., Raesfeld 1990. Günter Kalesky: Schloß Raesfeld. In: Von Wasserburg zu Wasserburg. Bau- und Kunstgeschichtliche Studienfahrt in Westfalen. Rademann, Lüdinghausen 1976, ISBN 3-9800113-0-5, S. 53–55. Richard Klapheck: Die Schlossbauten zu Raesfeld und Honstorff und die Herrensitze des 17. Jahrhunderts der Maastal-Backstein-Architektur. Heimatverlag Dortmund 1922. Karl Emerich Krämer: Schloß Raesfeld. In: Burgenfahrt durchs Münsterland. Dr. Wolfgang Schwarze Verlag, Düsseldorf 1975, S. 11–13. Ursula Schumacher-Haardt: Schloß Raesfeld (= Westfälische Kunststätten. Heft Nr. 76). Westfälischer Heimatbund, Münster 1995, . Volker Tschuschke: Raesfeld und seine Burgen. In: Westfälische Zeitschrift. Nr. 166, 2016, , S. 43–73 (PDF; 2,7 MB). Weblinks Schloss Raesfeld auf der Website der Gemeinde Touristische Informationen zum Schloss Raesfeld Bilder des Schlosses im Bildarchiv des LWL-Medienzentrums für Westfalen Einzelnachweise Raesfeld Bauwerk der Limburg-Stirum Raesfeld, Schloss Betriebsstätte eines Gastronomiebetriebes Raesfeld Baudenkmal in Raesfeld Raesfeld Raesfeld (Adelsgeschlecht) Unternehmen (Kreis Borken) Raesfeld Bauwerk des bergisch-westfälischen Adelsgeschlechts Landsberg Bauwerk in Raesfeld
462093
https://de.wikipedia.org/wiki/Desmane
Desmane
Die Desmane (Desmanini), auch Bisamspitzmäuse genannt, sind eine Gattungsgruppe (Tribus) der Familie der Maulwürfe (Talpidae). Sie umfasst mit dem Russischen Desman und dem Pyrenäen-Desman zwei rezente Arten. Die Tiere sind von allen Maulwürfen am besten ans Wasserleben angepasst. Anzeichen dafür finden sich unter anderem in dem gedrungenen Körperbau mit langer Schnauze und verschließbaren Nasenlöchern, dem langen und teilweise oder vollständig abgeplatteten Schwanz, den gegenüber den Vorderfüßen sehr großen Hinterfüßen und den Schwimmhäuten zwischen den Zehen. Das dichte Fell hat eine überwiegend dunkle Färbung. Das Verbreitungsgebiet der Desmane ist zweigeteilt mit einem Bereich im östlichen Europa und einem weiteren in den Pyrenäen sowie im Norden der Iberischen Halbinsel. Die Lebensräume bestehen aus fließenden oder stehenden Gewässern mit reicher Wirbellosenfauna und dichter Ufervegetation. Die Desmane sind meist nachtaktiv und verbringen ihre Zeit schwimmend im Wasser, wo sie auch ihre Nahrung suchen. Diese umfasst Wirbellose, mitunter auch Wirbeltiere und zum Teil auch Pflanzen. Zum Rückzug nutzen die Tiere selbst gegrabene Gänge oder natürliche Höhlen. Abweichend von anderen Maulwürfen sind die Desmane eher sozial und nicht aggressiv. Die Fortpflanzung kann ganzjährig erfolgen, konzentriert sich aber häufig auf das Frühjahr. Wissenschaftlich bekannt sind die Desmane seit wenigstens dem beginnenden 17. Jahrhundert. In der forschungsgeschichtlichen Vergangenheit waren sie weitgehend unter der Gattungsbezeichnung Mygale bekannt. Der heute gebräuchliche wissenschaftliche Name Desmanini für die Gattungsgruppe wurde im Jahr 1912 geprägt. Fossile Nachweise der Desmane reichen bis in das Oligozän zurück. Sie fanden sich, abweichend von der heutigen Verbreitung, über einen größere Bereich Eurasiens verteilt sowie in Nordamerika. Die Funde lassen sich mehreren ausgestorbenen Gattungen zuweisen. Der Bestand der beiden heutigen Arten gilt als gefährdet, was neben der Gewässerverschmutzung auch in der illegalen Jagd und in der Konkurrenz mit eingeschleppten Tierarten begründet ist. Merkmale Habitus Die beiden Arten der Desmane gehören zu den größten Vertretern der Maulwürfe. Der Pyrenäen-Desman (Galemys pyrenaicus) ist mit einer Kopf-Rumpf-Länge von 10,6 bis 12,4 cm, einer Schwanzlänge von 11,8 bis 14,8 cm und einem Gewicht von 51 bis 79 g die kleinere Form. Der Russische Desman (Desmana moschata) repräsentiert mit entsprechenden Werten von 18,5 bis 24,0 cm, 18,0 bis 21,0 cm und 370 bis 440 g die größere. Das äußere Erscheinungsbild der Desmane wirkt aufgrund des gedrungenen Körpers sehr kompakt. Der Kopf ist konisch geformt. Er sitzt auf einem für Maulwürfe charakteristisch sehr kurzen Hals. Die Nase ist ausgesprochen lang und überaus beweglich, wodurch sie rüsselartig wirkt. Die Augen sind klein und die Ohren bleiben im Fell verborgen. Der lange Schwanz ist beim Russischen Desman vollständig, beim Pyrenäen-Desman nur an der Spitze seitlich abgeplattet. Zwischen den Zehen sind insbesondere an den Hinterbeinen Schwimmhäute ausgeprägt. Außerdem übertreffen die Hinterfüße die Vorderfüße deutlich an Größe, was untypisch für Maulwürfe ist. Entsprechend zu diesen tragen die jeweils fünf Strahlen der Vorder- und Hinterfüße aber kräftige Krallen. Das Fell weist an der Oberseite einen dunklen zumeist grau- bis rotbraunen Farbton auf, die Unterseite ist häufig heller. Es hat eine dichte Textur bestehend aus der Unterwolle und dem Deckhaar. Die Fußkanten sind zusätzlich mit einem Saum an borstenartigen Haaren versehen. An der Schnauze und am Kinn kommen zudem zahlreiche Vibrissen vor. Der Schwanz ist eher spärlich behaart und teilweise von Schuppenringen bedeckt, die besonders deutlich am Schwanzansatz ausgebildet sind. An der Schwanzunterseite verfügen die Desmane über eine Duftdrüse, aus der sie ein moschusähnliches Sekret absondern. Schädel- und Gebissmerkmale Der Schädel der Desmane ist konisch geformt mit einem lang ausgestreckten Rostrum. Er besitzt in Seitenansicht eine kantige Form mit einer flach verlaufenden Stirnlinie und einem nahezu senkrecht stehenden Hinterhauptsbein. An diesem sind die Gelenkflächen für den Halswirbelansatz nur wenig hervorgewölbt. Auf dem Scheitelbein ist ein schwacher Scheitelkamm ausgebildet. Die seitlich am Schädel verlaufenden Jochbögen haben eine schlanke Gestalt. Das Foramen infraorbitale ist relativ groß. An der Schädelunterseite zeigt sich am Gaumen das Foramen incisivum vergleichsweise groß. Der Gaumen selbst reicht bis kurz hinter den letzten Mahlzahn. Die Paukenblasen sind gut entwickelt. Die Gehörknöchelchen des Mittelohrs besitzen keine auffälligen Vergrößerungen, was vor allem für den Hammer zutrifft und möglicherweise mit der Wahrnehmung höherfrequenter Töne in Verbindung steht. Der Unterkiefer ist ähnlich dem Schädel langgestreckt. Der Kronenfortsatz ragt steil auf und erreicht fast die Höhe des Scheitelkamms. Dagegen ist der Gelenkfortsatz eher kurz, das Unterkiefergelenk kragt seitlich weit aus, was sich auch an der Glenoidgrube an der Schädelunterseite widerspiegelt. Das Gebiss der Desmane besteht aus 44 Zähnen, was der ursprünglichen Zahnanzahl bei den Höheren Säugetiere entspricht. Für beide Arten käme demnach eine Zahnformel in Frage, die mit je drei Schneidezähnen, einem Eckzahn, vier Prämolaren und drei Molaren je Kieferbogen dem ursprünglichen Typus entspricht. Während dies für den Pyrenäen-Desman bisher nicht angezweifelt wird, besteht für den Russischen Desman auch eine andere Interpretation. Bei ihm läuft die Knochennaht zwischen dem Mittelkieferknochen und dem Oberkiefer entlang des zweiten oberen Zahns. Da bei den Säugetieren die Schneidezähne aber alleinig im Mittelkieferknochen stehen, wären hier nur die ersten beiden als solche anzusprechen. Alternativ hat sich dann beim Russischen Desman ein zusätzlicher fünfter Prämolar ausgebildet. Der vorderste obere Schneidezahn ist jeweils sehr groß, von dreieckigem Querschnitt und spitz endend. Ihm folgen mehrere einspitzige kleine Zähne. Der letzte Prämolar ist größer und weist drei Spitzen auf. Auf den Kauoberflächen der Molaren, von denen der erste den größten repräsentiert, zeichnet sich das für Maulwürfe typische dilambdodonte Muster ab, bei dem die Haupthöcker zusammen eine W-artige Struktur bilden. In der unteren Zahnreihe formen alle Zähne eine geschlossene Reihe. Die vorderen stehen schräg nach vorn gerichtet. Der zweite Schneidezahn ragt hier am höchsten auf, dem wieder mehrere einspitzige kleine Zähne folgen. Die Molaren verfügen dann wieder über mehrere Spitzen. Vergleichbar den Eigentlichen Maulwürfen (Talpini) findet bei den Desmanen kein Wechsel vom Milch- zum Dauergebiss statt. Skelettmerkmale Im Skelettbau ergeben sich bei den Desmanen deutliche Abweichungen zu anderen, zumeist grabenden Maulwürfen. Die Wirbelsäule besteht aus 58 bis 59 Einzelelementen, verteilt auf 7 Hals-, 13 Brust-, 6 Lenden-, 5 bis 6 Kreuzbein- und 27 Schwanzwirbel. Vor allem die Halswirbel sind stark abgeplattet und bewirken so den kurzen Hals. Der Trend setzt sich bei den Brustwirbeln fort, erst nach hinten zu werden sie größer und höher. Die größten Wirbel finden sich im Lendenbereich. Sie unterstützen eine hohe Beweglichkeit des Körperabschnittes, was der besseren Schwimmfähigkeit zugutekommt. An den vorderen Schwanzwirbeln sind Chevronknochen ausgebildet. Der Schultergürtel ist bei den Desmanen etwas anders konfiguriert, da er unterhalb des letzten Halswirbels liegt, während er bei den grabenden Maulwürfen eine Position nahe dem Schädel einnimmt. Das Schlüsselbein zeigt sich generell lang und schlank und nicht so deutlich gestaucht und nahezu kubisch wie bei den grabenden Maulwürfen. Ebenfalls abweichend von diesen ist am schmalen Schulterblatt zudem noch ein Metacromion (ein Fortsatz am Acromion) ausgebildet. Der Oberarmknochen ist bei den Desmanen schlank und nicht so wuchtig und extrem verbreitert wie bei den grabenden Maulwürfen. Die maximale Breite erreicht bei ersteren nur rund ein Achtel der Länge, bei letzteren ist es ein Drittel bis fast die Hälfte. Er artikuliert wie bei den meisten anderen Maulwürfen jedoch an der Schulter gemeinsam mit dem Schulterblatt und dem Schlüsselbein. Der Oberschenkelknochen wiederum ist kurz, flach und kräftig. Die unteren Extremitätenabschnitte sind bei den Desmanen stark verlängert. Ersichtlich wird dies etwa am Schienbein, das fast doppelt so lang ist wie der Oberschenkelknochen. Die Hand- und Fußknochen sind ebenfalls gestreckt und abgeplattet. Der bei den grabenden Maulwürfen an der Hand ausgebildete Präpollex („Vordaumen“) beziehungsweise das Os falciforme, ein Sesambein, welches seitlich die Handfläche verbreitert und so das Graben unterstützt, ist beim Pyrenäen-Desman extrem klein, beim Russischen Desman gar nicht vorhanden. Moschusdrüse Als besondere Bildung der Weichteilanatomie kommt bei den Desmanen die Moschusdrüse vor, die am vorderen Drittel der Schwanzes ausgebildet ist. Es handelt sich um eine komplexe Struktur, die aus zwei Reihen sechseckiger Säckchen besteht. Insgesamt können bis zu 40 derartiger Säckchen bei einem Individuen vorkommen. Jedes einzelne davon ist bis zu 13 mm lang und 6 mm breit. Die Säckchen sind jeweils in Fasergewebe eingebettet, das sie voneinander trennt. Die Wandung der im Inneren hohlen Säckchen setzt sich wiederum aus kleineren Mikro-Säckchen von bis zu 3 mm Größe zusammen, von denen bis zu fünf einen gemeinsamen Kanal in das Hohlrauminnere formen. Die jeweiligen Ausgänge der größeren Säckchen führen zur Schwanzunterseite und liegen hinter den Schuppenringen. Wahrscheinlich stellt die Moschusdrüse eine funktional umgestaltete Talgdrüse dar. Genetische Merkmale Der diploiden Chromosomensatz beträgt beim Pyrenäen-Desman 2n = 42 und beim Russischen Desman 2n = 32. Trotz dieses großen Unterschiedes lautet die fundamentale Anzahl, also jene der einzelnen Chromosomenarme je Autosomenpaar bei ersterem 68, bei letzterem 64. Diese geringere Abweichung wird dadurch hervorgerufen, dass beim Pyrenäen-Desman im Vergleich zu zahlreichen anderen Maulwürfen ein sehr hoher Anteil an acrozentrischen Chromosomen vorkommt. Der Chromosomensatz wird bei diesem daher als urtümlich eingeschätzt. Derjenige des Russischen Desman entspricht stärker dem der meisten anderen Maulwürfe und entstand wohl durch die Kombination mehrerer acrozentrischer Chromosomen miteinander bei seinen Vorfahren. Verbreitung und Lebensraum Die beiden Arten der Desmane haben deutlich voneinander getrennte Verbreitungsgebiete. Der Pyrenäen-Desman lebt im südwestlichen Europa in den namengebenden Pyrenäen beidseitig der französisch-spanischen Grenze und im Norden der Iberischen Halbinsel. Der Russische Desman bewohnt das östliche Europa und ist im Südwesten Russlands sowie im Nordosten der Ukraine heimisch. Mit dem äußersten Nordwesten von Kasachstan erreicht er noch zentralasiatisches Gebiet. Allgemein leben Desmane nahe bei Gewässern, wobei der Pyrenäen-Desman eher schnell fließende Bäche in stärker gebirgigen Regionen bevorzugt, während der Russische Desman breitere und langsam fließende Flüsse sowie Seen und Teiche in Überschwemmungsebenen nutzt. Für beide Vertreter sind eine reichhaltige Vegetation, Unterschlupfmöglichkeiten an den Uferhängen und ein diverses Angebot an Wirbellosen Voraussetzung. Lebensweise Die Desmane sind stärker als die meisten Maulwürfe an eine semi-aquatische Lebensweise angepasst. Die dafür notwendigen anatomischen Voraussetzungen zeichnen sich durch den kompakten Körperbau mit langem, teilweise oder vollständig abgeplattetem Schwanz, den gegenüber den Vorderbeinen kräftigeren Hinterbeinen, den Schwimmhäuten zwischen den Zehen und den verschließbaren Nasenlöchern ab. Beim Schwimmen werden ausschließlich die Hinterbeine eingesetzt, die Vorderbeine sind nach vorn gerichtet. Schwimmbewegungen mit den Hinterbeinen erfolgen alternierend, der Schwanz dient als Steuerruder. In der Regel halten sich die Desmane in ihrer aktiven Phase fast ausschließlich im Wasser auf. Das Ufer wird nur selten erklommen, wofür dann die kräftigen Krallen der Vorderbeine Einsatz finden. Zur Orientierung werden Geräusche sowie Geruchs- und Tastreize genutzt. Das moschusartige Drüsensekret hat hierbei vor allem bei der Geruchsorientierung eine größere Bedeutung. Beim Russischen Desman ist außerdem belegt, dass die Tiere unter Wasser Luftblasen ausstoßen, an die Geruchsstoffe anhaften. Beim erneuten Einatmen der Blasen werden diese aufgenommen. Ein vergleichbares Prinzip wurde beim Sternmull (Condylura) beobachtet. Die Tiere nutzen Aktionsräume entlang der Uferlinie und bewohnen Baue, deren Eingänge stets unter Wasser liegen. Diese gewähren Zutritt zu einem unterirdischen Gangsystem, das oft selbst anlegt, teilweise aber auch von anderen grabenden Tieren übernommen wird oder aus natürliche Höhlen besteht. Sie enthalten mit Pflanzenmaterial ausgestattete Nestkammern oberhalb der Wasserlinie. Die vorwiegenden Aktivitäten finden nachts statt mit einer Bevorzugung der Dämmerungsphasen. Die Desmane sind anders als die meisten Maulwürfe eher soziale Tiere. Verschiedene Individuen nutzen mitunter die gleichen Gangsysteme. Beim Russischen Desman formen sich in der Fortpflanzungsphase Familiengruppen bestehend aus den Elterntieren und dem Nachwuchs. Diese lösen sich auf, nachdem der Nachwuchs selbständig geworden ist. Für den Pyrenäen-Desman ist das momentan nicht so eindeutig, doch haben sich ursprüngliche Annahmen eines aggressiv-territorialen Verhaltens in jüngeren Studien nicht bestätigt. Die Nahrung der Desmane setzt sich aus Wirbellosen und zum Teil aus Wirbeltieren zusammen. Beim Russischen Desman spielen auch Pflanzen eine größere Rolle. Unter den Wirbellosen dominieren Flohkrebse und Insekten wie Köcher- und Eintagsfliegen. Das Nahrungsrepertoire wird beim Russischen Desman durch Weichtiere ergänzt, die der Pyrenäen-Desman hingegen eher verschmäht. Bei den Wirbeltieren sind vor allem Fischen und Amphibien von größerer Bedeutung. Das pflanzliche Nahrungsspektrum ist beim Russischen Desman recht vielgestaltig und umfasst Wasserpflanzen und ufernah wachsende Pflanzen. Die tierische Beute wird von den Desmanen überwiegend im Wasser gefangen, häufig bei Tauchgängen am Grund des Gewässers. In der Regel verzehren sie nur kleinere Beute direkt im Wasser, größere schleppen sie meist an Land. Die Paarung erfolgt vermutlich überwiegend im Frühjahr. Da aber tragende und säugende Weibchen zu einem gewissen Prozentsatz ganzjährig beobachtet werden können, sind die Tiere vermutlich polyöstrisch. Die Tragzeit beträgt vermutlich 30 bis 45&nbp;Tage, die Aufzucht währt etwa genauso lang. Neugeborene sind nackt sowie blind und haben geschlossene Ohren. Die Fortpflanzung der Desmane ist allgemein nur wenig untersucht. Zumindest für den Pyrenäen-Desman ist belegt, dass Weibchen Zwitterdrüsen besitzen und somit als Hermaphroditen auftreten können. Systematik Die Desmane sind eine Tribus aus der Familie der Maulwürfe (Talpidae) und der Ordnung der Insektenfresser (Eulipotyphla). Sie vereint Tiere, die abweichend von anderen Maulwürfen an eine semi-aquatische Lebensweise angepasst sind. Es handelt sich um vergleichsweise große Vertreter der Familie, die aufgrund ihrer, an das Wasser gebundenen Lebensweise einzelne anatomische Besonderheiten aufweisen wie etwa der lange Schwanz oder die zwischen den Zehen bestehenden Schwimmhäute. Ursprünglich stufte man die Desmane als eine eigenständige Unterfamilie innerhalb der Maulwürfe ein. Jedoch ergaben molekulargenetische Studien, dass die Desmane eine engere Verbindung zu den Eigentlichen Maulwürfen (Talpini) und zum Sternmull (Condylurini) aufweisen. Als nächstverwandte Klade dieser gemeinsamen Verwandtschaftsgruppe stellten sich die verschiedenen Spitzmullle Nordamerikas und Asiens heraus. Die einzelnen Linien trennten sich bereits vor 37 bis 34 Millionen Jahren im Oberen Eozän voneinander ab. Die Aufspaltung der Desmane in die beiden heutigen Linien vollzog sich aber erst im Mittleren Miozän vor etwa 13,9 Millionen Jahren. Alle genannten Maulwurfsgruppen können der Unterfamilie der Altweltmaulwürfe (Talpinae) zugeordnet werden. Diesen gegenüber stehen die Spitzmausmaulwürfe (Uropsilinae) als relativ ursprünglich Gruppe, deren genetischer Ursprung bis zu 47 Millionen Jahre in das Mittlere Eozän zurückreicht. Innerhalb der Desmane werden zwei rezente Gattungen mit ebenso vielen Arten unterschieden. Die Gruppe gliedert sich demnach folgendermaßen: Tribus: Desmane (Desmanini Thomas, 1912) Russischer Desman (Desmana Güldenstädt, 1877); Osteuropa (südwestliches Russland, nordöstliche Ukraine, nordwestliches Kasachstan) Pyrenäen-Desman (Galemys Kaup, 1829); Südwesteuropa (südwestliches Frankreich, nördliches und nordöstliches Spanien, nördliches Portugal) Neben den beiden rezenten Vertretern sind noch mehrere Fossilformen bekannt: Archaeodesmana Topachevski & Pashkov, 1983 Asthenoscapter Hutchison, 1974 Gerhardstorchia Dahlmann & Doğan, 2011 Lemoynea Bown, 1980 Magnatalpa Oberg & Samuels, 2022 Mygalea Schreuder, 1940 Mygalinia Schreuder, 1940 Mygatalpa Schreuder, 1940 Ursprünglich wurde auch Desmanella zu den Desmanen gezählt. Hier erwies sich aber aufgrund einer anderen Gebissstruktur und eines funktionalen Milchgebisses, dass die Gattung eher zu den Spitzmausmaulwürfen zu stellen ist. Des Weiteren wird die Zuweisung von Asthenoscapter und Mygatalpa zu den Desmanen von einigen Autoren ebenfalls kritisch gesehen und auch hier eine Stellung innerhalb der Spitzmausmaulwürfe bevorzugt. Magnatalpa erhielt in der Erstbeschreibung der Gattung nur eine fragliche Position innerhalb der Desmane. Von Miklós Kretzoi wurde im Jahr 1953 die Gattung Desmagale aus Kisláng in Ungarn eingeführt, basierend auf einem Unterkieferfragment. Der altpleistozäne Fund ist aber nach Cornelia G. Rümke identisch mit Desmana, weswegen sie erstere Form im Jahr 1985 mit letzterer gleichsetzte. Rümke selbst etablierte im gleichen Jahr die Gattung Dibolia mit mehreren Arten, die im Oberen Miozän und Pliozän verbreitet waren. Der Name ist aber schon seit 1829 für eine Gattung der Blattkäfer vergeben. Barbara Rzebik-Kowalska benannte die Form daher 1994 in Ruemkelia um. Allerdings synonymisierte nur ein Jahr später Rainer Hutterer die Gattung aufgrund zu weniger definierender Unterschiede mit Archaeodesmana. Des Weiteren bildet Gerhardstorchia einen Ersatznamen für Storchia, etabliert im Jahr 2001 durch Thomas Dahlmann, welcher aber bereits durch eine Artengruppe der Milben präokkupiert ist. Forschungsgeschichte Schriftliche Überlieferungen über Desmane sind wenigstens seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts bekannt, wie unter anderen die Abhandlungen von Charles de l’Écluse über eine Mus aquaticus aus dem Jahr 1605 zeigen. Gut 153 Jahre später führte Carl von Linné in seinem wegweisenden Werk zur biologischen Nomenklatur Systema Naturae den Russischen Desman offiziell wissenschaftlich ein. Er ordnete die Art zwar innerhalb der Biber ein, was jedoch im Jahr 1777 durch Johann Anton Güldenstädt mit der Etablierung des Gattungsnamens Desmana korrigiert wurde. Der Pyrenäen-Desman erhielt im Jahr 1811 durch Étienne Geoffroy Saint-Hilaire seine wissenschaftliche Anerkennung. Hierbei bevorzugte er die Gattungsbezeichnung Mygale, welche wiederum auf Georges Cuvier zurückgeht und von diesem im Jahr 1800 im Zusammenhang mit dem Russischen Desman erwähnt worden war. Der heute gültige Gattungsname Galemys für den Pyrenäen-Desman wurde wiederum von Johann Jakob Kaup im Jahr 1829 geprägt. Dadurch waren bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts alle relevanten Namen für die Desmane vergeben worden. Während sich die Bezeichnung Desmana aus dem Schwedischen ableitet und mit dem mittellateinischen Wort bisamum für den Geruchsstoff Bisam verwandt ist, sich als auf das markante Sekret bezieht, setzen sich Mygale und Galemys jeweils aus den griechischen Wörtern μῦς (mys) für „Maus“ und γαλέη (gale) für „Wiesel“ zusammen, bedeuten also „Mauswiesel“ beziehungsweise „Wieselmaus“ und verweisen so auf das Erscheinungsbild der Tiere. Auch wenn Desmana und Galemys bereits sehr früh eingeführt worden waren, fanden sie im Verlauf des 19. und beginnenden 20. Jahrhundert kaum Verwendung. Vielmehr war es die Bezeichnung Mygale, die überwiegend als Gattung für die Desmane in Benutzung war. Als problematisch hierbei erwies sich, dass nur zwei Jahre nach Cuviers Erwähnung von Mygale eine Spinnengattung mit der gleichen Bezeichnung belegt worden war. Aufgrund dessen kamen verschiedene Alternativen wie Myogale oder Myogalea in Gebrauch. Erstere erwies sich als besonders durchsetzungsfähig und wurde vielfach angewendet, so unter anderem durch George Edward Dobson in seiner umfangreichen Abhandlung über Insektenfresser aus dem Jahr 1883. Eine erste übergeordnete taxonomische Gruppe für die Desmane basierend auf Mygale als Gattungsnamen kreierte John Edward Gray im Jahr 1821, die aber aufgrund ihrer falschen Schreibweise als „Myaladae“ nicht anerkannt ist. Gray fasste die Gruppe deutlich weiter und integrierte neben dem Sternmull und dem Ostamerikanischen Maulwurf auch die Goldmulle hierin, welche mit den Maulwürfen jedoch nicht näher verwandt sind. Weitere Ableitungen wurden in den nachfolgenden Jahren genutzt. So etablierte etwa Charles Lucien Jules Laurent Bonaparte im Jahr 1837 die „Myogalina“, die er den Spitzmäusen zuschlug. Auguste Pomel fasste die Desmane im Jahr 1848 in den „Mygalina“ zusammen, während George Jackson Mivart analog zu Bonaparte die Bezeichnung „Myogalina“ verwendete, Dobson 1883 hingegen „Myogalae“ favorisierte. Mivart galt eine Zeit lang als Autor der Tribus der Desmane. Insgesamt erwiesen sich alle Namen als nicht tragfähig. Mygale, von allen ursprünglichen Autoren auf den Russischen Desman bezogen, stellt im Sinne der Prioritätsregel der zoologischen Nomenklatur lediglich ein Synonym für Desmana dar, da letzteres zuvor benannt worden war. Für den Pyrenäen-Desman existiert der Alternativname Galemys. Antje Schreuder schlug daher im Jahr 1940 vor, für die rezenten Formen ausschließlich diese beiden Gattungen zu verwenden. Bereits vor Schreuders Bekundung hatte Oldfield Thomas im Jahr 1912 unter Zugrundelegung der Gattung Desmana die übergeordnete taxonomische Gruppe der Desmaninae eingeführt. Er tätigte dies im Rahmen einer kurzen Abhandlung über die Gliederung der Maulwürfe, die er darin in fünf Unterfamilien unterteilte, darunter die Desmane. Thomas gilt daher als anerkannter Taxonautor für die Tribus. Seine Einschätzung der Desmane als Unterfamilie hielt sich einige Zeit, sie wurden dann aber spätestens in den 2000er Jahren aufgrund genetischer Befunde auf den Rang einer Tribus heruntergestuft. Stammesgeschichte Frühe Vorfahren der Desmane sind bereits seit dem ausgehenden Paläogen belegt. Zu den ältesten bekannten Gattungen gehört Mygatalpa, die im Oberen Oligozän nachweisbar ist. Erstmals im Jahr 1844 von Auguste Pomel als „Desman arvernien“ anhand eines Unterkiefers aus Chauffours vorgestellt, benannte er die Form vier Jahre später in „Mygale arverniensis“ um und fügte noch einen Oberarmknochen bei. Fast einhundert Jahre später etablierte Antje Schreuder die Bezeichnung Mygatalpa für die Form, sah aber keinen unmittelbaren Zusammenhang mit den Desmanen. Die Diskussion um die tatsächliche Zugehörigkeit von Mygatalpa zu den Desmanen hält bis heute an, da einige Autoren sie näher bei den Spitzmausmaulwürfen einordnen. Sie basiert aber zum Teil auf falsch zugewiesenem Fundmaterial. Insgesamt sind Fossilreste dieses kleinen Maulwurfs eher selten. Für das Untere Miozän wird noch ein äußerst schlanker Oberarmknochen aus Tomerdingen bei Ulm genannt. Eindeutiger verhält es sich mit Mygalea. Diese im Jahr 1940 von Antje Schreuder eingeführte Form basiert auf einzelnen Unterkiefern und Gliedmaßenresten aus Sansan im Süden Frankreichs, die bereits in den 1840er und 1850er Jahren von Auguste Pomel und Édouard Armand Lartet (als Mygale) veröffentlicht worden waren. Fossilfunde liegen darüber hinaus von einigen weiteren Lokalitäten in Europa vor. An der Fundstelle Merkur-Nord bei Tuchořice im nördlichen Tschechien bildet Mygalea mit mehreren hundert Einzelfunden den häufigsten Maulwurfsvertreter. Das Ensemble bestehend aus Kieferresten und Oberarmknochen datiert in den Beginn des Unteren Miozäns. Nahezu gleichalt ist das ebenfalls vergleichsweise umfangreiche Material von verschiedenen Fundpunkten aus der Umgebung von Ulm, das mehrere Unterkiefer einschließt. Bereits in das beginnende Mittlere Miozän vor rund 15 Millionen Jahren gehört der bemerkenswerte Fund eines disartikulierten Skeletts aus Viehhausen bei Regensburg. Es besteht aus einem fragmentierten Schädel, den vorderen Extremitäten und einigen Wirbeln, wobei vor allem die Beinknochen äußerst schlank sind. Zu erwähnen sind noch die Funde aus den Spaltenfüllungen von Petersbuch in der Fränkischen Alb, von wo mehrere Unterkiefer stammen. Ihr Alter entspricht dem ausgehenden Mittleren Miozän. Noch im Übergang vom Unteren zum Mittleren Miozän erreichten Desmane auch Areale sehr weit östlich in Eurasien, wovon Zahn- und Kieferreste von der Fundstelle Tagay am Westufer der Insel Olchon im Baikalsee zeugen. Im westlichen Eurasien hingegen trat im Mittleren Miozän parallel zu Mygalea die Gattung Asthenoscapter in Erscheinung. Beschrieben wurde die Form im Jahr 1974 von John Howard Hutchison anhand von rund 250 Fossilresten aus einer Spaltenfüllung bei La Grive-Saint-Alban im östlichen Frankreich. Das Material entfällt zur Hälfte auf Zahn- beziehungsweise Gebissfragmente und auf Oberarmknochen. Weitere Nachweise der Gattungen liegen aus Sansan und aus der Umgebung von Ulm vor. Die überlieferten Reste lassen einen kleinen Maulwurfsertreter rekonstruieren, der mit schlanken Vorderbeinen ausgestattet war und in dessen unteren Gebiss die Schneidezähne nahezu die gleiche Größe aufwiesen. Ähnlich wie bei Mygatalpa wird aber die genaue systematische Stellung von Asthenoscapter diskutiert. Eine weitere, im Mittleren Miozän belegte Maulwurfsform ist Gerhardstorchia, benannt zu Ehren von Gerhard Storch. Sie wurde im Jahr 2001 über Funde aus Wölfersheim in Hessen definiert und zeichnet sich durch eine schlanke Bezahnung aus. Zusätzliches Material aus dieser Zeit stammt aus Devínska Nová Ves in der Slowakei, von wo ein Unterkiefer dokumentiert wurde. Mit Dorn-Dürkheim in Rheinland-Pfalz sowie mit verschiedenen Fundpunkten in Niederösterreich, etwa Eichkogel oder Götzendorf an der Leitha, können auch einige obermiozäne Lokalitäten genannt werden, wobei letztere mit 11 Millionen Jahren noch einmal knapp 2 Millionen Jahre älter ist als erstere. In der Regel handelt es sich um isolierte Zähne oder einzelne Kieferfragmente. Im Oberen Miozän und im Übergang zum Pliozän kommt noch Mygalinia hinzu, ein sehr kleiner Vertreter der Desmane, der sogar die Ausmaße des Pyrenäen-Desmans unterbot. Er wurde erstmals im Jahr 1913 von Theodor Kormos an der ungarischen Fundstelle Polgárdi nordöstlich des Balaton dokumentiert, damals von ihm aber noch der Gattung Galemys zugeordnet. Erst gut ein Viertel Jahrhundert später überführte Antje Schreuder die Funde zur neuen Gattung Mygalinia. Das Ausgangsmaterial besteht aus einzelnen Unterkiefern und einigen Gliedmaßenknochen. Später wurde die Gattung noch von mehreren spätmiozänen Lokalitäten wie Soblay, Mollon oder Lobrieu in Frankreich berichtet, ebenso wie von Werchnjaja Kriniza aus der Ukraine. Insgesamt ist das Fundmaterial aber zu spärlich – aus Werchnjaja Kriniza liegt beispielsweise nur ein einziger Zahn vor –, um genauere Aussagen treffen zu können. Den wohl am weitesten verbreiteten und häufigsten Vertreter des Oberen Miozäns und des folgenden Pliozäns stellt aber Archaeodesmana dar, von dem über ein halbes Dutzend Arten beschrieben wurden. Fundnachweise reichen vom südwestlichen über das zentrale bis in das südöstliche und östliche Europa sowie in das westliche Asien. Vergleichsweise alte Fossilreste aus dem Oberen Miozän in Form von Einzelzähnen sind unter anderem aus den bereits erwähnten Lokalitäten von Dorn-Dürkheim, Eichkogel und Götzendorf an der Leitha geborgen worden. Als nahezu gleichalt erwiesen sich ein Oberkieferfragment aus Polgárdi in Ungarn und einige wenige Zähne aus Werchnjaja Kriniza und Michailovka in der Ukraine, ebenso wie mehrere Fundkomplexe der Iberischen Halbinsel, so beispielsweise Masada del Valle und Aljezar in der ostspanischen Provinz Teruel. Im darauffolgenden Pliozän erlangt Archaeodesmana vor allem auf der Iberischen Halbinsel eine recht weite Verbreitung. Genannt werden können etwa Purcal bei Granada und Tollo de Chiclana bei Guadix. Während es sich auch hier weithgehend um Zähne und Kieferfragmente handelt, stammt ein nahezu vollständiger Schädel aus Sète im südlichen Frankreich. Im zentralen Europa reiht sich hier Gundersheim in Rheinhessen ein. Weiteres Material wurde aus Griechenland berichtet, neben Ptolemais außerdem aus Maramena, beide im Norden des Landes gelegen. Letztere Fundstelle barg Zähne und Skelettteile. Im Pliozän ist Archaeodesmana dann auch aus der heutigen Türkei belegt, stellvertretend sei hier Dinar-Akçaköy im westlichen Landesteil genannt. Allgemein handelt es sich bei Archaeodesmana um einen kleinen Maulwurf, dessen oberer vorderer Schneidezahn zwei Spitzen aufwies. Die Form steht an den jeweiligen Fundplätzen mit limnisch-fluviatilen Umweltverhältnissen in Verbindung und gilt als Ausgangspunkt der Entwicklung von sowohl Desmana als auch Gelemys. Die beiden heutigen Gattungen sind im Verlauf des Pliozäns erstmals fossil fassbar und nachfolgend recht weit über Europa verbreitet. Außerhalb des eurasischen Raumes wurden Desmane zusätzlich aus Nordamerika beschrieben. Der älteste Vertreter ist als Lemoynea benannt worden, wobei die Lemoyne Quarry bei der gleichnamigen Ortschaft im Keith County des US-Bundesstaates Nebraska Pate für die Bezeichnung stand. Die Funde, die der Ash-Hollow-Formation angehören und aus einzelnen Unterkieferfragmenten bestehen, zeichnen ein Tier, das etwas größer als Mygalinia wurde und sich durch einen besonders großen dritten unteren Schneidezahn auszeichnete. Wie für die Ash-Hollow-Formation allgemein, wird den Überresten ein spätmiozänes Alter zugesprochen. Etwa jünger mit einer Stellung im Unteren Pliozän ist dann Magnatalpa. Die Form wurde an der Gray fossil site im US-Bundesstaat Tennessee nachgewiesen, wo die Tiere in einer wasserreichen Karstlandschaft mit vielfältiger Fauna lebten. Entsprechend dem Namen handelt es sich um eine große Form, die alle heutigen Maulwürfe Nordamerikas an Größe übertraf und die Dimensionen des Russischen Desmans erreichte. Es liegen allerdings lediglich einzelne isolierte Zähne und ein zahnloser Unterkiefer vor. Bedrohung und Schutz Die beiden Arten der Desmane werden von der IUCN in ihrem jeweiligen Bestand als „stark gefährdet“ (endangered) eingestuft. Zu den Hauptbedrohungen zählen die Gewässerverschmutzung, die Zerstörung des Lebensraumes einschließlich der Störung der Gewässernetze sowie die illegale Jagd. Dies betrifft insbesondere den Russischen Desman, der in der Vergangenheit auch wegen des Desmanfells verfolgt wurde. Außerdem besteht eine starke Konkurrenz durch Neozoen wie dem Amerikanischen Nerz, der Nutria und der Bisamratte. Sowohl der Pyrenäen-Desman als auch der Russische Desman sind heute geschützt. Mit ersterem wird zudem als Aushängeschild für die Förderung der Erhaltung von Flusslandschaften geworben. Die Tiere sind in ihrem jeweiligen Verbreitungsgebiet in Schutzzonen präsent. Literatur I. I. Barabasch-Nikiforow: Die Desmane. Neue Brehm Bücherei 474, Wittenberg, 1975, S. 1–100 Boris Kryštufek und Masaharu Motokawa: Talpidae (Moles, Desmans, Star-nosed Moles and Shrew Moles). In: Don E. Wilson und Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 8: Insectivores, Sloths, Colugos. Lynx Edicions, Barcelona 2018, S. 552–620 (S. 605–607) ISBN 978-84-16728-08-4 Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. 2 Bände. 6. Auflage. The Johns Hopkins University Press, Baltimore MD u. a. 1999, ISBN 0-8018-5789-9 Don E. Wilson und DeeAnn M. Reeder (Hrsg.): Mammal Species of the World. A taxonomic and geographic Reference. 2 Bände. 3. Auflage. The Johns Hopkins University Press, Baltimore MD 2005, ISBN 0-8018-8221-4 Einzelnachweise Weblinks BBC: Pyrenean desman: On the trail of Europe's oddest beast, Filmaufnahmen eines Pyrenäen-Desmans Maulwürfe
465088
https://de.wikipedia.org/wiki/Sosopol
Sosopol
Sosòpol [] (oder Sozopol, ) ist eine Kleinstadt an der südlichen bulgarischen Schwarzmeerküste. Sie liegt an der Südseite der Bucht von Burgas auf mehreren kleinen felsigen Halbinseln in der Provinz Burgas und ist das Zentrum der gleichnamigen Gemeinde Sosopol. Sosopol ging aus der griechischen Kolonie Apollonia hervor und ist zusammen mit Nessebar eine der ältesten Städte Bulgariens. Von der Antike bis ins 17. Jahrhundert war Sosopol eine florierende Handelsstadt. Sie hatte den Ruf einer Winzer- und Fischerstadt und war ein wichtiger Hafen für den Umschlag von Getreide aus Thrakien. Ab der Spätantike entwickelte sich die Stadt zu einem Bischofssitz, dem im Mittelalter mehrere Klöster in der Stadt und in der Umgebung unterstanden. Von der Antike bis in das erste Viertel des 20. Jahrhunderts war Sosopol eine Stadt mit überwiegend griechischer Bevölkerung. Wegen seiner Strände und seiner kulturhistorisch wertvollen Bauten ist Sosopol ein überregional bekannter Touristenort. Die Altstadt mit ihren Festungsmauern sowie weiteren Bauten wurde zum Freilichtmuseum erklärt. Geographie Lage Sosopol liegt an der südlichen bulgarischen Schwarzmeerküste 35 Kilometer südlich von Burgas. Die Stadt erstreckt sich zwischen den Ausläufern des Strandscha-Gebirges im Süden und der Bucht von Burgas im Norden. Die Stadt Sosopol teilt sich in Alt- und Neustadt. Die Altstadt befindet sich auf der kleinen Halbinsel Skamnij , die zweihundert Meter breit und knapp zwei Kilometer lang ist und zehn Meter über dem Meeresspiegel liegt. Westlich dieser Halbinsel liegt die Sosopol-Bucht und östlich die Korenjata-Bucht . Die acht Hektar große Insel Sweti Kirik war bis zur Zeitenwende mit der Halbinsel Skamnij verbunden. Sie befindet sich 250 Meter nordwestlich der Altstadt und ist seit 1927 durch einen künstlichen Damm mit dem Festland verbunden, weswegen sie streng genommen eigentlich eine Halbinsel ist. Der Damm verbindet den Nordosten der Insel mit der Altstadt. Da die Halbinsel Sweti Kirik nach Südwesten durch eine 400 Meter lange Mole verlängert wurde, entstand so im Westen der Altstadt eine 800 × 200 Meter große, künstliche Bucht. Die dem Festland zugewandte Bucht beherbergt den Fischerei- und den Yachthafen. Seit den beginnenden 1960er Jahren hat sich Sosopol durch die Zunahme des Tourismus nach Süden vergrößert. Die Neustadt von Sosopol und das jüngste Stadtviertel Charmanite umfassen die Küste der Korenjata-Bucht und die Halbinsel Budschaka . Letztere wird im Volksmund auch Germankata (deutsch Die Deutsche) genannt, nach einer 1959 dort verunglückten Deutschen. Altstadt und Neustadt sind durch eine Landbrücke verbunden, auf der sich im Mittelalter der Stadtfriedhof befand. Die Fläche wurde zu einem Park umgestaltet – dem Meeresgarten.Die Halbinsel Budschaka und die Kawazite-Bucht bilden die südliche Grenze der Stadt. In der Sosopol-Bucht, 1,2 Kilometer nördlich der Altstadt, liegen außerdem die Inseln Sweti Iwan und Sweti Petar. Durch diese beiden Inseln ist die Reede von Sosopol gegen starke Winde geschützt, was besonders in der Antike von den Seefahrern geschätzt wurde. Nachbargemeinden Die Stadt grenzt im Norden, Osten und Südosten an das Schwarze Meer. Weiterhin grenzt Sosopol an folgende in der Provinz Burgas liegende Städte und Gemeinden: Das Gemeindedorf Rawadinowo liegt 5 Kilometer landeinwärts und ist der nächstgelegene Ort. Die Entfernung zur Provinzhauptstadt Burgas beträgt auf dem Landweg 33 Kilometer und auf dem Seeweg 25 Kilometer. Nach Primorsko, dem nächstgrößeren Ort im Süden, sind es 20 Kilometer. Landschaft Das Stadtgebiet von Sosopol breitet sich auf der Hügelkette Meden rid aus, einem Teil des Strandscha-Gebirges, welcher zur geomorphologischen Meden rid-Strandscha-Hauptregion gehört. Das Gebiet zeichnet sich durch einen Komplex von Meeresterrassen, einer stark zerklüfteten Felsküste und einer Vielzahl von Limanen aus, die sich mit größeren und kleineren Sandstränden abwechseln. Die Küste des Stadtgebiets ist ebenfalls stark zerklüftet und die größeren Sandstrände bilden den zentralen Stadtstrand (auch Nordstrand genannt) und den Charmanite-Strand . Sanddünen nehmen fast ein Drittel der Fläche des Letzteren ein. Die Halbinseln zwischen den Buchten weisen senkrechte ins Meer abfallende, schwer zugängliche Steilküsten auf (→ Kliffküste). Die Landschaft westlich der Stadt ist durch die nach Osten und Nordosten abfallenden Hänge der Hügelkette Meden rid geprägt. Die Hügelkette wird im Westen vom Fluss Rossen begrenzt und erstreckt sich im Osten bis zum Schwarzen Meer, einschließlich der Küste der Bucht Tschengene Skele im Norden bis zum Marschland Arkutino und Kap Maslen nos im Süden. Ebenfalls westlich von Sosopol befindet sich mit dem Gipfel Bakarlak (376 m) der höchste Punkt der Hügelkette. Die Böden der Region bestehen aus fruchtbarer Schwarzerde. Klima Das Klima in Sosopol und Umgebung ist trocken und gemäßigt kontinental mit einigen maritimen Wettereinflüssen. Der Winter ist wärmer als im Landesinneren, jedoch ist es windiger. Die durchschnittliche Januartemperatur liegt bei 7 °С. Die Sommer sind heiß, dank der Meeresnähe mit einer ständigen Brise dennoch angenehm. Die durchschnittliche Tagestemperatur beträgt im Juli 29 °С und die Wassertemperatur 25 °C. Durch den maritimen Einfluss ist das Klima im Vergleich zum Rest des Landes milder, so dass Winter und Frühling kürzer sowie Sommer und Herbst länger sind. Im Winter herrschen Nordwest- und Südwestwinde vor. In den Sommermonaten zwischen April und September überwiegen die östlichen Winde, die eine beständige Brise bringen und tagsüber eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 3–6 m/s und nachts von 1–2 m/s aufweisen. Die Zahl der Regentage ist im Vergleich zum Rest des Landes gering; regenfrei sind im Sommer und Herbst 17–28 Tage sowie im Winter und Frühling 14–15 Tage. Klimadiagramme von Sosopol Natur Mehrere Naturschutzgebiete befinden sich im oder grenzen an das Stadtgebiet von Sosopol. Südlich der Stadt, in der Kawazite-Bucht, befindet sich das Reservat Pjasatschna Lilija (deutsch: Sandlilie). Es ist nur 0,6 Hektar groß und damit das kleinste bulgarische Naturreservat. Es wurde 1962 zum Naturreservat erklärt und schützt eine der größten Vorkommen von Dünen-Trichternarzissen, eine in Bulgarien in die Rote Liste aufgenommene Pflanzenart. Als Schutzgebiet gilt die 24 Hektar große Natursehenswürdigkeit Pjasatschni Djuni Kawazite (deutsch: Sanddünen Kawazite), wo die Sanddünen eine Höhe von bis zu 6 Metern aufweisen. Ebenso befindet sich in der Bucht auf der Budschaka-Halbinsel das 1970 ausgewiesene, 65 Hektar große Naturschutzgebiet Kolokita, welches die Steinklippen vor Erosion schützt. Rund 10 km südlich von Sosopol liegt der 3858 Hektar große Naturschutzkomplex Ropotamo. Er umfasst das Biosphärenreservat Ropotamo an der Mündung des gleichnamigen Flusses Ropotamo, die Insel Sweti Toma, die Naturschutzgebiete Alepu, Stomoplo und Arkutino sowie das südliche Ende des Golfs von Burgas mit dem Kap Maslen nos. Nur auf der Insel Sweti Iwan sind 1934 dort ausgesetzte Wildkaninchen innerhalb Bulgariens zu beobachten. Weiterhin befindet sich auf der Insel, einschließlich der benachbarten kleineren Insel Sweti Petar, die größte Möwenkolonie entlang der bulgarischen Küste sowie größere Populationen der Sperbergrasmücke und des Ortolans. 1993 wurden beide Inseln zu dem 30 Hektar großen Naturschutzgebiet Insel der Heiligen Petar und Iwan zusammengefasst. Unabhängig von der staatlichen Ausweisung wurden all diese Naturschutzgebiete sowie weitere Land- und Seengebiete von der internationalen Organisation zum Schutz von Vögeln BirdLife International, zum Important-Bird-Area-Bakarlaka zusammengefasst. Dieses Gebiet umfasst eine Fläche von 33.505 Hektar und den Großteil des inneren Golfs von Burgas mit den südlichen Buchten Atija, Sosopol und Kawazi. In diesem Gebiet nisten über 172 Vogelarten. 43 von ihnen stehen in Bulgarien auf der Roten Liste und 73 werden von der BirdLife International als europaweit gefährdet eingestuft, darunter der Mittelspecht, der Olivenspötter, das Tüpfelsumpfhuhn, der Mittelmeer-Sturmtaucher, die Sperbergrasmücke und der Ortolan. Während der Vogelzugzeiten sind in der Ebene nördlich von Sosopol größere Populationen von Störchen und südlich der Stadt Pelikane zu beobachten. In den Meeresbuchten um Sosopol überwintern dazu einige Wasservogelarten, darunter Pracht- und Sterntaucher sowie Silberreiher. Unter besonderem Schutz stehen die hier heimischen Pflanzenarten Zwiebel-Rispengras, Gewöhnlicher Strandhafer und das Deutsche Weidelgras. Die Region südlich der Stadt geht allmählich in das Strandscha-Gebirge über, mit dem größten Naturpark Bulgariens, der viele geschützte Pflanzen- und Tierarten beherbergt. Geschichte Name Die Stadt erhielt von ihren griechischen Gründern zu Ehren des Gottes Apollon, der hier als Heiler verehrt wurde, den Namen Apollonia. Um sie von anderen Städten gleichen Namens zu unterscheiden, wurde sie auch mit dem Namenszusatz Pontike (, latinisiert ; von Pontos („Schwarzes Meer“), d. h. „Apollonia am Schwarzen Meer“) oder dem Namenszusatz Magna („die Große“) bezeichnet. Im Verlauf der Christianisierung in der Spätantike wurde Apollonia in umbenannt (griechisch für „Stadt der Rettung/der Erlösung/des Heils“). Der genaue Zeitpunkt der Namensänderung ist nicht bekannt, im 4. Jahrhundert findet sich der Name Apollonia noch bei Ammianus Marcellinus und in der Tabula Peutingeriana. Mitte des 12. Jahrhunderts wurde Sosopolis in den arabischen Namensformen Suzubuli und Surubuli erwähnt. In genuesischen Quellen sowie in zahlreichen Portolanen und Seekarten ab dem 13. Jahrhundert ist die Stadt unter Namensformen wie Sixopoli, Sizopoli, Sinopolis, Sunopolis, Susopori, Suxopori, Gisopoli, Gixopoli oder Grisopoli vermerkt. Die Bezeichnung Sosopolis wurde unter osmanischer Herrschaft leicht verändert als beibehalten. Seit 1878, dem Ende der osmanischen Herrschaft über Bulgarien, hat der Name der Stadt die bulgarische Form Sosopol. Stadtgeschichte Vorgeschichte Die Bucht von Sosopol gehört mit zu den ältesten besiedelten Regionen Europas. Die erste Siedlung entstand zwischen dem Ende des 4. und dem Anfang des 3. Jahrtausend v. Chr. und wird von einigen Forschern als Teil der Warna-Kultur gesehen. Mittels Unterwasserarchäologie wurden Funde von Wohnhäusern, Keramik und Arbeitsgeräten aus der Bronzezeit zu Tage gefördert. In der Bucht von Sosopol wurden ferner zahlreiche Steinanker und Ankerstöcke gefunden, datierbar in das 2.–1. Jahrtausend v. Chr., welche auf eine bereits damals betriebene Schifffahrt hinweisen. Das antike Apollonia Die Stadt wurde in einem bereits seit dem Beginn des 1. Jahrtausends v. Chr. von Thrakern besiedelten Gebiet 610 v. Chr. von Griechen aus Ionien als eine der frühesten griechischen Kolonien im Schwarzmeerraum gegründet. Etwa zur gleichen Zeit entstand das benachbarte Antheia, das später in Apollonia aufging. Apollonia verfügte über zwei in geschützten Buchten gelegene Häfen und bot dadurch eine günstige Lage für die Seefahrt. Die Stadt hatte neben dem eigentlichen Zentrum drei befestigte Stadtviertel, die sich außerhalb der Stadtmauer befanden, eines auf der Insel Sweti Kirik, eines südlich der Neustadt auf der Halbinsel Budschaka und eines auf den Hügeln des Festlandes oberhalb der Altstadt. Weitere Siedlungen befanden sich nördlich, auf den heutigen Halbinseln Atija (= Antheia), Chrisotira und Akin. Das Territorium dieses griechischen Stadtstaats umfasste das Küstenland von Anchialos im Norden bis Tiniada im Süden. Im Hinterland lebten lokale thrakische Stämme. In seiner Geschichte als griechische Polis blieb Apollonia ein autonomer Stadtstaat. Die Stadt ging im 5. Jahrhundert v. Chr. ein Bündnis mit den Odrysen ein, das nicht nur die bestehenden Grenzen bekräftigte, sondern auch Handelsprivilegien für die Griechen brachte. Durch die so erreichte privilegierte Stellung sowie die betriebene Fischerei, Salzgewinnung aus den Burgasseen, Metallverarbeitung und andere aus dem nahegelegenen Strandscha-Gebirge gewonnene Rohstoffe wie Holz erfuhr die Stadt einen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Stadt war als Hafen der Kornkammer der griechischen Stadtstaaten, Thrakien, bekannt und verfügte über ein Theater, eine Agora und ein Gymnasion. Die Münzprägung Apollonias begann um 430 v. Chr. und setzte sich zunächst bis ins 2. Jahrhundert n. Chr. fort. Geprägt wurde in Silber und Bronze. 72 v. Chr. nahm der römische Prokonsul von Makedonien, Marcus Terentius Varro Lucullus, die Stadt ein, zerstörte sie und transportierte die monumentale Statue des Apollon aus seinem Tempel nach Rom ab. Nachdem die Stadt unter römische Herrschaft gekommen war, ging ihr Einfluss zurück. Sie wurde zunächst dem thrakischen Odrysenreich unterstellt. Nach dessen Ende wurde Apollonia in die römische Provinz Thrakien eingegliedert und nach der Reichsreform unter Diokletian in die Diözese Thrakien. In der Nähe Apollonias verlief die Via Pontica. Sosopolis in Spätantike und Mittelalter Mit der Reichsteilung von 395 kam Apollonia zum Oströmischen Reich und erlebte durch die Nähe zur Hauptstadt Konstantinopel einen erneuten wirtschaftlichen Aufschwung. 514 eroberte der gegen Kaiser Anastasios I. rebellierende General Vitalian die Hafenstadt und raubte dort einer kaiserlichen Gesandtschaft das Lösegeld für Flavius Hypatius. In byzantinischer Zeit entwickelte sich Sosopolis zum wichtigen Bollwerk für die byzantinische Armee entlang der Via Pontica bei der Kontrolle des Hinterlands von Konstantinopel und den Handelsrouten an der westlichen Schwarzmeerküste, welche für Byzanz über das Donaudelta den Zugang zu den nordöstlichen europäischen Märkten darstellten. Die Stadt hatte als Getreidehafen eine wichtige Rolle bei der Versorgung der Hauptstadt Konstantinopel. Weiter wurden große Mengen an Holz, Kupfer und Wein im Hafen von Sosopolis umgeschlagen. Ab 680 gehörte Sosopolis zur byzantinischen Provinz (Thema) Thrakien. Sosopolis verstand sich traditionell als byzantinische Stadt und Festung, schon wegen ihrer Nähe zu Konstantinopel. Im späten 8. Jahrhundert wurde das Thema aufgeteilt und Sosopolis dabei zur Hauptstadt eines der drei Unterbezirke der Militärprovinz (Turma). Ein Bleisiegel aus dem 9. Jahrhundert nennt einen spatharios (hoher Offizier) und turmarches (Kommandant einer Turma) Sozopoleos. Mehrmals wurde die Hafenstadt während der Byzantinisch-Bulgarischen Kriege als Aufmarschgebiet der Byzantiner gegen die Bulgaren genutzt, die nach der Schlacht von Anchialos 708 das thrakische Hinterland von Sosopolis kontrollierten. 812 wurde Sosopolis wahrscheinlich vom bulgarischen Herrscher Krum erobert und zum ersten Mal in das Bulgarische Reich eingegliedert, woraufhin sich die ersten Bulgaren und Slawen in der Stadt niederließen. Weiter stationierte Krum Teil seiner Streitkräfte in Sosopolis und dem nahgelegenen Ranuli. Nach dem Frieden von 815 wurde Sosopolis erneut byzantinisch und ein Teil der zuvor geflüchteten byzantinischen Bevölkerung kehrte zurück. 917 änderte sich der Grenzverlauf zwischen dem Bulgarischen Reich und dem Byzantinischen Reich abermals, als Simeon I. (894–927) alle byzantinischen Küstenstädte vom Donaudelta bis Midea, darunter Sosopolis, eroberte. 967 eroberte Nikephoros II. die Stadt für das Byzantinische Reich zurück. Sosopolis wurde im Mittelalter immer wieder als Verbannungsort für hohe byzantinische Würdenträger genutzt. So wurden beispielsweise 1083 Bischof Leon von Chalkedon strafweise nach Sosopolis verbannt und 1107 der Verschwörer Ioannes Solomon, der eine Rebellion gegen Kaiser Alexios I. anzettelte, in Sosopolis inhaftiert. 1204 wurde während des Vierten Kreuzzuges das Lateinische Kaiserreich gegründet. Im Krieg mit den Bulgaren unter Zar Kalojan konnte dieser den lateinischen Kaiser von Konstantinopel Balduin I. von Flandern gefangen nehmen und in der bulgarischen Hauptstadt Tarnowo einsperren sowie den Großteil Thrakiens unter bulgarische Kontrolle bringen. Sein Bruder Heinrich von Flandern zog daraufhin als Vergeltung plündernd durch Thrakien und eroberte 1206 die Region, scheiterte jedoch an der Erstürmung von Sosopolis. Nach der Rückeroberung von Konstantinopel 1261 und der Wiederherstellung des Byzantinischen Reiches gelang es 1263 dem General Michael Glabas Tarchaniotis Sosopolis zurückzuerobern. 1304 eroberte der bulgarische Zar Todor Swetoslaw nach der Schlacht von Skafida Sosopolis und nahm dabei den einstigen Patriarchen von Konstantinopel Ioannes XII. Kosmas gefangen. Der Frieden zwischen beiden Reichen wurde 1308 durch die Vermählung Todor Swetoslaws mit Theodora Palaiologina, einer Tochter Michael IX. im Sosopoler Kloster Johannes des Täufers gefestigt. In der folgenden Zeit spielte die Hafenstadt eine bedeutende Rolle im venezianischen und genuesischen Getreidehandel. 1316 führten Maßnahmen Todor Swetoslaws, darunter Zolleinführung für den Getreidehandel und die Beschlagnahme des Besitzes genuesischer Händler in Sosopolis, dazu, dass die genuesische Verwaltung von Gazaria Genuesen den Handel auf bulgarischem Hoheitsgebiet und speziell in Sosopolis untersagte. Nach dem Tode von Gregor vom Sinai († 1346) wurde Sosopolis Ausgangspunkt für die Pilgerreise zu seiner Grabstätte und den von ihn in der Nähe gegründeten Klöster. Im byzantinischen Bürgerkrieg zwischen Johannes Kantakuzenos und Johannes Palaiologos blieb Sosopolis als einzige Stadt an der südwestlichen Schwarzmeerküste auf der Seite der Palaiologen. Im Byzantinisch-Genuesischen Krieg (1348–1349) verbrannten Genuesen byzantinische Schiffe im Hafen von Sosopolis. Als Kantakuzenos im Dritten Venetianisch-Genuesischen Krieg (1350–1352) auf Seiten Venedigs eingriff, überfiel im November 1351 der genuesischer Admiral Paganino Doria mit zehn Galeeren Sosopolis und plünderte die Stadt. Die in der Folge als Entschädigung gewährte Steuerfreiheit ermöglichte ihren schnellen Wiederaufbau. 1361 wurde Sosopolis („portus Suxopori, in Susopori“) im Zusammenhang mit dem genuesischen Getreidehandel genannt. 1366 führte Amadeus VI. von Savoyen einen Feldzug gegen die Osmanen und Bulgaren an der westlichen Schwarzmeerküste und konnte am 17. Oktober 1366 Sosopolis erobern und die Klöster plündern. Nach dem Ende des Feldzuges verkaufte er die gewonnenen Gebiete und diese gingen im März 1367 an Byzanz über. Osmanische Herrschaft Abgesehen von zwei kurzen Perioden osmanischer Herrschaft (1396–1403 und 1411–1413) blieb Sosopolis wie die Küstenorte Agathopolis, Anchialos und Mesembria byzantinisch. Wahrscheinlich wurde Sosopolis im Februar 1453, einige Monate vor dem Fall Konstantinopels mit anderen Städten in Thrakien von den Byzantinern aufgegeben und dem osmanischen Beylerbey von Rumelien – Karadja – unterstellt. Das würde erklären, warum die Stadt der Zerstörung in dieser Zeit entging. Damit fiel Sosopol als eines der letzten Gebiete im heutigen Bulgarien unter die Herrschaft der Osmanen. Nach dem Fall der byzantinischen Hauptstadt 1453 ließen sich dort wie in Mesembria und Anchialos Mitglieder der geflüchteten Konstantinopeler Adelsfamilien der Dukas, Kantakuzenos, Palaiologen, Laskariden und Komnenen sowie byzantinische Händler nieder. Die Mitglieder der ehemaligen Kaiserdynastien förderten weiter die Klöster und den Lehrbetrieb in ihnen. Vor allem erlangte das Kloster Johannes des Täufers durch seine Bibliothek und sein Skriptorium eine überregionale Bekanntheit, nachdem um 1490 Lorenzo de Medici seine Privatbibliothek mit Büchern und Manuskripten aus dem Kloster ausstatten ließ. Die Informationen über Sosopol in den nächsten Jahrhunderten wie über den Großteil der Siedlungen an der Westküste des Schwarzen Meeres sind rar. Dies hängt mit der „Politik des geschlossenen Meeres“ zusammen, da in diesem Zeitraum nichtosmanischen Seefahrern und Händlern der Zugang zum Meer verboten war. Aus mehreren Textdokumenten ist bekannt, dass Nachfahren der byzantinischen Adels- und Händlerfamilien durch ihren Reichtum zu Einfluss im Osmanischen Reich gelangten und weiter die Klöster und Schulen um Sosopol förderten. So lebten und arbeiteten 1593 allein im Inselkloster Johannes der Täufer 150 Mönche. Die Unabhängigkeit der Klöster, die dem Patriarchen unterstanden, sowie der Einfluss einzelner Familien aus Sosopolis, Anchialos, Agathopolis und Mesembria gewährte der griechischen Bevölkerung dort eine gewisse Autonomie. Diese Quasi-Unabhängigkeit formte in der Küstenregion auch nach der osmanischen Eroberung weiter die Bildung einer homogenen christlichen Gesellschaft in der die byzantinischen Traditionen weiterlebten. Im Zusammenhang mit dem Osmanisch-Polnischen Krieg (1620–1621) in den 1610er und 1620er wurde die Küste von Piraten, großenteils Kosaken aus der östlichen Ukraine mehrmals geplündert. Neben ihrem Reichtum lockten die Klöster um Sosopol die Piraten durch sichere Ankerplätze und Unterkünfte an. So nahmen 1623 Piraten Mönche und Stadtbürger als Geiseln und verbarrikadierten sich im Kloster Johannes des Täufers. Bereits 1622 gab der Bischof von Sosopolis, Kallinikos, sein Amt wegen der Verwüstungen der „Russen“ und der Stadtflucht auf. 1629 zerstörten nunmehr die Osmanen nach der Vertreibung der Piraten den Großteil der Festungsmauern, alle 30 Stadtkirchen und alle Klöster um Sosopol mit Ausnahme des Klosters Sweta Anastasia. Die Mönche wurden daraufhin in das Jungfrau Maria-Kloster auf der Insel Chalki bei Konstantinopel umgesiedelt. Nach der Zerstörung von 1629 ging die Bedeutung der Stadt als geistiges und administratives Zentrum zurück. Wahrscheinlich in dieser Zeit wurde Sosopol der Anchialo Kaza (etwa Verwaltungskreis) unterstellt. Ab dem 17. Jahrhundert stieg der Export vom Getreide kontinuierlich über den Hafen Burgas an, so dass bereits in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts Burgas die führende Rolle im Golf von Burgas spielte. In dieser Zeit öffnete sich das Reich allmählich für den Westen. So berichtete der französische Diplomat Claude-Charles de Peyssonnel 1787, dass Sosopol eine Palanke sei und der Hafen ein geringeres Handelsvolumen als jener in Burgas aufweise. So nahm die Bedeutung Sosopols in der spätosmanischen Zeit kontinuierlich ab. Rund hundert Jahre später wurde Sosopol von Burgas endgültig als regionales Zentrum verdrängt (→ Geschichte der Stadt Burgas). Bereits während des Tanzimats (1840–1864) wurden Ortschaften, darunter Sosopol, aus der Anchialo Kaza herausgenommen und der neu gegründete Burgas Kaza im Sandschak Sliwen unterstellt. Im Russisch-Türkischen Krieg (1828–1829) wurde die Stadt am 16. Februar 1829 in der Schlacht von Sosopol für fünf Monate von russischen Truppen unter der Führung von Konteradmiral Michail Kumani eingenommen. Zu Ehren der Einnahme der Stadt Sosopol wurde eine im März 1841 in Dienst gestellte Fregatte der russischen Schwarzmeerflotte auf den Namen „Sosopol“ getauft und in Sosopol eine Gedenktafel angebracht. Die meisten Einwohner der Stadt waren zu der Zeit Griechen und Bulgaren und unterstützten die Russen, wie etwa das „Bulgarisch-Griechische Freiwilligen-Korps“. In dieser Zeit wurden die Kulturschätze der Region von den Russen geplündert. Als nach dem Frieden von Adrianopel bekannt wurde, dass die Stadt weiter im Osmanischen Reich verbleiben sollte, flohen viele Bewohner vor den anrückenden Osmanen. Vereinigung Bulgariens, Flüchtlinge und Auswanderung Im Russisch-Türkischen Befreiungskrieg von 1877/78 eroberte die russische Armee Sosopol am 10. Januar 1878. Die Stadt wurde nach dem Berliner Kongress von 1878 jedoch erneut Teil des Osmanischen Reiches und in die neu konstituierte autonome Provinz Ostrumelien eingegliedert. Sosopol blieb bis zum September 1885 osmanisch. Zu diesem Zeitpunkt vereinigte sich die osmanische Provinz Ostrumelien nach einem Militärputsch mit dem Fürstentum Bulgarien. Im Februar 1897 besuchte der bulgarische Zar Ferdinand I. mit seiner Frau Marie Louise die Stadt. Er finanzierte die Pflasterung der Altstadtstraßen und spendete Geld für die Instandsetzung der griechischen Kirchen sowie für die Erbauung der bulgarischen Hl. Brüder Kiril und Method-Kirche. In den nächsten Jahren ließen sich immer mehr bulgarische Flüchtlinge aus Ost- und Westthrakien in Sosopol nieder. Nach den antigriechischen Pogromen in Bulgarien 1906, denen das Massaker von Sagoritschani vorausgegangen war, wurden die Einrichtungen der Griechen in der Stadt geschlossen und enteignet, darunter die Kirchen, die Bibliothek und die griechischen Schule. In den folgenden Jahrzehnten wanderte die gesamte griechische Stadtbevölkerung aus. Zwischen 1925 und 1927 entstand im Zusammenhang mit dem Bau der Seefahrts- und Fischereischule für Waisen auf der Insel Sweti Kirik die Landverbindung mit dem Festland. Die Schule existierte bis 1936. Von 1936 bis 2005 wurde die Insel als Marinestützpunkt der bulgarischen Kriegsmarine genutzt und die Schule zur Marineakademie ausgebaut. Sosopol ab der Mitte des 20. Jahrhunderts Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Gründung der Volksrepublik Bulgarien führten die neuen Machthaber eine Enteignung aller landwirtschaftlichen Betriebe mit einer Fläche von mehr als 20 Hektar sowie eine Massenkollektivierung durch. Die Fischer wurden in einer Fischkooperative zusammengefasst und der Fischmarkt nach Burgas verlegt. Sosopol blieb von Eingriffen im Stadtbild nach sozialistischem Muster wie die Errichtung von Plattenbausiedlungen verschont. Zwar wurden in diesem Zeitraum öffentliche Gebäude wie das Polizeipräsidium, das Tschitalischte und das Gebäude des Archäologischen Museums gebaut, diese wurden jedoch dem Stadtbild angepasst und tragen keine realsozialistischen Züge. In dieser Periode war Sosopol im Gegensatz zu anderen Ortschaften Südostbulgariens nicht durch Landflucht der Bevölkerung in Richtung der Großstadt Burgas betroffen. Ein Teil der Bewohner Sosopols arbeitete bis in die 1990er Jahre als Bergleute in der staatlichen Kupfermine Rossen. Unter staatlicher Führung entwickelte sich die Kleinstadt zu einem beliebten Urlaubsort der Bulgaren und später der Bewohner anderer Ostblock-Staaten. In der Neustadt und südlich davon entstanden Feriensiedlungen, meist einfache Holzbungalows für Staatsbetriebe aus dem Landesinneren. Aufgrund der malerischen Lage siedelten sich in der Hafenstadt in den 1980ern bulgarische Künstler an, was der Stadt den Beinamen Stadt der Maler und Fischer und 1984 die erste Ausgabe des nicht vom Staat genehmigten Apollonia Art Festivals einbrachte. In der Nähe Sosopols, an der Mündung des Flusses Ropotamo, befand sich das Privat-Jagdgebiet des Staatschefs Todor Schiwkow. Entwicklung in der postkommunistischen Zeit Mit dem Ende des Kommunismus 1989 verringerte sich vor allem die Zahl der Touristen. Die Osteuropäer suchten nun für sie bis dahin nicht erreichbare Urlaubsorte auf. Mit der in Bulgarien einsetzenden Privatisierung der Staatsbetriebe und mit der Rückgabe der enteigneten Grundstücke gerieten die staatlichen Feriensiedlungen, welche auf ehemaligen privaten Grundstücken gebaut wurden, an ihre vorherigen Eigentümer oder bekamen neue Besitzer. Der zwischen 2002 und 2007 erfolgte massenhafte Bau von privaten Unterkünften und Hotels führte zu weitgehenden Zerstörungen der antiken Nekropolen in der Gegend Charmanite. Ein weiteres Viertel soll in den nächsten Jahren in der Gegend Misari , oberhalb der Neustadt entstehen. 1993 unterzeichneten Vertreter der Schwarzmeer-Anrainerstaaten in Sosopol ein Übereinkommen über den Schutz des Meeres vor Verschmutzung und Überfischung sowie die Erhaltung seiner biologischen Ressourcen. Die Wirtschaft der Stadt im 21. Jahrhundert gründet sich vor allem auf den Tourismus, den Fischfang und die Fischverarbeitungsindustrie. So wird die Hafenstadt von vielen jungen Bulgaren als Tourismusziel bevorzugt, da sie im Gegensatz zum Sonnenstrand und der Halbinsel Nessebar noch nicht so sehr dem internationalen Massentourismus verfallen ist. Die Stadt ist seit 2004 Namensgeber für den Sozopol Gap, einen Bergsattel auf der Livingston-Insel in der Antarktis. Religionen Pagane Religion in Apollonia Christentum Der Überlieferung nach hat der Apostel Andreas auf dem Weg nach Skythien, der heutigen Dobrudscha, in Apollonia Halt gemacht und dort als Erster das Christentum gepredigt. Gesichert ist, dass im 4. Jahrhundert an der Stelle des zentralen Apollon-Tempels eine Kirche der Heiligen Cyricus und Julita errichtet wurde. Auch die anderen heidnischen Heiligtümer wurden größtenteils in Kirchen umgewandelt. So entstand an der Stelle der Tempel der Demeter und Persephone das Kloster der Heiligen Apostel und der 20.000 Märtyrer. Im Umfeld vieler Kirchen entwickelten sich in den folgenden Jahrhunderten Klöster: drei Stadtklöster (Kloster des Heiligen Johannes, Kloster der heiligen Apostel und das Kloster der Heiligen Mutter Gottes), drei Inselklöster (Kloster Johannes des Täufers, Kloster der Heiligen Cyricus und Julita und das Kloster der Heiligen Mutter Gottes), das Kloster des Heiligen Nikolas im nah gelegenen Tschernomorez und das Georgskloster in Kraimorie. Dabei wurden die Klöster sowohl von den byzantinischen Kaisern als auch von den bulgarischen Zaren gefördert und mit Ländereien beschenkt. Eine zentrale Rolle im geistlichen Leben Sosopols spielten das Stadtkloster des Heiligen Johannes (neben der heutigen Georgskirche gelegen) und das Inselkloster Johannes des Täufers. Ersteres war ab 1366 Sitz des örtlichen Metropoliten. Letzteres unterstand direkt dem Patriarchen (Stauropegia) von Konstantinopel, was es unabhängig vom lokalen Bischof machte. Die Klöster waren ein Zentrum der Literatur, verfügten über Bibliotheken und Skriptorien und spielten eine wichtige Rolle bei der Verbreitung und nach der osmanischen Eroberung der Erhaltung des Christentums. Neben den Klöstern wies die Hafenstadt im Spätmittelalter über 20 Stadtkirchen auf. Für die Bedeutung Sosopols als Zentrum des Christentums zeugt die Wahl von zwei seiner Bischöfe (Johannes XII. Kozma und Neilos Kerameos) zum Patriarchen von Konstantinopel. Im Frühling 1526 usurpierte der Bischof von Sosopolis Ioannikos den Patriarchenthron von Jeremias I., der zu dieser Zeit Jerusalem besuchte. Der Letztere kehrte zurück und konnte mit Hilfe der Konstantinopler Bevölkerung den Usurpator entmachten. Unter mehreren Klöstern, die dem Sosopoler Kloster des Heiligen Johannes unterstanden, befand sich das Kloster des Heiligen Nikolas im moldawischen Iași, dessen älteste erhaltene Schenkungsurkunde, ein 1595 ausgestellter Chrysobull des moldawischen Herrschers Aron Tiranul, ein weiteres Zeugnis für die Bedeutung dieses Klosters in Sosopol darstellt. Bei der Zerstörung der Klöster und Kirchen Sosopols im Jahr 1629 konnten nur aus dem Kloster Johannes des Täufers über 45 Codices gerettet werden. Seit dem 20. Jahrhundert befindet sich der Großteil von ihnen im Besitz der Vatikanischen Bibliothek, ein kleinerer Teil wird im Kloster der Jungfrau Maria auf der Insel Chalki aufbewahrt. Sosopol als Bischofssitz Im 4. Jahrhundert wurde die Stadt als Teil des Bistums von Deultum und Sosopolis erwähnt, wobei sich der Bischofssitz zunächst in Deultum befand. Seine Bischöfe nahmen an den ökumenischen Konzilen von Ephesos 431 und von Chalkedon 451 und an den Synoden von Konstantinopel 680/681 und Nicäa 787 teil. Dieses Bistum verlor im 7. Jahrhundert seine Unabhängigkeit und wurde als Suffragan der Diözese (Kirchenprovinz) von Haemimontus mit Sitz in Adrianopel unterstellt. Der Bischof von Sosopol unterstand bis zum 14. Jahrhundert der Erzdiözese von Adrianopel. Erst als 1354 das Bistum von Pegai aufgehoben wurde, erhielt ihr letzter Inhaber Theodosios als Ausgleich den Sitz der neu gegründeten Eparchie (Diözese) von Sosopolis. Die neue Diözese unterstand einem Metropoliten, der wiederum direkt dem Patriarchen untergeordnet war. Auf Grund der Piratenüberfälle und der Bevölkerungsflucht an der südwestlichen Schwarzmeerküste legte das Patriarchat von Konstantinopel 1623 die Diözesen von Medeia und Sosopolis zusammen. Ihr Sitz blieb im größeren Sosopolis, dessen Namen sie weiter trug. 1829 wurde die Diözese von Sosopolis mit der Diözese von Achtopol zur Diözese von Sosoagathoupolis zusammengelegt. Mit der Gründung des Bulgarischen Exarchats durch den Sultansferman von 1870 erhielt die bulgarisch-orthodoxe Kirche ihre Unabhängigkeit zurück. Mehrere Orte an der westlichen Schwarzmeerküste, darunter Sosopol, blieben jedoch weiter unter der kirchlichen Obrigkeit des griechisch geprägten Ökumenischen Patriarchats. Erst während der antigriechischen Pogrome von 1906 verließ der Bischof von Sosopolis die Stadt und in der Folge wurde sein Bischofssitz zuerst nach Zarewo und später nach Konstantinopel verlegt. 1917 wurde die Diözese aufgehoben und der letzte Metropolit von Sosopol, Dorotej, legte sein Amt nieder. Noch im gleichen Jahr wurde der bulgarische Teil der Diözese Sosoagathoupolis der Diözese Sliwen der bulgarisch-orthodoxen Kirche unterstellt. Heute gehört die Stadt zum kirchlichen Verwaltungsbezirk (Okolija) Burgas. Vom Bischofsamt in Sosopol zeugt auch das noch existierende Titularbistum Sozopolis in Haemimonto der römisch-katholischen Kirche. Situation seit dem 20. Jahrhundert und Wallfahrtsstätten Nach den Zerstörungen von 1629 wurden in den nächsten Jahrhunderten einige der zerstörten Kirchen allmählich wieder aufgebaut. Als Beispiel dient die dreischiffige Kirche Sweta Bogorodiza („Hl. Mutter Gottes“) aus dem 15. Jahrhundert. Der Großteil der über 20 Kapellen und vier Kirchen entstand erst im 18. und 19. Jahrhundert, als die Regelungen für den Neubau von christlichen Gotteshäusern im Osmanischen Reich gelockert wurden. 1888 wurde mit der Kirche der Hl. Brüder Kiril und Method die erste bulgarisch-orthodoxe Kirche in Sosopol eingeweiht. 2010 wurde bei Ausgrabungen unter Leitung von Kasimir Popkonstantinow auf der Insel Sweti Iwan im Kirchenaltar des Klosters Johannes des Täufers ein Reliquiar mit der Inschrift Johannes der Täufer gefunden. Die Urne enthielt einen Zahn, Teile eines Schädels, Rippen- und Armknochen sowie Teile eines Hand- und eines Kieferknochens. Nach ersten Einschätzungen bulgarischer Archäologen wurde das Reliquiar im 4. Jahrhundert n. Chr., als die Kirche erbaut wurde, über Konstantinopel nach Sosopol gebracht. Naturwissenschaftler untersuchten die Funde und stellten 2012 aufgrund einer DNA-Analyse fest, dass alle Knochen zu einem Mann gehören, der im frühen ersten Jahrhundert lebte und aus dem Nahen Osten stammte. Die Reliquien werden seit Anfang 2012 in der Kirche Hl. Brüder Kiril und Method aufbewahrt. In der Kirche Georgs des Siegreichen werden Teile des Kreuzes Christi und Reliquien des Apostels Andreas aufbewahrt, der nach Berichten der Kirchenväter als Erster das Christentum in der Region verkündete. Während die Ersteren ein Geschenk des ökumenischen Patriarchen Bartholomäus I. waren, stammen die Zweiteren aus einem Fund im Sweti Joan Prodrom Kloster. Archäologie Die Altstadt von Sosopol und das unmittelbare Umland sind seit dem späten 19. Jahrhundert Gegenstand archäologischer Untersuchungen. Die ersten Grabungen fanden jedoch erst 1904 auf der Insel Sweti Kirik statt und wurden von dem französischen Konsul in Plowdiw Degrand geleitet. Die Ergebnisse dieser Ausgrabungen wurden nie veröffentlicht. Die ausgegrabenen Objekte wurden anschließend nach Frankreich gebracht und befinden sich im Besitz des Pariser Louvre, darunter schwarzfigurige ionische Vasen aus der Zeit des 17.–19. Jahrhunderts v. Chr. und ein vergoldeter Lorbeerkranz. Über sporadische Funde in den folgenden Jahrzehnten berichten Karel Škorpil und Bogdan Filow. Erste bulgarische Ausgrabungen fanden 1924 unmittelbar vor dem Bau der Seemannsschule auf der Insel Sweti Kirik statt und wurden vom Wassil Milkow geleitet. In den 1970er Jahren wurden die umliegenden Festungen und Dolmen archäologisch untersucht. In den 1980er und 1990er Jahren wurde vor allem die antike Nekropole in der Gegend von Charmanite von Archäologen unter der Leitung von Krastina Panajotowa erforscht. Anfang der 1990er Jahre wurde die mittelalterliche Metropolitenbasilika des Klosters Hl. Johannes in der Altstadt freigelegt und konserviert. An der Verbindung der Halbinsel Skamnij mit dem Festland wurden im Keller des Kulturhauses Reste einer einschiffigen Kirche (9,3 × 5,85 Meter) aus Bruchstein gefunden. Seit 2009 fanden Ausgrabungen an mehreren Stellen in der Altstadt und auf den Inseln Sweti Kirik und Sweti Iwan statt. Diese führten zur Freilegung und Restaurierung der östlichen und südlichen Festungsmauern und des südlichen Stadttors sowie zur Entdeckung einer mittelalterlichen Zollstation, mehrerer antiker Töpfereien und einer Kupferhütte. Bei Ausgrabungen auf der Insel Sweti Kirik wurden eine archaische griechische Siedlung, die dort bereits vor dem Bau des Temenos (7.–6. Jahrhundert v. Chr.) existierte, und ein Tempel-Komplex freigelegt, der über mehrere Jahrhunderte genutzt wurde. Der Komplex bestand aus einem spätarchaischen Tempel und Altar (spätes 6.  – Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr.) – möglicherweise der berühmte Tempel des Apollo. Außerdem gehörte zum Komplex ein weiterer ovaler Altar, ein Tempel aus hellenistischer Zeit (4. Jahrhundert v. Chr.), eine antike griechische Tholos, drei altgriechische Opfergruben (sogenannte Bothroi), eine frühbyzantinische Basilika aus dem 4. Jahrhundert mit einem Baptisterium und eine Nekropole (5.–7. Jahrhundert). In der Siedlung wurde ebenfalls eine antike griechische Kupferhütte entdeckt. Anfang 2011 lokalisierte Panajotowa das Kloster Hl. Apostel samt seiner Kirche am äußersten Ende des Kaps Skamnij, nahe der Stadtgalerie. Im Winter 2011/12 entdeckte ein von den Archäologen Zonja Draschewa und Dimitar Nedew geleitetes Team neben dem Südtor das mittelalterliche Zollamt und die mittelalterliche, einschiffige Nikolaus-Kirche mit einer sich anschließenden christlichen Nekropole mit über 450 Gräbern. Weiter wurden Ringe und mehrere offizielle Stempel, darunter einer der Kaiserin Theodora III., gefunden. Die Ausgrabungen wurden ab Anfang 2012 von Krastina Panajotowa koordiniert und fanden mit Beteiligung der Universität Aix-Marseille statt. Im Mai konnten französische Archäologen in der Gegend Misari eine antike Villa rustica freilegen, die hauptsächlich zur Weinproduktion genutzt wurde. Anfang Juni wurden neben der mittelalterlichen Nikolaus-Kirche unter den 700 christlichen Gräbern zwei sogenannten „Vampir-Gräber“ gefunden. Dabei handelt es sich um eine Frau und einen Mann, die vor 700 Jahren bestattet wurden und mit einem Eisenstab in Bauch und Brust gepfählt wurden, um ihre Auferstehung als Untote zu verhindern. Boschidar Dimitrow vermutet, dass es sich bei den Toten um den ehemaligen Piraten und Statthalter von Sosopolis namens Kriwitsch und seine Frau handelt. Die Skelette sind im Nationalen Historischen Museum in Sofia ausgestellt. Bevölkerung Bevölkerungsstruktur Nach der ersten Beschreibung der Bevölkerung Sosopols vom Claude-Charles de Peyssonnel aus dem 18. Jahrhundert, wurde die Stadt damals von osmanischen Muslimen und einigen Griechen bewohnt. Wenzel Edler von Brognard (1786) berichtete zur gleichen Zeit, dass es in der Stadt 300 Haushalte gab, was in etwa 1500 Einwohnern entsprach, und der Großteil der Bevölkerung Griechen waren. Während des Russisch-türkischen Krieges von 1828/29 hatte die Stadt laut A. O. Duhamel 1354 Einwohner und 315 Haushalte. Ein Großteil der Bevölkerung verließ die Stadt mit dem Ende des Krieges und ließ sich in Russland nieder. Ferner teilte der griechische Konsul in Warna Anfang des 19. Jahrhunderts mit, dass Sosopol 3000 Einwohner habe und ein Drittel von ihnen Muslime seien. Der französische Reisende Guillaume Lejean gab 1861 wiederum an, dass Sosopol von Bulgaren bewohnt wurde. Konkretere Daten gibt es erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts mit den in Bulgarien durchgeführten Volkszählungen. So lebten nach der Volkszählung von 1893 in der Stadt 2777 Griechen und 171 Bulgaren. Bei der Volkszählung von 1900 wurden zusätzlich Erhebungen zur Muttersprache vorgenommen, danach gab es 3073 Griechen, 86 Karakatschanen und 238 Bulgaren. Nach den antigriechischen Pogromen 1906 wanderte die erste große Welle von 1045 Griechen aus Sosopol ins griechische Thessalien aus. Nach dem Balkankrieg von 1912/13 ließen sich bulgarische Flüchtlinge aus den Regionen von Komotini und Lozengrad im heutigen Norden Griechenlands und der Türkei in Sosopol nieder. Nach der Russischen Revolution von Februar 1917 zogen mehr als 160 russische Familien nach Sosopol, deren Nachfahren noch heute in der Stadt leben. Laut der Volkszählung von 1920 lebten in der Stadt 4420 Einwohner, mit 2319 waren davon mehr als die Hälfte Griechen oder Karakatschanen. Der Vertrag von Neuilly-sur-Seine enthielt Festlegungen zu einem Bevölkerungsaustausch zwischen Bulgarien und Griechenland, wonach fast die gesamte griechische Bevölkerung Sosopol nach dem Ende des Ersten Weltkrieges verlassen musste. An ihrer Stelle wurden Bulgaren aus den thrakischen und makedonischen Gebieten Griechenlands angesiedelt. Die erste Gruppe Griechen verließ Sosopol am 28. August 1925 in Richtung Thessaloniki. Die zweite große Gruppe wanderte fast zwei Monate später aus, so dass sich die Anzahl der in der Stadt lebenden Griechen innerhalb von sechs Monaten halbierte. Anfang 1926 lebten in der Stadt nur noch 1277 Griechen, aber mit 2842 Personen fast doppelt so viele Bulgaren. Die restliche griechische Bevölkerung wanderte in kleineren Gruppen in den nächsten Jahren aus, womit die griechische Besiedlung der Stadt endete. Im Frühjahr 2011 erfolgte die bisher letzte Volkszählung, welche gleichzeitig die erste nach der Aufnahme Bulgariens in die Europäische Union war. Da sie EU-Vorgaben unterlag, gab es die Möglichkeit Fragen nach ethnischer und religiöser Zugehörigkeit sowie nach der Muttersprache nicht zu beantworten. Nur 3637 Bürger Sosopols beantworteten die Frage nach der ethnischen Zugehörigkeit, von ihnen bezeichneten sich 3566 als Bulgaren, 18 als Türken und 44 gaben eine weitere ethnische Zugehörigkeit an. Das Verhältnis von Frau und Mann ist wie in der gesamten Gemeinde ausgeglichen. So waren von den 4285 Ende 2011 in Sosopol lebende Einwohner 2101 Männer und 2184 Frauen. Da in Bulgarien statistische Ämter detaillierte Daten zur Demographie auf Gemeinde- und nicht Ortsebene veröffentlichen, finden sich im Artikel über die Gemeinde Sosopol nähere Informationen dazu. Einwohnerentwicklung Die wechselnden Einwohnerzahlen resultieren teilweise aus dem jeweiligen Gebietsstand. Die Zahlen stammen von: Volkszählungen (¹), Schätzungen (²) oder amtlichen Fortschreibungen der Statistischen Ämter (³). Persönlichkeiten Seit der Antike sind Namen von Persönlichkeiten, die in Verbindung mit der Stadt stehen, bekannt, darunter der Philosoph Diogenes von Apollonia. Ab der Spätantike sind die Namen von mehreren Bischöfen und weiteren Geistlichen überliefert. Unter den Kirchenmännern, die in Sosopol geboren wurden, sind die Patriarchen Ioannes XII. Kosmas und Neilos Kerameos bekannt. Unter den Intellektuellen aus neuerer Zeit sind der Maler Giorgios Gounaropoulos (1889–1977), der Politiker Swetoslaw Schiwarow (* 1944) und der Historiker, Politiker und Minister Boschidar Dimitrow (1945–2018) hervorzuheben. Politik und Verwaltung Bürgermeister seit 2007 Die Kommunalwahl von 2007 wurde von Panajot Rejsi gewonnen. Er erhielt im zweiten Wahlgang 51, 07 % der Stimmen (4415 Stimmen), damals noch als Kandidat der Koalition Far, der unter anderem die Sajuz na swobodnite demokrati („Union Freier Demokraten“) angehörte. Bei der Kommunalwahl von 2011 wurde der inzwischen zur Partei GERB übergetretene Rejsi im ersten Wahlgang von 58, 27 % der Wähler (4575 Stimmen) erneut zum Bürgermeister gewählt. Stadtrat Der Stadtrat von Sosopol besteht aus dem Bürgermeister und der von der Gemeindeordnung vorgeschriebenen Anzahl von 20 Stadtratsmitgliedern. Alle vier Jahre wird der Stadtrat neu gewählt, die nächste Wahl ist 2015. Die Sitzverteilung des Stadtrats stellt sich seit den letzten Kommunalwahlen am 23. Oktober 2011, mit einer Wahlbeteiligung von 71, 16 %, wie in der Tabelle zu sehen, dar. Gemeindegliederung Der Stadtrat fungiert gleichzeitig als Gemeinderat und ist für die Kontrolle aller Bürgermeister der Gemeindeortschaften zuständig. Zur Gemeinde Sosopol (bulg. Община Созопол/Obschtina Sosopol) gehören außerdem noch die Stadt Tschernomorez und folgende Dörfer: Stadtwappen Das Stadtwappen von Sosopol zeigt einen Anker. Der Anker war bereits auf den Münzen des antiken Apollonia als das Symbol der Stadt und als Zeichen für die Bedeutung ihres Seehandels abgebildet worden. Während er jedoch auf den Münzen kopfüber mit der Spitze nach oben steht, zeigt er im Stadtwappen mit der Spitze nach unten. Wirtschaft und Infrastruktur Tourismus Die geographische Lage mit drei vorgelagerten Inseln, das Schwarze Meer, die antike und mittelalterliche Geschichte ziehen nicht nur Besucher aus den Balkanländern, sondern aus ganz Europa an. Der Tourismus, vor allem der Sommertourismus, ist die Haupteinnahmequelle für Sosopol. Die Stadt, ebenso wie die Küstenorte in der Gemeinde, gehört zu den Haupturlaubsorten für ausländische und inländische Touristen. Trotzdem wurden keine großen Hotelkomplexe, wie beispielsweise in Nessebar und Sonnenstrand, gebaut. Die meisten Hotels in der Stadt sind kleine Familienunternehmen. Der religiöse Tourismus wird zunehmend gefördert. Die Hotelbetten in der ganzen Gemeinde werden auf 40 bis 80.000 geschätzt. Sosopol wird in den Sommermonaten von mehr als 200.000 Touristen besucht. Die Kleinstadt ist innerhalb Bulgariens ein beliebter Tagungsort für Fachkonferenzen und Seminare. In unmittelbarer Nähe sind die Campingplätze Gradina (deutsch: Garten), Slatna ribka (deutsch: Goldfischlein), Kawazite , Smokinja (deutsch: Feige) eingerichtet. Die ersten beiden liegen in der Sosopolbucht und teilen sich einen mehrere Kilometer langen Strand, ebenso wie die letzten beiden, die in der Kawazi-Bucht liegen. Rund 6 km südlich von Sosopol, an der Grenze zum Naturschutzgebiet Alepu, befindet sich das 1986 von der österreichischen Rogner Bau und Touristik GmbH errichtete Tourismusresort Djuni. Industrie und Landwirtschaft Die verarbeitende Industrie ist durch die Lebensmittelherstellung (hauptsächlich Fischverarbeitung), Möbelproduktion und andere Unternehmen der holzverarbeitenden Industrie in der Stadt vertreten. Der Fischfang erfolgte in früheren Jahren nicht ganzjährig, sondern nur im Frühjahr und Herbst. Die Fischer von Sosopol gingen dabei in speziellen Fischerbooten aus Eichenholz (bulgarisch / Alamana) dem gewerblichen Fischfang mit Netzen nach. Das Boot wurde von 8 Männern gerudert und hatte einen kleinen zusätzlichen Mast im Bugbereich. Mit dem Kapitän zusammen hatte es insgesamt 10 Mann Besatzung. Solche typischen Boote wurden noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts verwendet. Neue Arbeitsmöglichkeiten für die Fischer von Sosopol entstanden 1948, als die Fischfabrik Slawjanka als Filiale des Fischkombinates Burgas in Sosopol gebaut wurde. In der kommunistischen Ära wurde der industrielle Fischfang nicht mehr nur mit Holzbooten und Reusen betrieben, sondern mit modernen Schiffen, was den ganzjährigen Fischfang ermöglichte. Seit Ende der 1980er Jahre gilt jedoch das Schwarze Meer als stark überfischt. Bei Slawjanka erfolgte nicht nur die Verarbeitung und Konservierung von Fisch, sondern auch von Delfinfleisch, bis in den 1960er Jahren der Delfinfang verboten wurde. In den Jahren nach dem Fall des Kommunismus 1989 sank die Menge gefangener Fische, was sich negativ auf die verarbeitende Industrie auswirkte. Trotzdem gibt es in Sosopol die Fischverarbeitungsfabrik des Burgasser Unternehmens Atlantic Group und eine Verarbeitungsfabrik der Firma Rubex für die Meeresschnecke Rapana venosa (Stand 2012). Das Fleisch dieser Schneckenart wird seit den 1990er Jahren nach Japan exportiert, wo es als Delikatesse gilt, und seit 2001 in bulgarischen Restaurants als „Rapan“ angeboten. Weitere größere Betriebe auf diesem Wirtschaftssektor sind die Pacific Star AG und Delta Industry GmbH. Die kleine Küstenebene, die sich unmittelbar nördlich, zwischen Sosopol und Tschernomorez sowie zwischen dem Schwarzen Meer und dem Medni rid, entlang der Fernstraße Sosopol-Burgas befindet, wird landwirtschaftlich genutzt. Die Erzeugnisse werden auf dem Bauernmarkt, zwischen der Alt- und Neustadt in der Nähe des Busbahnhofs, sowie in kleineren Geschäften angeboten. Verkehr Sosopol hat keinen Anschluss an das bulgarische Schienennetz, der nächstgelegene Bahnhof befindet sich in Burgas. Weiter ist die Anbindung an das nationale Straßennetz schlecht. Die Nationalstraße 2. Ordnung II/99 verbindet Sosopol mit Burgas im Norden und mit den anderen Küstenstädten im Süden. Die Strecke Burgas-Sosopol ist vierspurig. Der Hafen Sosopol nördlich der Altstadt in der Sosopol-Bucht hat überwiegend regionale Bedeutung. Er verfügt über sieben Anlegeplätze sowie einen Grenzkontrollpunkt und wird hauptsächlich für Touristenfahrten und den Warentransport genutzt. Daneben existieren in Sosopol ein Fischereihafen und ein Anfang der 2000er Jahre gebauter Yachthafen. Der öffentliche Personennahverkehr zu den anderen Orten der Gemeinde sowie nach Burgas und Sofia wird durch Busse und Kleinbusse (Marschrutki) vom Busbahnhof Sosopol aus abgewickelt. Der Personenverkehr wird sowohl vom Verkehrsbetrieb der Stadt, Sozopolbus, als auch vom Burgasbus betrieben. Der Busbahnhof befindet sich gegenüber dem Meeresgarten, zwischen der Altstadt und der Neustadt. Die Busse nach Burgas verkehren halbstündig. Vereinzelt werden Fahrten nach Primorsko, Zarewo und in den Sommermonaten nach Sofia und Plowdiw angeboten. Die in den 1970er und 1980er Jahren regelmäßig zwischen Sosopol, Burgas, Nessebar, Warna und Istanbul verkehrende Schnellbootfähre, das Tragflächenboot sowjetischer Bauart „Raketa“, wurde Anfang der 1990er – als nach der Wende in Bulgarien die Wirtschaft und der Tourismus darniederlag – aus finanziellen Gründen eingestellt. 2012 wurde der Verkehr mit zwei Tragflügelbooten, die täglich zwischen Sosopol, Nessebar und Warna verkehren, wieder aufgenommen. Die Bootsfähren und kleinere Wassertaxis, die zwischen den Inseln und Stadt verkehren, legen im alten Hafen, in der Nähe des Archäologischen Museums, an. Kommunale Betriebe Für die Wasserversorgung von Sosopol wird hauptsächlich das Frischwasserversorgungssystem des Jasna-Poljana-Stausees genutzt und durch lokale Quellen ergänzt. Durch Wasserleitungen aus Stahlbeton wird das Wasser zu einer Wasseraufbereitungsanlage mit einer Kapazität von 2500 Litern pro Sekunde geleitet. Von der Anlage wird das Wasser in zwei nach Norden beziehungsweise Süden führende Versorgungsleitungen gepumpt. Sosopol ist an die nördliche Wasserleitung, welche die Stadt Burgas versorgt, angeschlossen. Für die Wasserversorgung und -Aufbereitung von Sosopol ist die kommunale Wodosnabdjawane i kanalisazija EOOD-Sosopol zuständig. Alle Haushalte sind an das Kanalisationssystem angeschlossen, jedoch verfügt Sosopol über keine Kläranlage (Stand Mai 2012). Die Abwässer werden daher ungeklärt über Tiefseeleitungen ins Schwarze Meer entsorgt. Anfang 2012 wurde ein Projekt zum Bau einer Kläranlage verabschiedet, das Teil des Abwassersystems „Sosopol-Tschernomorez-Rawadinowo“ sein wird und die Ortschaften Sosopol, Tschernomorez, Rawadinowo und die Kurorte Arkutino, Camping Slatna ridka, Camping Kawazi, Camping Smokinja und Camping Wesselie umfassen soll. Der Bau des Systems begann im Frühjahr 2012, jener der Kläranlage soll im Herbst 2012 beginnen. Seit 2008 wird der Abfall in der Mülldeponie beim Gemeindedorf Rawadinowo entsorgt. Die Mülldeponie, in der zwei lokale Kläranlagen – eine für die biologische Behandlung des verschmutzten Abwassers und eine zur Reinigung des entstehenden Biogases – in Betrieb sind, wurde von der deutschen Walter-Heilit Verkehrswegebau GmbH gebaut. Vor ihrer Fertigstellung wurde für den Abfall die Mülldeponie in Bratowo bei Burgas genutzt. Künftig soll die Deponie die Reste des Klärwerks verarbeiten oder entsorgen. Schulen und Kulturstätten Die erste neuzeitliche Schule wurde 1830 im heutigen Gemeindedorf Rossen eröffnet. In ihr fand der Unterricht nach der sogenannten Lancaster-Methode statt. 1857 wurde in Sosopol eine zweistöckige griechische Schule eröffnet, die nach dem griechischen Schulsystem aufgebaut war. Die erste bulgarische Schule wurde in Sosopol 1883 eröffnet. In Sosopol funktionieren zwei Kindertagesstätten und eine Grundschule, die Hl. Brüder Kiril und Method-Schule. Weiterbildende Schulen besuchen die Kinder in Burgas (→ Bildung und Forschung in Burgas). Ferner gibt es in Sosopol ein Kulturhaus; die Gemeinde insgesamt hat elf Kulturhäuser. In der Tschitalischte Otez Paisij sind künstlerische und weiterbildende Gruppen tätig: je eine Tanzgruppe für Kinder und Frauen, eine Theatergruppe, eine Ballettgruppe, eine Künstlergruppe, eine Schlagermusikgruppe, eine Folkloregruppe und ein Sprachverein. Außerdem gibt es in Sosopol den 1992 gegründeten bulgarisch-griechischen Kulturverein Apollonia. Er hatte 2011 rund 320 Mitglieder und hat sich die Förderung und den Erhalt der Beziehungen mit der ehemaligen griechischen Stadtbevölkerung und ihrer Nachfahren sowie ihrer Traditionen in Sosopol zum Ziel gesetzt. Zu diesem Zweck organisiert der Verein in den beiden Ländern Vorträge, Ausstellungen, Konzerte und weitere Veranstaltungen. Der Verein unterhält weiter eine Jugendorganisation. Gesundheitswesen Obwohl die Stadt Sosopol die Gesundheitsversorgung für die ganze Gemeinde Sosopol sicherstellen muss, existiert in der Stadt nur eine Grund- und Notversorgung. Zur stationären Behandlung und zur fachärztlichen Weiterbehandlung müssen die Patienten in die nahe gelegene Provinzhauptstadt Burgas fahren (→ Gesundheitswesen in Burgas). Das Erste Städtische Krankenhaus von Burgas unterhält ein Medizinisches Notfallzentrum in Sosopol. Darüber hinaus befinden sich in der Hafenstadt zwei Apotheken und das medizinische Zentrum Sv. Zosim mit 15 Arztpraxen, darunter sechs Zahnarztpraxen. Museen und Galerien Das Archäologische Museum wird in der Liste der 100 nationalen touristischen Objekte Bulgariens als Nr. 8 geführt. Das Museum beherbergt ein Zentrum für Unterwasser-Archäologie mit dem die Geschichte der Stadt erforscht wird. Die Sammlung des Museums umfasst zahlreiche Exponate aus der Zeit vom 5. Jahrtausend v. Chr. bis zum 17. Jahrhundert n. Chr., darunter griechische Vasen, 120 intakte Amphoren und Exponate der frühen Metallurgie, von Handel und Schifffahrt sowie Erzeugnisse des antiken und mittelalterlichen Handwerks. Ein weiterer Schwerpunkt der Sammlung ist die christliche Kunst des 17.–19. Jahrhunderts (Ikonen, geschnitzte Ikonostase). Das Museum befindet sich in der Chan-Krum-Straße 2. Das Ethnographische Museum zeigt gemeinsam mit dem benachbarten Trakien-Han Alltagsgegenstände, Schmuck, Teppiche und Kunsthandwerk aus Sosopol und dem Strandscha-Gebirge, die den Besuchern einen Eindruck vom Leben der Bulgaren im 19. Jahrhundert vermitteln. Eine Besonderheit ist die Ausstellung der Trachten der ethnischen Gruppen des Strandscha-Gebirges der Rupzi, Tronken und Sagorzi. Es befindet sich in der Hl. Kiril und Metodij Str. 34 in der Altstadt in einem typischen Schwarzmeerhaus. Die städtische Kunstgalerie wurde 1985 eingerichtet, als die Zahl der sich in Sosopol niederlassenden Maler anstieg. Offiziell wurde sie jedoch erst 1991 eröffnet. Zu den Sammlungen der Kunstgalerie gehören mehrere hundert maritime Werke bulgarischer und internationaler Maler sowie Bilder lokaler Maler wie Aleksandar Mutafow, Georgi Baew, Jani Chrisopoulos und Petar Katerkow. Die Galerie wird oft für Veranstaltungen und Konzerte, vor allem während des Apollonia Art Festivals, genutzt. Sie befindet sich im 1857 errichteten Gebäude der ehemaligen griechischen Schule Sosopols am äußersten Rand des Kap Skamnij, in der Hl. Kiril und Metodij Str. 78. Das Gebäude ist ein Kulturdenkmal von nationaler Bedeutung. Das Atelier des Malers Aleksandar Mutafow in der Lasuren Brjag Str., der als der Begründer der bulgarischen Maritimmalerei gilt, öffnete 1976 für Besucher. 1981 wurde das 1937 erbaute Gebäude zum Hausmuseum erklärt. Dort befinden sich über 60 seiner Werke. Das historische Museum Südliche Festungsmauer und Turm ist das jüngste Museum der Stadt und entstand im Zusammenhang mit der Restaurierung der Wehranlagen an der südlichen Seite der Altstadt. Es befindet sich in einem dreistöckigen Wehrturm am Ende der Milet Straße 50. Während das oberste Stockwerk für die Abwehr militärischer Ziele diente, wurde das mittlere Stockwerk bereits im 5. Jahrhundert als Getreidelager genutzt. Im untersten Stockwerk wurden nur wenige Meter vom Meer entfernt eine Kapelle und ein über 2400 Jahre alter Süßwasserbrunnen freigelegt, der als Tempel der drei Nymphen diente. Ferner befinden sich im Museum Gegenstände, die während der Restaurierungsarbeiten gefunden wurden, darunter Teile der antiken Stadtkanalisation. Regelmäßige Veranstaltungen Die Ansiedlung zahlreicher Künstler in den 1980er Jahren führte in der folge zu jährlich stattfindenden nationalen und internationalen Kulturveranstaltungen. Die über die Stadt hinaus bekannten Veranstaltungen sind das internationale Treffen der englischsprachigen Schriftsteller Sozopol Fiction Seminar im Zeitraum von Mai bis Anfang Juni und das kleine Festival Sosopolis, das an die lokale Bevölkerung gerichtet ist. Ein Überbleibsel aus der Zeit der Hippies der 1970er Jahre ist das July-Morning-Fest. Die Besucher reisen in der Nacht vom 30. Juni an die Küste des Schwarzen Meeres, um den Sonnenaufgang am Morgen des 1. Juli zu erleben. In den beiden Nächten vor Beginn des Monats Juli, jenen des 29. und 30. Juni, findet das Sozopol Fest – July Morning statt. Am 17. Juli wird das Stadtfest gefeiert und neben einer Vielzahl von Veranstaltungen die Patronin und Beschützerin der Stadt, die Heilige Mina, geehrt. Seit 2005 wird die Internationale Sommerakademie der Künste jeweils in den letzten beiden Juliwochen für junge Künstler und Musiker organisiert. In der zweiten Augustwoche wird in den Gewässern um Sosopol die Cor Caroli Regatta ausgetragen. Vom 1. bis 10. September findet eines der international bekanntesten Kunst- und Filmfestivals Bulgariens statt, das „Apollonia Art Festival“, in das ein Jazzfestival integriert ist. Als Veranstaltungsplätze dienen die Freilichtbühne (neben dem Archäologischen Museum), die Museen, die Galerien, das Kulturhaus, öffentliche Plätze, das Stadion sowie der Strand. Essen Die regionale Küche der Stadt Sosopol bietet vor allem Fischgerichte. Sie ist von den verschiedenen Bevölkerungsgruppen beeinflusst worden, die sich in der Stadt vermischten. Zu den typischen Vorspeisen (Meze) gehören der Tschiros (eine Art getrockneter Fisch) mit Olivenöl und Dill, die panierten Meeresschnecken Rapana venosa sowie das Knoblauchpüree Skordalia. Sosopol ist außerdem für seine Grundeln, Pelamiden und Stockfische mit Skordalia sowie für seine Feigenmarmelade und die Damgi, ein Gebäck aus süßem Teig, bekannt. Sport und Sportstätten In Sosopol existieren ein Fußballklub (FC Sosopol), ein Ruderklub (RK Sosopol), ein Segelklub (SK Sosopol) und ein Fitness- und Bodybuilding-Klub (SK Cyborg). Der FC Sosopol spielt in der Saison 2014/15 in der zweiten bulgarischen Liga und trägt seine Spiele im gleichnamigen Stadion aus. Das Stadion, mit einer Leichtathletiklaufbahn aus Kunststoff ausgestattet, ist Teil des Nationalen Sportstützpunkts Spartak. Er befindet sich im Viertel Charmanite und dient vor allem zur Vorbereitung bulgarischer Nationalmannschaften, Sportler und Klubs auf internationale Wettkämpfe und Olympische Spiele. Zu ihm gehören noch eine Multifunktionshalle, vier Tennisspielplätze, je zwei Volleyball- und Basketballplätze sowie ein Ruderkanal am Fluss Ropotamo. Die Sportstätten wurden zwischen 2000 und 2002 und die Spielfläche des Stadions im Jahr 2011 grunderneuert. Zurzeit (Juli 2012) wird das Stadion um eine Tribüne mit 2500 Sitzen und drei Trainingsplätze erweitert. Sosopol war einer der Austragungsorte der 2015 in Bulgarien veranstalteten U-17-Fußball-Europameisterschaft. Besondere Bauwerke Sosopoler Altstadt und die Inseln Die antike und die mittelalterliche Stadt lagen wie die heutige Altstadt von Sosopol auf der Halbinsel Skamnij. Die Altstadt ist geprägt durch enge, steile Gassen mit Kopfsteinpflaster und den charakteristischen Häusern im Stil der Bulgarischen Wiedergeburt. Mit dem Beschluss Nr. 320 der bulgarischen Regierung vom 7. September 1974 wurde die Altstadt zum architektonischen und historischen Reservat „Altes Sosopol“ erklärt. Dieses Freilichtmuseum umfasst mehr als 180 Wohnhäuser, die im 18. und 19. Jahrhundert errichtet wurden und stilistisch zum Schwarzmeertypus gehören, das Ethnographische Museum, die Kunstgalerie, mehrere Kirchen und Kapellen sowie die Reste der ehemaligen Stadtklöster und die Stadtmauer. Die zweistöckigen Häuser mit Walmdächern haben einen quadratischen Grundriss und einige von ihnen weisen Elemente des Strandscha- und des Balkan-Hauses auf, die ein steinernes Fundament besitzen, auf dem ein Fachwerkbau errichtet wurde. Die Außenwände sind mit Holzbrettern verschalt und bieten Schutz vor der salzigen Meeresbrise. Die Zwischenräume wurden mit gehauenen Steinen und Ton gefüllt. Die Dächer sind in Mönch-Nonnenziegeldeckung gedeckt. Zu den Baudenkmalen zählen das Haus von Marieta Stefanowa, das auf den Resten der mittelalterlichen Stadtmauer gebaut wurde; das Kurdilid-Haus, in dem das Ethnographische Museum untergebracht ist; das Haus der Großmutter Kukulisa Hadschinikolowa; das Kurtidi-Haus, bekannt als das „Thrakische Gasthaus“ mit geschnitzten Täfelungen in einem der Zimmer im zweiten Stock; das Haus von Lina Psarianowa; das Haus der Kreanolu und das Haus von Dimitri Laskaridis. Vor der Altstadt liegen die drei kleinen Inseln: Sweti Iwan, Sweti Petar und Sweti Kirik. Die ersten zwei wurden 2001 zu einem archäologischen Reservat erklärt. Auf der Insel Sweti Iwan befinden sich der 1883 errichteter und 1973 elektrifizierte Leuchtturm von Sosopol sowie die Reste des Klosters Johannes des Täufers. Ansonsten ist sie, wie die Insel Sweti Petar, unbewohnt. Die Insel Sweti Kirik wurde 2007 von der bulgarischen Marine der Stadt übergeben und ebenfalls zu einem archäologisch-historischen Reservat erklärt. Festungen und Wehranlagen Die antiken Wehranlagen von Apollonia wurden von den Römern zum Großteil zerstört, einige blieben jedoch erhalten. Andere, wie die Stadtmauer, wurden zu einem späteren Zeitpunkt wieder neu errichtet. So ließ der byzantinische Kaiser Anastasios I. die Stadtmauern um 511 errichten. Diese schützten die Stadt nicht nur zur Landseite hin, sondern umgaben sie auch von der Meeresseite. Die Befestigungsanlage, die an einigen Stellen bis zu fünf Meter hoch war, wurde in den folgenden Jahrhunderten immer wieder ausgebaut und erneuert. Die Mauerreste der erst 1623 in osmanischer Zeit zerstörten Wehranlagen sind die einzigen erhaltenen Reste des mittelalterlichen Sosopolis. Seit Ende der 1990er Jahre werden Teile davon, die an einigen Stellen bis zu über sieben Metern Höhe erhalten sind, rekonstruiert. Entlang des Kamms der Hügelkette Meden rid wurde in der Antike und Spätantike ein Festungsring mit den Wehranlagen Antheia- Akin- Krimna - Lobodowo kale - Malkoto kale - Burchama - Ranuli - Maslen nos (und anderen) errichtet und erweitert. Einige von ihnen wurden bis in das Spätmittelalter genutzt. Antheia und Akin war die nördlichste Festungen. Letztere befindet sich auf dem gleichnamigen Kap Akin, 1, 7 km nördlich von Tschernomorez. Noch in den 1970er Jahren waren bis zu 3 Meter hohe Festungsmauern erhalten. Die Festung befindet sich in einem militärischen Sperrgebiet und wurde noch nicht archäologisch untersucht. Die nächste Wehranlage befand sich auf dem 228, 5 m hohen Gipfel Großer Rossen und ist ebenfalls unerforscht. Auf dem Gipfel Bakarlak befand sich mit Krimna das Hauptbollwerk der Wehranlagen von Apollonia. Die Reste der Festung, welche bereits in der Antike die dortige thrakische Bergwerkssiedlung schützte, sind gut sichtbar. Diese Bergwerkssiedlung und die sich später anschließende Siedlung wurden zunächst vom thrakischen Stamm der Skirmiani bewohnt und später von Apollonia übernommen. In der Spätantike wurde die Befestigungsanlage vergrößert und nahm eine Fläche von 400 m² ein. Womöglich trafen 1328 dort der bulgarische Zar Michail III. Schischman und der byzantinische Kaiser Andronikos III. Palaiologos zusammen und bekräftigten den Frieden zwischen beiden Reichen. Im Festungsareal wurden bei archäologischen Untersuchungen mehrere Siedlungsanlagen sowie große Vorkommen von Schlacke aus der Antike und Spätantike gefunden. Die Siedlung, Festung und der Gipfel sind am leichtesten vom Westen vom Dorf Rossen aus erreichbar, von wo ein gekennzeichneter Wanderpfad – dorthin führt. Die östlichen Hänge sind steil abfallend und eignen sich zum Bergklettern. Eine weitere Anlage war die Festung Lobodowo kale. Diese befindet sich auf dem in diesem Abschnitt 313 m hohen Kamm der Hügelkette, rund 7 km südwestlich von Sosopol in den Ländereien des Dorfes Wesselie . Die ersten Befestigungsanlagen wurden von Thrakern errichtet und nehmen eine Fläche von 150 m² ein. Die Anlage diente wahrscheinlich dem Schutz einer nahen, nicht lokalisierten Siedlung. Die östlichen Abhänge um die Anlage sind von thrakischen Dolmen übersät. Die Festung ist am leichtesten von den Dörfern Wesselie und Rawadinowo erreichbar. Die Festung Malkoto kale befindet sich auf einem 285 m hohen Plateau auf dem gleichnamigen Gipfel und ist die am besten erforschte Verteidigungsanlage des Abwehrringes. Die archäologischen Untersuchungen fanden 1973 bis 1975 statt und stellten zwei Bauperioden fest. Die erste Anlage wurde im 8. Jahrhundert v. Chr. vom thrakischen Stamm der Skirmiani erbaut. Keramik, Öllampen, anthropomorphe und zoomorphe Skulpturen aus dieser Zeit zeugen von einer festen Besiedlung. Eine zweite Anlage wurde Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. erbaut, überstand die römische Invasion und wurde bis in die Spätantike im 6. Jahrhundert genutzt. Aus dieser Zeit stammen Bronze- und Kupferfunde sowie Münzen und Steinkugeln, wobei Letztere wahrscheinlich militärischen Zwecken dienten. Die Festung nimmt am Hauptkamm der Hügelkette eine Fläche von rund 4000 m² ein. Sie ist nur vom Süden aus über den schmalen Bergkamm erreichbar. Die Mauern wurden aus vor Ort gewonnenen Steinblöcken errichtet. Sie sind zwischen 1,6 und 1,9 Meter dick und folgen dem Hügelkamm, der mehrere Felsen einschließt. Südlich des befestigten Areals wurden einige große, und nördlich davon mehrere hundert thrakische Dolmen und weitere Grabstätten lokalisiert. Die Festung Burchama, die auf dem gleichnamigen, 264, 4 m hohen Gipfel liegt nördlich des Flusses Ropotamo und wurde noch nicht archäologisch erforscht. Bisher existieren dazu nur schriftliche Überlieferungen. Die südlichen Wehranlagen des Festungsrings befanden sich bei der Hafenstadt Ranuli an der Mündung des Ropotamo-Flusses und die Festung Maslen nos am gleichnamigen Kap. Zwischen beiden befindet sich der religiöse Komplex Beglik Tasch. Nekropolen Die bergige Region um Sosopol ist mit über 1500 thrakischen Dolmen, Nekropolen und kleineren Hügelgräbern übersät. Diese sind jedoch noch unerforscht, im Gegensatz zu den Nekropolen des antiken Apollonia, die seit dem 19. Jahrhundert archäologisch untersucht werden. Die bekanntesten Nekropolen innerhalb der Stadt wurden im Bereich des Meeres-Gartens , der zwischen der Altstadt und der Neustadt liegt, und in den Gegenden Charmanite, Budschaka und Kalfata lokalisiert und teilweise freigelegt. Neuere Ausgrabungen haben bedeutende Funde aus thrakischer Zeit (8. und 7. Jahrhundert v. Chr.) zu Tage gefördert. Sie sind reich an griechischer schwarz- und rotfiguriger Keramik, die einen frühen Einfluss der Griechen bezeugt. 2012 wurde im Bereich der Nekropolen auf der Halbinsel Budschaka ein Tongefäß mit über 250 Münzen von Apollonia aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. gefunden. Kirchengebäude Alle der einst über 30 mittelalterlichen Kirchengebäude wurden während der osmanischen Herrschaft zerstört. An ihrer Stelle entstanden kleinere Kapellen, aus denen sich die vier bestehenden Stadtkirchen entwickelten. Literatur Wassil Dojkow, Slawi Dimitrow, Dimitar Simeonow: Градовете на България. Verlag Ковачев, 2009. ISBN 978-954-8775-93-9 (Die Städte Bulgariens.), S. 161–162. Ralph F. Hoddinott: Bulgaria in Antiquity. An archaeological introduction. Ernest Benn Ltd., London, 1975, S. 33–41. Lambros Kamperidis: The Greek monasteries of Sozopolis. XIV – XVII centuries. Institute for Balkan Studies, Thessaloniki, 1993. Xanthippi Kotzageorgi (Hrsg.): Οι Έλληνες της Βουλγαρίας. Ένα ιστορικό τμήμα του περιφερειακού ελληνισμού. Thessaloniki, 1999, S. 117–397. (Die Griechen Bulgariens. Ein historischer Teil des regionalen Hellenismus.) Konstantinos D. Papaioannidis: Ιστορία της εν Πόντω Απολλωνίας – Σωζοπόλεως (από της ιδρύσεώς της μέχρι σήμερον). Thessaloniki, 1933. (Die Geschichte von Apollonia Pontica – Sozopolis (von seiner Gründung bis heute)). bulgarische Übersetzung: Konstantinos Papaioannidis: История на Аполония Понтийска – Созопол (от създаването и до днес). ФАБЕР, Sofia, 2003. ISBN 954-775-330-4 (Die Geschichte von Apollonia Pontica – Sozopol (von der Gründung bis heute)). Peter Soustal: Thrakien (Thrake, Rhodope und Haimimontos) (= Tabula Imperii Byzantini. Band 6). Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1991, ISBN 3-7001-1898-8. S. 454–455. Weblinks Sozopol (englisch) 3D-Panoramafotos Svetlana Doncheva: Sozopol. In: Foundation of the Hellenic World (Hrsg.): Encyclopaedia of the Hellenic World, Black Sea. (englisch) Einzelnachweise Ort in der Oblast Burgas Ionische Stadtgründung Antike griechische Stadt Archäologischer Fundplatz in Bulgarien Archäologischer Fundplatz in Europa Wikipedia:Artikel mit Video
521577
https://de.wikipedia.org/wiki/Schutzgruppe
Schutzgruppe
Eine Schutzgruppe ( – daher häufig als allgemeine Abkürzung in Formelschemata PG) ist in der Chemie ein Substituent, der während einer komplizierteren, mehrstufigen chemischen Synthese in ein Molekül eingeführt wird, um eine bestimmte funktionelle Gruppe vorübergehend zu schützen und so eine unerwünschte Reaktion an dieser Gruppe zu verhindern. Nach der Durchführung der gewünschten Reaktion an anderer Stelle des Moleküls wird die Schutzgruppe wieder abgespalten. Für viele funktionelle Gruppen sind mehrere mögliche Schutzgruppen bekannt, die sich in ihrer Stabilität und den Bedingungen für ihre Abspaltung unterscheiden. Bei der Synthese von speziellen Verbindungsklassen mit sich wiederholenden funktionellen Gruppen – in der Regel sind dies Biomoleküle wie Peptide, Oligosaccharide oder Nukleotide – haben sich Standardsätze an Schutzgruppen etabliert. Schutzgruppen sind heute ein wichtiges Werkzeug in der Synthese von komplexen Verbindungen geworden. Die Anforderungen an eine Schutzgruppe sind recht hoch. Dazu gehört, dass sie sich mit sehr guter Ausbeute und spezifisch an eine funktionelle Gruppe einführen lassen und ebenso unter milden Bedingungen wieder abzuspalten sein muss. Für beide Schritte sollten die Reaktionsbedingungen standardisierbar sein. Zudem muss die Schutzgruppe unter möglichst vielen Reaktionsbedingungen stabil sein. Nach Möglichkeit sollten die entstehenden Reaktionsprodukte leicht abtrennbar sein, und optimalerweise ist das Schutzgruppen-Reagenz auch noch preiswert. Je breiter der Erfahrungsschatz mit einer Schutzgruppe ist, umso besser ist die Vorhersagbarkeit der Reaktivität der Schutzgruppe. Geschichte Die Geschichte der Schutzgruppentechnik ist untrennbar verbunden mit der gezielten Verwendung verschiedener Ausgangsverbindungen für die Synthese eines Zielmoleküls. Die frühen Schutzgruppen beruhten in der Regel darauf, dass die Ausgangsverbindung so gewählt wurde, dass eine reaktive funktionelle Gruppe durch einen Rest blockiert und somit unreaktiv war. So wurden z. B. Anisole anstatt Phenole gewählt oder Ester anstelle von freien Hydroxygruppen. Erst mit der ab Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommenden gezielten Synthese von immer komplexer werdenden Verbindungen wurde die Schutzgruppentechnik wirklich bedeutsam. Etwa ab 1960 wurde begonnen, in die Chemie der Schutzgruppen erheblichen Forschungsaufwand zu investieren. Während dieser Zeit begannen Chemiker immer komplexere Naturstoffe zu synthetisieren. Hervorzuheben sind vor allem die damaligen Arbeiten der Nobelpreisträger Robert B. Woodward, Elias J. Corey und Albert Eschenmoser, die bei der Synthese von komplexen Naturstoffen Pionierarbeit geleistet haben. Heute gibt es eine Vielzahl von Schutzgruppen, die in Monographien bezüglich ihrer Eigenschaften zusammengefasst sind. Dabei gibt es neben etablierten Schutzgruppen sehr viele exotische Schutzgruppen, die nur für eine Synthese oder ein recht spezielles Gebiet entwickelt wurden. Anforderungen an eine Schutzgruppe Das Einfügen und Entfernen von Schutzgruppen stellen keine produktiven Reaktionen in einer Abfolge von Syntheseschritten dar, ihr Produkt kommt dem angestrebten Endprodukt der Synthese nicht näher. Deswegen werden an Schutzgruppenreaktionen oft hohe Anforderungen bezüglich Preis, Ausbeute und Entwicklungsaufwand für die Reaktion gestellt. Als Grundanforderungen für eine gute Schutzgruppe haben sich folgende Merkmale herausgebildet: Das Reagenz muss käuflich und preiswert oder leicht herstellbar sein Die Schutzgruppe muss einfach, spezifisch und in hohen Ausbeuten einführbar sein Sie muss stabil gegenüber einer möglichst großen Anzahl an Reaktionsbedingungen und Aufarbeitungs- und Reinigungsmethoden sein Sie muss spezifisch, hoch selektiv und in hohen Ausbeuten abspaltbar sein. Dabei sollten die Bedingungen standardisierbar sein. Sie darf kein neues Stereozentrum und auch kein diastereotopes Zentrum bilden Sie sollte einfach in NMR-Spektren erkennbar sein und möglichst wenig durch Signalüberlappung stören Einen sehr wichtigen Aspekt stellt die hohe Selektivität der Abspaltung dar, denn es müssen häufig unterschiedliche funktionelle Gruppen unabhängig voneinander geschützt und entschützt werden. Im Idealfall ist immer nur eine von vielen Schutzgruppen vom Abspaltungsprozess betroffen. Das Verhalten von Schutzgruppen in der Praxis lässt sich, besonders wenn mehrere verschiedene Schutzgruppen in einem Molekül verwendet werden, nicht immer anhand der Literatur korrekt vorhersagen. Daher muss in manchen Fällen trotz großem Erfahrungsschatz sowohl für das Einführen als auch für das Abspalten noch erhebliche Entwicklungsarbeit während einer Synthese geleistet werden. Orthogonalität von Schutzgruppen Orthogonalität von Schutzgruppen bedeutet, dass sich bei Verwendung mehrerer Schutzgruppen verschiedenen Typs jede Schutzgruppe einzeln und in einer beliebigen Reihenfolge aufgrund der verschiedenen Abspaltreagenzien abspalten lässt, ohne dass eine der anderen Schutzgruppen angegriffen wird. Im gezeigten Beispiel der geschützten Aminosäure Tyrosin kann der Benzylester hydrogenolytisch, die Fluorenylmethylenoxy-Gruppe (Fmoc) durch Basen (wie z. B. Piperidin) und der phenolische tert-Butylether mit Säuren (z. B. mit Trifluoressigsäure) gespalten werden. Ein weit verbreitetes Beispiel für diese Anwendung ist die Fmoc-Peptidsynthese, die sowohl in Lösung als auch auf fester Phase eine große Bedeutung erlangt hat. Die Schutzgruppen in der Festphasensynthese müssen bezüglich der Reaktionsbedingungen wie Reaktionszeit, Temperatur und Reagenzien so standardisiert sein, dass sie von einem Automaten durchgeführt werden und dabei Ausbeuten von weit über 99 % erreicht werden können, da sonst die Trennung des resultierenden Gemisches der Reaktionsprodukte praktisch unmöglich ist. Eine weitere wichtige Anwendung von orthogonalen Schutzgruppen ist die Kohlenhydrat-Chemie. Da Kohlenhydrate über Hydroxygruppen mit sehr ähnlicher Reaktivität verfügen, muss für eine gezielte synthetische Umsetzung der Schutz bzw. das Entschützen von einzelnen Hydroxygruppen möglich sein. Einen ähnlichen Fall stellt die Synthese von Nukleotiden dar. Hier hat man zum einen das Problem (wie bei der Peptidsynthese), dass es sich um vektorielle Moleküle handelt. Zum anderen hat man hier auch das Problem der Kohlenhydratchemie mit dem Zuckerrest der Ribose bei der Synthese von RNA-Molekülen. Aber auch in der Synthese von komplexen Naturstoffen oder Wirkstoffen mit vielen funktionellen Gruppen ist man auf die Orthogonalität der Schutzgruppen angewiesen. Labilität bzw. Abspaltung von Schutzgruppen Bei Schutzgruppen haben sich verschiedene Reaktionsbedingungen etabliert, die dem Orthogonalitäts-Prinzip entsprechen, unter denen Schutzgruppen abgespalten werden. Man kann grob zwischen folgenden Abspaltbedingungen unterscheiden: Säurelabile Schutzgruppen Basenlabile Schutzgruppen Fluoridlabile Schutzgruppen Enzymlabile Schutzgruppen Reduktionslabile Schutzgruppen Oxidationslabile Schutzgruppen Schutzgruppen die durch Schwermetallsalze oder deren Komplexe gespalten werden Photolabile Schutzgruppen Zwei-Stufen-Schutzgruppen Säurelabile Schutzgruppen lassen sich durch die Einwirkung von Säuren abspalten. Die Triebkraft ist hier häufig die Bildung eines verhältnismäßig stabilen Carbokations oder ein säurekatalysiertes Gleichgewicht, das auf der Seite der freien funktionellen Gruppe liegt. Beispiele für säurelabile Schutzgruppen sind die tert-Butylester, -ether und -carbamate, welche stabile Kationen bilden, und die Acetale, bei denen in Anwesenheit von Wasser das säurekatalysierte Gleichgewicht auf der Seite der entsprechenden Aldehyde oder Ketone liegt. Bei den basenlabilen Schutzgruppen kann man mechanistisch zwischen der basischen Hydrolyse und der baseninduzierten β-Eliminierung unterscheiden. Carbonsäureester (mit Ausnahme der tert-Butylester) werden von Hydroxidionen nukleophil angegriffen und so hydrolytisch gespalten. Amide hingegen werden selten so gespalten, da sie recht harsche Bedingungen benötigen. Eine Ausnahme stellt hier die Phthaloyl-Gruppe dar, da diese mit Hydrazin schon unter recht milden Bedingungen gespalten wird. Bei der β-Eliminierung läuft eine Reaktionskaskade ab: Zunächst wird ein Proton durch die Base abgespalten und ein Carbanion gebildet. Durch eine geeignete Abgangsgruppe wird nun die Schutzgruppe unter Bildung einer Vinylverbindung gespalten. Zum Letzteren Fall zählt vor allem die Fmoc-Gruppe. Fluorid-Ionen bilden mit Silicium eine sehr stabile Bindung. Daher werden die Silicium-Schutzgruppen praktisch ausnahmslos durch Fluorid-Ionen gespalten. Je nach Art des Gegenions bzw. des Abspaltreagenzes können jedoch auch verschiedene Silicium-Schutzgruppen in Abhängigkeit von der sterischen Hinderung des Silicium-Atoms selektiv gespalten werden. Der Vorteil von Fluorid-labilen Schutzgruppen ist, dass keine andere Schutzgruppe unter den Abspaltbedingungen angegriffen wird. Ester können häufig durch Enzyme wie Lipasen gespalten werden. Da Enzyme bei einem pH-Wert zwischen 5 und 9 und bei moderaten Temperaturen von etwa 30–40 °C arbeiten und zudem, was die Carbonsäure betrifft, noch sehr selektiv sind, ist diese Methode eine zwar selten benutzte, aber sehr attraktive Methode zur Schutzgruppenspaltung. Benzylgruppen können reduktiv durch katalytische Hydrierung gespalten werden. Zum Einsatz kommen Benzylgruppen als Ether, Ester, Urethane, Carbonate oder Acetale und werden zum Schutz von Alkoholen, Carbonsäuren, Aminen und Diolen eingesetzt. Nur wenige Schutzgruppen, die oxidativ entfernt werden können, sind gebräuchlich. Es handelt sich hier in der Regel um Methoxybenzylether. Sie können mit Cer(IV)-ammoniumnitrat (CAN) oder Dichlordicyanobenzochinon (DDQ) über ein Chinomethin gespalten werden. Die Doppelbindung eines Allylrestes kann durch Platingruppenelemente (wie Palladium, Iridium oder Platin) zur Vinylverbindung isomerisiert werden. Die so erhaltenen Enolether bei geschützten Alkoholen oder Enamine bei geschützten Aminen können leicht sauer hydrolysiert werden. Photolabile Schutzgruppen enthalten ein Chromophor, das durch Bestrahlung mit einer geeigneten Wellenlänge aktiviert und so abgespalten werden kann. Als Beispiel sei hier die o-Nitrobenzylgruppe (ONB) aufgeführt. Eine besondere Form von Schutzgruppen stellen die Zwei-Stufen-Schutzgruppen dar. Diese zeichnen sich durch eine hohe Stabilität aus, da die Schutzgruppe zunächst durch eine chemische Transformation in eine abspaltbare Gruppe umgewandelt werden muss. Diese Art an Schutzgruppen finden jedoch selten Anwendung, da hier ein zusätzlicher Aktivierungsschritt notwendig ist, was die Synthese um eine weitere Stufe verlängert. Funktionelle Gruppen Amine Für die Aminofunktion ist die bei weitem größte Vielfalt an Schutzgruppen verfügbar. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass Aminen in der Peptidsynthese eine besondere Wichtigkeit zukommt, aber auch an ihren Eigenschaften: Sie sind zum einen recht potente Nukleophile, aber auch verhältnismäßig starke Basen. Diese Eigenschaften führten dazu, dass immer neue Schutzgruppen für Amine entwickelt wurden. Viele Schutzgruppen für Amine basieren auf Carbamaten. Diese lassen sich leicht in Form von Carbonsäurechloriden einführen. Ihre Triebkraft bei der Spaltung beziehen sie durch die Bildung des sehr stabilen Kohlenstoffdioxid-Moleküls. Basierend auf unterschiedlichen Resten am Carbamat wurden verschiedene Spaltungsmöglichkeiten entwickelt. Die am häufigsten benutzten Carbamate sind die tert-Butyloxycarbonyl-, Benzyloxycarbonyl-, die Fluorenylmethylenoxycarbonyl- und die Allyloxycarbonyl-Verbindungen. Neben den Carbamaten sind noch eine Reihe anderer N-Acyl-Derivate als Schutzgruppen von Bedeutung, aber bei weitem nicht so weit verbreitet. Dazu gehören beispielsweise die Phthalimide, die entweder durch die Umsetzung der primären Amine mit Phthalsäureanhydrid oder durch den Aufbau der Aminogruppe über eine Gabriel-Synthese zugänglich sind. Die Spaltung der Phthalimide erfolgt normalerweise durch Hydrazinhydrat oder Natriumboranat. Trifluoracetamide sind überaus leicht im Basischen zu verseifen, daher dienen die durch die Umsetzung mit Trifluoressigsäureanhydrid erhaltenen Acetamide gelegentlich als Schutzgruppe für Amine. Bei Indolen, Pyrrol und Imidazolen, also heterocyclischen Verbindungen, finden die N-Sulfonyl-Derivate als Schutzgruppe ihre Anwendung. Bei normalen Aminen ist diese Schutzgruppe häufig zu stabil. Die Darstellung erfolgt hier durch Sulfonierung mit Phenylsulfonylchlorid und dem deprotonierten Heterocyclus. Die Spaltung erfolgt durch basische Hydrolyse. N-Acyl-Derivate von primären und sekundären Aminen sind zwar relativ leicht durch die Umsetzung der Amine mit einem Arylsulfonsäurechlorid zugänglich, können aber nur schwer z. B. unter den Bedingungen einer Birch-Reduktion (Natrium in flüssigem Ammoniak) oder durch Umsetzung mit Natriumnaphthalid gespalten werden. Unter den N-Alkyl-Derivaten haben die durch Alkylierung oder reduktive Alkylierung darstellbaren N-Benzyl-Derivate eine gewisse Bedeutung. Die Spaltung erfolgt wie bei der Cbz-Gruppe reduktiv und normalerweise durch katalytische Hydrierung oder durch Birch-Reduktion. N-Alkylamine haben hier den entscheidenden Nachteil gegenüber den Carbamaten oder Amiden, dass der basische Stickstoff erhalten bleibt. Alkohole Die klassische Schutzgruppe für Alkohole sind Carbonsäureester. Häufig sind die Ester von Vorstufen käuflich erhältlich oder können leicht durch Umsetzung der Alkohole mit den Säurechloriden oder Anhydriden durch eine Schotten-Baumann-Reaktion oder aber durch Umesterung erhalten werden. Die Spaltung der Ester erfolgt in der Regel durch die Umsetzung mit Nukleophilen wie den Alkalihydroxiden, Alkali–Alkoholaten oder Lithium– bzw. Magnesium–organischen Verbindungen; alternativ auch reduktiv durch Umsetzung mit komplexen Hydriden wie Lithiumaluminiumhydrid. Die Reaktivität der Ester gegenüber nukleophilen Angriffen sinkt mit der sterischen Hinderung der Carbonsäure in der Reihenfolge: Chloracetyl > Acetyl > Benzoyl > Pivaloyl Die Reaktivität der Alkohole sinkt ebenfalls mit der steigenden sterischen Hinderung der Alkohole: Phenole > primäre Alkohole > sekundäre Alkohole > tertiäre Alkohole Die wichtigsten Ester, die als Schutzgruppen gebräuchlich sind, sind die Essigsäureester, die Benzoesäureester und die Pivalinsäureester, da diese sich nach den angegebenen Reaktivitäten differenziert voneinander abspalten lassen. Zu den wichtigsten Schutzgruppen von Alkoholen und auch Phenolen zählen die sehr gut untersuchten und dokumentierten trisubstituierten Silylether. Dabei trägt das Silicium als organische Reste sowohl Alkyl- als auch Arylgruppen. Dieser Typ an Schutzgruppe hat den Vorteil, dass er bezüglich der Einführung und besonders bezüglich der Abspaltung sehr gut moderierbar ist. Hergestellt werden diese Ether entweder in einer Williamson-Ethersynthese aus dem Chlorsilan und einem Alkoholat-Ion oder aber durch die Verwendung von Aktivierungsreagenzien wie Imidazol. Für rein analytische Zwecke, z. B. um ein Kohlenhydrat flüchtig zu machen und mit Hilfe von GC-MS detektieren zu können, existieren kommerziell erhältliche Reaktionskits. Silylether sind grundsätzlich empfindlich gegenüber Säuren und Fluorid-Ionen. Letzteres wird meist für deren Spaltung ausgenutzt. Die kommerziellen Preise der Chlorsilane sind jedoch je nach Substitution sehr unterschiedlich. Das preiswerteste Chlorsilan ist hier das Chlortrimethylsilan (TMS-Cl), das ein Nebenprodukt der Silikon-Herstellung nach Rochow und Müller ist. Eine andere gebräuchliche Quelle der Trimethylsilyl-Gruppe ist das Hexamethyldisilazan (HMDS). Jedoch sind die Trimethylsilylether auch extrem empfindlich gegenüber sauerer Hydrolyse (beispielsweise ist schon Kieselgel als Protonendonator ausreichend) und werden daher heute selten als Schutzgruppe benutzt. Eine weitere Klasse an Schutzgruppen für Alkohole sind die Alkylether. Auch hier gibt es vielfältige und orthogonale Möglichkeiten die Ether zu spalten. Aliphatische Methoxyether sind nur schwer und unter drastischen Bedingungen spaltbar, so dass diese im Allgemeinen nur bei Phenolen zum Einsatz kommen. 1,2-Diole Eine besondere Klasse von Alkoholen in der Schutzgruppen-Chemie stellen die 1,2-Diole (Glycole) dar. Die Nachbarstellung von zwei Hydroxygruppen kann man z. B. bei Zuckern dazu ausnutzen, dass man beide Hydroxygruppen abhängig voneinander als Acetal schützt. Gebräuchlich sind hier die Benzyliden–, Isopropyliden– und Cyclohexyliden– bzw. Cyclopentyliden-Acetale. Die Herstellung der Acetale erfolgt in der Regel durch Verschieben des Gleichgewichtes eines Gemisches des Glycols mit der Carbonyl-Komponente durch Entfernen des Reaktionswassers oder durch Umacetalisierung mit einem einfachen Acetal und dem Entfernen des entstehenden Alkohols aus dem Reaktionsgemisch. Gerade in der Zuckerchemie wird hier die unterschiedliche Stellung der Hydroxygruppen zueinander ausgenutzt, um diese in bestimmter stereochemischer Abhängigkeit selektiv zu schützen. So reagieren (neben den anderen möglichen Kombinationen) die beiden benachbarten Hydroxygruppen bevorzugt miteinander, welche die stabilste Konformation bilden. Acetale können grundsätzlich in wässrigen sauren Lösungsmitteln wieder gespalten werden. Einen besonderen Fall stellt hier die Benzyliden-Schutzgruppe dar, die auch reduktiv gespalten werden kann. Dies erfolgt entweder durch katalytische Hydrierung oder durch den Hydriddonor Diisobutylaluminiumhydrid (DIBAL). Die Spaltung durch DIBAL entschützt jedoch nur eine Alkoholgruppe, da der Benzylrest auf der zweiten und sterisch gehinderteren Hydroxygruppe als Benzylether verbleibt. Carbonylgruppen Carbonylgruppen sind vor allem durch nukleophile Angriffe wie Grignard-Reagenzien oder von Hydrid-Ionen gefährdet. Aldehyde können zusätzlich noch zu Carbonsäuren oxidiert werden. Aber auch unerwünschte Reaktionen, die durch säure- und basen-katalysierte Reaktionen der Carbonylgruppe wie z. B. Aldolreaktionen können durch eine geeignete Schutzgruppe verhindert werden. Die gebräuchlichsten Schutzgruppen für Carbonylgruppen sind Acetale und hier besonders cyclische Acetale mit Diolen. Daneben werden auch cyclische Acetale mit 1,2-Hydroxythiolen oder Dithioglycolen verwendet – die sogenannten O,S– bzw. S,S-Acetale. Für Acetale als Schutzgruppe für Carbonylverbindungen gilt grundsätzlich das gleiche wie für Acetale als Schutzgruppe für 1,2-Diole. Sowohl die Herstellung als auch die Spaltung sind naturgemäß identisch. Allerdings spielt bei Acetalen als Schutzgruppe der Prozess einer Umacetalisierung eine untergeordnete Rolle, und sie werden in der Regel aus den Glycolen durch Wasserabspaltung hergestellt. Modernere Varianten verwenden hier auch Glycole, bei welchen die Hydroxy-Wasserstoff-Atome durch eine Trimethylsilyl-Gruppe ersetzt wurden. Normalerweise finden einfache Glycole wie das Ethylenglycol oder das 1,3-Propandiol als Diole für die Acetale Verwendung. Acetale können unter sauren wässrigen Bedingungen gespalten werden. Dabei werden als Säuren die Mineralsäuren verwendet. Cosolvenz ist häufig Aceton, das als Lösungsvermittler benutzt wird. Als nicht-saure Abspaltmethode kann mit einem Palladium(II)-chlorid-Acetonitril-Komplex in Aceton oder mit Eisen(III)-chlorid auf Kieselgel, aufgezogen in Chloroform, gearbeitet werden. Cyclische Acetale sind sehr viel stabiler gegenüber saurer Hydrolyse als acyclische Acetale. Daher werden praktisch ausschließlich acyclische Acetale benutzt, wenn eine sehr milde Abspaltung nötig ist oder wenn zwei verschiedene geschützte Carbonylgruppen bezüglich ihrer Freisetzung differenziert werden müssen. Acetale finden jedoch neben ihrer alleinigen Funktion als Schutzgruppe zusätzlich noch Anwendung als chirales Hilfsreagenz. So können Acetale von chiralen Glycolen wie z. B. Derivate der Weinsäure mit hoher Selektivität asymmetrisch geöffnet werden. Dies ermöglicht den Aufbau neuer Chiralitätszentren. Neben den O,O-Acetalen haben auch noch die S,O- und S,S-Acetale eine, wenn auch geringere, Bedeutung als Carbonylschutzgruppe. Thiole, die man zur Herstellung dieser Acetale einsetzen muss, haben einen sehr unangenehmen Geruch und sind giftig, was die Anwendung sehr einschränkt. Thioacetale und die gemischten S,O-Acetale sind, verglichen mit den reinen O,O-Acetalen, sehr viel stabiler gegenüber saurer Hydrolyse. Dies ermöglicht die selektive Spaltung dieser in Gegenwart von Schwefel-geschützten Carbonylgruppen. Die Herstellung der S,S-Acetale erfolgt normalerweise analog der O,O-Acetale durch saure Katalyse aus den Dithiolen und der Carbonylkomponente. Aufgrund der großen Stabilität der Thioacetale liegt das Gleichgewicht auf der Seite der Acetale. Es muss zum Unterschied zu den O,O-Acetalen kein Reaktionswasser entfernt werden, um das Gleichgewicht zu verschieben. S,O-Acetale werden um den Faktor 10.000 schneller hydrolysiert als die entsprechenden S,S-Acetale. Ihre Herstellung erfolgt in Analogie zu diesen aus den Thioalkoholen. Auch ihre Spaltung erfolgt unter vergleichbaren Bedingungen und vorwiegend durch Quecksilber(II)-Verbindungen in wässrigem Acetonitril. Für Aldehyde ist eine temporäre Schützung der Carbonylgruppe in Anwesenheit von Ketonen als Halbaminal-Anion beschrieben. Hier wird ausgenutzt, dass Aldehyde eine sehr viel höhere Carbonylaktivität aufweisen als Ketone und dass viele Additionsreaktionen reversibel sind. Carboxygruppen Die wichtigsten Schutzgruppen für Carboxy-Gruppen sind die Ester von verschiedenen Alkoholen. Daneben sind auch noch Ortho-Ester und Oxazoline in Gebrauch, aber von untergeordneter Bedeutung. Für die Herstellung von Carbonsäureestern gibt es grundsätzlich verschiedene Methoden: Direkte Veresterung von Carbonsäuren und Alkoholkomponente. Aufgrund der ungünstigen Gleichgewichtslage bei der Reaktion zwischen Alkoholen und Carbonsäuren muss das Gleichgewicht entweder durch das Entfernen des Reaktionswassers oder aber durch das Arbeiten mit großen Überschüssen an Alkohol erfolgen. Dazu muss der Alkohol jedoch sehr preiswert sein. Diese Reaktion ist säurekatalysiert (Schwefelsäure, p-Toluolsulfonsäure oder saure Ionentauscher sind die gebräuchlichsten Veresterungskatalysatoren). Die Reaktion von Säureanhydriden oder Säurechloriden mit Alkoholen in Gegenwart von Hilfsbasen. Als Hilfsbase findet hier häufig Pyridin, Diisopropylethylamin oder Triethylamin Anwendung. Diese Reaktion kann mit 4-N,N-Dimethylaminopyridin katalysiert werden, was die Reaktionsgeschwindigkeit im Vergleich zu reinem Pyridin um den Faktor 104 steigert. Im Vergleich zur direkten Veresterung erfolgen diese Methoden unter recht milden Bedingungen. Die Reaktion von Carbonsäuresalzen mit Alkylhalogeniden ist eine weitere Methode zur Herstellung von Carbonsäureestern. Die Reaktion von Carbonsäuren mit Isobuten ist eine sanfte Methode zur Herstellung von tert-Butylestern. Hier wird Isobuten mit der Carbonsäure in Gegenwart einer starken Säure wie Schwefelsäure umgesetzt. Die Reaktion von Carbonsäuren mit Diazoalkanen ist eine sehr sanfte und quantitative Methode, um Ester herzustellen. Sie wird aufgrund der schlechten Zugänglichkeit von komplexen Diazoalkanen jedoch meist nur für die Herstellung von Methyl- und Benzhydril-Estern benutzt. Neben diesen klassischen Methoden der Veresterung wurden für spezielle Reaktionen weitere und modernere Methoden entwickelt. Die Aktivierung der Carbonsäure mit Dicyclohexylcarbodiimid und Umsetzung des so erhaltenen O-Acylisoharnstoffes mit der Alkoholkomponente in Gegenwart von 4-N,N-Dimethylaminopyridin (Steglich-Veresterung). Die Aktivierung der Carbonsäure durch Herstellung eines gemischten Anhydrides mit der 2,4,6-Trichlorbenzoesäure durch Umsetzung der Carbonsäure mit Benzoylchlorid in Gegenwart von 4-N,N-Dimethylaminopyridin und Triethylamin. Das gemischte Anhydrid wird in situ hergestellt und sofort weiter mit der Alkoholkomponente umgesetzt (Yamaguchi-Veresterung). Die Aktivierung der Alkoholkomponete durch die Umsetzung unter Mitsunobu-Bedingungen mit Diethylazodicarboxylat und Triphenylphosphin und anschließenden Umsetzung in situ mit der Carbonsäure (Mitsunobu-Veresterung). Als Alkoholkomponente können verschiedene Gruppen dienen. Sehr gebräuchlich sind hier jedoch die Methyl-, die tert-Butyl, die Benzyl- und die Allylester. Darüber hinaus kommen noch eine Reihe Schutzgruppen hinzu, welche sich aus den Ether-Schutzgruppen der Hydroxygruppen herleiten. Die spezifischen Abspaltbedingungen sind jedoch häufig sehr ähnlich. Grundsätzlich kann jeder Ester in Anwesenheit von Hydroxidionen in wässrig-alkoholischer Lösung hydrolysiert werden. Bei empfindlicheren Substraten verwendet man jedoch häufig Lithiumhydroxid in Tetrahydrofuran und in Anwesenheit von Methanol. Für die Hydrolysetendenz gelten naturgemäß die gleichen Regeln wie bei den Estern als Alkoholschutzgruppe. Alkene Alkene werden und müssen selten durch eine Schutzgruppe geschützt werden. Sie sind in der Regel nur durch elektrophile Angriffe, Isomerisierung und bei der katalytischen Hydrierung von unerwünschten Nebenreaktionen betroffen. Grundsätzlich kennt man für Alkene zwei Schutzgruppen: Die temporäre Halogenierung mit Brom zur trans-1,2-Dibromalkyl-Verbindung: Die Regeneration des Alkens erfolgt unter Wiederherstellung der Konformation durch elementares Zink oder mit Titanocendichlorid. Die Schützung durch eine Diels-Alder-Reaktion: Die Umsetzung eines Alkens mit einem Dien führt zu einem cyclischen Alken, welches jedoch durch elektrophile Angriffe ähnlich gefährdet ist wie das ursprüngliche Alken. Die Abspaltung des als Schutzgruppe dienenden Diens erfolgt thermisch, da es sich bei einer Diels-Alder-Reaktion um eine reversible bzw. Gleichgewichtsreaktion handelt. Alkine Für Alkine kennt man ebenfalls zwei Typen von Schutzgruppen. Bei terminalen Alkinen ist es manchmal notwendig, das acide Wasserstoffatom zu maskieren. Dies erfolgt normalerweise durch Deprotonierung (mittels starker Basen wie Methylmagnesiumbromid oder Butyllithium in Tetrahydrofuran/Dimethylsulfoxid) und anschließender Umsetzung mit Chlortrimethylsilan zum terminal TMS-geschützten Alkin. Die Abspaltung erfolgt hydrolytisch – mit Kaliumcarbonat in Methanol – oder durch Fluorid-Ionen wie beispielsweise mittels Tetrabutylammoniumfluorid. Um die Dreifachbindung selbst zu schützen, wird manchmal ein Komplex der Alkin-Verbindung mit Dicobaltoctacarbonyl benutzt. Die Abspaltung des Cobalts erfolgt durch Oxidation. Anwendungen Schutzgruppen finden in weiten Bereichen der organischen Synthesechemie ihre Anwendung. Dies betrifft sowohl die Laborsynthesen als auch großtechnische Synthesen von komplexen Wirkstoffen. Sobald eine funktionelle Gruppe sich als störend erweist oder aber unerwünscht angegriffen werden kann, findet die Schutzgruppentechnik ihre Anwendung. Beinahe bei jeder Synthese eines komplexen Zielmoleküls kommen Schutzgruppen zum Einsatz. Da sowohl das Einführen als auch das Abspalten der Schutzgruppen neben dem Aufwand auch einen Ausbeuteverlust zur Folge hat, ist es erstrebenswert, ohne Schutzgruppen auszukommen, was jedoch oft nur schwer zu realisieren ist. In der automatisierten Synthese von Peptiden und Nukleotiden ist die Schutzgruppenchemie ein integraler Bestandteil des Synthesekonzepts. Aus der Zuckerchemie sind Schutzgruppen aufgrund der sehr ähnlichen Hydroxygruppen in den Zuckermolekülen ebenfalls nicht wegzudenken. Ein wichtiges Beispiel für die industrielle Anwendung der Schutzgruppentechnik ist die Synthese von Ascorbinsäure (Vitamin C) nach Reichstein. Um eine Oxidation der sekundären Alkohole durch Kaliumpermanganat zu verhindern, werden diese durch Acetalisierung mit Aceton geschützt und nach der Oxidation der primären Hydroxygruppe zur Carbonsäure wieder entschützt. Ein sehr spektakuläres Beispiel aus der Naturstoffsynthese zur Anwendung von Schutzgruppen ist die Totalsynthese von Palytoxin-Carbonsäure durch die Arbeitsgruppe um Yoshito Kishi aus dem Jahre 1994. Hier mussten 42 Funktionelle Gruppen (39 Hydroxygruppen, ein Diol, eine Aminogruppe und eine Carbonsäuregruppe) geschützt werden. Dies erfolgte durch acht verschiedene Schutzgruppen (ein Methylester, fünf Acetat-Gruppen, 20 TBDMS-Ether, neun p-Methoxybenzylether, vier Benzoate, ein Methyl-halbacetal, ein Acetal mit Aceton und ein SEM-Ester). Das Einführen oder Verändern einer Schutzgruppe beeinflusst bisweilen auch die Reaktivität des Gesamtmoleküls. Als Beispiel sei hier ein Ausschnitt aus der Synthese eines Analogons vom Mitomycin C von Danishefsky gezeigt. Der Wechsel der Schutzgruppe von einem Methylether zu einem MOM-Ether verhindert hier das Öffnen des Epoxides zum Aldehyd. Eine bedeutende Anwendung der Schutzgruppenchemie findet sich in der automatisierten Synthese von Peptiden und Nucleosiden. Bei der Peptidsynthese durch automatische Synthesizer wird die Orthogonalität der Fmoc-Gruppe (basische Spaltung), der tert-Butyl-Gruppe (saure Spaltung) und diverse Schutzgruppen für funktionelle Gruppen in der Seitenkette der Aminosäuren ausgenutzt. Bei der automatisierten Nukleotid-Synthese von DNA- und RNA-Sequenzen nach der Phosphoramidit-Synthese werden bis zu vier unterschiedliche Schutzgruppen pro Baustein verwendet. Hier erfolgt sogar Redox-Chemie an den geschützten Phosphor-Atomen. Der aufgrund der höheren Reaktivität eingesetzte dreiwertige Phosphor ist mit einer Cyanoethyl-Schutzgruppe am freien Sauerstoff versehen. Nach dem Kupplungsschritt folgt die Oxidation zum Phosphat, wobei die Schutzgruppe erhalten bleibt. Freie OH-Gruppen, die im Kopplungsschritt nicht reagiert haben, werden in einem Zwischenschritt acetyliert. Diese zusätzlich eingeführte Schutzgruppe verhindert dann, dass diese OH-Gruppe in den nächsten Zyklen koppeln kann. In der Regel ist das Einführen einer Schutzgruppe unproblematisch. Die Schwierigkeiten liegen eher in ihrer Stabilität und beim selektiven Abspalten. Auftretende Probleme bei Synthesestrategien mit Schutzgruppen werden nur selten in der Fachliteratur dokumentiert. Atomökonomie Synthesen unter Einsatz von Schutzgruppen weisen in der Regel eine geringe Atomökonomie auf. Manchmal muss der Umweg der Verwendung von Schutzgruppen eingeschlagen werden, um unerwünschte Konkurrenzreaktionen auszuschalten und die angestrebte Selektivität einer Synthese zu erreichen. Bei der Synthese komplexer Strukturen sind Schutzgruppenstrategien oft unverzichtbar. Als Beispiel für eine Schutzgruppenstrategie im Vergleich zu einer schutzgruppenfreien Synthese seien die Synthesen von Hapalindol U gegenübergestellt. Während die Synthese von Hideaki Muratake aus dem Jahr 1990 Tosyl als Schutzgruppe verwendet, wurde in der Synthese von Phil S. Baran aus dem Jahre 2007 auf jede Schutzgruppe verzichtet. Dabei wurde die Zahl der Syntheseschritte maßgeblich verringert. Literatur Philip J. Kocieński: Protecting Groups, 1. Auflage, Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1994, ISBN 3-13-135601-4. Peter G.M. Wuts, Theodora W. Greene: Green's Protective Groups in Organic Synthesis, 4th Ed., John Wiley & Sons Inc., Hoboken, New Jersey, ISBN 0-471-69754-0. Michael Schelhaas, Herbert Waldmann: „Schutzgruppenstrategien in der organischen Synthese“, in: Angewandte Chemie, 1996, 103, S. 2192–2219; doi:10.1002/ange.19961081805. Krzysztof Jarowicki, Philip Kocieński: „Protecting groups“, in: J. Chem. Soc., Perkin Trans. 1, 1998, S. 4005–4037; doi:10.1039/A803688H. Weblinks Universität Marburg: Schutzgruppen in der organischen Synthesechemie (PDF; 284 kB) Organic-Reaction.com: Protecting Group Organic-Chemistry.org: Protecting Groups Einzelnachweise
531275
https://de.wikipedia.org/wiki/Langfl%C3%BCgelpapageien
Langflügelpapageien
Die Langflügelpapageien (Poicephalus) sind eine Vogelgattung aus der Familie der Eigentlichen Papageien (Psittacidae). Der Gattung werden zehn Arten zugerechnet, die überwiegend als Lebensraum- und Nahrungsgeneralisten gelten. Es handelt sich bei ihnen um Altweltpapageien, die gemeinsam mit den Unzertrennlichen und den in Madagaskar endemisch vorkommenden Vasapapageien die typischen Papageienarten der tiergeografischen Region Afrotropis sind. Charakteristisch ist für die etwa staren- bis taubengroßen Papageien dieser Gattung ein mittellanges Schwanzgefieder, so dass die Flügelspitzen bis fast an die Spitze der Schwanzfedern reichen. Langflügelpapageien werden seit Jahrhunderten als Heimtiere gehalten. Der bekannteste Vertreter unter ihnen ist der Senegalpapagei. Senegalpapageien wurden vermutlich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Heimtiere nach Europa importiert. Lange Zeit standen sie in dem Ruf, für die Haltung als Ziervögel gut geeignet zu sein, da sie besonders zahm würden. Nach wie vor zählen Senegalpapageien nach dem Graupapagei zu der am häufigsten eingeführten afrikanischen Großpapageienart. Erscheinungsbild Langflügelpapageien sind mittelgroße Papageien mit einem stämmigen Körperbau. Die kleinste Art ist der Goldbugpapagei. Ausgewachsene Goldbugpapageien haben eine Körperlänge von 22 Zentimeter und ein Gewicht von etwa 120 Gramm. Die größte Art ist der Kappapagei, der so groß wie ein Graupapagei wird. Kappapageien erreichen eine Körperlänge bis von zu 32 Zentimetern. Adulte Männchen dieser Art wiegen bis zu 400 Gramm. Der Kopf der Langflügelpapageien wirkt massig und der Schnabel wuchtig. Die Schnabelfarbe variiert in Abhängigkeit von der jeweiligen Art. Bei einigen Arten wie etwa dem Braunkopfpapagei und dem Niam-Niam-Papagei ist der Oberschnabel grau gefärbt, der Unterschnabel weist dagegen eine weißgraue Farbe auf. Andere Arten haben einen einheitlich dunkelgrauen Schnabel oder einen Schnabel, der bis zur Mitte hornfarben gefärbt ist und erst zur Schnabelspitze hin grau wird. Einen im Vergleich zum übrigen Körper besonders kräftig gebauten Schnabel weist der Kappapagei auf, der sich überwiegend von den hartschaligen Früchten der Podocarpus-Bäume ernährt. Als Beleg für die Kraft der Kappapageien weist die britische Papageienexpertin Rosemary Low darauf hin, dass diese Art als einzige unter den Langflügelpapageien in der Lage ist, mit ihrem Schnabel eine Walnuss aufzuknacken. Außer den Aras verfügen auch sonst nur sehr wenige Papageienarten über diese Fähigkeit. Das Schwanzgefieder der Langflügelpapageien ist mittellang und endet in einer geraden Linie. Die Flügelspitzen reichen bis fast an das Ende des Schwanzgefieders, was den optischen Eindruck vermittelt, die Flügel seien besonders lang. Die Gefiederfärbung der einzelnen Arten ist uneinheitlich. Bei den meisten Arten dominiert Grün als Grundfärbung des Körpergefieders. Das Kopfgefieder ist häufig deutlich vom übrigen Körpergefieder abgesetzt. Beim Mohrenkopfpapagei und beim Braunkopfpapagei ist dieses beispielsweise schwärzlich- bis dunkelbraun, beim Graukopfpapagei und Kappapagei dagegen graubraun bis silbergrau. Beim Kongopapagei ist der Farbübergang zwischen Kopf- und Körpergefieder fließender als bei diesen vier Arten. Bei dieser Art ist lediglich die Ohrgegend schiefergrau und Stirn sowie Scheitel dagegen rot gefärbt. Abweichend von den übrigen Arten haben die Männchen des Rüppell-Papagei ein braunes Gefieder mit einem silbergrauen Überzug an Scheitel und Ohrdecken. Lediglich auf der Oberseite weist das Gefieder einen leichten grünlichen Anflug auf. Bei weiblichen Rüppell-Papageien ist dagegen die untere Rückenpartie sowie der Bürzel und die Oberschwanzdecken leuchtend blau. Die untere Bauchregion und die Analgegend sind von mattblauer Farbe. Bei einigen Arten wie Mohrenkopf-, Braunkopf- und Goldbugpapagei lässt sich von der Gefiederfärbung nicht auf das Geschlecht schließen. Andere Arten wie etwa der Rüppell-Papagei und der Rotbauchpapagei haben dagegen eine geschlechtsspezifische Färbung. Rotbauchpapageien weisen innerhalb der Langflügelpapageien den deutlichsten Geschlechtsdimorphismus auf. Während die Männchen eine auffällig rot bis kräftig rotorange Gefiederfärbung an Brust, Bauch und Unterflügeldecken aufweisen, sind diese beim Weibchen graubraun gefiedert. Verbreitungsgebiet Das natürliche Verbreitungsgebiet der Langflügelpapageien erstreckt sich in Afrika von der Küstenregion des Roten Meeres und des Golfes von Eden im Norden bis zu den Drakensbergen in Südafrika und der nördlichen Grenze der Kalahari und der Namibwüste im Süden und Südwesten Afrikas. Langflügelpapageien finden sich entsprechend außer in den afroalpinen Hochgebirgsregionen in allen tropischen Lebensräumen Afrikas sowie in den subtropischen Florenregionen Kalahari-Highveld-Übergangsraum und der Afromontanen Zone. Die Sahelzone und die beiden Wüsten Namib und Kalahari stellen jeweils natürliche Verbreitungsgrenzen dar, da sie für die Langflügelpapageien keine geeigneten Lebensräume bieten. Im Südosten Afrikas schränkt dagegen die zunehmende Abholzung der Waldgebiete den möglichen Lebensraum der Langflügelpapageien ein. Der Kappapagei, der als die am stärksten bedrohte afrikanische Großpapageienart gilt und dessen Verbreitung am weitesten nach Süden reicht, weist in einer Region, die von der Eastern Cape Province bis nach KwaZulu-Natal reicht, nur noch eine disjunkte Verbreitung auf. Nur sehr wenige der vor den afrikanischen Küsten liegenden Inseln werden von Langflügelpapageien besiedelt. Braunkopfpapageien leben auf der vor der ostafrikanischen Küste liegenden Insel Pemba und Mohrenkopfpapageien kommen auch auf den Îles de Los vor der Küste Guineas vor. Auf Sansibar sind Langflügelpapageien mittlerweile ausgestorben. Die Verbreitungsgebiete der einzelnen Arten der Langflügelpapageien überlappen sich in der Regel nicht. Bei extremen Nahrungsverknappungen, wie sie nach längeren, mehrjährigen Dürreperioden auftreten können, wandern Langflügelpapageien gelegentlich in andere Regionen ab, die ergiebigere Nahrungsgründe bieten. In diesen Fällen kommt es vor, dass mehr als eine Art in einer Region auftritt. Andere Papageienarten, die in Teilen des Verbreitungsgebietes der Langflügelpapageien vorkommen, sind Graupapagei, Halsbandsittich sowie die zu den Unzertrennlichen zählenden Orange-, Grün-, Rosen-, Ruß-, Pfirsich-, Schwarz- und Erdbeerköpfchen sowie der Tarantapapagei. Lebensraum Die meisten Arten der Langflügelpapageien gelten als anpassungsfähige Lebensraumgeneralisten. Die Ausnahme stellt der Kappapagei dar, der auf Grund seiner Nahrungsspezialisierung weniger flexibel in seinen Lebensraumansprüchen ist und auf Steineibenwälder angewiesen ist. Zum Lebensraum der übrigen Langflügelpapageien zählen unter anderem Tieflandregenwälder, Mangrovengebiete, Feucht- und Trockenwälder verschiedener Vegetationszonen, Baum- sowie locker mit Bäumen bestandene Strauch- und Grassavannen. Zu den Arten, die ein besonders großes Spektrum unterschiedlicher Lebensräume besiedeln, zählen der Reichenows Graukopfpapagei und der Goldbugpapagei. Der Lebensraum des Reichenows Graukopfpapagei erstreckt sich über baumbestandene Tieflandsavannen bis zu dauerfeuchten Hochgebirgsregenwäldern in Höhenlagen bis zu 4.000 Meter. Auch der Goldbugpapagei besiedelt neben Feuchtwäldern unterschiedlicher Vegetationszonen auch Strauch- und Grassavannen. Auf landwirtschaftlichen Anbauflächen sind Langflügelpapageien sporadisch während der Reifezeit von Obst und Getreide zu beobachten. Lebensweise Obwohl sie mit den süd- und mittelamerikanischen Amazonenpapageien keinen näheren Verwandtschaftsgrad aufweisen, besetzen Langflügelpapageien ähnliche ökologische Nischen wie diese und weisen eine Reihe ähnlicher Verhaltensmerkmale aus. Langflügelpapageien leben überwiegend in kleinen Familiengruppen, die aus den Elternvögeln und den Jungvögeln bestehen und schließen sich gelegentlich mit anderen Familiengruppen zu lockeren Verbänden zusammen. An Stellen, an denen ein reichliches Nahrungsangebot vorhanden ist, können ihre Schwärme mehr als 100 Individuen umfassen. Sie sind grundsätzlich scheue Vögel, die zwar gelegentlich in reife Hirse- und Maisfelder sowie Obstplantagen im Randgebiet von Dörfern und Städten einfallen, die aber eine große Fluchtdistanz gegenüber dem Menschen haben. Die Nacht verbringen Langflügelpapageien in den Kronen von Bäumen. Bei diesen Schlafbäumen handelt es sich überwiegend um regelmäßig genutzte Übernachtungsplätze. Mit Dämmerungsbeginn putzen sie zunächst ihr Gefieder und brechen dann zu ihren Nahrungsgründen auf. Dem Aufbruch gehen gewöhnlich laute Rufe voran. Abhängig vom Nahrungsangebot können sie auf ihren Flügen zu Nahrungsplätzen beträchtliche Strecken zurücklegen. Für den Graukopfpapagei sind Nahrungsflüge bis zu 80 Kilometer belegt. Bei Teilpopulationen des Kongopapageis hat man beobachtet, dass sie in höheren Lagen übernachten und für die Nahrungssuche bis zu 300 Höhenmeter tiefer liegende Täler aufsuchen. Nach der morgendlichen Fressphase suchen die Langflügelpapageien die Kronen von Bäumen unweit ihres Nahrungsplatzes auf und verbleiben dort bis zum Spätnachmittag. Die Ruhe- und Schlafphasen werden von Phasen unterbrochen, in denen sich die Vögel intensiv der Gefiederpflege widmen. Am Spätnachmittag suchen die Vögel nochmals die Nahrungsplätze auf und kehren dann zu ihren Übernachtungsplätzen zurück. Nahrung Die meisten der Langflügelpapageien gelten als Nahrungsgeneralisten. Sie fressen die Samen, Früchte und Blätter einer Reihe verschiedener Baum- und Straucharten. Auch nektarreiche Blüten sowie Scheinfrüchte werden als Nahrung genutzt. Gelegentlich werden von Langflügelpapageien auch Insekten gefressen, wobei dies jedoch immer nur einen geringen Anteil an der gesamten Nahrungsaufnahme darstellt. Der Feuchtigkeitsgehalt ihrer Nahrung ist zu gering, um den Wasserbedarf der Langflügelpapageien abzudecken. Sie sind deshalb darauf angewiesen, dass ihr Lebensraum offene Wasserstellen aufweist. Der Kappapagei stellt innerhalb der Langflügelpapageien eine Ausnahme dar, da er sich auf wenige Nahrungspflanzen spezialisiert hat. Er frisst überwiegend die Samen der Steineiben (Podocarpus) und in geringerem Umfang die des Afrikanischen Zürgelbaumes. Diese hohe Abhängigkeit von wenigen Nahrungspflanzen ist ursächlich dafür, dass diese Art vom Aussterben bedroht ist. Einige der Langflügelpapageienarten wie der Mohrenkopfpapagei und der Goldbugpapagei haben sich einem knappen oder jahreszeitlich schwankenden Nahrungsangebot angepasst, indem sie außerhalb der Fortpflanzungszeit nomadisieren und nach Versiegen des Nahrungsangebots in andere Regionen abwandern. Fortpflanzung Langflügelpapageien kommen frühestens in ihrem dritten Lebensjahr zur Fortpflanzung. Als Brutplätze werden Ast- und Baumstammhöhlen großer Bäume genutzt. Der Afrikanische Affen- und der Johannisbrotbaum gehören zu den Baumarten, die besonders häufig Nisthöhlen der Langflügelpapageien aufweisen. Kappapageien bevorzugen Steineiben und Rotbauchpapageien brüten auch in Löchern von Termitenbauten. Das Gelege besteht in der Regel aus zwei bis vier Eiern, die im Abstand von ein bis vier Tagen gelegt werden. Die Eier werden ausschließlich durch die Weibchen bebrütet. Die Brutdauer beträgt etwa 26 bis 28 Tage. Die Männchen versorgen während des Brütens und in den ersten Tagen nach dem Schlupf der Jungvögel die Weibchen mit Nahrung und halten sich grundsätzlich in der Nähe der Bruthöhle auf. Angaben über die Schlupfgewichte von Jungvögeln liegen nur aus Nachzuchten in menschlicher Obhut vor. Danach wiegen die Jungvögel zu diesem Zeitpunkt etwa fünf (Goldbugpapagei) bis sechs (Braunkopfpapagei) Gramm. Sobald das Weibchen die Jungvögel nicht mehr hudert, beteiligt sich das Männchen auch direkt an der Fütterung der Nestlinge. Über die Verbleibedauer der Jungvögel im Nest bei in freier Wildbahn lebenden Langflügelpapageien ist nur sehr wenig bekannt. Ausführlichere Beobachtungen liegen für den Kappapagei und den Graukopfpapagei vor. Beim Kappapagei verbleiben die Jungvögel bis zu 79 Tage im Nest. Beim Graukopfpapagei verließen die Jungvögel am 69. Lebenstag die Nisthöhle. Für den Mohrenkopfpapageien und den Braunkopfpapageien liegen verlässliche Angaben zur Nestlingszeit aus Nachzuchten in menschlicher Obhut vor. Beim Mohrenkopfpapageien schwankt die Nestlingszeit zwischen neun und elf Wochen. Beim Braunkopfpapagei verließen Jungvögel in ihrer zwölften Lebenswoche die Bruthöhle. Bis zum Ende der fünfzehnten Lebenswoche wurden die Jungvögel vom Männchen gefüttert. Fressfeinde, Parasiten und typische Erkrankungen Brütende Weibchen und Nestlinge sind einem erheblichen Druck durch Prädatoren ausgesetzt. Zu den Nesträubern, die vor allem Eier und Jungvögel erbeuten, zählen die Afrikanischen Eierschlangen, die Afrikanischen Baumschlangen, Warane wie der Steppen- und der Nilwaran, Paviane und Schleichkatzen wie die Rote Manguste. Schlangensperber räubern die Nisthöhlen aus, indem sie sich mit einem Fuß am Rand der Bruthöhle festklammern und mit dem zweiten Fuß die Jungvögel in der Nisthöhle greifen. Langflügelpapageien gehören außerdem zum Beutespektrum von Adlern, Habichten, Sperbern und Falken und werden von diesen im Flug gegriffen. Milben und Federläuse zählen zu den Ektoparasiten, die die Federn und die Haut der Langflügelpapageien besiedeln. Zu den Endoparasiten, die Langflügelpapageien befallen, gehören Kokzidien, Spul-, Haar- und Bandwürmer. Über typische Erkrankungen wild lebender Langflügelpapageien ist nur wenig bekannt. Bei Untersuchungen an Kappapageien und Rüppells Papageien hat man jedoch festgestellt, dass ein Teil der Papageien das Virus der Psittacine Beak and Feather Disease (PBFD) in sich tragen. Diese Krankheit ist unheilbar und hat einen häufig tödlichen Verlauf. Bei einem Teil der Vögel, die mit dem Virus infiziert sind, kommt die Krankheit zwar nicht zum Ausbruch. Sie sind jedoch Krankheitsüberträger. Bestandssituation Bestandszahlen Die Bestandssituation der Langflügelpapageien ist sehr uneinheitlich und reicht von nicht gefährdet bis stark bedroht. Ausführlichere Feldstudien über Langflügelpapageien sind bislang fast nur in der Republik Südafrika und Namibia durchgeführt worden. Entsprechend liegen für die in diesem Gebiet vorkommenden Arten beziehungsweise Unterarten die verlässlichsten Bestandszahlen vor. Für die übrigen Arten sind die Bestandsangaben häufig veraltet, widersprüchlich oder liegen gar nicht vor. Rotbauch- und Mohrenkopfpapagei gelten als Arten, die noch häufig vorkommen. Bei anderen Arten ist die Art als solche nicht bedroht, jedoch ist der Status von Unterarten kritisch. Dies gilt beispielsweise für den Kongopapagei, dessen im Westen Afrikas vorkommende Unterart Poicephalus gulielmi fantiensis nach weitreichenden Abholzungen und Fängen für den Export als bedroht eingeordnet wird. Verlässlich ermittelte Bestandszahlen fehlen dagegen für den im Gebiet des Tschad und der Zentralafrikanischen Republik vorkommenden Niam-Niam-Papagei und den im zentralen Hochland von Äthiopien lebenden Gelbkopfpapagei. Der Status des Gelbkopfpapageis ist aber vermutlich kritisch, da es in seinem Lebensraum zu umfangreichen Abholzungen kam. Widersprüchlich sind die Angaben zum Braunkopfpapagei und zu Rüppels Papagei. Einzelne Studien weisen darauf hin, dass zumindest in großen Teilen ihres Verbreitungsgebietes diese beiden Arten sehr selten geworden sind. Andere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass die Populationen zwar zurückgegangen sind, aber noch kein kritisches Niveau erreicht haben. Zu den Langflügelpapageienarten, für die verlässliche Zahlen vorliegen, zählt der überwiegend von den Samen der Steineiben lebende Kappapagei, der als die am stärksten bedrohte Art dieser Gattung gilt. Nachdem die mit Steineiben bestandenen Flächen infolge von Abholzungen stark zurückgegangen sind, ist diese Art vom Aussterben bedroht. Im Jahre 2004 wurden nur noch 1024 Individuen dieser Art gezählt. Ursachen des Bestandsrückgangs Ursächlich für den Rückgang der Populationen der Langflügelpapageien ist einerseits eine zunehmende Habitatzerstörung und der zum Teil noch legale Fang dieser Papageien für den Export. Der Rückgang an geeigneten Lebensräumen für Langflügelpapageien ist vor allem auf die stattfindende Entwaldung Afrikas zurückzuführen. Die Regen-, Feucht und Trockenwälder Afrikas werden ähnlich wie die Urwälder Asiens und Südamerikas intensiv zur Holzgewinnung genutzt. Darüber hinaus führt der Anstieg der Bevölkerung in vielen afrikanischen Ländern dazu, dass Wald in landwirtschaftliche Flächen umgewandelt wird. Der Grad der Entwaldung ist je nach Land unterschiedlich, der Rückgang der Waldflächen wird für die vergangenen 50 Jahre auf 20 % bis 80 % geschätzt. Wo es zur Wiederaufforstungen kommt, werden überwiegend Monokulturen angelegt. Verbleibende Restbestände von Wäldern sind regelmäßig so klein, dass es zu einer Verinselung von Tierpopulationen kommt, die ein langfristiges Überleben einer Art in dieser Region unwahrscheinlich macht. Der Kappapagei ist ein charakteristisches Beispiel für eine solche Entwicklung. Weiträumige Abholzung der Steineibenwälder und ihre Wiederaufforstung mit nicht in Afrika heimischen Eukalyptus- und Koniferenarten haben diese Art an den Rand des Aussterbens gebracht. Er kommt heute nur noch in solchen Waldgebieten vor, die wegen ihrer Unzugänglichkeit nicht den Abholzungen zum Opfer fielen. Die unzureichenden und zum Teil veralteten Kenntnisse über die tatsächlichen Populationszahlen der einzelnen Langflügelpapageienarten führen dazu, dass einige Arten der Langflügelpapageien noch unter der Anhang C der CITES-Vereinbarungen fallen, der erlaubt, dass Staaten Ausfuhrgenehmigungen für bestimmte Arten erteilen dürfen. Dabei werden auch Handelsgenehmigungen für Langflügelpapageien erteilt, die in den ausführenden Ländern nicht vorkommen oder dort mittlerweile ausgestorben sind. Dies gilt beispielsweise für Guinea, das im Jahre 2004 700 Exemplare einer dort nicht vorkommenden Unterart des Kongopapageis ausführen durfte. Kamerun, Liberia, Togo, Senegal und Mali führten den Westlichen Graukopfpapagei (Poicephalus fuscicollis fuscicollis) aus, obwohl diese Unterart dort längst ausgerottet war. Auch für nicht bedrohte Arten gilt, dass geltende CITES-Regelungen nicht den intendierten Schutz darstellen: Aus dem Senegal wurden beispielsweise zwischen 1997 und 2004 250.000 Mohrenkopfpapageien exportiert. Gleichzeitig führten dort umfangreiche Abholzungen zu einer starken Veränderung des Lebensraumes für diese Papageienart. Die Ornithologen Dieter Hoppe und Peter Welcke bezweifeln trotz anderslautender senegalesischer Angaben deshalb, dass die Population des Mohrenkopfpapageis dort nach wie vor unverändert und stabil sind. Schutzmaßnahmen Für einige Arten der Langflügelpapageien bieten die afrikanischen Nationalparks und Schutzgebiete Rückzugsmöglichkeiten, die den Fortbestand der Arten sichern können. Auch wenn diese Nationalparks überwiegend zum Schutz des publikumswirksameren Großwilds Afrikas eingerichtet wurden, schützen sie auch die Lebensräume einiger der Arten der Langflügelpapageien. Zu den Nationalparks, in denen Langflügelpapageienarten beobachtet werden können, zählen die beiden Tsavo-Nationalparks, der Massai Mara-, der Serengeti- und der Etosha-Nationalpark sowie der Waterberg Reserve und der Kruger-Nationalpark. In der Republik Südafrika werden außerdem Anstrengungen unternommen, die verbleibenden Steineibenwälder zu erhalten und den Fortbestand der Kappapageien zu sichern. Systematik Langflügelpapageien werden in zwei Untergattungen unterteilt. Die Untergattung Eupsittacus umfasst Kappapagei, Graukopfpapagei, Kongopapagei und Gelbkopfpapagei. Der Untergattung Poicephalus werden Mohrenkopfpapagei, Rotbauchpapagei, Goldbugpapagei, Braunkopfpapagei, Rüppell-Papagei und derzeit noch der Niam-Niam-Papagei zugerechnet. Nach aktuellen DNA-Studien haben sich die Vorfahren der Poicephalus-Arten schon sehr früh von denen des Graupapageis und den Unzertrennlichen abgespalten. Im selben Zeitfenster hat sich die Aufspaltung in die beiden Untergattungen ereignet. Das folgende Kladogramm zeigt die Gattung Poicephalus mit ihren jeweiligen Verwandtschaftsgraden nach aktuellem Wissensstand an. Im Kladogramm ist der Niam-Niam-Papagei (Poicephalus crassus) nicht aufgeführt, weil sein Artstatus umstritten ist. Möglicherweise wird zukünftig einer der Unterarten des Graukopfpapageis dagegen der Artstatus zugestanden. Langflügelpapageien in menschlicher Obhut Wie alle Papageien sind auch Langflügelpapageien anspruchsvolle Pfleglinge. Als soziale Tiere, die einen großen Teil ihres Verhaltens von ihren Artgenossen erlernen, sollten sie nie allein gehalten werden. Ihre Haltung muss berücksichtigen, dass diese Arten in der freien Natur schnelle und wendige Flieger sind, die auf der Suche nach Nahrung lange Strecken zurücklegen. Auf eine Haltung in Wohnräumen reagieren Papageien außerdem häufig mit Atemwegsproblemen. Die gesetzlichen Bestimmungen der einzelnen Länder lassen eine Käfighaltung zwar noch zu, optimale Haltebedingungen bieten aber nur Außenvolieren mit einem angrenzenden und beheizbaren Schutzraum. Quellen Einzelnachweise Literatur Dieter Hoppe, Peter Welcke: Langflügelpapageien, Ulmer Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 3-8001-4786-6 Werner Lantermann: Papageienkunde, Parey Buchverlag, Berlin 1999, ISBN 3-8263-3174-5 Rosemary Low: Das Papageienbuch, Ulmer Verlag, Stuttgart 1989, ISBN 3-8001-7191-0 J.O. Wirminghaus, C.T. Down, M.R. Perrin, C. T. Symes: Diet of the Cape Parrot, Poicephalus robustus, in Afromontane forests in KwaZulu-Natal, South Africa, Ostrich, 73 (1/2), S. 20–25 Weblinks Eigentliche Papageien
544219
https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkermord%20in%20Ruanda
Völkermord in Ruanda
Als Völkermord in Ruanda werden umfangreiche Gewalttaten in Ruanda bezeichnet, die am 7. April 1994 begannen und bis Mitte Juli 1994 andauerten. Sie kosteten circa 800.000 bis 1.000.000 Menschen das Leben, die niedrigsten Schätzungen gehen von mindestens 500.000 Toten aus. In annähernd 100 Tagen töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit etwa 75 Prozent der in Ruanda lebenden Tutsi-Minderheit sowie Hutu, die sich am Völkermord nicht beteiligten oder sich aktiv dagegen einsetzten. Die Täter kamen aus den Reihen der ruandischen Armee, der Präsidentengarde, der Nationalpolizei (Gendarmerie) und der Verwaltung. Zudem spielten die Milizen der Impuzamugambi sowie vor allem der Interahamwe eine besonders aktive Rolle. Auch weite Teile der Hutu-Zivilbevölkerung beteiligten sich am Völkermord. Der Genozid ereignete sich im Kontext eines langjährigen Konflikts zwischen der damaligen ruandischen Regierung und der Rebellenbewegung Ruandische Patriotische Front (RPF). Im Verlauf und im Nachgang der Ereignisse wurden die Vereinten Nationen (UN) und Staaten wie die USA, Großbritannien und Belgien wegen ihrer Untätigkeit kritisiert. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, aus welchen Gründen eine frühzeitige humanitäre Intervention nicht erfolgte, beziehungsweise warum die vor Ort stationierten Friedenstruppen der Vereinten Nationen, die United Nations Assistance Mission for Rwanda (UNAMIR), bei Ausbruch der Gewalt nicht gestärkt, sondern verkleinert wurden. Gegen Frankreich wurde überdies der Vorwurf erhoben, sich an den Verbrechen beteiligt zu haben. Der Völkermord in Ruanda erzeugte darüber hinaus erhebliche regionale Probleme. Nachdem die RPF die Hutu-Machthaber vertrieben, damit den Völkermord beendet und eine neue Regierung gebildet hatte, flohen im Sommer 1994 hunderttausende Hutu in den Osten von Zaire (heute Demokratische Republik Kongo). Unter den Flüchtlingen waren viele Täter, die anschließend zur Wiedereroberung Ruandas rüsteten. Die ruandische Armee nahm diese Aktivitäten mehrfach zum Anlass, im westlichen Nachbarland zu intervenieren. Vorgeschichte „Tutsi“ und „Hutu“ in vorkolonialer und kolonialer Zeit Die ruandischen Staatsgrenzen waren bereits vor dem Auftreten der europäischen Kolonialmächte weitgehend gefestigt. Unter der Regentschaft von Kigeri Rwabugiri, der von 1853 bis 1895 in Ruanda als König herrschte, setzten sowohl begrenzte regionale Expansions- als auch staatliche Zentralisierungstendenzen ein. Vormals autonome kleinere Regionen im Westen und Norden wurden dem Herrschaftsgebiet Rwabugiris einverleibt, die staatliche Macht wurde zentralisiert. Außerdem begann innerhalb des Herrschaftsgebiets eine stärkere Differenzierung der Bevölkerungsgruppen. Dabei erlangten die überwiegend mit Viehzucht befassten Personen, „Tutsi“ genannt, zunehmend Macht über Ackerbauern, die als „Hutu“ bezeichnet wurden. Die Twa, eine dritte Gruppe, die als Jäger und Sammler lebten, spielten bei dieser Veränderung der Herrschaftsbeziehungen keine Rolle. Im Reich von Rwabugiri entwickelte sich der Begriff „Tutsi“ mehr und mehr zu einem Synonym für Angehörige der herrschenden Schicht eines sich herausbildenden Zentralstaats, während der Terminus „Hutu“ zum Namen für die Gruppe der Beherrschten wurde. Rwabugiri leitete Verwaltungsreformen ein, die zu einer Kluft zwischen der Hutu- und der Tutsi-Bevölkerung führten. Dazu gehörten uburetwa, ein System der Zwangsarbeit, das Hutus verrichten mussten, um wieder Zugang zu Land zu erlangen, das ihnen beschlagnahmt worden war, und ubuhake, bei dem Tutsi-Chefs Rinder an Hutu- oder Tutsi-Kunden im Austausch für wirtschaftliche und persönliche Dienstleistungen übergaben. Mit Beginn ihrer Kolonialherrschaft (1899–1919) interpretierten die Deutschen die abgestuften Sozialbeziehungen in Ruanda auf der Basis der rassistischen, in Europa entwickelten Hamitentheorie. Sie gingen davon aus, die Tutsi seien vor Jahrhunderten in das Gebiet der Afrikanischen Großen Seen eingewanderte Niloten, die mit „kaukasischen“ und damit europäischen Völkern verwandt seien. Dies begründe ihre Herrschaft über die als weniger hochstehend wahrgenommenen „negriden“ Ethnien Zentralafrikas, zu denen in den Augen der Deutschen die Hutu gehörten. Die Kolonialherren banden die Tutsi als lokale Machtträger in das System ihrer indirekten Herrschaft ein. Im Verlauf des Ersten Weltkriegs übernahmen die Belgier nach einer Reihe begrenzter Gefechte faktisch die Macht in Ruanda, noch bevor sie ihnen 1919 in der Pariser Friedenskonferenz offiziell zugestanden und Ruanda 1923 vom Völkerbund zum Mandatsgebiet Belgiens erklärt wurde. Die Belgier setzten die indirekte Herrschaft fort. Auch sie hielten die ungleiche Machtverteilung zwischen Hutu und Tutsi für das Ergebnis einer rassischen Überlegenheit der Tutsi. Die neuen Kolonialherren führten ein System der Zwangsarbeit ein, mit dessen Hilfe sie das Land wirtschaftlich erschließen wollten. Sie individualisierten zudem die Ansprüche ihrer Macht gegenüber den Einzelnen, indem sie den Einfluss von Clans und Lineages durch Verwaltungsreformen zurückdrängten. Zu den folgenreichsten Administrativmaßnahmen der Belgier gehörte 1933/34 die Ausstellung von Ausweispapieren im Gefolge einer Volkszählung. Diese Dokumente fixierten die ethnische Zugehörigkeit jedes Einzelnen, war er nun Twa, Hutu oder Tutsi. Die ethnische Zuordnung aller Ruander war fortan in Verwaltungsregistern festgeschrieben. Die Unterscheidung der Menschen nach sozialem Status und wirtschaftlichen Aktivitäten wurde biologisiert und damit zu einer nach Rassen. In der Zwischenkriegszeit förderte die Katholische Kirche in ihren Missionsschulen die Tutsi stärker als die Hutu. Diese schulische Ausbildung bot den Tutsi die Perspektive, in die Landesverwaltung einzutreten, denn der Unterricht auf Französisch bereitete sie darauf vor. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wandelte sich das Selbstverständnis der Missionare. Sie verstanden sich zunehmend als Helfer und Sprachrohr der unterprivilegierten Hutu, nicht mehr als Förderer der Tutsi-Elite. Die Schulen boten verstärkt auch für Hutu den Zugang zu westlicher Bildung. Der entstehende Hutu-Klerus gehörte zur Elite der Hutu, die zunehmend ein Gegengewicht zur Tutsi-Herrschaft bildete und auf politische Teilhabe und Demokratisierung des Landes drängte. Hutu-Revolution und Hutu-Regime unter Grégoire Kayibanda Angesichts der absehbaren Dekolonisation Ruandas radikalisierte sich die politische Debatte in den 1950er Jahren. Entlang der „ethnischen“ Grenzen bildeten sich politische Parteien. In ihren Gründungsdokumenten und Programmen forderten einerseits Tutsi-Parteien die Weiterführung der Tutsi-Monarchie, weil dies der Überlegenheit der Tutsi und der historischen Tradition Ruandas entspräche. Andererseits diffamierten extremistische Hutu-Politiker die bestehende Tutsi-Hegemonie als Herrschaft einer landfremden Rasse. Belgien begann in den 1950er Jahren damit, Hutu in die Verwaltung Ruandas einzubinden. Dies weckte Ängste der Tutsi vor einem baldigen Machtverlust, ohne zugleich weitergehende Ansprüche von Hutu zu befriedigen, die sich nach der alleinigen Macht oder zumindest nach dem entscheidenden Anteil der Machtausübung in Ruanda sehnten. Wenige Monate nach dem Tod von Mutara III. Rudahigwa, der seit 1931 als Monarch eingesetzt war, eskalierte ab November 1959 die Gewalt zwischen Hutu und Tutsi. Bevor die belgische Verwaltung die Ordnung wiederherstellen konnte, fielen den Gewalttaten mehrere Hundert Menschen zum Opfer. Nach diesen Ereignissen ersetzten die Belgier die Hälfte aller Tutsi in der Verwaltung durch Hutu. Am deutlichsten kam der Wandel auf der Ebene der Bürgermeister zum Ausdruck. 210 der insgesamt 229 Bürgermeisterposten waren jetzt von Hutu besetzt. Sie ersetzten die im Zuge der Unruhen getöteten oder geflohenen früheren Tutsi-Bürgermeister. Die traditionell hierarchische Orientierung, die früher die Loyalität gegenüber der lokalen Tutsi-Elite sichergestellt hatte, half nun den neuen lokalen Hutu-Führern, die ihrerseits erfolgreich an die Zusammengehörigkeit der Hutu-Mehrheit appellierten. Diese Veränderungen waren die Basis für die Wahlsiege der Parmehutu (Parti du Mouvement et de l’Emancipation Bahutu) von 1960 und 1961, einer Hutu-Bewegung, die sich für die Abschaffung der Monarchie, für die Einführung republikanischer Verhältnisse, für die Unabhängigkeit Ruandas von Belgien und vor allem für das rasche Ende der Tutsi-Herrschaft starkmachte. Dieser Umbruch der politischen Verhältnisse ist in die Geschichte Ruandas als Hutu-Revolution eingegangen. Bereits vor der Unabhängigkeit Ruandas im Juli 1962 flohen mehrere Zehntausend Tutsi in die Nachbarländer Ruandas. Grégoire Kayibanda festigte als Führer der Parmehutu die Herrschaft der Hutu, indem er selbst die Präsidentschaft des Landes übernahm und einen Einparteienstaat errichtete. Mehrfache und teilweise sehr weit ins Landesinnere Ruandas reichende Guerilla-Angriffe von Tutsi-Flüchtlingen wurden 1967 endgültig zurückgeschlagen. Zugleich richtete sich die staatliche Gewalt in jenen Jahren immer wieder gegen die in Ruanda verbliebenen Tutsi, denen Sympathien mit der Tutsi-Guerilla nachgesagt wurden. Sie führte zur Vertreibung der Tutsi aus bestimmten Landesteilen. Häufig war sie mit Angriffen auf Eigentum, Leib und Leben der Tutsi verbunden. Etwa 20.000 Tutsi verloren durch diese vom Staat geförderten oder tolerierten Angriffe ihr Leben, zirka 30.000 weitere flohen ins Ausland. Alle noch im Land lebenden Tutsi-Politiker wurden ermordet. Das Hutu-Regime machte seither die Bedrohung durch die Tutsi-Rebellen für alle wesentlichen innenpolitischen Probleme des Landes verantwortlich. Die Hutu konstruierten zugleich den in Krisensituationen stets reaktivierten Mythos eines langen, mutigen und erfolgreichen Kampfes gegen erbarmungslose Unterdrücker. Hutu und Tutsi bis Ende der 1980er Jahre Im Oktober 1972 richtete sich erneut eine massive Welle der Gewalt gegen die ruandischen Tutsi. Präsident Kayibanda griff nicht ein, um seine Macht, die von extremistischen Hutu in Frage gestellt wurde, nicht zu gefährden – diese forderten im Angesicht ausgedehnter Massaker an Hutu im Nachbarland Burundi, bei denen rund 100.000 bis 150.000 Hutu umgebracht wurden, Vergeltungsmaßnahmen gegen Tutsi. Erst im Februar 1973 unterband der Präsident die Gewalttaten und zog damit die Aggressionen der extremistischen Hutu auf sich. Im Streit zwischen gemäßigten und extremistischen Hutu-Gruppen ergriff Verteidigungsminister Juvénal Habyarimana die Initiative und übernahm am 5. Juli 1973 in einem Putsch die Macht. Habyarimana, einem Hutu aus dem Norden Ruandas, gelang es, die Konflikte zwischen Hutu und Tutsi zu unterbinden. Er verbot die Parmehutu und schuf stattdessen die auf ihn zugeschnittene Einheitspartei Mouvement républicain national pour le développement (MRND). Neben dieser Partei und dem Militär als Machtbasis setzten der neue Präsident und seine Ehefrau Agathe auf Clan- und Verwandtschaftsbeziehungen zur Absicherung der Herrschaft. Die entscheidenden Posten vor allem in der Armee blieben Personen seines Herkunftsgebiets im Nordwesten Ruandas vorbehalten. Diese Machtgruppe wird als akazu (Kleines Haus) bezeichnet. Trotz vordergründiger Befürwortung von Chancengleichheit beschränkten die offiziellen Stellen für Tutsi den Zugang zu Bildung und Arbeitsplätzen sowie zur politischen Macht. Zunächst war die Wirtschaftspolitik des neuen Präsidenten erfolgreich. Der wirtschaftliche Aufschwung hielt jedoch nicht lange an. Mitte der 1980er Jahre geriet Ruanda in eine Staatskrise. Die Wirtschaft des Landes litt unter dem rasanten Verfall des Kaffeepreises – 75 Prozent aller Exporte basierten auf der Kaffeeproduktion. Verschärfend wirkten das durch die verbesserte medizinische Versorgung beschleunigte Bevölkerungswachstum und die damit verbundene zunehmende Knappheit an Landressourcen. Der Mangel an industriellen Arbeitsplätzen – mehr als 90 Prozent der Menschen lebten von Landbau – sorgte für eine Zuspitzung der Wirtschaftskrise. Ruanda war gezwungen, Strukturanpassungsprogramme zu akzeptieren und damit drastische Sparmaßnahmen einzuführen, die unter anderem das Ende der unentgeltlichen Schulbildung und kostenfreier medizinischer Versorgung bewirkten. Die Abwertung der Landeswährung verteuerte zudem viele Importprodukte, zu denen vor allem auch Nahrungsmittel zählten. Insbesondere unter arbeitslosen Jugendlichen und jungen Erwachsenen breitete sich angesichts dieser Umstände zunehmend ein Gefühl der Nutz- und Perspektivlosigkeit aus. Bürgerkrieg und blockierte Demokratisierung Die Staatskrise untergrub die Autorität Habyarimanas. Sie führte zur Bildung oppositioneller Gruppen, die den Kurs des Präsidenten kritisierten. Diese Gruppen, die insbesondere in den südlichen Landesteilen Rückhalt hatten, forderten eine Demokratisierung. Die Monopolisierung der Macht durch Vertraute Habyarimanas aus seiner Heimatregion sollte ein Ende haben. Das Ausland unterstützte diese Forderungen. Insbesondere die westlichen Geberländer sahen nach dem Ende des Kalten Krieges Chancen zur Überwindung undemokratischer Verhältnisse in Afrika. Neben der Forderung nach Demokratisierung übte der internationale Appell, das mittlerweile 30 Jahre alte Flüchtlingsproblem zu lösen, Druck auf den Personenkreis um Habyarimana aus. Der Präsident hatte es seit seinem Machtantritt unter Verweis auf die Landknappheit abgelehnt, die Tutsi-Flüchtlinge wieder in Ruanda anzusiedeln. Schätzungen besagen, dass Anfang der 1990er Jahre zirka 600.000 Tutsi als Flüchtlinge im Ausland lebten. Einen weiteren Faktor für die Loyalitätskrise der Staatsmacht stellten Gerüchte über eine bevorstehende, erneute Invasion von Tutsi-Rebellen dar, die in Uganda aufgewachsen waren. Habyarimana kündigte in dieser Situation Anfang Juli 1990 politische Reformen an. Umgesetzt wurden diese Vorhaben zunächst nicht, denn die politische Auseinandersetzung verwandelte sich in eine militärische – am 1. Oktober 1990 begann von Uganda aus der Angriff der Tutsi-Rebellenarmee Ruandische Patriotische Front (RPF). Mit diesem Feldzug begann ein Bürgerkrieg, der erst mit dem militärischen Sieg der RPF im Juli 1994 enden sollte. Habyarimana bat Belgien, Frankreich und Zaire um militärische Unterstützung. Die jeweiligen Regierungen entsprachen diesem Wunsch. Die gewährte Hilfe versetzte die Regierungsarmee Ruandas in die Lage, den ersten Angriff der RPF zurückzuschlagen. Die belgischen Truppen verließen daraufhin das Land, die Einheiten Zaires mussten abziehen, weil sie plünderten, die französischen Militärs blieben jedoch im Land und stärkten die Kapazitäten Habyarimanas. Mit französischer Hilfe wuchs die Armee Ruandas von 5.200 Mann im Jahr 1990 auf zirka 35.000 Mann im Jahr 1993. Französische Offiziere engagierten sich in der Ausbildung der ruandischen Armeeangehörigen. Gleichzeitig wurde die Ausstattung mit Kriegswaffen, insbesondere Kleinwaffen, wiederum vor allem mit französischer Unterstützung, erheblich ausgebaut. Ruanda war in den Jahren von 1992 bis 1994 der drittgrößte Waffenimporteur der Subsahara-Region. Der Präsident und seine politischen Vertrauten blockierten insgeheim die Demokratisierung, auf die sie sich scheinbar einließen. Journalisten, die die Staatsspitze kritisierten, wurden verfolgt. Die Personengruppe um Habyarimana förderte Radiostationen und Zeitungen, die aggressiv gegen die Opposition und gegen die Tutsi hetzten. Zu einer Machtteilung mit den entstehenden neuen Parteien per Koalitionsregierung war Habyarimanas MRND erst im April 1992 bereit. Zu den neuen Parteien gehörte zudem eine, die bereit war, die bestehende Herrschaft der Hutu mit radikalen Mitteln zu verteidigen. Die Coalition pour la Défense de la République (CDR), gegründet von Personen aus dem Umkreis des Präsidenten, plädierte für eine Vertreibung der Tutsi und baute ab 1992 die Miliz Impuzamugambi auf. Die Präsidentenpartei MRND organisierte im selben Jahr die Interahamwe. Von Oktober 1990 bis April 1994 wurden Tutsi und Hutu-Oppositionelle immer wieder Opfer von Gewalt und Massakern, die als Rache für militärische Erfolge der RPF deklariert wurden. Die Behörden förderten diese Gewaltakte oder nahmen sie hin. Die Täter wurden nie bestraft. Diese Menschenrechtsverletzungen, bei denen etwa 2000 Tutsi und etliche Hutu getötet wurden, gelten als Vorläufer des Völkermords. Trotz der Niederlage der RPF Ende Oktober 1990 blieb die Rebellenarmee ein entscheidender Faktor in der ruandischen Politik der kommenden Jahre. Paul Kagame vergrößerte und reorganisierte die Truppe. Immer wieder gelangen ihr militärische Überfälle und Besetzungen von Landesteilen in der Nähe der ugandischen Grenze. Die Feldzüge und Okkupationen erzeugten ein massives innerruandisches Flüchtlingsproblem. Ende der 1980er Jahre lag diese Zahl der Binnenflüchtlinge bei zirka 80.000, 1992 belief sie sich auf etwa 350.000, nach der RPF-Februaroffensive von 1993 stieg sie auf etwa 950.000 an. Zwischenzeitlich erreichte Waffenstillstandsvereinbarungen blieben brüchig. 1992 gelang der RPF die Ausweitung ihrer Einflusszone. Sie beherrschte jetzt die nördliche Präfektur Byumba, die als „Brotkorb“ Ruandas galt. Dieser Erfolg zwang die ruandische Regierung dazu, ab Mitte 1992 in den Friedensprozess von Arusha einzutreten, der die Befriedung des Landes versprach. Die Verhandlungen in der tansanischen Stadt stockten, wurden unterbrochen oder durch zwischenzeitlich wieder aufgenommene Kampfhandlungen unterlaufen. Im Kern ging es bei den Verhandlungen in Arusha um die Frage der Rückkehr der ruandischen Flüchtlinge und die Rückführung ihres früheren Eigentums, um die Frage der Machtteilung zwischen der MRND, den anderen ruandischen Parteien und der RPF, um die Demobilisierung der Armeen und ihre Synthese zu einem gemeinsamen Militärapparat sowie um die Einsetzung einer UN-Friedenstruppe zur Absicherung der Verhandlungsergebnisse. Obwohl in Arusha zwischen August 1992 und August 1993 insgesamt vier Abkommen unterzeichnet wurden und obgleich am 4. August 1993 schließlich der Friedensvertrag von Arusha paraphiert wurde, opponierten große Teile der MRND und die gesamte CDR gegen die Übereinkunft. „Hutu-Power“ Dem Personenkreis um Habyarimana war es 1993 gelungen, die wichtigsten Oppositionsparteien zu spalten. Moderaten Hutu-Führern standen nun Vertreter der sogenannten „Hutu-Power“ gegenüber. Diese lehnten jedes Zugeständnis an die RPF und damit vor allem jede Beteiligung der Tutsi an politischer und militärischer Macht ab. Absicht war, mit der „Hutu-Power“-Bewegung die entstandenen neuen Loyalitäten gegenüber den Parteien abzulösen durch ein überparteiliches Bekenntnis zur Sache der Hutu, die angeblich durch die Tutsi bedroht sei. Personen aus dem Umfeld des Präsidenten organisierten diese Bewegung mit dem Endziel, einen Staat ohne Tutsi und ohne oppositionelle Hutu etablieren zu können. Die Existenz dieser Sammlungsbewegung wurde am 23. Oktober 1993 auf einer parteiübergreifenden Versammlung in Gitarama bekannt gegeben. Der rasche Bedeutungszuwachs der „Hutu-Power“ wurde durch zwei Ereignisse wesentlich beeinflusst. Zum einen demonstrierte die RPF im Februar 1993 ihre deutliche militärische Überlegenheit über die Regierungstruppen, als es ihr gelang, bis wenige Kilometer vor Kigali vorzustoßen. Allein die Mobilisierung weiterer französischer Fallschirmjäger und erheblicher internationaler Druck auf die Führung der RPF stoppte ihren Vormarsch auf die ruandische Hauptstadt. Dieser Angriff erzeugte unter den Hutu Furcht vor dem militärischen Potenzial der Rebellen. Zum anderen ermordeten in Burundi Tutsi-Armeeangehörige am 21. Oktober 1993 den burundischen Präsidenten Melchior Ndadaye, einen Hutu. Dieses Ereignis löste in Burundi einen Bürgerkrieg aus. Unter den gemäßigten ruandischen Hutu stieg die Skepsis in Bezug auf eine friedliche Kooperation mit der RPF, Hutu-Hardliner sahen im Mord an Ndadaye den Beweis für ein erbarmungsloses Machtstreben der Tutsi im gesamten Gebiet der Afrikanischen Großen Seen. Die Spaltung der Parteien in moderate und extremistische Flügel ermöglichte es Habyarimana darüber hinaus, die Umsetzung des Arusha-Friedensabkommens hinauszuzögern – den auseinanderstrebenden Parteifraktionen gelang es nicht, sich über die personelle Besetzung der Ministerposten zu einigen. Vorbereitung des Genozids Zur Vorbereitung des Völkermordes gehörte die Entwicklung und Verbreitung einer Ideologie, die auf Vernichtung der Tutsi abzielte und jedes Zusammenleben mit ihnen als Verrat an den Hutu denunzierte. Seit 1990 verbreitete die Zeitung Kangura unablässig entsprechende Aufforderungen. Die Publikation der sogenannten „Zehn Gebote der Hutu“ war eine der prägnantesten rassistischen Äußerungen dieses Presseorgans. Zwei dieser zehn Gebote richteten sich speziell gegen Tutsi-Frauen. Léon Mugesera, ein Anführer der MRND, rief als erster führender Politiker öffentlich in einer Ansprache am 22. November 1992 zur Ermordung der Tutsi und oppositioneller Hutu auf. Er wurde daraufhin wegen Volksverhetzung angeklagt und flüchtete 1993 nach Kanada. Noch wichtiger war die Verbreitung solcher Botschaften über das Radio – Ruanda hatte eine Analphabetenquote von über 40 Prozent. Die Machtgruppe um Präsident Habyarimana nahm am 8. August 1993 den Sendebetrieb des Propaganda-Senders Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM) auf. Zu den insgesamt acht Moderatoren dieser Radiostation gehörte Georges Ruggiu, ein Belgier, der unter anderem Belgien und das belgische Blauhelm-Kontingent scharf angriff. Der Sender erfreute sich wegen seines lockeren Stils, aufgrund der Interaktion durch Anrufe von und Interviews mit Hörern sowie wegen der offenbar ansprechenden Musikauswahl rasch großer Beliebtheit. Auch nutzte er – obwohl offiziell ein Konkurrenzmedium – Ressourcen des staatlichen Senders und des Präsidentenpalastes. Zur Ausweitung der Hörerschaft teilte die Regierung kostenlos Radioapparate an lokale Behörden aus. In den Jahren zwischen 1990 und 1994 entwickelte sich eine Rhetorik gegen die Tutsi, die die Verfolgung und Vernichtung dieser Gruppe vorbereitete. Diese Rhetorik prägte die Aufrufe zur Gewalt in den Tagen des Völkermords. Einer ihrer zentralen Aspekte war die Technik des Verdrehens. In spiegelbildlichen Anschuldigungen warf die extremistische Hutu-Propaganda den Tutsi vor, sie planten die Vernichtung der Hutu. Ein kollektiver Präventivschlag der angeblich Bedrohten sei darum unvermeidlich. In diesem Zusammenhang spielten erfundene Meldungen über bestialische Gewalttaten an Hutu eine wichtige Rolle. Ein weiteres Element war die Ausgrenzung der Tutsi aus der Gemeinschaft der Ruander. Allein das Mehrheitsvolk der Hutu sei zur Herrschaft berechtigt. Konkurrierende Machtansprüche der Tutsi seien undemokratisch, weil diese nur nach der Refeudalisierung des Landes trachteten. Ein drittes Kennzeichen der Anti-Tutsi-Propaganda war die Entmenschlichung der Tutsi. Die Propaganda bezeichnete sie als Kakerlaken, Schlangen, Gewürm, Stechmücken, Affen etc., die es zu töten gelte. Schließlich zeichneten sich die verbalen Angriffe auf die Tutsi durch den Rückgriff auf die Sprache der Landwirtschaft aus. Die Hutu wurden aufgefordert, große Bäume und Buschwerk zu fällen – Chiffren für Tutsi. Junge Triebe – gemeint waren Kinder – dürften dabei keinesfalls geschont werden. Diese verkleideten Aufrufe zum Töten erinnerten die Adressaten an ihre Pflicht zur umuganda, zur gemeinschaftlichen und gemeinnützigen Arbeit. Zur Vorbereitung des Angriffs auf die Tutsi gehörten ferner die Entwicklung und Umsetzung von Programmen zur Rekrutierung und Ausbildung von Milizen und Einheiten der „zivilen Selbstverteidigung“. Die herangezogenen Männer sollten von Ortspolizisten und ehemaligen Soldaten der Regierungsarmee im Kampf gegen den „Feind“ angeleitet werden. In den ersten Monaten des Jahres 1992 entwarf Oberst Théoneste Bagosora, ein führender Planer im Verteidigungsministerium, ein entsprechendes Programm der „zivilen Selbstverteidigung“. Listen mit potenziellen Milizenführern wurden angefertigt. Zugleich erstellten extremistische Hutu 1993 und 1994 Todeslisten, die die Namen von Tutsi und oppositionellen Hutu enthielten. Auf diesen Listen befanden sich zirka 1500 Namen. Soldaten und politische Führer gaben gemäß diesen Planungen 1993 und Anfang 1994 in erheblichem Umfang Schusswaffen an die Bevölkerung aus. Weil diese Verteilung kostspielig war, entschloss sich die Machtgruppe um Habyarimana zum Kauf von Macheten. Die Zahl dieser in den Wochen vor dem Völkermord nach Ruanda importierten Werkzeuge reichte aus, landesweit jeden dritten erwachsenen Hutu damit auszustatten. Als landwirtschaftliche Werkzeuge waren Macheten in Ruanda seit Jahrzehnten in Gebrauch und weit verbreitet. Eine Erhebung aus dem Jahr 1984 zeigte, dass 83 Prozent aller ländlichen Haushalte Ruandas eine oder mehrere Macheten besaßen. Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch legte im Januar 1994 offen, dass darüber hinaus in erheblichem Umfang Kriegswaffenlieferungen nach Ruanda gingen. Genozid Initialzündung Die Ermordung von Präsident Habyarimana löste den Völkermord aus. Die Dassault Falcon 50, mit der er am 6. April 1994, begleitet vom burundischen Präsidenten Cyprien Ntaryamira, von einer Konferenz aus Daressalam zurückkehrte, wurde gegen 20:30 Uhr beim Landeanflug auf den Flughafen von Kigali mit schultergestützten Boden-Luft-Raketen vom Typ SA-16 abgeschossen. Alle Passagiere und die Crew kamen ums Leben. Wer für den Abschuss des Flugzeugs verantwortlich war, ist bis heute nicht geklärt. Häufig wird vermutet, dass extremistische Hutu die Maschine abgeschossen hätten, weil sie mit der Verhandlungsführung des Präsidenten und dem Verhandlungsergebnis von Arusha nicht einverstanden gewesen seien. Die gegenteilige Annahme lautet, die Täter stammten aus den Reihen der RPF um Paul Kagame. Sie hätten nach einer Möglichkeit gesucht, den Konflikt mit der Hutu-Regierung nicht per Kompromiss zu beenden, sondern per Bürgerkrieg endgültig zu ihren Gunsten zu entscheiden. Ungefähr 30 Minuten nach dem Attentat begannen in Kigali die Morde an oppositionellen Hutu, prominenten Tutsi und Befürwortern des Arusha-Friedensabkommens. Die Täter, allen voran Mitglieder der Präsidentengarde, gingen anhand vorbereiteter Listen vor, spürten ihre Opfer in deren Häusern auf und brachten sie um. Mitglieder anderer Truppenteile unter dem Kommando extremistischer Hutu-Offiziere sowie Milizen unterstützten sie dabei. Zu den ersten Opfern gehörte Premierministerin Agathe Uwilingiyimana, die gemäß der Verfassung nach dem Präsidenten das zweithöchste Staatsamt bekleidete. Ghanaische und belgische Angehörige der UNAMIR, die zu ihrem Schutz abgestellt waren, konnten ihre Ermordung nicht verhindern. Sie wurden gefangen genommen, die zehn belgischen Soldaten wurden anschließend ebenfalls ermordet. Oberst Bagosora füllte noch in der Nacht vom 6. auf den 7. April das entstandene Machtvakuum an der Staatsspitze aus. Er machte sich zum Vorsitzenden des sogenannten Krisenstabs, der ausschließlich aus Angehörigen des ruandischen Militärs bestand. Die vollständige Übernahme der Macht durch Bagosora lehnte die Mehrheit der Offiziere dieses Gremiums ab. Am 8. April ließ Bagosora extremistische Hutu-Politiker zusammenrufen und forderte sie zur Bildung einer Übergangsregierung auf. Zum Staatspräsidenten wurde Théodore Sindikubwabo, zum Premierminister Jean Kambanda ernannt. Die internationale Gemeinschaft reagierte auf den Ausbruch der Gewalt, indem sie Ausländer aus Ruanda ausflog. Französische und belgische Soldaten führten die entsprechenden Evakuierungsmaßnahmen durch. Die Zahl der stationierten Blauhelm-Soldaten wurde, ausgelöst durch die Ermordung der zehn belgischen UNAMIR-Angehörigen, drastisch reduziert. Regionale Ausbreitung der Gewalt Die Gewalttaten breiteten sich rasch über das ganze Land aus. In den ersten Tagen des Völkermords fielen relativ wenige Tutsi den Gewalttaten zum Opfer. Ein Grund dafür lag in der vergleichsweise eingeschränkten Bewaffnung der Mörder – der Milizen und „Selbstverteidigungseinheiten“. Zugleich suchten viele Tutsi auf Anweisung der Behörden oder freiwillig Zuflucht in Schulen, Kirchen, Krankenhäusern, auf Sportplätzen, in Stadien und ähnlichen Orten. Sie hofften, sich in der Masse besser gegen die Angreifer zur Wehr setzen zu können. Häufig zögerte der Mob – bewaffnet mit Macheten, Speeren, Knüppeln, Nagelkeulen, Äxten, Hacken und ähnlichen Tatwaffen – den Angriff hinaus, weil er eigene Verluste befürchtete. Eine mögliche Taktik der Angreifer lag dann im Aushungern der Belagerten. In vielen Fällen änderte sich ab dem 13. April die Situation. Am 12. April hatten der staatliche Sender Radio Rwanda und RTLM massiv für eine Beendigung der politischen Differenzen unter den Hutu und ihren gemeinsamen Kampf gegen Tutsi geworben. Besser bewaffnete Einheiten – zusammengesetzt aus Mitgliedern der Präsidentengarde, Armeeangehörigen, Reservisten und der Nationalpolizei – erschienen an den Schauplätzen und setzten ihre Waffen gegen die Belagerten ein: Schusswaffen (inkl. Maschinengewehren) und Handgranaten. Typischerweise forderten die Angreifer zunächst die Hutu, die auch an den entsprechenden Plätzen Schutz gefunden hatten, auf, sich zu entfernen. Tutsi war dies nicht erlaubt. Dann warfen die Angreifer zu Beginn solcher Massaker einige Handgranaten in die Menge der Belagerten. Darauf folgte der Einsatz von Handfeuerwaffen. Flüchtende wurden erschossen oder erschlagen. Anschließend rückten Milizionäre vor und töteten noch lebende Opfer mit Hiebwaffen. Zu dieser Art von Verbrechen gehört das Massaker von Nyarubuye. Nach Aussagen von Zeugen waren die meisten der Tutsi-Zufluchtsorte bis zum 21. April 1994 eingenommen. Die Zahl der Opfer wird bis zu diesem Zeitpunkt auf 250.000 geschätzt. Die regionale Verteilung der Gewalttaten an Tutsi hing mit politischen und historischen Gegebenheiten zusammen. Die an Uganda angrenzende Präfektur Byumba befand sich zu Beginn des Völkermords bereits teilweise unter Kontrolle der RPF. Die Rebellenarmee eroberte rasch den Rest dieses Landstrichs, sodass Massaker an Tutsi hier kaum vorkamen. Tutsi, die in den beiden nordwestlichen Präfekturen Ruhengeri und Gisenyi – den Hochburgen des Habyarimana-Regimes – beheimatet waren, hatten diese Gebiete bereits vor dem Völkermord aufgrund von früheren Drohungen und Gewalttaten verlassen. Darum waren diese Gebiete nur unterdurchschnittlich von Massakern betroffen. Die Führung der Präfektur in Gitarama lag anfänglich noch in den Händen der Hutu-Opposition. Erst als Militäreinheiten und Milizen aus anderen Landesteilen in dieser Region eintrafen, begannen ab dem 21. April 1994 umfangreiche Massaker an Tutsi. In der südruandischen Region Butare war ein Tutsi Präfekt. Er widersetzte sich dem Eindringen der Milizen. Am 18. April wurde er abgesetzt und die Massentötungen begannen. Weisungen Auf vier Wegen erreichten Weisungen und Aufforderungen zum Töten die unteren Ränge der Hierarchien und die Bevölkerung. Im Militär galt die etablierte Struktur von Befehl und Gehorsam. Die Übergangsregierung nutzte einen zweiten Kanal, die traditionellen Verwaltungswege über die Präfekten, Unterpräfekten, Bürgermeister, Gemeinderäte und Dorfvorsteher. Die Verwaltungsangehörigen forderten ihrerseits die Zivilbevölkerung auf, sich am Morden zu beteiligen. Diese Aufforderung wurde häufig als kommunale Gemeinschaftsarbeit (umuganda) deklariert, die in Ruanda eine lange Tradition besaß. Sofern sich die entsprechenden Personen den Mordplänen verweigerten, wurden sie abgesetzt, in einigen Fällen auch selbst ermordet. Parteiführer, die den jeweiligen extremistischen Hutu-Power-Flügeln angehörten, griffen auf einen dritten Kommunikationsweg zurück. Sie nutzen die Parteiapparate, um auf lokaler Ebene zur Tötung der Tutsi aufzufordern. Eine vierte Kommunikationsstruktur lief vom Kommandozentrum der „zivilen Selbstverteidigung“, das bei Bagosora angesiedelt war, hin zu den lokalen Gliederungen dieser Struktur. Dieser Weisungslinie gehörten Militärs an, die ähnlich wie Bagosora selbst einen politischen Hintergrund hatten. Die Grenze der lokalen Gremien und Aktionsgruppen der „zivilen Selbstverteidigung“ verlief dabei nicht trennscharf zu den Milizen. Nicht immer wurde die Hierarchie in den Kommunikationslinien streng eingehalten. Untergebene, die auf eine radikalere Vorgehensweise gegen Tutsi drängten, konnten sich im Zweifel gegen abwartende oder hinhaltende Vorgesetzte durchsetzen. Auch das Verhältnis zu den mordenden Milizen unterschied sich von Fall zu Fall. Einige wurden vom Militär, andere von Parteifunktionären oder von Verwaltungsbeamten dirigiert. Vielfach handelten die Milizen auch autonom oder setzten ihrerseits Angehörige der Verwaltung unter Druck, bei der Vernichtung der Tutsi nicht zu zögern. Neben diesen Kommunikationskanälen spielten die Hörfunksender Radio Rwanda und vor allem RTLM eine wichtige Rolle bei der Aufstachelung der Hutu. Génocidaires Schätzungen zur genauen Zahl der auch Génocidaires genannten Täter weichen erheblich voneinander ab. Einzelne Studien gehen von einigen Zehntausend Tätern aus, andere Autoren sprechen von drei Millionen. Vielfach basieren diese Angaben auf Spekulationen. Eine 2006 veröffentlichte empirische Studie schätzt die Zahl der Täter, die einen oder mehrere Morde begingen, auf 175.000 bis 210.000. Das entspricht einem Anteil von etwa sieben bis acht Prozent der damaligen erwachsenen Hutu beziehungsweise 14 bis 17 Prozent der männlichen erwachsenen Hutu. Im Jahr 1997 hatte in Ruanda die Zahl der Inhaftierten, denen Völkermorddelikte vorgeworfen werden, einen Spitzenwert von 140.000 Personen erreicht. Im Jahr 2000 wurden 110.000 und 2006 noch etwa 80.000 Inhaftierte gezählt. Die Täter waren mit überwältigender Mehrheit Männer. Der Anteil der Frauen lag bei etwa drei Prozent. Pauline Nyiramasuhuko, Ministerin für Familie und Frauen, war am Völkermord in Ruanda maßgeblich beteiligt. Sie hielt über den staatlichen Radiosender Radio Rwanda aufstachelnde Reden, hetzte Hutu-Milizen in Butare auf Flüchtlinge, rief zur Massenvergewaltigung von Tutsi-Frauen auf und wählte dabei einige der Opfer persönlich aus. Sie ist die erste Frau, die wegen Völkermord und Vergewaltigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde. Täter kamen aus allen Teilen der Bevölkerung. An der Spitze standen Personen mit Macht und Einfluss im Militär, in der Politik sowie in der Verwaltung. Das traf auf die nationale und auf die lokale Ebene zu. Von ihrer Anzahl her waren diese Eliten wenig bedeutend. Das Gros der Génocidaires setzte sich aus gewöhnlichen ruandischen Männern zusammen. Sie unterschieden sich hinsichtlich ihrer Bildung, ihres Berufs, ihres Alters und der Anzahl ihrer Kinder nicht vom Bevölkerungsdurchschnitt. Täteranalysen deuten an, dass die gewaltsamsten unter ihnen junge, unterdurchschnittlich gebildete Männer waren mit wenigen oder keinen Kindern. Zugleich zeigen sie, dass die lokalen Initiatoren von Völkermordaktionen zur lokalen Elite gehörten. Diese Personengruppe war sehr gut in das lokale Gemeinwesen integriert und besaß eine überdurchschnittliche Bildung. Unterschiedliche Motive trieben die Génocidaires an. Der nach Aussagen der Täter wichtigste Beweggrund für die Beteiligung einzelner Hutu am Völkermord war Furcht. Viele Täter geben rückblickend an, dass sie soziale, materielle oder physische Repressalien fürchteten, falls sie sich nicht an Mordtaten beteiligen würden. Des Weiteren spielte die Angst vor Gewalttaten der Tutsi eine Rolle. Die Tutsi wurden als Komplizen der RPF-Rebellen betrachtet. Im Bürgerkrieg mit der Rebellenarmee habe es gegolten, den „Feind“ anzugreifen und zu töten, um nicht selbst getötet zu werden. Zugleich seien die eigenen Gewalttaten als Rache für die Ermordung Habyarimanas zu verstehen gewesen – die RPF beziehungsweise die Tutsi insgesamt galten als die Attentäter des Präsidenten. Wichtig war ferner, dass diese Gewalt von den Behörden eingefordert und gutgeheißen wurde. Töten galt als Pflichterfüllung. Andere Motive sind ebenfalls erkennbar, sie hatten jedoch eine geringere Bedeutung für die konkrete Bereitschaft des Einzelnen, am Völkermord teilzunehmen. Zu diesen nachrangigen Motiven gehören beispielsweise tief verwurzelte Abneigungen gegenüber den Tutsi bis hin zu offen rassistischen Antrieben. Eine Reihe von Tätern erhoffte sich ferner materielle Vorteile durch Plünderungen. Tötungsformen In den ersten Tagen des Völkermords waren Einzelerschießungen prominenter Tutsi und bekannter Hutu-Oppositioneller an der Tagesordnung. Eine weitere Form der Tötung kam in den ersten Wochen des Genozids zum Einsatz – große Ansammlungen von Tutsi wurden massakriert. Die Täter setzten außerdem im ganzen Land Straßenblockaden ein, um Ruander auf der Flucht kontrollieren zu können. An diesen Barrikaden wurden Tutsi und Personen, die verdächtigt wurden, Tutsi zu sein beziehungsweise ihnen zu helfen, ermordet. Patrouillen und Menschenjagden ergänzten diese Strategie der Suche nach und Vernichtung von Opfern. Vielfach gingen den Tötungsakten andere Formen der Gewalt voraus, wie Plünderungen, sexuelle Demütigungen, Vergewaltigungen, Verstümmelungen oder Folterpraktiken. Die Täter warfen die Leichen in Flüsse oder Seen, beseitigten sie in Massengräbern, stapelten sie am Straßenrand oder ließen sie am Tatort liegen. Einige Täter trennten die Körperteile ihrer Opfer nach und nach ab, um ihnen lang anhaltende und große Schmerzen zuzufügen. Eine verbreitete Foltermethode gegen Tutsi war das Abhacken von Händen und Füßen. Dahinter stand nicht allein die Absicht, Fluchtversuche zu erschweren, sondern auch der Gedanke des „Zurechtstutzens“ groß gewachsener Menschen. Teilweise wurden Opfer gezwungen, ihre eigenen Ehepartner oder Kinder umzubringen. Kinder wurden vor den Augen ihrer Eltern erschlagen. Blutsverwandte wurden von Tätern zum Inzest untereinander gezwungen. Menschen wurden gepfählt oder zum Kannibalismus genötigt. Größere Menschenmengen wurden häufig zusammengetrieben und in Gebäuden lebendig verbrannt oder mit Hilfe von Handgranaten getötet. Oft mussten sich die Opfer vor ihrer eigenen Tötung nackt ausziehen. Dies sollte sie demütigen, außerdem war die Kleidung für die Mörder so weiter verwendbar. In vielen Fällen wurden auch Beisetzungen bereits getöteter Tutsi verhindert. Abgesehen davon, dass dies den ruandischen Brauch eines würdevollen Umgangs mit Toten verletzte, wurden die Leichen auf diese Weise Tieren zum Fraß überlassen. Hiebwaffen waren die wichtigsten Tatwaffen während des Völkermordes. Nach der offiziellen Statistik der ruandischen Regierung über den Völkermord von 1994 sind 37,9 Prozent der Opfer mit Macheten getötet worden. Die Macheten wurden bereits 1993 in großem Stil aus dem Ausland importiert, waren kostengünstig sowie einfach zu handhaben. 16,8 Prozent wurden mit Keulen erschlagen. Für die Provinz Kibuye wurde ein noch höherer Prozentsatz von Tötungen mit solchen Waffen nachgewiesen. In diesem Landesteil starben 52,8 Prozent der Genozidopfer durch Macheten. Weitere 16,8 Prozent wurden mit Knüppeln ermordet. Überlebensstrategien und Überlebenschancen Tutsi haben überlebt, weil es ihnen gelang, außer Landes zu fliehen, oder weil sie sich innerhalb Ruandas vor den Mördern verbargen. Dazu nutzten sie unzugängliche Regionen wie Waldgebiete oder Sümpfe. Auch Erdlöcher, Keller oder Dachböden dienten als Verstecke. Vielfach wurde ihnen dabei von Hutu geholfen, von Freunden und Unbekannten. Um zu überleben, zahlten viele Bedrängte an die Täter teils mehrfach Geld oder fügten sich in sexuelle Nötigungen. Die Überlebenschancen bedrohter Tutsi und oppositioneller Hutu erhöhten sich, wenn sie sich in der Nähe ausländischer Beobachter aufhielten. Dies traf beispielsweise für das Hôtel des Mille Collines in Kigali zu. Paul Rusesabagina, der Direktor dieses Hotels, nutzte seine Kontakte zu ruandischen Politikern und Militärs, mobilisierte den Einfluss der belgischen Hotelbesitzer und schickte Faxe ins Ausland, um mehrfach erfolgreich die drohende Erstürmung der Hotelanlage zu verhindern. Auf diese Weise rettete er 1268 Eingeschlossenen das Leben. Das UNAMIR-Hauptquartier blieb in den Tagen des Völkermords ein Gebäude des Amahoro-Komplexes in Kigali, zu dem ein großes Stadion gehörte. In diese Sportstätte flüchteten sich Tausende, sie überlebten dank der internationalen Präsenz. Im Südwesten des Landes, in der Präfektur Cyangugu, sammelten sich ebenfalls viele Flüchtlinge im Kamarampaka-Stadion, um der Gewalt zu entgehen. Hier hatte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) einen Stützpunkt, ebenso im Lager Nyarushishi. Tutsi hatten die größten Überlebenschancen, wenn die RPF den Landstrich eroberte, in dem sie sich aufhielten. Sobald die Rebellenarmee in einer Region die Macht übernahm, hörten die Völkermordaktionen auf. Nur in entlegenen Gegenden, die nicht sofort von Truppenverbänden der RPF kontrolliert wurden, gab es jeweils noch einige weitere Tage lang genozidale Akte. Widerstand Der Völkermord war kein Gemeinschaftswerk aller Hutu. Einzelne Hutu versuchten, sich ihm zu entziehen, oder leisteten Widerstand. Die Formen dieses Nonkonformismus waren vielfältig. Sie reichten von der Flucht vor der Gewalt und den Aufforderungen zum Mitmachen über individuelle Hilfe für bedrohte Tutsi bis hin zu Versuchen, den Beginn des Völkermords im Land oder in einzelnen Landesteilen systematisch zu unterbinden. Im ruandischen Militär bemühte sich anfänglich eine Gruppe ranghoher Militärs um Oberst Marcel Gatsinzi und Oberst Léonidas Rusatira, den ausbrechenden Gewalttaten Einhalt zu gebieten, sie gaben entsprechende Befehle. Diese Anweisungen sowie ein von ihnen erstelltes Kommuniqué vom 13. April 1994 blieben allerdings wirkungslos, weil die Streitkräfte sich bereits überwiegend in der Hand der extremistischen Hutu-Offiziere befanden. Militärs, die gegen den Völkermord opponierten, wurden mit Angriffen auf Leib und Leben bedroht, ihre Kommandos wurden umgangen. Gatsinzi und Rusatira verloren beispielsweise rasch ihre Posten an extremistische Hutu-Militärs. Auch in der Verwaltung opponierten einflussreiche Personen gegen den Beginn des Völkermords. Den Präfekten von Gitarama und Butare, Fidèle Uwizeye beziehungsweise Jean-Baptiste Habyalimana, gelang es, in den ersten Tagen die Gewalt gegen Tutsi weitgehend zu verhindern, indem sie im Zusammenspiel mit zuverlässigen Bürgermeistern und weiteren Verwaltungsmitarbeitern ihrer Präfekturen das Eindringen von Milizen aus anderen Landesteilen unterbanden und die ersten Gewalttaten gegen Tutsi – wie Plünderungen oder einzelne Morde – sofort bestraften. Nachdem die Regierung am 12. April 1994 von Kigali nach Gitarama geflüchtet war, brach in Gitarama der Widerstand gegen den Völkermord zusammen, denn die Regierung wurde von bewaffneten Einheiten wie der Präsidentengarde und der Interahamwe begleitet. Diese Verbände setzten die lokale Verwaltung unter Druck und stachelten die Bevölkerung zum Völkermord auf, an dem sie sich selbst führend beteiligten. Nachdem die zum Völkermord bereiten Kräfte die Übermacht erlangt hatten und Widerstandsversuche erfolglos geblieben waren, floh Uwizeye. Jean-Baptiste Habyalimana, der einzige Präfekt aus den Reihen der Tutsi, nutzte bis Mitte April in Butare seine Stellung, um gegen Versuche vorzugehen, den Tutsi in dieser Südprovinz Gewalt anzutun. Er stützte sich auf loyale Nationalpolizisten und Bürgermeister, die sich einer zunehmenden Macht von Militäroffizieren, Milizionären und aus Burundi geflüchteten Hutu gegenübersahen, die den Völkermord befürworteten. Am 17. April wurde Habyalimana seines Amtes enthoben, später inhaftiert und exekutiert. Für viele Orte Ruandas ist Widerstand von Tutsi verbürgt. Gelegentlich entwickelten die Bedrohten gezielte Strategien, um die Angriffe besser abwehren zu können oder um die Überlebenswahrscheinlichkeit bei Massenfluchten zu erhöhen. Eine Abwehrstrategie nannte sich kiwunga (verschmelzen). Die Attackierten legten sich dabei auf den Boden. Erst wenn die Angreifer unter ihnen waren, sprangen die Tutsi auf, um die Täter im Nahkampf zu stellen. Diese scheuten in dieser Situation den Einsatz von Handfeuerwaffen oder Granaten, weil sie Opfer durch den Beschuss durch eigene Leute befürchteten. An einigen Orten teilten sich angegriffene Tutsi in Gruppen und flüchteten zu verschiedenen Zeiten und in verschiedene Richtungen. In Bisesero nahe Kibuye verteidigten sich Tutsi lange Zeit, indem sie sich auf einen bewaldeten und steinigen Hügelkamm flüchteten. Dort versteckten sie sich und warfen Steine auf die Angreifer. Die Abwehr erfolgte koordiniert; Tutsi, die sich nicht an der Verteidigung beteiligen wollten, wurden von anderen mit Schlägen dazu gezwungen. Erst als Armeeeinheiten die Angreifer verstärkten, wurde der Widerstand gebrochen und Zehntausende von Tutsi ermordet, nur etwa 1500 Tutsi überlebten das Massaker. Rolle der Twa Studien zum Genozid behandeln die Rolle der Twa kaum. Dies ist wesentlich durch den geringen Anteil der Twa an der Gesamtbevölkerung Ruandas bedingt. Er liegt bei unter einem Prozent, zirka 30.000 Personen wurden vor April 1994 zur Ethnie der Twa gezählt. Hinzu kommt ihr niedriger sozialer Status als indigenes Volk. Schätzungen besagen, dass etwa ein Drittel der Twa während des Völkermords in Ruanda umkam und ein weiteres Drittel ins Ausland floh. Die Twa waren nicht nur Opfer, Angehörige dieser Gruppe haben sich auch den Milizen angeschlossen. Der Umfang ihrer Beteiligung am Genozid ist jedoch nicht bekannt. Erneuter Bürgerkrieg Der Abschuss der Präsidentenmaschine war das Fanal für den Beginn des Völkermords und zugleich der Anlass für den erneuten Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen den Regierungstruppen und der Rebellenarmee RPF. Entsprechend dem Arusha-Abkommen hatte sich ein Bataillon von 600 Soldaten der RPF im Nationalratsgebäude in Kigali einquartiert. Heimlich verstärkten die Rebellen diese Einheit vor dem 6. April 1994 nach und nach auf zirka 1000 Mann. Das Bataillon wurde in den ersten Stunden nach dem Attentat auf Habyarimana von Regierungstruppen unter Feuer genommen, hielt jedoch die Stellung, bis am 11. April 1994 weitere RPF-Verbände in die ruandische Hauptstadt einmarschierten. Unter der militärischen Führung von Paul Kagame startete die Rebellenarmee von ihrem Hauptstandort im Norden Ruandas aus eine Offensive. Das militärische Vorgehen der Rebellen führte im April 1994 zunächst zur raschen Eroberung der Präfekturen Byumba und Kibungo. Ebenfalls im April begannen die Rebellen mit dem Angriff auf Kigali aus nördlicher und östlicher Richtung. Der Druck dieser Militäroffensive zwang die Regierung am 12. April zur Flucht aus der Hauptstadt nach Gitarama, der nächsten größeren Stadt westlich von Kigali. Tausende Zivilisten schlossen sich dieser Flucht an. Regierungstreue Armeeeinheiten blieben in Kigali, während die Rebellenarmee versuchte, die Hauptstadt einzukreisen und zu belagern. Im Mai griffen RPF-Einheiten, die aus Kigali und der Präfektur Kibungo herangeführt wurden, Gitarama an. Am 9. Juni 1994 begann ihr Einmarsch in diese Stadt. Nach diesem Erfolg rückten sie in südlicher Richtung vor und eroberten bis Anfang Juli die an Burundi angrenzende Präfektur Butare. Am 4. Juli zogen die Regierungstruppen aus Kigali Richtung Westen ab, erneut begleitet von Tausenden von Zivilisten, die Hauptstadt fiel an die Rebellen. Bereits im April hatte die RPF den Versuch unternommen, auf Ruhengeri vorzurücken. Dieser Vormarsch stockte, vor allem weil die Hauptstreitkräfte der Rebellen in der Schlacht um Kigali und für Militäraktionen im Osten des Landes verwendet wurden. Erst im Juli, nach den militärischen Erfolgen in der Mitte und im Süden des Landes, war die RPF im Norden Ruandas siegreich und nahm am 14. Juli 1994 Ruhengeri sowie drei Tage darauf Gisenyi ein. Der Vormarsch der Rebellen in den Südwesten des Landes wurde zunächst durch französische Interventionstruppen gestoppt, die in diesem Landesteil eine Sicherheitszone errichteten. Der Sieg der RPF beendete den Bürgerkrieg und den Völkermord. Viele Täter und die Mitglieder der Regierung setzten sich ins Ausland ab. Der RPF gelang der Sieg, obwohl sie den Regierungstruppen zahlenmäßig unterlegen war. Für Anfang April wird die Truppenstärke der RPF mit 20.000 bis 25.000 Mann angegeben. Die Zahl ihrer Gegner – Regierungssoldaten, Angehörige der Präsidentengarde, Nationalpolizisten und Milizen – wird auf 55.000 bis 70.000 Mann geschätzt. Die RPF machte ihren quantitativen Nachteil durch ihre überdurchschnittlich gute militärische Disziplin und Effizienz wett. Zudem fehlte der Hutu-Regierung die militärische Unterstützung durch Frankreich, die Anfang 1993 noch einmal den Sieg der RPF abgewendet hatte. Bereits 1993 kamen Studien der tansanischen und französischen Militärgeheimdienste zu dem Schluss, dass die RPF den Regierungseinheiten deutlich überlegen sei. Das Ziel der militärischen Bemühungen der RPF war der Sieg über die Regierungstruppen, nicht nur die Rettung der Tutsi. Der kanadische UN-General Roméo Dallaire fragt in seinem Bericht über den Völkermord in Ruanda nach den Prioritäten der RPF. Seiner Ansicht nach ist es nicht ausgeschlossen, dass Paul Kagame den Völkermord in Kauf nahm, um an die Macht zu kommen. Gewalttaten der RPF Die RPF tötete mehrere Zehntausend Menschen in Gefechtshandlungen und anschließend beim Versuch, das eroberte Gebiet zu kontrollieren. Massaker bei militärischen Auseinandersetzungen und bei öffentlichen Versammlungen nach Ende der Kampfhandlungen, standrechtliche und willkürliche Erschießungen kamen in einem Ausmaß vor, das auf Kenntnis und Duldung durch die höheren Ränge der RPF schließen lässt, wenn nicht sogar auf Planung. Erst im August und vor allem im September ließen diese Menschenrechtsverletzungen infolge erheblichen internationalen Drucks nach. Die RPF verwehrte UN-Vertretern, Menschenrechtsorganisationen und Journalisten, Hinweisen auf Menschenrechtsverletzungen durch Rebellen nachzugehen. Robert Gersony, ein leitender Mitarbeiter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR), trug von Anfang August bis Anfang September 1994 umfassende Informationen zusammen, die die Systematik der schweren Menschenrechtsverletzungen unterstrichen. Seinem Bericht zufolge starben zirka 25.000 bis 45.000 Personen durch Menschenrechtsverletzungen von RPF-Einheiten. Der UNHCR dementierte später die Existenz des Gersony-Berichts. Kritiker dieser UNHCR-Position behaupten, dies sei geschehen, weil sich die UN, die Vereinigten Staaten und die Regierung Ruandas darauf verständigt hätten, diesen Vergehen der RPF öffentlich wenig Gewicht beizumessen, um die neue Regierung Ruandas nicht zu brüskieren. Internationale Reaktionen Ein Kernelement des Arusha-Abkommens bestand in der Aufstellung von UN-Friedenstruppen in Ruanda. Der kanadische General Roméo Dallaire befehligte ab Oktober 1993 die UNAMIR, die von Beginn an mit erheblichen Problemen kämpfte. RTLM unterstellte dem belgischen Kontingent der UNAMIR, auf Seiten der Rebellen zu stehen. Der Großteil der Blauhelmtruppe, die Ende März 1994 eine Stärke von zirka 2500 Mann erreichte, waren Soldaten aus Ghana und Bangladesch. Die militärischen Fähigkeiten und Ressourcen insbesondere der Bengalen erwiesen sich in den kommenden Monaten oft als unzureichend. Die Finanzierung der Truppe war über lange Monate ungesichert. Eine weitere Schwierigkeit lag im Mandat. Die UNAMIR hatte einen Auftrag nach Kapitel VI der Charta der Vereinten Nationen. Allein die Förderung des Friedens, eine sogenannte Friedensmission, war möglich, nicht die Erzwingung des Friedens gegen eine oder mehrere Kriegsparteien – ein solches Vorgehen hätte ein Mandat nach Kapitel VII der Charta erfordert. Den UNAMIR-Soldaten war der Einsatz von Waffen nur im äußersten Notfall zur Selbstverteidigung gestattet. Im Januar 1994 erhielt Dallaire Kenntnis von geheimen Waffenlagern, Todeslisten, geplanten Angriffen auf die belgischen UNAMIR-Soldaten sowie der gezielten Torpedierung des Arusha-Friedensprozesses und geplanten Massentötungen in den folgenden drei Monaten. Er informierte am 11. Januar seine Vorgesetzten in der UN-Zentrale darüber per Fax. Verantwortlich für UN-Auslandseinsätze war zu diesem Zeitpunkt der spätere Generalsekretär der Vereinten Nationen und Friedensnobelpreisträger Kofi Annan. Dessen Büro wies Dallaire ausdrücklich an, das Mandat nach Kapitel VI eng auszulegen und die Waffenverstecke nicht auszuheben, sondern das Gespräch mit Präsident Habyarimana zu suchen. Auch weitere Warnungen des UNAMIR-Befehlshabers sowie seine Bitten um eine Stärkung des Mandats und um bessere Ausrüstung der UNAMIR blieben ohne Wirkung. Dallaire warf Kofi Annan später Mitschuld am Völkermord vor. Ein Artikel vom 3. Mai 1998 in The New Yorker legt nahe, dass Annan die wiederholten Hilfsersuche und Berichte aus Ruanda über den bevorstehenden Völkermord zurückgehalten und nicht an den UN-Sicherheitsrat weitergeleitet habe. Nach dem Ausbruch der Gewalt, insbesondere als Reaktion auf die Tötung der zehn belgischen UNAMIR-Soldaten, reduzierte die UN ihre Blauhelmtruppe von zirka 2500 Mann auf 270 Soldaten. Insbesondere der vollständige Abzug der Belgier war laut Dallaire ein schwerer Schlag für die UNAMIR. Weil ein Teil der Blauhelme nicht ausgeflogen werden konnte, verblieben jedoch 540 Mann vor Ort. Ruander, die in der Nähe von Blauhelmtruppen Schutz gesucht hatten, fielen nach dem Abzug ihren Mördern in die Hände. Das bekannteste Beispiel dafür ist das Massaker an der École Technique Officielle in Kigali. Unmittelbar nach dem Rückzug von 90 Belgiern töteten Milizionäre und Angehörige der ruandischen Armee etwa 2000 Menschen, die in dieser Schule Zuflucht gesucht hatten. Kritiker des UN-Abzuges sehen in diesem einerseits die Beseitigung des letzten Schutzes für die Bedrängten, andererseits einen Freibrief für die Täter zur Fortsetzung des Völkermords. Frankreich und Belgien organisierten mit Unterstützung durch Italien und die Vereinigten Staaten die Evakuierungsaktion Opération Amaryllis. Belgische und französische Elitetruppen brachten dabei vom 8. bis zum 14. April 1994 zirka 4000 Ausländer in Sicherheit, nicht jedoch Ruander, die bei ausländischen Institutionen angestellt waren und bereits bedroht wurden. Deutsche Kapazitäten zur Evakuierung waren nicht verfügbar. Dies wurde als Hauptursache für die Gründung des Kommando Spezialkräfte angesehen. Trotz der zunehmenden Informationsdichte über das Ausmaß der Gewalttaten vermied es die amerikanische Regierung bewusst, von einem Völkermord zu sprechen. Wären die Geschehnisse so bezeichnet worden, wäre die internationale Gemeinschaft gemäß der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes zwingend zum Handeln verpflichtet gewesen. Stattdessen sprachen Vertreter der US-Regierung von „Chaos“ oder möglichen „genozidalen Akten“. Die Wahl dieser Begrifflichkeit hing mit den nur wenige Monate zuvor gemachten Erfahrungen während der UNOSOM II zusammen, die als bewaffnete humanitäre Aktion in Somalia Anfang Oktober 1993 gescheitert war. Nachdem 18 US-Soldaten bei dieser Mission getötet worden waren und die Bilder der Schändung ihrer Leichen weltweit im Fernsehen zu sehen waren, zeigte die USA keine Bereitschaft, in Schwarz-Afrika erneut eine humanitäre Mission zu starten. Verfestigt wurde dies durch eine Presidential Directive (PDD 25) von 1993. Ruanda galt überdies als Land ohne strategischen Wert. Der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Boutros Boutros-Ghali, wählte ebenfalls undeutliche Formulierungen. Am 20. April 1994 sprach er von einem Volk, das in „verhängnisvolle Umstände geraten“ sei. Zu diesem Zeitpunkt nannten Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und die Fédération Internationale des Ligues des Droits de l’Homme die Ereignisse bereits ausdrücklich Völkermord. Zufälligerweise hatte Ruanda in den Wochen des Genozids als nichtständiges Mitglied einen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Die Regierung Ruandas war damit über die Diskussionen und Stimmungen in diesem Gremium aus erster Hand informiert. Am 16. Mai 1994 nahmen Vertreter der ruandischen Regierung an einer Sitzung des Sicherheitsrates teil. Von den 14 übrigen Mitgliedern kritisierte nur eine Minderheit die Vertreter Ruandas für die exzessiven Gewalttaten. Die für den Völkermord verantwortliche Regierung konnte aus diesem Verhalten schließen, dass dem Sicherheitsrat keine klaren Informationen vorlagen und er sich nicht zu klaren Worten entschließen würde. Von Ende April bis Mitte Mai 1994 setzte ein Stimmungsumschwung ein, nachdem immer häufiger Fernsehberichte Flüchtlinge zeigten, die massenhaft aus Ruanda ins westliche Nachbarland Zaire flohen. Dieser Flüchtlingsstrom setzte sich aus Hutu zusammen, die vor den anrückenden RPF-Einheiten zurückwichen. Die Sorge vor Vergeltung, die von den Radiosendern massiv geschürt wurde, trieb sie dazu an. Zugleich zwangen Hutu-Milizen diese Flüchtlinge dazu, ihnen als menschlicher Schutzschild zu dienen. Am 17. Mai beschloss der UN-Sicherheitsrat den Einsatz von UNAMIR II. Diese Truppe sollte 5500 Mann umfassen und mit einem robusteren Mandat als die Vorgängertruppe ausgestattet sein, das den militärischen Schutz bedrohter Zivilisten gestattete. Trotz dieses Beschlusses verzögerte sich die Aufstellung der geforderten Truppen und die Bereitstellung des notwendigen militärischen Materials. Als die RPF Mitte Juli den Bürgerkrieg gewonnen hatte, war immer noch ungefähr die gleiche Anzahl von Blauhelm-Soldaten in Ruanda wie unmittelbar nach der Truppenreduzierung. Vor diesem Hintergrund ergriff Frankreich die Initiative und stellte sich an die Spitze der Opération Turquoise. Diese humanitäre Intervention war gestützt auf Kapitel VII der UN-Charta und führte ab dem 24. Juni 1994 zur Bildung und Aufrechterhaltung einer Sicherheitszone im Südwesten Ruandas. In diesem Gebiet, das etwa ein Fünftel Ruandas ausmachte, ballten sich die Hutu-Flüchtlinge. Erklärter Zweck war der Schutz der Zivilisten innerhalb dieser Zone sowie die Förderung der Verteilung von Hilfsgütern durch Hilfsorganisationen. Die Operation stieß, obwohl sie vielen Zivilisten Sicherheit brachte, von Beginn an auf Kritik. Die RPF sah in dieser Maßnahme die Fortsetzung des Versuchs Frankreichs, die alte Regierung Ruandas zu stützen und den Sieg der RPF zu vereiteln. Diese Sichtweise wurde dadurch gefördert, dass extremistische Hutu den Einmarsch der Franzosen euphorisch begrüßten und versuchten, sie zum Kampf gegen die Rebellen zu animieren. Die Interventionstruppe entwaffnete die Hutu-Milizen nicht und wirkte einer Flucht von Tätern und Regierungsangehörigen ins Ausland nicht entgegen. Auch dies förderte die Kritik an der Politik Frankreichs. Am 21. August 1994 übergaben die Franzosen die Zone der nunmehr personell gestärkten UNAMIR II. 2010 räumte der französische Präsident Nicolas Sarkozy mit Blick auf den Völkermord 1994 in Ruanda schwere Fehler seines Landes ein. „Es hat eine Form von Blindheit gegeben, wir haben die Dimension des Völkermords nicht wahrgenommen“. 2014 berichteten deutsche Medien über eine mögliche Kenntnis deutscher Behörden von den Vorbereitungen des Völkermords. Ein Bundeswehroffizier, damals Mitglied einer Militärberater-Mission, habe das Bundesverteidigungsministerium vor möglichen Massakern gewarnt. Geschehen sei daraufhin nichts. Auch der deutsche Botschafter in Ruanda habe Informationen über die Gefahr einer Gewalteskalation ignoriert. Folgen Flüchtlingskrise Der Völkermord destabilisierte die gesamte Region der Großen Afrikanischen Seen. Mehr als zwei Millionen Ruander flohen außer Landes. Als Reaktion auf diese Flüchtlingsströme, auf die Ausbreitung von Seuchen und eine sehr hohe Sterblichkeit in den Flüchtlingslagern setzte eine umfassende internationale Hilfsaktion ein. Schwerpunkt waren dabei die Lager in Ostzaire, nahe der Stadt Goma. Hier lebten die meisten Flüchtlinge. In diesen grenznahen Lagern übernahmen extremistische Hutu rasch die Macht. Sie bauten die Camps zu Basen für die Wiedereroberung Ruandas aus, ohne dass diesem Missbrauch durch Hilfsorganisationen oder UN-Einrichtungen effektiv widersprochen worden wäre. Extremistische Politiker, ehemalige Verwaltungsangestellte, Soldaten und Milizionäre zwangen die zivile Flüchtlingsbevölkerung, diesen Missbrauch zu decken. Die fortgesetzte politische Aufwiegelung gegen Tutsi und widerständlerische Hutu, die Kontrolle der Hilfsgüterverteilung, die Beschaffung von Waffen für den Wiedereinmarsch in Ruanda, die Rekrutierung neuer Kämpfer aus den Reihen der Flüchtlinge und die Etablierung militärischer Trainingscamps gehörten in diesen Lagern zum Alltag. Nach einer Reihe von Sabotageakten in Ruanda aus diesen Lagern heraus sowie nach der massiven Bedrohung der Banyamulenge, die als eine den Tutsi nahestehende Ethnie seit Generationen in Ostzaire lebten, wurden diese Lager ab Ende 1996 durch eine gemeinsame Aktion von Verbänden der Banyamulenge, der neuen ruandischen Armee und Militäreinheiten aus Uganda aufgelöst. Ungefähr 500.000 Flüchtlinge gingen zurück nach Ruanda und entzogen sich auf diese Weise dem Einfluss der extremistischen Hutu. Die Milizen und von ihnen dominierte Flüchtlingsgruppen, zusammen etwa 300.000 bis 350.000 Personen, zogen weiter ins Inland von Zaire. Diese Ereignisse bildeten zugleich den Auftakt des ersten Kongokrieges. Zur gleichen Zeit kehrten auch zirka 500.000 Flüchtlinge aus Tansania nach Ruanda zurück. Die Situation in den ostkongolesischen Provinzen Nord-Kivu und Süd-Kivu ist seit Jahren instabil. Zum Jahresende 2007 waren dort zirka 600.000 bis 800.000 Menschen auf der Flucht vor den Auseinandersetzungen der Forces Démocratiques de la Libération du Rwanda, einer etwa 6000 Mann starken Truppe aus Génocidaires und weiteren Hutu auf der einen Seite sowie einer 4000 bis 6000 Mann starken Tutsi-Kampfgruppe um Laurent Nkunda, die angeblich von Ruanda unterstützt wird, auf der anderen Seite. Vergewaltigungsopfer Die genaue Zahl der Frauen und Mädchen, die während des Völkermords in Ruanda vergewaltigt wurden, ist nicht bekannt. Nach Angaben von UNICEF wird die Zahl der vergewaltigten Mädchen und Frauen auf 250.000 bis 500.000 geschätzt. Die betroffenen Frauen leiden häufig unter sozialer Ächtung, denn auch in Ruanda gelten solche Taten zugleich als persönliche Schande der Opfer. Viele vergewaltigte Frauen sind durch die sexuellen Gewalttaten Mütter geworden – Schätzungen gehen von 2000 bis 5000 Fällen aus. Ein hoher Prozentsatz der Vergewaltigten ist HIV-positiv. Die Behandlung vergewaltigter Frauen, die an AIDS erkrankt sind, scheitert oft an den Kosten für die entsprechenden Medikamente. Personen, die auf Grund des Völkermords interniert sind, werden dagegen behandelt, weil entsprechende Ressourcen bereitgestellt werden. Haushalte ohne Erwachsene 1999 gab es in Ruanda schätzungsweise 45.000 bis 60.000 Haushalte, denen Minderjährige vorstanden. Zirka 300.000 Kinder lebten in solchen Haushalten, von denen knapp 90 Prozent von Mädchen geführt wurden, die über kein reguläres Einkommen verfügten. Die Kinder erhielten kaum Hilfen, sondern wurden weitgehend sich selbst überlassen, ohne dass sie in der Lage gewesen wären, die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse sicherzustellen. Die Ausbreitung von AIDS, die durch die Vergewaltigungen während des Völkermords einen Schub erfuhr, machte 160.000 Kinder zu Waisen. Ein Anwachsen dieser Zahl ist zu erwarten. Allein für Kigali wird der Anteil der schwangeren Frauen, die mit HIV infiziert sind, auf 30 Prozent geschätzt. Unmittelbar nach dem Völkermord lag der Frauenanteil in Ruanda durch die Ermordung, Flucht oder Verhaftung von Männern bei zirka 70 Prozent. Unter dem Aspekt der höheren Frauenquote wird der Völkermord in speziellen Publikationen deshalb auch als Gendercide bezeichnet. In bestimmten Gebieten Ruandas führte diese Situation zur Praxis des Männer-Sharing (kwinjira), das neben möglichen persönlichen Konflikten auch neue Gefahren in Bezug auf die Verbreitung von AIDS birgt. Jugendliche Täter Eine Besonderheit des Genozids in Ruanda ist eine große Anzahl jugendlicher Täter. Häufig waren sie über ihre eigenen Taten traumatisiert. Zirka 5000 Jugendliche wurden inhaftiert. Die zum Zeitpunkt der Ereignisse unter Vierzehnjährigen wurden bis 2001 freigelassen. Die fehlende Ausbildung, die Jahre der Haft während der Jugendzeit und der Verlust der Vorbildfunktion der Elterngeneration führen in dieser Gruppe zu einer ausgeprägten Perspektiv- und Orientierungslosigkeit. Eine Rückführung dieser Kinder in ihre Familien ist oft problematisch. Vielfach werden sie aus ökonomischen Gründen oder aus Angst vor Repressionen abgewiesen. Religion und Genozid Ruanda galt bis 1994 als das am stärksten katholische Land in Afrika. 68 Prozent der Bevölkerung zählten vor April 1994 zur katholischen Kirche, 18 Prozent gehörten protestantischen Kirchen an. Ungefähr ein Prozent waren Muslime. Gegen alle christlichen Gemeinschaften mit Ausnahme der Zeugen Jehovas werden Vorwürfe erhoben, in den Völkermord verstrickt gewesen zu sein. In besonderem Maß wird der katholischen Kirche eine indirekte Mitverantwortung vorgeworfen. Sie verfügte über enge Beziehungen zur Machtgruppe um Habyarimana. Die Vorwürfe umfassen das mehrheitliche Schweigen des Klerus zum Völkermordgeschehen, aber auch Begünstigung von und Aufruf zu Straftaten und in einigen Fällen unmittelbare Täterschaft. So wurde der katholische Priester Athanase Seromba vom Ruanda-Tribunal in erster Instanz wegen Beihilfe zum Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen. Er soll 2000 Menschen in die von ihm verwaltete Kirche gelockt haben. Statt ihnen Zuflucht zu gewähren, habe er jedoch religiöse Symbole entfernt und den Befehl gegeben, das als weltlich deklarierte Gebäude mit einer Planierraupe einzureißen. Die Überlebenden wurden anschließend von Hutu-Soldaten getötet. Kirchen waren häufig Tatorte von Massakern, ohne dass Kirchenvertreter stets eine leitende Rolle gehabt hätten. Alleine in Ruanda wurden jedoch bis 2006 mehr als zwanzig Geistliche für ihre Beteiligung am Genozid angeklagt. Andererseits schützte eine Reihe von Kirchenvertretern Verfolgte und trat der Gewalt vor Ort entgegen. Zugleich zählten mehrere Hundert Kleriker, insbesondere Tutsi und regierungskritische Priester, zu den Opfern der Gewalttaten. Die Beteiligung am Genozid führte zu einem Vertrauensverlust in die etablierten Kirchen, vielen Kirchenaustritten und einer verstärkten Zuwendung zu Freikirchen und zum Islam. Eine Auseinandersetzung mit dem Schweigen des Klerus und mit der aktiven Beteiligung einiger Kirchenvertreter an Völkermordstraftaten hat bei den betroffenen Kirchen bislang kaum stattgefunden. Es gibt jedoch von einigen Kirchen wie den protestantischen Kirchen Ruandas Schuldbekenntnisse oder Entschuldigungen. 1996 lehnte Papst Johannes Paul II. eine Mitverantwortung der katholischen Kirche für den Völkermord ab. Die Schuld liege allein bei einzelnen Tätern aus den Reihen der Gläubigen. Papst Franziskus bat 2017 hingegeben um Vergebung. Während des Genozids haben Muslime auffällig oft bedrohte Tutsi und Hutu beschützt. Eine umfassende Teilnahme an den Gewalttaten ist nicht bekannt, jedoch gibt es auch Beispiele von Muslimen, die zu Tätern wurden. Als Gruppe waren sie zugleich nicht das Ziel der Gewalt. Viele Ruander hielten sie nicht für Einwohner des Landes, sondern für eine Sondergruppe, die ihre Identität nicht aus dem Bezug zur geografischen Heimat, sondern aus der Gemeinschaft der Muslime herleitete. Die Rettung existenziell bedrohter Menschen und die weitgehende Verweigerung, sich am Genozid zu beteiligen, haben die Wertschätzung der Muslime im postgenozidären Ruanda nachhaltig verbessert. Sie gelten als Beispiel für die anzustrebende nichtethnische, die ruandische Identität. Der Anteil der Muslime ist seit Mitte 1994 sehr stark angestiegen und belief sich im Jahr 2006 auf ungefähr 8,2 Prozent. Eine Rolle spielt auch, durch den Übertritt zum Islam möglichen zukünftigen Gewaltausbrüchen entgehen zu können. Führende Muslime in Ruanda betrachten es als ihre Aufgabe, zur Versöhnung von Tutsi und Hutu beizutragen, und nennen diese Obliegenheit den „Dschihad“ in Ruanda. Islamischer Fundamentalismus wird in Ruanda nicht beobachtet. Juristische Aufarbeitung Die juristische Aufarbeitung des Völkermords findet auf drei Ebenen statt. Vor dem Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR) wurden bis 2015 Verfahren gegen hochrangige Planer und Organisatoren des Völkermords verhandelt. Dieses Ad-hoc-Gericht basiert auf einem Beschluss des Sicherheitsrates und führt die entsprechenden Prozesse im tansanischen Arusha. Kritiker halten dem Strafgerichtshof Ineffizienz vor. Seit der Aufnahme seiner Tätigkeit im November 1995 sprach er bis Anfang April 2014 in 75 Fällen Urteile, zwölf davon waren Freisprüche. 16 der 75 Verfahren befanden sich in der Berufung. Darüber hinaus wurden zehn Fälle an nationale Gerichte überwiesen, zwei Angeklagte verstarben vor Prozessende, zwei Anklagen wurden fallengelassen. Kritiker bemängeln, dass die Anzahl der Prozesse trotz eines durchschnittlichen Jahresbudgets von 100 Millionen US-Dollar und über 800 Angestellten relativ niedrig sind. Zu dieser Kritik an mangelnder Effizienz kommt der Vorwurf einer ungenügenden Öffentlichkeitsarbeit hinzu. Kaum jemand in Ruanda und im Ausland interessiere sich für die Prozesse in Arusha. Zugutegehalten wird dem Gericht, dass es Einzelne nicht nur wegen Völkermordverbrechen anklagte, sondern auch aburteilte, dass Jean Kambanda, Staatsoberhaupt während des Genozids, in seinem Verfahren ein umfassendes Schuldeingeständnis formulierte und dass Vergewaltigungen beziehungsweise sexuelle Verstümmelungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und durch das als richtungsweisend geltende Urteil gegen Jean Paul Akayesu als Völkermordhandlungen anerkannt wurden. Als gemeinsame Nachfolgeeinrichtung des ICTR und des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien fungiert seit Juli 2012 der Internationale Residualmechanismus für die Ad-hoc-Strafgerichtshöfe. Der Großteil der Täter bleibt der nationalen Gerichtsbarkeit Ruandas überlassen, der zweiten Ebene der juristischen Behandlung des Genozids. Diese ist aber aufgrund der großen Fallzahl nicht in der Lage, für zeitnahe Gerichtsverhandlungen zu sorgen. Den Völkermord überlebten nur wenige Richter. Trotz international geförderter Trainingsprogramme und Aktivitäten zum Wiederaufbau des Justizsystems blieben die Leistungsfähigkeit sowie die Unabhängigkeit der nationalen Gerichte unzureichend. Bis 2004 gab es durch ordentliche ruandische Gerichte etwa 10.000 Urteile, 20 Prozent davon waren Freisprüche, 10 Prozent waren Todesurteile. Von 2005 bis 2012 fanden daher Völkermordprozesse landesweit in sogenannten Gacaca-Gerichten statt. Zentrales Ziel der Schaffung dieser dritten Ebene war die Beschleunigung der Völkermordprozesse und die Bewältigung ihrer großen Zahl. Sozial anerkannte, gewählte Laienrichter – ihre Gesamtzahl belief sich auf etwa 260.000 – urteilten hier in öffentlichen Versammlungen, die gesetzlich festgelegten Regeln folgten und bei denen mindestens 100 Erwachsene anwesend sein mussten. Es gab in Ruanda zirka 10.000 solcher Gerichte. Neben der Rechtsprechungsfunktion sollten die Gacacas auch soziale Aufgaben erfüllen. Täter und Opfer sollten das Geschehen rekonstruieren, das Leid der Opfer sollte in den Verhandlungen öffentlich sichtbar gemacht werden. Hutu und Tutsi waren dabei nach Möglichkeit miteinander zu versöhnen. Die anfängliche Euphorie wich landesweiter Ernüchterung. Oftmals kam das notwendige Quorum von 100 erwachsenen Anwesenden nicht zusammen, weil an den Verfahren Desinteresse bestand. Häufig wurden die Leiden der Tutsi nicht von den Hutu anerkannt, Hutu fühlten sich kollektiv angeprangert, Entschädigungen für Opfer konnten nicht gezahlt werden, Drohungen gegen Zeugen waren nicht wirksam zu unterbinden, viele Opfer konnten sich nicht an den genauen Tatablauf erinnern, was eine sichere Zuordnung von Gewalttaten zu einzelnen Personen oft unmöglich machte. Skeptische Stimmen fürchteten, dass viele inhaftierte mutmaßliche Täter aufgrund von Amnestien keinen Prozess bekommen würden. Hinzu kam, dass ein Ansteigen der Prozessanzahl erwartet wurde. Statt mit 80.000 Verfahren wurde teilweise mit 1.000.000 Prozessen gerechnet, weil die Schwelle für Anklagen sank. Häufig reichten Denunziation, ein bloßer Verdacht oder das Umlenken von Anklagen auf andere, bisher nicht von der Strafjustiz beachtete Personen. Kritiker der Gacaca-Gerichtsbarkeit stellten vor dem Hintergrund solcher Schätzungen ein Scheitern jeder Versöhnungsabsicht fest, wenn nicht gar den Versuch der in Ruanda Regierenden, die Hutu durch Gacacas kollektiv zu kriminalisieren und auf diese Weise die Herrschaft der Tutsi zu festigen. Trotz dieser Mängel plädierten internationale Beobachter nicht für ein Ende der Gacaca-Gerichtsbarkeit, sondern für ihre schrittweise Verbesserung. Im Juni 2012 stellten die Gacaca-Gerichte ihre Tätigkeit offiziell ein. Im 2006 eröffneten internationalen Mpanga-Gefängnis mit 8000 Haftplätzen wurden Täter des Völkermordes in Ruanda, aber auch vom Sondergerichtshof für Sierra Leone verurteilte Personen inhaftiert. Die Gefangenen aus Ruanda wurden in einem gesonderten Trakt untergebracht. Ephraim Nkezabera, der sogenannte „Bankier des Genozids“ wurde 2004 in Brüssel verhaftet. Dem ehemaligen Bankdirektor wurde neben verschiedenen Kriegsverbrechen auch vorgeworfen, die Interahamwe-Milizen finanziert und ausgerüstet zu haben, sowie an der Finanzierung des Senders Radio-Télévision Libre des Mille Collines beteiligt gewesen zu sein. 2009 wurde er von einem belgischen Gericht wegen Kriegsverbrechen zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Im Mai 2020 nahm die französische Polizei den unter falscher Identität in Asnières-sur-Seine lebenden, per internationalen Haftbefehl gesuchten, Félicien Kabuga fest. Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda hatte ihn unter dem Vorwurf angeklagt, die Interahamwe-Miliz gegründet zu haben. Kabuga wird von Medien als Finanzier des Völkermords bezeichnet. Gedenkstätten In vielen Landesteilen gibt es seit 1995 Gedenkstätten zur Erinnerung an den Völkermord. In der nationalen Gedenkwoche, einer Woche im April, werden neue Erinnerungsorte eingeweiht und bestehende für kollektive Trauer- und Gedenkveranstaltungen genutzt. Der ruandische Staat konzentriert sich in seiner Arbeit auf sieben derartige Einrichtungen. Sie werden mit Hilfe ausländischer Partner als Orte der Trauer, der Erinnerung, der Reflexion, des Austauschs, des Lernens und der Prävention ausgebaut und gepflegt. Das zentrale Museum dieser Art, das Kigali Genocide Memorial, wurde 2004 in der ruandischen Hauptstadt eröffnet. Die Gemeinschaftsgräber dieser Einrichtung beherbergen die Überreste von zirka 250.000 Menschen. Ein Teil der Anlage ist das nationale Dokumentationszentrum zum Genozid. Zu den sieben zentralen Gedenkstätten, darunter das Murambi-Genozid-Erinnerungszentrum, kommen zirka 200 regionale und lokale hinzu. Sie befinden sich an Orten, an denen während des Völkermords größere Gruppen von Menschen ermordet wurden. Durch die Gestaltung der Gedenkstätten wird eine politische und diskursive Absicht verfolgt. Vielfach sind bewusst Hunderte von Knochen sichtbar ausgestellt. Sie dienen als materielle Beweise für die umfangreichen Gewalttaten. Die Leugnung und Verharmlosung des Genozids soll auf diese Weise erschwert werden. Die öffentliche Präsentation der sterblichen Überreste rief außerhalb und vor allem innerhalb Ruandas Kritik hervor. Eine solche Praxis verstoße gegen ruandische Traditionen im Umgang mit Toten, die vorsehen, die sterblichen Überreste Verstorbener möglichst rasch und unauffällig beizusetzen. Die in Gedenkstätten beigesetzten Opfer sind ausschließlich Tutsi, Hutu werden dort nicht bestattet. Dies sei eine Diskriminierung von Opfergruppen. Viele Hutu sind darüber verärgert, dass sie hier kaum als Opfer wahrgenommen werden, obgleich sie durch Bürgerkrieg, Flüchtlingselend und Racheakte Schaden genommen haben. Den Regierenden wird außerdem unterstellt, sie instrumentalisierten die Erinnerung an den Völkermord bei der Einwerbung von Mitteln für die Entwicklungszusammenarbeit. Durch die Anlage und Pflege von Genozidgedenkstätten werde in internationalen Geberinstitutionen das schlechte Gewissen über die passive Haltung der Weltgemeinschaft zwischen April und Juli 1994 aufrechterhalten. Versöhnungspolitik Die Regierung Ruandas unter der Führung der RPF versuchte nach dem Ende des Völkermords eine Politik des Wiederaufbaus und der Versöhnung. Diese Politik, von Paul Kagame wesentlich geprägt, war von der Abwehr der Gefahr durch Hutu-Extremisten beeinflusst, die von Zaire aus Ruanda destabilisieren und rückerobern wollten. Diese Bedrohung und die Erfahrung des Völkermords führten zur Herausbildung eines ausgeprägten Sicherheitsbedürfnisses, das die Ablehnung innenpolitischer Demokratisierungsforderungen wesentlich mit beeinflusst. Internationale Beobachter kritisieren erhebliche Mängel, wenn es um die Wahrung von Menschenrechten sowie um Presse- und Meinungsfreiheit geht. Öffentlich darf in Ruanda nur von Banyarwanda, von Ruandern, nicht mehr von Tutsi, Twa oder Hutu gesprochen werden. Die Regierung hat entsprechende Eintragungen in den Personalpapieren abgeschafft. Wer mit Bezug auf die Gegenwart mit ethnischen Begriffen argumentiert, kann wegen „Divisionismus“, also der gezielten Spaltung der Bevölkerung, angeklagt werden. Zugleich zeigen Umfragen, dass die Bevölkerung sehr wohl in ethnischen Kategorien denkt und mit ihnen Menschen unterscheidet. Viele Ruander beteiligen sich nicht an politischen Diskussionen, weil sie fürchten, bei nicht-konformen Meinungsäußerungen mit dem Vorwurf der Beteiligung am Völkermord bestraft zu werden. Partizipationsangebote – wie die Erörterung der Verfassung, die Planung der Gacaca-Gerichtsbarkeit oder das Engagement in den seit 1999 von der Nationalen Kommission für Einheit und Versöhnung landesweit organisierten Aussöhnungsforen – werden darum nur bedingt angenommen. Die Legitimation der Regierung in der internationalen Gemeinschaft, bei Geberinstitutionen und bei Teilen der Bevölkerung sank durch die unübersehbare Dominanz der RPF im politischen Raum und durch die Interventionen im Kongo. Die Trennlinien der Gesellschaft zwischen Hutu und Tutsi sind nicht überwunden. Die Twa führen weiterhin ein soziales und politisches Schattendasein und sind kaum in der Lage, ihre Interessen zu artikulieren. Trennlinien sind zudem erkennbar zwischen Tutsi, die den Völkermord in Ruanda überlebt haben, und Tutsi, die nach Mitte 1994 aus dem Ausland zurückgekehrt sind. Diese Verwerfungen konnten bisher (Stand 2020) durch neu eingeführte nationale Symbole – dazu gehören die Hymne und die Flagge – und eine Neuordnung der Verwaltungsgliederung Ruandas nicht überdeckt werden. Ermittlungen und Klagen gegen RPF-Vertreter Gegen Paul Kagame und weitere Leitungskräfte der RPF sind wiederholt Ermittlungen aufgenommen und Klagen erhoben worden, weil der Verdacht besteht, dass dieser Personenkreis führend an Verbrechen beteiligt gewesen ist. Am ICTR hat die Schweizerin Carla Del Ponte im Jahr 2000 Ermittlungen gegen RPF-Mitglieder initiiert, die im Verdacht stehen, während des Bürgerkriegs und anschließend schwere Verbrechen begangen zu haben. Diese Ermittlungen, die nicht abgeschlossen wurden, stießen bei der ruandischen Regierung auf Missfallen. Das soll 2003 mit zur Ablösung del Pontes als Chefanklägerin des ICTR beigetragen haben. Der französische Ermittlungsrichter Jean-Louis Bruguière erhob gegen den ruandischen Präsidenten und neun weitere Personen Anklage. Sie werden für den Abschuss der Präsidentenmaschine am 6. April 1994 verantwortlich gemacht und damit für die Ermordung der Crew und aller Insassen des Flugzeugs. Die Anklage führte zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Frankreich und Ruanda. Im Februar 2008 wurden in Spanien internationale Haftbefehle gegen 40 Angehörige der RPF ausgestellt. Die Gesuchten werden beschuldigt, in Ruanda und Zaire schwere Verbrechen begangen zu haben. Kagame zählt zum Kreis der Beschuldigten. Die ruandische Regierung sprach von einer Kampagne, die von Hutu-Extremisten inszeniert worden sei. Im November 2008 gerieten die Beziehungen von Deutschland und Ruanda in eine Krise. Deutsche Behörden hatten zuvor Rose Kabuye, eine Vertraute Kagames sowie ehemals ranghohes Mitglied der RPF, festgenommen und an Frankreich ausgeliefert. Die französischen Behörden werfen ihr die Beteiligung am Abschuss der Maschine von Juvénal Habyarimana vor. Rolle Frankreichs beim Völkermord Der ruandischen Regierung zufolge liegt ein Report vor, der zwanzig französischen Militärangehörigen sowie zwölf Politikern, darunter Édouard Balladur, Alain Juppé und François Mitterrand, eine führende Rolle bei der Durchführung der Massaker zuweist. Im August 2008 folgte als Reaktion Ruandas die Drohung, internationale Haftbefehle gegen hochrangige französische Offizielle zu erlassen. In einer ersten Reaktion von französischer Seite wurden sämtliche Anschuldigungen entschieden zurückgewiesen. Frankreich unterhielt seit der Hutu-Revolution enge Kontakte zur Regierung und betrachtete Ruanda als wesentlichen Teil der Frankophonie und damit des eigenen Einflussbereichs in Afrika. Die Übergriffe der RPF wurden als „anglophone“ Aggression und Bedrohung empfunden, als Versuch, Ruanda zu übernehmen und aus dem französischen Einflussbereich herauszulösen. In diesem Zusammenhang wurde Frankreich auch beschuldigt, mit der légion présidentielle einen Stab für Strategie und psychologische Kriegführung innerhalb der ruandischen Armee geschaffen zu haben, der nur auf Weisung Mitterrands gehandelt habe. Nach Beginn des Völkermords seien überdies zahlreiche französische Militärs im Lande geblieben. Sie seien in ruandische Hutu-Armeeeinheiten eingegliedert worden, die aktiv am Völkermord teilnahmen. Nach einer Verlautbarung des ruandischen Justizministeriums sollen französische Soldaten auch im Rahmen der Opération Turquoise aktiv an den Massakern teilgenommen haben. Im April 2019 teilte der französische Präsident Emmanuel Macron mit, er habe eine Historikerkommission damit beauftragt, „alle französischen Archive in Bezug auf Ruanda zwischen 1990 und 1994“ einzusehen und einen Bericht zur Rolle Frankreichs zu erarbeiten. Diese Historikerkommission betonte in dem im März 2021 veröffentlichten Abschlussbericht, Frankreich trage eine „schwere und erdrückende Verantwortung“ für den Genozid. Die Historiker bewerteten Frankreichs Agieren als „Blindheit“ und „Versagen“, weil es den Völkermord nicht verhindert habe. Unter dem damaligen Präsidenten François Mitterrand habe das Land „bedingungslos“ das „rassistische, korrupte und gewalttätige“ Regime Juvénal Habyarimanas unterstützt. Mitterrand habe enge persönliche Beziehungen zu Habyarimana unterhalten und diesen mehrfach in Paris empfangen. Eine „Mittäterschaft“ Frankreichs an den Tötungen konnte die Kommission nicht nachweisen. Staatspräsident Macron sagte im Mai 2021 bei einem Staatsbesuch in Ruanda, nichts könne einen Völkermord entschuldigen. Er hoffe auf Vergebung. Deutungen und Debatten Die Ereignisse in Ruanda zwischen April und Juli 1994 wurden von Politik und Publizistik zunächst fast durchweg als „Stammesfehde“ bezeichnet. Uralter Hass sei mit einer Plötzlichkeit und Heftigkeit ausgebrochen, die die Betrachter kopfschüttelnd zurückließen. Relativ rasch deuteten Menschenrechtler und Wissenschaftler das Geschehen ganz anders. Die Gewalt sei modern, systematisch und beabsichtigt gewesen. Ein bestimmter Kreis extremistischer Hutu-Politiker habe sie geplant und sie gezielt gegen eine rassisch definierte Minderheit gelenkt. Für die Freisetzung der Gewalt habe dieser Kreis moderne, in der Kolonialzeit manipulierte ethnische Kategorien genutzt sowie eine moderne Ideologie des ethnischen Nationalismus. Auch hätten diese Politiker gezielt die staatlichen Strukturen Ruandas zur Umsetzung ihrer Politik benutzt. Das Land habe keinen Rückfall in Tribalismus erlebt, sondern einen modernen Völkermord. Es gibt in der Literatur über den Völkermord in Ruanda keinen Konsens, was die Ursachen der Gewalt angeht. Es lassen sich drei große Erklärungsmuster unterscheiden. Das erste betrachtet den Völkermord als eine Maßnahme, zu der eine in ihrer politischen Macht existenziell herausgeforderte Gruppe – das „kleine Haus“ (akazu) – griff, um den drohenden Machtverlust abzuwenden. Der Völkermord erscheint damit als Manipulation einer Elite. Ein zweiter Erklärungsansatz bezieht sich auf die natürlichen Ressourcen Ruandas, die sich vor dem Völkermord immer rascher und dramatischer verknappten. Landknappheit, weitgehend fehlende Existenzgrundlagen außerhalb der Landwirtschaft, zugleich hohe Geburtenraten und letztlich eine „Überbevölkerung“ seien die entscheidenden Antriebskräfte der Völkermord-Gewalt gewesen. Ein drittes Erklärungsmuster rückt Annahmen über kulturelle Eigenheiten Ruandas und angeblich charakteristische sozialpsychologische Eigenschaften seiner Bewohner in den Mittelpunkt. Ruander seien es gewohnt gewesen, Befehlen fraglos zu folgen. Ein regelrechter Hang zum Gehorsam sei weit verbreitet. Dieser charakteristische Zug habe die Einbindung von Hunderttausenden als Täter möglich gemacht. Viele Studien befassen sich mit der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft für den Völkermord. Ein Großteil der Autoren kritisiert das Agieren der wesentlichen internationalen Akteure scharf. Der frühe Rückzug der UNAMIR und die wochenlange Inaktivität der entscheidenden internationalen Akteure hätten eine Mitverantwortung der Weltgemeinschaft für den Völkermord zur Folge. Möglichkeiten einer raschen Beendigung seien nicht genutzt worden, obwohl das Ausmaß der Gewalt frühzeitig bekannt gewesen sei. Der Politikwissenschaftler Alan J. Kuperman stellte zentrale Annahmen dieser Kritik an der Weltgemeinschaft in Frage. Er betont, frühzeitig habe es keine eindeutigen Beweise für einen Völkermord in Ruanda gegeben. Die Gewalttaten seien lange als Bürgerkriegserscheinungen interpretiert worden. Zudem hätte eine erfolgversprechende Intervention einige Wochen an logistischem Vorlauf benötigt. In dieser Zeit seien mindestens die Hälfte der Opfer bereits getötet worden. Die amerikanische Historikerin Alison Des Forges widersprach Kuperman entschieden. In den publizistischen Auseinandersetzungen spielt gelegentlich eine Rolle, inwieweit die Gewalttaten der RPF gegen Hutu ebenfalls als Völkermord einzuordnen seien. Wäre dies der Fall, müsse man von zwei, eventuell sogar von drei Völkermorden sprechen; einer hätte den Tutsi und den gemäßigten Hutu gegolten, dem zweiten seien Hutu innerhalb Ruandas zum Opfer gefallen, als die RPF die politische und militärische Macht übernahm, und der dritte Genozid sei in den Lagern Ostzaires an Hutu-Flüchtlingen begangen worden. Eine empirische Studie hat diese Frage untersucht. Der Autor berichtet über stark abweichende Tötungsmuster. Nur die Gewalt an den Tutsi und den oppositionellen Hutu sei ein Völkermord gewesen. Die Gewalt gegen die Hutu sei mit den Begriffen Terror beziehungsweise Massaker, nicht aber mit dem Begriff Genozid korrekt bezeichnet. Anfang Oktober 2010 erschien ein Bericht des UNHCHR. Ruanda wird darin vorgeworfen, schwere Menschenrechtsverletzungen im Kongo begangen zu haben bzw. an diesen beteiligt gewesen zu sein. Nach dem Bericht gebe es Indizien dafür, dass die von Ruandas Regierung unterstützen Milizen dort Völkermord verübt hätten. Opfer seien Hutu gewesen, insbesondere Kinder, Frauen, Alte und Kranke. Ruanda wies den Bericht zurück. Im Januar 2012 kam ein Bericht des französischen Untersuchungsrichters Marc Trévidic zu dem Ergebnis, dass das Flugzeug von Präsident Habyarimana 1994 durch eine Hutu-Rakete getroffen worden sei. Trévidic führte seine Ermittlungen mit Hilfe mehrerer Flug- und Ballistikexperten vor Ort durch. Die Rakete ist den Untersuchungen zufolge nicht aus einer Stellung der Tutsi-Rebellen abgefeuert worden, sondern aus dem Militärcamp Kanombé, also von Habyarimanas Regierungstruppen. Das Attentat auf Habyarimana hätte Hutu-Extremisten als Vorwand für den Genozid gedient. Filme, Erfahrungsberichte und Romane Dokumentarfilme Der Völkermord in Ruanda ist Gegenstand mehrerer Dokumentarfilme. 1994 fertigte Ulrich Harbecke für die Sendereihe Gott und die Welt des Westdeutschen Rundfunks die Dokumentation Requiem für Ruanda an. Ein Jahr später erschien die TV-Dokumentation Rwanda, how history can lead to genocide von Robert Genoud. Für die Reportage Der Mörder meiner Mutter. Eine Frau will Gerechtigkeit wurde Martin Buchholz im Jahr 2003 mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet. Im Mittelpunkt steht Eugénie Musayidire, Tochter einer während des Völkermords in Ruanda ermordeten Tutsi, die den Mörder ihrer Mutter sucht und bei der Gerichtsverhandlung gegen ihn anwesend ist. Greg Baker drehte den Dokumentarfilm Ghosts of Rwanda. für den nicht-kommerziellen amerikanischen Fernsehsender Public Broadcasting Service, der im Jahr 2004 erschien. Die vielfach ausgezeichnete Dokumentation The Last Just Man des aus Südafrika stammenden Regisseurs und Filmemachers Steven Silver über Roméo Dallaire erschien 2002. Roméo Dallaire steht auch im Mittelpunkt der kanadischen Produktion Shake Hands with the Devil – The Journey of Roméo Dallaire, die ebenfalls zehn Jahre nach dem Völkermord erschien. 2005 wurde die Dokumentation Kigali – Bilder gegen ein Massaker von Jean-Christophe Klotz veröffentlicht, der 1994 vor Ort war und verwundet wurde. In seiner Arbeit setzt der französische Journalist sich mit der Verwendung von TV-Material durch Medien und Politik auseinander. Wir kamen um zu helfen, ein Film von Thomas Gisler, beleuchtet die Rolle der Entwicklungshelfer, insbesondere der heutigen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA), durch Erfahrungsberichte von Mitarbeitern vor Ort im Zeitraum von 1960 bis zum Völkermord. Er geht der Frage nach, wie die damaligen Mitarbeiter vor Ort und die Entwicklungshilfe insgesamt sich im Angesicht der gesellschaftlichen Spannungen in Ruanda vor dem Genozid verhielten. Der Film wurde vom Historiker Lukas Zürcher begleitet. Spielfilme und Serien Auch Spielfilme befassen sich mit dem Völkermord. 2001 entstand die ruandisch-britische Koproduktion 100 Days, die von dem früheren BBC-Reporter Nick Hughes mit vornehmlich ruandischen Schauspielern in Ruanda gedreht und vom ruandischen Filmemacher Eric Kabera produziert wurde. Don Cheadle, Sophie Okonedo und Nick Nolte sind die Hauptdarsteller in Hotel Ruanda, einer internationalen preisgekrönten Produktion des Jahres 2004, die die Geschichte von Paul Rusesabagina und das Verhalten der Weltöffentlichkeit schildert. Die deutsch-britische Produktion Shooting Dogs erschien ein Jahr später und kreist um das Massaker an der École Technique Officielle. Als das Morden begann (Sometimes in April) ist ein Film des Regisseurs Raoul Peck. Diese 2005 veröffentlichte Produktion stellt das Schicksal zweier Brüder dar, von denen einer zum Täter, der andere zum Opfer der Gewalttaten wird. Roméo Dallaires Shake Hands with the Devil wurde 2006 mit Roy Dupuis in der Hauptrolle verfilmt und im September 2007 veröffentlicht. 2009 entstand unter der Regie von Philippe Van Leeuw das Drama Ruanda – The Day God Walked Away, in welchem eine junge Frau in den Dschungel flüchtet und sich während des Genozids dort versteckt. Im Januar 2019 veröffentlichte Netflix die Serie Black Earth Rising. Darin wird die Geschichte des Genozids in fiktiven Fällen gegen ruandische Kriegsverbrecher behandelt. Die Serie spielt in England, am internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (Niederlande) und Ruanda. Drehbuchautor und Produzent war Hugo Blick. Die Serie entstand aus einer Kooperation zwischen Netflix und BBC Two. Reportagen, Erfahrungsberichte, Sachbücher Die in London ansässige Organisation African Rights veröffentlichte bereits 1994 eine umfangreiche, in späteren Auflagen über tausendseitige Dokumentation mit dem Titel Rwanda. Death, Despair, and Defiance, die im Wesentlichen Augenzeugenberichte Überlebender enthält. In den nachfolgenden Jahren erschienen weitere Bände mit Zeugnissen von Überlebenden und am Völkermord Beteiligten, die speziellen Aspekten des Völkermordes gewidmet waren, so etwa der Rolle der Frauen und der Kirchen. Darüber hinaus gibt African Rights die Dokumentations-Reihe Witness to Genocide heraus, die Einzelschicksalen Raum gibt. Der irische Journalist Fergal Keane gewann 1995 den britischen Orwell-Preis für das beste politische Buch für den Reportageband Season of Blood, der von seinen Beobachtungen und Erlebnissen während einer Reise nach Ruanda 1994 erzählt. Der amerikanische Journalist Philip Gourevitch veröffentlichte 1998 das mit einer Reihe von Preisen ausgezeichnete Sachbuch Wir möchten Ihnen mitteilen, daß wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden. Roméo Dallaire, der Befehlshaber der UNAMIR-Mission in Ruanda zur Zeit des Völkermords, veröffentlichte 2003 seinen Ruanda-Bericht Shake Hands with the Devil: The Failure of Humanity in Rwanda (dt. 2005: Handschlag mit dem Teufel. Die Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in Ruanda). In ihm beschreibt er die Vorgeschichte des Völkermordes. Er schreibt über die Aktivitäten seiner wenigen ihm nach dem Abzug verbliebenen UNAMIR-Soldaten im Frühjahr 1994 und setzt sich sehr kritisch mit dem Verhalten der Völkergemeinschaft angesichts einer absehbaren Katastrophe auseinander. Von Jean Hatzfeld liegen seit 2004 zwei Bücher zum Völkermord in deutscher Übersetzung vor. Beide stützen sich auf ausführliche Interviews. Das erste – Nur das nackte Leben – basiert auf Gesprächen mit 14 überlebenden Tutsi aus Nyamata, einer Region südlich von Kigali. Das zweite mit dem Titel Zeit der Macheten verarbeitet Interviews mit zehn Tätern aus dieser Gegend. Im Jahr 2006 erschien der Bericht Aschenblüte. Ich wurde gerettet, damit ich erzählen kann von Immaculée Ilibagiza. Zur Zeit des Genozids Studentin, überlebte sie mit weiteren Tutsi durch die Hilfe eines Hutu-Pastors. Die Gewalterfahrungen und den Verlust ihrer Familie verarbeitete sie in ihrem christlichen Glauben. Esther Mujawayo, Soziologin, Therapeutin und Mitgründerin einer Witwenorganisation, veröffentlichte in Deutschland zwei Bücher über den Genozid und seine Folgen. In Ein Leben mehr schildert sie unter anderem die Folgen der Gewalt für Frauen. Ihre Erfahrungsberichte und die Schilderungen vieler weiterer Frauen werden ergänzt durch die Darstellung historischer Ursachen und Vorläufer der Gewalt sowie durch die deutliche Kritik an der passiven Weltgemeinschaft. In Auf der Suche nach Stéphanie schilderte die Autorin ihre im Jahr 2006 unternommene Reise nach Ruanda. Sie versuchte, die sterblichen Überreste ihrer Schwester und deren Kinder zu finden und bestatten zu lassen. Dieser Versuch scheiterte, weil die Täter und Zuschauer zu Gesprächen über die Gewalttaten nicht bereit waren. Die Autorin beschrieb zudem die unterschiedlichen Strategien des Umgangs der Überlebenden mit dem Völkermord, die sie in vielen Gesprächen mit Tutsi kennen gelernt hatte. Annick Kayitesi präsentierte ihre Erfahrungen im Buch Wie Phönix aus der Asche. Während des Genozids erlebte die 1979 geborene Autorin die Ermordung ihrer Mutter mit. Sie selbst kam aufgrund einer Notlüge mit dem Leben davon. Hutu missbrauchten sie jedoch als Sklavin. Gemeinsam mit ihrer Schwester gelang ihr schließlich die Flucht bis nach Frankreich. Literarische Verarbeitungen und Theater Die Geschehnisse im Frühjahr und Sommer des Jahres 1994 sind inzwischen verschiedentlich literarisch verarbeitet worden. Ein ungewöhnliches Konzept stellte das vom tschadischen Journalisten Nocky Djedanoum ins Leben gerufene Literaturprojekt Ruanda – Schreiben aus der Pflicht zu erinnern dar. Es sollte dem Schweigen auch afrikanischer Intellektueller angesichts des Völkermordes Rechnung tragen und ermöglichte 1998 zehn afrikanischen Schriftstellern einen Aufenthalt in Ruanda. Daraus entstanden zehn fiktionale Texte, darunter ein preisgekrönter Roman des senegalesischen Schriftstellers Boubacar Boris Diop. Bislang sind drei dieser Texte – der Roman L’Ombre d’Imana von Véronique Tadjo aus der Elfenbeinküste, Moisson de crânes von Abdourahman Waberi aus Dschibuti und Big Chiefs von Meja Mwangi aus Kenia – in deutscher Übersetzung erschienen. Einige weitere Bücher über den Genozid liegen auf Deutsch vor. Der kanadische Journalist Gil Courtemanche hat den Völkermord im Roman Ein Sonntag am Pool in Kigali verarbeitet. Die Erzählung ist um eine Liebesgeschichte zwischen einer Hutu, die für eine Tutsi gehalten wird, und einem kanadischen Journalisten zentriert. Im Jahr 2006 kam A Sunday in Kigali, die Verfilmung dieses Romans, in die Kinos. Die deutsche Kinder- und Sachbuchautorin Hanna Jansen schildert die Ereignisse in Über tausend Hügel wandere ich mit dir, indem sie die Perspektive eines Tutsi-Mädchens in den Mittelpunkt stellt, das die Ausrottung ihrer Familie überlebt. Die Erziehungswissenschaftlerin und Mitarbeiterin der Initiative Pro Afrika, Anke Pönicke, veröffentlichte 2004 das Kinderbuch Agathe. Eine Berlinerin aus Ruanda. Es erzählt die Geschichte der elfjährigen Agathe in Berlin, die sich mit ihrer Familiengeschichte und damit auch mit dem ruandischen Genozid auseinanderzusetzen beginnt und dabei mit der Gleichgültigkeit der westlichen Welt gegenüber diesem Ereignis konfrontiert wird. 2007 erschien die deutsche Übersetzung des zwei Jahre zuvor veröffentlichten Romans Die Optimisten des britischen Schriftstellers Andrew Miller. Die Geschichte des Reporter Clem Glass, der schwer traumatisiert aus Ruanda nach Hause zurückkehrt und keinen Weg mehr ins normale Leben findet, illustriert, wie die ruandische Tragödie sich auch in europäischen Schicksalen niederschlägt. Der Roman Hundert Tage des Dramatikers Lukas Bärfuss befasst sich mit den Ereignissen aus der Sicht eines Schweizer Entwicklungshelfers (Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit) in Ruanda und der Rolle der Entwicklungshilfe; diese habe über Jahrzehnte das Regime Habyarimanas ungeachtet der Korruption und der menschenrechtlichen Defizite unterstützt und damit den Völkermord mitermöglicht. Die Rolle der Schweiz als Entwicklungshelferin in der Schweiz Afrikas im Zusammenhang mit dem Völkermord wurde durch Bundesrat Flavio Cotti in einer Studiengruppe um Joseph Voyame aufgearbeitet. Dazu folgten mehrere Anfragen im Parlament. Ähnlich faktenreich erzählt auch Rainer Wochele in seinem Roman Der General und der Clown: Im Zentrum seines Buches steht der Kommandeur der UN-Blauhelmgruppe, die, obwohl sie das grauenvolle Morden mit allen militärischen Mitteln stoppen will, aufgrund politischer Weisungen zum Zuschauen verdammt ist. Der deutsche Reporter Hans Christoph Buch verarbeitete im Roman Kain und Abel in Afrika seine persönliche Erfahrung des Völkermordes in Ruanda. Der Schweizer Journalist Milo Rau inszenierte 2011 unter anderem im Berliner Hebbel am Ufer das Stück Hate Radio. Auch der 2019 erschienene Roman Schutzzone von Nora Bossong umkreist das Thema des Genozids in Burundi und Ruanda – und die Aufarbeitung durch die Vereinten Nationen. Anhang Literatur Jutta Bieringer: Zögerlich Richtung Demokratie: Gewalt und Repression seit 1990. In: Leonhard Harding (Hrsg.): Ruanda – Der Weg. S. 83–98. Marcel Bohnert: Zum Umgang mit belasteter Vergangenheit im postgenozidalen Ruanda. Roderer Verlag, Regensburg 2008, ISBN 978-3-89783-621-1. Anna-Maria Brandstetter: Die Rhetorik von Reinheit, Gewalt und Gemeinschaft: Bürgerkrieg und Genozid in Rwanda. In: Sociologus, Zeitschrift für empirische Ethnosoziologie und Ethnopsychologie. Journal for Empirical Social Anthropology. Jg. 51 (2001), Heft 1/2, S. 148–184. Anna-Maria Brandstetter: Erinnern und Trauern. Über Genozidgedenkstätten in Ruanda. In: Winfried Speitkamp (Hrsg.): Kommunikationsräume – Erinnerungsräume. Beiträge zur transkulturellen Begegnung in Afrika. Marin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, München 2005, ISBN 3-89975-043-8, S. 291–324. Jörg Calließ (Hrsg.): Zehn Jahre danach: Völkermord in Ruanda. (Dokumentation einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum vom 5. bis 7. März 2004) = Ten years after. Genocide in Rwanda. Evang. Akad. Loccum, Rehburg-Loccum 2005, ISBN 3-8172-1104-X. Roméo Dallaire: Handschlag mit dem Teufel. Die Mitschuld der Weltgemeinschaft am Völkermord in Ruanda. Unter Mitarbeit von Brent Beardsley. Aus dem Englischen von Andreas Simon dos Santos. Mit einem Nachwort von Dominic Johnson. 2. Auflage. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-86150-799-4. Hélène Dumas: Le génocide au village. Le massacre des Tutsi au Rwanda. Éd. du Seuil, Paris 2014, ISBN 978-2-02-116686-6. Dominic Johnson: Nachwort in: Roméo Dallaire: Handschlag. S. 589–608. Bruce D. Jones: Peacemaking in Rwanda. The dynamics of failure. Lynne Rienner, Boulder, Colorado u. a. 2001, ISBN 1-55587-994-2. Gerd Hankel: Über den schwierigen Versuch der Vergangenheitsaufarbeitung in Ruanda. In: Jörg Calließ (Hrsg.): Zehn Jahre danach. S. 105–111. Gerd Hankel: „Ich habe doch nichts gemacht“. Ruandas Abschied von der Kultur der Straflosigkeit. In: Mittelweg 36. 13. Jahrgang (2004), Heft 1, S. 28–51. Gerd Hankel: Ruanda. Leben und Neuaufbau nach dem Völkermord. Wie Geschichte gemacht und zur offiziellen Wahrheit wird. Zu Klampen, Springe 2016, ISBN 978-3-86674-539-1. Leonhard Harding (Hrsg.): Ruanda – der Weg zum Völkermord. Vorgeschichte – Verlauf – Deutung (Studien zur afrikanischen Geschichte, Band 20), Lit-Verlag, Hamburg 1998, ISBN 3-8258-3752-1. Leonhard Harding: Ruanda – der Weg zum Völkermord – Versuch einer historischen Verortung in: Jörg Calließ (Hrsg.): Zehn Jahre danach. S. 15–38. Carsten Heeger: Politische und gesellschaftliche Entwicklung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. In: Leonhard Harding (Hrsg.): Ruanda – Der Weg. S. 13–20. Carsten Heeger: Die Erfindung der Ethnien in der Kolonialzeit: „Am Anfang stand das Wort“. In: Leonhard Harding (Hrsg.): Ruanda – Der Weg. S. 21–35. Matthias Hufmann: Die Verunsicherung von außen und der Aufbau eines neuen Feindbildes. In: Leonhard Harding (Hrsg.): Ruanda – Der Weg. S. 99–109. Rainer Klüsener: Muslime in Ruanda – Von Marginalisierung zu Integration. Arbeitspapiere/Working Papers Nr. 74 des Institut für Ethnologie und Afrikastudien/Department of Anthropology and African Studies der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, ifeas.uni-mainz.de (PDF; 1,1 MB) Karen Krüger: Worte der Gewalt: Das Radio und der kollektive Blutrausch in Ruanda 1994. In: ZfG, Jg. 51 (2003), H. 10, S. 923–939. Alan J. Kuperman: The limits of humanitarian intervention. Genocide in Rwanda. Brookings Institution Press, Washington, DC 2001, ISBN 0-8157-0086-5. Mel McNulty: French arms, war and genocide in Rwanda. In: Crime, Law & Social Change. Jg. 33 (2000), S. 105–129. Mahmood Mamdani: When Victims become Killers. Colonialism, Nativism, and the Genocide in Rwanda. 2. Auflage. Fountain Publ. (u. a.), Kampala (u. a.), 2001, ISBN 0-85255-859-7. Alex Obote Odora: Criminal Responsibility of Journalists under International Criminal Law: The ICTR Experience. In: Nordic Journal of International Law. Jahrgang 73 (2004), S. 307–323. Axel T. Paul: Das Unmögliche richten – Schuld, Strafe und Moral in Ruanda. In: Leviathan. 34. Jahrgang, Heft 1 (März 2006), S. 30–60. Paul Rusesabagina (mit Tom Zoellner): Ein gewöhnlicher Mensch. Die wahre Geschichte hinter „Hotel Ruanda“. Deutsch von Hainer Kober. Berlin-Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-8270-0633-3. Stefan Siebels: Die Flüchtlingskrise. In: Leonhard Harding (Hrsg.): Ruanda – Der Weg. S. 183–195. Susan M. Thomson, J. Zoë Wilson (Hrsg.): Rwanda and the Great Lakes Region: Ten Years On From Genocide. Special Issue of International Insights, Juni 2005 (englisch), , centreforforeignpolicystudies.dal.ca (PDF; 697 kB; abgerufen am 8. Februar 2008). Susan M. Thomson: Whispering Truth to Power: Everyday Resistance to Reconciliation in Postgenocide Rwanda. University of Wisconsin Press, Madison 2013, ISBN 978-0-299-29674-2. Alana Tiemessen: From Genocide to Jihad: Islam and Ethnicity in Post-Genocide Rwanda. Paper for Presentation at the Annual General Meeting of the Canadian Political Science Association (CPSA) in London, Ontario, 2–5 June, 2005, cpsa-acsp.ca (PDF; 134 kB; englisch) Stefan Trines: Unterlassene Hilfeleistung bei Völkermord? Die Vereinten Nationen und der Ruanda-Konflikt. In: Leonhard Harding (Hrsg.): Ruanda – Der Weg. S. 159–169. Janine Ullrich: Die Ära Juvénal Habyarimana: Aufschwung und Niedergang. In: Leonhard Harding (Hrsg.): Ruanda – Der Weg. S. 71–82. Peter Uvin: Reading the Rwandan Genocide. In: International Studies Review. Vol. 3, Issue 3, S. 75–99. Philip Verwimp: Testing the Double-Genocide Thesis for Central and Southern Rwanda. In: Journal of Conflict Resolution. Jahrgang 47 (2003), S. 423–442, hicn.org (PDF; 448 kB; englisch) Philip Verwimp: Machetes and Firearms: The Organization of Massacres in Rwanda. In: Journal of Peace Research. Jahrgang 43 (2006), Nr. 1, S. 5–22. Shelley Whitman: The Plight of Women and Girls in Post-Genocide Rwanda. In: Susan M. Thomson, J. Zoë Wilson (Hrsg.): Rwanda and the Great Lakes Region. S. 93–110. Owen Willis: The Forgotten People in a Remembered Land: the Batwa and Genocide. In: Susan M. Thomson, J. Zoë Wilson (Hrsg.): Rwanda and the Great Lakes Region. S. 126–148. Katrin Wissbar: Guter Hutu – böser Tutsi. Der Aufstieg der Hutu-Power. In: Leonhard Harding (Hrsg.): Ruanda – Der Weg. S. 125–138. Peter Wütherich: Revolution und Erste Republik: 1959–1973. In: Leonhard Harding (Hrsg.): Ruanda – Der Weg. S. 57–70. Eugenia Zorbas: Reconciliation in Post-Genocide Rwanda. In: African Journal of Legal Studies. S. 29–52, africalawinstitute.org (PDF; 290 KB; englisch; abgerufen am 8. Februar 2008). Weblinks Leugnen und Vertuschen. Telepolis; zur Rolle Frankreichs Ruanda-Konflikt. Konfliktarchiv des Fachbereichs Sozialwissenschaften der Universität Hamburg „Leave None to Tell the Story“. Human Rights Watch; Report über den Völkermord The Report Of International Panel Of Eminent Personalities To Investigate The 1994 Genocide In Rwanda And The Surroundings Events (PDF; 908 kB) OAU Allan Thompson (Hrsg.): The Media and the Rwanda Genocide, Pluto Press / Fountain Publishers / International Development Research Centre, 2007, ISBN 978-1-55250-338-6. Half Frankreich beim Völkermord in Ruanda? Pressespiegel des Online-Magazins polar. Milo Rau: Hate Radio – ‘Radio-Télévision Libre des Mille-Collines’ und der Genozid in Ruanda. Deutschlandfunk, Das Feature, 27. März 2012; Scripte Klaus Uhrig: Völkermord in Ruanda. Bayerischer Rundfunk, radioWissen, 4. April 2014 Die Ruanderin Esther Mujawayo, Völkermordüberlebende, erzählt In: Zeitblende von Schweizer Radio und Fernsehen vom 12. Mai 2012 (Audio) Einzelnachweise Ruanda Ruanda Religion (Ruanda) Krieg (Afrika) Konflikt 1994
602315
https://de.wikipedia.org/wiki/Domenico%20Dragonetti
Domenico Dragonetti
Domenico Carlo Maria Dragonetti (* 7. April 1763 in Venedig; † 16. April 1846 in London), genannt il Drago (italienisch: „der Drache“), war ein venezianischer Kontrabassist und Komponist. Als der erste Kontrabass-Virtuose von internationalem Rang war er mit vielen bedeutenden Instrumentalmusikern und Komponisten seiner Zeit befreundet, darunter Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven und Gioachino Rossini. Das Aufkommen selbständig geführter, anspruchsvoller Kontrabass-Stimmen in der Orchester- und Kammermusik des 19. Jahrhunderts ist wesentlich auf den Eindruck zurückzuführen, den die auch nach modernen Maßstäben außergewöhnliche Instrumentaltechnik des Bassisten bei seinen Zeitgenossen hinterließ. Dragonetti, der viele Jahrzehnte seines Lebens in England verbrachte, war eine Schlüsselfigur des Londoner Musiklebens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Da il Drago seine Popularität geschickt zu vermarkten verstand, verlangte und erhielt er als einer der ersten Orchestermusiker Gagen, wie sie in vergleichbarer Höhe fast nur beliebten Sängern zugestanden wurden. Zahlreiche Anekdoten schildern ihn als Exzentriker, der einen großen Teil seiner Einkünfte einer Sammelleidenschaft für Puppen, Schnupftabakdosen und Musikinstrumente opferte und mit seiner Umgebung in einem oft nur schwer verständlichen Kauderwelsch aus mehreren Sprachen kommunizierte. Das bevorzugte Instrument Dragonettis, ein zum dreisaitigen Kontrabass umgebauter Violone von Gasparo da Salò aus der Zeit um 1600, ist heute ein Ausstellungsstück im Museum des Markusdoms in Venedig. Leben Domenico Dragonettis Biographie ist im Großen und Ganzen sicherer dokumentiert als die vieler anderer Musiker des 18. und 19. Jahrhunderts. Dies gilt jedoch nicht für seine frühen Jahre in Venedig, denn, wie Fiona Palmer, die einflussreichste moderne Biographin des Musikers, schreibt: „Seine Lebensgeschichte ist die eines Aufstiegs […] von der Anonymität zu umschmeicheltem Ruhm.“. Herkunft, Familie und Jugend Dragonettis Familie gehörte zur Unterschicht Venedigs, und die bescheidenen Anfänge der Karriere des Bassisten illustrieren in augenfälliger Weise das Bonmot Alfred Einsteins, „dass alle großen Musiker […] soweit als möglich entfernt sind von aristokratischer Herkunft“. Die Angaben über den Beruf des Vaters Pietro Dragonetti sind unklar, Rodney Slatford vermutet, er sei Barbier gewesen und spöttelt über eine häufig, auch von anerkannten Biographen, wiedergegebene Behauptung: „The Dictionary of National Biography is romantic enough to suggest that he may have been a gondolier“. Einigkeit herrscht darüber, dass auch der ältere Dragonetti ein musikalisch begabter Mann war, der mehrere Instrumente, darunter womöglich auch den Kontrabass, beherrschte. Über die Mutter, Cattarina, sind keine näheren Angaben verfügbar. Das Kirchenbuch der in einem ärmlichen Stadtbezirk gelegenen Gemeinde S. Gervasio e S. Protasio verzeichnet folgenden Taufeintrag: Das Ehepaar Dragonetti hatte mindestens noch ein weiteres Kind, eine Tochter namens Marietta. Auch über sie ist kaum mehr bekannt, als dass sie von ihrem Bruder finanzielle Unterstützung erhielt, nachdem dieser die Serenissima verlassen hatte. Die wenigen Angaben über Dragonettis Jugendjahre stammen von Francesco Caffi und Vincent Novello, die beide Bewunderer und enge Freunde des Musikers waren und denen daher von neueren Autoren eine Tendenz zur romantisierenden Überzeichnung unterstellt wird. Caffi berichtet, Dragonetti habe so gut wie keine Schulausbildung genossen und sei praktisch Analphabet gewesen, wobei zumindest Letzteres nicht der Wahrheit entsprach. Dagegen habe er seit frühester Kindheit ausgeprägtes musikalisches Talent an den Tag gelegt und verschiedene Instrumente, darunter die Violine und die Gitarre, als Autodidakt erlernt. Neben einer informellen Ausbildung durch seinen Vater habe der junge Domenico musikalische Grundlagenkenntnisse bei einem Flickschuster namens Schiamadori erworben, bevor er schließlich Unterricht bei Michele Berini erhalten habe, der zu dieser Zeit als Kontrabassist in der Kapelle von San Marco und an den Theatern der Stadt tätig war. Die Jahre in Venedig Die frühen Biographien führen, wie es der verklärenden Betrachtungsweise der älteren Musikkritik entspricht, Dragonettis stupenden Aufstieg vor allem auf sein in jeder Hinsicht außergewöhnliches Talent zurück: Anfänge als Straßenmusikant Ohne die Ausnahmebegabung des jungen Musikers in Frage zu stellen, relativiert die modernere Forschung diese Sicht, insoweit sie Dragonettis Laufbahn in den musikhistorischen Zusammenhang einordnet. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts befand sich das Musikwesen Venedigs in einem tiefgreifenden Umbruch. Zwar war die Stadt, wie in den Jahrhunderten zuvor, eines der wichtigsten Zentren der italienischen Musik; sie nahm jedoch auch in besonderem Maße die schöpferischen Anstöße auf, die vor allem von Komponisten aus dem deutschen Sprachraum, hauptsächlich der Mannheimer und der Wiener Schule ausgingen. Daraus erwuchs ein neues Interesse des Publikums für Instrumentalmusik, was wiederum den gesellschaftlichen Status und die beruflichen Möglichkeiten von Instrumentalisten zusehends verbesserte. Der amerikanische Musikwissenschaftler Thomas Bauman zeigt Details auf, die die „gesteigerte Ernsthaftigkeit“ im Umgang mit nicht-vokaler Musik illustrieren: So wurden neue Verlage gegründet, die ihr Programm auf Instrumentalmusik spezialisierten, die Namen der Orchestersolisten wurden in den Programmzetteln der Theater abgedruckt, und der Senat der Republik gestand den Mitgliedern der Musikergilde Arte dei Suonatori, die vorher den Handwerkern gleichgestellt waren, 1789 den Status als „freie Künstler“ zu. Der Arte dei Suonatori kann Dragonetti frühestens an seinem 18. Geburtstag, also im Jahre 1781, beigetreten sein. Da die Armut seiner Familie eine kostspielige formale Ausbildung ausschloss, war der ehrgeizige Bassist zunächst darauf angewiesen, erfahrenere und bereits renommierte Musiker auf sein Talent und seine Ambitionen aufmerksam zu machen. Die erste dieser Bekanntschaften machte er mit etwa 13 Jahren, als er dem Geiger Niccolò Mestrino (1748–1789) begegnete. Die beiden Musiker wurden Freunde und unterwarfen sich in den folgenden Monaten einer rigorosen Übedisziplin, für die sie jede freie Minute des Tages opferten, um gemeinsam möglichst schwierige Passagen aus der Literatur einzustudieren, wobei sie bevorzugt auf Material zurückgriffen, das nicht für ihre jeweiligen Instrumente komponiert war. Seinen Lebensunterhalt verdiente Dragonetti in diesen frühen Jahren, indem er mit der Sopranistin Brigida Giorgi Banti (ca. 1756–1806) in den Straßen, Kaffeehäusern und Hotels seiner Heimatstadt musizierte. Auf diese Weise wurden seine Fähigkeiten schnell stadtbekannt, und er erhielt bald erste Engagements in den großen Theatern Venedigs, vermutlich wohl zuerst in den opere buffe der Theater San Samuele, San Moisè und San Cassiano. Im Orchester von San Marco Als das angesehenste und beste Ensemble der Republik Venedig galt traditionell die Domkapelle der Basilika San Marco. Dragonetti setzte es sich zum Ziel, einen Posten in diesem Orchester zu erringen, was für jeden Musiker ein denkbar vielversprechendes Sprungbrett zum internationalen Erfolg bedeuten konnte. Es ist unklar, ob ihm zunächst seine niedere Abkunft zum Hindernis wurde oder ob er womöglich seine musikalischen Fähigkeiten vorerst überschätzt hatte, als die Prokuratoren seine erste Bewerbung im Januar 1784 abwiesen. Erst über drei Jahre später, am 13. September 1787, wurde er als fünfter von fünf Kontrabassisten mit einem Jahressalär von 25 Dukaten in die Kapelle aufgenommen. Innerhalb kürzester Zeit erwarb sich Dragonetti den Respekt seiner Mitmusiker, die ihn bereits wenige Wochen später, im Dezember, zum Prinzipal der Kontrabass-Gruppe wählten. Wie Caffi berichtet, sei Dragonetti von seinem „Durchbruch“ derart begeistert gewesen, dass er Solo- und Konzertvortragsabende in großer Zahl abzuhalten begann. Er spielte nun regelmäßig in der Kapelle des Dogenpalasts und anderen Gotteshäusern, bei öffentlichen Feiern, in Theatern und bei adligen Gesellschaften. Gerade Letzteres verschaffte ihm erste Aufmerksamkeit auch bei ausländischen Aristokraten, so genoss der Musiker beispielsweise die Protektion von Maria Karolina von Österreich, der Königin von Neapel. Sein Erfolg brachte Dragonetti bald verlockende Angebote aus dem Ausland ein; er wies diese jedoch zunächst alle zurück. Seine Vorgesetzten zeigten sich für seine Treue erkenntlich und gewährten ihm zusehends großzügigere Vergünstigungen. Wurde zunächst sein Jahresgehalt um 50 Dukaten erhöht, so übereigneten sie dem Musiker etwas später den wertvollen, im Kloster S. Pietro zu Vicenza aufbewahrten Kontrabass von Gasparo da Salò, der mit ihm berühmt wurde, und schließlich zahlte man ihm eine weitere Sondervergütung aus: Dennoch sah sich die Procuratia de Supra, unter anderem auch vor dem Hintergrund des drohenden Bankrotts der Republik, 1794 gezwungen, den nunmehr in den Musikmetropolen ganz Europas begehrten Virtuosen für fünf Jahre vom Dienst in der Kapelle freizustellen, damit er nach England reisen könne. Vom Untergang der Serenissima im Frühjahr 1797 inmitten der Wirren der Napoleonischen Kriege erfuhr Dragonetti aus der Londoner Presse. Dragonetti und die Musiker seiner Zeit Mit Ausnahme Mozarts, der bereits 1791 verstorben war, stand Dragonetti mit fast allen stilbildenden Musikern seiner Zeit in mehr oder weniger intensivem Kontakt. Sein umfangreicher Briefwechsel legt hiervon beredtes Zeugnis ab, ferner besuchte er in den Jahren um 1800, unbeschadet der andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Kontinent, mehrfach Wien, das zu dieser Zeit das „Epizentrum“ der musikalischen Umwälzungen war, die die europäische Musik des 19. Jahrhunderts prägen sollten, und schließlich zog London, sein Hauptwohnsitz nach dem Abschied von Venedig, mit seinen besonders lukrativen Auftrittsmöglichkeiten die besten Musiker Europas an. Von Haydn, dessen Streichquartett-Stimmen Dragonetti bereits zusammen mit Mestrino bevorzugt geprobt hatte, bis hin zu Gioachino Rossini, in dessen Kammermusik der Kontrabass schließlich selbst eine prominente Rolle einnehmen konnte, zollte die Crème der klassischen und frühromantischen Musik ihrerseits dem Patriarca del contrabbasso hohen Respekt. Musikalischer Einfluss auf Beethoven Eine der bekanntesten Episoden aus Dragonettis Leben schildert ein spektakuläres erstes Treffen mit Ludwig van Beethoven: Auf Anekdoten wie dieser fußt ein seit zwei Jahrhunderten perpetuiertes Konstrukt von Halbwahrheiten in der Musikrezeption, das detaillierter Überprüfung kaum standhält: Planyavsky weist anhand umfangreicher Vergleiche nach, dass die angeblich für Beethoven typischen anspruchsvollen Kontrabass-Stimmen ebenso bei Mozart und Haydn zu finden sind. Beethovens Begeisterung für Dragonettis Spiel scheint also vor allem daher zu rühren, dass ihm der Italiener die Ausführbarkeit der neuartigen Bassbehandlung der Wiener Klassik in der Praxis demonstrieren konnte, und wie diese in ihrer Klangwirkung der musikalischen Vision entsprachen, die dem Komponisten vorschwebte. In gleicher Weise war es nicht Dragonettis künstlerisches Hauptanliegen, vorzuführen, dass der Kontrabass Violin- und Cellopartien imitieren kann, wenn er auch mit solchen „Kabinettstückchen“ seine Zuhörer immer wieder gern unterhielt. Er betrachtete einen soliden und doch beweglichen basso profondo als unabdingbare Voraussetzung für die Klangsprache der neuen Instrumentalmusik. Die virtuosen Eskapaden seiner frühen Jahre ließ er bald hinter sich, um seine Kräfte in den Dienst dieser modernen Ensemble-Ästhetik zu stellen. Abgesehen von einer Handvoll Spezialisten in Wien standen die Kontrabassisten im übrigen Europa nämlich – und insofern birgt das obige Zitat einen wahren Kern – den an sie gerichteten Anforderungen ratlos gegenüber, bis Dragonettis Vorbild seine Wirkung entfaltete. Die Zusammenarbeit mit Simon Sechter Ein weiterer Freund, der Dragonetti mit Österreich verband, war Simon Sechter, in den Worten des Bassisten „der Einzige in Wien, mit dem ich musizieren will. “ Die beiden Männer hatten sich 1808 kennengelernt, als der Italiener Gast des Fürsten Starhemberg war. Der später als Lehrer Franz Schuberts und Anton Bruckners bekannt gewordene Sechter stand zu dieser Zeit noch als subalterner musicus in den Diensten des Fürsten, wurde aber nach einigen informellen Proben schnell zum bevorzugten Klavierbegleiter des Italieners. Dragonetti, der sich in seinen Lehrjahren vor allem auf seine Fähigkeiten als Instrumentalist hatte konzentrieren müssen, schätzte die umfangreichen Kenntnisse seines neuen Partners in Harmonielehre, Tonsatz und Kontrapunkt. Dragonetti beauftragte Sechter, die bis dahin nur skizzierte Begleitung seiner früheren Stücke kompetent zu überarbeiten, und diese arbeitsteilige Kooperation der beiden Musiker als Komponist und „Arrangeur“ lässt sich zumindest bis ins Jahr 1839 weiterverfolgen. Sechter seinerseits gab das Wissen über den Kontrabass, das Dragonetti ihm vermittelte, an seine Schüler weiter, und dieser Einfluss ist besonders im Schaffen Bruckners wiederzufinden, dessen „breitflächige Kontrabaßstimmen […] lange Zeit als unspielbar“ galten. Übersiedlung nach London Als il Drago 1794 in London eintraf, um für eine Saison mit dem Orchester des King’s Theatre am Haymarket, dem Stammhaus der italienischen Oper in der englischen Hauptstadt, zu spielen, kam er nicht als unbekannter Fremder. Ganze Opernproduktionen waren in den vorangegangenen Jahren geschlossen aus Venedig hierher gekommen, und so hatte sich der sagenhafte Ruhm des Bassisten bereits verbreitet. Dragonettis erste Jahre in London waren noch von einer gewissen Unschlüssigkeit gekennzeichnet. Er hatte zunächst nicht vor, in der Stadt dauerhaften Wohnsitz zu nehmen, da er zumindest der Form halber noch an die Markus-Kapelle gebunden war. Ebenso mag eine Rolle gespielt haben, dass er trotz des begeisterten Empfangs, den ihm das Publikum bereitete, und seines rasch wachsenden Wohlstands juristisch gesehen ein Ausländer blieb, dem die geltenden Gesetze nicht nur das Wahlrecht, sondern selbst den Erwerb von Grundbesitz verwehrten. Für einen Mann seines Vermögens eigentlich unüblich, wohnte Dragonetti daher bis zu seinem Tod zur Miete. „Den größten Teil seines Londoner Lebens verbrachte er in der Gegend um den Leicester Square, und außerhalb Westminsters lebte er überhaupt nie “ Bis zum Jahr 1814 verließ er London mehrfach für längere Zeit, hauptsächlich für die bereits erwähnten Aufenthalte in Wien. Auch nach Venedig ist er noch mindestens zweimal gereist, wurde dort aber 1808 aufgrund undurchsichtiger politischer Vorwürfe angeblich verhaftet und als „unerwünschter Ausländer“ abgeschoben. Das Konzertwesen im West End Der Licensing Act von 1792 gestattete der Bühne am Haymarket als einzigem Haus in London die Aufführung italienischer Opern, ein Privileg, das bis 1843 in Kraft blieb. Obwohl das Theater häufig unter ökonomisch unfähigen und künstlerisch inkompetenten Intendanten zu leiden hatte, erfreute es sich beim Publikum eines ausgezeichneten Rufs und diente Dragonetti während seiner englischen Jahre gewissermaßen als „Machtbasis“. Als eines der beliebtesten und angesehensten Mitglieder des Orchesters erhielt er erstklassige Gagen, in der Regel mindestens £4 pro Vorstellung, Sondervergütungen und die Möglichkeit, Konzerte zu eigenen Gunsten zu veranstalten. Ausgehend von dieser gesicherten Anstellung ging der Bassist daran, dem englischen Publikum die virtuose Seite seiner Musikalität auf Veranstaltungen im ganzen Land zu präsentieren, womit er für ein gutes Jahrzehnt überaus erfolgreich war. Bei solchen Konzerten verdiente er zum Teil bis zu dreistellige Beträge, Summen, mit denen sonst nur populäre Vokalisten rechnen konnten. Die Zuhörer reagierten enthusiastisch: Solche Erfolge in der Provinz hätten freilich auf die Dauer nicht genügt, um Dragonettis stetig deutlicher werdende Sonderstellung im englischen Musikleben zu begründen. Allein die immer wieder aufs Neue gefeierten Gastspiele im King’s Theatre, in der Drury Lane und die zahlreichen Subskriptionskonzerte in der Hauptstadt verschafften dem Bassisten die Möglichkeit, das Publikum für seine Musikauffassung einzunehmen. Im Laufe der Zeit erwies sich aber, dass seine Rechnung aufging: Gerade an Zeitungskritiken der Zeit ist die allmähliche Verfeinerung in der Wahrnehmung der Rezensenten abzulesen, da nicht mehr nur Gesangsdarbietungen, sondern auch die Leistungen einzelner Instrumentalsolisten und schließlich auch die Qualität ganzer Ensembles in die Betrachtung einbezogen wurden. Das Duo Lindley-Dragonetti Der Cellist Robert Lindley (1776–1855) stammte aus Rotherham in Yorkshire und kam wie Dragonetti im Jahr 1794 ins Orchester des King’s Theatre. Die beiden begannen eine musikalische Partnerschaft, die über fünf Jahrzehnte andauerte. Wie der Italiener galt auch Lindley als der mit Abstand beste Spieler seines Instruments in England, und zusammen prägten sie eine Aufführungspraxis für die tiefen Streichinstrumente, die mit der Zeit als besonderes Stilmerkmal der englischen Orchester wahrgenommen wurde. Ihre Vortragsweise entwickelten sie ursprünglich bei der Begleitung der Secco-Rezitative: Dragonetti und Lindley spielten vom selben Pult, was sie in die Lage versetzte, ihre gemeinsame Stimme nach Bedarf aufzuteilen und improvisatorisch auszuzieren. Dieses anhand der Bedürfnisse der Oper geschulte Zusammenspiel bewährte sich, als beide in den Ancient Concerts und der Philharmonic Society das Fundament für die musikalisch anspruchsvolleren Darbietungen dieser Klangkörper bildeten. Wenn auch ältere Darstellungen, die von einem „unzertrennlichen“ Duo sprechen, idealisierende Übertreibungen zu sein scheinen – dies allein schon, weil der umtriebige Lindley noch weit mehr Engagements annahm als Dragonetti – waren die beiden Musiker aufgrund ihrer Fähigkeiten und ihrer bühnenwirksamen Auftritte eine „Institution“ im britischen Musikwesen: Der Stil des Duos erfuhr eine Wertschätzung, die in vergleichbarer Weise einer gut eingespielten Rhythmusgruppe im modernen Jazz oder Pop entgegengebracht wird, was durch die Entwicklung der englischen Musik um 1820 verständlich wird. In den Ancient Concerts wurde erstmals der Versuch gemacht, dem Publikum älteres Repertoire – zum Beispiel die Musik Händels und Corellis – wieder nahezubringen. Der Stil des Generalbass-Zeitalters beruht aber wesentlich auf dem soliden Fundament der Continuo-Stimme, mit deren angemessener Ausführung jüngere Spieler oftmals nicht mehr vertraut waren. Dagegen widmete sich die Philharmonic Society bevorzugt zeitgenössischen Kompositionen der Klassik und Romantik, deren Ausführung heutzutage selbstverständlich von einem Dirigenten geleitet wird. Da Aufgabe und Handwerk des Dirigats seinerzeit noch ganz unzureichend ausgeformt waren und die Orchestermusiker dieser Art der Ensembleleitung generell misstrauisch gegenüberstanden, lieferten Dragonetti und Lindley mit ihrer kraftvollen Sonorität und ihrer Präzision in Rhythmus und Phrasierung die Basis für den künstlerischen Erfolg zahlloser Konzerte. Die havoc affair Die sogenannte Dragonetti havoc affair wurde im Frühjahr 1839 auf den Seiten der einflussreichen Zeitschrift The Musical World ausgetragen. Sie bietet ein frühes Beispiel für das – gerade in England bis heute präsente – Interessengeflecht, in dem der Musikjournalismus nicht selten eine entscheidende Rolle im Auf und Ab einer Karriere spielt. Dragonetti, der als sein eigener Agent tätig war, musste als freischaffender Künstler darauf achten, dass seine Gesundheit und professionelle Zuverlässigkeit nicht öffentlich in Frage gestellt wurden. Daher reagierte er außerordentlich empfindlich auf einige – wahrscheinlich arglose – Bemerkungen des Rezensenten, der das fünfte Abonnementkonzert der Philharmonic Society besprach. Der mittlerweile 76-jährige Kontrabassist war aus ungeklärter Ursache verspätet auf der Bühne erschienen, was die Kritik mit folgenden Worten kommentierte: Dragonetti interpretierte dies als Verleumdung und gab sich dementsprechend empört. Mit Hilfe seines engen Freundes, des Musikverlegers, Komponisten und Dirigenten Vincent Novello, verfasste er eine Gegendarstellung in Form eines Offenen Briefes an „das englische Musikpublikum“. Als die Veröffentlichung in der Musical World auch nach einer Mahnung Novellos ausblieb, erwog der Italiener eine Pressekampagne in den großen Tageszeitungen Londons, wovon er angesichts der zu erwartenden Kosten von etwa £50 jedoch wieder Abstand nahm, um stattdessen den ursprünglichen Brief vervielfältigen und verbreiten zu lassen. Als sich die Musical World schließlich einige Wochen später entschloss, klein beizugeben und die Wogen mit allerlei Entschuldigungen zu glätten, hatte die journalistische Konkurrenz das Thema längst aufgegriffen. Eine mehrseitige, von Novello verfasste wortgewaltige Lobeshymne wurde vollständig in der Musical World abgedruckt und fand ihren Weg auch in andere Publikationen. Il Drago war auf diese Weise wieder allgegenwärtig in der Berichterstattung, wovon die letzten Jahre seiner Karriere enorm profitierten. Durch die Erfahrungen mit dem streitbaren Musiker wachsam gemacht, bedachte die Kritik Dragonetti in der Folgezeit fast nur noch mit wohlwollendsten Erwähnungen. Letzte Konzertreise und Tod Dragonetti ging im Vergleich zu anderen Musikern, etwa Mozart oder Paganini, geschweige denn Bottesini, nur selten auf ausgedehnte Tourneen. Die rigorosen Passgesetze der Republik Venedig seiner Jugendjahre, die Kriege der Napoleonischen Ära und schließlich seine etablierte Stellung im englischen Konzertbetrieb schränkten seine Reisemöglichkeiten ein. Trotzdem, oder womöglich gerade deswegen, ließ er sich nicht davon abhalten, im Alter von 82 Jahren zum Beethovenfest zu reisen, das die Stadt Bonn 1845 erstmals beging. Als Prinzipal von 13 Kontrabässen nahm er unter anderem an einer umjubelten Aufführung der 5. Sinfonie teil, von der Hector Berlioz notierte, er habe das Werk „noch nie mit solcher Kraft und Vollendung gehört “. Die Strapazen der Reise müssen die bis dahin robuste Gesundheit des Musikers erheblich in Mitleidenschaft gezogen haben, denn er befand sich nach seiner Rückkehr in regelmäßiger ärztlicher Behandlung. Einige der Dragonetti verordneten Rezepte sind erhalten und legen die Vermutung nahe, dass die Therapie, beispielsweise mit starken Abführmitteln, weiter zur Verschlechterung seines Zustandes beigetragen haben könnte, zumindest aber sah er sich im Winter 1845 zum Rückzug aus dem aktiven Konzertbetrieb gezwungen. Domenico Dragonetti starb gegen halb sechs Uhr am Nachmittag des 16. April 1846. Die Musical World hatte bereits am 4. April von seiner Wassersucht berichtet und seinen Zustand als „unheilbar“ beschrieben. Dasselbe Blatt schilderte seine Beisetzung am 24. des Monats in der römisch-katholischen Kirche St Mary Moorfields am Londoner Finsbury Circus: Als der erste Bau von St Mary Moorfields 1899 abgerissen wurde, überführte man den Leichnam auf den katholischen Friedhof von Wembley. 1968 stiftete der Musikhistoriker Raymond Elgar einen Grabstein für die letzte Ruhestätte des Kontrabassisten. Werk Die Pionierleistungen Dragonettis für sein Instrument waren zu seinen Lebzeiten europaweit bekannt. Wenn sein Name heute nur mehr Musikkennern ein Begriff ist, so ist dies paradoxerweise gleichfalls auf seine Vorreiterrolle zurückzuführen. Etliche seiner Errungenschaften verbreiteten sich so allgemein, dass sie heute als Selbstverständlichkeiten gelten und nicht mehr mit Dragonetti verbunden werden. Andere der von ihm gegebenen Impulse wurden nicht aufgegriffen: Kaum ein späterer Orchesterbassist verfügte über „Dragos“ flamboyante Persönlichkeit, und seine als Solisten bekannt gewordenen Nachfolger fanden offenbar keinen Reiz darin, Publikum und Komponisten für einen differenzierten Einsatz des tiefsten Streichinstruments im Ensemble zu begeistern. Der Komponist Praktische Erwägungen kennzeichnen Dragonettis Schaffen als Komponist, da er gezwungen war, die Stücke, in denen er seine verblüffende technische Geläufigkeit zur Schau stellen konnte, selbst zu verfassen, während es nur wenige Werke von ihm gibt, die auf die Einbeziehung eines Kontrabasses verzichten. Innerhalb dieser Grenzen war er jedoch ein produktiver Arbeiter: Die British Library, die den Hauptteil seines Werkes aufbewahrt, verfügt allein über 18 Bände mit Kompositionen aus seiner Feder, die in Charakter, Besetzung und Schwierigkeitsgrad recht abwechslungsreich sind. Nur ein Bruchteil dieser Stücke ist bis jetzt im Druck erschienen. Allgemeine Charakteristika Als erster einer langen Reihe von Virtuosen wurde il Drago als „Paganini des Kontrabasses“ bezeichnet. Dieses bis heute immer wieder verwendete Etikett wirkt mit wachsendem musikhistorischem Abstand zusehends klischeehafter und sinnentleerter, entbehrt aber im Falle Dragonettis – der ja tatsächlich ein Zeitgenosse des berühmten Violinisten war – nicht einer gewissen Schlüssigkeit. Abgesehen davon, dass beide Musiker ihre Zuhörer durch eine überlegene, zukunftsweisende Spieltechnik zu packen verstanden, sind sie auch in ihrer Kompositionsweise zumindest vergleichbar. Beider Stil bietet eine eklektische und nicht allzu provokante Mischung aus Elementen des Barock, der Vorklassik und der zeitgenössischen Musik von Klassik und Romantik. Der ästhetische Einfluss der norditalienischen Oper und Volksmusik ist beim einen wie beim anderen unüberhörbar. Dragonettis Virtuosenstücke – obwohl bis heute teilweise von technisch höchstem Anspruch – genießen gegenwärtig nicht dieselbe Beliebtheit wie die in dieser Hinsicht noch exklusiveren Werke Giovanni Bottesinis. Dies mag zum Teil dem publikumswirksameren „Belcanto“-Stil des Jüngeren geschuldet sein, ist teilweise aber auch auf die gewandtere, differenziertere Kompositionstechnik Bottesinis zurückzuführen. Das folgende Beispiel vergleicht Ausschnitte der Bearbeitungen, die beide Musiker von Giovanni Paisiellos beliebter Arie Nel cor più non mi sento angefertigt haben. Dragonettis Kompositionen heute Im modernen Repertoire erscheint Dragonettis Name mit Abstand am häufigsten im Zusammenhang mit einem Werk, von dem mittlerweile als gesichert gilt, dass es nicht von ihm stammt, sondern erst im 20. Jahrhundert verfasst wurde. Das Konzert in G-Dur wurde von dem Franzosen Édouard Nanny komponiert, der sein Werk nicht nur dem Stil Dragonettis nachempfand, sondern es 1925 auch unter dem Namen des älteren Meisters veröffentlichte – eine Vorgehensweise, die in den frühen Jahren der sogenannten historischen Aufführungspraxis keinen Einzelfall darstellte. Die authentischen Kompositionen, die von Musikverlagen der Gegenwart bevorzugt publiziert werden, vermitteln nur einen unvollständigen Eindruck von Dragonettis Schaffen. Da man ihn, wie bereits erwähnt, vor allem als Vorläufer Bottesinis betrachtet, wird seit Jahrzehnten eine annähernd gleichbleibende Auswahl seiner Kompositionen unter den zweckmäßigen Gesichtspunkten der Musikpädagogik bearbeitet. Diese Stücke eignen sich hierzu gerade deswegen, weil Dragonetti selbst sie bereits ähnlich pragmatisch verfasst hatte: Er komponierte beispielsweise etliche eingängige und gefällige Melodien in zu seiner Zeit bekannten und beliebten Genres, etwa Menuette und Walzer. Viele dieser Themen sind technisch nicht allzu schwer zu bewältigen und dienen daher oft dazu, Kontrabass-Studenten erste Spielerfahrungen im Stil der italienischen Schule zu vermitteln. Die virtuosen Passagen entwickelte der Bassist separat und kombinierte dieses Material auch im eigenen Konzertprogramm immer wieder neu. Dies funktionierte deswegen recht unproblematisch, weil Dragonetti keinen ausgeprägten Wert auf formale Komplexität, subtile Durchführungen oder anspruchsvolle motivisch-thematische Arbeit legte. Auch moderne Ausgaben der Solostücke für Kontrabass koppeln daher gerne kontrastierende Sätze unter Titeln wie Adagio und Rondo oder Pezzo di concerto, wobei die Klaviersätze Sechters auch für Streicher oder großes Orchester instrumentiert worden sind. Erst in jüngster Zeit, etwa seit Ende der 1990er-Jahre, sind textkritische Ausgaben einzelner Kompositionen Dragonettis besorgt worden. Sein schöpferisch eigenständiger Beitrag zu den unter seinem Namen veröffentlichten Kammermusikwerken ist nach wie vor umstritten, jedoch scheint diese umfassendere Neubewertung des Œuvres zumindest seinen „überbordenden Reichtum an thematischen Einfällen“ zu bestätigen. Dragonettis Instrumentalstil Ebenso wie der Kontrabass selbst mit seinen verschiedenen Bauformen ein weniger standardisiertes Instrument ist als die übrigen Streichinstrumente, weichen auch die spieltechnischen Ansätze bis heute beträchtlich voneinander ab. Dragonetti hat seine Technik niemals in strukturierter Form, etwa in einem Lehrbuch, zusammengefasst. Auch die ihm angetragenen Lehraufträge an der Royal Academy of Music und dem Conservatoire lehnte er ab. Dennoch unterrichtete er eine handverlesene Zahl von Privatschülern: Bei einem Stundenhonorar von £2, mehr als dem Doppelten des üblichen Satzes, ist es verständlich, dass es sich bei ihnen größtenteils um arrivierte Kollegen oder wohlhabende Dilettanten wie Augustus Frederick Fitzgerald, 3rd Duke of Leinster, handelte, die dem Italiener neben zusätzlichen Einkünften auch Protektion und gesellschaftliches Prestige sicherten. Auf diese Weise wurde Dragonettis Technik in England für etwa hundert Jahre maßgeblich. Seine Bogenführung wurde in weiterentwickelter Form an den Schulen von Wien und Prag gelehrt, von wo aus sie sich in ganz Mittel- und Osteuropa verbreitete. Sein Fingersatz war allerdings derart stark auf die eigene Physis und die Bauweise seiner Instrumente hin ausgerichtet, dass er hierin ohne Nachahmer blieb. Mano mostro Kaum eine zeitgenössische Schilderung versäumt, die „ungeheure“ Größe und Kraft der Hände Dragonettis zu erwähnen. Caffi präzisiert, dass der Bassist „auf eine nichts weniger als bequeme Saitenlage hielt“, die „mehr als das Doppelte der gewöhnlichen Höhe“ erreicht haben soll. Andere Musiker endeten beim Versuch, auf Dragonettis Instrument zu spielen, „damit, dass ihnen das Blut aus den Fingern spritzte“. Wenn dies auch vom geigenbauerischen Standpunkt her nicht zwingend ist, wurde Dragonettis außergewöhnlich sonorer Klang im Allgemeinen auf diese extreme Besaitung zurückgeführt. Sporadisch scheint der Bassist mit vier- und sogar fünfsaitigen Instrumenten experimentiert zu haben, jedoch kehrte er immer wieder zum in Quarten (A1 – D – G) gestimmten Dreisaiter zurück. Die heute im Orchester übliche Stimmung wird daher oft auf die Autorität Dragonettis zurückgeführt. Ob und in welchem Ausmaß er mit Skordaturen gearbeitet hat, ist umstritten, da die kurzen Ausführungsanweisungen seiner Partituren widersprüchlich sind und in dieser Frage verschiedene Deutungen zulassen. Das „italienische Flageolett“ Von der Fähigkeit Dragonettis, Violinpartien auf dem Kontrabass in der originalen Tonlage wiederzugeben, wird zu oft, detailliert und kenntnisreich berichtet, als dass hieran ernstliche Zweifel angebracht wären. Solche extrem hohen Linien werden heutzutage, der Technik Bottesinis folgend, in der sogenannten Daumenlage ausgeführt, das heißt am zum Steg hin gerichteten Ende des Griffbretts. Dies ist nach Warneckes Ansicht auf dem Gasparo da Salò „direkt unmöglich“. Stattdessen habe Dragonetti eine besondere Technik des Flageolettspiels entwickelt und bis zur Perfektion kultiviert, die es ihm gestattete, hohe und höchste Töne auch in den tiefen Griffpositionen zu erzeugen. Warnecke äußert in seiner 1909 publizierten Studie die Überzeugung, Dragonettis Technik rekonstruiert zu haben, und prägt dafür den Begriff des „italienischen Flageoletts“. Obgleich der instrumentalpraktische zweite Teil des Werks Spielmöglichkeiten demonstriert, haben sich Warneckes Ansätze in den vergangenen Jahrzehnten nicht in erwähnenswerter Weise durchsetzen können. Dies diskreditiert seine Darstellung nicht notwendigerweise, da es auch anderwärts zahlreiche Hinweise auf eine höchst unkonventionelle Fingersatztechnik Dragonettis gibt. Bogentechnik Geradezu anachronistisch muten die von den technischen Neuerungen des 18. und 19. Jahrhunderts unberührten Bögen an, mit denen Dragonetti zeitlebens musizierte. Die Herkunft vom archaischen Violone-Bogen ist an ihrer extrem konvexen Form leicht erkennbar, auch fehlt jede Vorrichtung, die es erlaubt, die Spannung des Bogenhaars zu regulieren. Offenbar wusste er die Spieleigenschaften solch alter Bögen zu seinem Vorteil zu nutzen, denn gerade seine Bogentechnik wurde nicht nur bewundert, sondern auch weithin imitiert. Der kurze, kräftige Bogen begünstigt vor allem die rasanten, rhythmisch kleinräumigen Staccato-Figurationen, die das auffälligste Merkmal des Dragonetti-Stils sind, weit ausschwingende Kantilenen bilden dagegen die Ausnahme. 1827 versuchte Rossini, am Pariser Conservatoire den durch Dragonetti popularisierten Bogentyp und die dazugehörige Spielweise einzuführen, konnte sich damit aber letztlich nicht durchsetzen, obwohl seine Anregungen durchaus wohlwollend aufgenommen wurden. Der Belgier François-Joseph Fétis und der französische Bassist Guillaume Gélinek verfassten Artikel für die Fachpresse, die die Vorzüge des „Dragonetti-Bogens“ herausstellten. Der in der Dresdner Hofkapelle als Violinist tätige Karol Lipiński ließ sich aus London einen solchen Bogen schicken, dessen Effekt er mit den Worten fuoco celeste („himmlisches Feuer“) beschrieb. Sächsische Instrumentenbauer griffen die Konstruktionsweise auf und kombinierten sie mit den durch François Tourte eingeführten Neuerungen wie der konkaven Bogenstange und dem justierbaren Frosch. Dieser modernisierte Dragonetti-Bogen wurde später als „Dresdner Modell“ bekannt, heute nennt man ihn im Allgemeinen den „deutschen Bogen“. Persönlichkeit Die anekdotenfreudigen Berichterstatter des 19. Jahrhunderts heben bevorzugt auf die schrulligen, teilweise geradezu bizarren Seiten von Dragonettis Auftreten ab. Hierbei ist selten mit einiger Sicherheit zu sagen, inwieweit es sich um Tatsachen, Übertreibungen, eine dementsprechende Selbstdarstellung Dragonettis oder um Missverständnisse handelt, die die höchst eigenwillige Diktion des Italieners bei gesellschaftlichen Anlässen gelegentlich hervorrief. Der Privatmann Dragonetti Der Ruf als Exzentriker, in dem Dragonetti stand, war seiner Popularität beim englischen Publikum alles andere als abträglich, was erklärt, warum der sonst auf seine Ehre so bedachte Italiener kaum jemals gegen diesbezügliche Pressenotizen einschritt. Für ständige Aufmerksamkeit und Belustigung sorgte neben seiner übergroßen Zuwendung für seinen Hund Carlo auch seine Sammelleidenschaft für etliche Produkte des Kunsthandwerks wie Puppen und Schnupftabakdosen, aber auch Musikinstrumente, Bücher und Gemälde. Wiewohl aus seinem Testament deutlich hervorgeht, dass Dragonetti all diese Dinge tatsächlich sammelte, war dies in seiner Zeit weniger ungewöhnlich, als es heute erscheinen mag. So war beispielsweise auch Haydn begeisterter Puppensammler, und Tabakdosen stellten im England des 19. Jahrhunderts begehrte, in der Regel aus kostspieligen Materialien gefertigte Statussymbole dar. Es ist sogar denkbar, dass der Musiker die Publizität seiner Neigungen als eine Form von Reklame zu schätzen wusste: Wie viele andere Italiener in London unterhielt er eine Art informeller Im- und Exportagentur. Um seinen Bedarf an Instrumentenzubehör wie Saiten, Bogenhaar und dergleichen zu decken, stand er ohnehin in regelmäßigem Kontakt mit seiner Heimat, und er nutzte dies, um mit der Zeit einen schwunghaften Handel mit Luxusartikeln aufzubauen. Dass er sich in diesem Zusammenhang womöglich nicht immer im Rahmen der Legalität bewegte, erweist die Tatsache, dass er bei mindestens einer Gelegenheit nur durch die Intervention hochgestellter Gönner von einer Anzeige wegen Schmuggels verschont blieb. Dragonetti blieb zeitlebens Junggeselle, obwohl er zahlreiche Frauenbekanntschaften pflegte, die vermutlich alle platonischer Natur waren. Ein in seinem Nachlass aufgefundener Brief belegt, dass er mit seinem Weggang aus Venedig einer jungen Dame namens Teresa Battagia das Herz gebrochen hat. In London scheint er die Ungebundenheit vorgezogen zu haben, weil sie ihm erlaubte, seine gesellschaftlichen Kontakte ohne Einschränkung zu pflegen. Sein Verhältnis zum anderen Geschlecht schildern wahrscheinlich am treffendsten zwei überlieferte Zitate, die zudem den Vorzug haben, die idiosynkratische Ausdrucksweise des Musikers zu illustrieren: Nachlass Zum Zeitpunkt seines Todes wies Dragonettis Konto bei der Privatbank Coutts & Co. ein Guthaben von £937.17s.7d aus. Dieser Betrag erhöhte sich in den folgenden Wochen aufgrund der Tätigkeit der Nachlassverwalter auf £1007.12s.2d. Domenico Dragonetti starb also als vermögender Mann zu einer Zeit, als die überwiegende Mehrzahl der Orchestermusiker noch unter außerordentlich prekären Bedingungen ihrer Beschäftigung nachging. Die 59 Klauseln des Testaments bedenken daher neben Verwandten, engen Freunden und einigen Institutionen des öffentlichen Lebens vor allem Musikerkollegen mit teilweise großzügigen Vermächtnissen, darunter Wertpapiere und -gegenstände, Kunstwerke und vor allem Instrumente. Unter den zahlreichen Notendrucken und -handschriften, die Dragonetti gesammelt hatte, befand sich als besondere Rarität die einzige erhaltene Abschrift des Antonio Capuzzi zugeschriebenen Kontrabass-Konzerts. Novello spendete das Manuskript im Jahre 1849 dem British Museum. Der Kontrabass von Gasparo da Salò wurde dem Testament entsprechend der Fabbriceria, der Vermögensverwaltung des Domkapitels von S. Marco, rückübereignet. Das Instrument traf am 17. Juli 1847 in Venedig ein und wurde zunächst jahrelang in der robusten Transportkiste aufbewahrt, in der es heimgekehrt war. Der „Dragonetti-Bass“, wie er heute allgemein genannt wird, wurde im Jahr 2007 restauriert und ist seitdem wieder im Museum der Kirche zu besichtigen. Literatur Biografien Gian Luigi Dardo: Domenico Dragonetti. In: Alberto Basso (Hrsg.): Dizionario Enciclopedico della Musica e dei Musicisti. Unione Tipografico-Editrice Torinese, Turin 1988, ISBN 88-02-04165-2. Nanna Koch: Domenico Dragonetti. In: Ludwig Finscher (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2., neubearbeitete Ausgabe. Band 3, S. 1385 ff. Bärenreiter, Kassel 2001, ISBN 3-7618-1115-2. Fiona M. Palmer: Domenico Dragonetti in England (1794–1846). The Career of a Double Bass Virtuoso. Clarendon, Oxford 1997, ISBN 0-19-816591-9. Fiona M. Palmer: Domenico Dragonetti. In: L. Macy (Hrsg.): Grove Music Online; spk-berlin.de Hans F. Redlich: Domenico Dragonetti. In: Friedrich Blume (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Digitale Ausgabe der 1. Auflage. Band 3, S. 739 ff. Directmedia, Berlin 2001, ISBN 3-89853-460-X. Rodney Slatford: Domenico Dragonetti. In: Journal of the Royal Music Association, Vol. 97, No. 1, 1970, Online (hier online) W. B. Squire: Domenico Dragonetti. In: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 1888 Alexander Wheelock Thayer: Ludwig van Beethovens Leben: Nach dem Original-Manuskript deutsch bearbeitet von Hermann Deiters. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1907–1910; zeno.org Instrumentaltechnische Aspekte Alfred Planyavsky, Herbert Seifert: Geschichte des Kontrabasses. Schneider, Tutzing 1984, ISBN 978-3-7952-0426-6. Friedrich Warnecke: Ad infinitum. Der Kontrabass. Seine Geschichte und seine Zukunft. Probleme und deren Lösung zur Hebung des Kontrabaßspiels. Ergänzter Faksimile-Neudruck der Originalausgabe von 1909, edition intervalle, Leipzig 2005, ISBN 3-938601-00-0. A. C. White: The double bass. In: Proceedings of the Musical Association, 13th Sess., 99-112. 1886–1887. April 4, 1887; jrma.oxfordjournals.org Analyse von Einzelwerken Tobias Glöckler (Hrsg.): Domenico Dragonetti – Zwölf Walzer für Kontrabass solo. G. Henle, München 2007, (Quellenkritische Urtext-Edition). Nanna Koch: Konzertante Kuriositäten: Die Quintette für Solo-Kontrabaß bzw. Solo-Violine und Streicher von Domenico Dragonetti (1763–1846). Quellenstudien, Analyse und Edition nach Add. Ms. 17726, The British Library, London. Lang, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-631-50297-4 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 36, Musikwissenschaft 227). Weiterführende Literatur Josef Focht: Der Wiener Kontrabaß: Spieltechnik und Aufführungspraxis, Musik und Instrumente. Schneider, Tutzing 1999, ISBN 3-7952-0990-0. Fochts Studie schildert detailreich die teils problematische Situation des Kontrabass-Spiels im Wien des 18. Jahrhunderts. Die grundsätzliche Kenntnis von Dragonettis Bedeutung wird dabei vorausgesetzt und in den Kontext der Musizierpraxis der Zeit eingebettet, der Italiener selbst ist nur am Rande Gegenstand der Betrachtung. Kenneth Goldsmith (mit Zachary Carrettin): The Venetian Paganini. In: The Strad, CXVI/Nr. 1387, London, November 2005, S. 32–36. . Behandelt die Zusammenarbeit mit Antonio Capuzzi und die Entstehungsgeschichte von dessen Kontrabasskonzert. Weblinks Martina Grempler: Rossinis „Duetto per violoncello e contrabasso“. University of Chicago. Der Aufsatz schildert detailliert die künstlerische Zusammenarbeit Rossinis und Dragonettis. Anmerkungen und Einzelnachweise * Sofern nicht anders angegeben, verweist die Angabe Palmer auf die Monografie Dragonetti in England. Person um Ludwig van Beethoven Klassischer Kontrabassist Komponist (Klassik) Komponist (Romantik) Komponist (Italien) Komponist (Vereinigtes Königreich) Musiker (Venedig) Historische Person (Italien) Geboren 1763 Gestorben 1846 Mann
645872
https://de.wikipedia.org/wiki/Eugen%20Ewig
Eugen Ewig
Eugen Ewig (* 18. Mai 1913 in Bonn; † 1. März 2006 ebenda) war ein deutscher Historiker, der die Geschichte des frühen Mittelalters erforschte. Er lehrte als Professor für Geschichte an den Universitäten Mainz und Bonn und galt der Fachwelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als bester Kenner der Merowingerzeit. Da er nach dem Zweiten Weltkrieg als einer der wenigen deutschen Mediävisten betrachtet wurde, die nicht von nationalsozialistischem Gedankengut beeinflusst worden waren, konnte er eine wichtige Mittlerfunktion im Aussöhnungsprozess zwischen Deutschland und Frankreich übernehmen. Ewig gelang 1958 die Gründung der Deutschen Historischen Forschungsstelle in Paris, aus der 1964 das Deutsche Historische Institut Paris hervorging. Leben Herkunft und Jugend Eugen Ewig wuchs in einem katholischen Elternhaus auf. Er war der Sohn des Kaufmanns Fritz Ewig, der schon 1924 verstarb, und dessen Frau Eugenie. Von 1919 bis 1931 besuchte er das humanistische Beethoven-Gymnasium in Bonn; in seine Schulzeit fielen Ereignisse wie die Rheinlandbesetzung, die Hyperinflation und die Wirtschaftskrise. Zu seinen Lehrern gehörte der Romanist und Kulturphilosoph Hermann Platz, der ihn in Französisch unterrichtete. Vermutet wurde, dass Ewigs späteres Interesse für den lotharingischen Raum und für die Rheinlande auf den Einfluss von Platz zurückging. 1931 erwarb Ewig die Hochschulreife. Nach einem Ferienkurs in Dijon veränderte ein Aufenthalt in Paris seine Einstellung zu Frankreich wesentlich: „Mein von der Jugendbewegung geprägtes Weltbild wurde zwar nicht ganz verdrängt, aber erheblich korrigiert und relativiert durch das Erlebnis der französischen Metropole“. Seither war Ewig ein Liebhaber Frankreichs und der französischen Kultur. Studium in Bonn (1931–1937 bzw. 1938) In Bonn studierte Ewig von 1931 bis 1937 Geschichte, Deutsch, Romanistik (Französisch) und Philosophie. Zu seinen Studienfreunden zählten Paul Egon Hübinger und Theodor Schieffer. Ewig war aktiv beim KDStV Langemarck Bonn und damit Mitglied im Kartellverband katholischer deutscher Studentenvereine und im katholischen Jungmännerbund. In der ersten Hälfte seiner Studienzeit lag sein Schwerpunkt auf den Hauptfächern Geschichte und Germanistik. Zunächst wurde Wilhelm Levison sein maßgeblicher akademischer Lehrer, später Ernst Robert Curtius. Curtius prägte Ewigs Frankreichbild und verstärkte dessen aufkeimendes Interesse für Frankreich noch. Von seinem jüdischen Lehrer Levison, der infolge der Nürnberger Gesetze seines Amtes enthoben wurde, erhielt er als dessen letzter Schüler in Deutschland noch das Dissertationsthema. Ewig wurde 1936 mit einer ideengeschichtlichen Arbeit über den Kartäuser Dionysius, einen spätmittelalterlichen Theologen und Mystiker, promoviert. Das Werk des Dionysius, das in moderner Druckform 41 Bände umfasst, wurde systematisiert und geistesgeschichtlich eingeordnet. Die Dissertation lag quer zum herrschenden Zeitgeist; die Fragestellung entzog sich den Moden der deutschen Mediävistik der Jahre nach 1933. Der Satz in der Dissertation „Lichtlos und trübe ist die Gegenwart, wenn man sie an den Maßstäben der Vergangenheit mißt“ verdeutlicht einen pessimistischen Konservatismus und steht im Widerspruch zur zeitgenössischen Kraft- und Aufbruchsideologie der Nationalsozialisten. Da Levison 1935 von den Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Herkunft aus dem Amt gedrängt worden war, übernahm 1936 der Neuzeithistoriker Max Braubach die Prüfungsformalien. 1936 erschien die 80 Seiten umfassende Dissertation. Wie Schieffer und Hübinger erhielt Ewig den Kontakt zu seinem nach England emigrierten Lehrer Levison aufrecht. Nach der Promotion ermöglichten ihm niederländische Freunde einen dreimonatigen Aufenthalt in Paris, danach war Ewig zwei Jahre Hilfsassistent am Historischen Seminar in Bonn. Im Januar 1938 legte er das Staatsexamen für das Lehramt an höheren Schulen in Geschichte, Deutsch und Französisch ab. Aufgrund der politischen Verhältnisse wollte er jedoch nicht Lehrer werden. Für kurze Zeit übernahm er als Nachfolger Paul Egon Hübingers das Amt des Bücherwarts am Historischen Seminar. Tätigkeit als Archivar in Berlin, Breslau, Metz In der Zeit des Nationalsozialismus spielte die politische Einstellung eine große Rolle für die Karrieremöglichkeiten von Nachwuchswissenschaftlern. Ewig hatte als Schüler Levisons, als politisch Liberaler und als überzeugter Katholik ohne jede Bindung an die NSDAP keine Chance auf eine akademische Laufbahn. Schieffer und Hübinger, andere Schüler Levisons, entschlossen sich, am Institut für Archivwissenschaft eine dreisemestrige Archivausbildung zu durchlaufen. Ewig wollte ihrem Beispiel folgen. Ein Jahr lang bewarb er sich vergeblich um die Aufnahme im Institut für Archivwissenschaft und geschichtswissenschaftliche Fortbildung in Berlin-Dahlem. Er selbst vermutete, dass seine Aktivitäten im katholischen Jugendbund den Nationalsozialisten verdächtig erschienen. Schließlich wurde er doch noch am Dahlemer Institut angenommen und absolvierte ab April 1939 die Archivausbildung. Im selben Jahr verfasste er mit „Die Wahl des Kurfürsten Josef Clemens von Köln zum Fürstbischof von Lüttich, 1694“ seinen ersten größeren wissenschaftlichen Aufsatz. Er erschien in den Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein, die von den Nationalsozialisten als „klerikales Organ“ bezeichnet und 1944 verboten wurden. 1940 schloss Ewig die Archivausbildung mit dem Staatsexamen ab. Offenbar dachte er in dieser Zeit an einen Eintritt in die NSDAP, um seine Verbeamtung nach der Archivausbildung zu beschleunigen. Er unterzeichnete die Aufnahmepapiere, doch blieb dies folgenlos. In den Beständen finden sich keine Hinweise auf eine Mitgliedschaft Ewigs in der NSDAP. Das Referendariat brachte ihn 1941 nach Breslau. Im März 1941 wurde er als Staatsarchivassessor zur Wehrmacht eingezogen, ein Herzfehler befreite ihn vom Militärdienst. Durch Vermittlung des Reichsarchivrats Wilhelm Kisky wurde Ewig noch im selben Jahr in das lothringische Staatsarchiv Metz versetzt. Dort wurde er Stellvertreter des Archivdirektors Aloys Ruppel. Während seiner Tätigkeit in Metz entstand 1943 der Beitrag über die „Deutschordenskommende Saarburg“ (1943). Ewig verwertete für die beiden in seiner Metzer Zeit entstandenen Arbeiten die Bestände des Stadtarchivs Erkelenz, des Staatsarchivs Wien und des Archivs Metz. Nach Problemen mit der lothringischen Zivilverwaltung kehrte Ruppel im November 1942 nach Mainz zurück. Seit 1943 war Heinrich Büttner Ewigs Vorgesetzter im Metzer Archiv. Nachdem Büttner zur Wehrmacht eingezogen worden war, übernahm Ewig die kommissarische Leitung. Seine Amtsführung brachte ihm wertvolle französische Verbindungen wie die zu Robert Schuman ein. Im Staatsarchiv Nancy wertete Ewig 1943 die Landbeschreibung des Herzogtums Lothringen von 1585/86 aus. Seine Arbeiten entsprachen nicht der von der Gauleitung erwarteten politischen Linientreue und wurden daher entweder umgeschrieben oder gar nicht erst veröffentlicht. 1943 verfasste Ewig für die Lokalbeilage zur NSZ Westmark den Aufsatz „Metz und das Reich im Mittelalter“. Die Redaktion entfernte alles, „was der nationalsozialistischen Geschichtsschreibung und der Germanisierungspolitik in Lothringen widersprach […]. Lothringische Eigenständigkeit und Freiheitsliebe, Metzer Autonomie und Sonderstellung sollten der Vergessenheit anheimfallen“. Ewig war in dieser Zeit mit Forschungen zur romanisch-germanischen Sprachgrenze betraut. Die „Gauleitung Westmark“ wollte diese zur Legitimierung deutscher Ansprüche auf Lothringen und weitere Gebiete im Westen nutzen. In der Anfang 1944 vorgelegten Abhandlung über „Die Verschiebung der Sprachgrenze in Lothringen im 17. Jahrhundert“ konnte Ewig nachweisen, dass seit etwa 1663 das nach dem Dreißigjährigen Krieg entvölkerte Land von Frankreich aus wieder besiedelt wurde. Er wandte sich jedoch gegen die von Nationalsozialisten vertretene These, Ludwig XIV. habe „aus nationalen Gesichtspunkten“ eine ethnische Politik mit der Folge einer gezielten Nordverlagerung der deutsch-französischen Sprachgrenze betrieben; Motive dieser Art hätten den „Staatsmännern der Zeit im allgemeinen fern gelegen“. Während des Kriegs war Ewig Mitglied der Archivschutzkommission, deren Aufgabe darin bestand, Archivmaterial deutscher Provenienz aus Frankreich nach Deutschland zurückzuführen. Es gelang ihm, den Transport der Archivbestände zu verhindern, indem er sich krank stellte und anschließend im Keller des Archivs versteckte. Ewig stand auf der schwarzen Liste der Gauleitung Westmark und sollte nach einer Rückeroberung Lothringens getötet werden. Ihm wurde unter anderem vorgeworfen, „daß er die deutsche Besatzung der Präfektur zur Waffenstreckung veranlaßt“ habe. Am 19. November 1944 erlebte Ewig im Keller der Präfektur die Entscheidungsschlacht der amerikanischen Armee um die von Hitler zur Festung erklärte Stadt Metz. Nach Kriegsende wurde Ewig als deutscher Zivilist für kurze Zeit interniert, durch Fürsprache seiner französischen Freunde kam er jedoch bereits im Februar/März 1945 frei. Lektor an der Universität Nancy (1946–1949) Robert Minder verschaffte ihm 1946 eine Lektorenstelle an der Universität Nancy, die er bis 1949 ausübte. Ewig war der erste deutsche Historiker, der nach dem Zweiten Weltkrieg einen Lehrauftrag an einer französischen Universität erhielt. Bereits im Herbst 1945 trat der französische Historiker Jean de Pange an Ewig heran. Er vermittelte den Kontakt zu Raymond Schmittlein, dem Leiter der Kulturabteilung bei der französischen Militärregierung. Durch dessen Einsatz wurde Ewig zu Beginn des Jahres 1948 von Robert Schuman im Hôtel Matignon empfangen. Mainzer Jahre (1946–1964) Bereits im Dezember 1945 wurde Ewig von Schmittlein ein Lehrstuhl für Regionalgeschichte an einer noch zu gründenden rheinischen Universität in Aussicht gestellt. Die Standortwahl fiel wenige Wochen später zugunsten von Mainz aus, das auch neue Landeshauptstadt werden sollte. Dort war Ewig der erste Historiker, dem von französischer Seite eine Stelle angeboten wurde. 1946 wurde er der erste Oberassistent an der von der französischen Besatzungsmacht neugegründeten Universität Mainz. Bei dem an der neuen Universität von 1947 bis 1949 durchgeführten Entnazifizierungsverfahren wurde Ewig als einziger Historiker als völlig „unbelastet“ eingestuft. Die unter französischem Einfluss stehende Universität ermöglichte Ewig auch, seine Beziehungen zu Freunden aus Frankreich zu pflegen. Er übte durch seine guten Beziehungen zur Militärregierung maßgeblichen Einfluss auf die Stellenbesetzung aus. 1946 wurden Theodor Schieffer und Heinrich Büttner zu außerplanmäßigen Professoren ernannt, Schieffer wurde 1951 ordentlicher Professor. Mainz entwickelte sich in dieser Zeit zu einem Sammelbecken für katholische Historiker, die vor 1945 zumeist an der Universität Bonn tätig gewesen waren. Zu Beginn seiner Lehrtätigkeit leitete Ewig Seminare zur Landesgeschichte des Niederrheins und zu den Historischen Hilfswissenschaften. Einen Ruf an die Universität des Saarlandes lehnte er 1948 ab. 1951 heiratete er. Seit 1951 wirkte er als Dozent und blieb in dieser Funktion bis 1954. 1952 erhielt Ewig außerdem einen Lehrauftrag an der Universität Bonn. Von Büttner und Schieffer wurde er zur Habilitation motiviert. 1952 habilitierte er sich mit Unterstützung von Leo Just mit der Arbeit „Trier im Merowingerreich. Civitas, Stadt und Bistum“. Sie ist zum Klassiker in der mediävistischen Forschung geworden. In dieser Arbeit untersuchte Ewig anhand der ältesten deutschen Bischofsstadt die Wandlungen von der Spätantike zum Frühmittelalter. Seine Habilitation bestand in der Analyse des Kontinuitätsproblems am Beispiel der städtischen und kirchlichen, sozialen und kulturellen Wandlungen der Moselmetropole. In der Habilitation wird seine interdisziplinäre Arbeitsweise deutlich. Ewig verarbeitete die Erkenntnisse der Diplomatik, Genealogie, Archäologie, Epigrafik, Sprachwissenschaft und Patrozinienkunde. Nach der Habilitation wurde er 1954 ordentlicher Professor in Mainz als Nachfolger Schieffers, der nach Köln ging. In Mainz befasste sich Ewig hauptsächlich mit der politischen Struktur des fränkischen Reiches. Höhepunkt dieser Studien war die „Descriptio Franciae“ anlässlich der Europarats-Ausstellung in Aachen über Karl den Großen. In dieser beschreibenden Analyse widmete er sich den Kernlandschaften des merowingischen Frankenreichs, die sich aus Paris mit der Île-de-France, der Picardie, der Champagne sowie den Gebieten um Maas, Mosel und Rhein zusammensetzten. 1953 verfasste Ewig eine zusammenhängende Darstellung über Völkerwanderung, Merowinger- und Karolingerzeit in Peter Rassows Handbuch, Deutsche Geschichte im Überblick. 1955 trat er die Nachfolge Schieffers als Präsident der Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte an. Bis 1965 übte er dieses Amt aus. Mit Max Braubach und Gerd Tellenbach gründete er 1957 in Mainz die „Wissenschaftliche Kommission zur Erforschung der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen“ mit dem Ziel, „wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der mittleren und neueren Geschichte in Frankreich zu fördern und Kontakte zwischen deutschen und französischen Historikern herzustellen oder zu vertiefen“. Ewig wurde Geschäftsführer der Kommission. 1960 war er Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Mainz. Im selben Jahr wurde er Mitglied der Historischen Kommission für Hessen und korrespondierendes Mitglied der Académie luxembourgeoise de Belgique sowie korrespondierendes Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts. 1960 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte, der bis heute als bedeutendstes Forum für die deutschsprachige Mediävistik gilt. In Mainz betreute er zwei Promotionen und förderte die Habilitation von Peter Classen. Seine bedeutendsten Schüler an der dortigen Universität waren Josef Semmler und Hans Hubert Anton. Gründung des Deutschen Historischen Instituts in Paris und Tätigkeit ebendort (1958–1983) Bereits vor Eugen Ewig hatte es Versuche von Paul Kehr (1902–1904) und Theodor Mayer (1941–1943) zur Gründung eines Deutschen Historischen Instituts in Paris gegeben. Ewig zählte mit Paul Egon Hübinger und Gerd Tellenbach zu den Teilnehmern der deutsch-französischen Historikertreffen in Speyer, die zwischen 1948 und 1949 auf Initiative der französischen Militärregierung stattfanden. In Speyer wurden Netzwerke zu französischen Kollegen geschaffen, die für die Einrichtung eines historischen Instituts in Paris nützlich sein sollten. Seit Ende der 1940er Jahre bestand ein direkter Kontakt zwischen Ewig und Bundeskanzler Konrad Adenauer. Der künftige Schwiegervater Ewigs war Paul Martini, der Professor für Innere Medizin an der Universität Bonn und zugleich Leibarzt von Adenauer war; er stellte für Ewig den Kontakt zum Bundeskanzler her. Zwischen dem französischen Außenminister Schuman und Adenauer versuchte Ewig als Kontaktperson zu fungieren. 1950 bemühte sich Ewig in Paris, mögliche „Voreingenommenheiten“ gegenüber Adenauer abzubauen. Die besondere Wertschätzung im Kanzleramt brachte ihm auch das Angebot ein, zeitlich befristet den Posten des Kulturreferenten in Paris zu übernehmen. Ewig lehnte jedoch aus Rücksicht auf seine Familie und die Universität Mainz ab. 1950 skizzierte Ewig in einem „vertraulichen“ Schreiben an Adenauer ein historisches Forschungsprojekt zum besseren „Verständnis der europäischen Vergangenheit“. 1953 konkretisierte Ewig seine Pläne. Er schlug ein „zweiseitiges Projekt“ und „die Bildung eines Teams mittelalterlicher Historiker“ vor. Es sollte in Frankreich ein deutsches und in der Bundesrepublik ein französisches Institut gegründet werden. 1954 äußerte Adenauer die Absicht, die innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft angestoßenen Projekte zur Gründung einer deutsch-französischen Forschungsstelle zu unterstützen. Vom 26. Februar bis zum 17. März 1956 wurde Ewig zu Sondierungen nach Paris geschickt. Dort traf er mit 30 führenden französischen Persönlichkeiten der Universitäten und der Kultur zusammen. Gegen die Einrichtung einer deutschen Forschungsstelle gab es keine Widerstände. Die Gründung sollte auf Universitätsbasis („sur base universitaire“) erfolgen, und es wurde der Rat erteilt, sich zunächst auf das Mittelalter zu konzentrieren, erst später solle man zur Frühen Neuzeit oder zu der Zeit nach 1918 fortschreiten. Ewig gelang es 1958 mit Unterstützung Robert Schumans und Konrad Adenauers sowie unter tatkräftiger Mithilfe von Hübinger, der damals die Kulturabteilung des Bundesinnenministeriums leitete, in der Pariser Rue du Havre das „Centre allemand de recherches historiques“ zu eröffnen. Die Etage in der Rue du Havre wurde von Ewig aus privaten Mitteln finanziert. Das Centre und später das Institut waren ein privater Verein nach französischem Recht, der erst 1994 aufgelöst wurde. Zu den Gründungsvätern gehörten neben Ewig Gerd Tellenbach, Herbert Grundmann, Theodor Schieffer und Max Braubach. Für kurze Zeit dachte Ewig daran, diese Institution „Institut Centre Wilhelm Levison“ zu nennen. Von 1958 bis 1964 war Ewig an der Konzeption und Durchführung deutsch-französischer Kolloquien in Saarbrücken, Fulda, Münster, Bochum, Regensburg, Bamberg und Worms beteiligt. Bereits das erste deutsch-französische Historikertreffen in Saarbrücken brachte einen deutlichen Fortschritt in den Beziehungen zwischen den beiden Nationen, wie Ewig im Tagungsbericht notierte. Von 1959 bis 1964 organisierte er Jahresvorträge deutscher Historiker in Paris. 1964 wurde nach mehrjährigen Verhandlungen die Umwandlung der Forschungsstelle in eine unselbständige Bundesanstalt im Geschäftsbereich des Bundesministers für wissenschaftliche Forschung erreicht. Die Forschungsstelle wurde zum Deutschen Historischen Institut und ein wissenschaftlicher Beirat wurde konstituiert. Von 1964 bis 1983 war Ewig dessen Vorsitzender. 1973 steuerte er einen umfangreichen Artikel zur neuen Institutszeitschrift Francia bei. Ewig erhielt von französischer Seite zahlreiche Ehrungen: 1970 wurde er korrespondierendes Mitglied der Académie des inscriptions et belles-lettres, die ihm 1975 zudem den selten vergebenen Rang eines Associé étranger verlieh. 1979 wurde er korrespondierendes Mitglied der Académie des sciences, Arts et Belles Lettres in Dijon. Mit dem Chevalier im Ordre des Palmes Académiques erhielt er eine der höchsten Auszeichnungen Frankreichs. Zudem wurde Ewig bereits 1961 Ehrenmitglied des Institut Grand-Ducal de Luxembourg. Lehrtätigkeit in Bonn (1964–1980) Im Jahre 1964 wurde Ewig Nachfolger von Helmut Beumann auf Levisons einstigem Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte an der Universität Bonn. In seinen Seminaren setzte er die Schwerpunkte auf Quellenlektüre und -interpretation. Von den Studentenunruhen 1968 blieb er unbehelligt, da er als unpolitisch galt. In Bonn betreute er 18 Dissertationen. Zu seinen Schülern dieser Jahre zählten Jörg Jarnut, Horst Ebling, Reinhold Kaiser, Ulrich Nonn, Manfred van Rey, Rudolf Schieffer, Hans Hubert Anton und Gerhard J. Kampers. Hinzu kamen die Habilitationen von Heinz Thomas und Ingrid Heidrich. In Bonn verlagerte sich Ewigs Forschungsinteresse auf die Geschichte von Christentum und Kirche in fränkischer Zeit. Er befasste sich mit Kult- und Patroziniengeschichte, mit der Mission und mit der Bischofsherrschaft. Außerdem widmete er sich verstärkt der rheinischen und der politischen Geschichte des Frankenreichs. Die zahlreichen Einzelforschungen mündeten schließlich in Beiträge zu den maßgeblichen Handbüchern des Faches. Über das 6. bis 9. Jahrhundert verfasste Ewig von 1966 bis 1975 diverse Abschnitte in Hubert Jedins „Handbuch der Kirchengeschichte“. Er schrieb den Abschnitt zur „Fränkischen Reichsbildung“ (1976) im 1. Band des von Theodor Schieder herausgegebenen „Handbuchs der europäischen Geschichte“ und – auf Grundlage seiner Habilitation – die Darstellung „Das Trierer Land im Merowinger- und Karolingerreich“ im ersten Band der „Geschichte des Trierer Landes“ (1964). Zur „Rheinischen Geschichte“ von Franz Petri und Georg Droege trug er die Darstellung „Die Rheinlande in fränkischer Zeit 451–919/31“ (1980) bei. Ewig schätzte die so genannte „Bonner Schule“ der Landesgeschichte. Für die Festschriften zu Ehren der Institutsleiter am Bonner Institut für geschichtliche Landeskunde – Franz Steinbach, Franz Petri und Edith Ennen – verfasste er Beiträge. Während seiner Lehrtätigkeit in Bonn wurde er in eine Vielzahl bedeutender wissenschaftlicher Gremien aufgenommen: 1975 wurde er korrespondierendes Mitglied der Monumenta Germaniae Historica in München, 1978 ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste; ab 1979 war er korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Für seine Leistungen wurden ihm außerdem die Ehrendoktorwürden der Université de Toulouse und der Universität Freiburg (Schweiz) verliehen. 1980 wurde Ewig emeritiert. Letzte Jahre Ewig publizierte noch in hohem Alter und unterstützte weiterhin das Deutsche Historische Institut in Paris. Zu seinem 75. Geburtstag wurde ein wissenschaftliches Kolloquium zu seinen Ehren veranstaltet. Nach seinem 90. Geburtstag wirkte er an den Vorbereitungen zum 50. Jahrestag der Gründung des DHI mit. Für sein Bemühen um einen Ausgleich mit dem „Erbfeind“ Frankreich wurde er zum 90. Geburtstag von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum „Erbfreund“ ernannt. Noch wenige Tage vor seinem plötzlichen Tod vollendete er das Manuskript einer Arbeit über die Beziehungen der Franken zum Römischen Reich vom 3. bis zum 5. Jahrhundert. Der Aufsatz erschien in den Rheinischen Vierteljahrsblättern. Werk Ewigs umfangreiches wissenschaftliches Œuvre ist im Zeitraum von 1936 bis 2006 entstanden und umfasst mehr als 100 Titel. Zahlreiche Beiträge erschienen auf Französisch. Das zentrale Thema seiner Forschungen war der Transformationsprozess des Frankenreiches von der Spätantike über die Zeit der Merowinger bis zu den Karolingern. Bekannt geworden ist Ewig als Spezialist für die Erforschung der Merowingerzeit, weitere Arbeiten behandeln die christlichen Grundlagen von König- und Kaisertum, die Staats- und Kirchenlehre sowie die Fürstenspiegelliteratur. Seine ersten Forschungsbeiträge verfasste Ewig zum späten Mittelalter und zur frühen Neuzeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte er sich jedoch auf das Frühmittelalter und insbesondere auf das Frankenreich der Merowinger. Dies war Resultat der Bemühungen, den Mythos von der deutsch-französischen Erbfeindschaft mit wissenschaftlichen Mitteln zu dekonstruieren und die gemeinsamen Wurzeln der deutschen und der französischen Geschichte herauszuarbeiten. Als Fluchtpunkt dienten dabei die Bemühungen um die europäische Einigung in seiner Gegenwart. Ewig begründete seine Umorientierung aus der Rückschau mit den Worten: „Die Wahl war von dem Wunsch bestimmt, die Grundlagen der europäischen Einheit herauszuarbeiten, ein neues Geschichtsbild mitzuprägen und dadurch auch an der Gestaltung der Zukunft mitzuwirken.“ Im Mittelpunkt seiner Forschungen stand wiederholt das spätantike und frühmittelalterliche Gallien. Grundlegend für seine Arbeiten wurde ein strikt empirischer Zugriff. Nach der Ausbreitung des Quellenmaterials erfolgte dessen kritische Erörterung. Daraus wurden Schritt für Schritt vorsichtige Schlussfolgerungen gezogen, die schließlich in ein Gesamtergebnis mündeten. Das Deutsche Historische Institut ehrte seinen Gründer durch die von Hartmut Atsma besorgte Herausgabe seiner gesammelten Schriften in zwei Bänden. Der 1976 erschienene erste Sammelband über das spätantike und fränkische Gallien umfasst Arbeiten vorwiegend zur politischen Geschichte, zum Nachwirken der römischen Institutionen, zum Einfluss Konstantins des Großen auf die Nachwelt, zum christlichen Königsgedanken, zu Volkstum und Volksbewusstsein im 7. Jahrhundert, zur politischen Struktur Galliens und über die fränkischen Reichsteilungen und Teilreiche von 511 bis 714. Der zweite Band von 1979 enthält insbesondere Untersuchungen zur Kirchengeschichte. Ein dritter Band seiner Schriften aus den Jahren 1974 bis 2007 wurde 2007 von den Bonner Historikern Matthias Becher und Theo Kölzer sowie Ewigs Schüler Ulrich Nonn herausgegeben. Die Beiträge betreffen neben der fränkischen Geschichte vor allem die rheinische Frühzeit. Merowingerforschung Noch vor der Veröffentlichung der Habilitationsschrift hatte Ewig zwei umfangreiche Studien über die Teilungen des merowingischen Frankenreichs und die daraus hervorgegangenen Teilreiche des 6. und 7. Jahrhunderts publiziert. Zusammen mit einigen folgenden Arbeiten bieten sie eine Analyse der Grundstrukturen des Frankenreiches sowie der Konflikte der Könige und Großen in dieser Zeit. Damit hatte Ewig sowohl einen strukturgeschichtlichen Rahmen als auch einen Überblick über das politische Geschehen geliefert, der als Ersatz für die fehlenden Jahrbücher des fränkischen Reiches unter den Merowingern dienen kann. Bereits 1955 gelang es ihm zu zeigen, dass römische Institutionen in der Merowingerzeit in großem Umfang fortlebten. In zahlreichen Arbeiten widmete er sich dem Volkstum und dem Problem des Volksbewusstseins im Frankenreich des 7. Jahrhunderts sowie dem christlichen Königsgedanken im Frühmittelalter, in anderen Studien untersuchte er die merowingische Dynastie. Auf der Basis einer Analyse der verschiedenen Versionen der fränkischen Trojasage fragte er insbesondere nach der Herkunft der Königsfamilie. Seine prosopografischen Arbeiten brachten neue Erkenntnisse zur Genealogie der Merowinger, zum Taufdatum Chlodwigs und zum sogenannten Staatsstreich Grimoalds. In Spezialstudien widmete er sich den Bischofsprivilegien, den Bischofsgräbern und den Legenden. 1988 mündeten die zahlreichen Einzelbeiträge in die Überblicksdarstellung „Die Merowinger und das Frankenreich“. Obwohl im selben Jahr Patrick J. Geary und Waltraut Bleiber ähnliche Darstellungen veröffentlichten, avancierte das Buch zum Standardwerk über die Merowingerzeit. 2006 erschien es in der fünften Auflage. Das Rheinland als Zentralregion Für Ewig bildete das Rheinland eine politische und kulturelle Zentralregion Europas. Der Einfluss seiner Lehrer Wilhelm Levison und Hermann Platz dürfte entscheidend für seine Hinwendung zur Erforschung dieses Raums gewesen sein. Die Bedeutung, die er dem Rheinland zuschrieb, wird im Einleitungskapitel seiner Dissertation erkennbar: „Nie sind in den Landschaften des Rheins die großen Erinnerungen an ihre universelle Führerstellung in Europa geschwunden, seitdem sie in den Schatten der Großmächte aus West und Ost getreten sind.“ Im Mittelpunkt der Habilitationsschrift standen die Rolle der Moselmetropole Trier und das Problem der politischen, sozialen, wirtschaftlichen, kirchlichen und kulturellen Kontinuität von der Antike zum Mittelalter. Ewig untersuchte dazu unter anderem die Stellung des Bischofs in der Stadt und in der Diözese, die Besitzstruktur der Bischofskirche und die Siedlungs- und Sprachgeschichte. Ähnliche Beiträge verfasste er für Köln und Ribuarien (Rheinlande) sowie für Mainz und den Mittelrhein. Besondere Bedeutung wies er der „pränationalen Phase“ des fränkischen Reiches zu. Das deutsche und das französische Volk seien aus dem Zerfall des Frankenreichs hervorgegangen und damit weit später entstanden, als die ältere Forschung angenommen habe. Eine wichtige Rolle hätten dabei die Rheinlande und Mosellanien (Mosellande) gespielt. Für Ewigs Arbeiten zum Rheinland und zum Moselland sind zwei Aspekte charakteristisch. Zum einen überschritt er den Zeithorizont des Mediävisten, indem er die Zeit von der Spätantike bis zu den Karolingern als Gesamtheit betrachtete. Zum anderen ermöglichten ihm genaue Untersuchungen der landschaftlichen Besonderheiten, Umfang und Grenzen politischer Großräume besser und präziser zu fassen. Ewigs Einschätzung der historischen Bedeutung des Rheinlands hatte Folgen für seine politischen Ansichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg zählte er zu den Fürsprechern eines Rheinstaats. An der Zentrumspartei kritisierte er, dass sie sich nach dem Ersten Weltkrieg gegen eine Autonomie des Rheinlands ausgesprochen hatte. In der neu gegründeten Zeitschrift Geschichte in Wissenschaft und Unterricht gab er 1950 mit dem Aufsatz „Landschaft und Stamm in der deutschen Geschichte“ eine Übersicht über die deutsche Geschichte aus rheinischer Perspektive. In diesem Beitrag formulierte er eine rheinische „Kernlandtheorie“. Ewig sah Deutschlands Zentrum im Rheinland und plädierte für eine historiografische Westverschiebung des preußenlastigen Deutschlandbildes von Berlin nach Bonn. „Nicht zufällig ist der Schwerpunkt unseres Lebens gerade in einer Zeit, die zur europäischen Einheit strebt wieder an den Rhein gerückt. Damit ist eine wichtige Voraussetzung für die Sendung des rheinischen Deutschlands gegeben“. Ewigs Abneigung gegen das Preußentum ging nicht nur auf den Kulturkampf zurück, sondern richtete sich grundsätzlich gegen einen von Berlin aus regierten deutschen Nationalstaat. Der von ihm angestrebte Rheinstaat sollte als Bastion gegen ein vom preußischen Protestantismus dominiertes Deutschland dienen. Folglich gab Ewig als überzeugter Rheinländer das ihm im Jahre 1985 verliehene Bundesverdienstkreuz I. Klasse 1991 zurück, als Berlin Bundeshauptstadt und Bonn eine Bundesstadt wurde. Wirkung Nachlass und Gedenken Ewigs Personalakte als akademischer Lehrer an der Universität Bonn bietet nur wenige Informationen. Sie enthält nicht mehr als die obligatorischen Anträge auf Forschungssemester und Mitteilungen an den Dekan über neue Ehrungen und Auszeichnungen. Biografische Annäherungen bieten hauptsächlich die Lebensbilder und Würdigungen seiner Schüler, die über Ewig als Zeitzeugen berichten können. Die Privatpapiere Ewigs sind eine wichtige Quelle für die Gründungsgeschichte des Deutschen Historischen Instituts Paris. 2007 wurde ein Teil dieser Dokumente vom Pariser Institut herausgegeben. Im Todesjahr 2006 widmete ihm die vom Deutschen Historischen Institut in Paris herausgegebene Fachzeitschrift Francia den Mittelalterband 33/1. Er enthält Nekrologe seines Schülers Reinhold Kaiser und von Werner Paravicini, dem damaligen Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Paris. Am 1. Dezember 2006 wurden im Rahmen der akademischen Trauerfeier in Bonn Vorträge von dem damaligen Dekan der Philosophischen Fakultät Jürgen Fohrmann, dem Bonner Historiker Theo Kölzer sowie von seinen Schülern Rudolf Schieffer und Ulrich Nonn gehalten, die im Jahr 2007 in der Reihe „Alma Mater. Beiträge zur Geschichte der Universität Bonn“ erschienen. Zum fünfzigjährigen Jubiläum des Deutschen Historischen Instituts untersuchte ein Kolloquium dessen Ursprünge mit Hilfe eines personengeschichtlichen Ansatzes. Die Biografien der Institutsgründer und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus standen im Blickpunkt. Für den von Peter Schöttler geäußerten Generalverdacht, deutsche Archivare hätten im besetzten Frankreich geplündert, forderte Matthias Pape Beweise. Nach Pape hat Ewig dazu beigetragen, die Metzer Bestände zu bewahren. Im hierzu 2007 veröffentlichten Sammelband wurden Ewig gleich zwei Beiträge gewidmet. Reinhold Kaiser behandelte das wissenschaftliche Werk und Ulrich Pfeil beleuchtete Ewigs Wirken bei der Gründung des Deutschen Historischen Instituts. Wissenschaftliche Nachwirkung Ewigs Forschungen beeinflussten die Mediävistik nach 1945 nachhaltig, da er die europäische Zusammenarbeit zur Grundlage seines wissenschaftlichen Wirkens machte und damit neue Perspektiven erschloss. Sein Schüler Rudolf Schieffer bemerkte, dass er zu den Historikern gehöre, die das „neue Bild entscheidend mitgestaltet [haben], das sich seit 1945 durchgesetzt hat und die gemeinsamen Wurzeln der europäischen Völker in den Vordergrund treten läßt“. Insbesondere die Frühmittelalterforschung wurde von Ewigs Arbeiten geprägt. Grundsätzliche Kritik übte einzig Nancy Gauthier an der Auswertung späterer Quellen für die Spätantike und das frühe Mittelalter. Die Arbeiten seines Schülers Hans Hubert Anton korrigierten Ewigs Habilitationsschrift über Trier in einigen Detailfragen. Anton führte Ewigs Studien zu den christlichen Grundlagen des Königtums in Untersuchungen zu den frühmittelalterlichen Fürstenspiegeln fort. Die landschaftlichen Einzeluntersuchungen zu Trier wurden für Reims, Soissons, Mainz und Laon fortgesetzt. Die Arbeiten zu den Teilungen und Teilreichen wurden aus verfassungsgeschichtlicher Sicht und aus der Perspektive der historischen Geografie vertieft. Untersuchungen der Testamente der Merowingerzeit sind von Ewigs quellenkritischen Analysen der Bischofsprivilegien beeinflusst. Die Beiträge zur Dynastie der Merowinger wurden für die Präzisierung der Chronologie dieser Zeit herangezogen. Der Aufsatz über Milo, den angeblichen Bischof von Reims und Trier, der eine entscheidende Stütze für Karl Martell gewesen sein soll, hat Untersuchungen über die Rolle des Bischofs in der Spätantike und im Frühmittelalter angeregt. Die Studie „Descriptio Franciae“ beeinflusste die Pfalzenforschung in Frankreich. Ewigs Arbeiten zur Königsfamilie stehen im größeren Kontext personengeschichtlicher Forschungen, die insbesondere von Gerd Tellenbach, Karl Schmid, Karl Ferdinand Werner oder Karl Friedrich Stroheker betrieben wurden. Nicht weniger bedeutend war Ewig als akademischer Lehrer und Wissenschaftsorganisator. Neun seiner Schüler erhielten eine Mittelalter-Professur. Rudolf Schieffer folgte 1980 seinem Lehrer auf dem mediävistischen Lehrstuhl in Bonn, den er bis 1994 innehatte. Schriften (Auswahl) Ein vollständiges Verzeichnis der Veröffentlichungen Eugen Ewigs findet sich in: Theo Kölzer, Ulrich Nonn: Schriftenverzeichnis Eugen Ewig. In: Francia, Band 34/1 (2007), S. 237–244 (online). Trier im Merowingerreich. Civitas, Stadt, Bistum. Paulinus-Verlag, Trier 1954. (Nachdruck: Scientia-Verlag, Aalen 1987, ISBN 3-511-00875-1.) Die Rheinlande in der fränkischen Zeit (451–919/31). Düsseldorf 1980, ISBN 3-590-34201-3 (Rheinische Geschichte in drei Bänden, Herausgegeben von Franz Petri, Georg Droege, 1/2: Frühes Mittelalter). Die Merowinger und das Frankenreich. Mit Literaturnachträgen von Ulrich Nonn. 6., aktualisierte Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-17-022160-4 [zuerst 1988]. Spätantikes und fränkisches Gallien. Band 1–2: Gesammelte Schriften (1952–1973). Herausgegeben von Hartmut Atsma. Artemis, München 1976 und 1979 (= Beihefte der Francia, Band 3.1 und 3.2); Band 3: Gesammelte Schriften (1974–2007.) Herausgegeben von Matthias Becher, Theo Kölzer und Ulrich Nonn. Thorbecke, Ostfildern 2009 (= Beihefte der Francia, Band 3.3). Literatur Nekrologe Volker Bierbrauer: Eugen Ewig 18.5.1913 – 1.3.2006. In: Bayerische Akademie der Wissenschaften, Jahrbuch 2006, München 2007, S. 322–326 (online). Reinhold Kaiser: Eugen Ewig (1913–2006). In: Francia, Band 34/1 (2007), S. 223–227 (online). Martina Knichel: In memoriam Eugen Ewig * 18. Mai 1913 – † 1. März 2006. In: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte, Band 58 (2006), S. 431–433. Theo Kölzer: Nachruf auf Eugen Ewig. In: Jahrbuch 2007 der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, 2007, S. 146–150. Werner Paravicini: Eugen Ewig – der Gründer. In: Francia, Band 34/1 (2007), S. 228–236 (online). Rudolf Schieffer: Konkrete Spätantike. Vermittler seiner Zeit: Zum Tod des Historikers Eugen Ewig. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. März 2006, Nr. 53, S. 35. Universität Bonn: In memoriam Eugen Ewig: (18.05.1913 – 01.03.2006). Reden gehalten bei der Akademischen Gedenkfeier am 1. Dezember 2006 im Festsaal der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Bonn 2007, ISBN 978-3-416-03171-4. Herwig Wolfram: Eugen Ewig [Nachruf]. In: Almanach der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 156. Jahrgang (2005/2006), S. 511–516. Darstellungen Reinhold Kaiser: Eugen Ewig. Vom Rheinland zum Abendland. In: Ulrich Pfeil (Hrsg.): Das Deutsche Historische Institut Paris und seine Gründungsväter. Ein personengeschichtlicher Ansatz. Oldenbourg, München 2007, ISBN 978-3-486-58519-3, S. 199–220 (online). Martina Knichel: Die Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte. Mainz 1998, S. 95f., Anm. 254. Ulrich Pfeil: Eugen Ewig. Ein rheinisch-katholischer Historiker zwischen Deutschland und Frankreich. In: François Beilecke, Katja Marmeschke (Hrsg.): Der Intellektuelle und der Mandarin. Für Hans Manfred Bock. Kassel University Press, Kassel 2005, ISBN 3-89958-134-2, S. 527–552. Ulrich Pfeil: Eugen Ewig – »Créer un ordre transnational«. Von einem Mittler zwischen Deutschland und Frankreich. In: Ulrich Pfeil (Hrsg.): Das Deutsche Historische Institut Paris und seine Gründungsväter. Ein personengeschichtlicher Ansatz. Oldenbourg, München 2007, ISBN 978-3-486-58519-3, S. 293–322 (online). Ulrich Pfeil: Gründung und Aufbau des Instituts (1958–1968). In: Rainer Babel, Rolf Große (Hrsg.): Das Deutsche Historische Institut Paris, 1958–2008. Thorbecke, Ostfildern 2008, ISBN 978-3-7995-7296-5, S. 1–84. Ulrich Pfeil: Vorgeschichte und Gründung des Deutschen Historischen Instituts Paris. Darstellung und Dokumentation (= Instrumenta. Band 17). Thorbecke, Ostfildern 2007, ISBN 3-7995-7917-6. Ulrich Pfeil: Eugen Ewig. In: Michael Fahlbusch, Ingo Haar, Alexander Pinwinkler (Hrsg.): Handbuch der völkischen Wissenschaften. Akteure, Netzwerke, Forschungsprogramme. Unter Mitarbeit von David Hamann. 2., grundlegend erweiterte und überarbeitete Auflage. Bd. 1, De Gruyter Oldenbourg, Berlin 2017, ISBN 978-3-11-042989-3, S. 153–155. Rudolf Schieffer: Europäische Geschichte und lateinisches Mittelalter. Heiterer Brückenbauer am Rhein: Zum achtzigsten Geburtstag des Bonner Historikers Eugen Ewig. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Mai 1993, Nr. 114, S. 34. Theodor Schieffer: Laudatio auf Prof. Dr. Eugen Ewig von Prof. Dr. Theodor Schieffer in der 235. Sitzung am 20. Dezember 1978. In: Jahrbuch der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, Jahrgang 1978, S. 61–64. Heinz Thomas: Der Erbfreund. Zum neunzigsten Geburtstag des Historikers Eugen Ewig. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Mai 2003, Nr. 114, S. 36. Weblinks Veröffentlichungen von Eugen Ewig im Opac der Regesta Imperii Eugen Ewig. In: Gutenberg Biographics. Verzeichnis der Professorinnen und Professoren der Universität Mainz 1477–1973. Anmerkungen Mittelalterhistoriker Hochschullehrer (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) Hochschullehrer (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn) Hochschullehrer (Universität Nancy) Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres Mitglied der Académie des Sciences, Arts et Belles-lettres de Dijon Mitglied des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte Träger des Ordre des Palmes Académiques (Ritter) Ehrendoktor einer Universität Ehrendoktor der Universität Freiburg (Schweiz) Korporierter im KV Bundesverdienstkreuz zurückgegeben Mitglied der Historischen Kommission für Hessen Deutscher Geboren 1913 Gestorben 2006 Mann
666314
https://de.wikipedia.org/wiki/Flechte
Flechte
Eine Flechte (lateinisch Lichen) ist eine symbiotische – also für verschiedene Arten nützliche – Lebensgemeinschaft zwischen einem oder mehreren Pilzen, den so genannten Mykobionten, und einem oder mehreren Partnern, die mittels Photosynthese Licht in chemische Energieträger umwandeln können. Diese Photobionten sind Grünalgen oder Cyanobakterien. Die Grünalgen bezeichnet man in der Symbiose auch als Phykobionten, die Cyanobakterien auch als Cyanobionten. Die Eigenschaften der Flechten setzen sich deutlich von jenen der Organismen ab, aus denen sie sich zusammensetzen. Erst in der Symbiose bilden sich die typischen Wuchsformen der Flechten heraus, und nur in Lebensgemeinschaft mit einem Photobionten bilden die Mykobionten die charakteristischen Flechtensäuren. Die Wissenschaft von den Flechten ist die Flechtenkunde oder Lichenologie. Weltweit gibt es rund 25.000 Flechtenarten. In Mitteleuropa kommen davon etwa 2000 vor. Der Anteil endemischer Arten, die nur in einer begrenzten Region vorkommen, ist bei Flechten viel niedriger als bei Blütenpflanzen. Flechten werden immer nach dem Pilz benannt, der die Flechte bildet, da es meist dieser ist, der ihr die Form und Struktur gibt. Mehrere Photobionten können in einer Flechte vorhanden sein. Jüngste Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass auch mehr als eine Pilzart in einer Flechte vorkommen kann. In der biologischen Systematik werden Flechten den Pilzen (Fungi) zugerechnet, unter denen sie als eigene Lebensform eine Sonderstellung einnehmen; sie sind also keine Pflanzen. Aufbau und Wuchsform Flechten existieren in einem breiten Spektrum an Farben, das von weiß über leuchtendes Gelb, verschiedene Brauntöne, kräftiges Orange, tiefrot, rosa, olivgrün, blaugrün und grau bis zu tiefschwarz reicht. Den Vegetationskörper einer Flechte formt ein Geflecht aus Pilzfäden (Hyphen), das so genannte „Lager“; darin eingeschlossen befindet sich eine Population der Photobionten. Die meisten Flechten bestehen aus mehreren Schichten. Bei den meisten Laubflechten wird auf der dem Untergrund (Substrat) abgewandten Seite die äußere Schicht aus dichten geflochtenen Pilzfäden gebildet, sie wird obere Rinde genannt (a). Darunter liegt die Algenschicht, in der die Algen in einem lockeren Pilzgeflecht lagern (b). Anschließend folgt die Markschicht, die aus lockerem Pilzgeflecht ohne Algen besteht (c). Es schließt sich die untere, dem Substrat zugewandte Rinde an (d), die durch Rhizinen (e), wurzelartige Pilzfäden, die dem Substrat eng anliegen oder es durchdringen, verankert ist. Solche Flechtenkörper, in denen die Photobionten nur in einer Schicht liegen, nennt man heteromer. Wenn der phototrophe Partner dagegen mehr oder weniger regellos zerstreut im Pilzkörper liegt, spricht man von einem homöomeren Thallus. Nach der Wuchsform und der Auflagefläche des Lagers, auch Pilzthallus genannt, unterscheidet man zwischen: Krustenflechten: Eine Krustenflechte besteht aus Lagern, welche als Areolen bezeichnet werden. Diese schließen nicht immer dicht zusammen. Sie können einzeln oder zu wenigen einem Prothallus aufsitzen. Weiter können körnige, firnisartige oder schorfige Überzüge auf Pflanzenresten, Moosen, Rinde und Erde gebildet werden. Es entsteht eine Scheinrinde durch das Absterben der äußersten Schicht des Lagers (Nekralschicht) sowie durch Verschleimung der Zellreste. Das Wachstum des Flechtenkörpers (Thallus) wird von dieser Nekralschicht aus den verschleimenden, absterbenden Zellen nachgebildet. Laub- oder Blattflechten: Die Flechte ist flächig gestaltet (folios) und liegt mehr oder weniger locker auf dem Substrat auf. Morphologisch sind die Blattflechten sehr vielfältig und besiedeln verschiedene Lebensräume wie etwa auf Moosen, aber auch auf Gestein. Wie bei Pflanzenblättern optimiert der blattartige Wuchs die Lichtausbeute für die Photosynthese des Photobionten. Die Wachstumszone befindet sich auf den „Blatträndern“. Strauchflechten: Der Thallus ist strauchförmig und wächst als aufrechter Rasen auf Erde oder Fels oder hängt von Bäumen, Totholz oder Felsen (Bart- oder Bandflechten). Die Wachstumszone liegt am Ende der einzelnen Äste. Gallertflechten: Dies sind Flechten mit Cyanobakterien als Partner, die bei Befeuchtung gallertartig aufquellen und meist schwärzlich bis dunkeloliv gefärbt sind. Die Einteilung in Wuchsformen entspricht nicht den stammesgeschichtlichen Verwandtschaftsverhältnissen. Mykobiont, Photobiont und ihre Symbiose Die Pilze gehören zu 98 Prozent der Abteilung der Schlauchpilze an, nur sehr wenige Arten sind Ständerpilze. Einige, nur steril bekannte Flechtenpilze werden formal den Deuteromycota oder Fungi imperfecti zugerechnet. Über 20 Prozent der heute bekannten Pilze leben in einer Flechtensymbiose. In 85 Prozent der Fälle ist der Photobiont eine ein- oder wenigzellige Grünalge; bisher sind über 80 Arten aus etwa 30 Gattungen bekannt. Die bedeutendste davon ist zweifellos Trebouxia, die in Flechten der Gattungen Cladonia, Parmelia, Ramalina, Umbilicaria und Xanthoria zu finden ist. Weitere bedeutende Grünalgen sind Coccomyxa, Myrmecia und die fädige Gattung Trentepohlia. Es gibt auch Flechten, bei denen der Partner aus dem Bakterien-Phylum der Cyanobacteria stammt. Dessen einzige Klasse Cyanobacteria enthält über 2000 Arten in fünf Ordnungen. Mit Ausnahme der Ordnung Oscillatoriales weisen alle auch Vertreter in Flechtensymbiosen auf. Die wichtigste Cyanobakterien-Gattung mit Flechten-Symbionten ist Nostoc. Manchmal kommen Grünalgen und Cyanobakterien auch zusammen in einer Flechte vor. Während alle Photobionten ohne ihren Pilzpartner leben können, findet man in der Natur die Mykobionten nicht ohne ihre domestizierten Partner; in Kultur können die meisten aber auch ohne Photobionten gehalten werden. Die Symbiose zwischen Pilzen und Photobionten kann in unterschiedlichen Kontaktformen vorkommen. Die Pilzfäden können nur lose neben dem Partner liegen, man spricht dann von Kontakthyphen, sie können sie fest umschließen (Klammerhyphen) oder sogar in sie eindringen (Haustorium). Die Vorteile der Symbiose liegen stark auf der Seite des Mykobionten, und man beschreibt die Lebensgemeinschaft wahrscheinlich am besten als kontrollierten Parasitismus. Dies zeigt sich auch daran, dass der Pilz das Wachstum und die Zellteilungsrate der Alge kontrolliert. Aufgrund der langen Entwicklungszeit dieser probiotischen Beziehung hat sich daher ein Gleichgewicht zwischen Pilz und Alge eingestellt. Der Vorteil besteht für den Pilz darin, dass er von den Photobionten mit Nährstoffen versorgt wird, welche die Alge durch Photosynthese bildet. Der Pilz wiederum schützt den Partner vor zu rascher Austrocknung, da im Hyphengeflecht die Feuchtigkeit weniger stark schwankt; daneben schirmt er seinen Photobionten vor der Ultraviolettstrahlung ab. An Standorten, wo die Algen auf dem Boden pH-Werten zwischen 3,5 und 6,5 ausgesetzt wären, hilft das Leben im Verband mit dem Mykobionten bei der Aufnahme von Phosphat. Auch durch die gemeinsame Vermehrungsstrategie von Pilz und Alge ergibt sich für beide Symbionten ein Vorteil. Von Grünalgen werden Zuckeralkohole, etwa Ribit, Erythrit oder Sorbit gebildet, die für den Pilz bekömmlicher sind als Kohlenhydrate. Bei Cyanobakterien als Partner wird hingegen Glucose transportiert. Bei den stickstofffixierenden Cyanobakterien wird auch reduzierter Stickstoff an den Mykobionten geliefert. Stoffströme des Primärstoffwechsels vom Pilz zum Photobionten sind nicht bekannt. Wasserhaushalt Flechten besitzen keine Möglichkeit, ihren Wasserhaushalt zu regeln, da sie keine echten Wurzeln zur aktiven Wasseraufnahme und auch keinen Verdunstungsschutz besitzen. Nur über die Oberfläche des Flechtenlagers können sie wie ein Schwamm Wasser in relativ kurzer Zeit aufsaugen, entweder in flüssiger Form oder als Wasserdampf. Bei Trockenheit verlieren sie relativ schnell das für die Aufrechterhaltung des Stoffwechsels nötige Wasser und wechseln in einen photosynthetisch inaktiven „leblosen“ Zustand, in dem der Wassergehalt bei weniger als zehn Prozent des Trockengewichts liegen kann. Es gibt starke Hinweise darauf, dass wie bei den mit ähnlichen Problemen konfrontierten Bärtierchen der Zucker Trehalose eine große Rolle beim Schutz lebenswichtiger Makromoleküle wie Enzymen, Membranbestandteilen oder der Erbsubstanz DNA selbst spielt. Anders als lange Zeit angenommen, schützt der Mykobiont den Photobionten nicht vor Austrocknung, sondern verlängert allenfalls die Zeit, die für diesen Prozess zur Verfügung steht. Der nahezu vollständige Feuchtigkeitsverlust ist vielmehr Teil der Überlebensstrategie von Flechten: Nur im ausgetrockneten Zustand sind sie in der Lage, Temperaturextreme oder hohe Lichtintensitäten, insbesondere von ultravioletter Strahlung zu überstehen; künstlich befeuchtete Flechten verlieren unter diesen Umständen dagegen schnell ihre Vitalität. Bei vielen Arten geht mit der Austrocknung eine Verdickung der Rindenschicht einher, die dadurch lichtundurchlässiger wird. Die Fähigkeit der Ruhestarre ist besonders in kalten Gebieten sehr wichtig, da gefrorenes Wasser nicht für den Stoffwechsel verfügbar ist. Die Zeit, in der eine Flechte in einem solchen Stadium überleben kann, variiert je nach Art; es ist jedoch der Fall einer Wüstenflechte bekannt, die nach 40 Jahren im ausgetrockneten Zustand durch Befeuchtung „wiederbelebt“ werden konnte. Erst bei erneuter Wasseraufnahme, über Regen, Tau oder Luftfeuchtigkeit, wird der Stoffwechsel reaktiviert. Bei einem Wassergehalt von 65 bis 90 Prozent des maximalen Speichervermögens erreicht er seine höchste Effizienz. Weil die Luftfeuchtigkeit im Laufe eines Tages starken Schwankungen unterworfen ist, variiert entsprechend auch die Photosynthese-Rate der Flechten; meist ist sie am frühen Morgen, wenn das Flechtenlager von Tau benetzt wird, am höchsten. Der vorstehend beschriebene Lebensrhythmus ist auch eine Ursache für das extrem langsame Wachstum mancher Flechten. Krustenflechten wachsen manchmal nur wenige Zehntel Millimeter pro Jahr, Laubflechten meist weniger als einen Zentimeter. Zum langsamen Wachstum trägt jedoch auch die ungleiche Symbiose bei, in welcher der Photobiont, der oft nur zehn Prozent des Flechtenvolumens einnimmt, allein für die Ernährung des Mykobionten aufkommen muss. Das üppigste Wachstum findet man dagegen vor allem in subtropischen Nebelwäldern und nahe den Meeresküsten, wo eine nur geringen Schwankungen unterworfene Luftfeuchtigkeit für optimale Wachstumsbedingungen sorgt. Flechtenstoffe Die primären (intrazellulären) Produkte wie Proteine, Aminosäuren, Polysaccharide, Lipide, Vitamine etc. werden sowohl vom Photo- als auch vom Mykobionten gebildet und sind nicht flechtenspezifisch. Die so genannten Flechtenstoffe sind sekundäre Produkte des Stoffwechsels und werden ausschließlich vom Pilz gebildet und extrazellulär auf den Hyphen deponiert. Heute sind über 600 Stoffe bekannt, wobei die Hauptgruppen nach ihrer biosynthetischen Herkunft in die Acetyl-Polymalonate (etwa Usninsäure), die Shikimisäuren und die Mevalonsäuren eingeteilt werden. Dies sind auch die wichtigsten Farbpigmente wie etwa die gelbe Vulpinsäure oder das gelb-orange Parietin. Um Flechtensäuren nachzuweisen, nutzt man chemische Reagenzien, die eine Farbreaktion auslösen. Die wichtigsten sind Calcium- oder Natriumhypochlorit („C“), Kaliumhydroxid („K“) und p-Phenylendiamin („P“ oder „Pd“). Flechtensäuren spielen auch bei der Verwitterung eine wichtige Rolle, da sie Gesteine angreifen und so zur Bodenbildung beitragen. Verbreitung und Lebensraum Viele Flechten wachsen nur sehr langsam, meist nur wenige Millimeter im Jahr, einzelne Arten sogar nur Bruchteile eines Millimeters. Daher können sie nur an Standorten überleben, an denen sie nicht von Pflanzen überwuchert und an der Photosynthese gehindert werden. An feuchten Standorten können sie sich oft nicht gegen Moose durchsetzen. Unter geeigneten Bedingungen, etwa dauerhafter Feuchte und geeigneten Temperaturen, wie im Regenwald oder Nebelwald, wachsen Flechten um einige Zentimeter im Jahr. Ähnliche Wuchsformen in teilweise übereinstimmendem Habitat kommen bei den Luftalgen (Aerophyten) vor, die ebenfalls auf exponierten Oberflächen wie Baumstämmen oder Felsen wachsen und diese oberflächlich bunt färben können. In Mitteleuropa kommt die Gattung Trentepohlia vor. Flechten haben meist bescheidene Stoffwechselansprüche und begnügen sich mit geringen Mengen an Mineralstoffen aus Staub, der über die Luft angeweht wird, oder Nährstoffen, die im Regenwasser enthalten sind oder aus dem Untergrund gelöst werden. Viele Arten sind in der Lage, extreme Lebensräume zu erschließen. So können manche Flechten auf blankem Fels wachsen, andere wurden in fast 5000 Meter Höhe im Himalaya-Gebirge gefunden. Sie kommen in Hitze- und Kältewüsten ebenso wie in Heidelandschaften, in Mooren ebenso wie in Permafrostgebieten vor und können in Trockenstarre Temperaturen von −47 Grad Celsius bis +80 Grad Celsius überstehen. In der Antarktis lassen sich etwa 200 Flechtenarten antreffen; selbst bei 86 Grad südlicher Breite findet man in den Horlick Mountains noch sechs Flechtenarten. Auch gibt es amphibische Arten, wie etwa Verrucaria serpuloides, die permanent im Wasser leben. Flechten besiedeln unterschiedlichste Standorte wie Baumrinde, Gesteine, Böden und selbst verrostetes Metall, Malerfarbe oder Kunststoffe; manche robuste Arten sind sogar an vielbefahrenen Straßen anzutreffen. Viele Flechtenarten sind substratspezifisch, das heißt, sie gedeihen nur auf basischem Gestein wie Kalkstein oder Dolomit oder saurem kalkfreiem Silikatgestein wie Quarz, Gneis oder Basalt. Flechten, die als Epiphyt auf Bäumen wachsen, sind keine Parasiten; sie entnehmen der Pflanze keine Nährstoffe oder Wasser, lediglich die Photosynthese wird durch die Abdeckung etwas behindert. Sie zeigen eindeutige Vorlieben für bestimmte Bedingungen wie saure Rinden von Fichten, Birken oder Erlen oder basenreiche Rinden von Nussbaum, Spitzahorn oder Holunder. Diese Merkmale sind oft wertvolle Bestimmungshilfen. Eine Reihe von Flechten dient selbst als Substrat für andere Flechten. Oft bilden sich typische Abfolgen, in denen verschiedene Flechtenarten in einer charakteristischen Reihenfolge übereinander geschichtet vorliegen. Auf Fels sind Flechten wichtige Pionierorganismen, die entweder dem Gestein aufsitzen oder sogar in den Stein eindringen. Bei endolithischen Flechten ist das Lager im Inneren des Gesteins entwickelt und äußerlich nur an einer Verfärbung des Gesteins erkennbar. Bei Vertretern der Gattung Verrucaria auf Kalkstein sind etwa nur die Perithecien genannten Fruchtkörper als schwarze Vertiefungen sichtbar. Nach dem Absterben des Lagers ist der Fels von kleinen Gruben übersät. Erst nach dem Anritzen des Steins erscheint die grüne Algenschicht. Trotz der Unauffälligkeit spielen diese Arten eine bedeutende Rolle bei der chemisch-physikalischen Verwitterung und Bodenbildung, umso mehr, da sie die Felsen oft flächendeckend überziehen. Da Flechten naturgemäß keinen Unterschied zwischen Substraten in natürlicher und künstlicher Umgebung machen, finden sie sich schließlich auch oft auf Mauern, Dächern, Zäunen oder Grabsteinen. Letztere können zur Datierung des Flechtenwachstums eingesetzt werden. Der extremste Lebensraum, in dem Flechten bisher ihre Überlebensfähigkeit unter Beweis stellen konnten, ist ohne Zweifel der Weltraum. Durch im Mai 2005 durchgeführte Experimente an den Flechten Landkartenflechte (Rhizocarpon geographicum) und der Zierlichen Gelbflechte (Xanthoria elegans) konnte gezeigt werden, dass diese Arten zumindest für einen Zeitraum von etwa zwei Wochen in der Lage sind, die lebensfeindlichen Bedingungen außerhalb der Erdatmosphäre wie starke Temperaturschwankungen und hohe UV-Strahlungsintensität zu überstehen. Wissenschaftler des Senckenberg Forschungsinstituts haben in einer aktuellen Studie (Stand 2017) herausgefunden, dass sich manche Flechtenarten abhängig von den jeweiligen klimatischen Bedingungen unterschiedlich entwickeln und auch verschiedene Algen zur Symbiose auswählen können. So leben die flechtenbildenden Pilze Lasallia pustula und Lasallia hispanica je nach Höhenlage mit verschiedenen Grünalgen der Gattung Trebouxia zusammen. Im mittleren Höhenbereich wurden beide Kombinationen aufgefunden. Aufgrund von DNA-Analysen konnte festgestellt werden, dass die flechtenbildenden Pilze theoretisch mit sieben unterschiedlichen Trebouxia-Arten zusammenleben können. Vergesellschaftung Wie bei Blütenpflanzen treten auch Flechtenarten miteinander bzw. mit Pflanzenarten vergesellschaftet auf. Die Benennung solcher Gesellschaften folgt Regeln, die in einem Code der pflanzensoziologischen Nomenklatur festgehalten sind. Ein Beispiel einer von Flechten mitbestimmten Assoziation ist das Cladonio-Pinetum – der Flechten-Kiefernwald. Es handelt sich um die forstwirtschaftlich zwar uninteressanteste, naturschutzfachlich aber besonders wertvolle und seltene Ausprägung von Kiefernwald nährstoffärmster Standorte. Durch diffuse flächendeckende Einträge von Schad- und Nährstoffen (Eutrophierung) ist diese Gesellschaft in Mitteleuropa stark bedroht. Bei der durch die Nährstoffe begünstigten Sukzession wird sie vor allem durch Drahtschmielen-Kiefernwald verdrängt. Fortpflanzung Die Photobionten vermehren sich, solange sie in Flechtengemeinschaft leben, nur vegetativ, bilden also keine Gameten. Der Pilzpartner kann sich hingegen wie andere Pilze auch sexuell fortpflanzen. Alle Sporen sind nur wenige tausendstel Millimeter groß. Die geschlechtlichen Sporen werden je nach der Zugehörigkeit des Mykobionten zu den Schlauch- oder Ständerpilzen in so genannten „Schläuchen“ (Asci) oder an so genannten „Ständern“ (Basidien) gebildet und dementsprechend als Asco- oder Basidiosporen bezeichnet. Bei den Schlauchpilz-Flechten werden die Ascosporen in Fruchtkörpern gebildet, die sich nach ihrem Aufbau in zwei größere Gruppen einteilen lassen, Apothecien und Perithecien: Apothecien sind gewöhnlich vom Flechtenlager scharf abgegrenzte, rundliche bis scheiben- oder schüsselförmige Gebilde. Darauf beziehungsweise darin liegt eine aus parallel gelagerten Asci und nichtsporenbildenden Hyphenenden bestehende Schicht, das so genannte Hymenium, offen zu Tage. Perithecien sind mehr oder weniger kugelige, fast geschlossene Gebilde, in denen sich die Asci befinden und die Ascosporen gebildet werden, die nur durch eine Pore austreten können. Der Pilz kann sich aber auch asexuell durch Pyknosporen fortpflanzen, die in Pyknidien gebildet werden. Dies sind kugelige bis birnenförmige Behälter, die in das Lager eingebettet sind. In diesen werden von speziellen Hyphen Pyknosporen abgegliedert. Pyknidien sind meist als sehr kleine schwärzliche Punkte auf dem Lager erkennbar. Die Sporen verbreiten sich durch die Luft und können, wenn sie höhere Luftschichten erreichen, über weite Strecken, mitunter auch weltweit, verfrachtet werden. So erfolgt beispielsweise auch die Besiedelung isolierter Denkmäler oder Grabsteine, auch wenn das nächste Flechtenvorkommen weit entfernt ist. Auf welche Weise sich die Flechtensynthese vollzieht, also wie die Gemeinschaft aus Myko- und Photobiont entsteht, ist noch nicht vollständig aufgeklärt. Der Pilzpartner muss zunächst einen geeigneten frei lebenden Algen- oder Bakterienpartner aufspüren und dann über diesen die Kontrolle übernehmen. Beides geschieht anscheinend erst, wenn sowohl Pilz als auch Alge oder Bakterium in einem „ausgehungerten“, dringend auf Nährstoffe angewiesenen Zustand sind. Auch im Labor ist es nur dann möglich, aus den beiden Einzelorganismen die Flechte zu bilden. Die typische Wuchsform der jeweiligen Flechtenart entsteht erst, nachdem der Pilzpartner seine Dominanz über den Photobionten etabliert hat. Viele Flechten sind auf das Zusammentreffen solch günstiger Umstände nicht angewiesen und haben spezielle vegetative Vermehrungsorgane ausgebildet, mit denen Pilz und Alge gleichzeitig verbreitet werden können: Isidien sind Auswüchse in Form von Stiften, Knöpfen, Blättchen oder kleinen Ästen, die an der Basis eine Sollbruchstelle haben. Durch Wind, Wasser oder leichte Berührungen brechen diese ab und bilden auf einem geeigneten Untergrund eine neue Flechte. Sorale sind staubige Aufbrüche der Flechten, aus der Körnchen aus wenigen verflochtenen Pilzfäden und Algen heraustreten (Soredien). Durch Verbreitung dieser Körnchen können ebenfalls neue Flechten gebildet werden. Alter Flechten zählen zu den längstlebigen Lebewesen überhaupt und können ein Alter von mehreren hundert Jahren, in Einzelfällen sogar von über 4.500 Jahren erreichen, wie etwa bei einer Landkartenflechte (Rhizocarpon geographicum) aus Grönland. Durch ihre nach einer Initialzeit konstante Wachstumsrate können sie zur Altersbestimmung von bloßgelegten Steinen (Gletscherrückgang oder neu errichtete Bauwerke) genutzt werden. Die meisten Untersuchungen beziehen sich auf die gelben Sippen der Gattung Rhizocarpon, wobei der Durchmesser der Flechtenlager direkt zum Alter des Untergrunds in Bezug gesetzt wird. Diese Altersdatierung anhand von Flechten wird auch als Lichenometrie bezeichnet und wurde 1957 vom österreichischen Botaniker Roland Beschel eingeführt. 1965 bestimmte Gerhard Follmann etwa das Alter der durchschnittlich knapp 500 Jahre alten Monumentalfiguren auf der Osterinsel anhand des Flechtenbewuchses. Die Methode ist jedoch wegen des nicht immer gleichmäßigen Wachstums nicht unumstritten und wird nur dort genutzt, wo etwa die Radiokohlenstoffmethode nicht angewandt werden kann. Flechten und Tiere Besonders im hohen Norden, wo die Vegetation spärlich ist, sind Flechten während der Wintermonate für Rentiere mit etwa 90 Prozent Hauptbestandteil der Nahrung. Meist handelt es sich um Rentierflechten (Cladonia), die sie mit ihren Hufen auch unter einer Schneedecke freilegen und mit Hilfe des Enzyms Lichenase verwerten können. Auch Elche nutzen diese Nahrungsquelle. Für viele Larven von Schmetterlingen dienen Flechten als Nahrungsgrundlage, wie etwa für Vertreter der Gattung der Flechtenbärchen (Eilema), deren Raupen sich ausschließlich von Flechten ernähren. Im Übrigen sind es vor allem wirbellose Tiere wie Schnecken, Insekten und Milben, zu deren Ernährung Flechten in unterschiedlichem Ausmaß beitragen. Dazu zählen auch Staubläuse (Psocoptera), manchmal auch Flechtlinge genannt, zu denen etwa die Bücherlaus (Liposcelis simulans) gehört. Erwähnenswert ist auch die Larve der Hornmilbe Mycobates parmeliae, die sich mit ihrer leuchtend orangen Färbung an ihren Lebensraum in der Gewöhnlichen Gelbflechte angepasst hat. Die Flechtenvegetation bietet vielen Tieren nebst Nahrung auch Lebensraum und Tarnung vor Fressfeinden. Milben und Insekten leben in großer Zahl zwischen Flechtenlagern; auch für die ebenfalls austrocknungsresistenten Bärtierchen sind Flechten ein wichtiger Lebensraum. Die Raupen verschiedener Nachtfalter tarnen sich mit Flechtenstückchen, andere ahmen einen flechtenbewachsenen Zweig nach (Mimikry). Viele Vögel verwenden Flechten, vor allem blatt- und strauchförmige Arten, für den Nestbau, wie etwa der Wanderregenpfeifer, der sein Bodennest aus etwa 250 Thalli der Totengebeinsflechte und anderen Vertretern der Gattung Cladonia und Cetraria baut. Bioindikatoren Flechten gelten als Zeigerorganismen für bestimmte Umweltbedingungen, insbesondere die Luftqualität. Dies liegt daran, dass das Zusammenleben zwischen Pilz und Alge leicht gestört werden kann. Die in Luft und Regen enthaltenen Nähr- und Schadstoffe werden nahezu ungefiltert aufgenommen, da Flechten keine speziellen Organe zur Wasseraufnahme aus dem Boden besitzen und über den gesamten Thallus Feuchtigkeit aufnehmen. Daher reagieren sie besonders empfindlich auf Luftverschmutzung. Die ersten Berichte über eine massive Verarmung der Flechtenvegetation im Bereich industrialisierter Städte stammen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, lange bevor Waldsterben und saurer Regen ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerieten. Als Hauptursache konnte der erhöhte Schwefeldioxid-Gehalt der Luft identifiziert werden. Inzwischen haben Schwefelfilter in Industrieanlagen und Katalysatoren in Kraftfahrzeugen dazu beigetragen, die Luftgüte zu verbessern, sodass heute Flechten wieder häufiger in Großstädten aufzufinden sind. Mit dem „Passiven Monitoring“ werden anhand von Verbreitung und Häufigkeit Rückschlüsse über die Luftgüte getroffen (Flechtenkartierung). Beim „Aktiven Monitoring“ werden mehrere Thalli einer bestimmten Art, meist der Blasenflechte, an einem belasteten Standort ausgesetzt und die Reaktionen wie Vitalitätsverlust, Verfärbung des Thallus oder gar das Absterben der Organismen beobachtet (Flechtenexposition). Die Bioindikation mit Flechten ist allerdings auf lange Zeiten ausgelegt. In Deutschland sind passives und aktives Monitoring in den VDI-Richtlinienreihen 3799 und 3957 seit 1991 standardisiert. In Gebieten mit intensiver Landwirtschaft reagieren Düngemittel, die Stickstoffverbindungen enthalten, mit dem Regen schwach basisch. Dies führt vor allem zum Verschwinden der Flechtenarten, die saure Standorte bevorzugen. Daneben sind Flechten Akkumulationsindikatoren für Schwermetalle, da sie die toxischen Partikel im Gewebe anreichern, was schließlich auch zum Absterben der Flechte führen kann. Schließlich speichern Flechten auch radioaktive Substanzen. So lassen sie sich insbesondere zur Überwachung des radioaktiven Niederschlags nach atmosphärischen Kernwaffentests heranziehen. Nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl gelangten große Mengen radioaktiver Isotope nach Finnland und wurden dort von Rentierflechten (Cladonia) aufgenommen. In Rentieren, die sich hauptsächlich von diesen Flechten ernähren, reicherten sie sich weiter an und gelangten schließlich über die Milch der Tiere und den daraus hergestellten Käse als Nahrung in den menschlichen Körper. Entwicklungsgeschichte Älteste paläontologische Hinweise auf eine Symbiose aus Pilz und Alge belegen Fossilien aus Südchina, die rund 600 Millionen Jahre alt sind und somit aus der erdgeschichtlichen Epoche des Ediacarium stammen. Sie enthalten noch im Wasser lebende Flechten. Bis dahin galten Fossilien aus dem frühen Devon vor etwa 400 Millionen Jahren als die ältesten Flechtenfossilien. Neuerdings wird Prototaxites aus dem Devon als mögliche „Riesenflechte“ diskutiert. Ob diese an Land lebende Art von der in China gefundenen Spezies abstammt, ist nicht geklärt, da Flechten mehrfach unabhängig entstanden sind. Taxonomisch gesehen handelt es sich bei Flechten um eine so genannte polyphyletische Gruppe der Pilze, das heißt die einzelnen Arten gehen nicht auf eine Flechten-Stammart zurück. Für ein hohes phylogenetisches Alter sprechen auch Überlegungen, dass diese Organisationsform vor den Gefäßpflanzen das Land besiedelte, da nur genügsame, wechselfeuchte Organismen erste Schritte auf blankem Fels unternehmen konnten. Möglicherweise sind die ersten Flechten auch erst nach den Gefäßpflanzen entstanden. Flechten und der Mensch Geschichte der Flechtenkunde Der griechische Botaniker Theophrastos, ein Schüler von Aristoteles, beschreibt erstmals in seinem Werk „Geschichte der Pflanzen“ zwei Flechtenarten, eine Bartflechte (Usnea) und eine Flechte auf Küstenfelsen (Rocella). Zu dieser Zeit erkannte man sie noch nicht als eigenständige Organismen, sondern hielt sie für Auswüchse von Bäumen oder Algen (Seetang). Erst im 17. Jahrhundert entwickelte sich erneut Interesse, und der Name „Lichen“ wurde nun gebräuchlich. Dieser leitet sich vom griechischen λειχην (leichän, lat. Lichen) ab und bedeutet „Warze“, was auf die Gestalt der Fruchtkörper hinweist. Die Anzahl der bis dahin bekannten Arten erhöhte sich auf nur 28. Der französische Arzt und Botaniker Joseph Pitton de Tournefort gliederte in einem neuen System die Flechten als eigene Abteilung „Lichen“ von den Moosen ab. Obwohl 1753 schon über 170 Arten bekannt waren, beschrieb Carl von Linné nur 80 Arten und bezeichnete sie als „armseligstes Bauernvolk“ der Vegetation. Mit der Publikation der Schrift Methodus, qua omnes detectos lichenes ad genera redigere tentavit begründete Erik Acharius 1803 die wissenschaftliche Lichenologie. Er erstellte ein System, das auf dem Bau der Fruchtkörper beruht, und verfasste eine Zusammenstellung aller zu seiner Zeit bekannten 906 Flechtenarten. Der Arzt und Mykologe Heinrich Anton de Bary erkannte 1866 erstmals die Symbiose bei einer bestimmten Art von Gallertflechte. Die Vermutung, dass Flechten Doppelorganismen von Alge und Pilz sind, wurde 1869 vom Schweizer Botaniker Simon Schwendener aufgegriffen, der sie auf die übrigen Flechtenarten anwendete. Heute hat sich die Lichenologie zu einer eigenen Disziplin entwickelt, die zwischen Mykologie und Botanik angesiedelt ist. Verwendung Die älteste Verwendung von Flechten ist jene als Nahrungsmittel. Am bekanntesten ist die kontrovers diskutierte Ansicht, ob es sich beim biblischen Manna um die Wüstenflechte Sphaerothallia esculenta gehandelt haben könnte. Bestimmte Flechten, z. B. Cetraria islandica und Lecanora esculenta, wurden vor allem in Notzeiten gekocht oder als Mehlzusatz verwendet. Manche Teilnehmer schwieriger Expeditionen, etwa bei John Franklins Suche nach der Nordwest-Passage, haben nur dank Flechten überlebt. In Kanada waren manche Flechten als „tripes de roche“ (Felskutteln, rock tripe) bekannt. In der indischen Region um Ballari wird aus einer Parmelia-Art das Currygericht „rathapu“ zubereitet. In Japan gilt die Nabelflechte Iwatake (Umbilicaria esculenta) als Delikatesse und findet als Suppe oder Salat Verwendung. In Nordamerika werden Bryoria-Arten als Nahrung zubereitet. Seit dem Altertum werden Flechten auch als Heilmittel genutzt, etwa von dem griechischen Botaniker Theophrast. Die mittelalterliche Mystikerin Hildegard von Bingen schrieb: „Und das Moos, das an gewissen Bäumen wächst, hat Heilkraft in sich. Und solches, das auf fauligen Hölzern wächst, hat fast keine Heilkraft, weil die in stinken Säften der Dächer und fauliger Hölzer und in Steinen vorhanden ist, ausbricht und im Moos auswächst, daher ist es fast ohne Nutzen.“ Entsprechend der Signaturenlehre wurde früher die Echte Lungenflechte (Lobaria pulmonaria) gegen Lungenleiden eingesetzt und findet noch heute in der Homöopathie Verwendung. Im 17. und 18. Jahrhundert fand die Echte Lungenflechte, die auf Kiefern wuchs, in einem Kloster an der Ussolka in Sibirien als Bitterstoff (an Stelle des Hopfens) beim Bierbrauen Verwendung. Mit der in Afrika endemischen Art Parmelia hottentotta wird Honigbier gewürzt. Im Mittelalter wurden Flechten, die auf freiliegenden Totenschädeln wuchsen, als „Muscus cranii humani“ oder „Muscus ex cranio humano“ gegen Epilepsie verwendet. Flechten enthalten oft eine große Vielfalt an Inhaltsstoffen, die sie für die pharmazeutische Industrie interessant machen. So wird das Isländische Moos (Cetraria islandica) Hustenmitteln beigegeben. Das Antibiotikum Usninsäure wurde im Baumbart (Usnea) entdeckt. Neuerdings sind gewisse Polysaccharide (sarcoma-180) in der Krebsbehandlung von Interesse. Einige Arten werden zur Alkoholproduktion verwendet (z. B. Bryoria spp., Cladonia spp., Cetraria islandica). Die durch Vulpinsäure giftige Wolfsflechte (Letharia vulpina) wurde früher zum Vergiften von Fuchs- und Wolfsködern genutzt. Lange Zeit wurde aus den an Küstenfelsen vorkommenden Flechten der Gattung Roccella und der Art Pertusaria corallina die purpurfarbene Orseille, ein wertvoller Farbstoff, gewonnen. Lackmus ist ebenfalls ein Flechtenfarbstoff, der aus Roccella-Arten gewonnen wird. Auch andere Flechtenarten, etwa Evernia- oder Parmelia-Arten, können zum Färben von Wolle und Stoffen verwendet werden, was in Europa hauptsächlich in Skandinavien und Schottland praktiziert wurde. Vor allem angenehme Gelb- und Brauntöne können erzielt werden. Im Süden Chiles finden für das Färben von Wolle nach wie vor Bartflechten der Gattung Usnea Verwendung. Der schwedische Naturwissenschaftler Carl von Linné erwähnt in seinem Plantae tinctoriae sechs Färberflechten. Das Baummoos (Pseudevernia furfuracea) und das Eichenmoos (Evernia prunastri) werden in der Parfümindustrie genutzt. Die Alpen-Rentierflechte (Cladonia stellaris) wird schließlich in größeren Mengen aus Skandinavien importiert und findet als Modellbäumchen in Architekturmodellen oder in Kranzschmuck Verwendung. Beim Wilde-Mändle-Tanz des Alpenraums, der heute noch alle fünf Jahre in Oberstdorf aufgeführt wird, sind die Darsteller am ganzen Körper mit langen, zottelig herabhängenden Bartflechten, die auf das leinene Gewand aufgenäht sind, geschmückt. Lediglich die Augenpartie bleibt frei. Sie tanzen zu urtümlicher, rhythmischer Musik. Eine ungewöhnliche Verwendung einer Flechte ist von den Waorani, einem Volk von Amazonas-Indianern in Ost-Ecuador, bekannt. Die Schamanen der Waorani verwendeten für ihre Rituale die Flechte Dictyonema huaorani, gebildet durch die seltene Symbiose zwischen einem Ständerpilz und einem Cyanobakterium. Nach jüngsten Untersuchungen enthält die Flechte als psychoaktiv wirksame Bestandteile verschiedene Tryptamine, wie 5-MeO-DMT, 5-MeO-NMT und Psilocybin. Flechten in der Literatur John Wyndhams Science-Fiction-Roman Ärger mit der Unsterblichkeit (Trouble with Lichen) erwähnt die Gewinnung des altershemmenden Wirkstoffs Antigeron aus Flechten. Naturgemäß werden Flechten auch in Berichten über den Norden Europas an vielen Stellen erwähnt, etwa bei Alfred Andersch in seinen Reiseerzählungen „Hohe Breitengrade“ und „Nordische Wanderungen“. Von Hans Magnus Enzensberger stammt das Gedicht flechtenkunde (aus dem Band Blindenschrift, 1969). Graffiti Durch Flechtenbewuchs dunkel gefärbte Betonwände sind beliebte Basis für Reverse Graffiti, indem von einer Schablone nicht abgedeckte Bereiche durch den Wasserstrahl eines Hochdruckreinigers von Flechten gesäubert werden. Literatur Volkmar Wirth, Ulrich Kirschbaum: Flechten einfach bestimmen. Ein zuverlässiger Führer zu den häufigsten Arten Mitteleuropas. Quelle & Meyer Verlag, Wiebelsheim 2013, ISBN 978-3-494-01538-5. Ulrich Kirschbaum, Volkmar Wirth: Flechten erkennen – Umwelt bewerten. Hessisches Landesamt für Umwelt und Geologie, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-89026-363-2. Volkmar Wirth, Ruprecht Düll: Farbatlas Flechten und Moose. Eugen Ulmer, Stuttgart 2000, ISBN 3-8001-3517-5. Hans Martin Jahns: BLV Bestimmungsbuch: Farne, Moose, Flechten. blv, München 1995, ISBN 3-405-13458-7. Volkmar Wirth: Die Flechten Baden-Württembergs. Eugen Ulmer, Stuttgart 1987, ISBN 3-8001-3305-9. Volkmar Wirth: Flechtenflora. 2. Aufl., Eugen Ulmer, Stuttgart 1995, ISBN 3-8252-1062-6. Volkmar Wirth, Markus Hauck & Matthias Schulz: Die Flechten Deutschlands. Eugen Ulmer, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-8001-5903-1. Sylvia Reckel, Manfred Aöschner, Marion Stock: Flechten als Anzeiger der Luftqualität. In: Biologie in unserer Zeit. Band 29, Nr. 6, 1999, S. 364–370, , doi:10.1002/biuz.960290608. Aino Henssen, Hans Martin Jahns: Lichenes: Eine Einführung in die Flechtenkunde. Thieme, Stuttgart 1974, ISBN 3-13-496601-8. Heribert Schöller (Hrsg.): Flechten – Geschichte, Biologie, Systematik, Ökologie, Naturschutz, kulturelle Bedeutung (= Kleine Senckenberg-Reihe. Nr. 27). Kramer, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-7829-1151-2. Jan-Peter Frahm, Felix Schumm & Norbert Stapper: Epiphytische Flechten als Umweltgütezeiger – eine Bestimmungshilfe. Books on Demand, Norderstedt 2010, ISBN 978-3-8391-5299-7. Weblinks Rote Liste der gefährdeten Arten der Schweiz (PDF; 775 kB) LIAS light: ein interaktiver Bestimmungsschlüssel der Flechtenarten der Welt (mehrsprachig) Umfassende Website zu Flechten (englisch) Flechten Belgiens, Luxemburgs und Nordfrankreichs (englisch) Checklists of Lichens (englisch) Chilenische Flechten (spanisch) Datenbank der Nutzbarkeit von Flechten für den Menschen (englisch) Fossile Flechten Flechtenmikroskopie Online-Zeitschrift Bildtafeln von Flechten Merkmalsmatrix zur Aufnahme von Fundort-Merkmalen von Lichenes (Flechten) und Bryophyta (Moosen) Einzelnachweise
682167
https://de.wikipedia.org/wiki/Simplikios
Simplikios
Simplikios von Kilikien (, ; * um 480; † um 560) war ein spätantiker griechischer Philosoph der neuplatonischen Richtung. Er lebte im Oströmischen Reich und trat vor allem als Kommentator von Schriften des Aristoteles hervor, die er neuplatonisch deutete. Gemäß der im spätantiken Neuplatonismus vorherrschenden Sichtweise hielt er Aristoteles für einen Platoniker und bemühte sich, platonische und aristotelische Lehren zu harmonisieren. Dabei ging es ihm auch um die Verteidigung der klassischen philosophischen Tradition und des religiösen Weltbilds der Neuplatoniker gegen christliche Kritik. Er erörterte die Beschaffenheit des Weltalls, bemühte sich um die Definition des Begriffs Materie, untersuchte das Phänomen Zeit und setzte sich mit dem Problem des Ursprungs der Übel auseinander. In seinem Kommentar zum Handbüchlein des Stoikers Epiktet, einer Einführung in die Ethik, stellte er die begründenden Prinzipien des aus seiner Sicht richtigen Handelns dar. Dabei legte er großes Gewicht auf die menschliche Fähigkeit zu einer selbstbestimmten Lebensführung und verteidigte die Willensfreiheit. Im Spätmittelalter erzielte die Aristoteles-Kommentierung des Simplikios eine beträchtliche Nachwirkung. Moderne Altertumswissenschaftler schätzen seine Schriften als wertvolle Quellen für frühere Epochen der griechischen Philosophiegeschichte, insbesondere für die Zeit der Vorsokratiker, denn er hatte Zugang zu einer Fülle von heute verlorenem Material. Wegen seiner Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit in der Auseinandersetzung mit älteren Lehrmeinungen sowie seinen durchdachten Analysen und umsichtigen Stellungnahmen gilt er als einer der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit. Leben Simplikios stammte aus Kilikien, einer Region an der Südküste Kleinasiens; ansonsten ist über seine Herkunft nichts bekannt. Seine philosophische Ausbildung erhielt er zunächst in Alexandria, wo der einflussreiche Neuplatoniker Ammonios Hermeiou sein Lehrer war. Wie Ammonios lebte Simplikios in der Tradition der alten griechischen Religion. Er gehörte also zu einer schrumpfenden Minderheit; im Oströmischen Reich herrschte schon seit langem die christliche Staatsreligion. Unter den Schülern des Ammonios waren eifrige Vertreter des paganen („heidnischen“) Glaubens, aber auch Christen. Ammonios ging religiösen Auseinandersetzungen aus dem Weg und bemühte sich in seiner Schule um ein relativ entspanntes Verhältnis zwischen den Religionen. Später begab sich Simplikios nach Athen, wo sich die paganen Neuplatoniker traditionell schärfer von ihrer christlichen Umgebung abgrenzten als in Alexandria. Sein dortiger Lehrer war Damaskios, ein entschiedener Gegner des Christentums, der ebenfalls in Alexandria bei Ammonios studiert hatte und spätestens 515 der letzte Leiter (Scholarch) der neuplatonischen Philosophenschule in Athen wurde. Diese Schule, die Plutarch von Athen gegründet hatte, nahm für sich in Anspruch, die Tradition der Platonischen Akademie fortzusetzen. Sie blieb bis zuletzt ein Hort der paganen Religion, die für die dortigen Philosophen untrennbar mit dem Platonismus verbunden war. Nachdem die Aktivitäten der Neuplatoniker in Athen lange von den christlichen Kaisern geduldet worden waren, spitzte sich unter Kaiser Justinian der religiöse Gegensatz zu. Im Jahr 529 untersagte der Kaiser den paganen Lehrbetrieb, etwas später wiederholte und verschärfte er das Verbot. Die staatlichen Maßnahmen führten zur Schließung der Schule. Simplikios, Damaskios und fünf weitere Philosophen entschlossen sich zur Emigration. Vielleicht schon 531, spätestens 532 wanderten sie in das persische Sasanidenreich aus. Dort bot ihnen der seit September 531 regierende Großkönig Chosrau I. Zuflucht an seinem Hof in Ktesiphon, wo sie mit Toleranz rechnen konnten. Chosrau nahm gegenüber den Neuplatonikern und der alten griechischen Religion eine wohlwollende Haltung ein; er förderte alle Bestrebungen, die der religiösen Einheit des Oströmischen Reichs entgegenwirkten und dieses damit schwächten. Dennoch waren die Philosophen bald von den Verhältnissen am persischen Hof enttäuscht. Als im Herbst 532 die Oströmer mit den Persern einen „Ewigen Frieden“ schlossen, bestand der Großkönig in einer der Klauseln des Friedensvertrags darauf, dass die Philosophen unbehelligt ins Oströmische Reich zurückkehren und dort an ihren religiösen Überzeugungen festhalten durften. Noch im selben Jahr verließen die Neuplatoniker das Perserreich. Vielleicht ließ sich Simplikios nun in Carrhae nieder, einer im Grenzgebiet zum Perserreich gelegenen Stadt, und gründete dort eine neue platonische Schule. Diese erstmals 1984 von dem Gnosisforscher Michel Tardieu auf einem Kongress vorgetragene Hypothese hat seither beträchtlichen Anklang gefunden, ist aber auch auf Widerspruch gestoßen. Sie stützt sich auf Indizien wie den Umstand, dass Carrhae ein günstiges Umfeld bot, weil in der Bevölkerung der Stadt pagane Traditionen noch stark verwurzelt waren. Zugunsten der Hypothese wird vor allem geltend gemacht, dass dort noch im Jahr 943 eine griechische Philosophenschule bestand, wie einem Bericht des zeitgenössischen Gelehrten Abu ’l-Ḥasan ʿAlī ibn al-Ḥusain al-Masʿūdī zu entnehmen ist. Daneben existieren in der Forschung noch weitere Vermutungen, denen zufolge Simplikios nach Athen zurückkehrte, wieder nach Alexandria zog, sich mit seinem Lehrer Damaskios in Syrien niederließ oder fortan in seiner Heimatlandschaft Kilikien lebte. Den Großteil seiner erhaltenen Werke – vielleicht sogar alle – verfasste Simplikios erst nach der Rückkehr aus dem Perserreich; offenbar stand ihm weiterhin eine reichhaltige Bibliothek zur Verfügung. Bei der Aristoteles-Kommentierung polemisierte er heftig gegen den christlichen Philosophen Johannes Philoponos, dem er Ruhmsucht und unberechtigte Kritik an der Kosmologie des Aristoteles vorwarf. Der Angegriffene hatte wie Simplikios bei Ammonios Hermeiou studiert. Daher legte Simplikios Wert auf die Feststellung, er kritisiere Philoponos zwar hart, hege aber keinen persönlichen Groll aus der Vergangenheit gegen ihn, denn er könne sich nicht erinnern, ihm jemals begegnet zu sein. Wann Simplikios starb, ist unbekannt; gewöhnlich wird angenommen, dass er um die Mitte des 6. Jahrhunderts noch lebte. Sicher ist, dass er seinen Lehrer Damaskios, der im Jahr 538 noch am Leben war, überlebt hat. Häufig wird ohne weitere Begründung ein Todesjahr um 560 angegeben. Werke Das umfangreiche, ausschließlich aus Kommentaren bestehende Œuvre des Simplikios ist nur teilweise erhalten geblieben. Zum erhaltenen Teil zählen die Kommentare zu drei Schriften des Aristoteles: den Kategorien, der Physik und der Abhandlung Über den Himmel. Sie sind erst nach der Rückkehr aus dem Perserreich entstanden und zeugen von der Belesenheit und Sachkenntnis des Verfassers. Der Physik-Kommentar enthält zwei Exkurse, die in der modernen Forschung als Corollarium de tempore („Exkurs über die Zeit“) und Corollarium de loco („Exkurs über den Ort“) bezeichnet werden. Ferner kommentierte Simplikios die als Encheiridion (Handbüchlein) verbreitete Fassung der Lehrgespräche des Stoikers Epiktet. Das Encheiridion behandelt Grundsätze der Ethik, die im neuplatonischen Unterricht zur Propädeutik gehörten. Die dort beschriebenen Tugenden galten den Neuplatonikern als Voraussetzung für ein philosophisches Leben. Diese Kommentare zählen zu den wertvollsten Quellen für die antike Philosophiegeschichte. Im Unterschied zu vielen anderen neuplatonischen Kommentarwerken handelt es sich nicht um Schülermitschriften aus Lehrveranstaltungen, sondern um Texte, die der Autor selbst schriftlich formuliert hat. Sie enthalten eine Fülle von Zitaten aus heute verlorenem Schrifttum und Darstellungen von Lehrmeinungen anderer Denker, über die anderweitig wenig oder nichts überliefert ist. Insbesondere ist Simplikios ein erheblicher Teil der Fragmente der Vorsokratiker zu verdanken, darunter die wichtigsten wörtlich überlieferten Stellen aus den Lehrgedichten des Parmenides (rund zwei Drittel der erhaltenen Verse) und des Empedokles. Groß ist auch seine Bedeutung als Vermittler von Gedankengut stoischer und peripatetischer Philosophen. Über die Auffassungen von Angehörigen der Platonischen Akademie sowie von Mittel- und Neuplatonikern und Pythagoreern liefert Simplikios ebenfalls zahlreiche wichtige Informationen. Manche seiner Berichte ermöglichen eine Rekonstruktion der Lehren, die in den verlorenen Schriften dieser Autoren dargelegt waren. Die Ausführlichkeit und Detailfülle seiner Werke ist vor dem Hintergrund der damaligen Verhältnisse zu sehen: Angesichts der Gefährdung der paganen Bildungsgüter durch militante christliche Kreise, die sich in der zwangsweisen Schließung der Athener Philosophenschule zeigte, versuchte er den Ertrag der jahrhundertelangen Bemühungen der Philosophen durch eine gründliche Darstellung für die Zukunft zu retten. Die Aristoteles-Auslegung lässt erkennen, dass Simplikios im Umgang mit den Texten, mit denen er sich befasste, sehr umsichtig und gewissenhaft verfuhr. Er berücksichtigte auch philologische Aspekte, indem er Handschriften verglich und textkritische Bemühungen unternahm, um den authentischen Wortlaut zu ermitteln. Seine Sorgfalt bei der Auswertung seiner Quellen war für einen antiken Philosophen außergewöhnlich. Als Merkmale eines guten Kommentators nannte er Unvoreingenommenheit und Vertrautheit nicht nur mit der einzelnen interpretierten Schrift, sondern mit dem Gesamtwerk und der Ausdrucksweise des Aristoteles. Ausdrücklich missbilligte er Autoritätshörigkeit. Er stellte fest, ein guter Kommentator versuche nicht, alle Thesen des Aristoteles als richtig zu erweisen, als ob dieser unfehlbar wäre. Zwar schätzte er Aristoteles und betrachtete ihn als Platoniker, doch wahrte er Distanz, prüfte die aristotelischen Argumente und nahm teils zustimmend, teils ablehnend Stellung. Dabei setzte er sich auch mit den Ansichten früherer Kommentatoren wie Alexander von Aphrodisias und Iamblichos von Chalkis auseinander. Er berichtete über die Positionen seiner Vorgänger, deren Werke heute zum Teil verloren sind, und untersuchte sie auf ihre Plausibilität. Kritik an Thesen anerkannter Autoritäten übte er, wo es ihm nötig schien. Als besten Aristoteles-Kommentator bezeichnete er den Peripatetiker Eudemos von Rhodos, aus dessen heute verlorener Physik er viel Material durch seine Zitate für die Nachwelt gerettet hat. Seine eigene Leistung schätzte er mit Bescheidenheit ein. Ein nicht erhaltener spätantiker Kommentar zum ersten Buch der Elemente Euklids (oder zumindest zu den Definitionen, Postulaten und Axiomen am Beginn des ersten Buches) wurde im Mittelalter Simplikios zugeschrieben und wird auch heute zu seinen authentischen Werken gezählt. Exzerpte daraus sind in einem mittelalterlichen arabischen Euklid-Kommentar überliefert. Verloren sind auch Simplikios’ Kommentare zur Meteorologie des Aristoteles und zu einer Schrift des Iamblichos über die Pythagoreer. Ferner gibt es Indizien dafür, dass er Kommentare zu Platons Dialog Phaidon und zu einem Rhetorikhandbuch des Hermogenes von Tarsos verfasst hat. Dass Simplikios auch gedichtet hat, geht aus einem Proklos-Scholion hervor, in dem zwei von ihm stammende Verse überliefert sind. Traditionell wird Simplikios auch ein erhaltener Kommentar zu Aristoteles’ Schrift Über die Seele (De anima) zugeschrieben. Diese Zuschreibung wird von Ilsetraut Hadot und einigen anderen Wissenschaftlern verteidigt, jedoch dominiert in der neueren Forschung die Meinung, dass das Werk von einem anderen Neuplatoniker stammt. Umstritten ist der Vorschlag, den Kommentator, der „Pseudo-Simplikios“ genannt wird, mit Priskianos Lydos zu identifizieren. Für Autorschaft des Priskianos plädieren Carlos Steel und Matthias Perkams. Gegen ihre These – ebenso wie gegen die traditionelle Einordnung unter die Werke des Simplikios – wenden sich John F. Finamore und John M. Dillon, Henry J. Blumenthal und Pamela Margaret Huby. Zwar erwähnt der Kommentator zwei weitere Werke, die er verfasst habe, doch sind diese heute verloren und tragen daher zu seiner Identifizierung nichts bei. Es handelt sich um einen Kommentar zur Metaphysik des Aristoteles und einen Auszug aus der Physik Theophrasts oder einen Kommentar zu einem von Theophrast selbst stammenden Auszug aus diesem Werk. Diese beiden Schriften werden bei der traditionellen Zuschreibung des De anima-Kommentars zu den verlorenen Werken des Simplikios gezählt. Mögliche Spuren eines verlorenen Metaphysik-Kommentars des Simplikios in byzantinischen Scholien sind in ihrer Zuverlässigkeit umstritten. Der Verfasser des erhaltenen De anima-Kommentars, um wen auch immer es sich handelte, bemühte sich in seinem Text zu zeigen, dass Aristoteles mit zentralen Thesen der platonischen Seelenlehre übereingestimmt habe. Lehre Ein Hauptanliegen des Simplikios war die Harmonisierung der platonischen und der aristotelischen Philosophie. Diese Bemühung entsprach dem im spätantiken Neuplatonismus verbreiteten Bestreben, die namhaftesten Autoritäten der als klassisch geltenden paganen Tradition als Vertreter ein und derselben ehrwürdigen Lehre darzustellen. Die systematische Darlegung dieser Lehre sollte eine überlegene Alternative zum Christentum bieten. Zugleich sollte damit das christliche Argument, die paganen Denker seien untereinander verschiedener Meinung und daher nicht im Besitz der Wahrheit, entkräftet werden. In diesem Sinne wurden die Differenzen zwischen Platonismus und Aristotelismus von manchen Neuplatonikern heruntergespielt. Simplikios vermittelte seinen Lesern den Eindruck, die Einwände des Aristoteles gegen Lehren Platons beträfen nicht deren sachlichen Kern, sondern nur bestimmte Formulierungen. Auch sonst postulierte er eine fundamentale Übereinstimmung der Kernideen der bedeutenden philosophischen Lehrer und Richtungen, soweit sie mit dem neuplatonischen Weltbild vereinbar zu sein schienen. Im Zweifelsfall entschied er sich für eine harmonisierende Auslegung. Wo dies nicht möglich war, bezog er klar Stellung, etwa mit seiner Ablehnung des Materialismus der Stoiker. Seine Herangehensweise erläuterte Simplikios anlässlich seiner Auseinandersetzung mit der philosophischen Bestimmung der Zeit: Es komme nicht darauf an, die Ansicht des Aristoteles zu diesem Problem zu kennen; vielmehr müsse man erst erkennen, was die Zeit tatsächlich sei. Dann könne man davon ausgehend an die Einsichten des Aristoteles näher herankommen. Kosmologie In der Astronomie setzte Simplikios wie Aristoteles das in der Antike vorherrschende geozentrische Weltbild voraus. Er glaubte, die Erde befinde sich ruhend in der Mitte des Universums. Hinsichtlich der Gestirnbewegungen wich er aber vom aristotelischen Modell ab, das durchsichtige, konzentrisch um die Weltmitte angeordnete, sich gleichförmig drehende Hohlkugeln (Sphären) vorsieht, an denen die Gestirne befestigt sind. Durch diese Befestigung werden dem Modell zufolge die Himmelskörper in ihren stets gleichbleibenden Kreisbahnen gehalten. Simplikios meinte, dieses Konzept sei durch die bei Ptolemaios dargelegten späteren astronomische Erkenntnisse teilweise überholt. Aber auch das Modell des Ptolemaios hielt er nicht für die endgültige Lösung. Er war der Ansicht, keine der bisherigen Theorien biete eine befriedigende Darstellung und Erklärung der Planetenbewegungen, keine sei notwendigerweise und nachweislich richtig. Auch seine eigene Theorie erfüllte seine Kriterien für einen wissenschaftlichen Beweis nicht. Im Gegensatz zu Aristoteles nahm er eine Achsenrotation sämtlicher Himmelskörper an und hielt deren Kreisbewegungen nicht für homozentrisch. Nach seiner Vorstellung dreht sich nur die Fixsternsphäre um das Zentrum des Weltalls. Die Planeten, zu denen man in der Antike auch die Sonne und den Mond zählte, führen eine komplexere Bewegung aus, die mindestens eine Kreisbewegung einschließt, deren Mittelpunkt nicht die Erde ist. Aristoteles meinte, das Weltall befinde sich nicht an einem Ort. Es sei nicht lokalisierbar, denn außerhalb des kugelförmigen Himmels, der von nichts umgeben und begrenzt sei, gebe es keine Wirklichkeit. Dieser Auffassung widersprach Simplikios. Er machte geltend, die Kreisbewegung der Himmelskugel sei nach der aristotelischen Lehre eine örtliche Bewegung, also eine Änderung des Orts, und dies setze voraus, dass der Himmel sich an einem Ort befinde. Den Grund für den Irrtum des Aristoteles sah Simplikios in der Unzulänglichkeit der aristotelischen Definition des Begriffs „Ort“. Aristoteles hatte den Ort als die Grenze zwischen einem Umfassenden und einem Umfassten definiert. Damit bestimmte er ihn als zweidimensionale Oberfläche. Demnach konnte der von nichts umfasste Himmel keinen Ort haben. Simplikios fragte, ob unter „Umfassen“ ein Umhüllen von außen oder ein Durchdringen des Umfassten zu verstehen sei. Beides führe zu einem Widerspruch: Wenn das Umfassende das Umfasste durchdringe, sei der Ort nicht die Grenze; wenn der Ort das Umfasste nur umhülle, sei nur die Oberfläche des Umfassten und nicht dieses selbst an einem Ort, was widersinnig sei. Dem Konzept des Aristoteles stellte Simplikios sein eigenes Ortsverständnis entgegen. Diesem zufolge ist der Ort ein Raum (χώρα chṓra) und ein „Gefäß“ (ὑποδοχή hypodochḗ), eine ausgebreitete Realität, die alle Teile eines an dem Ort befindlichen Dinges betrifft. Er ist kein Hohlraum und auch nicht – wie Proklos meinte – ein immaterieller Körper, sondern materiell und ausgedehnt. Die Materie des Ortes ist nicht dieselbe wie die des Körpers, der sich am Ort befindet; vielmehr handelt es sich um zwei verschiedene Arten von Materie. Darin liegt keine Unstimmigkeit, denn aus Simplikios’ Sicht steht nichts einer gegenseitigen Durchdringung zweier Materien entgegen. Der Ort ist kein Akzidens, keine Eigenschaft von etwas (wie etwa die räumliche Ausdehnung, die ein Ding als eine seiner Eigenschaften aufweist und die in der Kategorienlehre unter Quantität fällt). Vielmehr ist er selbst eine ausgedehnte Ousia („Seiendheit“, oft mit „Substanz“ übersetzt). In der Weltordnung spielt er eine wichtige Rolle, denn er ist das Maß, das jedem Körper dessen Stellung zuteilt und innerhalb der Körper deren Teile ordnet. Somit ist der Ort kein neutraler Raum, in dem sich zufällig Objekte befinden, sondern er ist das Prinzip der geordneten Struktur des gesamten Kosmos und jedes einzelnen Dings. Er nimmt nicht passiv Dinge auf, sondern gestaltet die Verhältnisse machtvoll. Simplikios hielt wie Aristoteles die räumliche Ausdehnung des Universums für endlich. Er verteidigte die aristotelische Lehre von der Anfangslosigkeit und Unzerstörbarkeit des Kosmos gegen die Position des Philoponos, der als Christ eine Schöpfung als zeitlichen Beginn und einen künftigen Weltuntergang annahm und seine Auffassung philosophisch begründete. Eines der Argumente des Philoponos lautete: Wenn die Welt keinen zeitlichen Anfang hat, muss bereits eine unendliche Anzahl von Tagen vergangen sein. Wenn aber die Anzahl der Tage, aus denen die Vergangenheit besteht, endlos ist, hätte der heutige Tag nie erreicht werden können, denn damit wäre eine Aufeinanderfolge von unendlich vielen Tagen an ein Ende gekommen. Dagegen brachte Simplikios vor, die verflossenen Jahre seien, da sie der Vergangenheit angehörten, nicht mehr existent; es handle sich also nicht um die von Aristoteles ausgeschlossene Durchquerung einer Menge von unendlich vielen real – nicht nur potentiell – existierenden Einheiten. Dieses Gegenargument ist allerdings nicht stichhaltig, da eine wirkliche Aufeinanderfolge der vergangenen Jahre stattgefunden hat und die Verflossenheit der Jahre nichts an der realen Unendlichkeit ihrer Anzahl ändert. Im Rahmen der Vorgabe des aristotelischen Systems, das nur potentielle Unendlichkeit zulässt, ist das Argument des Philoponos aus heutiger Sicht zwingend. Offen bleibt aber die Frage, ob die Möglichkeit einer unendlichen Vergangenheit auch außerhalb des aristotelischen Unendlichkeitsverständnisses logisch ausgeschlossen ist. Darüber wird weiterhin kontrovers diskutiert. An Ausführungen des Aristoteles anknüpfend unterschied Simplikios zwischen den Vorgehensweisen zweier Arten von Naturforschern: des „Physikers“ (physikós), womit er einen Naturphilosophen meinte, und des „Mathematikers“, das heißt eines Nichtphilosophen, der physikalische Gegebenheiten mit mathematischen Mitteln zu erfassen versucht. Ein Spezialfall eines solchen „Mathematikers“ ist der Astronom. Beide Forscherarten untersuchen denselben Gegenstand, aber auf unterschiedliche Weise. Der „Physiker“ fragt nach der Natur von Sphären und Himmelskörpern, er betrachtet sie unter qualitativem Gesichtspunkt, während sich der Astronom mit quantitativen Gesichtspunkten befasst und sich dabei auf eine arithmetische und geometrische Argumentation stützt. Der „Physiker“ fragt nach Kausalzusammenhängen, der Astronom beschränkt sich auf ein Beschreiben, das den beobachteten Phänomenen gerecht werden soll, ohne dass diese kausal erklärt werden. Simplikios hielt die naturphilosophische, „physikalische“ Vorgehensweise für die allein wissenschaftlich ertragreiche. Er meinte, die Astronomen sollten sich nicht mit dem Ersinnen von „Hypothesen“ – bloßen Rechenregeln zur „Rettung der Phänomene“ – begnügen, sondern eine durch kausale Argumentation gut begründete physikalische Theorie zur Ausgangsbasis ihrer Überlegungen machen. Nur eine so fundierte Astronomie könne wirkliche Erkenntnisse liefern. Sie müsse in der Lage sein, alle beobachteten Phänomene zu erklären, darunter scheinbare Schwankungen der Größe von Himmelskörpern. Schon Aristoteles hatte die Ansicht vertreten, die Mathematik als übergeordnete Wissenschaft dürfe einer untergeordneten Wissenschaft wie der Astronomie Axiome liefern und sei für die Begründung und Erklärung der astronomischen Gegebenheiten, der Phänomene, zuständig. Die übergeordnete Wissenschaft kenne die Ursachen, die untergeordnete nur die Fakten. Diesem Grundsatz folgend verwendete Aristoteles geometrische Definitionen und Einsichten für seine kosmologischen Ausführungen. Gegen sein Argumentationsverfahren wandte sich Philoponos. Er meinte, ein auf die Physik bezogenes mathematisches Argument könne durch den Hinweis auf die Beschaffenheit der physikalischen Realität entkräftet werden, denn diese schränke die mathematische Möglichkeit so weit ein, dass das Argument seinen Grund verliere. Somit seien mathematische Prinzipien in der physikalischen Welt nicht uneingeschränkt anwendbar. Bei Simplikios stieß diese Ansicht auf vehemente Kritik. Er forderte einen unbehinderten Übergang von der Physik zu ihren mathematischen Prinzipien und umgekehrt eine uneingeschränkte Anwendung mathematischer Prinzipien auf die Physik und insbesondere auf die Astronomie. Eine deduktive Beweisführung hielt er für wichtiger als die Gewinnung von Einsichten durch Induktion. Demgemäß präsentierte er die aristotelische Kosmologie als ein streng deduktives System. Raum und Materie Eines der Probleme, mit denen sich Simplikios bei der Kommentierung von Aristoteles’ Physik zu befassen hatte, war das Verhältnis der amorphen Urmaterie zum Raum. Hierfür war der Grundlagentext der Neuplatoniker Platons Dialog Timaios. Dort werden die kosmologischen Zusammenhänge im Rahmen einer Schöpfungserzählung dargestellt. Nach der neuplatonischen Interpretation ist aber mit der Schöpfung kein realer zeitlicher Ursprung des Kosmos gemeint; vielmehr hat Platon nur aus didaktischem Grund überzeitliche Kausalzusammenhänge fiktiv auf eine zeitliche Ebene projiziert, um sie für das zeitgebundene menschliche Denken besser erfassbar zu machen. Nach dem Bericht im Timaios hat der Schöpfergott, der Demiurg, die Urmaterie nicht aus dem Nichts geschaffen, sondern vorgefunden. Sie befand sich, bevor er seine Tätigkeit begann, in einem Zustand chaotischer Bewegung. Es gab schon vor der Schöpfung ein unsichtbares, formloses Substrat, das gewissermaßen der „Ort“ der regellosen Bewegung der Urmaterie war: die chṓra. Dieses Wort bezeichnet im Altgriechischen den Raum, daher wird der Ausdruck auch in diesem philosophischen Zusammenhang gewöhnlich mit „Raum“ übersetzt. Darunter ist jedoch nicht ein potentiell leerer Raum zu verstehen. Vielmehr hat die chora sowohl räumlichen als auch materiellen Charakter, sodass man von „Raum-Materie“ sprechen kann. Der Raum kann nur begrifflich, nicht real von seinem materiellen Inhalt getrennt werden. Die Aufgabe von Platons Schöpfer bestand darin, die formlose Urmaterie durch Einführung von Formen zu gestalten und aus dem Chaos einen sinnvoll geordneten Kosmos zu schaffen. Aristoteles, der die Vorstellung einer zeitlichen Erschaffung der Welt ablehnte, befasste sich aus einer anderen Perspektive als Platon mit der Frage der Urmaterie. Nach seinem Konzept ist die Urmaterie das erste „Zugrundeliegende“ (Hypokeimenon), das Substrat oder Subjekt aller Eigenschaften in einem Körper. Wenn man von einem Körper gedanklich alle seine Eigenschaften wegnimmt, bleibt nach aristotelischem Verständnis nichts übrig außer dem Subjekt, das von diesen Eigenschaften bestimmt wird, und das ist die eigenschaftslose Urmaterie. Aus den Ausführungen des Aristoteles geht aber nicht klar hervor, wie er sich das vorgestellt hat. Jedenfalls kritisierte er das platonische Konzept. Er meinte, man könne dem Ort nicht die Funktion der Materie zuweisen, denn der Ort sei unbeweglich und daher von einem beweglichen Ding trennbar, während die Materie des Dings von diesem untrennbar sei. Man dürfe den Ort nicht mit Ausdehnung gleichsetzen. Offenbar betrachtete Aristoteles die Materie entweder als Ausdehnung oder als der Ausdehnung ähnlich, zumindest unter dem Gesichtspunkt, dass sie ebenso wie die Ausdehnung durch Eigenschaften, die sie erhält, eine Bestimmung bekommen muss. Da weder Platon noch Aristoteles ein klares, ausgearbeitetes Konzept der Urmaterie vorgelegt hatte, blieb für die antiken Denker zu klären, was man sich unter der Materie als Subjekt der Eigenschaften eines Körpers vorzustellen hatte. Die Frage nach dem Subjekt der physikalischen Eigenschaften wird bis zur Gegenwart in der Naturphilosophie kontrovers diskutiert. Die Lösung, die Simplikios befürwortete und für die des Aristoteles hielt, war die Gleichsetzung der Urmaterie mit einer unbestimmten dreidimensionalen Ausdehnung. Nach seinem Verständnis gehören zu den Eigenschaften, die man einem Ding gedanklich wegnehmen muss, um zur Urmaterie zu gelangen, dessen bestimmte Länge, Breite und Tiefe. Was nach der Entfernung aller Eigenschaften als erstes Subjekt oder Urmaterie übrig bleibt, ist ein unbestimmtes Ausgedehntsein. Ein solches kommt allerdings in der physischen Wirklichkeit nicht vor, denn real existierende materielle Objekte haben immer eine bestimmte Ausdehnung. Die Besonderheit dieses Konzepts des Simplikios besteht darin, dass die Ausdehnung nicht wie üblich als eine der Eigenschaften eines Objekts aufgefasst wird, sondern selbst zum Subjekt von Eigenschaften gemacht wird. Indem die Urmaterie als unbestimmte Ausdehnung definiert wird, verliert sie den mysteriösen Charakter, den sie bei Aristoteles noch hat. Zeittheorie Simplikios bemühte sich eingehend um ein Verständnis des Phänomens Zeit. Er fasste die Zeit als Abbild des Aion, der „Ewigkeit“, auf. Außerdem unterschied er zwischen der fließenden, physischen Zeit und einer metaphysischen „ersten Zeit“, die er als Vorbedingung der physischen Zeit betrachtete. Die physische Zeit bestimmte er als Maß des Seins des Bewegten. Die erste Zeit ist in seiner Theorie diejenige Instanz, welche die physische Zeit ordnet und bemisst. Sie ermöglicht den Fluss der physischen Zeit und bewirkt den geregelten Charakter der Abläufe. Durch die erste Zeit erhält das in Werden und Bewegung Befindliche seine relative Einheit. Die fließende Zeit ist von sich aus nicht in der Lage, diese Einheit zu vermitteln und die Entwicklung des sich Wandelnden zu ordnen. Somit steht die erste Zeit als Ursache in der ontologischen Rangordnung über der von ihr abhängigen fließenden Zeit, doch ist sie nicht mit dem Aion gleichzusetzen. Der Schlüssel zu ihrem Verständnis liegt in ihrem Verhältnis zur Weltseele, denn sie ist der Weltseele als Prinzip von deren Einheit und Ordnung zugeordnet. Simplikios versuchte die von Aristoteles erörterten Paradoxa der Zeit aufzulösen. Dabei handelt es sich um Aporien, scheinbare oder wirkliche Sackgassen, in die man gerät, wenn sich aus Aussagen, die als zutreffend akzeptiert worden sind, unannehmbare Konsequenzen ergeben. Nach der Einschätzung des Simplikios ist es weder Aristoteles noch einem der späteren Denker gelungen, das Problem der Zeitparadoxa zu lösen. Eines der Paradoxa lautet: Die Zeit ist teilbar. Etwas Teilbares kann nur existieren, wenn es existierende Teile hat. Die Zeit hat aber keine existierenden Teile, denn die Vergangenheit existiert nicht mehr, die Zukunft noch nicht, und die Gegenwart ist kein Teil der Zeit, da sie ein ausdehnungsloser Zeitpunkt ist und die Zeit nicht aus Zeitpunkten zusammengesetzt ist. Also gibt es keine Zeit. Ein anderes Paradox besteht darin, dass jeder Moment aufhören muss zu existieren, aber es prinzipiell keinen Zeitpunkt geben kann, zu dem das geschieht. Weder kann der Moment aufhören zu existieren, während er noch existiert, noch kann er erst im nächsten Moment aufhören zu existieren, denn jeder Moment setzt das Ende des vorherigen voraus. Einen „nächsten“ Moment kann es gar nicht geben, da ausdehnungslose Momente ebenso wie geometrische Punkte auf einer Linie nicht aneinander angrenzen. Simplikios hielt es für notwendig, die Problematik der Paradoxa zu klären, um ein vollständiges Verständnis der Zeit zu gewinnen. Aus den Paradoxa ergebe sich nicht nur, dass es keine zeitliche Ausdehnung gebe, sondern auch, dass es nicht einmal das unausgedehnte Jetzt geben könne. Wenn dafür keine Lösung gefunden werde, werde sich niemand davon überzeugen lassen, dass Zeit existiere. Ein Lösungsansatz des Damaskios, der bei Simplikios beschrieben ist, bestreitet die Existenz ausdehnungsloser Momente und spricht dem Jetzt als kleinster, unteilbarer Zeiteinheit eine Existenz als wirkliche Gegenwart zu. Der Zeitfluss wird dabei als sprunghaft vorgestellt. So wird die Gegenwart zu einem echten Teil der Zeit. Simplikios konnte sich aber mit dem Gedanken der Sprunghaftigkeit nicht anfreunden. Er hielt an der von Aristoteles postulierten kontinuierlichen, nicht gequantelten Zeit fest. Die Möglichkeit einer instantanen (keine Zeit benötigenden) akzidentellen Veränderung an einer Substanz in einem materiellen Substrat schloss er aus. Eine substantielle Änderung – die Änderung der Substanz selbst durch das Erscheinen einer neuen Form in dem materiellen Substrat – betrachtete er zwar als instantan, doch sah er darin nur den Abschluss eines vorbereitenden Prozesses, der zuvor in der Materie ablaufe und kontinuierlich sei. Ebenso beurteilte er die relationale Veränderung – etwa die Änderung der gegenseitigen Position zweier Körper –, die er im Gegensatz zu Aristoteles nicht für akzidentell hielt. Simplikios war der Ansicht, das Jetzt sei teillos und eigenschaftslos, aber nicht bestimmungslos; er sah darin das Konstruktionsprinzip der Kontinuität und setzte das Prinzip der Zeitgestalt mit dem Prinzip der Kontinuität gleich. Die primäre Gegebenheit ist in seiner Zeittheorie die Kontinuität, nicht die zahlenmäßige Ordnung der Zeit. Darin unterscheidet sich seine Position von der des Aristoteles, der zufolge die zeitliche Abgrenzung, die Strukturierung der Zeit durch ein „Früher“ und „Später“ eine mathematische und physikalische Realität ist, wenngleich ihre physikalische Existenz schwer nachzuweisen und zu verifizieren ist. Zum Problem der Paradoxa vertrat Simplikios die Auffassung, die physische Zeit sei zwar beliebig teilbar, aber nur in der Vorstellung, nicht in Wirklichkeit. Die Aufteilung der Zeit in Momente beschreibe nicht die Realität, sondern sei nur ein gedankliches Konstrukt. Die Paradoxa entstünden dadurch, dass die vorgestellten Teile mit realen gleichgesetzt würden. Dabei werde die Zeit wie ein statisch Seiendes aufgefasst, doch habe sie ihre Wirklichkeit im Fluss des Werdens. Der Grund der Entstehung der Paradoxa liegt für Simplikios in der Natur der menschlichen Seele, welche die Zeit betrachtet. Die Seele steht zwischen dem Reich des überzeitlichen, unveränderlichen Seins und dem des Wandels. Sie hat denkend Zugang zu beiden, wobei sie aber zunächst die Seinsweise ihres Denkobjekts ihrer eigenen gleichsetzt und damit dessen Wirklichkeit nur teilweise erfasst. Von den festen Begriffen ihres Denkens her hat sie zunächst keinen Zugang zum Wandel und zur Zeit, in der er sich vollzieht. Erst durch Einsicht in ihre eigene Natur kann sie den Unterschied zwischen ihrer Seinsweise und derjenigen der entstehenden und vergehenden Dinge erfassen und die Besonderheit des Werdenden und der Zeit begreifen. Die Natur der Seele und die Entstehung der Übel Die Neuplatoniker waren entschiedene Vertreter eines monistischen Weltbilds. Sie waren der Überzeugung, es gebe nur ein einziges Urprinzip, „das Eine“, das als alleiniger Ursprung alles Seienden und Guten zu betrachten sei. Daher bekämpften sie den Dualismus, der ein eigenständiges Prinzip des Schlechten als Gegenpol des Guten und Ursache der Übel annimmt und damit die Einheitlichkeit der Realität bestreitet. Auch Simplikios nahm zu diesem Problem Stellung und verteidigte den neuplatonischen Monismus. In seinem Epiktet-Kommentar argumentierte er gegen den Manichäismus, eine seit dem 3. Jahrhundert verbreitete religiöse Lehre, die eine dezidiert dualistische Erklärung des Schlechten bot. Er hatte persönlichen Kontakt mit einem Manichäer, der ihm über seinen Glauben Auskunft gab. Dem absoluten Dualismus der Manichäer zufolge gibt es ein Reich des Guten und eines des Bösen. Diese stehen einander seit jeher als unversöhnliche Widersacher gegenüber und befinden sich in ständigem Kampf. Simplikios griff die Kosmogonie der Manichäer an, ihre Lehre von der Entstehung des Kosmos, nach der die Erschaffung der Welt einen Teil dieses Konflikts darstellt. Im Rahmen seiner Widerlegungsbemühungen warf er ihnen vor, ihre Erzählungen seien keine echten Mythen, sondern Monstrositäten. Außerdem hätten sie nicht begriffen, dass mythische Darstellungen nicht im buchstäblichen Sinn wahr seien, sondern symbolisch zu deuten seien. Dem Schlechten (kakón) wies Simplikios, der traditionellen Überzeugung der Neuplatoniker folgend, keine echte Realität zu. Es sei nur eine „Beraubung“, eine Entbehrung des Guten. Eine „Natur des Übels“ gebe es nicht. In Wirklichkeit sei alles Schlechte als Mangel an Gutem erklärbar. Dem manichäischen Dualismus stellte Simplikios die platonische, auch von Aristoteles geteilte Überzeugung entgegen, jedes Streben ziele auf etwas wirklich oder vermeintlich Gutes ab. Niemand wolle vorsätzlich etwas Schlechtes als solches. Nach diesem Verständnis gelangt man dann zu etwas Schlechtem und Schädlichem, wenn man nach einem scheinbaren Gut strebt und dabei ein Übel miterwirbt, weil man dessen Schlechtigkeit entweder nicht erkennt oder um des guten Ziels willen in Kauf nimmt. So lässt sich jede Handlung, die im Ergebnis zu etwas Schlechtem führt, dadurch erklären, dass der Handelnde zwar etwas Gutes und Nützliches erlangen wollte, aber sich dabei verirrt und das eigentlich Angestrebte verfehlt hat. Fehlentscheidungen und Schlechtigkeit eines Menschen sind somit nur die Folgen eines Mangels an Einsicht, nicht einer bösen Natur in ihm. Sogar wenn es etwas von Natur aus Schlechtes gäbe, würde dieses um des eigenen Nutzens willen handeln, also wegen etwas Gutem. Dies wird sogar im Weltbild der Manichäer vorausgesetzt, wie Simplikios ihnen vorhielt: Nach ihrem Mythos strebt das Reich des Bösen im Kampf gegen das Gute danach, von diesem einen Nutzen für sich zu erlangen; also will es – so Simplikios – eigentlich etwas Gutes, obwohl es angeblich absolut schlecht ist. Demnach strebt das absolut Böse nach dem, was seiner eigenen Natur entgegengesetzt ist. Diese Annahme war für Simplikios absurd. Aus der Sicht des Simplikios geht auch der Irrtum der Manichäer auf ein eigentlich gutes, berechtigtes Anliegen zurück: Sie haben das Schlechte zu einem eigenständigen Prinzip erhoben, um es nicht auf Gott zurückführen zu müssen. So wollten sie vermeiden, der absolut guten Gottheit die Verursachung des Bösen zuzuschreiben. Dabei sind sie aber „auf der Flucht vor dem Rauch ins Feuer gefallen“; der scheinbare Ausweg ist ihnen zum Verhängnis geworden, denn sie haben damit eine widersinnige Position eingenommen. Nach ihrer Behauptung hat sich nämlich das Gute im Kampf freiwillig der Einwirkung der gegnerischen Macht ausgesetzt und dabei Verluste erlitten. Das ist nach der Argumentation des Simplikios absurd: Wenn sich das Gute so verhielte, wäre es unvernünftig und unfähig und somit schlecht. Ein wirklich absolut Gutes kann sich gar nicht auf einen Kampf einlassen; es ist für alles Schlechte unerreichbar. Die manichäische Vorstellung eines Kampfes zweier Urprinzipien setzt voraus, dass das eine Prinzip das andere angreift, also in dessen Bereich vordringt. Das ist aber bei Prinzipien, die einander von Natur aus absolut entgegengesetzt sind, unmöglich, denn das eine müsste beim Kontakt mit dem anderen entweder seine Natur ändern oder vernichtet werden. Beides ist per Definition ausgeschlossen. Überdies warf Simplikios den Manichäern vor, ihre Weltdeutung nehme dem Menschen den Bereich dessen, was in seine Zuständigkeit falle, denn sie enthebe ihn der Verantwortung für seine ethischen Entscheidungen. Wenn ein ewiges, mächtiges Prinzip des Bösen die Ursache der Übel sei, dann sei es auch der Grund für menschliche Fehler. Schlechte Handlungen eines Menschen seien dann nicht mehr auf ihn selbst zurückzuführen, denn er sei in diesem Fall einem übermächtigen Einfluss ausgesetzt und seine Selbstbestimmung sei aufgehoben. Nach Simplikios’ Verständnis ist der Mensch dem Schlechten niemals hilflos ausgeliefert; er kann sich stets für das Gute, das seiner Naturanlage entspricht, entscheiden. Überdies ist der Bereich, in dem Schlechtes tatsächlich vorkommt, eng begrenzt. Beeinträchtigungen, die den Körper betreffen, zählen nicht zum Schlechten im eigentlichen Sinn, und das Vorhandensein oder Fehlen materieller Güter ist unwesentlich. Materielle Zerfallsprozesse sind ebenso notwendig wie Entstehungsprozesse und im Rahmen der Weltordnung sinnvoll. Das Wechselspiel von Zusammensetzung und Auflösung der Körper ist an sich nichts Schlechtes; wenn man es aus einer höheren Perspektive betrachtet und das Ganze ins Auge fasst, erweist es sich als Notwendigkeit. Wirklich schlimm sind nur seelische Fehlhaltungen, denn nur auf die unsterbliche Seele kommt es an, nicht auf den vergänglichen Körper. Somit existiert echtes Übel weder in der Natur, die den Menschen umgibt, noch in seinen Lebensumständen, sondern nur in seiner Seele, und dort kann es durch Erkenntnis und eine philosophische Lebensweise ausgeschaltet werden. Außerdem sind auch physische Unzulänglichkeiten auf einen relativ kleinen Teil des Kosmos beschränkt. Sie kommen nur im irdischen Bereich vor, denn nur dort finden die Prozesse des Entstehens, Wandels und Vergehens statt, die das Auftreten physischer Mängel ermöglichen. Gemäß dem damaligen Weltbild der paganen Philosophen glaubte Simplikios, das Werden und Vergehen spiele sich ausschließlich im „sublunaren“ Raum – unterhalb des Mondes – ab. Den ganzen Himmel oberhalb der Mondsphäre betrachtete er als eine vollkommene Region, der alles Schlechte fremd sei. In der Seelenlehre unterschied Simplikios drei Arten von Seelen: die „ersten“ Seelen, deren Wohnsitze sich oberhalb der Mondsphäre im Bereich der unvergänglichen Körper befinden. Sie steigen niemals zur Erde hinab und kennen keinerlei Übel. Da sie ungehindert ihrer eigenen Natur folgen, sind sie ausschließlich auf das unvergängliche Gute ausgerichtet. Daher können sie keine Fehlentscheidungen treffen. In ihnen sind keine Regungen, die sich auf Materielles und Vergängliches beziehen. die Seelen, die zwar der Welt des Unvergänglichen entstammen, aber zur Erde hinabsteigen und dort menschliche Körper bewohnen. Sie nehmen eine Zwischenstellung zwischen der göttlichen Welt des reinen Seins und der tierischen und pflanzlichen des reinen Werdens ein und haben zu beiden Bereichen Zugang. Durch ihren Abstieg kommen sie mit dem Schlechten in Kontakt. Da ihnen die ausschließliche Ausrichtung auf das Gute abhandengekommen ist, müssen sie herausfinden, was für sie gut ist, und irrtumsanfällige Entscheidungen treffen. Das kann dazu führen, dass sie eine ihrer guten Natur entgegengesetzte Disposition erhalten. Sie sind aber in der Lage, sich durch geistiges Bemühen wiederum dem Guten zuzuwenden und damit das für sie Naturgemäße zu verwirklichen. Wenn sie zu ihrer Heimat jenseits der Mondsphäre emporsteigen, sind sie von allen Übeln befreit. die Seelen der Tiere und Pflanzen, die nur ihren irdischen Lebensraum kennen. Sie sind in ihren Betätigungen stets auf das Körperliche, dem sie verwandt sind, ausgerichtet. Da den Tieren die Vernunft fehlt, sind sie ihren nichtvernünftigen Begierden ausgeliefert. Das ist aber bei ihnen nichts Schlechtes, sondern für sie naturgemäß. Sie folgen dem Drang zur Erhaltung des Lebens; damit haben auch sie etwas Gutes als Ziel. Ihre Art, Übel zu erleben, ist abgestuft: Bei niederen Tieren handelt es sich um ein rein körperbezogenes Erleben, ähnlich wie bei den Pflanzen; bei manchen höheren Tieren nähert sich die Erfahrung von Übeln der menschlichen. Ethik Das Interesse, das Simplikios der Seelenlehre und der Frage nach dem Schlechten entgegenbrachte, war – wie bei allen Neuplatonikern – praxisbezogen. Es ging ihm um die Verwertung der gewonnenen Erkenntnisse für die Lebensführung. In diesem Sinne stellte er am Anfang seines Epiktet-Kommentars fest, das Handbüchlein des Stoikers wende sich an Leser, die nicht nur den Inhalt zur Kenntnis nehmen wollten, sondern auch bereit seien, sich von den Worten bewegen zu lassen und die Ratschläge in ihrem Leben umzusetzen. Das Ziel bestehe darin, die Seele so frei zu machen, dass sie nichts mehr fürchte, sich von nichts betrüben lasse und von nichts unter ihr Stehendem überwältigt werden könne. Damit erreiche sie den naturgemäßen Zustand, der ihr im Rahmen der Weltordnung zugedacht sei. Dieses Ziel war für Simplikios auch das Leitprinzip seiner eigenen Arbeit als Kommentator. Er wollte Epiktets stoische Anleitung zu einem philosophischen Leben seinen von der platonisch-aristotelischen Denkweise geprägten Lesern nahebringen. Dabei legte er besonderen Wert darauf, Begründungen zu bieten und den Sinn und Nutzen der Regeln und Mahnungen Epiktets verständlich zu machen. Großes Gewicht legte Simplikios auf die Unterscheidung zwischen dem, was in der Macht des Menschen steht und in seine Verantwortung fällt, und dem, worauf man keinen Zugriff und Einfluss hat. Die Unterscheidung zwischen dem, „was an uns liegt“ (ta eph’ hēmín), und allem übrigen war die Grundlage von Epiktets ethischem Programm. Epiktet forderte volle Konzentration auf den allein wesentlichen eigenen Zuständigkeitsbereich, den es jederzeit zu erkennen gelte. Simplikios sah seine Aufgabe als Kommentator darin, dem Leser zu einem genaueren Verständnis dessen, was „an uns liegt“, zu verhelfen. Dabei ging es ihm um die Angelegenheiten, über welche die Seele freie Entscheidungen fällen kann. Nur in diesem Bereich liegt nach seiner Überzeugung die Ursache dafür, dass ein gutes Leben gut ist und ein schlechtes schlecht. Wenn die Seele gemäß ihrer eigenen Natur tätig ist, ist sie frei und in der Lage, eine selbstbestimmte und ihr selbst zuträgliche Wahl zu treffen. Dann entscheidet sie nach einem Kriterium, das in ihr selbst liegt und ihrer guten Natur entspricht. Im Gegensatz zu unbeseelten Körpern ist sie selbstbewegt und damit Ursache ihrer eigenen Bewegungen und Tätigkeiten. Daher kann sie sich aus eigener Kraft dem Einen und Guten, das ihr Ursprung ist, zuwenden und dann entsprechend handeln. Dafür ist erforderlich, dass sie sich von den Bewegungen unabhängig macht, die von außen initiiert sind. Aber auch von außen angeregte oder beeinflusste Meinungen und Tätigkeiten der Seele sind nicht als etwas Fremdes zu betrachten, sondern als etwas Eigenes, denn die Seele selbst ist es, die sich das von außen Kommende zu eigen gemacht hat; es ist dann ihre eigene Bewegung. Alle ihre Impulse kommen aus ihr selbst, im Gegensatz zu einem Gestoßenwerden von außen. Simplikios ging auf Einwände ein, die gegen dieses Konzept erhoben werden können. Er setzte sich mit deterministischen und fatalistischen Vorstellungen auseinander, denen zufolge es „das, was an uns liegt“ gar nicht gibt, weil menschliches Handeln von Zufällen oder Notwendigkeiten bestimmt wird und nicht von einem freien Willen. In Anknüpfung an Epiktets Rat, das Ziel kompromisslos zu verfolgen, meinte Simplikios, man solle es mit vollem Ernst und nicht beiläufig angehen. Epiketets Ansicht war, beim Einüben einer vernünftigen, tugendhaften Haltung sei für Anfänger ein gemäßigtes Vorgehen nicht zweckmäßig. Vielmehr solle sich ein Philosophieschüler radikal von seinen bisherigen fragwürdigen Gewohnheiten abwenden, um sich ganz auf sein gestecktes Ziel zu konzentrieren. Man solle mit kleinen Dingen beginnen, dabei aber konsequent sein. Schon Aristoteles hatte empfohlen, unerwünschten Charakterzügen zunächst hart entgegenzutreten; später könne der Schüler dann, wenn er Einsicht gewonnen und seinen Charakter gut ausgebildet habe, die anfängliche Strenge wieder abmildern, ohne dadurch Versuchungen zum Opfer zu fallen. Simplikios stimmte diesen Überlegungen zwar im Prinzip zu, distanzierte sich aber von Forderungen eines radikalen Stoizismus, die er für unrealistisch hielt. Er konstatierte, kein Mensch könne seine Begierden gänzlich ausschalten. Zu schnelles Vorgehen hielt er für schädlich. Nach seiner Lehre sollen irrationale Bestrebungen nicht unterdrückt oder gar vernichtet werden. Vielmehr kommt es nur darauf an, dass sie sich der Herrschaft der Vernunft unterordnen und damit ihren angemessenen Platz einnehmen. Hier griff Simplikios Platons Metapher des „Kindes in uns“ auf. Das „Kind“ im Erwachsenen steht für das Irrationale, das sich im Leben der Seele bemerkbar macht. Es ist vernunftlosen Impulsen ausgeliefert, strebt ungezügelt nach sinnlich Lustvollem und entwickelt aufgrund falscher Vorstellungen unnötige Angst. Dieses Kind soll nach platonischem Verständnis nicht umgebracht, sondern belehrt und ausgebildet werden. Simplikios befand, Bildung (Paideia) sei hauptsächlich „die Verbesserung des Kindes in uns durch den Pädagogen in uns“. Rezeption Mittelalter Arabischsprachiger Raum Im arabischsprachigen Raum war Simplikios als Sinbilīqiyūs bekannt. Zumindest die Kommentare zu den Kategorien und zum ersten Buch der Elemente Euklids wurden ins Arabische übersetzt; im Jahr 987 führte sie der Gelehrte Ibn an-Nadīm in seinem Kitāb al-Fihrist an. Er nannte den Namen des Simplikios unter den Mathematikern und Astronomen, schrieb ihm aber auch einen Kommentar zu De anima zu, der ins Altsyrische übersetzt worden sei und auch in einer arabischen Fassung vorliege. Schon der im späten 9. Jahrhundert in Bagdad tätige persische Mathematiker an-Nayrīzī hatte den Euklid-Kommentar in seinem eigenen Kommentar zu den Elementen ausgiebig zitiert. Auf die Angaben Ibn an-Nadīms stützte sich der Schriftsteller Ibn al-Qiftī (1172–1248), der Simplikios in seinem wissenschaftsgeschichtlichen Handbuch behandelte. Er bezeichnete ihn ebenfalls als Mathematiker und behauptete zusätzlich, er sei angesehen gewesen und habe Nachfolger gehabt, die nach ihm benannt worden seien, es habe also eine Schule des Simplikios gegeben. Der 950 gestorbene Philosoph al-Fārābī, ein eifriger Verwerter antiken Gedankenguts, verwendete den Kategorien-Kommentar, ohne jemals den Namen des Autors zu nennen. Er teilte die harmonisierende Sichtweise des Simplikios. Auch der Philosoph Averroes (Ibn Rušd, 1126–1198), in dessen Werken sich zahlreiche Übereinstimmungen mit Texten des Simplikios finden, erwähnte den Neuplatoniker nie. Mit dessen Argumentation gegen Philoponos war er so vertraut, dass einer Forschungsmeinung zufolge zu vermuten ist, dass er Zugang zu Material aus dem Physik-Kommentar hatte. West- und Mitteleuropa Im 12. Jahrhundert übersetzte Gerhard von Cremona den Euklid-Kommentar an-Nayrīzīs ins Lateinische. Dadurch wurden auch die darin enthaltenen Simplikios-Zitate im Westen bekannt. Gerhard gab den Namen des Philosophen als Sambelichius wieder. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts verwertete Albert der Große Gerhards Übersetzung für seinen eigenen Euklid-Kommentar, wobei er auch von Simplikios stammendes Material übernahm. Den lateinischsprachigen spätmittelalterlichen Gelehrten West- und Mitteleuropas lagen nur zwei Schriften des Simplikios vor: die Kommentare zu den Kategorien und zu Über den Himmel, die Wilhelm von Moerbeke ins Lateinische übertragen hatte. Moerbeke beendete die Übersetzung des Kategorien-Kommentars im März 1266, die des Kommentars zu Über den Himmel im Juni 1271. Schon früher – im Zeitraum 1235–1253 – hatte Robert Grosseteste eine Teilübersetzung des Kommentars zu Über den Himmel angefertigt. Der Kommentar zu den Kategorien wurde von zahlreichen Gelehrten des späten 13. und des 14. Jahrhunderts herangezogen, darunter Thomas von Aquin, Heinrich von Gent, Aegidius Romanus und Johannes Duns Scotus, und entfaltete so eine starke Wirkung. Thomas schloss sich der von Simplikios vertretenen harmonisierenden Deutung des Verhältnisses von Platon und Aristoteles an. Petrus de Alvernia verwertete in seinem Kommentar zu Über den Himmel eine Fülle von Material aus dem einschlägigen Werk seines antiken Vorgängers, und Heinrich Bate nahm in seinem großen Handbuch Speculum divinorum et quorundam naturalium (Spiegel der göttlichen Dinge und gewisser Naturdinge) teils zustimmend, teils ablehnend zu Thesen Stellung, die Simplikios in seinem Kommentar zu Über den Himmel vorgetragen hatte. Duns Scotus hielt es für nötig, eigens darauf hinzuweisen, dass dem Urteil der Vernunft ein höherer Rang gebühre als der Autorität des Simplikios. Daraus ist ersichtlich, dass sich die Aristoteles-Kommentierung des Simplikios eines außerordentlichen Ansehens erfreute. Byzantinisches Reich Die byzantinische Prinzessin Theodora Rhaulaina, eine Nichte Kaiser Michaels VIII., schrieb im Zeitraum 1261–1282 den Physik-Kommentar des Simplikios ab. Dieser textkritisch besonders wichtige Codex ist erhalten geblieben und befindet sich heute im Historischen Museum in Moskau. Der byzantinische Philosoph Georgios Gemistos Plethon († 1452), ein Platoniker und Gegner des Aristotelismus, missbilligte die von Simplikios betriebene Harmonisierung der aristotelischen und der platonischen Philosophie. Er behauptete, Simplikios habe dies nur unternommen, um eine angebliche Eintracht der paganen Philosophen den Streitigkeiten unter den Christen vorteilhaft gegenüberzustellen. Dabei habe er aber nichts Überzeugendes vorgebracht. Frühe Neuzeit Aristoteles-Kommentare Im 15. Jahrhundert wurden die griechischen Originaltexte den Humanisten zugänglich. Johannes Argyropulos, ein in Italien lebender byzantinischer Humanist, und Palla Strozzi fertigten 1441/1443 eine Abschrift des Physik-Kommentars an. Kardinal Bessarion (1403–1472), einer der führenden Humanisten seiner Zeit, studierte den Kommentar zu Über den Himmel. Er hatte Zugang zu zwei Handschriften und bemühte sich um die Textkritik. Der aus Kreta stammende Gelehrte Zacharias Kallierges edierte 1499 in Venedig den Kategorien-Kommentar. Die Erstausgabe des Physik-Kommentars wurde 1526 als Aldine von Gian Francesco d’Asola herausgebracht. Im Januar 1527 publizierte d’Asola die erste griechische Ausgabe des Kommentars zu Über den Himmel; dabei handelte es sich allerdings nicht um den Originaltext, sondern um eine Rückübersetzung der lateinischen Fassung Moerbekes. Erst 1865 wurde die erste Ausgabe des griechischen Originaltextes veröffentlicht. Der De anima-Kommentar wurde weiterhin allgemein als Werk des Simplikios betrachtet, wenngleich der Averroist Francesco Piccolomini († 1604) in seinem 1602 publizierten De anima-Kommentar für die Unechtheit eintrat. Die Erstausgabe erschien 1527 in Venedig. Die Hauptrolle bei der frühneuzeitlichen Rezeption von Simplikios’ Aristoteles-Kommentierung spielten aber nicht die griechischen Textausgaben, sondern die humanistischen Übersetzungen ins Lateinische. In den 1540er Jahren wurden erstmals lateinische Übersetzungen aller erhaltenen Aristoteles-Kommentare gedruckt; es folgte im Lauf des 16. Jahrhunderts eine Reihe weiterer Drucke, die vom anhaltenden Interesse der Gelehrten an diesen Werken zeugen. Kontrovers diskutiert wurde die Berechtigung der harmonisierenden („konkordistischen“) Interpretation der Philosophiegeschichte durch die spätantiken Neuplatoniker, bei der sich besonders Simplikios hervorgetan hatte. Dabei machte sich der Einfluss aktueller weltanschaulicher Gegensätze bemerkbar: Der konkordistisch eingestellte Humanist Agostino Steuco (1497–1548) verteidigte Simplikios, während der Averroist Marco Antonio Zimara, ein älterer Zeitgenosse Steucos, und der antiplatonisch gesinnte Jesuit Benedictus Pererius (Benedetto Pereira; † 1610) den Konkordismus des Neuplatonikers zu widerlegen versuchten. Der Konkordismus in dem Simplikios zugeschriebenen De anima-Kommentar wurde von dem Aristoteliker Jacopo Zabarella (1533–1589), der sich der Platonisierung des Aristoteles widersetzte, nachdrücklich bekämpft. Eine bedeutende Rolle spielte der für authentisch gehaltene Kommentar zu De anima in den Debatten des 16. Jahrhunderts um die Intellektlehre. Averroistisch gesinnte Gelehrte beriefen sich auf Simplikios, in dem sie einen Vertreter der averroistischen Lehre von der Einheit und Einzigkeit des Intellekts sahen. Sie meinten, die Position des Simplikios stimme im Wesentlichen mit der des Averroes überein. Diese Averroisten wurden als Anhänger des Simplikios oder „Simplikianer“ (Simpliciani) bezeichnet. Der namhafteste Wortführer der Simplikianer war Marco Antonio Genua († 1563), der in Padua, einer Hochburg des Averroismus, lehrte. Galileo Galilei ließ in seinem 1632 publizierten Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo (Dialog über die beiden bedeutendsten Weltsysteme), in dem er das kopernikanische dem ptolemäischen System entgegenstellte, drei Gesprächsteilnehmer auftreten, darunter einen konsequenten Aristoteliker, der das ptolemäische System verteidigte und den er Simplicio nannte. Damit nahm er auf den antiken Aristoteles-Kommentator Bezug. Epiktet-Kommentar Das Interesse am Epiktet-Kommentar des Simplikios erwachte zunächst im Umkreis Bessarions, dessen Schüler Niccolò Perotti die Einleitung dieses Werks ins Lateinische übersetzte und seiner Übersetzung des Handbüchleins, die er 1451 Papst Nikolaus V. widmete, voranstellte. Angelo Poliziano verwertete 1479 den Kommentar für seine Verteidigung des Handbüchleins gegen die Kritik von Bartolomeo Scala. Er zog ihn auch für seine lateinische Übersetzung des Handbüchleins heran. Trotz des frühen Interesses humanistischer Kreise an der spätantiken Epiktet-Kommentierung kam die Erstausgabe erst 1528 in Venedig heraus. Agostino Steuco berief sich in seiner 1540 veröffentlichten Schrift De perenni philosophia (Über die ewige Philosophie) häufig auf die Schrift des Simplikios. Dieser habe zwar das Christentum abgelehnt, aber wunderbarerweise dasselbe über Gott gelehrt wie die Bibel. Seine Auffassung vom Guten, von der Willensfreiheit, der Vorsehung und der Aufgabe der Seele stimme mit der christlichen überein. Dies konnte sich Steuco nur mit der Annahme erklären, Simplikios sei von der christlichen Lehre beeinflusst worden. Im Jahr 1546 erschien in Venedig die von Angelo Canini (Angelus Caninius) stammende erste vollständige lateinische Übersetzung des Epiktet-Kommentars; eine weitere, angefertigt von Hieronymus Wolf, wurde erstmals 1563 in Basel gedruckt. Eine neue Ausgabe des griechischen Textes, besorgt von Daniel Heinsius, erschien 1639, 1640 und 1646 in Leiden. Im 17. Jahrhundert fand der Epiktet-Kommentar bei den Cambridger Platonikern Beachtung: John Smith fand darin eine Bestätigung seiner Überzeugungen und Ralph Cudworth setzte sich mit dem Werk des Simplikios auseinander. Cudworth sah in dem antiken Philosophen zwar eine bedeutende Autorität, nahm aber eine kritischere Haltung ein als Smith. Moderne Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel war Simplikios „der gelehrteste und scharfsinnigste der griechischen Kommentatoren des Aristoteles“. Zu Hegels Zeit war, wie er seinen Hörern mitteilen musste, von den Werken des Neuplatonikers „mehreres“ noch ungedruckt. Die erste moderne kritische Edition der Aristoteleskommentare des Simplikios wurde erst 1882 von der Berliner Akademie der Wissenschaften begonnen; 1907 erschien der letzte Band. Das Projekt stand unter der Leitung von Hermann Diels. Damals wurden die Kommentare vor allem als Quellen für die Philosophiegeschichte früherer Epochen und für die antike Aristoteles-Rezeption geschätzt. Unter diesem Gesichtspunkt urteilte der renommierte Gräzist Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, der „treffliche Simplikios“ sei „ein braver Mann“ gewesen und die Welt könne ihm nie genug für die Erhaltung der Bruchstücke aus verlorenen älteren Werken danken. Weniger Beachtung fand die philosophische Eigenleistung des Simplikios; die im 19. und frühen 20. Jahrhundert verbreitete Geringschätzung des spätantiken Neuplatonismus, der als zu spekulativ verrufen war, stand einer unbefangenen Beurteilung entgegen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts intensivierte sich jedoch die Erforschung seiner Lehre. Seither wird seine umfassende Synthese von aristotelischem und neuplatonischem Gedankengut als bedeutende Leistung gewürdigt. Auch die Bescheidenheit seines Auftretens als Wissenschaftler findet Anerkennung. Eduard Zeller (1903) befand, die Kommentare seien „das Werk eines großen Fleißes und einer umfassenden Gelehrsamkeit“ und böten eine „sorgfältige und meist verständige Erklärung“ der ausgelegten Texte. Ganz verfehlt sei jedoch die Bestreitung erheblicher Widersprüche zwischen Aristoteles und Platon. Simplikios habe kaum eine originelle philosophische Leistung erbracht, sondern sei nur „der denkende Bearbeiter einer gegebenen und in allen wesentlichen Beziehungen zu ihrem Abschluss gekommenen Lehre“. Karl Praechter (1927) urteilte, Simplikios sei durch seine „gegenseitige Ergänzung und Temperierung platonischer und aristotelischer Denkart eine der anziehendsten Erscheinungen der ausgehenden Antike“. Schätzenswert sei seine „Liebe zu gediegener Gelehrsamkeit sowohl auf philosophischem und philologisch-literarischem Gebiete wie auf dem der exakten Wissenschaften“. Richard Sorabji (1987) würdigte den Gedanken des Simplikios, dass die physikalische Realität als mit Eigenschaften ausgestattete Ausdehnung aufzufassen sei. Dieses Konzept sei zukunftsweisend gewesen; es sei ein Vorläufer eines modernen Verständnisses der physikalischen Gegebenheiten. Hier bestehe eine Parallele zum Denken von Albert Einstein, der ebenfalls diese Art, die physikalische Welt zu betrachten, favorisiert habe. Albrecht Dihle (1989) lobte die „zum Teil sehr scharfsinnigen eigenen Interpretationen der aristotelischen Texte“. Jens Halfwassen (2004) hob hervor, dass die Aristoteles-Kommentare „einen immensen Reichtum an Informationen über die gesamte antike Philosophie“ mit „philologischer Sorgfalt und hohem philosophischem Niveau“ verbänden. Allerdings sei Simplikios als spekulativer Denker Damaskios deutlich unterlegen. Textausgaben und Übersetzungen Kritische Ausgaben (teilweise mit Übersetzung) Aristoteles-Kommentare Hermann Diels (Hrsg.): Simplicii in Aristotelis physicorum libros quattuor priores commentaria (= Commentaria in Aristotelem Graeca, Bd. 9). Georg Reimer, Berlin 1882 Hermann Diels (Hrsg.): Simplicii in Aristotelis physicorum libros quattuor posteriores commentaria (= Commentaria in Aristotelem Graeca, Bd. 10). Georg Reimer, Berlin 1895 Michael Hayduck (Hrsg.): Simplicii in libros Aristotelis de anima commentaria (= Commentaria in Aristotelem Graeca, Bd. 11). Georg Reimer, Berlin 1882 (nach einer verbreiteten Forschungsmeinung zu Unrecht Simplikios zugeschrieben) Johan L. Heiberg (Hrsg.): Simplicii in Aristotelis de caelo commentaria (= Commentaria in Aristotelem Graeca, Bd. 7). Georg Reimer, Berlin 1894 Karl Kalbfleisch (Hrsg.): Simplicii in Aristotelis categorias commentarium (= Commentaria in Aristotelem Graeca, Bd. 8). Georg Reimer, Berlin 1907 Epiktet-Kommentar Ilsetraut Hadot (Hrsg.): Simplicius: Commentaire sur le Manuel d’Épictète. Brill, Leiden 1996, ISBN 90-04-09772-4 Ilsetraut Hadot (Hrsg.): Simplicius: Commentaire sur le Manuel d’Épictète. Les Belles Lettres, Paris 2001 ff. (mit französischer Übersetzung) Band 1: Chapitres I–XXIX, 2001, ISBN 2-251-00493-9 Übersetzungen deutsch Erwin Sonderegger: Simplikios: Über die Zeit. Ein Kommentar zum Corollarium de tempore. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982, ISBN 3-525-25166-1, S. 140–174 (Übersetzung des Corollarium de tempore; online). englisch Simplicius: On Aristotle, Categories 1–4, übersetzt von Michael Chase. Duckworth, London 2003, ISBN 0-7156-3197-7. Simplicius: On Aristotle, Categories 5–6, übersetzt von Frans A. J. de Haas und Barrie Fleet. Duckworth, London 2001, ISBN 0-7156-3037-7. Simplicius: On Aristotle’s „Categories 7–8“, übersetzt von Barrie Fleet. Cornell University Press, Ithaca (N.Y.) 2002, ISBN 0-8014-3839-X. Simplicius: On Aristotle’s „Categories 9–15“, übersetzt von Richard Gaskin. Cornell University Press, Ithaca (N.Y.) 2000, ISBN 0-8014-3691-5. Simplicius: On Aristotle, On the Heavens 1.1–4, übersetzt von Robert J. Hankinson. Duckworth, London 2002, ISBN 0-7156-3070-9. Simplicius: On Aristotle, On the Heavens 1.2–3, übersetzt von Ian Mueller. Bloomsbury, London 2014, ISBN 978-1-4725-5791-9. Simplicius: On Aristotle, On the Heavens 1.3–4, übersetzt von Ian Mueller. Bristol Classical Press, London 2011, ISBN 978-0-7156-4063-0. Simplicius: On Aristotle, On the Heavens 1.5–9, übersetzt von Robert J. Hankinson. Duckworth, London 2004, ISBN 0-7156-3231-0. Simplicius: On Aristotle’s „On the Heavens 1.10–12“, übersetzt von Robert J. Hankinson. Cornell University Press, Ithaca (N.Y.) 2006, ISBN 0-8014-4216-8. Simplicius: On Aristotle, On the Heavens 2.1–9, übersetzt von Ian Mueller. Duckworth, London 2004, ISBN 0-7156-3200-0. Simplicius: On Aristotle, On the Heavens 2.10–14, übersetzt von Ian Mueller. Duckworth, London 2005, ISBN 0-7156-3342-2. Simplicius: On Aristotle, On the Heavens 3.1–7, übersetzt von Ian Mueller. Bloomsbury, London 2009, ISBN 978-1-4725-5784-1. Simplicius: On Aristotle, On the Heavens 3.7–4.6, übersetzt von Ian Mueller. Bloomsbury, London 2014, ISBN 978-1-4725-5785-8. Simplicius: On Aristotle, Physics 1.3–4, übersetzt von Pamela Huby und Christopher Charles Whiston Taylor. Bloomsbury, London 2011, ISBN 978-0-7156-3921-4. Simplicius: On Aristotle, Physics 1.5–9, übersetzt von Han Baltussen u. a. Bloomsbury, London 2014, ISBN 978-1-4725-5786-5. Simplicius: On Aristotle, Physics 2, übersetzt von Barrie Fleet. Duckworth, London 1997, ISBN 0-7156-2732-5. Simplicius: On Aristotle, Physics 3, übersetzt von James O. Urmson. Duckworth, London 2002, ISBN 0-7156-3067-9. Simplicius: On Aristotle, Physics 4.1–5, 10–14, übersetzt von James O. Urmson. Duckworth, London 1992, ISBN 0-7156-2434-2. Simplicius: On Aristotle, Physics 5, übersetzt von James O. Urmson. Bloomsbury, London 2014, ISBN 978-1-4725-5846-6. Simplicius on Aristotle’s Physics 6, übersetzt von David Konstan. Cornell University Press, Ithaca (N.Y.) 1989, ISBN 0-8014-2238-8. Simplicius: On Aristotle, Physics 7, übersetzt von Charles Hagen. Duckworth, London 1994, ISBN 0-7156-2485-7. Simplicius: On Aristotle, Physics 8.1–5, übersetzt von István Bodnár, Michael Chase und Michael Share. Bloomsbury, London 2014, ISBN 978-1-4725-3917-5. Simplicius: On Aristotle, Physics 8.6–10, übersetzt von Richard McKirahan. Duckworth, London 2001, ISBN 0-7156-3039-3. Simplicius: Corollaries on Place and Time, übersetzt von James O. Urmson. Duckworth, London 1992, ISBN 0-7156-2252-8. Simplicius: On Aristotle, On the Soul 1.1–2.4, übersetzt von James O. Urmson. Bloomsbury, London 2014, ISBN 978-1-4725-5843-5 (Kommentar zu De anima, dessen Authentizität umstritten ist). Priscian: On Theophrastus on Sense-Perception, with ‚Simplicius‘: On Aristotle, On the Soul 2.5–12, übersetzt von Pamela Huby und Carlos Steel. Bloomsbury, London 2014, ISBN 978-1-4725-5847-3 (Kommentar zu De anima, dessen Authentizität umstritten ist). Simplicius: On Aristotle, On the Soul 3.1–5, übersetzt von Henry J. Blumenthal. Bloomsbury, London 2013, ISBN 978-0-7156-2896-6 (Kommentar zu De anima, dessen Authentizität umstritten ist). ‚Simplicius‘: On Aristotle, On the Soul 3.6–13, übersetzt von Carlos Steel. Bristol Classical Press, London 2013, ISBN 978-1-78093-208-8 (Kommentar zu De anima, dessen Authentizität umstritten ist). Simplicius: On Epictetus, Handbook 1–26, übersetzt von Charles Brittain und Tad Brennan. Duckworth, London 2002, ISBN 0-7156-3068-7. Simplicius: On Epictetus, Handbook 27–53, übersetzt von Tad Brennan und Charles Brittain. Duckworth, London 2002, ISBN 0-7156-3069-5. französisch Simplicius: Commentaire sur les Catégories. Traduction commentée, übersetzt von Ilsetraut Hadot. Brill, Leiden 1990 Fascicule 1: Introduction, première partie. ISBN 90-04-09015-0. Fascicule 3: Préambule aux Catégories. Commentaire au premier chapitre des Catégories. ISBN 90-04-09016-9. Simplicius: Commentaire sur les Catégories d’Aristote. Chapitres 2 à 4, übersetzt von Philippe Hoffmann, kommentiert von Concetta Luna. Les Belles Lettres, Paris 2001, ISBN 2-251-18001-X. arabisch (mittelalterlich) Rüdiger Arnzen (Hrsg.): Abū l-ʻAbbās an-Nayrīzīs Exzerpte aus (Ps.-?)Simplicius’ Kommentar zu den Definitionen, Postulaten und Axiomen in Euclids Elementa I. Selbstverlag, Köln 2002, ISBN 3-00-009172-6 lateinisch (mittelalterlich) Simplicius: Commentaire sur les Catégories d’Aristote. Traduction de Guillaume de Moerbeke, hrsg. von Adriaan Pattin, 1971–1975 (kritische Ausgabe) Band 1. Publications Universitaires, Louvain 1971. Band 2. Brill, Leiden 1975, ISBN 90-04-04250-4. Simplicius: Commentaire sur le traité Du ciel d’Aristote. Traduction de Guillaume de Moerbeke. University Press, Leuven 2004 ff. (kritische Ausgabe) Band 1, hrsg. von Fernand Bossier, 2004, ISBN 90-5867-404-5. lateinisch (humanistisch) Simplicius: Commentarium in decem Categorias Aristotelis. Übersetzt von Guillelmus Dorotheus. Neudruck der Ausgabe Venedig 1540, hrsg. von Rainer Thiel und Charles Lohr. Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999, ISBN 3-7728-1220-1 (mit Einleitung). Literatur Übersichtsdarstellungen Han Baltussen: Simplikios. In: Christoph Riedweg u. a. (Hrsg.): Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Band 5/3). Schwabe, Basel 2018, ISBN 978-3-7965-3700-4, S. 2060–2084, 2174–2181. Han Baltussen: Simplicius of Cilicia. In: Lloyd P. Gerson (Hrsg.): The Cambridge History of Philosophy in Late Antiquity. Band 2, Cambridge University Press, Cambridge 2010, ISBN 978-0-521-19484-6, S. 711–732, 1137–1143. Richard Goulet, Elisa Coda: Simplicius de Cilicie. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 6, CNRS Éditions, Paris 2016, ISBN 978-2-271-08989-2, S. 341–394, 1273–1275. Rainer Thiel: Simplikios. In: Christian Hornung u. a. (Hrsg.): Reallexikon für Antike und Christentum. Band 30, Stuttgart 2020, Sp. 609–622. Aufsatzsammlung Ilsetraut Hadot (Hrsg.): Simplicius. Sa vie, son œuvre, sa survie. De Gruyter, Berlin 1987, ISBN 3-11-010924-7. Untersuchungen zu einzelnen Themen Han Baltussen: Philosophy and Exegesis in Simplicius. The Methodology of a Commentator. Duckworth, London 2008, ISBN 978-0-7156-3500-1. Alan C. Bowen: Simplicius on the Planets and Their Motions. In Defense of a Heresy. Brill, Leiden/Boston 2013, ISBN 978-90-04-22708-8. Pantelis Golitsis: Les Commentaires de Simplicius et de Jean Philopon à la Physique d’Aristote. Tradition et Innovation. De Gruyter, Berlin 2008, ISBN 978-3-11-019541-5. Ilsetraut Hadot: Le néoplatonicien Simplicius à la lumière des recherches contemporaines. Un bilan critique. Academia Verlag, Sankt Augustin 2014. Englische Übersetzung: Simplicius the Neoplatonist in light of contemporary research. A critical review (= Academia Philosophical Studies. Band 67). Academia Verlag, Baden-Baden 2020, ISBN 9783896658944 (wissenschaftliche Rezension). Erwin Sonderegger: Simplikios: Über die Zeit. Ein Kommentar zum Corollarium de tempore (= Hypomnemata. Heft 70). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982, ISBN 3-525-25166-1 (Dissertation Universität Zürich 1979; online). Philippe Soulier: Simplicius et l’infini. Les Belles Lettres, Paris 2014, ISBN 978-2-251-42016-5. Christian Vogel: Stoische Ethik und platonische Bildung. Simplikios’ Kommentar zu Epiktets Handbüchlein der Moral. Winter, Heidelberg 2013, ISBN 978-3-8253-6266-9 (Rezension von John Dillon). Weblinks Kategorien-Kommentar des Simplikios (griechisch; Digitalisat der Erstausgabe, Venedig 1499) Anmerkungen Philosoph (Antike) Philosoph (6. Jahrhundert) Neuplatoniker Grieche (Antike) Geboren im 5. Jahrhundert Gestorben im 6. Jahrhundert Mann
682783
https://de.wikipedia.org/wiki/Alter%20Friedhof%20Bonn
Alter Friedhof Bonn
Der Alte Friedhof in Bonn wurde 1715 angelegt. Er war der erste Friedhof außerhalb der Bonner Stadtbefestigung. Heute befindet sich die Anlage im Zentrum der Stadt und ist von Verkehrsflächen, Wohn- und Geschäftshäusern umgeben. Der Friedhof ist ein Ort, in dem sich die Geschichte der Stadt seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts sowie Baustile und Stilepochen seit dem Barock widerspiegeln. Zahlreiche Prominentengräber sowie Grab- und Denkmäler bedeutender Künstler machen die Bonner Begräbnisstätte zu einem der berühmtesten Friedhöfe in Deutschland. Er wurde deshalb als besonders sehenswert in das Ensemble der Straße der Gartenkunst zwischen Rhein und Maas aufgenommen. Friedhöfe in der Antike und im Mittelalter Im römischen Bonn hat es mehrere Gräberfelder und eine ganze Reihe von Einzelgräbern gegeben, die über das gesamte heutige Stadtgebiet verteilt waren. Dabei lag keines dieser Gräber innerhalb des Legionslagers. Eines der Gräberfelder, das durch Funde belegt ist, befand sich im Umfeld des Platzes, auf dem heute das Bonner Münster steht. Ein sehr gut erhaltenes Grabmal aus römischer Zeit erinnert an den im Alter von 25 Jahren gestorbenen Legionär Quintus Petilius Secundus. Das beinahe 2000 Jahre alte Grabmal ist heute im Rheinischen Landesmuseum zu sehen. Im mittelalterlichen Bonn lagen die Friedhöfe innerhalb der Stadtmauer, in unmittelbarer Nachbarschaft der Pfarrkirchen. In der Nähe des Münsters befand sich der kleine St.-Mertens-Kirchhof der später abgebrochenen Pfarrkirche St. Martin und auf dem heutigen Remigiusplatz war der größte mittelalterliche Kirchhof bei der damaligen St.-Remigius-Kirche. Nicht innerhalb der Stadtmauern bestatteten die Mitglieder der kleinen Bonner jüdischen Gemeinde ihre Toten. Sie mussten bei Beerdigungen den Rhein überqueren, um ihre Toten auf dem jüdischen Friedhof in Schwarzrheindorf zu bestatten. Anfänge des Alten Friedhofs Es war Kurfürst Joseph Clemens, der zu Beginn des Jahres 1715 den „neuen Friedhof“ anlegen ließ und ihn selbst weihte. Der längst überbelegte Kirchhof neben St. Remigius sollte entlastet werden; außerdem diente er als Ersatz für die Notfriedhöfe, die während der Epidemien des 17. Jahrhunderts im innerstädtischen Bereich bestanden, und für einen Begräbnisplatz für Soldaten auf einer Bastion vor dem Sterntor. Dieser Begräbnisplatz ist der unmittelbare Vorläufer des Alten Friedhofes, aber nicht mit ihm identisch. Den Grund und Boden des erstmals außerhalb der Stadtmauer gelegenen neuen Friedhofs hatte Joseph Clemens angekauft. Er bestimmte ihn zum Begräbnis „vor gemeine Einwöhner, paßanten und Soldaten“, während die Honoratioren ihre Erbbegräbnisse erst einmal weiter bei St. Remigius hatten. Der „neue Friedhof“ umfasste nur den äußersten Zipfel der heutigen Anlage, ein kleines Dreieck, dessen Spitze von der Bornheimer und der Straße „Am Alten Friedhof“ gebildet wurde. Zunächst war er nicht einmal umfriedet, so dass die Anlieger seine Grenze nicht respektierten: Joseph Clemens musste dem Hohen Weltlichen Gericht in Bonn befehlen, die Grundbesitzverhältnisse zu klären und den Friedhof absteinen zu lassen. Der Nachfolger von Joseph Clemens, Kurfürst Clemens August, verfügte am 29. März 1725 noch einmal ausdrücklich, „daß hinführo alle verstorbenen Soldaten, arme Leuth, Fremde, Auswendige, und diejenige Burger oder Einwöhner hiesiger unserer Residentz, deren Kinder und Domestiquen, welche keine beständige eigene Begräbnissen binnen der Stadt in den Kirchen oder auf denen Kirchhöfen haben, wie imgleichen diejenige, deren Gräber mit Beysetzung vieler Todten angefüllet, hinführo aussen der Sternen-Pforte auf dem geweyheten sogenenten Soldaten-Kirchhof beerdiget werden.“ Der neue Friedhof erfreute sich zunächst keiner großen Beliebtheit; es war eine Ausnahme, wenn „Standespersonen“ dort bestattet wurden: Das Sterberegister von St. Remigius enthält am 26. März 1725 den Eintrag: „Herr Stephanus Chevalier de Chambellé, major von den Leibgarden, Oberster vom grünen Dragonerregiment (hat) vor die sternenpforte auff den newen Kirchhoff begraben zu werden selbst begehrt.“ „Allgemeiner“ Begräbnisplatz Der letzte in Bonn residierende Kurfürst, Maximilian Franz, verordnete aus hygienischen Gründen am 5. April 1787 die Schließung der Friedhöfe in der Stadt und erklärte den Friedhof vor dem Sterntor zum „allgemeinen“ Begräbnisplatz. Er erneuerte damit für Bonn das Begräbniswesen und ging mit dieser Entscheidung anderen Städten voraus. Im benachbarten Köln war es erst die französische Besatzung, die eine solche Änderung herbeiführte, nachdem am 12. Juni 1804 Napoléon das „Décret sur les sépultures“ erlassen hatte, das die Beerdigung in Städten, Dörfern und geschlossenen Gebäuden verbot. Eine Maßnahme, die durchaus nicht bei allen auf Zustimmung stieß, denn damit war die Zeit der Bestattungen in Kirchen und auf dem Kirchhof vorbei, eine Form, die Nähe zum Altar und damit auch Nähe zu Gott und gleichzeitig hohes Ansehen bedeutete. „Allgemein“ war der neue Friedhof allerdings nur insoweit, als damit die christliche Bevölkerung gemeint war. Die Mitglieder der Bonner jüdischen Gemeinde bestatteten auch weiterhin auf der rechten, der Beueler Rheinseite ihre Toten. Ein jüdischer Friedhof auf der linken Rheinseite wurde erst 1872 angelegt. Die Verordnung von Maximilian Franz aus dem Jahr 1787 hatte zur Folge, dass der Bonner Friedhof in seiner alten Ausdehnung bald nicht mehr genügend Platz bot und erste Vergrößerungen vorgenommen werden mussten. Von da an konnten wieder Erbgräber erworben werden. Erweiterungen in den Jahren 1831 bis 1833 wurden von Seiten der Stadt mit den Opfern einer Choleraepidemie begründet. 1840 wuchs die Friedhofsfläche sogar um mehr als das Doppelte. In den 1860er Jahren wurden weitere Landankäufe nötig, 1876 gab es schließlich die letzte Vergrößerung des Areals. Acht Jahre später, 1884, wurde der Friedhof für die allgemeinen Begräbnisse geschlossen, nachdem als Ersatz für ihn ein neuer städtischer Friedhof, der Nordfriedhof, angelegt wurde. Gestaltung des Friedhofes Es ist im Besonderen das Verdienst des Oberbürgermeisters Leopold Kaufmann, dass bei der Gestaltung des Friedhofes auch gärtnerische und ästhetische Gesichtspunkte berücksichtigt wurden. An den Planungen war unter anderem der in Bonn geborene Generalgartendirektor in Potsdam, Peter Joseph Lenné, beteiligt. Sie sorgten für eine Auflockerung und parkartige Umgestaltung des Geländes. Georgskapelle 1846/1847 wurde auf Initiative des Königlichen Bauinspektors Johann Claudius von Lassaulx die Georgskapelle auf den Friedhof verlagert. Das romanische Gebäude war seit dem 13. Jahrhundert Teil der ehemaligen Deutschordenskommende in Ramersdorf. Baumbestand Einige der Bäume auf dem Alten Friedhof sind mehr als 150 Jahre alt. Dazu zählen Platanen in der Umgebung der Georgskapelle, der Mammutbaum in der Nähe der Gräber der beiden Freiherren von Benekendorf und die als Jungpflanze von Rügen nach Bonn gebrachte Eiche, die Ernst Moritz Arndt 1834 auf das Grab seines im Rhein ertrunkenen neunjährigen Sohnes Willibald pflanzte. Gräber Die Grabstätten auf dem Alten Friedhof spiegeln die Geschichte Bonns seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wider, zumindest die Geschichte, wie sie im 18. Jahrhundert von Mitgliedern der Residenz des Kölner Kurfürsten und seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts von wohlhabenden Bürgern bestimmt wurde. Nach der Entscheidung, aus dem Alten Friedhof einen „allgemeinen Begräbnisplatz“ zu machen, ließen sich neben den „gemeinen Einwohnern“ auch die Wohlhabenden und Prominenten der Stadt hier bestatten. Sie und ihre Angehörigen wünschten für sich in vielen Fällen mehr als ein schlichtes Grab. Sie wollten dann eine repräsentative Stätte, die über den Tod hinaus an ihr Leben erinnern und gleichzeitig für Ansehen bei den Nachgeborenen sorgen sollte. Diese Grabstätten sind es, die auf dem Alten Friedhof erhalten geblieben sind. Völlig verschwunden sind dagegen die einfachen Einzel- und Reihengräber der Verstorbenen, die sich kein repräsentatives Grabmal leisten konnten und für die der Friedhof ursprünglich angelegt worden ist. Gräber aus kurfürstlicher Zeit Es gibt heute nur wenige Grabmäler von Personen, die die kurfürstliche Zeit erlebt haben. Dazu zählt das stark verwitterte und beschädigte Epitaph des kurkölnischen Militärbeamten Johann Laurentius Schiller zu Wertenau (1678–1745). Gräber aus dem 19. Jahrhundert Das bürgerliche, von der Universität geprägte Bonn, aber auch Bonn als Musikstadt, repräsentieren zahlreiche Gräber von prominenten Bewohnern der Stadt. Im Jahre 1849 wurde die Schriftstellerin Adele Schopenhauer, die Schwester Arthur Schopenhauers, beigesetzt. Zu den Musikern, die auf dem Alten Friedhof ihre letzte Ruhestätte gefunden haben, gehören die beiden Pianistinnen Alma von Wasielewski und Ella Adaïewsky, sowie Ludwig van Beethovens Geigenlehrer Franz Anton Ries. Auch das Grab von Beethovens Mutter, Maria Magdalena van Beethoven, befindet sich hier. Mit einem sehenswerten Denkmal ist das Grab von Clara und Robert Schumann versehen. Im Jahr 1880 wurde der Komponist Wilhelm Westmeyer auf dem Friedhof beigesetzt. Die auf dem Friedhof begrabene Riege Bonner Professoren führen Ernst Moritz Arndt und August Wilhelm Schlegel an. Ein dort begrabener Rektor der Universität war zum Beispiel Clemens-August Freiherr Droste zu Hülshoff, Vetter der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. Ebenfalls als Lehrer an der Universität waren Friedrich Christoph Dahlmann, Georg Hermes (Theologe), Karl Friedrich Mohr, Christian Friedrich Nasse, Georg Niebuhr, Johann Jacob Nöggerath, Julius Plücker, Hermann Schaaffhausen und Karl Joseph Simrock tätig. Verstorbene, die mit Künstlern des 19. Jahrhunderts eng verbunden waren, sind die Kunstsammler Sulpiz und Melchior Boisserée, Friedrich Schillers Ehefrau Charlotte von Schiller und ihr gemeinsamer Sohn Ernst von Schiller. Nicht zuletzt gehört die Schriftstellerin und Muse Richard Wagners, Mathilde Wesendonck, zusammen mit ihrem Mann Otto Wesendonck zu dieser Gruppe von Prominenten. Auch Elise von Falkenstein (1799–1838), die Mutter des aus Bonn stammenden Forschungsreisenden und Abenteuerschriftstellers Balduin Möllhausen (1825–1905) gehört dazu. Gräber seit dem 20. Jahrhundert Als Begräbnisstätte war der Friedhof offiziell seit 1884 geschlossen. Seitdem hatten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nur Nachfahren der Bestatteten bzw. Privateigentümer oder Ehrenbürger der Stadt Bonn das Recht, auf dem Alten Friedhof begraben zu werden. Auf dem denkmalgeschützten „historischen Friedhof“ wurden in den letzten Jahrzehnten vorwiegend nur einzelne Grabstätten als Ehrengrab vergeben. Eines der letzten Einzelgräber dieser Art war das der Ärztin Mildred Scheel, die als Ehefrau von Bundespräsident Walter Scheel die Deutsche Krebshilfe im Kampf gegen die Volkskrankheit Krebs gegründet hatte. Die von der Stiftung Deutsche Krebshilfe gepflegte Grabstätte wird nach Angaben von Friedhofsgärtnern häufig von Bürgern aus allen Bundesländern besucht, die Blumen niederlegen. 2020 wurde Norbert Blüm auf diesem Friedhof beigesetzt. Zu den prominenten Persönlichkeiten, die im vergangenen Jahrhundert hier ihre letzte Ruhestätte gefunden haben, gehören ferner Elisabeth Erdmann-Macke, August Mackes Witwe, die Schriftstellerin Marie von Bunsen, eine Nachfahrin des ebenfalls hier bestatteten preußischen Diplomaten Christian Karl Josias von Bunsen, der Schriftsteller Wilhelm Schmidtbonn, der Arzt Ferdinand August Schmidt und der Politiker Hermann Wandersleb. Unter den Gräbern findet sich auch das der Prinzessin Agnes zu Salm-Salm, geboren als Agnes Leclerq Joy, deren Urne am 20. März 1913 auf dem Alten Friedhof beigesetzt wurde (Abteilung IV c Nr. 170). Den Zweiten Weltkrieg überstanden die meisten Denkmäler unbeschädigt. Nur im Bereich westlich und östlich der Georgskapelle erlitten Grabanlagen Schäden oder wurden sogar völlig zerstört. In den folgenden Jahren bis in die 1970er Jahre hinein kümmerte sich die Öffentlichkeit nicht sonderlich um den Erhalt des Friedhofs. Dies änderte sich erst mit der Gründung der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Alten Friedhofs in Bonn e.V. Vor ein paar Jahren hat die Stadt, deren Amt Stadtgrün für die allgemeine Pflege und Unterhaltung des Friedhofes heute zuständig ist, wieder einem größeren Kreis von Verstorbenen die Möglichkeit gegeben, hier ihre letzte Ruhestätte zu finden. So hat nun jeder Bürger die Möglichkeit, für ein Grab eine Patenschaft zu übernehmen. Als Gegenleistung für die Pflege erhält der Pate das Recht auf Bestattung in dem betreuten Grab. Infolge dieser Regelung finden mittlerweile wieder rund 30 Bestattungen im Jahr auf dem Alten Friedhof statt. Da ein großer Teil des Friedhofes nicht für Bestattungen freigegeben ist, können die Betriebskosten, 153.000 € im Jahr 2005, nur zu einem kleinen Teil über die sonst üblichen Gebühren gedeckt werden. Trotz der Zuschüsse des Landes Nordrhein-Westfalen für das „Denkmal“ Alter Friedhof in Höhe von 59.000 € bleibt der Stadt eine Deckungslücke. Durch die Patenschaften – und damit niedrigeren Betriebskosten – wird sie verringert. Denkmäler für die Gefallenen des Deutsch-Französischen Krieges Neben Grab- und Denkmälern für Einzel- und Familiengräber entstanden infolge des Deutsch-Französischen Krieges zwei Denkmäler, die dem Erinnern an die Gefallenen dieses Krieges dienen. Das von Albert Hermann Küppers geschaffene „Kriegerdenkmal“ aus einem Block weißen Marmors ist den deutschen Gefallenen dieses Krieges gewidmet. Im selben Areal, in dem sich dieses Denkmal befindet, gibt es ein Denkmal für die französischen Gefallenen. Werke bedeutender Künstler In seiner beinahe dreihundertjährigen Geschichte haben zahlreiche Bildhauer und Architekten Grabdenkmäler für den Alten Friedhof entworfen und ausgeführt. Sie repräsentieren die wichtigsten Kunstepochen seit dem Barock. Bei ihren Arbeiten bedienten sie sich einer breiten Palette von Symbolen und Stilmitteln. Neben dem christlichen Kreuz steht die antike Urne oder die gebrochene Säule. Der nazarenische Engel ist genauso wie der antike Genius mit der gesenkten Fackel oder die geflügelte Psyche Ausdruck einer Vielfalt von Vorstellungen über den Tod. In Büsten, Reliefs und Medaillons bemühen sich die Künstler um ein idealisiertes, in vielen Fällen realistisches, beinahe fotografisches Abbild des Verstorbenen. Künstler und ihre Werke Bernhard Afinger: Grabmal für Christian Friedrich Nasse (1856) Grabmal für Friedrich Christoph Dahlmann (1863) Grabmal der Familie Clason (1862/63, 1865) Grabmal für Gottlieb Kyllmann (nach 1874) Grabmal für Johann Baptist Baltzer (1876) Ernst von Bandel: Grabmal und Bronzerelief für August Wilhelm Schlegel (1846) Robert Cauer der Ältere Grabmal für Ludwig Schopen (1867) Tondo des Grabmals für Friedrich Gottlieb Welcker (1869) Grabmal für Friedrich Wilhelm August Argelander (1876) Grabmal für Karl Simrock (1876) Grabmal für Paula Doetsch (1891) Carl Cauer Engel über dem Grab der Familie Endemann Antonio Dal Zotto Grabfigur für Ella Adaïewsky Adolf von Donndorf Grabmal für Robert Schumann (1880) Hermann Heidel Grabesengel über dem Grab von Franz Wilhelm Heidel (1839) Grabmal von Philipp Joseph Rehfues (1847) Gustav Adolph Kietz Grabmal (mit Genius) für Mathilde und Otto Wesendonck (1883) Albert Hermann Küppers Grabmal für Julius Plücker (1869) Grabmal für Karl David Wilhelm Busch (1869) Kriegerdenkmal 1870/71 (enthüllt am Sedantag 1877) Grabmal für Johann Jacob Nöggerath (1881) Grabmal für Joseph Hubert Reinkens (1897) Grabmal für Carl Roettgen (1910) Christian Daniel Rauch Marmorrelief und Christusmedaillon am Grabmal für Barthold Georg Niebuhr (1841) Christus-Medaillon am Grabmal für Melchior Boisserée (1853) Karl Friedrich Schinkel Grabmal für Barthold Georg Niebuhr (1838) August Stüler Entwurf des Grabmals für Bernhard Thiersch Ernst Friedrich Zwirner Gitter und Stele am Grab von Melchior und Sulpiz Boisserée (1853) Niebuhr-Grab Bald nach dem Tod des Historikers Georg Niebuhr am 2. Januar 1831 und dem seiner Ehefrau Margarete, die neun Tage nach ihm starb, wurde die Ruhestätte des Ehepaares auf dem Alten Friedhof mit einem Grabmal versehen. Es bestand aus einer mehrfach gegliederten Grabplatte mit heute verwitterten Ornamenten und einer in die Friedhofsmauer eingelassenen Inschrifttafel. Diese erste Ausgestaltung der Grabstätte erfolgte durch den Bonner Baumeister Ludwig Lunde. Dem preußischen Kronprinzen, dem späteren Friedrich Wilhelm IV., war das Grabmal zu einfach. Er hatte bei Niebuhr studiert und verehrte ihn; deshalb beauftragte er Carl Friedrich Schinkel mit einer neuen Gestaltung des Grabdenkmals. Schinkel legte mehrere Entwürfe vor, bis der königliche Auftraggeber zufrieden war. In seinem schließlich akzeptierten Entwurf nahm der Künstler mit Absicht Bezug auf die Veroneser Grabmalarchitektur des 14. Jahrhunderts. Niebuhr hat in Verona geforscht. Das Wandgrab ist in drei vertikale Felder gegliedert, wobei der mittlere Teil von einer Ädikula geprägt wird. Zwei Engelskonsolen tragen die Säulen und Pilaster der Ädikula. Diese Stützen sind mit korinthischen Kapitellen versehen und tragen die giebelförmige Verdachung des Grabmales. Auf der Grundplatte der Ädikula ruht ein Scheinsarkophag, der mit einem marmornen Relief geziert ist, das das Ehepaar Niebuhr zeigt. Das Relief ist nach einem altrömischen Vorbild gestaltet, das sich in den Kunstsammlungen des Vatikans befindet. Die Eheleute reichen sich in würdiger Haltung zum Abschied die Hand. Ihre Kleidung besteht aus griechischen Gewändern. Über dem Relief des Ehepaares ist ein Christusmedaillon angebracht, das von einer kreisförmig angeordneten Inschrift mit einem Spruch aus dem Johannesevangelium umgeben ist: Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Die Marmorarbeiten für das von Schinkel entworfene Relief fertigte im Namen des Kronprinzen Christian Daniel Rauch an. Dem Künstler standen Ölbilder, Schattenrisse und die Totenmaske Niebuhrs als Vorlagen für seine Arbeit zur Verfügung. Schumann-Grab Das berühmteste Denkmal des Alten Friedhofs ist das Grabmal für Robert Schumann. Für seine Frau sollte das Denkmal ihres Mannes „etwas Symbolisches (werden), das die Charakteristik meines Mannes künstlerisch repräsentiert“ (aus einem Brief von Clara Schumann, Juli 1874). Adolf von Donndorf wurde damit beauftragt, in diesem Sinne das Grabmal zu gestalten. Die Ausführung übernahm sein Schüler, der württembergische Bildhauer Wilhelm Rösch während seines Rom-Aufenthalts 1878/1879. Durch ein großes Schumannfest (17. bis 19. August 1873) und zahlreiche Spenden kamen in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Mittel für das Denkmal zusammen. Den Platz wählte der damalige Bonner Oberbürgermeister Leopold Kaufmann so aus, dass das neue Denkmal Raum genug hatte, um zur Wirkung zu kommen. Adolf von Donndorf beschäftigte sich mehrere Jahre hindurch mit dem Entwurf des Denkmals und mit der Ausführung. Schließlich konnte es am 2. Mai 1880 in Gegenwart von Clara und ihren Kindern und Freunden feierlich enthüllt werden. Über die Symbolik des Denkmals schreiben die Autoren von Der Alte Friedhof in Bonn: , während es bei Josef Niesen heißt: Für ihn ist das Denkmalschutz Der Friedhof und auch die darauf befindlichen Grabmäler und Gebäude wie die Georgskapelle stehen seit 1984 als Baudenkmal unter Denkmalschutz und sind in die „Liste der gem. § 3 DSchG NRW in die Denkmalliste eingetragenen Baudenkmäler, Bodendenkmäler, beweglichen Denkmäler und Denkmalbereiche der Stadt Bonn“ eingetragen. Sonstiges Der Haupteingang des Alten Friedhofes ist vom Marktplatz zu Fuß in zehn Minuten zu erreichen. Noch kürzer ist der Weg vom Hauptportal des Hauptbahnhofes bis zum westlichen Eingang der Begräbnisstätte. Vom 1. März bis zum 31. Oktober werden samstags um 14 Uhr und sonntags um 11 Uhr Standardführungen über den Alten Friedhof angeboten. Sie beginnen am Haupteingang an der Bornheimer Straße. Eine Folge der Fernsehsendung Kurzstrecke mit Pierre M. Krause wurde auf dem Alten Friedhof Bonn gedreht. Siehe auch Liste von Begräbnisstätten bekannter Persönlichkeiten Literatur Bernhard Baedorf: Der alte Friedhof in Bonn am Rhein. Städtisches Verkehrsamt Bonn 1927. Gerd Bermbach: Der Alte Friedhof in Bonn am Rhein. Parkpflegewerk. Nümbrecht, Bonn 1993. Peter Bloch: Skulpturen des 19. Jahrhunderts im Rheinland. Düsseldorf 1975. Edith Ennen, Helmut Hellberg, Walter Holzhausen, Gert Schroers: Der Alte Friedhof in Bonn. Stollfuss, Bonn 1955, 1981, 1986, ISBN 3-922832-00-8. Edmund Gassner: Der Alte Friedhof in Bonn. In: Bonner Geschichtsblätter. Bonn 1980. Helmut Hellberg: Das Schumann-Denkmal auf dem Alten Friedhof in Bonn. In: Bonner Geschichtsblätter. Bonn 1981. Josef Niesen: Bonner Denkmäler und ihre Erbauer, Königswinter 2013, ISBN 978-3-943883-52-7. Gotthard Werner: Weniger bekannte Gräber auf dem Alten Friedhof zu Bonn. In: Bonner Geschichtsblätter. Bonn 1958. Bettina-Martine Wolter: Das Grabmal Niebuhr auf dem Alten Friedhof in Bonn. Magisterarbeit. Bonn 1984. Erika Zander, Jörg Bätz: Der Alte Friedhof in Bonn. Kunst und Geschichte(n). Bouvier, Bonn 2001, ISBN 3-416-02961-5. Anna Katharina Schneider: Der Alte Friedhof in Bonn. Ein Ort mit Geschichte und Geschichten. Reisekönig Verlag, Bonn 2021, ISBN 978-3-945455-11-1. Weblinks alterfriedhofbonn.de Hans Weingartz: Der Alte Friedhof in Bonn Einzelnachweise Geschichte Bonns Friedhof in Bonn Baudenkmal in Bonn Nordstadt (Bonn) Bonn
735213
https://de.wikipedia.org/wiki/Virgen
Virgen
Virgen [] ist eine Gemeinde im österreichischen Bundesland Tirol, Bezirk Lienz (Osttirol). Sie umfasst Teile des Virgentals in der Venedigergruppe, umfangreiche Teile des Gemeindegebietes liegen zudem im Nationalpark Hohe Tauern. Die Besiedelungsgeschichte Virgens geht auf die Zeit um 500 vor Christus zurück, wobei der Kupferbergbau eine tragende Rolle spielte. Nach dem Ende der Römerzeit siedelten sich Slawen im Virgental an, die ab dem 8. Jahrhundert nach und nach von bairischen Siedlern assimiliert wurden. Die gleichzeitig einsetzende Christianisierung führte zur Einrichtung einer der ersten Pfarren in der Region. Im Mittelalter war Virgen Teil Kärntens und der Grafschaft Görz, 1500 wurde es an Tirol angegliedert. Mit Einwohnern (Stand ) ist Virgen heute die bevölkerungsmäßig fünftgrößte Gemeinde Osttirols. Wirtschaftlich spielt in der Gemeinde vor allem die Landwirtschaft und der Tourismus eine wichtige Rolle, wobei ein Mangel an Arbeitsplätzen sowie strukturelle Probleme zu einer sehr hohen Pendlerrate führen. Virgen wurde mehrfach als schönste Gemeinde Tirols ausgezeichnet. Geografie Lage Virgen liegt im nördlichen Osttirol und ist mit einer Fläche von 88,8 km² die sechstgrößte Gemeinde im Bezirk Lienz. Mit einem Anteil von rund 42 km² am Nationalpark Hohe Tauern steht knapp die Hälfte des Gemeindegebiets unter Naturschutz. Virgen umfasst das östliche, von der Isel durchflossene, Virgental von der Iselschlucht bis zur Ortschaft (Fraktion) Mitteldorf. Da die Isel vom Virger Schwemmkegel an die rechte Talseite gedrängt wird, liegen alle Siedlungen, mit Ausnahme der Fraktion Welzelach, auf der linken Talseite. Höchster Punkt ist der Hohe Eichham () in der Venedigergruppe. Auch der höchste Berg der Lasörlinggruppe, der Lasörling (), liegt an der Grenze des Gemeindegebietes. Gemeindegliederung Virgen besteht aus sieben Fraktionen sowie sieben Weilern. Gelangt man von Osten in das Gemeindegebiet, entlang der Landesstraße, so erreicht man zunächst die Fraktion Mitteldorf () mit dem Weiler Bach. Folgt man der Landesstraße weiter, so gelangt man in die Fraktion Virgen-Dorf (), den Hauptort der Gemeinde, mit dem Weiler Weite. Nordöstlich des Hauptortes, unterhalb des Obersonnbergs, liegt am gleichnamigen Bach die Fraktion Mellitz, nordwestlich am Virger Bach die Fraktion Göriach mit dem Weiler Marin. Göriach und Mellitz sind jedoch bereits teilweise mit dem Hauptort zusammengewachsen. Westlich des Hauptortes befindet sich am Nillbach die Fraktion Obermauern (), südlich von Obermauern die Fraktion Niedermauern mit den Weilern Gries und Rain. Westlichste Fraktion ist der Ort Welzelach () mit den Weilern Berg und March. Neben den Fraktionen und Weilern bestehen in der Gemeinde zudem hoch gelegene Einzelhöfe wie Sonnberg (1.487 Meter) oberhalb von Mellitz und Budam () östlich von Obermauern. Matrei ist mit der zweithöchsten Bevölkerungszahl im Bezirk Lienz und seiner Funktion als wirtschaftliches, soziales sowie medizinisches Zentrum des nördlichen Osttirols für die Virger Bevölkerung von besonderer Bedeutung. Nachbargemeinden Die Gemeinde Virgen wird im Süden durch die Lasörlinggruppe von den im Defereggental gelegenen Gemeinden St. Jakob, St. Veit und Hopfgarten (von Westen nach Osten) getrennt. Im Westen Virgens liegt die Gemeinde Prägraten, im Norden und Osten die Marktgemeinde Matrei in Osttirol. Flächennutzung Große Teile des Gemeindegebiets von Virgen können durch ihre hochalpine Lage und den starken Anteil an den Hohen Tauern nicht genutzt werden. Rund 41 % des Gemeindegebietes entfallen deshalb auf Ödland. An zweiter Stelle rangieren Almen und Bergmähder, die 29 % des Gemeindegebietes einnehmen. Wälder spielen in Virgen ebenfalls eine wichtige Rolle. Mit knapp über 20 % liegt diese Nutzungsart an dritter Stelle. Alle anderen Flächenarten nehmen anteilsmäßig einen untergeordneten Rang ein. Wiesen umfassen immerhin noch 9 %, während Ackerland und Gärten zusammen weniger als 1 % des Gemeindegebietes ausmachen. Geologie Der nördliche Teil des Gemeindegebietes, die Virger Nordkette, ist geologisch der alpinen Schieferhülle zuzuordnen. Diese Schieferhülle, die über einem Gneiskern liegt, besteht aus einer oberen und einer unteren Schieferschicht. Die obere Schieferhülle besteht aus Kalkglimmerschiefer und Kalkphylliten, die durch fahlgelbe und bleigraue Farben sowie durch charakteristische Platten bzw. Bretter (Virger Bretterwand) erkennbar sind. Unter der oberen Schieferhülle schließt sich die untere Schieferhülle an, die aus plattig gegliederten Grüngesteinen (Prasiniten) besteht. Durch die günstige Hanglage und die Anfälligkeit für Erosion bildeten sich über der Schieferhülle fruchtbare Böden, die sich für die Almwirtschaft eignen. Der Süden des Gemeindegebietes mit der Lasörlinggruppe gehört zur Zone des Altkristallins. Diese Zone besteht aus Glimmer, Gneisen und Hellglimmerschiefer. Zum Teil kommen hier auch Granate, Glimmerquarzite und kleine Einschaltungen von Kalk und Dolomiten vor. Im Osten des Gemeindegebietes liegen kleine Teile der Matreier Zone, die aus zahlreichen, durchmengten Gesteinen (Phylite, Quarzite, Gips, helle Dolomite und dunkle Kalke, Grauwacken und Grünschiefer) verschiedenen Ursprungs besteht. Die Matreier Zone verläuft in einem schmalen Band von Mitteldorf bis zum Berger Törl. Gebirge Virgen liegt innerhalb der Venedigergruppe zwischen der sogenannten Virger Nordkette im Norden und der Lasörlinggruppe im Süden, deren Hauptkämme die Gemeindegrenzen im Norden und Süden bilden. Dadurch liegen mehrere Berge über dreitausend Meter direkt an der Gemeindegrenze Virgens. Die höchsten Berge der Virger Nordkette auf dem Gemeindegebiet sind der Hohe Eicham (), der Säulkopf () und der Ochsenbug (Kristallkopf) (). Die wichtigsten Gipfel der Lasörlinggruppe auf Virger Gemeindegebiet sind der Lasörling (), der Berger Kogel () und der Donnerstein (). Flüsse und Gewässer Wichtigster Fluss im Gemeindegebiet von Virgen ist die Isel, die das Gemeindegebiet durch die Iselschlucht im Westen betritt und in Richtung Osten durchfließt. Durch den Virger Schwemmkegel wird die Isel an die rechte Talseite gedrängt, wodurch am rechten Ufer der Isel kaum Siedlungsraum vorhanden ist. In ihrem Verlauf durch die Gemeinde Virgen nimmt die Isel insgesamt zehn Bäche auf. Die linken Nebenflüsse, von der Virger Nordkette gespeist, sind der Nillbach, Virger Bach, Mellitzbach und Mitteldorfer Bach, auf der rechten Uferseite nimmt die Isel von den Hängen der Lasörlinggruppe den Berger Bach, Mullitzbach, Steinkasbach, Fratnikbach, Saumitzbach und Arnitzbach auf. Auch mehrere kleine Bergseen liegen auf dem Gemeindegebiet, wobei der Berger See und der Zupalsee zu den bekanntesten gehören. Klima Virgen ist durch seine Lage zwischen der Virger Nordkette und der Lasörlinggruppe klimatisch begünstigt. Schon der aus dem Slawischen abgeleitete Ortsname Virgen mit der Bedeutung sonniges Plätzchen deutet darauf hin (→Namensgeschichte). Grund für die sonnige Lage Virgens, das als „Meran Osttirols“ vermarktet wird, ist der Verlauf des Virgentals, das der Sonnenbahn folgt. Dadurch verliert Virgen im Dezember nur ein Drittel bzw. im Juni nur ein Siebentel der möglichen Sonnenscheindauer. Im Ötztal beträgt der Verlust vergleichsweise hohe zwei bzw. ein Drittel. Durch die Venedigergruppe im Norden (Virger Nordkette) ist Virgen vor dem kalten Tauernwind geschützt, der etwa das benachbarte Matrei ungeschützt trifft. Da kalte Luft iselabwärts abströmen kann, bilden sich in Virgen kaum Kälteseen. Die größten Niederschlagsmengen fallen in Virgen im Juni und Juli. Durchschnittlich beträgt der Niederschlag in Virgen 900 mm pro Jahr, wobei die Niederschlagsmenge in höheren Lagen stark ansteigt. Virgen ist in Bezug auf die Höhe und die Beständigkeit der Schneedecke (rund 110 Tage) relativ schneearm. Jänner und Februar gehören zu den trockensten Monaten. Die durchschnittliche Jahrestemperatur lag zwischen 2000 und 2002 bei 6,8 °C, wobei der Monat Jänner mit −2,9 °C der kälteste, und der Monat August mit 15,9 °C der wärmste Monat war. Geschichte Virgen vor der ersten Namensnennung Einzelfunde aus der Jungsteinzeit belegen die frühe Anwesenheit von Menschen auf dem heutigen Gemeindegebiet. Die in Obermauern und Welzelach entdeckten Feuersteinschaber bezeugen jedoch keine dauerhaften Siedlungen. Ende des 19. Jahrhunderts wurde bei Feldarbeiten im Weiler Berg der Fraktion Welzelach ein Brandgrab mit Grabbeigaben aus Bronze und Eisen entdeckt. Systematische Grabungen unter Alexander Schernthaner förderten 1889 bis 1891 einen Friedhof mit insgesamt 56 Steinkistengräbern zu Tage. Die Funde von Welzelach werden auf das 6. oder 5. Jahrhundert vor Christus datiert, wobei das Bestehen der Siedlung nur auf einen bedeutenden Kupferbergbau zurückzuführen ist. Die Gräber des Friedhofes bestanden aus etwa 30 cm langen, rechteckigen bis quadratischen Vertiefungen, die mit unbehauenen Steinplatten und einer Deckplatte begrenzt waren. In den Brandgräbern fanden die Archäologen zahlreiche Waffen aus Eisen (Lanzenspitzen, Messer, Äxte, Beile), Schmuck aus Bronze (Ringe, Armreife, Fibeln) sowie Tonscherben. Das bedeutendste Fundstück ist die „Situla von Welzelach“, ein Bronzeeimer, in dem die Asche des Toten begraben wurde. Die Überreste des Bronzeeimers sind reich verziert und zeigen unter anderem Jagdszenen, Männer mit Musikinstrumenten sowie Tier- und Pflanzendarstellungen. Auf dem gegenüberliegenden Hügel Burg befand sich ebenfalls eine urgeschichtliche Siedlung. 1970/71 wurde auf dem hohen Hügel inmitten des Virgentals durch Grabungen des Universitätsprofessors Andreas Lippert der Bestand einer Siedlung der La-Tène-Zeit um 400 vor Christus nachgewiesen. Die Siedlung war durch einen 1,7 Meter breiten Wall aus Felsblöcken befestigt und beherbergte mehrere Blockbauten mit einer Grundfläche von etwa vier mal fünf Metern. Die Funde von Kupferschlacke und Tierknochen überwiegend junger Tiere (vor allem Ziegen, Schafe und Rinder) belegen, dass die Siedlung vor allem vom Bergbau lebte und die Viehzucht der Fleischproduktion diente. Spuren von Ackerbau fehlen hingegen völlig. Nachdem das keltisch besiedelte Gebiet friedlich an das Römische Reich gefallen war, behielt das Virgental eine wichtige Rolle durch den lokalen Kupferbergbau. Eine erste Christianisierung erfolgte vom Bischofssitz in Aguntum aus. Nach dem Untergang des Römischen Reiches und der Schlacht bei Aguntum 610 zwischen Baiern und Slawen drangen die Slawen in die Täler Osttirols ein und siedelten sich im Virgental an. Zahlreiche Orts- und Flurnamen zeugen noch heute davon. So sind etwa die Flurnamen auf -ach (Göriach, Welzelach, Haslach) und -itz (Mellitz, Mullitz, Frosnitz) slawischen Ursprungs. Nach dem Verlust der slawischen Vormachtstellung gegenüber den Baiern setzte ab 769 durch die Gründung des Klosters Innichen die erneute Christianisierung ein. 811 legte Karl der Große die Drau als Diözesangrenze fest. Virgen fiel dadurch in die kirchliche Einflusssphäre Salzburgs. Trotz einer schleichenden Germanisierung verschwand die Slawische Sprache erst allmählich. Namensgeschichte Der Name Virgen wurde erstmals 1158–1169 als „Virge“ in einer Traditionsnotiz der Fürstpropstei Berchtesgaden urkundlich erwähnt. Für den Namen gibt es mehrere Deutungsvarianten. Die verbreitetste Ableitung stammt aus dem Slawischen und bedeutet „sonniges Plätzchen“. Grundlage für diese Deutung bilden zahlreiche slawische Flur- und Ortsnamen in der Gemeinde sowie das, trotz der Höhenlage, milde Klima, das Virgen den Beinamen „Meran Osttirols“ einbrachte. Auch die Namen Welzelach (Großdorf) und Göriach (Bergdorf) werden aus dem Slawischen abgeleitet. Andere Forscher leiten den Namen Virgens jedoch vom Salzburger Erzbischof Virgilius (745–784) ab. Da dieser jedoch erst 1233 heiliggesprochen wurde, konnte er zuvor noch nicht zu Altarehren gekommen sein. Deshalb wird der Name teilweise vom Bischof Vigilius von Trient (um 380 n. Chr.) hergeleitet, wodurch die Christianisierung durch das Patriarchat von Aquileja oder über Südtirol (Kloster Säben) abgeleitet werden könnte. Auch das Augustinerchorherrenstift Neustift bei Brixen war schon im 12. Jahrhundert in Virgen begütert. Virgen im Hoch- und Spätmittelalter Im 11. Jahrhundert zerfiel das Herzogtum Kärnten in vier Gaue. Der westlichste, Lurngau genannt, umfasste auch das Virgental und unterstand den Grafen von Lurngau (Meinhardiner), die sich ab 1120 als Grafen von Görz bezeichneten. Virgen selbst gilt als eine der ältesten Pfarren Osttirols und dürfte bereits in der Zeit der Karolinger gegründet worden sein. 1165 ist erstmals ein Pfarrer urkundlich erwähnt, zu dessen Pfarrverband bis 1891 zusätzlich Prägraten und Sankt Jakob in Defereggen gehörten. Zur Sicherung ihres Besitzes gründeten die Görzer im 12. Jahrhundert die Burg Virgen, die erstmals 1182 oder 1183 urkundlich erwähnt wurde. Der Görzer Graf Meinhard I. war durch die Heirat der Tochter des Grafen Albert III. mit Tirol verbündet. Meinhard I., der die Vorherrschaft in Kärnten erobern wollte, scheiterte bei seinem Vorhaben in der Schlacht von Greifenburg, in der er und sein Schwiegervater von Herzog Bernhard von Kärnten und dessen Sohn Philipp von Spanheim, Elekt von Salzburg, besiegt und gefangen genommen wurden. Für ihre Freilassung mussten Meinhard und Albert unter anderem die Burg Virgen an Salzburg abtreten. Der Verlust der Burg wurde 1252 mit dem Friedensvertrag von Lieserhofen bestätigt. Meinhard von Görz erbte 1253 Tirol von seinem Schwiegervater und vereinte es mit seinen Ländereien. Nach Meinhards Tod wurde der Besitz jedoch 1271 wieder zwischen seinen Söhnen aufgeteilt. Die Besitzungen in Friaul, Istrien, Kärnten und im Pustertal fielen an Albert I., der seinen Besitz in Landgerichte gliederte. Das Landgericht des Lurngaus wurde in Lienz eingerichtet, wobei man zur weiteren administrativen Einteilung das Landgericht in die Zugerichte Virgen, Kals und Lienzer Klause einteilte. Wie in der gesamten Herrschaft Lienz galt in Virgen das Freistiftrecht, das dem Lehnsherren umfangreiche Rechte übertrug und die Bauern einem starken Abgabendruck aussetzte. 1308 wurde die Burg wieder an die Görzer verliehen. Wirtschaftlich blieb in Virgen der Bergbau neben der Landwirtschaft eine wichtige Einkommensquelle. Der seit der Antike betriebene Wirtschaftszweig ist jedoch erst ab der späten Görzerzeit belegt. Insbesondere Kupfer und Eisen, in geringem Ausmaß Silber und Gold wurde im Stollenbergbau geschürft. Das ertragreichste Erzvorkommen lag im innersten Mullitztal (Glauret), wo der Bergbau um 1600 seine Blütezeit erreichte. Heute zeugen Reste in diesem Gebiet sowie die 1922 wieder begehbar gemachte „Silbergrube“ bei Mitteldorf vom Bergbau in Virgen. In die späte Görzerzeit fällt auch die Errichtung der gotischen Kirche von Obermauern. Virgen in der Frühen Neuzeit Bereits 1462 hatte Graf Leonhard von Görz mit dem Landesfürsten von Tirol und Vorderösterreich, Erzherzog Siegmund, einen Erbvertrag geschlossen. Nach dem Tod des kinderlosen Görzers fielen 1500 zahlreiche Gerichte im Pustertal und angrenzende Gebiete, zu denen auch das Landgericht Lienz mit Virgen gehörte, an Siegmunds Nachfolger Maximilian I. Dieser gliederte das Landgericht Virgen im Februar 1501 an die Grafschaft Tirol. Aus Geldmangel verkaufte Maximilian am 10. August 1501 die Stadt Lienz sowie das Landgericht und die zugeordneten Ämter an Freiherr Michael von Wolkenstein-Rodenegg. Er selbst behielt sich nur die Landeshoheit vor. Durch den Verkauf des Gebietes scheiterte unter anderem die geplante Umwandlung der Freistiftgüter in die Erbleihe. Für die Bauern Virgens bedeutete dies eine Fortführung der starken Belastungen. 1564 und 1635 brachen Pestepidemien im Virgental aus. Dem vielfachen Tod folgte ein starkes Bevölkerungswachstum, wodurch die Höfe durch die Erbteilungen nicht mehr überlebensfähig waren. In der Folge wurde daher Wald gerodet und die Almflächen stark ausgedehnt. Andere Virger versuchten ihr Glück als Handwerker und wanderten ins benachbarte Pinzgau und Zillertal aus. Nach dem Konkurs der Grafen Wolkenstein kaufte 1653 das Haller Damenstift die ehemaligen Görzer Besitzungen um 142.000 Gulden. Die Hoffnung der Bauern auf eine Entlastung durch die religiösen Damen wurde jedoch enttäuscht, auch bei Missernten musste die hohen Abgaben geleistet werden. 1704 verweigerten die Bauern alle Abgaben, vertrieben den Pfleger und besetzten das Pflegerhaus. Als jedoch die Regierung mit einer Militärexekution drohte, fügte sich die Bevölkerung wieder. Durch die Aufhebung des Damenstiftes 1783 durch Kaiser Joseph II. kam es zu einer teilweisen Entlastung. Große Teile der Schulden wurden erlassen, die jährlichen Abgaben verringert. Virgen im 19. Jahrhundert Nach der Niederlage der österreichischen Truppen in der Schlacht von Austerlitz musste Österreich Tirol an Bayern abtreten. Nach dem Sieg Napoleons über Österreich im Herbst 1809 Österreich fiel Salzburg mit dem benachbarten Matrei an Bayern. Auch durch den verstärkten Druck aus Tirol und Salzburg organisierten die Matreier Schützenführer Anton Wallner und Johann Panzl den Widerstand im Iseltal. Die Virger Schützen wurden vom Schlossermeister Franz Frandl aus Mitteldorf angeführt. Nachdem Andreas Hofer den Franzosen am 2. November am Bergisel eine Niederlage zugefügt hatte, begannen französische Truppen mit der Besetzung des Iseltals. Auf Grund der Bedrohung durch die rund 900 Iseltaler Schützen schlossen die Franzosen am 9. November in Unterpeischlach einen kurzen Waffenstillstand. Nach einem Sieg der Tiroler Schützen am 8. Dezember bei Ainet brach jedoch der Widerstand der Osttiroler zusammen. Der französische Divisionsgeneral Broussier ließ die Schützenführer und die am Aufstand beteiligten Geistlichen gefangen nehmen. Der Virger Schützenführer wurde am 28. Dezember 1809 hingerichtet. Der Virger Kooperator Martin Unterkircher und sein Pfarrer Damaszen Siegmund wurde am 2. Februar 1810 in Lienz erschossen. Die Häuser der Anführer wurden abgerissen, die Bevölkerung litt zusätzlich unter der Versorgungspflicht für die französischen Soldaten. Virgen wurde in der Folge den neugeschaffenen drei illyrischen Provinzen zugeschlagen, jedoch bereits 1813 von der Besatzung der Franzosen befreit. Das dringendste Problem der Virger blieb in der Folge die Abgabenbelastung durch das Freistiftrecht. Dem Brunecker Kreishauptmann Theodor von Kern gelang es 1835, die Hälfte aller Abgaben zu streichen und die Revolution von 1848 führte zur endgültigen Bauernbefreiung und Grundentlastung. Die gesetzlich vorgesehene Entschädigung der Grundherren war für die teilweise hoch verschuldete Bevölkerung jedoch nur eingeschränkt möglich. Im Gegensatz zu den Nachbargemeinden Prägraten und Matrei profitierte Virgen kaum vom Tourismus, da ein direkter Zugang zum Großvenediger fehlt. Die mangelnden Einkommensmöglichkeiten führten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu zahlreichen Auswanderungen in die Vereinigten Staaten. Virgen zwischen 1914 und 1945 Nach Beginn des Ersten Weltkriegs dienten die wehrpflichtigen Virger insbesondere in den Kaiserjägerregimentern, wobei 42 Männer als Soldaten den Tod fanden. Wirtschaftlich traf die bäuerliche Bevölkerung der Zusammenbruch Österreich-Ungarns auf Grund der möglichen Selbstversorgung weniger hart als die städtische Bevölkerung. Einen Anschluss an das öffentliche Straßennetz über die Gemeinde Matrei erhielt Virgen erst 1928. Nachdem 1924 das Land Tirol und der Bund 60 % der Finanzierung zugesagt hatten, verhinderte der Streit um die Trassenführung bis 1926 den Beginn des Baues. 1928 konnte die nur drei Meter breite Straße eröffnet werden, eine private Gesellschaft übernahm den Omnibusverkehr. Erst 19 wurde Prägraten durch die vermehrte Errichtung von Tunnelbauten an Virgen angebunden. Nach einem kurzen Wirtschaftsaufschwung wirkte sich die Weltwirtschaftskrise auch in Virgen aus. Die Viehpreise sanken auf einen Tiefstpunkt und zahlreiche Bauern gerieten in den Konkurs. Die 1933 verhängte Tausendmarksperre beschädigte den bescheidenen Tourismus hingegen kaum, da der geringe Anteil an Reichsdeutschen von Urlaubern aus Österreich oder der Tschechoslowakei ausgeglichen werden konnte. Politisch stand der Großteil der Bevölkerung auf Grund der bäuerlichen Struktur dem konservativen, christlich-sozialen Lager nahe. Viele Kriegsheimkehrer waren bei den Schützen und in der Heimwehr organisiert. Eine Heimwehrgruppe aus Virgen beteiligte sich auch an der Niederwerfung des Nazi-Aufstandes in Kärnten. Den Nationalsozialisten gelang es durch organisierte Werbung und heimliche Versammlungen in der Gemeinde Virgen ihre Anhängerschaft zu stärken. Insbesondere in Mitteldorf fanden sich illegale Mitglieder. Brandstiftungen in den Jahren 1933 und 1934 in Mitteldorf dürften mit diesen Geschehnissen in Zusammenhang gestanden sein. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich erfolgte auch in Virgen die lückenlose Gleichschaltung und die Einbindung der Bevölkerung in die nationalsozialistischen Teilorganisationen. Von der Einberufung in den Kriegsdienst kehrten mehr als 60 Virger nicht mehr zurück. Virgen selbst blieb von direkten Kriegsereignissen verschont. Obwohl hunderte Bomber im letzten Kriegsjahr fast täglich das Tal überflogen, kam es zu keinen Notabwürfen über der Gemeinde. Nach dem Ende des Krieges quartierten sich 20 britische Soldaten zur Sicherung des Grenzsperrgebietes in Virgen ein, zogen jedoch bereits nach zwölf Wochen wieder nach Lienz ab. Virgen ab 1945 Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verwüstete der Nillbach durch einen Murenabgang sein Umland und zerstörte alle Brücken und Mühlen bis Niedermauern und Gries. Auch einige andere Gebäude wurden vernichtet, eine Frau und drei Kinder starben. 1965 kam es durch Muren zu ähnlichen Verwüstungen, die ab den späten 1940er Jahren einsetzende Wildbachverbauung führte jedoch zu einem zunehmenden Schutz der Bevölkerung. Wirtschaftlich führten vor allem die steigenden Tourismuszahlen zu einem Aufschwung. Waren es 1953 noch 13.880 Nächtigungen pro Jahr, so stieg dieser Wert bis 1973 auf rund 160.000 an. Unterstützt wurde der Trend vom rasanten Wirtschaftswachstum in Österreich und der Eröffnung der Felbertauernstraße 1967, die Osttirol zum Bundesland Salzburg hin öffnete und die Region leichter erreichbar machte. Seit den 1970er Jahren sanken jedoch die Nächtigungszahlen kontinuierlich ab, gleichzeitig gaben viele Bauern die Landwirtschaft auf oder stellten ihre Betriebe auf den Nebenerwerb um. Diese Grundlagen und die geringe Zahl an Arbeitsplätzen in der Gemeinde führen zu einer sehr hohen Pendlerrate. Die Gemeinde selbst investierte seit den 1950er Jahren große Summen in die Infrastruktur. Nach dem 1954 errichteten Volksschulgebäude folgte 1969 die Hauptschule und 1974 der neuerliche Neubau der Volksschule. Zudem investierte die Gemeinde in den Ausbau der Freizeitmöglichkeiten, wobei 1969 ein Schwimmbad, 1975 der Fußballplatz, 1980 und 1998 Tennisplätze eröffnet wurden. Als letzte große Investition wurde zwischen 1994 und 1997 der Dorfkern Virgens erneuert. Neben einem Mehrzweckbau und einem neuen Feuerwehrhaus wurde der Dorfplatz neu gestaltet. Trotz der strukturellen Probleme der Gemeinde verzeichnet Virgen ein laufendes Bevölkerungswachstum. Der dadurch entstehenden Zersiedelung wurde durch den Bau von drei Wohnhausanlagen (1987, 1994 und 1996) versucht entgegenzuwirken. Bevölkerung Bevölkerungsstruktur In der Gemeinde Virgen lebten 2005 2.131 Menschen. Laut der Volkszählung 2001 waren 97,7 % der Bevölkerung im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft. Zur römisch-katholischen Kirche bekannten sich 98,3 % der Einwohner, nur 0,4 % waren ohne religiöses Bekenntnis. Die Altersstruktur von Virgen war 2001 gegenüber dem Durchschnitt des Landes Tirols deutlich jünger. So waren 2001 23,4 % der Einwohner Virgens jünger als 15 Jahre (Gesamttirol: 18,4 %) und 61,1 % zwischen 15 und 59 Jahre alt (Gesamttirol: 63,0 %). Der Anteil der Einwohner mit mehr als 59 Jahren lag mit 15,3 % unter dem Landesschnitt von 18,6 %. Bevölkerungsentwicklung In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wanderten zahlreiche junge Männer, die weder Hof noch Werkstatt besaßen, insbesondere nach Amerika aus. Fast von jedem Hof gingen Männer, aber auch Frauen nach Übersee. Die Auswanderer übernahmen verschiedene Arbeiten in den Städten oder siedelten sich verstärkt in North- und South Dakota an, wo sie Grund für die Errichtung von Farmen erhalten hatten. Der Bevölkerungsschwund blieb bis in die 1920er Jahre bestehen, erst danach kam es wieder zu leichten Zuwächsen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Bevölkerung permanent gewachsen und hat sich seit 1951 um rund zwei Drittel erhöht. Kultur und Sehenswürdigkeiten Sehenswürdigkeiten Katholische Pfarrkirche Virgen hl. Virgilius Katholische Wallfahrtskirche Obermauern Unsere Liebe Frau Maria Schnee Der Dorfkern des Hauptortes der Gemeinde, Virgen-Dorf ist gut erhalten. Das Zentrum bildet die spätgotische Pfarrkirche mit dem umliegenden Pfarrfriedhof und dem Denkmal für die Opfer der Franzosenkriege. In nächster Nähe zur Kirche befindet sich das uralte „Gasthaus Neuwirth“ mit Erkerturm und Walmdach sowie das Kloster der Tertiarschwestern. Das Kloster verfügt über eine eigene Hauskapelle mit einem kleinen Glockenturm. Sehenswert ist auch das Dorf Obermauern mit der Wallfahrtskirche und den umliegenden, alten Bauernhäusern. Ursprünglich waren die Wohnhäuser der Bauern vollständig aus Holz gezimmert, nur wohlhabende Bauern konnten sich ein gemauertes Erdgeschoß leisten. Die dominierende Hofform in Virgen ist der Paarhof (getrenntes Wohn- und Futterhaus), nur in günstigen Lagen findet man auch Einhöfe. Zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten in der Gemeinde Virgen zählen die zahlreichen Kirchen und Kapellen, die sich in allen Fraktionen, aber auch in einigen Weilern und einzelnen Gehöften befinden. Über das Gemeindegebiet hinaus bekannt ist die spätgotische Wallfahrtskirche zu Unserer Lieben Frau Maria-Schnee in Obermauern. Die Filialkirche der Pfarrkirche Virgen wurde um 1456 errichtet, beinhaltet jedoch auch frühgotische und möglicherweise noch ältere Bauteile einer Vorgängerkirche. Bekannt ist die Wallfahrtskirche vor allem wegen ihres reichen, gotischen Freskenschmucks mit dem Passionszyklus von Jesus von Nazaret. Weitere Fresken zeigen die Kindheitsgeschichte von Jesus, Szenen aus dem Leben seiner Mutter Maria und das Martyrium des heiligen Sebastians. Die Virger Pfarrkirche wurde ebenfalls in der Spätgotik errichtet, geht jedoch auf einen Bau aus der Romanik zurück, wie ein in den 1930er Jahren bei Restaurierungsmaßnahmen freigelegter Rundbogen belegt. Die dritte Kirche in der Gemeinde liegt in der Fraktion Mitteldorf. Der kleine Bau mit Satteldach wurde um 1650 errichtet und gehörte bis 1782 zur Pfarre Matrei. Der älteste Sakralbau der Gemeinde und des gesamten Iseltales ist die Allerheiligenkapelle im Weiler Marin. Der Überlieferung nach wurden an ihrem Standort bereits während des Einbruchs der Slawen Gottesdienste gefeiert. Der Kapellenbau dürfte aus romanischer Zeit stammen und ist über einen steilen Kreuzweg erreichbar. Die Burg Rabenstein in der Fraktion Mellitz wurde im 12. Jahrhundert gegründet und war bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts Sitz des Gerichtes und des Pflegers von Virgen. Ursprünglich im Besitz der Görzer, gelangte die Anlage im 13. Jahrhundert an das Erzbistum Salzburg, die die Burg bis ins 18. Jahrhundert als Lehen vergab. Nachdem der Pfleger 1703 aus der Burg ausgezogen war, setzte sich der sukzessive Verfall der Anlage fort. Erst in den 1960er Jahren wurden Maßnahmen zur Erhaltung der Ruine gesetzt. Besonderheit der Ruine ist das sogenannte Pfaffenstöckl, deren reich verzierte Fresken teilweise erhalten blieben. Brauchtum Der Virger Widderzug findet jährlich am ersten Samstag nach Ostern statt. Sein Ursprung wird auf die Zeit des Dreißigjährigen Krieges zurückgeführt, als die Pest im Virgental ausgebrochen war. Aus Dankbarkeit für das Ende der Epidemie versprach die Bevölkerung eine Wallfahrt mit einem weißen Widder nach Lavant durchzuführen. Möglicherweise stammt der Brauch aber aus dem 14. Jahrhundert und wurde im 17. Jahrhundert erneuert. Da es bei den Wallfahrten nach Lavant zu „unheiligen Übertretungen“ kam, schaffte ein Pfarrer die Wallfahrt nach Lavant ab, seitdem führt die Prozession nach Obermauern. Der Widder wird jedes Jahr von einem Ortsteil von Virgen oder Prägraten gestellt, wobei das Tier das Hochamt in der Nähe des Altares verbringt. Anschließend wird der Widder versteigert, der Erlös kommt der Wallfahrtskirche zugute. Ein weiterer Brauch ist das Klaubaufgehen. Hierbei zieht der Heilige Nikolaus mit seinen Engeln von Haus zu Haus und verteilt Nüsse, Kekse und Süßigkeiten. Er wird von Lotter und von der Litterin, einem bettelnden Paar sowie von Musikanten begleitet. Die "Kleibeife", finstere, zottelige Gestalten mit Masken und Glocken begleiten den Zug. Vereinswesen In Virgen sind 33 Vereine (2019) gemeldet. Der älteste Verein Virgens ist der Schützenverein, der 1796 als Veteranenverein gegründet wurde. Die Musikkapelle Virgens wurde um 1820 gegründet und tritt im Sommer im Virger Pavillon auf. Des Weiteren sind die Freiwillige Feuerwehr, die Schützengilde, der Heimatkundeverein und die Bergwacht erwähnenswert. Die Theatergruppe Rabenstein geht auf Theatergruppen zurück, deren Passionsspiele („Virgener Rosenkranzspiel“) erstmals 1675 urkundlich belegt sind. Die bis ins 18. Jahrhundert aufgeführten Stücke, wurden in den 1930er Jahren in einer Neufassung der Heimatdichterin Fanny Wibmer-Pedit wiederbelebt. 1980 gründete sich der Tradition folgend die Theatergruppe Rabenstein, die jährlich ein Stück zur Aufführung bringt. Sport Die Gemeinde verfügt über eine 1999 errichtete Freizeitanlage mit Schwimmbad und Plätzen für Fußball, Tennis, Beachball, Skateboards und Rollerblades. Der Sport in der Gemeinde Virgen wird von der Sportunion Virgen getragen. Der 1956 gegründete Verein betreibt neben den fünf Sommersportarten Fußball, Paragleiten, Tennis, Laufen und Rollenrodeln die fünf Wintersportarten Schi Alpin, Langlaufen, Biathlon, Triathlon (Tourenlauf, Rodeln, Langlauf) und Rodeln. Der örtliche Fußballverein SPG Virgental spielt derzeit in der österreichischen Liga (1. Klasse A). Im Jahr 2019 wurde eine Spielgemeinschaft mit dem Nachbarort Prägraten errichtet die SG Virgental. Neben der Sportunion existiert mit dem EC Virgen (die Wölfe) ein Eishockeyverein, der zwei Seniorenmannschaften aufweisen kann. Wobei der EC Virgen 1 in der AHC Division 2 West spielt und EC Virgen 2 in der Kärntner Unterliga West. Der Eishockey Nachwuchs wird zusammen mit Huben und Prägraten gebildet. Wirtschaft und Infrastruktur Arbeitsstätten und Beschäftigte Die im Rahmen der Volkszählung durchgeführte Arbeitsstättenzählung ergab 2001 in Virgen 66 Arbeitsstätten mit 211 Beschäftigten (ohne Landwirtschaft), wobei 77 % unselbständig Beschäftigte waren. Gegenüber dem Jahr 1991 war die Anzahl der Arbeitsstätten um 14 Einheiten (plus 26,9 %) gestiegen. Die Beschäftigungszahlen hatten sich zwischen 1991 und 2001 mit 9,9 % in wesentlich geringerem Umfang erhöht. Wichtigster Wirtschaftszweig in der Gemeinde ist das Beherbergungs- und Gaststättenwesen, das 2001 rund 40 % der Betriebe sowie 22 % der Beschäftigten in der Gemeinde umfasste. Gemessen am Anteil der Beschäftigten folgt danach das Unterrichtswesen (Hauptschule, Volksschule, Kindergarten), das Bauwesen und die Sachgütererzeugung. Die Betriebsgrößen in Handel und Gewerbe in der Gemeinde Virgen sind jedoch sehr klein. 2001 gab es keinen einzigen Betrieb mit 20 oder mehr Beschäftigten. Durch das starke Übergewicht des Sommertourismus gegenüber dem Wintertourismus und den zahlreichen Beschäftigten in der Bauwirtschaft ist die Winterarbeitslosigkeit in der Gemeinde Virgen deutlich erhöht. Aus den geringen Beschäftigungsmöglichkeiten ergibt sich zudem eine hohe Pendlerrate. Bei 53 Einpendlern waren 2001 684 Einwohner von Virgen außerhalb ihrer Heimatgemeinde beschäftigt. Rund 56 % der Auspendler fanden dabei Arbeit im Bezirk Lienz, vorrangig in der Nachbargemeinde Matrei und in der Bezirkshauptstadt Lienz. Weitere 24 % pendelten nach Nordtirol oder Salzburg, rund 11 % sogar ins Ausland, insbesondere Bayern, aus. Landwirtschaft In Virgen bestanden 1999 145 land- und forstwirtschaftliche Betriebe, die insgesamt 9.349 ha bewirtschafteten. Dabei wurden 39 Betriebe im Haupterwerb und 87 Betriebe im Nebenerwerb geführt. 18 Betriebe waren im Eigentum von juristischen Personen. Gegenüber 1995 hat sich der Rückgang der landwirtschaftlichen Betriebe insbesondere im Bereich der Nebenerwerbslandwirte fortgesetzt, während sich die Zahl der Betriebe im Haupterwerb um einen erhöhten. Insgesamt reduzierte sich die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe zwischen 1995 und 1999 um 15 %, während die bewirtschaftete Fläche beinahe unverändert blieb. Bis zum Jahr 2006 ging die Zahl der Betriebe erneut leicht zurück. Die aufgegebenen Betriebe wurden jedoch vor allem auf Grund der geringen Größe oder gesundheitlicher Umstände geschlossen. Virgen gehört heute zu den landwirtschaftlich aktivsten Gemeinden im Bezirk Lienz, aber auch Tirols. Da die Pachtpreise im Heimgutbereich (Areal um einen Hof) zu den höchsten im Bezirk gehören, ist derzeit kein stärkerer Rückgang bei den Betriebszahlen zu erwarten. Wichtigste Einnahmequelle der Virger Bauern ist die Rinderzucht, wobei im Sommer 74 Almen der Viehhaltung dienen. Neben der Rinderzucht spielt die Schafzucht eine wichtige Rolle, in den letzten Jahren machte sich zudem ein verstärkter Trend zur Ziegenhaltung bemerkbar. Hierzu trug auch der 1993 eröffnete Bauernladen bei, der sich im Zentrum der Fraktion Virgen-Dorf befindet. Tourismus Da Virgen keinen direkten Zugang zum Großvenediger besitzt, entwickelte sich der Tourismus in Virgen später als in den Nachbargemeinden Matrei und Prägraten, wo der Alpinismus bereits im 19. Jahrhundert eine breitere Basis erreichte. Die Anfänge des Tourismus in Virgen reichen in die 1920er Jahre zurück, wobei Virgen anfangs vor allem ein Urlaubsziel der städtischen Bevölkerung (Sommerfrische) war. Für die Alpinisten wurde Virgen erst ab dem Bau der Bonn-Matreier Hütte 1932/33 und des Großvenediger-Höhenwegs interessant. 1932 wurde der Verkehrsverein Virgen, der erste Tourismusverband, gegründet. Lag die Zahl der Nächtigungen im Sommer 1934 noch bei 6.500, so steigerte sich diese Zahl im nächsten Jahr auf 11.500 Nächtigungen. Während des Zweiten Weltkriegs fanden in Virgen hingegen Flüchtlinge aus den zerbombten Städten Zuflucht. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Zahl der Nächtigungen 1953 bei 13.830. Bis in die 1970er Jahre wuchs der Tourismus stark an, sodass 1973 159.814 Nächtigungen gezählt werden konnten. Begünstigt wurde der Tourismus vor allem durch das Wirtschaftswunder und den Bau der Felbertauernstraße, die Osttirol leichter erreichbar machte. Seit den 1970er Jahren sanken die Nächtigungszahlen in Virgen um etwa 50 %. Neben dem allgemeinen Rückgang des alpinen Sommertourismus leidet Virgen unter der geringen Zahl von Betrieben der höheren Kategorien. Im Sommer 2005 wurden in Virgen 62.756 Nächtigungen gezählt, wobei die Verweildauer im Durchschnitt sieben Tage betrug. 80,7 % der Sommergäste stammten aus dem Ausland, wobei 59,2 % der Gesamtnächtigungen auf Gäste aus Deutschland und 10,5 % auf Gäste aus den Niederlanden entfielen. Im Sommer 2000 waren in Virgen noch 72.645 Nächtigungen verbucht worden (−15,8 %). Im Wintertourismus 2005/06 konnte sich Virgen gegenüber der Wintersaison 1999/2000 um 24,8 % auf 17.187 Nächtigungen steigern, wobei seit der Wintersaison 2003/04 die Nächtigungen kontinuierlich gesunken sind. Insgesamt verfügte Virgen 2005 über 1.159 Gästebetten. Die Gemeinde Virgen ist heute zusammen mit den Osttiroler Nationalparkgemeinden im Tourismusverband Urlaubsregion Nationalpark Hohe Tauern Osttirol organisiert. Als Hauptattraktion dient das Wandernetz mit dem Venediger Höhenweg. Auf dem Gemeindegebiet bestehen fünf Schutzhütten, die Bonn-Matreier Hütte in der Virger Nordkette sowie Lasörlinghütte, Wetterkreuzhütte, Berger-See-Hütte und Zupalseehütte in der Lasörlinggruppe. Des Weiteren liegen sieben bewirtschaftete Almen in Virgen. Verkehr und Infrastruktur Die Gemeinde Virgen wird durch die Virgentalstraße L 24 erschlossen, die von der Gemeinde Matrei nach Virgen und weiter nach Prägraten verläuft. Die Virgentalstraße führt durch die Virger Ortsteile Mitteldorf, Virgen und Obermauern und verfügt in Matrei über einen Anschluss an die Felbertauernstraße B 108. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist Virgen mittels Linienbussen der ÖBB-Postbus GmbH erreichbar. Die Linie 951 bindet die Gemeinde dabei täglich bis zu zwölfmal an die Bezirkshauptstadt Lienz an (Fahrzeit: 45 Minuten). Geführt wird die Linie vom Lienzer Bahnhof über Matrei bis zur Nachbargemeinde Prägraten. Der nächstgelegene Anschluss an das Bahnnetz befindet sich ebenfalls im rund 30 Kilometer Luftlinie südöstlich gelegenen Lienz. Die Verantwortung für die Trink- und Löschwasserversorgung ist in der Gemeinde Virgen geteilt. Während die Gemeinde die Versorgung von Niedermauern, Haslach, Mellitz, Teilen Mitteldorfs und dem Zentrum Virgens übernimmt, werden Mitteldorf, Göriach, Marin, Obermauern und Welzelach von den jeweiligen Wassergenossenschaften versorgt. Eine moderne Abwasserentsorgung wurde ab den späten 1970er Jahren umgesetzt. Schritt für Schritt wurden die Ortsteile an das öffentliche Kanalnetz angeschlossen, wobei heute bis auf wenige Einzelhöfe alle Gebäude Virgens an das Kanalnetz angeschlossen sind und Virgen dadurch den höchsten Entsorgungsgrad im Bezirk erreicht. Virgen schloss sich 1992 mit mehreren Nachbargemeinden zum „Abwasserverband Hohe Tauern Süd“ zusammen, der die Abwässer der Mitgliedsgemeinden in der 1999 eröffneten Kläranlage in Huben reinigt. Der Abfall, der in der Gemeinde anfällt, wird über den Abfallwirtschaftsverband Osttirol (AWVO) entsorgt. Die als Sonnendorf Virgen beworbene Gemeinde verfügt über mehr als 2.300 m² Kollektorfläche thermischer Solaranlagen. Mit einer Solaranlagen-Dichte von etwa 1,01 m²/Einwohner liegt Virgen österreichweit an der Spitze. Neben einem Kleinwasserkraftwerk am Virgenerbach dient auch die Biogasanlage Virgental der Stromerzeugung. Für ihre Bemühungen wurde die Gemeinde 2003 und 2015 mit „European Energy Award“ geehrt. Bildung Das Volksschulgebäude, das 1978 eröffnet wurde, beherbergte in den letzten Jahren zwischen sieben und acht Klassen. Die Schule, deren Schulsprengel das gesamte Gemeindegebiet umfasst, besuchen im Schuljahr 2020/21 rund 90 Schüler. Die Zahl ist dabei seit der Jahrtausendwende um etwa ein Drittel gesunken. Das Einzugsgebiet der erst 1969 eröffneten Hauptschule umfasst neben der Gemeinde Virgen die Nachbargemeinde Prägraten. Die achtklassige Schule wurde im Schuljahr 2020/21 von etwa 140 Schülern besucht. Zwischen 1968 und 1983 gab es in Virgen auch eine Sonderschulklasse und kurze Zeit einen Polytechnischen Lehrgang. Beide Schularten befinden sich heute in der Nachbargemeinde Matrei. Sicherheit und Gesundheitswesen Virgen verfügt heute über keine eigene Polizeistation mehr, wobei das Zuständigkeitsgebiet des ehemaligen Gendarmeriepostens der Polizeiinspektion Matrei angegliedert wurde. Im ehemaligen Gendarmerieposten ist heute das Ortsmuseum eingerichtet. Die Freiwillige Feuerwehr wurde 1896 gegründet und hat mehr als hundert Mitglieder. Neben dem 1996 neueröffneten Hauptgebäude in Virgen verfügt die Freiwillige Feuerwehr über kleinere Außenstellen mit selbstständigen Löschgruppen in den Fraktionen Mitteldorf und Obermauern. Zur Bergung von Bergopfern wurde in Virgen eine Ortsstelle des Österreichischen Bergrettungsdienstes eingerichtet. Für die Gesundheitsversorgung steht in der Gemeinde ein Arzt für Allgemeinmedizin zur Verfügung. Für den Besuch eines Facharztes muss jedoch ins benachbarte Matrei oder in die Bezirkshauptstadt Lienz mit dem Bezirkskrankenhaus ausgewichen werden. Energie Virgen gehört zu den 24 Gemeinden in Österreich (Stand 2019), die mit der höchsten Auszeichnung des e5-Gemeinden-Energieprojekts ausgezeichnet wurden. Das e5-Gemeinde-Projekt soll die Umsetzung einer modernen Energie- und Klimapolitik auf Gemeindeebene fördern. Politik Gemeinderat Der Gemeinderat als oberstes Gremium der Gemeinde umfasst 15 Sitze und wird alle sechs Jahre im Zuge tirolweiter Gemeinderatswahlen gewählt. Einzige Kraft in der Gemeindepolitik ist die Liste Für Virgen – Unabhängige Gemeinschaftsliste Für Virgen. 2004 war die Liste der einzige Wahlvorschlag für die Gemeinderatswahl, weshalb sie folglich auch alle 15 Mandate erhielt. Bei einer Wahlbeteiligung von nur 61,71 % lag die Zahl der ungültigen Stimmen bei 16,79 %. Die Liste Wir Gemeinsam – Für unsere Mitbürger, die 1998 noch 31,39 % der Stimmen erreicht hatte, trat bei den Wahlen 2004 nicht mehr an. Bei der Gemeinderatswahl 2010 war die Liste Für Virgen – Unabhängige Gemeinschaftsliste Für Virgen erneut der einzige Wahlwerber für die Gemeinderatswahl, weshalb kurz auch ein Aussetzen der Wahl diskutiert wurde. Schließlich wurde die Wahl doch durchgeführt, Die Wahlbeteiligung sank in der Folge auf 53,5 %, zudem betrug die Anzahl der ungültigen Stimmen 13,3 %. Ruggenthaler trat erneut als einziger Kandidat bei der Bürgermeisterdirektwahl an, wobei bei seiner Wahl 7,2 % der Stimmen ungültig waren. Stark verwurzelt in Virgen ist die ÖVP, die bei der Landtagswahl 2008 55,0 % der Stimmen erreichte. Bei den Gemeinderatswahlen 2010, 2016 und 2022 trat „FÜR VIRGEN - Unabhängige Gemeinschaftsliste“ als einzige Partei an und erhielt damit alle 15 Mandate. Dietmar Rugggenthaler wurde jeweils als einziger Kandidat zum Bürgermeister gewählt. Bürgermeister seit 1992 Dietmar Ruggenthaler. Wappen Blasonierung: Das Wappen zeigt einen schwarzen Schild mit drei, in Pfeilform angeordneten, silbernen Rauten (Kristalle). Das Wappen symbolisiert den einst ertragreichen Bergbau sowie den Mineralienreichtum der Gemeinde. Die Anordnung der Kristalle ist einer Darstellung nachempfunden, die sich im Portalbogen der Kirche in Obermauern wiederfindet. Das Gemeindewappen wurde im Jahr 1972 verliehen. Persönlichkeiten Ehrenbürger Erich Kneußl (1884–1968), Politiker (CSP, VF) Söhne und Töchter der Gemeinde Sebastian Defregger (1784–1853), Bildhauer, Maler und Graveur Josef Veiter (1819–1902), Bildhauer und Maler Alois Fuetsch (1860–1935), Orgelbauer Gottfried Fuetsch (1909–1989), Bildhauer und Krippenschnitzer, Ehrenbürger der Gemeinde Virgen Louis Oberwalder (1922–2010), Pädagoge, Erwachsenenbildner und Publizist Alois Lang (* 1947), Bildhauer, arbeitete in New York, Seoul und Tokio. Lebt in Heugraben im Südburgenland. Oliver Ruggenthaler (* 1972), Ordenspriester Literatur Katholischer Tiroler Lehrerverein (Hrsg.): Bezirkskunde Osttirol. Innsbruck 2001, ISBN 3-7066-2267-X. Simon Kurzthaler: Geschichte – Kunst – Kultur. Begegnungen in der Nationalparkregion Hohe Tauern. Innsbruck 1997, ISBN 3-7066-2148-7. Louis Oberwalder: Virgen im Nationalpark Hohe Tauern. Edition Löwenzahn, Innsbruck 1999, ISBN 3-7066-2197-5 Meinrad Pizzinini: Osttirol. Der Bezirk Lienz. Seine Kunstwerke, Historische Lebens- und Siedlungsformen. Verlag St. Peter, Salzburg 1974, ISBN 3-900173-17-6 (Österreichische Kunstmonographien, Bd. VII) Weblinks Tirol Atlas Geschichte-Tirol: Virgen Einzelnachweise Venedigergruppe
820383
https://de.wikipedia.org/wiki/John%20Bull%20%28Lokomotive%29
John Bull (Lokomotive)
Die John Bull ist eine im 19. Jahrhundert in England für die Camden and Amboy Railroad in den USA gebaute Dampflokomotive. Unter den ersten Lokomotiven, die in den USA betrieben wurden, war die John Bull die sechste. Voraus gingen zum einen die in England 1828 gebauten Stourbridge Lion und deren zwei Schwestermaschinen Hudson und Delaware sowie die Pride of Newcastle aus Robert Stephensons Werkstatt; sie alle wurden von der Delaware & Hudson Canal Company importiert. Zum anderen gingen 1830 die Best Friend of Charleston und die von Peter Coopers Canton Eisenwerk bei Baltimore gebaute Tom Thumb voraus, die ersten ausschließlich in den USA gefertigten Dampflokomotiven. Die John Bull fuhr zum ersten Mal im Jahre 1831 und wurde im Jahre 1866 außer Dienst gestellt. Seit die Smithsonian Institution 1981 die mittlerweile 150 Jahre alte Lokomotive nochmals in Betrieb setzte, gilt sie als die älteste noch betriebsfähige Dampflokomotive der Welt. Heute befindet sich die John Bull im Smithsonian’s National Museum of American History in Washington, D.C., und ein Replikat des Fahrzeugs aus dem Jahre 1939 ist im Railroad Museum of Pennsylvania regelmäßig in Betrieb zu sehen. Konstruktion Anmerkung: Mangels Dokumenten ist die exakte Beschreibung vor allem des Antriebs und der Steuerung schwierig. Die unten folgende Darstellung versucht, die Beschreibung in Evolution of American Locomotives in die hierzulande verwendete Terminologie umzusetzen. Detailfehler sind dabei nicht auszuschließen. Allgemeiner Aufbau Die John Bull wurde in England von Robert Stephenson und Company für die Camden and Amboy Railroad (C&A) gebaut, die erste Eisenbahn in New Jersey. Basis und verbindendes Element für die Hauptbaugruppen der Maschine ist ein 4,5 Meter langer und 1,9 Meter breiter Rahmen, der die Räder von außen umfasst. Spätere modernere Lokomotiven hatten demgegenüber fast ausschließlich einen innen zwischen den Rädern liegenden Rahmen. Dieser Rahmen wird von zwei Radsätzen getragen, die in der Ursprungsausführung beide als Treibradsätze dienten. Daraus ergibt sich die Achsfolge B. Im oberen Teil trägt der Rahmen die hinten platzierte Feuerbüchse mit dem Dampfkessel. Der Rahmen ist soweit nach hinten gezogen, dass darauf eine Plattform für die Bedienungsmannschaft ausgelegt werden konnte – zu dieser Zeit noch eine Neuerung bei den ersten Dampflokomotiven. Die Antriebszylinder sind unter dem Kessel vor der ersten Antriebsachse angeordnet. Kessel und Feuerung Der zylindrische, 1067 mm lange Kessel ist liegend als Langkessel auf dem Rahmen positioniert und hat am vorderen Ende als eine der ersten Ausführungen dieser Art eine abgeteilte Rauchkammer, aus der der Rauchabzug nach oben herausführt. Der Kessel ist von 62 Heizrohren mit einem Durchmesser von 50,8 mm durchzogen, die die Wärme der Abgase auf dem Weg von der Feuerbüchse zur Rauchkammer auf das umgebende Kesselwasser übertragen. Die Gesamtheizfläche dieser Heizrohre beträgt fast 20 Quadratmeter. Die am hinteren Ende gelegene 1093 mm lange und 966 mm breite Feuerbüchse ist für die Beheizung mit Brennholz vorgesehen und hat an den Berührungsstellen zum Kesselwasser eine Heizfläche von etwa 3 Quadratmetern. Fahrwerk Die Treibräder haben einen Durchmesser von 1,37 Metern und sind mit einem Achs-Abstand von 1,4 Metern hintereinander angeordnet. Die Radnaben sind aus Gusseisen, die Speichen und Felgen waren in der Ursprungsausführung aus Robinienholz, die dreiviertel Zoll (19 mm) dicken Radreifen aus geschmiedetem Eisen. Die Achswellen-Enden sind durch den Rahmen hindurch nach außen geführt und dort mit jeweils einem kurzen Kurbelhebel versehen. In der Ursprungsausführung war auf beiden Seiten auf den Zapfen der Kurbelhebel jeweils eine Kuppelstange angebracht, die eine gemeinsame Drehung der Räder erzwang. Die Achse des vorderen Radsatzes war eine einfache durchgehende Welle. Zwischen den hinteren Rädern befindet sich demgegenüber ein kompliziertes Kurbelgetriebe. Antrieb Die von den Kolben und Kolbenstangen bewegten Treib- bzw. Kurbelstangen sind am vorderen Ende der Kolbenstangen nach unten hängend angelenkt und unter den Antriebszylindern und der ersten Treibachse hindurch nach hinten zum Kurbelgetriebe geführt, wo sie an der Exzenterwelle angelenkt sind. Diese Treibstangen sind über diesen Gelenkpunkt hinaus um ein kurzes Stück weiter nach hinten verlängert und betätigen mit der Bewegung dieser Enden wechselweise die Ventile für die Dampfzuleitung zu den Zylindern. Mit der Vor- und Rückwärtsbewegung der Treibstangen wird die Exzenterkurbel und damit die Räder in drehende Bewegung versetzt, die auf den Schienen zur Fahrbewegung führt. Steuerung für die Fahrtrichtung Die nicht allzu sehr in die Details gehende Darstellung in Evolution of American Locomotives lässt Folgendes vermuten: Die Hinterachse ist keine durchgehende Einheit, vielmehr haben die hinteren Räder kurze Achswellenzapfen, auf denen die Kurbelexzenter-Welle aufsitzt. Die Exzenter-Arme sind auf den Achszapfen nicht fest, sondern lose drehend befestigt. Sie sind zudem um einen geringen Betrag seitwärts auf den Achszapfen verschiebbar. Auf den Achswellenzapfen und an den Exzenter-Gelenken befinden sich Verzahnungs-Vorrichtungen, die am Endpunkt jeder seitlichen Verschiebung des Exzenters ineinander greifen und die gemeinsame Drehung der Räder mit der Exzenterkurbel erzwingen. In der mittleren Verschiebestellung lässt sich die Exzenterkurbel frei auf den stillstehenden Radachsen drehen. Die seitlichen Verbindungshalterungen für die Exzenterwelle sind jeweils um 180° versetzt angeordnet. Das heißt, wenn die Exzenterwelle aus der fixierten Stellung „links“ in die Endstellung „rechts“ verschoben wird, muss sie zuvor eine Drehung um 180° vollführen, um „rechts“ für eine „feste“ Verbindung mit den Rädern einzurasten. Wenn nun ein Fahrtrichtungswechsel der Lokomotive durchgeführt werden sollte, geschah folgendes: Der Maschinist löste mit einem Fußhebel die Arretierung der Exzenterkurbelwelle und verschob sie in die mittlere, frei drehbare Stellung. Mit einem Handhebel wurden die Zylinderventile unter der Führerstand-Plattform von den Treib- bzw. Kurbelstangen-Enden abgehoben (oder umgekehrt). Mit Hebeln an den Ventilen konnte der Maschinist die Dampfzufuhr zu den Zylindern einzeln von Hand steuern und damit die Exzenterkurbel vor und zurück bewegen, bis sie in der „richtigen“ – um 180° versetzten – Position für die neue Fahrtrichtung lag. Jetzt wurde die Exzenterwelle in dieser Stellung seitlich in die Verzahnung eingerückt und verriegelt sowie die Ventilsteuerung wieder mit den Kurbelstangen-Enden verbunden. Nach dieser Umlegung des Kurbelangriffspunktes um 180° drehten sich die Räder dann in die umgekehrte Richtung wie zuvor. Kosten und Fertigstellung Die Herstellungskosten betrugen 785 Pfund. Die Maschine wurde für die Verschiffung nach dem Erstaufbau wieder zerlegt und in Kisten an Bord der „Allegheny“ nach Amerika transportiert. Der fähige und kenntnisreiche Maschinist Isaac Dripps von der C&A baute die ohne Zeichnungen oder Bauanleitung gelieferte Lokomotive wieder zusammen. Die Lokomotive erhielt danach die Bezeichnung Nr. 1. Zusätzlicher Tender Da kein Tender mitgeliefert wurde, baute der Maschinist Isaac Dripps einen vierrädrigen Wagen dazu, auf dem ein Whiskyfass als Wasserbehälter befestigt war. Ein Lederschlauch verband das Fass mit der Maschine. Umbauten Nach der Inbetriebnahme stellte sich heraus, dass die Schienen in den Gleisbögen für die Lokomotive zu enge Radien hatten, obwohl diese bereits einen vergleichsweise kurzen Radstand hatte. Um die daraus resultierenden Probleme zu vermeiden, zum Beispiel die Entgleisungsgefahr, wurden die Kuppelstangen entfernt und die Lager der vorderen, jetzt leer mitlaufenden Achse mit einem seitlichen Spiel von 1 ½ Zoll (ca. 37 mm) versehen. Zusätzlich wurde eine Vorlaufachse in einem Gestell schwenkbar an der Rahmen-Stirnfront angebracht, um eine bessere Spurführung zu erreichen. Nach diesen Umbauten hatte die John Bull somit eine Achsfolge von „1'1 A“ – also mit einer vorauslaufenden schwenkbaren Achse, einer festen mitlaufenden (ehemaligen Treibachse) und einer hinteren angetriebenen Achse. Auf den Bildern ist der an der Hauptrahmen-Stirnseite befestigte Laufachsgestell-Rahmen in ungewöhnlicher Weise bis auf die Höhe der ersten, bisherigen Treibachse hochgezogen. Diese Anordnung diente möglicherweise dazu, mit der Schwenkbewegung des Drehgestells die Achse des bisherigen ersten Treibradsatzes bei Kurvenfahrten vorauseilend schon ein Stück in die Gegenrichtung zu drücken, um die drei Radsätze in einem schwachen Bogen hintereinander laufen zu lassen. Bei diesen Umbauten wurden auch die hölzernen Radspeichen durch gusseiserne Radkörper ersetzt. Der bisher oben auf der Feuerbüchse platzierte Dampfdom wurde nach vorn auf das vormalige Mannloch gesetzt und die Feuerbüchse mit Holz verkleidet. Um die Besatzung und die Bremser vor den Wetterunbilden zu schützen, wurde der angehängte Tank-Wagen bzw. Tender von der C&A mit einer Kabine ausgestattet und deren Dach bis über den Führerstand vorgezogen. Außerdem wurden Sicherheitseinrichtungen wie eine Glocke und Scheinwerfer angebaut. Betrieb und Nutzung Erste Inbetriebnahme Die erstmalige Inbetriebnahme erfolgte im September 1831. Am 12. November 1831 lud der Präsident der C&A, Robert Livingston Stevens, die anwesenden Parlamentarier von New Jersey und lokalen Honoratioren zu einer kurzen Testfahrt mit der neuen Lokomotive ein. Zu den Passagieren zählte auch der Neffe von Napoleon Bonaparte, Prinz Murat. Bis zur Fertigstellung der Eisenbahnstrecke 1833 blieb die Lokomotive außer Dienst, der Betrieb erfolgte bis dahin mit Zugpferden. Die C&A kennzeichnete ihre ersten Lokomotiven mit Nummern und Namen. Die gelieferte Maschine erhielt die Nummer 1 und den Namen Stevens nach dem ersten Präsidenten der Bahngesellschaft. Im Laufe der Zeit nannten die Lok-Mannschaften ihre Maschine wegen ihrer englischen Herkunft jedoch zunehmend the old John Bull als Reverenz an die bekannte Symbolfigur John Bull. Schließlich wurde diese Bezeichnung zu John Bull abgekürzt und bald gebräuchlicher als der offizielle Name. Nachdem die Lokomotive jahrelang als Rangierlok betrieben wurde, wurde sie 1866 aus dem Verkehr gezogen und in Bordentown abgestellt. Danach wurden von der Maschinerie die Pumpe und der Dampfkessel für den Betrieb einer Sägemühle genutzt. PR-Zugpferd der PRR 1869 wurde die C&A von der „United New Jersey Railroad and Canals Company“ übernommen, welche schon 1871 in die Pennsylvania Railroad (PRR) aufging. Die PRR ließ die Lokomotive renovieren, weil sie diese zur Öffentlichkeitsarbeit einsetzen wollte. Die PRR legte allerdings Wert darauf, dass die Lokomotive bei der Renovierung etwas „gealtert“ wurde. So wurden in der Lokwerkstatt der PRR manche Originalteile durch alt aussehende Teile ersetzt oder ganz entfernt. Der Schornstein wurde durch ein Metallrohr ersetzt und die Kabine wurde wieder demontiert. Die PRR zeigte die Lokomotive nach der Renovierung eine Zeit lang auf verschiedenen Ausstellungen, um damit für die Eisenbahngesellschaft zu werben. Im Fahrbetrieb war die John Bull beispielsweise während der Weltausstellung „Centennial Exposition“ im Jahr 1876 zu sehen. Die PRR stellte die Lokomotive 1883 auch auf der National Railway Appliance Exhibition in Chicago aus. Im Jahr darauf erwarb das Smithsonian Institution die John Bull als die erste größere Maschine. Übernahme durch die Smithsonian Institution In der Smithsonian Institution fand die PRR eine neue Heimat für ihre historische Lokomotive und eine geeignete Arbeitsstelle für den Ingenieur J. Elfreth Watkins. Watkins hatte durch einen Arbeitsunfall wenige Jahre zuvor ein Bein verloren. Damit konnte er die körperlichen Anforderungen an den Eisenbahndienst nicht mehr erfüllen, so dass die Eisenbahngesellschaft ihn eine Zeit lang in der Verwaltung einsetzte. Er wurde deshalb aufgrund seiner Fähigkeiten Fachkurator für das 1880 neu eröffnete „Arts and Industries Building“ der Smithsonian Institution und betreute dort die Lokomotive über die nächsten Jahre. Watkins gewährleistete auch, dass die PRR und die Smithsonian Institution in den kommenden Jahren weiter zusammenarbeiteten. Die Lokomotive wurde am 22. Dezember 1884 zum ersten Mal in der Osthalle des Arts and Industries Building der Öffentlichkeit gezeigt. Bis auf einige wenige Anlässe war sie dort für die nächsten 80 Jahre zu sehen. Weltausstellung 1893 Die vielleicht wichtigste Ausstellung der Lokomotive außerhalb der Smithsonian Institution war die 1893er Weltausstellung World Columbian Exposition, zu der die Lokomotive nach Chicago reiste. Die Pennsylvania Railroad plante wie die meisten anderen Gesellschaften eine große Ausstellung über ihre Entwicklung. Die PRR vereinbarte deshalb, dass die Lokomotive sowie einige Wagen in die Werkstätten nach Jersey City (New Jersey) geschafft werden. Dort sollte eine Restaurierung stattfinden, die wieder einen Betrieb zuließ. Angesichts der Bedeutung der Lokomotive für die amerikanische Eisenbahngeschichte sollte die Lokomotive in besonderer Weise gewürdigt werden. Dazu war seitens der PRR und der Smithsonian Institution geplant, dass die Lokomotive die Strecke zwischen New Jersey und Chicago selbständig bewältigte. Die Überholung der Lokomotive wurde durch den PRR-Oberingenieur Theodore N. Ely beaufsichtigt. Nach einer Testfahrt nach Perth Amboy in New Jersey (80,5 km in 2 Stunden und 15 Minuten) war Ely überzeugt, dass die Lokomotive zuverlässig genug arbeitete, um die Gouverneure der zu durchfahrenden Bundesstaaten sowie den US-Präsidenten Grover Cleveland für die Fahrt nach Chicago einzuladen. Die John Bull zog einige Personenwagen mit Honoratioren und Pressevertretern auf ihrem Weg von Perth Amboy nach Chicago, der zuerst nach Philadelphia führte. Ab Philadelphia fuhren ortskundige Lokführer als Lotsen für die restliche Strecke bis nach Chicago mit, wo der Zug am 22. April ankam. Während ihrer Fahrt hatte die Lokomotive eine durchschnittliche Geschwindigkeit von 40 bis 50 km/h erreicht. Auf der Ausstellung wurden Fahrten für die Besucher angeboten. Am 6. Dezember begann die Rückreise der Lokomotive; am 13. Dezember war die Lokomotive wieder in Washington, D.C. Die „Fair of the Iron Horse“ 1927 verließ die Lokomotive erneut das Museum. Die Baltimore and Ohio Railroad feierte ihr 100-jähriges Bestehen mit der Fair of the Iron Horse in Baltimore. Da der Tender bereits 1910 wegen seines schlechten Zustandes verschrottet worden war, ließ die PRR in ihrer Werkstatt in Altoona (Pennsylvania) einen Nachbau anfertigen. Außerdem wurde die Lokomotive dort überholt, um den Dampfbetrieb während der Ausstellung sicherzustellen. Bis 1980 war dies die letzte Gelegenheit, die Lokomotive unter Dampf zu sehen. Der hundertste Geburtstag Nach der Rückkehr ins Smithsonian nach der Weltausstellung 1893 verblieb die Lokomotive für die nächsten Jahrzehnte in der ständigen Ausstellung. Das Museum beauftragte 1930 die PRR-Werkstatt in Altoona mit dem Nachbau eines zweiten Tenders. Diesmal wurden für den Nachbau die Armaturen des Originaltenders wieder verwendet, die bei der Verschrottung des Originals 20 Jahre zuvor aufbewahrt worden waren. 1931 feierte die Smithsonian Institution den hundertsten „Geburtstag“ der Lokomotive. Allerdings standen dem Museum nicht ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung, um die Lokomotive in einen betriebsfähigen Zustand zu versetzen. Es wurde deshalb entschieden, die Lokomotive mit Druckluft angetrieben zu zeigen. Das Museum lieh sich von der Pennsylvania Railroad einen Personenwagen aus dem Jahr 1836, um ihn hinter der Lok mit dem neugebauten Tender zu zeigen. Die offiziellen Feiern fanden am 12. November 1931 statt. Die Feierlichkeiten mit dem „Betrieb“ der Lokomotive wurden von CBS Radio übertragen. Die letzten Ausstellungen außerhalb des Smithsonians 1933 entlieh die PRR die Lokomotive erneut für die Weltausstellung Century of Progress in Chicago. Im Gegensatz zur vorigen Reise wurde die Lok dieses Mal verladen und nur ausgestellt. Während dieser Ausstellung wurde entschieden, dass durch die PRR-Werkstatt in Altoona ein betriebsfähiger Nachbau erfolgen sollte. 1939 begannen die Beschäftigten der Lokwerkstatt der PRR in Altoona (Pennsylvania) mit dem Bau eines betriebsfähigen Replikats. Dieses sollte für weitere Ausstellungen genutzt werden, da die Smithsonian Institution die Originallok in einer kontrollierten Umgebung aufbewahren wollte. Im Jahr 1940 fuhr dieses Replikat auf der Weltausstellung New York World’s Fair zum ersten Mal, während die Originallokomotive und der rekonstruierte Tender ins Museum zurückkehren konnten. Die Lokomotive wurde 1939 letztmals im Freien gezeigt. Aufgrund des fragilen Zustands der Lokomotive entschieden die Museumskuratoren, keine weiteren Ausstellungen unter freiem Himmel mehr durchzuführen. Die Lokomotive wurde deshalb für die nächsten 25 Jahre in der Osthalle des Museums gezeigt. 1964 wurde die Lokomotive zu ihrer jetzigen Heimat, dem National Museum of American History transportiert, damals noch National Museum of History and Technology genannt. Wiederinbetriebnahme nach 150 Jahren Das Smithsonian erinnerte an den 150. Geburtstag der Lokomotive im Jahre 1981 auf besondere Art und Weise; sie wurde erneut unter Dampf gesetzt und gilt seitdem als die älteste betriebsfähige Lokomotive der Welt. Vor dem 150. Geburtstag der Maschine begannen im Smithsonian Diskussionen, wie der Bedeutung und dem Alter der Lokomotive am besten Rechnung getragen werden kann. Unter den Kuratoren des Smithsonians bestand Einigkeit, dass die Bedeutung als älteste existierende Lokomotive oder ihre Nutzung bei der ersten Eisenbahn in New Jersey bis dahin in der Ausstellungsliteratur zu wenig gewürdigt wurde. Erste Kontrollen an der Lokomotive im Jahre 1980 ergaben, dass die Lok in einem verhältnismäßig guten mechanischen Zustand war und keine gravierenden Schäden festzustellen waren. Als die Räder von den Schienen gehoben wurden, auf denen sie seit 50 Jahren standen, erwiesen sich auch die Achsen als noch frei beweglich. Im Januar 1980 nutzten Museumsangestellte Druckluft, um die Zylinder anzutreiben und die Räder durch die Treibstangen wie vor 50 Jahren in Bewegung zu setzen. Auch die Steuerung schien in gutem Zustand zu sein. Unklar blieb lediglich, ob der Kessel der Lokomotive dem Dampfdruck und dem Feuer noch standhalten konnte. Das Museum beauftragte die Hartford Steam Boiler Inspection and Insurance Company, die Kesseltauglichkeit für eine Inbetriebnahme zu überprüfen. Die Untersuchung erfolgte drei Tage lang außerhalb der Öffnungszeiten des Museums zwischen 18:30 Uhr und 4 Uhr morgens und beinhaltete elektromagnetische, Ultraschall- und Röntgenuntersuchungen. Die Ergebnisse zeigten, dass einige Haarrisse im Kessel vorhanden waren. Es wurde deshalb entschieden, den Kessel mit einem geringeren Druck von 50 psi (3,45 bar) zu betreiben. Der ursprüngliche Kesseldruck bei der Anlieferung an die C&A betrug 70 psi (4,82 bar). Die Leitung des Smithsonian entschied nach einigen weiteren hydrostatischen Tests, dass die Lokomotive wieder mit eigener Kraft betrieben werden konnte. Nach Durchführung letzter Reparaturen fuhr die Lokomotive am 15. September 1981 außerhalb von Washington (D.C.) wieder mit eigener Kraft. Dadurch wurde die Lokomotive zur ältesten in Betrieb befindlichen Dampflokomotive der Welt. Die originale John Bull steht heute im National Museum of American History in Washington, D.C. Der Nachbau der John Bull aus dem Jahr 1939 gehört derzeit dem Railroad Museum of Pennsylvania und wird von diesem auch betrieben. Chronologie 18. Juni 1831: Die John Bull wird von Stephenson and Company in England fertig gestellt. 14. Juli 1831: Die John Bull wird in Liverpool für die Reise nach Philadelphia verladen. 4. September 1831: Die John Bull erreicht an Bord der Allegheny Philadelphia. 15. September 1831: Die John Bull macht ihre erste Fahrt in New Jersey unter Dampf. 12. November 1831: Robert Livingston Stevens transportiert bei Vorführungen mit der John Bull mehrere Politiker aus New Jersey. 1833: Die John Bull ist eine der Lokomotiven, die den Betrieb auf der neu gebauten Camden and Amboy Railroad aufnehmen. 1866: Die John Bull wird aus dem Betriebsdienst genommen. 1876: Die John Bull ist auf der Weltausstellung Centennial Exposition in Philadelphia zu sehen. 1883: Die Pennsylvania Railroad zeigt die John Bull auf der National Railway Appliance Exhibition in Chicago. 1884: Das Smithsonian Institution erwirbt die John Bull von der Pennsylvania Railroad. 1893: Die John Bull ist auf der Weltausstellung World’s Columbian Exposition in Chicago im Einsatz. 1910: Der ursprüngliche, sich in einem schlechten Zustand befindliche Tender wird vom Personal des Smithsonian verschrottet. Brauchbare Armaturen des Tenders werden jedoch erhalten. 1927: Die Baltimore & Ohio Railroad leiht sich die John Bull, um sie während der Fair of the Iron Horse in Baltimore zu betreiben. 1930: Das Smithsonian beauftragt die Pennsylvania Railroad zum Nachbau des Tenders unter Verwendung der noch vorhandenen originalen Armaturen. Der Tender wird mit der Lokomotive im Museum ausgestellt. 12. November 1931: Das Smithsonian feiert den 100. Geburtstag der Lokomotive. Für einen stationären Betrieb in der Ausstellungshalle wird Pressluft eingesetzt. 1933–1934: Die Pennsylvania Railroad leiht sich die John Bull, um sie auf der Weltausstellung Century of Progress International Exhibition in Chicago zu zeigen. 1939: Die originale John Bull ist auf der Weltausstellung New York World’s Fair zum letzten Mal für die nächsten 39 Jahre außerhalb des Smithsonian zu sehen. 1940: Eine Replik der John Bull, gebaut von der Pennsylvania Railroad in den Juniata Shops in Altoona (Pennsylvania), wird auf der New York World’s Fair gezeigt, während das Original wieder ins Smithsonian zurückkehrt. 15. September 1981: Die John Bull wird für ihr 150-jähriges Jubiläum wieder in Betrieb genommen. Sie wird die älteste betriebsfähige Dampflokomotive der Welt. 1985: Die John Bull wird für eine Ausstellung mit dem Flugzeug nach Dallas transportiert. Sie ist nun auch die älteste Lokomotive der Welt, die mit dem Flugzeug transportiert wurde. Siehe auch: LDE – Saxonia mit sehr ähnlicher Bauweise Literatur John H. White, Jr.: The John Bull – 150 Years a Locomotive. Smithsonian Institution Press, Washington DC 1981, ISBN 0-87474-961-1. Weblinks Railroad Museum of Pennsylvania National Museum of American History Smithsonian Institution HistoryWired: a few of our favorite things – John Bull Locomotive Encyclopedia Smithsonian – John Bull Einzelnachweise Triebfahrzeug (Vereinigte Staaten) Dampflokomotive Achsfolge B Schienenfahrzeug (Robert Stephenson) Einzellokomotive
839655
https://de.wikipedia.org/wiki/Johann%20Matthias%20Gesner
Johann Matthias Gesner
Johann Matthias Gesner, latinisiert auch Jo. Matthias Gesnerus (* 9. April 1691 in Roth an der Rednitz; † 3. August 1761 in Göttingen) war ein Pädagoge, klassischer Philologe und Bibliothekar. Von 1730 bis 1734 wirkte er als Rektor der Thomasschule zu Leipzig. Bei der Gründung der Georg-August-Universität im Jahr 1734 wurde Gesner als Professor für Poesie und Beredsamkeit nach Göttingen berufen und übernahm als solcher gleichzeitig die Leitung der Göttinger Universitätsbibliothek. Während er in seiner Tätigkeit als Herausgeber klassischer Autoren nur wenig innovativ war, wurde er mit seinen Reformideen für den Schul- und Universitätsunterricht zu einem der wirksamsten Wegbereiter des Neuhumanismus. Sein 1749 erschienenes Hauptwerk, das vierbändige Wörterbuch Novus Linguæ Et Eruditionis Romanæ Thesaurus stellt noch heute eine der wichtigsten Grundlagen zur Erarbeitung des im Jahr 1900 begonnenen Großlexikons der lateinischen Sprache „Münchener Thesaurus“ dar. Leben und Werk Kindheit und Schulzeit in Franken Am 9. April 1691 wurde Johann Matthias Gesner in der kleinen Stadt Roth bei Nürnberg geboren. Sein Vater Johann Samuel Gesner (1661–1704) war 1687 als Prediger dorthin versetzt worden, starb aber schon, bevor sein jüngster Sohn Johann Matthias zwölf Jahre alt war. Gesners Mutter Maria Magdalena geb. Hußwedel (1670–1738) war die Tochter eines Ansbacher Kammerrats und entstammte einer alten Beamtenfamilie. Nach dem Tode ihres Mannes hatte sie neun Kinder zu versorgen und heiratete nur kurze Zeit später den Amtsnachfolger im Pfarrhaus Johann Zuckermantel. Dieser bemerkte schon bald die außergewöhnliche Begabung Johann Matthias’ und bereitete ihn durch private Unterrichtsstunden für die Aufnahme am Ansbacher Gymnasium vor. Da die Kosten des Schulbesuchs jedoch die finanziellen Möglichkeiten der Familie überstiegen, wurde Gesner durch öffentliche Mittel unterstützt. So verbrachte er seine Ansbacher Gymnasialjahre in einem Wohnheim für arme Schüler und wurde aufgrund seiner Begabung intensiv durch den damaligen Rektor des Ansbacher Gymnasiums, Georg Nikolaus Köhler, gefördert. Studienzeit in Jena Im Jahr 1710 immatrikulierte sich Gesner an der Universität Jena. Durch die Vermittlung des ehemaligen Prinzenerziehers Jakob Friedrich Weihl, der schon in Ansbach auf Gesner aufmerksam geworden war, erhielt er ein Stipendium. Gleichzeitig verfasste Gesner Gelegenheitsgedichte zu Hochzeiten oder Geburtstagen, um seine finanzielle Situation zu verbessern. 1712 nahm ihn der Theologe Johann Franz Buddeus, Gesners bevorzugter Lehrer, in sein Haus auf und übertrug ihm den Unterricht seines Sohnes. Buddeus war es auch, der ihm den Zugang zur klassischen Philologie ebnete und ihm durch den Zugriff auf seine private Bibliothek die Möglichkeit eröffnete, seine Bildung eigenständig zu erweitern. 1714 veröffentlichte Gesner seine erste philologische Arbeit, die Philopatris dialogus Lucianeus, in der er nachwies, dass die dem griechischen Schriftsteller Lukian von Samosata zugeschriebene Philopatris gar nicht von diesem stammen könne, sondern in der Zeit Kaiser Julians – also rund 200 Jahre später – entstanden sein müsse. Ein Jahr darauf erschien mit den Institutiones rei scholasticæ („Grundzüge der Pädagogik“) sein erstes pädagogisches Werk, in dem er die Ansichten der Schulreformer aus dem 17. Jahrhundert aufgriff und durch eigene Ideen erweiterte. Die Weimarer Jahre Im Jahr 1715 erhielt Gesner über die Vermittlung seines Jenaischen Mentors Buddeus die Stelle des Konrektors am Wilhelm-Ernst-Gymnasium in Weimar. Im nahegelegenen Gera (heute Geraberg) heiratete er 1718 die Pfarrerstochter Elisabetha Caritas (1695–1761), geb. Eberhard, die ihm 1719 seinen ersten Sohn Carl Philipp (1719–1780), den späteren kursächsischen Hof- und Leibarzt gebar. Die 1721 geborene Tochter Elisabetha heiratete später Johann Jakob Huber, der von 1739 bis 1742 als außerordentlicher Professor für Anatomie an der Universität Göttingen wirkte und anschließend als Leibarzt des Landgrafen Wilhelm VIII. nach Kassel ging. Neben seiner Tätigkeit am Gymnasium war Gesner auch als Verwalter der herzoglichen Münzsammlung und Bibliothek – der sogenannten Schurzfleischschen Sammlung und späteren Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek – tätig. Im Rahmen dieser Tätigkeit schuf er einen neunbändigen Nominalkatalog, bereitete einen Sachkatalog vor, ergänzte den Bestand und fertigte einen gedruckten Bericht, die Notitia Bibliothecæ Vimariæ praesertim Schurzfleischianæ (1723) über die Bibliothek an. Seine Ernennung zum Bibliothekar verdankte Gesner einer Empfehlung seines Gönners Buddeus an den fürstlichen Hofmarschall Friedrich Gotthilf von Marschall. Zu diesem entwickelte Gesner bald ein enges freundschaftliches Verhältnis, aß beinahe täglich bei ihm zu Mittag und verbrachte seine Ferien auf dessen Gut in Oßmannstedt. Durch den regelmäßigen Umgang mit dem Hofmarschall erwarb Gesner grundlegende Kenntnisse in gesellschaftlichen Umgangsformen, was ihn später auch zur Übernahme repräsentativer Aufgaben befähigen sollte. Während seines knapp fünfzehnjährigen Aufenthalts in Weimar verfasste er zahlreiche, zumeist kleinere Arbeiten, darunter die Chrestomathia Ciceroniana (1717) und die Chrestomathia Pliniana (1723), kommentierte Zusammenstellungen von Texten aus den Schriften Ciceros und Plinius’ Naturalis historia zur Verwendung für den Sprachunterricht. Hier lernte Gesner bereits seinen späteren Kantor Johann Sebastian Bach kennen. Zwischenspiel in Ansbach Nachdem Herzog Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar-Eisenach im Jahr 1728 gestorben war, entledigte sich dessen Nachfolger und Neffe Ernst August all jener, die unter seinem Onkel Einfluss gehabt hatten. In dem Bewusstsein, den inzwischen aus seinem Amt entfernten Marschall damit zusätzlich zu kränken, entzog er Gesner das Amt des herzoglichen Bibliothekars. Gesner, der diese Aufgabe bisher mit großer Hingebung ausgefüllt hatte, gab daraufhin auch sein Amt als Konrektor am Weimarer Gymnasium auf und ging im Juni 1729 als Rektor zurück an seine ehemalige Schule in Ansbach, wo er allerdings nur für kurze Zeit blieb. Rektor der Leipziger Thomasschule Als der Rektor der Leipziger Thomasschule Johann Heinrich Ernesti im Oktober 1729 starb, wurde Gesner als sein Nachfolger nach Leipzig berufen. Ernesti hatte seit 1680 einen Lehrstuhl an der Leipziger Universität inne und hatte sich seit Beginn seines Rektorats an der Thomasschule im Jahr 1684 nur sehr nebensächlich um die schulischen Belange gekümmert. Als Gesner das Amt des Rektors im Juli 1730 übernahm, befand sich die Schule denn auch in einem Zustand größter Verwahrlosung. Von seiner neuen Aufgabe herausgefordert, reformierte Gesner die Schulordnung, sorgte für einen geregelten Unterricht und erneuerte den Lehrplan. Der Komponist Johann Sebastian Bach, dem im Rahmen seines Amtes als Kantor und Musikdirektor der Stadt Leipzig auch der Musikunterricht an der Thomasschule unterlag, hatte mit Gesners Vorgänger Ernesti schwerwiegende Auseinandersetzungen gehabt und soll bei der Nachricht von Gesners Kommen freudig ausgerufen haben: „Jetzt wird alles gut!“ Später widmete er ihm seinen Kanon zu 2 Stimmen (BWV 1075). Gesner, der Bach und seine Musik bewunderte, engagierte sich erfolgreich für dessen bessere Entlohnung und setzte dem Komponisten in einem seiner Kommentare zu Quintilians Institutio oratoria ein bleibendes Denkmal. Einer Textstelle, in der die Vielseitigkeit der Lautenspieler gelobt wird, fügte er die Anmerkung hinzu „Oh Quintilian! Könntest du von den Toten auferstehen und unseren Bach sehen, dann würdest du dies für etwas unbedeutendes halten!“. Gesners Verhältnis zu den Professoren der Leipziger Universität gestaltete sich dagegen von Beginn an schwierig. Aus Eifersucht auf sein hohes Ansehen beim Rat der Stadt verweigerten sie Gesner die Lehrerlaubnis und sorgten so dafür, dass er schon nach vierjähriger Tätigkeit wieder von Leipzig wegging. Gesners Wirken in Göttingen Eine Universitätsgründung in der Provinz 1734 wurde in Göttingen die erste Vorlesung gehalten. Es war ein großes Wagnis, gerade in einer solch unbedeutenden Stadt, die zudem noch unter den Folgen des Dreißigjährigen Krieges litt, eine Universität zu gründen. Das ehrgeizige Projekt konnte nur gelingen, wenn gleich zu Beginn Gelehrte mit außergewöhnlichem Ruf gewonnen werden konnten. Zur Erreichung dieses Ziels mussten aber in Göttingen Arbeitsbedingungen geschaffen wurden, die aus der Sicht möglicher Kandidaten ausreichend attraktiv waren, um den Weg in das kleine Provinzstädtchen mit seinen knapp tausend, zur Hälfte verfallenen Häusern anzutreten. Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen (1688–1770), hannoverscher Staatsminister unter König Georg II., der das Kurfürstentum in Personalunion mit Großbritannien von London aus regierte, hatte die Universitätsgründung angeregt, er war ihr erster Kurator und größter Förderer. Münchhausen erkannte, dass eine großzügige Ausstattung der Universität mit Büchern einer der Schlüssel war, um anerkannte Gelehrte für die Göttinger Universität zu begeistern. Deshalb steuerte er zu der aus der Bibliothek des Göttinger Gymnasiums bestehenden Grundausstattung von 708 Bänden weitere 2.154 Bände aus Dubletten der Königlichen Bibliothek in Hannover bei, darunter viele Editionen antiker Klassiker. Der entscheidende Coup gelang ihm jedoch damit, dass er die Erben des 1724 verstorbenen hannoverschen Staatsmannes Joachim Hinrich von Bülow dazu bewegen konnte, dessen berühmte und kostbare Privatbibliothek für die neue Universität zu stiften. Deren einzige Bedingung war, dass die Göttinger Universitätsbibliothek dauerhaft den Namen „Bibliotheca Buloviana“ tragen sollte, ein Name, der erst in den folgenden Jahrhunderten aufgegeben wurde. Trotz allem hing der Wert der Bibliothek in starkem Maße davon ab, inwieweit es Münchhausen gelang, für ihre Ergänzung, Pflege und den weiteren Ausbau einen fähigen und zugleich engagierten Direktor zu berufen. Berufung an die Georgia-Augusta Den geeigneten Kandidaten für dieses Amt fand Münchhausen in Gesner, dessen bisheriges Leben in hohem Maße von seiner Liebe zu Büchern bestimmt war und der der erste Professor war, der 1734 in Göttingen ankam. Doch obwohl neben Gesner weitere Gelehrte von hoher akademischer Reputation wie der Theologe Johann Lorenz von Mosheim und der Naturforscher und Dichter Albrecht von Haller an die Georgia-Augusta kamen, mangelte es der jungen Universität in ihren Anfangsjahren noch an einer ausreichenden Zahl zahlungskräftiger Studenten. Deshalb verfasste Gesner ein Jahr nach seiner Ankunft in Göttingen mit Einverständnis Münchhausens eine anonyme, als Brief an einen englischen Baron getarnte Schrift mit dem Titel Epistola praesentem Academiæ Gottingensis statum exhibens, in der er die Göttinger Universität über alle Maßen lobte. Die in einem eleganten Latein geschriebene Abhandlung pries neben der Bibliotheca buloviana insbesondere den hippodromus und bediente damit geschickt die Wunschvorstellung junger Adeliger, die nicht nur als reit- und fechtfreudige, sondern auch als besonders zahlungskräftige Studenten bekannt waren. Gesners Autorschaft konnte erst 1922 nach dem Fund eines handschriftlichen Entwurfs zweifelsfrei nachgewiesen werden, ihr Ziel hat die Schrift – genau wie ein weiteres, Ende 1736 von Gesner verfasstes Schreiben – jedoch mehr als erfüllt. Noch lange Zeit nach Gesners Tod war die Göttinger Universität für ihren hohen Anteil dort studierender Adeliger bekannt. Im ersten Jahr seiner Göttinger Tätigkeit veröffentlichte Gesner im Verlag Abraham Vandenhoecks seine erste größere Edition lateinischer Klassiker, die Scriptores rei rusticæ (1735). Im Gegensatz zu den Innovationen seines Zeitgenossen, des englischen Altphilologen Richard Bentley, bleibt Gesners zweibändiges Werk aus heutiger Sicht jedoch ein typisches Kind seiner Zeit. Vollgestopft mit barocker Gelehrsamkeit kann Gesners Edition nicht entfernt an die Arbeiten Bentleys heranreichen. Direktor der Bibliotheca Buloviana Zum Zeitpunkt der Universitätsgründung stellten die Bestände der ehemaligen Bülowschen Privatbibliothek mit ihren knapp 9.000 Bänden an Druckschriften, verschiedenen Handschriften und rund 2.000 Karten und Tabellen fast drei Viertel des ehemaligen Bestandes der Göttinger Universitätsbibliothek. Der Gedanke einer kontinuierlichen Vermehrung und sinnvollen Ergänzung dieses Bestandes war zu Gesners Zeiten noch nicht selbstverständlich. Vielmehr unterhielt jeder Professor seine eigene Privatbibliothek, die ihn sein Leben lang begleitete. Münchhausen nutzte diese Tatsache geschickt aus, indem er bei der Berufung neuer Professoren darauf achtete, möglichst Kandidaten mit einer besonders reich ausgestatteten Büchersammlung nach Göttingen zu holen. So berichtet Samuel Christian Hollmann, erster Professor für Philosophie an der Georgia-Augusta und zugleich ihr erster Chronist, rückblickend im Jahr 1787, die Göttinger Bürger hätten beim Anblick der Wagenladungen an Büchern, die mit den neuberufenen Professoren in die Stadt kamen, gemeint, man bringe nun die Universität. Darüber hinaus stellte Münchhausen jedoch jährlich eine hohe Summe für den Bestandsaufbau der Bibliothek zur Verfügung. Die Entscheidungen über die Erwerbungen wurden in Hannover getroffen, wohin Gesner und seine Göttinger Professorenkollegen ihre Anschaffungsvorschläge schickten. Gekauft wurden die Bücher vornehmlich auf Auktionen im In- und Ausland, wobei insbesondere der naturgemäß gute Kontakt nach London als einem der großen Zentren des damaligen Buchhandels förderlich war. Gesners weitreichende wissenschaftliche Verbindungen zu europäischen Gelehrten sorgten zudem für zahlreiche Neuzugänge in Form von Geschenken, darunter auch eine Gesamtausgabe der Schriften des Kardinals Angelo Maria Quirini († 1755), des Bischofs von Brescia und späteren Leiters der Bibliotheca Vaticana. Obwohl keine genauen Angaben über den Zuwachs der Bibliothek aus Gesners Zeit überliefert sind, wird der Bestand im Jahr seines Todes auf mehr als 50.000 Bände geschätzt. Gesners Schulordnung für das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg 1738 veröffentlichte Gesner im Auftrag König Georg II. eine Schulordnung für das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg, der Bestimmungen über die Einrichtung eines Philologischen Seminars an der Göttinger Universität beigefügt waren. Übergeordnetes Ziel der Regularien war es, einen Standard für die universitäre Lehrerausbildung festzulegen und in der Folge einen einheitlichen Bildungsstand aller Schüler bei ihrer Aufnahme an den Universitäten zu garantieren („[…] damit eine durchgängige Gleichmäßigkeit in der Lehr=Arth eingeführet, und die Schul=Studia mit denen künftigen Studiis Academicis harmoniren mögen.“). Zur Kontrolle der Schulen wurde dem jeweiligen Professor für Rhetorik an der Georgia-Augusta – also Gesner und seinen Nachfolgern – dauerhaft das zusätzliche Amt eines Schulinspektors für die Gymnasien des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg übertragen. Einen besonderen Schwerpunkt legte Gesner zeitlebens auf den Kampf gegen die zu seiner Zeit praktizierte mechanisch-kleinteilige Lehrart im Latein- und Griechischunterricht, der er seine neuentwickelte Methode des „kursorischen Lesens“ entgegenstellte. Anstatt einzelne Textstellen unter immer wieder neuen lexikalischen und grammatikalischen Gesichtspunkten zu untersuchen, plädierte Gesner für eine fortlaufende, nicht von gelehrten Erklärungen unterbrochene Lektüre unter Beachtung des inhaltlichen Gesamtzusammenhangs. Er schrieb: „Hierbei ist auch die Jugend zu belehren […], daß sie über ein oder andere vorkommende Schwierigkeiten nicht verdrüßlich oder müde werde, sondern nur zu lesen fortfahre, weil insgemein dasjenige, was anfangs schwer erschienen, beym Verfolge von dem Scribenten selbst erkläret und deutlich gemacht wird.“ Mit dieser Neukonzeption des Sprachunterrichts leitete Gesner eine neue Ära in der Geschichte der Gymnasialpädagogik ein. Neben Gesners Reform des Latein- und Griechischunterrichts war auch die von ihm initiierte Gründung des Philologischen Seminars an der Göttinger Universität richtungsweisend. Bei der Einrichtung handelte sich um die erste ihrer Art, und mit seiner Konzeption wurde das Göttinger Institut zum Vorbild für alle späteren philologischen Seminare. Auch hier waren Gesners Ideen innovativ und wirken in Abwandlungen bis heute fort. Die Seminaristen sollten nach Möglichkeit schon während ihres Studiums praktische pädagogische Erfahrungen in eigenverantwortlich organisiertem Privatunterricht sammeln und diese Fähigkeiten am Göttinger Gymnasium mittels eigenständiger Unterrichtsversuche vertiefen: 193. Damit die Seminaristen Gelegenheit haben mögen, selbst Hand an das Informations=Werck zu legen, und, was sie darinnen gelernet, in die Uebung zu bringen anfangen: sollen sie vermahnet werden, daß sie selbst gerne mit Kindern, mit denen sie bekant sind oder werden können, umgehen, deren Liebe und Vertrauen sich zu erwerben suchen; daß sie sich eine Freude machen, solche zu examiniren, ihnen etwas gutes zu sagen, und darinnen nicht so wohl auf den gegenwärtigen Gewinst sehen, als bedencken, wie sie sich dadurch in den Stand setzen, künftig die Wohlfahrt der Republic und ihre eigenen Glückseeligkeit zu befördern. 194. Ingleichen ist der Director der Göttingischen Stadt=Schule instruiret, daß er die von dem Inspectore ihm presentireten Seminaristen zu einiger Information in gedachter Schule zulasse, und ihnen nach befinden eine gewisse Classe, Stunde und Lection anweise […] Als besonderer Anreiz wurde allen Seminaristen von Georg II. ein Stipendium zugesichert, damit sie „desto mehr Lust bekommen, sich und der Republic diese Anstalten zu nutzen zu machen“. „Ungezwungen und Richtig“ – die Deutsche Gesellschaft Im Jahr 1727 hatte Johann Christoph Gottsched mit der Gründung der „Deutschen Gesellschaft“ in Leipzig eine Sprachgesellschaft nach dem Vorbild der „Académie française“ gegründet. In ihren in der Regel wöchentlich stattfindenden Zusammenkünften trugen deren Mitglieder neue, ungedruckte und häufig zu bestimmten Gelegenheiten wie Jubiläen, Geburtstagen etc. verfasste Textproben vor, besprachen diese und bewerteten sie. Im Mittelpunkt der Sprachkritik stand die Pflege des Hochdeutschen und damit die bewusste Vermeidung mundartlicher oder fremdsprachlicher Ausdrücke. Nach dem Durchlaufen des Bewertungs- und Verbesserungsprozesses wurde das Ergebnis durch einen Eintrag in die Textsammlung der Gesellschaft gesichert. Schon bald nach ihrer Gründung wurde die Leipziger Deutsche Gesellschaft zu einer überregional bekannten Institution und ihr Vorsitzender Gottsched zu einem gefragten Schiedsrichter in sprachlichen wie literarischen Fragen. Ihr Mitgliedsbestand wuchs schnell an, und bis 1775 kam es zur Gründung von mehr als 30 Tochtergesellschaften, deren Netz den gesamten deutschsprachigen Raum überspannte. Bereits 1735 hatte Johann Lorenz von Mosheim, der zu diesem Zeitpunkt Präsident der Leipziger Gesellschaft war, gegenüber von Münchhausen die Gründung einer Göttinger Tochtergesellschaft angeregt, war mit seinem Vorschlag jedoch noch auf wenig Resonanz gestoßen. Nach der Berufung Gesners und der von ihm initiierten Einrichtung des Philologischen Seminars hatte sich die Situation geändert: Mit Gesner stand ein geeigneter Präsident zur Verfügung und die Seminaristen kamen als mögliche Mitglieder für die Deutsche Gesellschaft in Frage. Am 18. August 1738 wurden die Gründungsstatuten unterzeichnet, und am 13. Februar 1740 erhielt die Gesellschaft die offizielle königliche Bestätigung durch Georg II. und ihr nach einem Vorschlag Gesners gestaltetes Siegel. Von ihrer Gründung bis ins Jahr 1755 konnten mehr als 500 Mitglieder für die Gesellschaft geworben werden, wobei der Anteil des Adels von Anfang an überproportional hoch war. Die regelmäßig am späten Freitagnachmittag stattfindenden Sitzungen orientierten sich in ihrem Ablauf an dem Vorbild der Leipziger Deutschen Gesellschaft, wohingegen es der Göttinger Gesellschaft im Gegensatz zu dieser jedoch nicht gelang, ihre Texte später zu publizieren. Gesner stand der Gesellschaft bis zu seinem Tod als Präsident vor, danach wurde das Amt nicht wieder besetzt. Mit einer Unterbrechung während des Siebenjährigen Krieges bestand die Göttinger Deutsche Gesellschaft bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1791. Der Novus Thesaurus Bereits zwischen 1726 und 1735 arbeitete Gesner an verbesserten Neuauflagen des 1571 erstmals von Basilius Faber veröffentlichten Thesaurus eruditionis scholasticae, der zu den meistgedruckten Lexika der Frühen Neuzeit gehört. 1733 hatte Gesner dann erstmals über ein gänzlich neu zu verfassendes Lexikon der lateinischen Sprache nachgedacht und dessen Fertigstellung auf ein Zeitraum von drei Jahren veranschlagt. Als der vierbändige Novus Linguæ Et Eruditionis Romanae Thesaurus schließlich 1749 erschien, stellte er das Ergebnis zwölfjähriger Arbeit dar. Gesners Lexikon unterschied sich vor allem in drei Punkten von denen seiner Vorgänger: In seiner Auswahl des Vokabulars beschränkte Gesner sich ausschließlich auf antike Quellen und ließ alle mittel- und neulateinischen Ausdrücke wegfallen. Darüber hinaus stellte er den lateinischen Ausdrücken – aus der Überzeugung, die Bedeutung müsse sich aus den originalen Belegen ergeben – keine deutschsprachigen Äquivalente zur Seite. Schließlich legte Gesner den inneren Aufbau der Artikel streng chronologisch nach der wort- und bedeutungsgeschichtlichen Entwicklung an. Die Bearbeiter des unter dem Namen „Münchener Thesaurus“ bekannten Akademieprojektes zur Erstellung eines neuen Großlexikons der lateinischen Sprache schätzten Gesners Arbeit als so bedeutend ein, dass sie ihn im Vorwort des 1900 erschienenen ersten Bandes als einzigen neben Egidio Forcellini, dem Erschaffer des Totius Latinitatis Lexicon, unter den Vorgängern erwähnten. Die letzten Jahre Im Jahr 1751 stiftete Georg II. die „Königliche Societät der Wissenschaften zu Göttingen“, die heute unter den sieben wissenschaftlichen Akademien Deutschlands nach Berlin (1700) und Leipzig (1704) die drittälteste ist. Zu ihrem ersten Präsidenten wurde Albrecht von Haller berufen, Gesner erhielt das Amt des ersten Sekretärs der historisch-philologischen Klasse. 1753, nach dem Weggang Hallers aus Göttingen, wurde er dessen Nachfolger. Fünf Jahre vor seinem Tod wurde Gesner aufgrund seiner Leistungen von Georg II. am 17. Februar 1756 zum Hofrat ernannt. In der wissenschaftlichen Welt war er zu diesem Zeitpunkt hochgeachtet. Der britische Arzt Anthony Askew, der einer von Gesners zahlreichen Korrespondenten war, schrieb über ihn: „Talem neminem vidi!“: „Einen solchen Mann habe ich noch nie gesehen“. Am 3. August 1761 starb Gesner siebzigjährig in Göttingen. In seiner Grabrede sagte sein Freund und Kollege, der Theologe und Orientalist Johann David Michaelis: „… nicht ein privater Besitz, sondern ein öffentlicher, ganz Deutschlands und Europas, ist dahingegangen: Gesner“ („… non res nostra privata periit, sed publica totius Germaniae et Europae, Gesnerus“). Schriften (Auswahl) De aetate et auctore dialogi Lucianei qui Philopatris inscribitur disputatio. Fickelscher, Jena 1714. (Digitalisat der Ausg. 1715) Institutiones rei scholasticæ (1715) (Digitalisat in der Digitalen Bibliothek Mecklenburg-Vorpommern) Chrestomathia Ciceroniana, oder auserlesene Stellen aus den Schriften M. Tullii Ciceronis. 1717. (Digitalisat der Ausg. 1775) Chrestomathia Pliniana oder Auserlesene Stellen aus C. Plinii Secvndi Historia Natvrali, Nach den besten Editionen Harduini und Ioh. Frid. Gronovii recensiret, Hin und wieder verbessert, und weitläufftig erkläret. Auch mit einem Register versehen. Bielcken, Jena 1723. (Digitalisat) Edition des 1571 erstmals von Basilius Faber veröffentlichten Thesaurus eruditionis scholasticae (1726ff.) Scriptores rei rusticæ veteres latini. 4 Bände. 1735. Schul-Ordnung vor die Churfürstl. Braunschweig-Lüneburgische Lande (1738) Edition der Institutio oratoria Quintilians (1738) Opuscula minora varii argumenti. 6 Bände. Korn, Breslau 1743–1745. (Digitalisat Band 1), (Band 2), (Band 3 (fehlerhaft)), (Band 4 (fehlerhaft)), (Band 5), (Band 6) Index etymologicus Latinitatis : complectens plerasque voces Latinas omnes sub suis velut radicibus collocatas earumque Germanicas Gallicasque interpretationes, cum indice vocum Germanicarum alphabetico, in usum studiosae. Fritsch & Breitkopf, Leipzig 1749. (Digitalisat) Novus linguæ et eruditionis romanae thesaurus. 4 Bände. Fritsch & Breitkopf, Leipzig 1749. (Digitalisat Band 1) Primæ lineæ isagoges in eruditionem universalem. Kübler, Göttingen/Leipzig 1756. (Digitalisat) Thesaurus epistolicus Gesnerianus. (1768–1770, posthum von Christian Adolf Klotz veröffentlicht) Vegetii Renati Artis veterinariae sive mulomedicinae libri quatuor, Mannheim 1781. Literatur Neuere Darstellungen Julia Kurig: Auf dem Weg zur ‚allgemeinen Bildung‘. Delegitimierung und Rekonstruktion humanistischer Gelehrsamkeit in der frühen Aufklärung am Beispiel Johann Matthias Gesners (1691-1761). In: Conrad, Anne/Maier, Alexander/Nebgen, Christoph (Hg.): Bildung als Aufklärung. Historisch-anthropologische Perspektiven. Wien: Böhlau, 2020, S. 188–209. Meinolf Vielberg: Johann Matthias Gesner, Institutiones rei scholasticae, herausgegeben, übersetzt, erläutert und mit einer Einleitung versehen, Wiesbaden 2013 (= Gratia, Tübinger Schriften zur Renaissanceforschung und Kulturwissenschaft. Bd. 48), ISBN 3-447-06921-X. Dieter Cherubim, Ariane Walsdorf: Sprachkritik als Aufklärung. Die Deutsche Gesellschaft in Göttingen im 18. Jahrhundert, hrsg. von Elmar Mittler, Göttingen 2004, ISBN 3-930457-48-2 – dazu die Rezension von Martin Stuber, Historisches Institut, Universität Bern, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 5 vom 15. Mai 2007, online abrufbar über sehepunkte, Rezensionsjournal für die Geschichtswissenschaften. Reinhold Friedrich: Johann Matthias Gesner: sein Leben und sein Werk. Roth 1991, ISBN 3-924983-07-0 – Kernstück des Bandes ist eine von Reinhold Friedrich verfasste vierundvierzigseitige Schilderung der Lebensumstände Gesners, die auch auf Teile des Werkes eingeht und um eine Tafel zur Genealogie sowie eine Literaturliste ergänzt wurde. Daneben enthält der Band Auszüge aus einem Aufsatz Theodor Gerickes über Gesners Stellung in der Geschichte der Gymnasialpädagogik sowie aus dem erwähnten Aufsatz von Ulrich Schindel über Gesners Wirken als Professor der Poesie und Beredsamkeit. Gemäß dem Reihentitel („Rother Miniaturen“) erwartet den Leser ein schmales Heft, dennoch ist der Band die momentan einzige verfügbare Monographie, die einen Gesamtüberblick über Leben und Werk Gesners bietet (Stand August 2005). Ulrich Schindel: Johann Matthias Gesner. Professor der Poesie und Beredsamkeit 1734–1761. In: Carl Joachim Classen (Hrsg.): Die Klassische Altertumswissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen: eine Ringvorlesung zu ihrer Geschichte, Göttingen 1989, ISBN 3-525-35845-8, S. 9–26. Christiane Kind-Doerne: Die Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Ihre Bestände und Einrichtungen in Geschichte und Gegenwart. Wiesbaden 1986, ISBN 3-447-02590-5 – Hier insbesondere die Kapitel „Von der Bibliotheca Buloviana zur Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek“, S. 1–9 sowie „Erste Jahrzehnte (1734–1763)“, S. 10–19. Johannes Joachim: Gesners Anteil an der Propaganda für die Göttinger Universität 1735–1736. In: Beiträge zur Göttinger Bibliotheks- und Gelehrtengeschichte, hrsg. und den Teilnehmern der 24. Versammlung deutscher Bibliothekare gewidmet von der Universitäts-Bibliothek, Göttingen 1928, S. 7–19. Karl Pöhnert: Johann Matthias Gesner und sein Verhältnis zum Philanthropinismus und Neuhumanismus. Ein Beitrag zur Geschichte der Pädagogik im 18. Jahrhundert. Leipzig 1898. Friedrich A. Eckstein: J. M. Gesners Wirksamkeit für die Verbesserung der höheren Schulen. Leipzig 1869. Hermann Sauppe: Jahresbericht über das Wilhelm Ernstische Gymnasium zu Weimar von Ostern 1853 bis Ostern 1856 erstattet von dem Director Hermann Sauppe. Voran steht ein Vortrag desselben über Johann Matthias Gesner, Weimar 1856. Zeitgenössische Schriften Jeremias Nikolaus Eyring: Descriptio operum Jo. Matthi. Gesneri cuius insertum est commercium litterar. Lucianeum praemissa epistola ad Ge. Christo. Hambergerum. Göttingen 1769. Johann Nikolaus Niclas: Epistola familiaris de Jo. Matthia Gesnero. Göttingen 1769 – Niclas (1733–1808) kam 1753 zum Studium nach Göttingen und gehörte dort zu den von Gesner besonders liebgewonnenen und geförderten Schülern. 1770 ging er als Rektor des Michaelisgymnasiums nach Lüneburg. 1790 erwarb die Lüneburger Ritterakademie seine wertvolle Privatbibliothek von rund zehntausend Bänden. Die Epistola erfuhren 1826 eine posthume Neuauflage. Jeremias Nikolaus Eyring: Io. Matthiae Gesneri Biographia Academica Gottingensis. mit einem Vorwort von Christian Adolf Klotz, 2 Bde., Halle 1768 – Darin unter XIV. eine von Gesners Göttinger Professorenkollegen Johann David Michaelis verfasste Gedenkschrift mit dem Titel „Memoria Io. Matthiae Gesneri auctore Io. Davide Michaelis“ (S. 245–276) sowie unter XV. ein Neuabdruck der bereits 1762 erschienenen Schrift Johann August Ernestis „Io. Aug. Ernesti narratio de Io. Matthia Gesnero“ (S. 277–328) – Eyring (1739–1803) kam wie Gesner aus Franken und ging nach seiner Schulzeit in Coburg 1759 zum Studium nach Göttingen, wo er ein Jahr später Mitglied des von Gesner ins Leben gerufenen Philologischen Seminars wurde. 1762 trat er in den Schuldienst ein, wurde 1765 zum Rektor der Stadtschule berufen und erhielt 1773 das Amt des Direktors am Göttinger Gymnasium. Im selben Jahr wurde er zum außerordentlichen, 1780 zum ordentlichen Professor der Philosophie an der Georgia-Augusta berufen, wo er über theologische sowie sprach- und literaturwissenschaftliche Themen las. Seit 1763 war er an der Universitätsbibliothek tätig, wo er es 1785 bis zum Ersten Kustos brachte und sich vor allem der Ausarbeitung des systematischen Katalogs widmete. Unter dem Eindruck von Gesners Tod stehend verfasste er im Jahr 1761 eine Schrift mit dem Titel „Gedanken zur Vertheidigung derer, die ohne Reichtum studiren“. Johann August Ernesti: Narratio de Jo. Matthia Gesnero ad Davidem Ruhnkenium, Leipzig 1762 – Ernesti (1707–1781) bekleidete an der Thomasschule unter Gesner das Amt des Konrektors und wurde nach dessen Weggang aus Leipzig als sein Nachfolger berufen. Seine Schrift richtet sich an den klassischen Philologen David Ruhnken (1723–1798), einen der bedeutendsten Humanisten des 18. Jahrhunderts. Nach seiner Schulzeit fasste Ruhnken den Plan, bei Gesner in Göttingen zu studieren, auf dem Weg dorthin entschloss er sich jedoch, zunächst an der Wittenberger Universität zu bleiben. In Wittenberg lernte er Ernesti kennen, der sich häufiger dort aufhielt. Ernesti bewegte Ruhnken dazu, in Leiden ein Griechischstudium bei Tiberius Hemsterhuys (1685–1766), dem Gründer der niederländischen Hellenistenschule, aufzunehmen und schrieb gemeinsam mit Ruhnkens Wittenberger Professoren Empfehlungen an diesen. Damit hatte Ernesti entscheidenden Einfluss auf Ruhnkens weiteren Lebensweg, denn dieser avancierte zu Hemsterhuys' Lieblingsschüler und blieb bis zu seinem eigenen Tod in den Niederlanden. Als ihm 1761 auf Ernestis Vorschlag hin die Professur des verstorbenen Gesner angeboten wurde, lehnte er ab und empfahl statt seiner Christian Gottlob Heyne. Weblinks Nachweise in der Analytic Bibliography of Online Neo-Latin Texts Thesaurus linguae Latinae ed. auctoritate et consilio academiarum quinque Germanicarum – Weiterführende Informationen zum „Münchener Thesaurus“ aus der Bibliographie „Lateinische Wörterbücher“ von Richard Wolf Digitalisierte Materialien zu Gesner, siehe Suche Online-Edition des Novus Linguae Et Eruditionis Romanae Thesaurus im Projekt CAMENA Online-Edition der Primae Lineae Isagoges In Eruditionem Universalem im Projekt CAMENA Online-Edition der Carmina im Projekt CAMENA Einzelnachweise Altphilologe (18. Jahrhundert) Rektor (Georg-August-Universität Göttingen) Literatur (18. Jahrhundert) Literatur (Neulatein) Person (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen) Pädagoge (18. Jahrhundert) Person (Leipzig) Mitglied der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften Absolvent der Friedrich-Schiller-Universität Jena Geboren 1691 Gestorben 1761 Mann
846990
https://de.wikipedia.org/wiki/Spatelraubm%C3%B6we
Spatelraubmöwe
Die Spatelraubmöwe (Stercorarius pomarinus) ist eine Vogelart aus der Familie der Raubmöwen (Stercorariidae). Sie brütet in der arktischen Tundra rund um den Nordpol und ist dort ein hochspezialisierter Jäger von Lemmingen. Außerhalb der Brutzeit leben Spatelraubmöwen auf hoher See, sie überwintern auf den Meeren der Tropen und Subtropen. Die Art ist regelmäßiger Durchzügler an der Nordseeküste, im Binnenland Europas wird sie nur sehr selten beobachtet. Beschreibung Körperbau Die Spatelraubmöwe ist nach der Skua die zweitgrößte holarktische Raubmöwe. Die Körperlänge beträgt 42–50 cm, die Flügelspannweite 115–125 cm. Die Art liegt damit in der Größe zwischen Sturmmöwe und Silbermöwe. Weibchen sind im Mittel etwas größer und schwerer als Männchen. Adulte, männliche Wintergäste vor Australien hatten eine Flügellänge von 341–368 mm, im Mittel 352 mm; Weibchen maßen 339–373 mm, im Mittel 360 mm. Männliche Brutvögel, die im Nordosten Jakutiens erlegt wurden, wogen 620–800 g (im Mittel 660,0 g), dort erlegte Weibchen 680–830 g, im Mittel 766,6 g. An Museumsbälgen aus dem gesamten Verbreitungsgebiet gemessene Flügellängen adulter Vögel ergaben für Männchen 343–377 mm, im Mittel 360 mm; für Weibchen 341–382 mm, im Mittel 366 mm. Diese Raubmöwe ist kräftig gebaut, mit voller Brust, großem Kopf und einem recht kräftigen Schnabel. Der Oberschnabel zeigt wie bei allen Raubmöwen einen deutlichen Haken nach unten. Im Gleitflug oder langsamen Ruderflug wirkt sie sehr groß und breitflügelig, mit kräftigem Rumpf und großem Kopf. Die Flügel sind sehr spitz, bei hoher Fluggeschwindigkeit ähnelt das Flugbild daher eher dem eines großen Falken als dem einer Möwe. Prachtkleid Die Spatelraubmöwe ist farblich recht variabel und zeigt im Prachtkleid zwei Farbmorphen. Bei beiden Morphen ist im Prachtkleid das mittlere Steuerfederpaar stark verlängert. Diese Steuerfedern überragen den übrigen Schwanz um circa 5,5 bis 11,0 cm, sind leicht gedreht und am Ende spatelförmig (Name!). Der Schnabel ist bei beiden Morphen im Prachtkleid rosa mit scharf abgesetzter schwarzer Spitze, die Beine sind bleigrau. Bei der hellen Morphe sind Bauch, Brust und Hals leuchtend weiß; das Weiß von Hals und Brust ist dabei durch ein dunkles Brustband getrennt. Der hintere Oberkopf ist schwarz, diese schwarze Zeichnung dehnt sich nach vorn aus und endet dort erst unterhalb des Auges und unter dem Schnabel. Die Kopfseiten sind hellgelb. Die übrige Unterseite und die gesamte Oberseite sind fast einfarbig dunkelgraubraun. Nur die Basis sowie die Kiele der Handschwingen sind weiß, hierdurch zeigt der Handflügel im Flug oberseits eine schmale weiße Aufhellung, unterseits ein großes weißlich-graues Feld, das von den Basen der Handschwingen etwa bis zu deren Mitte reicht. Die seltenere dunkle Morphe ist im Prachtkleid fast einfarbig schwarzbraun. Der Unterflügel sowie die Unter- und Oberschwanzdecken sind auf weißlich grauem Grund schmal dunkel gebändert. Die Schwingen sind auf der Unterseite etwas heller grau als die Unterflügeldecken und die Handschwingen zeigen die gleichen hellen Felder wie die helle Morphe. Der Anteil der dunklen Morphe in den Brutpopulationen schwankt mit der geographischen Verbreitung zwischen 1 und 15 %. In den nearktischen Brutgebieten scheint der Anteil dunkler Vögel etwas geringer zu sein als in den paläarktischen und überschreitet in den Einzelpopulationen selten 10 %. Ruhekleid Das Ruhekleid unterscheidet sich nur unwesentlich vom Prachtkleid. Auffallendster Unterschied ist bei der hellen Morphe das fehlende Gelb an den Kopfseiten, die stattdessen auf weißlichem Grund dunkel gebändert sind. Bei beiden Morphen ist außerdem ein Teil der Schulterfedern und der Federn des vorderen Rückens schmal hell gerandet. Jugendkleid Vögel im Jugendkleid lassen sich nur grob den beiden Farbmorphen zuordnen. Die hellsten Vögel sind mittelgraubraun, die meisten Vögel sind jedoch dunkler graubraun; schwimmende Vögel wirken auf große Entfernung im Jugendkleid fast einfarbig dunkelgraubraun. Der Schnabel ist hellblaugrau mit scharf abgesetzter, schwarzer Spitze. Die Unterschwanzdecken sind auf gelblichem bis fast weißem Grund kräftig und scharf abgesetzt dunkelbraun quer gebändert. Aus näherer Distanz erscheinen Kopf und Hals schwimmender Vögel einfarbig dunkelgraubraun, wobei die Regionen um die Augen am dunkelsten gefärbt sind. Die übrige Oberseite ist ebenfalls dunkelgraubraun, aber die Deckfedern sind schwach hellbraun gerandet. Diese hellen Ränder sind auf den großen Armdecken und den Schirmfedern oft kaum noch erkennbar. Die Handschwingenspitzen zeigen keinen hellen Rand. Der obere Rücken, Brust und Flanken sind etwas heller braun, Brust und Flanken sind fein dunkel gebändert. Im Gleitflug wirken Vögel im Jugendkleid oberseits fast einfarbig dunkelbraun, die helle Handschwingenbasis ist nur auf den äußersten Handschwingen erkennbar und wenig auffällig. Nur bei zur Landung ausgebreiteten Flügeln sind oberseits die hellen Basen und die weißen Kiele bei allen Handschwingen sichtbar. Die Unterseite der Flügel ist deutlich heller und im Vergleich zur Oberseite auffallend kontrastreich. Die Handschwingen sind wie bei ausgefärbten Vögeln von der Basis bis etwa zur halben Länge einfarbig weißlich grau, außerdem ist zum Flügelbug hin ein weiteres, oft wenig auffallendes und schwer zu sehendes, schmales, weißliches Band auf den Unterhanddecken vorhanden. Die Unterflügeldecken sind ansonsten wie die Unterschwanzdecken auf weißlichem Grund kräftig dunkel gebändert. Der Schwanz ist leicht keilförmig, die mittleren Steuerfedern ragen maximal nur 1–2 cm über den übrigen Schwanz hinaus und sind an den Enden gerundet. Die Beine sind hell blaugrau; die Zehen und Schwimmhäute schwarzgrau. Spatelraubmöwen sind nach 3 Jahren ausgefärbt. Vögel der hellen Morphe zeigen ab dem zweiten Kalenderjahr einen stark aufgehellten Bauch, einen dunklen Oberkopf und diffus gelbliche Kopfseiten. Verwechslungsmöglichkeiten Ausgefärbte (adulte) Spatelraubmöwen im Prachtkleid sind unter anderem durch die spatelförmigen Enden der mittleren Steuerfedern, das dunkle Brustband und die bis unter den Schnabel ausgedehnte Schwarzzeichnung am Kopf gut von den anderen Raubmöwen zu unterscheiden. Die sichere Bestimmung von Vögeln im Jugendkleid stellt eines der schwierigen Probleme der Feldornithologie in Mitteleuropa dar und ist nur unter sehr guten Bedingungen oder bei sehr viel Erfahrung mit den anderen Raubmöwenarten möglich. Juvenile Spatelraubmöwen unterscheiden sich von allen anderen Raubmöwen durch die Kombination aus fast immer einfarbig dunkelbraungrauem Kopf und Hals, hellblaugrauem Schnabel mit scharf abgesetzter schwarzer Spitze, fein hell-dunkel gebänderter Brust und Bauch, kräftig und scharf abgesetzter Bänderung der Unterschwanzdecken und fast immer fehlenden oder ganz kurzen Schwanzspießen. Außerdem zeigt nur diese Art im aktiven Flug ein weißes Band auf den Basen der unteren Handdecken. Die Art ist außerdem schwerer gebaut und größer als Falken- und Schmarotzerraubmöwe; dies ist jedoch auf größere Entfernung bei einem einzelnen Vogel kaum zur Bestimmung nutzbar. Lautäußerungen Wie alle Raubmöwen ist auch diese Art außerhalb der Brutzeit meist stumm. Der Balz-„Gesang“ ist ein einsilbiges Jauchzen, das mit „jau(w)k“ wiedergegeben wird. Dabei streckt der stehende Vogel die Flügel hoch und hebt die Schwanzfedern an. Dieser Ruf wird auch beim Balzflug vorgetragen, dabei werden die Flügel leicht nach oben gehalten, so dass ein leicht v-förmiges Flugbild entsteht. Bei Angriffen auf Nestfeinde werden scharfe, bellende Rufe ausgestoßen, die etwa wie „kek kek kek“ klingen. Alarmrufe am Nest klingen zweisilbig wie „witsch-jü“. Verbreitung und Lebensraum Die Art bewohnt im Sommer große Bereiche der arktischen Tundra rund um den Nordpol. In Eurasien reicht das Verbreitungsgebiet im äußersten Norden von der Halbinsel Kanin im Norden Russlands bis in den Nordosten Sibiriens. In Nordamerika kommt die Art im äußersten Norden Alaskas und Kanadas vor. Die Brutverbreitung reicht in Kanada und in Sibirien bis 76° N und unterschreitet in der Nearktis nur an der Westküste Alaskas und in der kanadischen Hudsonbai den Polarkreis. In Sibirien liegen die südlichsten Vorkommen auf den Kommandeur-Inseln bei 55° N. Die Spatelraubmöwe besiedelt die mehr oder weniger feuchte bis nasse Tundra der sumpfigen Niederungen, vor allem in Küstennähe. Wanderungen Außerhalb der Brutzeit ist die Spatelraubmöwe ein Bewohner der Ozeane. Die Überwinterungsgebiete liegen vor allem in den tropischen Meeren nördlich des Äquators in Bereichen, wo kaltes Tiefenwasser durch Strömungen an die Oberfläche dringt, da diese Bereiche besonders nahrungsreich sind. Dies sind vor allem der Humboldtstrom an der Westküste Südamerikas, der westliche Atlantik zwischen Florida und Venezuela sowie der Benguelastrom, die Südäquatorströmung und ihre Kontaktzone mit dem warmen Guineastrom und dem Kanarenstrom vor der Westküste Afrikas. Kleinere Zahlen überwintern im Indischen Ozean nördlich bis in den Golf von Aden, die Arabische See und den Golf von Oman sowie zwischen Neuguinea und der Südostküste Australiens. Zumindest gelegentliche Winterbeobachtungen liegen darüber hinaus jedoch auch von den übrigen Meeresgebieten im Bereich der Kontinentalsockel von der Westküste Südamerikas und der West- und Ostküste des südlichen Nordamerikas, ganz Afrikas und Europas bis zum südlichen Norwegen sowie ganz Südostasiens und Australiens vor. Der Wegzug von Nichtbrütern beginnt im Juli, von Brutvögeln ab August. Der weit überwiegende Teil der westpaläarktischen Population zieht offenbar an den europäischen Küsten des Nordatlantik bzw. der Nordsee entlang nach Süden in die Winterquartiere vor der westafrikanischen Küste. An der niederländischen Nordseeküste beginnt der Durchzug zögernd Ende Juli und nimmt dann ab Mitte August deutlich zu. Der Hauptdurchzug findet Anfang Oktober bis Mitte November statt; danach klingt der Zug schnell aus. Bis Ende Oktober überwiegen adulte und subadulte Tiere, später dominieren diesjährige Individuen. Der Zug findet hier überwiegend in Küstennähe statt, auf dem offenen Meer wird die Art hier auch zur Zugzeit kaum registriert. An der Ostseeküste wird die Art zur Zugzeit nur selten, im mitteleuropäischen Binnenland sehr selten beobachtet, obwohl ein Teil der Population zumindest im Herbst wohl regelmäßig in breiter Front auch über das östliche Mitteleuropa und Osteuropa zieht. So wurden beispielsweise in Brandenburg und Berlin bis 2004 nur 16 Individuen nachgewiesen (davon 15 von Juli bis November, eins im März), in der Schweiz von 1950–1996 49 Individuen; hier ausnahmslos auf dem Wegzug von August bis Dezember, mit einer deutlichen Häufung im Oktober und November. Die geringe Zahl sicherer Nachweise ist allerdings auch durch die großen Bestimmungsschwierigkeiten im Freiland bedingt, so wurden in der Schweiz im oben genannten Zeitraum 845 Raubmöwen beobachtet, die nicht auf Artniveau bestimmt werden konnten. Der Heimzug beginnt Anfang bis Mitte April, der Hauptzug findet im Mai statt. Die Brutgebiete werden Mitte Mai bis Anfang Juni erreicht. Der Heimzug findet offenbar noch stärker konzentriert als der Wegzug über dem Meer statt, Binnenlandbeobachtungen im Frühjahr sind daher in Mitteleuropa extrem selten (s. o.). Großbritannien wird vor allem an der Westseite passiert, der weitere Zug erfolgt entlang der Küste Norwegens bis zum Nordkap und dann nach Osten zu den Brutgebieten. Ernährung Wie bei allen Raubmöwen ist auch das Nahrungsspektrum der Spatelraubmöwe sehr breit und umfasst Kleinsäuger, Vögel, Fische, Insekten, Krebstiere, Mollusken und Aas. Im größten Teil der Brutgebiete ist die Art jedoch auf Lemminge angewiesen – in erster Linie auf Sibirische Lemminge (Lemmus sibiricus). Daneben werden im Brutgebiet auch Halsbandlemminge (Gattung Dicrostonyx), Feld- und Rötelmäuse, Vogeleier und Küken sowie Insekten verzehrt. Die Spatelraubmöwe hat spezielle Jagdtechniken zur Erbeutung von Lemmingen entwickelt; diese werden im Frühjahr bei noch völlig gefrorenem Boden vom Ansitz oder aus dem Rüttelflug erbeutet, später werden die flach verlaufenden Röhren und Baue mit dem Schnabel aufgegraben. Nichtbrütende Übersommerer halten sich in Lemmingjahren ebenfalls in der Tundra auf und leben dort dann ebenfalls fast ausschließlich von Lemmingen. Sonst sind sie vor allem in Küstennähe zu finden und fressen dort selbst gefangene Fische, Aas oder ernähren sich kleptoparasitisch. Hauptopfer sind dabei Dreizehenmöwen und Küstenseeschwalben, aber auch große Möwen bis hin zur Eismöwe, die solange attackiert werden, bis sie ihre Beute fallen lassen oder im Flug wieder hervorwürgen. Auf dem Zug und im Winterquartier folgt die Art häufig Fischtrawlern, um den über Bord geworfenen Beifang zu nutzen, oder parasitiert dort andere Seevögel. Sie fängt hier aber wohl überwiegend selbst Fische, in den Tropen vor allem Fliegende Fische (Familie Exocoetidae), und begleitet daher häufig Delfine oder in Schwärmen jagende große Raubfische wie Thunfische. Im Brutgebiet werden gelegentlich auch adulte Vögel erbeutet, vor allem kleine Limikolen wie zum Beispiel Wassertreter, auf dem Zug aber auch größere Vögel, vor allem Lachmöwen, die meist ertränkt werden. Fortpflanzung Das Nest ist meist eine einfache, etwa 5 cm tief in den Torf gekratzte Mulde mit einem Durchmesser von ungefähr 25 cm. Während der Bebrütung wird diese Mulde häufig mit trockenem Gras oder Laub ausgelegt. Die Eiablage erfolgt ab Anfang oder Mitte Juni bis Mitte Juli. Das Gelege besteht meist aus 2 Eiern, seltener wird nur ein Ei gelegt. In Alaska wurde zum Beispiel in 261 Nestern 13 mal (5,0 %) ein Ei gefunden, in allen anderen Nestern zwei Eier. Eier aus Nordamerika maßen im Mittel 62,0 × 44,0 mm, Eier aus Sibirien im Mittel 63,8 × 44,7 mm. Die Grundfarbe der Eier ist variabel hellbraun oder gelblich bis zu dunkel olivgrün oder dunkelbraun. Auf diesem Grund sind die Eier stark variierend grau bis grauviolett gefleckt und zeigen zusätzlich oft noch eine fast schwarze Linien- oder Schnörkelzeichnung. Die Brutdauer beträgt 25–27 Tage, in Alaska betrug sie im Mittel 26 Tage. Das Daunenkleid der nestjungen Vögel ist einfarbig dunkelbraun oder braungrau. Die Jungvögel sind nach 28–34 Tagen flügge und werden dann noch etwa 14 Tage lang von den Eltern geführt. Das Nest wird gegen Raubfeinde wie den Eisfuchs von beiden Partnern vehement verteidigt. Menschen werden frontal und in Kopfhöhe angegriffen, unmittelbar vor dem Kontakt drehen die Vögel jedoch ab, so dass der Kopf meist, wenn überhaupt, nur mit den Füßen oder den Flügelspitzen berührt wird. Siedlungsdichte Infolge ihrer Abhängigkeit von der Häufigkeit der Hauptbeute Lemminge schwankt die Siedlungsdichte der Spatelraubmöwe in einzelnen Gebieten von Jahr zu Jahr enorm. In mehreren Kontrollgebieten in Alaska betrug die Dichte auf dem Höhepunkt einer Lemminggradation 7,9 Brutpaare/km², in Lemminglatenzjahren nur 0,05 BP/km², schwankte also um mehr als das Hundertfache. Lebenserwartung und Sterblichkeit Bisher liegen zum maximalen Alter und zur Sterblichkeit nach dem Flüggewerden keine Angaben vor. Auch Wiederfunde beringter Vögel gibt es bisher offenbar nicht. Systematik Die systematische Stellung der Spatelraubmöwe innerhalb der Familie der Raubmöwen wurde zeitweise kontrovers diskutiert. Das Taxon der Raubmöwen wurde häufig in zwei Gattungen aufgeteilt: Stercorarius mit den drei Arten Spatel-, Schmarotzer- und Falkenraubmöwe und Catharacta mit der Skua und den je nach systematischer Auffassung des Autors 1 bis 5 Skua-Arten der Antarktis. Andersson wies jedoch schon 1973 darauf hin, dass das Verhalten der Spatelraubmöwe dem der Skua wesentlich ähnlicher ist als jenem von Schmarotzer- und Falkenraubmöwe. Cohen et al. stellten 1997 anhand von Untersuchungen der mtDNA und bestimmter Ektoparasiten die Monophylie der beiden Gattungen erneut in Frage, da nach ihren Ergebnissen die Spatelraubmöwe der Skua wesentlich näher stand als den beiden anderen Arten der Gattung Stercorarius und die Skua ihrerseits der Spatelraubmöwe näher als den anderen Arten der Gattung Catharacta. Braun & Brumfield analysierten die Daten von Cohen et al. erneut und kamen zu dem Schluss, dass die Ergebnisse einer Monophylie der Gattung Catharacta in der bisherigen Zusammensetzung nicht widersprechen, die Spatelraubmöwe jedoch das Schwestertaxon der Gattung Catharacta darstellt. Andersson bestätigte diese Stellung als Schwestertaxon erneut auch anhand von Verhaltensmerkmalen und wies darauf hin, dass damit entweder, bei Beibehaltung der Gattung Catharacta, die Spatelraubmöwe zu dieser Gattung gestellt oder aber die Gattung Catharacta aufgelöst und wieder mit Stercorarius vereint werden müsste. In der neueren Literatur hat sich Anderssons zweiter Vorschlag durchgesetzt (Auflösung der Gattung Catharacta und Vereinigung mit Stercorarius), so dass die Familie der Raubmöwen heute nur noch eine Gattung Stercorarius enthält. Glutz von Blotzheim & Bauer hatten die Aufteilung der Familie in zwei Gattungen schon 1982 unter anderem unter Verweis auf Anderssons Arbeit von 1973 (s. o.) abgelehnt. Für die Spatelraubmöwe wurden bisher keine Unterarten beschrieben. Bestandsentwicklung und Gefährdung Belastbare Angaben zur Bestandsgröße und zur Bestandsentwicklung liegen nicht vor; die IUCN gibt als grobe Schätzung für den Bestand 50.000 bis 100.000 Individuen an. Hinweise auf eine Bedrohung gibt es nicht, die Art wird daher als ungefährdet („least concern“) betrachtet. Quellen Literatur Klaus Malling Olsen & Hans Larsson: Skuas and Jaegers. Pica, East Sussex, 1997. ISBN 1-873403-46-1 Urs N. Glutz von Blotzheim & Kurt M. Bauer: Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 8/I: Charadriiformes. 3. Teil: Schnepfen-, Möwen- und Alkenvögel. Aula, Wiesbaden 1999, ISBN 3-923527-00-4. R. Haven Wiley & David S. Lee: Pomarine Jaeger (Stercorarius pomarinus). In: The Birds of North America, No. 483 (A. Poole and F. Gill, eds.). The Birds of North America, Inc., Philadelphia, PA. Issue 483. (BNA) Lars Svensson, Peter J. Grant, Killian Mullarney, Dan Zetterström: Der neue Kosmos Vogelführer. Kosmos, Stuttgart 1999, ISBN 3-440-07720-9. Weblinks Federn der Spatelraubmöwe Einzelnachweise Regenpfeiferartige
880922
https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%A4chsische%20X%20V
Sächsische X V
Die Lokomotiven der Gattung X der Königlich Sächsischen Staatseisenbahnen waren Schnellzug-Schlepptenderlokomotiven der Bauart Atlantic. Die einst als „Paukenschlag der Moderne“ wahrgenommenen Lokomotiven führten zu einem Entwicklungsschub bei der Konstruktion schnellfahrender Dampflokomotiven in Deutschland. Die Gattung X V gilt als erste Vierzylinder-Verbundlokomotive dieser Bauart in Deutschland. Wichtigstes Einsatzgebiet waren die Schnellzugverbindungen auf den Hauptbahnen Leipzig–Dresden–Bodenbach und Leipzig–Hof. Die Deutsche Reichsbahn ordnete die Lokomotiven noch in die Baureihe 14.2 ein, musterte sie jedoch schon bis 1926 vollständig aus. Geschichte Die ab den 1890er Jahren eingesetzten Lokomotiven der Gattungen VIb V, VIII 2 und VIII V 1 waren für ihre Zeit ausreichend leistungsfähig. Es war jedoch absehbar, dass die Zuglasten weiter steigen würden. Um einem Lokmangel vorzubeugen, bemühten sich die Königlich Sächsischen Staatseisenbahnen schon frühzeitig um eine Neukonstruktion. Das vom Leiter des Maschinentechnischen Bureaus in der Generaldirektion der Staatsbahn Ewald Richard Klien aufgestellte Leistungsprogramm sah vor, den damals schwersten Zug der Königlich Sächsischen Staatseisenbahnen, den 385 Tonnen schweren Hofzug des sächsischen Königs, auf der Bahnstrecke Leipzig–Dresden ohne Halt mit 100 Kilometer pro Stunde zu befördern. Die dazu erforderliche Leistung wurde auf rund 1300 PS geschätzt. Diese Forderung war nur unter Rückgriff auf die damals modernsten Entwicklungen zu erfüllen. Vor allem das von Alfred de Glehn bei der Elsässischen Maschinenbau-Gesellschaft Grafenstaden entwickelte Triebwerk versprach mit seiner Vierzylinder-Verbundausführung einen guten Entwicklungsansatz. Außerdem vermutete die Staatsbahnverwaltung, dass eine Zweizylindermaschine den zu erwartenden Kräften nicht unbeschadet standhalten würde. Die Sächsische Maschinenfabrik vormals Richard Hartmann in Chemnitz als Hauslieferant der Kgl. Sächsischen Staatseisenbahnen verhandelte deshalb mit dem elsässischen Unternehmen, um dessen Patente nutzen zu können. Damit versuchte man eigene Entwicklungskosten zu sparen und die Risiken bei der Konstruktion der Lokomotive zu minimieren. Zeitgleich mit den Chemnitzern wurde auch im Elsass eine ähnliche Verbundlokomotive mit der Achsfolge 2'B1' entwickelt und gebaut. Diese für die französische Compagnie des chemins de fer du Nord vorgesehene Maschine erhielt die Nr. 2.641. Auf der Weltausstellung im Sommer 1900 in Paris wurden die von der Sächsischen Maschinenfabrik hergestellte Lokomotive mit der späteren Bahnnummer 175 (Fabriknummer 2600) und die französische „Schwester“ mit der Nummer 2.642 ausgestellt. Beide erhielten die Goldmedaille des Grand Prix. Mit der Neuentwicklung brach die eingetretene Erstarrung beim Bau von Lokomotiven für schwere und schnelle Reisezüge auf. Das Erscheinungsbild im Schnellzugverkehr änderte sich durch die neuen Lokomotiven in den nächsten zehn Jahren grundlegend. Ähnliche Maschinen wurden 1902 bis 1906 von der Elsässischen Maschinenbau-Gesellschaft als Gattung S 7 an die Preußischen Staatsbahnen geliefert. Die von der Maschinenfabrik erhofften Aufträge von außerhalb Sachsens blieben aus. Die Kgl. Sächsischen Staatseisenbahnen erwarben die Lokomotive und eine weitere baugleiche mit der späteren Bahnnummer 176 (Fabriknummer 2492) zum Stückpreis von 81.431 Goldmark. Der Tender kostete 15.037 Goldmark das Stück. Nach Beendigung der Weltausstellung wurden die Lokomotiven einem Erprobungsprogramm auf den Strecken Leipzig–Dresden sowie Leipzig–Hof unterzogen. Bei Zugmassen von 100 bis 110 Tonnen erreichten die Maschinen eine Höchstgeschwindigkeit von 125 Kilometern pro Stunde. Bei optimalem Dampfverbrauch erreichten die Lokomotiven eine Leistung von 1180 PS. Der Eigenverbrauch der Lokomotive lag bei 485 PS. Damit war es möglich, einen 325 Tonnen schweren Zug zu befördern. Kurzzeitig konnten Leistungen bis zu 1350 PS erreicht werden. Die Bauart prädestinierte die Lokomotiven für den Schnellzugverkehr auf den Flachlandstrecken. Nach dem Ende der Erprobung wurden die Lokomotiven dem Heizhaus Leipzig Dresdner Bf zugeteilt. Die guten Ergebnisse veranlasste die Staatseisenbahn weitere Lokomotiven nachzubestellen. Die im November und Dezember 1902 zum Stückpreis von 76.282 Mark gelieferten Maschinen mit den Bahnnummern 183 bis 189 (Fabrik-Nr. 2753 bis 2759) wurden in den Heizhäusern Dresden-Altstadt II und Leipzig Dresdner Bf stationiert. Von dort kamen sie auf der Strecke Dresden-Bodenbach sowie zwischen Leipzig und Dresden zum Einsatz. Die im Februar 1903 angelieferten Lokomotiven Nummer 190 bis 192 (Stückpreis von 71.821 Mark) wurden im Heizhaus Hof Sächsischer Bf stationiert und fuhren auf der Strecke zwischen Hof und Leipzig. Die 165 Kilometer lange Strecke konnte mit einem Wasserhalt bewältigt werden. Nach einem Umbau 1903 wurden auch die Lokomotiven 175 und 176, danach als 181 und 182 nummeriert, auf dieser Strecke eingesetzt. Die im Februar und April 1903 zum Preis von 71.842 Mark gelieferten Lokomotiven wurden wiederum in Dresden beheimatet. Mit der Beheimatung von Lokomotiven der Gattung XII H in Hof 1906 verlegte man die Hofer X V zum Heizhaus Dresden-Altstadt II. Die Unterhaltung der Maschinen erfolgte während ihrer gesamten Lebenszeit in der Werkstätte Dresden-Friedrichstadt. Auch nach Aufkommen der X H1 wurden die Lokomotiven weiterhin auf der Relation Leipzig–Dresden–Bodenbach eingesetzt. Mit der Eröffnung des Leipziger Hauptbahnhofes wurde Leipzig Hbf Süd neues Heimat-Heizhaus der Leipziger Maschinen. Ab 1916 war die Höchstgeschwindigkeit auf 100 km/h reduziert. Die Lokomotiven waren jetzt vor allem auch im Personenzugdienst auf den Strecken Leipzig–Döbeln–Dresden, Dresden–Röderau und Dresden–Zittau/Görlitz zu finden. 1918 begann man einige Lokomotiven in Zittau zu beheimaten. Damit wurden die Personen- und Eilzüge nach Bischofswerda, Löbau und Görlitz transportiert. Diese Einsätze dauerten bis 1924. Die Deutsche Reichsbahn übernahm nach 1920 noch alle 15 Maschinen und gab ihnen ab 1925 die neuen Nummern 14 201–215. Der Lokomotivmangel auf Grund der Lokomotivabgaben infolge des Versailler Vertrages verhinderte eine rasche Ausmusterung der nunmehr schon technisch überalterten Maschinen. Erst 1923 stellte man die ersten Fahrzeuge ab. Im Oktober 1925 waren fünf Lokomotiven im Bahnbetriebswerk Dresden-Altstadt (Heizhaus I und II), drei jeweils im Bahnbetriebswerk Riesa und Bahnbetriebswerk Leipzig Hbf Süd und zwei im Bahnbetriebswerk Leipzig Bay. Bf. beheimatet. Zwei Lokomotiven waren bereits ausgemustert. Letzte Einsätze der Lokomotiven erfolgten im Nahverkehr von Leipzig nach Geithain, Frohburg, Meuselwitz, Altenburg oder Reichenbach. Außerdem befuhren die Lokomotiven mit Personen- und Eilgüterzügen die Strecke Leipzig–Döbeln–Dresden. Im September 1926 wurde die Lokomotive 14 213 (früher Nr. 193) als letzte Maschine der Gattung X V ausgemustert und verschrottet. Technische Merkmale Rahmen und Fahrwerk Der Rahmen der Lokomotiven bestand aus 30 Millimeter starkem Blech und war innenliegend. Um das Innentriebwerk unterzubringen, war er im Bereich des vorderen Drehgestelles nach außen gekröpft. Damit wurde eine lichte Weite von 1380 statt 1200 Millimetern erreicht. Das führende Drehgestell entsprach der bereits in Preußen entwickelten Bauart Erfurt, wie es auch schon bei der VIII V 1 genutzt wurde. Die Radsätze mit einem Raddurchmesser von 1045 Millimetern hatten einen Achsabstand von 2,15 Metern. Die Seitenverschiebbarkeit betrug 40 Millimeter. Der Rahmen bestand aus 22 Millimeter starken Blechen, die einen Abstand von 940 Millimetern hatten. Als Abstützung diente eine Kugelpfanne unterhalb des Innenzylindergussstückes. Die Abfederung zum Rahmen erfolgte durch eine Wiege mit vier Pendeln. Die einzelnen Radsätze des Drehgestelles waren durch über den Achsen liegenden Tragfedern abgefedert. Die als Adamsachse konstruierte Schleppachse hatte bei den Prototypen einen Abstand von 2,55 Metern zur hinteren Kuppelachse. Der seitliche Verschub betrug nach jeder Seite 25 Millimeter. Der Radsatz hatte einen Durchmesser von 1065 Millimeter. Die Abfederung erfolgte mit unter der Achse liegenden Querfedern. Die Kuppelradsätze hatten den in Preußen üblichen Durchmesser von 1980 Millimetern und waren fest im Rahmen gelagert. Zur Federung dienten unterhalb der Achsen liegende Blattfedern, die mit verstellbaren Ausgleichshebeln verbunden waren. Um das Aufsteigen der Lokomotiven beim Anfahren zu reduzieren wurde ab der Bauserie 1902 die Schleppachse um 200 Millimeter nach hinten verlegt, sowie Räder mit einem Durchmesser von 1240 Millimeter benutzt. Statt der Querfedern setzte man nun Längsfedern ein. Kessel Bei der Konstruktion des Kessels lehnte sich die Sächsische Maschinenfabrik an die Vorgängergattung VIII V 1 an. Der Belpaire-Stehkessel besaß eine ebene Stehkesseldecke und reicht hinter der zweiten Kuppelachse weit zwischen den Rahmenwangen nach unten. Der Rost war eben angeordnet. Gegenüber der VIII V 1 war die Rostfläche fast identisch, jedoch erhöhte man den Kesseldruck von 13 bar auf 15 bar und vergrößerte die Heizfläche der kupfernen Feuerbüchse. Die Wand zu den Heizrohren war 30 Millimeter stark. Die Feuertür wurde in der Bauart Untiedt mit verschließbaren Luftschlitzen ausgeführt. Der Langkessel bestand aus drei Schüssen. Der Kessel hatte eine Wandstärke von 17 Millimetern. Die Länge zwischen den Rohrwänden betrug 4,70 Meter. In den vorderen Kesselschuss war die 28 Millimeter starke Rauchkammerrohrwand eingenietet. Die Rauchkammer selbst war aufgesteckt und vernietet. Die Tür der Rauchkammer verfügte über einen Zentralverschluss mit vier Anreibern. Der Funkenfänger war als schräge Platte in der Rauchkammer ausgeführt. Der Dampfdom saß auf dem vorderen Kesselschuss. Der Flachregler zur Dampfentnahme war in den Dom integriert. Zur Dampftrocknung war zwischen Stehkessel und Dom ein geschlitztes Dampfsammelrohr angeordnet. Die Kesselspeisung erfolgte mittels zweier nichtsaugender Friedmann-Restarting-Injektoren SZ9 links und rechts des Führerhauses sowie einer saugenden Friedmann-Strahlpumpe BY Nr. 6 im Führerhaus auf der Heizerseite. Die Kesselspeiseventile befanden sich in der Mitte des zweiten Kesselschusses. Der Kontrolle des Wasserstandes dienten ein Schauglas auf der Heizerseite und Probierhähne auf der Lokführerseite. Dampfpfeife und die Pop-Sicherheitsventile waren im Führerhaus vorn in der Windschneide untergebracht. Der Dampf wird über ein Hosenrohr in der Rauchkammer und weitere Rohre unterhalb des Umlaufbleches zu den Zylindern geleitet. Bei der Bauserie 1902 bestand der Kessel aus vier Schüssen. Durch die vierschüssige Ausführung mussten die Rauchrohre verringert werden. Dies hatte eine kleinere Heizfläche zur Folge. Größere Veränderungen erfolgten im Bereich des Stehkessels. Die Rostfläche wurde verkleinert und leicht nach vorn geneigt. Außerdem wurde der vordere Teil zur Arbeitserleichterung als Kipprost ausgeführt. Die Wand zur Rauchkammer wurde auf 26 Millimeter verringert. Bei der Bauserie 1903 wurde die Rauchkammer auf 1850 Millimeter verlängert um das Löschefallrohr an den inneren Zylindern günstiger vorbeiführen zu können. Der Stehkessel wurde komplett aus Blechen mit einer Stärke von 17 Millimetern gefertigt. Triebwerk Die Dampfmaschine war als Vierzylinder-Verbundtriebwerk der Bauart de Glehn ausgeführt. Bei dieser Ausführung trieben die außen liegenden Hochdruckzylinder die zweite Kuppelachse, die innen liegenden Niederdruckzylinder die erste Kuppelachse an. Alle Zylinder waren waagerecht und auf Höhe der Treibradachsmitte angeordnet. Die Steuerung der Dampfmaschine erfolgte getrennt über eine Heusinger-Steuerung für die Außenzylinder und eine Joy-Steuerung für die Innenzylinder. Grund für den Einbau der ungenaueren Joy-Steuerung war der Verzicht auf den Steuerungsexcenter auf der Kropfachse sowie die Vergrößerung des Platzes für Wartungsarbeiten. Im Führerhaus war für die Innenzylinder ein Steuerbock mit Handrad und für die Außenzylinder ein Händel angeordnet. Diese konnten getrennt oder gemeinsam betätigt werden. Dies hatte zur Folge, dass zwei separate Steuerstangen notwendig waren. Alle Zylinder waren mit entlasteten Flachschiebern mit Trickkanal für eine doppelte Einströmung ausgestattet. Die Anfahrvorrichtung war von der Bauart Lindner. Die Schmierung von Schieber und Zylinder erfolgte mit Friedmann-Schmierpressen. Bremsen, Ausstattung Zur Abbremsung von Lokomotive und Wagenzug besaßen die Lokomotiven eine Westinghouse-Druckluftbremse. Die Bremssohlen waren beim Drehgestell innen, bei den Treibrädern vorn und bei den Tendern innen angeordnet. Bei den beiden Prototypen war die Luftpumpe rechts vor dem Führerhaus, bei allen anderen Lokomotiven links angebaut. Der Abdampf wurde über ein Rohr in die Rauchkammer geleitet. Die drei Bremszylinder waren hinter der zweiten Treibachse beidseitig am Rahmen (für die Treibräder) und für das Drehgestell zwischen den Hochdruckzylinder angebracht. Die Haupt- und Hilfsluftbehälter waren zwischen den Rahmenwangen angeordnet. Zum Sanden wurde ein Druckluftsandstreuer angebaut, der die Treibräder von vorn sandete. Die Lokomotiven besaßen ein sogenanntes Windschneidenführerhaus, das heißt, dass die Frontseite des Führerhauses in einer Spitze zuläuft. Die Aufstiegsleiter war zweigeteilt um auch bei abgekuppelten Tender den Aufstieg zu ermöglichen. Insgesamt war das Führerhaus 2,7 Meter breit. Ab der Bauserie 1902 war das Führerhaus 3,12 Meter breit. Der Kessel, die Zylinderseiten, Luftpumpe, Dome, Sandkästen, Leitungen, Handstangen, Führerhaus und Tenderaufbau erhielten die in Sachsen übliche dunkelgrüne Nitrolackierung. Rauchkammer, Umlaufoberfläche, Schornstein und weitere Flächen waren in schwarz gehalten. Der Lokomotivrahmen, die Radkörper, die Seitenlinie der Umlaufbleche, Pufferträger, Tenderrahmen und -räder waren braunrot. Die Beschilderung der Lokomotive bestand aus Messingtafeln. Bei der Umzeichnung durch die Deutsche Reichsbahn erhielten die Maschinen keine neuen Nummerntafeln. Die neuen Betriebsnummern wurden nur noch aufgemalt. Tender Bei der Konstruktion des Tenders für die X V orientierte man sich an den schon in Preußen verwendeten Drehgestell-Tendern. Der Rahmen des Tenders bestand aus zwei 300 Millimeter hohen und 16 Millimeter beziehungsweise 10 Millimeter starken U-Eisen, die an der Stoß- und Pufferbohle sowie an drei weiteren Punkten miteinander verbunden waren. Zur Abstützung neben den Drehbolzen der Drehgestelle dienten vier seitliche Gleitlager. Der Wasserkasten war im unteren Teil rechteckig. Der obere Teil war hufeneisenförmig. In der Mitte besaß er eine nach vorn abfallende Decke. Die Seitenwände waren nach oben verlängert, um den Kohlenraum zu schaffen. Die Entnahmeöffnung hatte eine Breite von 800 Millimetern. Die Wassereinfüllluke befand sich quer vor dem hinteren Ende. Bei den Drehgestellen wurde die Konstruktion des preußischen Vorbildes übernommen. Die Federung erfolgte durch über den Achsen liegende Blattfedern. Zusätzlich zur Druckluftbremse hatte der Tender eine Extersche Wurfhebelbremse an der Heizerseite des Tenders. Ab der Bauserie 1902 wurde die Bauweise vereinfacht. Dadurch konnte das Leergewicht um 1,4 Tonnen auf 18,5 Tonnen gesenkt werden. Durch eine leicht niedrigere und längere Konstruktion ergab sich eine leicht gestrecktere Ausführung. Die Bauserie 1903 erhielt einen Tender mit einem Fassungsvermögen von 19,5 Tonnen Wasser. Dies konnte durch die Verbreiterung des Wagenkastens erreicht werden. Außerdem setzte man kleinere Räder ein. Der Bau von Tender der Bauart 2'2' T 21, also mit einem Fassungsvermögen von 21 Tonnen, für die X V ist nicht nachweisbar. Die Lokomotive wurde jedoch mit diesem Tender gekuppelt. Kupplungen mit anderen Tendern wurden im Grundbuch von 1916 genannt, sind jedoch nicht erfolgt. Umbauten Wie viele andere Lokomotiven wurden auch die X V im Laufe ihres Betriebes umgebaut. Zuerst waren die Prototypen Nr. 175 und 176 von Umbaumaßnahmen betroffen. Im Jahre 1903 passte man sie weitgehend an die Bauserie 1902 an. So wurden die Schleppachse um 0,2 Meter nach hinten verlegt, die Räder auf 1,240 Meter vergrößert und Längsfedern eingebaut. Außerdem wurde die doppelte Steuerstange entfernt. Zu einem späteren Zeitpunkt erhielten die Tender größere Achslager. Die Lokomotiven der Bauserie 1902 wurden im Laufe der Einsatzzeit an die Bauserie 1903 mit verlängerter Rauchkammer angeglichen. Um das Anfahren der Lokomotiven zu verbessern, wurden im Zeitraum zwischen 1913 und 1918 verschiedene Verbesserungen der Sandungsanlage erprobt. Die 189 erhielt einen vergrößerten Sandkasten, die 191 zusätzliche Druckluftdüsen und die 194 eine zusätzliche mechanische Sandstreuanlage Bauart von Helmholtz. Weitere Umbauten einzelner Lokomotiven betrafen die Anbringung der Loklaternen und den Einsatz von Gas als Leuchtmittel sowie die Änderung der Führerhausaufstiege auf eine einteilige Bauart. 1924 erhielt die Lok Nr. 193 einen Knorr-Oberflächenvorwärmer der Bauart Fahdt. Dabei wurde Vorwärmer und Pumpe auf der linken Seite angebracht. Dafür musste die Luftpumpe auf die rechte Seite umgesetzt werden. Gleichzeitig konnten zwei Strahlpumpen entfallen. Fahrzeugliste Literatur Jürgen U. Ebel: Sächsische Schnellzuglokomotiven. Band 1, Eisenbahn-Kurier, Freiburg in Breisgau 1997, ISBN 3-88255-117-8. Dietrich Kutschik, Fritz Näbrich, Günther Meyer, Reiner Preuß: Deutsches Lok-Archiv: Lokomotiven sächsischer Eisenbahnen 1. 2. bearbeitete und erweiterte Auflage. transpress, Berlin 1995, ISBN 3-344-71009-5. Manfred Weisbrod, Hans Müller, Wolfgang Petznick: Deutsches Lok-Archiv: Dampflokomotiven 1 (Baureihen 01–39). transpress, Berlin 1993, ISBN 3-344-70768-X. Erich Preuß, Reiner Preuß: Sächsische Staatseisenbahnen. transpress, Berlin 1991, ISBN 3-344-70700-0. Günther Reiche: Richard Hartmann und seine Lokomotiven. Oberbaumverlag, Berlin/ Chemnitz 1998, ISBN 3-928254-56-1. Weblinks Hans Steffan: 2-B-1 Atlantic Vierzylinder-Verbundlokomotive, Gruppe X V der königl. sächsischen Staatseisenbahnen. In: Die Lokomotive. Wien 1909, S. 113ff. XV Nr. 181 1904 auf der Eisenbahnstiftung Joachim Schmidt Anmerkungen Einzelnachweise Dampflokomotive Achsfolge 2B1 10 V Schienenfahrzeug (Sächsische Maschinenfabrik)
889660
https://de.wikipedia.org/wiki/Schleimaale
Schleimaale
Schleimaale oder Inger (Myxinidae) sind eine Familie der Wirbeltiere, die zusammen mit den Neunaugen (Petromyzontida) die rezenten Vertreter der kieferlosen Rundmäuler (Cyclostomata) darstellen. Um die 82 Arten sind bekannt. Schleimaale kommen an allen Meeresküsten in Tiefen von 30 bis 2000 m vor. Merkmale Äußere Morphologie Schleimaale erreichen normalerweise eine Körperlänge von 35 bis 60 cm. Kleinere Arten sind dabei die zwei Eptatretus-Arten vor den Küsten Taiwans mit 20 bis 30 cm Länge sowie Myxine kuoi und Myxine pequenoi, die nicht größer als 18 cm werden. Eptatretus carlhubbsi vor den Küsten Hawaiis und Guams erreicht bis 100 cm. Sie sind wurmförmig lang gestreckt, schuppenlos und normalerweise kaum pigmentiert. Entsprechend variiert ihre Hautfarbe – bedingt durch das unter der Haut liegende Kapillarnetz zur Hautatmung – meistens zwischen weiß und rosa. Einige Arten sind auch dunkelrosa bis rotbraun gefärbt. Der Schwanzabschnitt ist abgeflacht und trägt einen von der Rückenseite zur Bauchseite reichenden Flossensaum, der das Hinterende mit einschließt. Der After liegt direkt vor dem ventralen (bauchseitigen) Flossensaum. Das Vorderende ist vor allem durch die dort befindlichen Tentakel erkennbar. Dabei handelt es sich um drei Paar große Fortsätze sowie ein kleines Paar Lippententakel, die beweglich und sehr tastempfindlich sind. Ebenfalls ganz vorn liegt die Nasenöffnung, während sich der Mund unterhalb des Vorderendes befindet. Die Augen sind aufgrund einer Hautschicht, die sie abdeckt, nicht erkennbar. Ihnen fehlen die Linse und die Regenbogenhaut und entsprechend sind sie in ihrer Funktion stark eingeschränkt. Allerdings besitzen die Schleimaale auf ihrer Haut lichtempfindliche Rezeptoren, so dass sie zumindest Lichtquantitäten wahrnehmen können. Die Hauptsinne sind allerdings der Geruchs- und der Tastsinn. Der Schleim wird von zahlreichen Schleimzellen in der Haut der Tiere gebildet, die über den gesamten Körper verteilt sind. Die Hauptschleimzellen liegen seitlich in zwei Längsreihen leicht bauchwärts unterhalb der Mittellinie. Sie sind bis in die Unterhaut eingesenkt und werden durch eine separate Muskulatur innerhalb der Haut ausgepresst. Die Poren sind deutlich erkennbar, beim nordatlantischen Schleimaal Myxine glutinosa existieren dabei beiderseits mehr als hundert Poren. Anatomie Als basales Taxon der Wirbeltiere besitzen die Schleimaale Skelettelemente, die sich bei ihnen jedoch auf einige knorpelige Strukturen im Kopfbereich sowie Knorpelfäden entlang der zelligen Chorda dorsalis beschränken. Das Gehirn wird fast ausschließlich von Bindegewebe umhüllt und liegt am Hirnstamm auf der beginnenden Chorda auf. Nach vorne geht das Bindegewebe in die knorpelige Nasenkapsel und das Nasenrohr über. Darunter liegend bilden verschiedene spangenartige Knorpel ein rudimentäres Kopfskelett. Besonders auffallend sind Subnasalknorpel unterhalb des Nasenganges sowie der große Zungenknorpel, der für die Nahrungsaufnahme wichtig ist. An einem Gaumenknorpel oberhalb der Mundhöhle befindet sich der Gaumenzahn. Weitere Strukturen sind die Tentakelknorpel, die in die Tentakel reichen, der Hypophysenknorpel unterhalb des Gehirns sowie die Coronoidknorpel seitlich der Mundhöhle. Nach hinten reichen zudem die Velarknorpel zur Stabilisierung der Kiemenspalten. Anstelle eines senkrecht gegliederten Kiefers wie bei den Kiefermäulern (Gnathostomata) besitzen die Schleimaale ein paar horizontal bewegliche Strukturen mit zahnähnlichen Vorsprüngen, um ihre Nahrung abzureißen. Es handelt sich dabei um Hornzähne, die auf dem Vorderende des Zungenknorpels sitzen und einen Raspelapparat bilden. Das zentrale Nervensystem der Schleimaale besteht aus dem Gehirn sowie dem oberhalb der Chorda dorsalis liegenden Rückenmark, welches bei ihnen bandförmig ausgeprägt ist. Letzteres besitzt verschiedene Arten von Motoneuronen und Interneuronen, die – anders als bei den höheren Wirbeltieren – nicht segmental angeordnet sind. Ein weiterer Unterschied besteht in der Ausbildung der Spinalnerven: Die dorsalen und ventralen Äste vereinigen sich erst in der Peripherie und nicht nahe dem Rückenmark wie bei anderen Wirbeltieren. Im Gehirn dominiert das Riechsystem mit einem sehr großen Bulbus olfactorius, während andere Hirnbereiche deutlich kleiner ausgebildet sind. Ein Kleinhirn (Cerebellum) fehlt den Schleimaalen vollständig. Auffällig ist zudem die Reduzierung der Hirnnervenpaare auf sieben; die Hirnnerven III, IV und VI sind nicht vorhanden, da äußere Augenmuskeln fehlen. Die unteren Hirnnerven XI und XII treten erst bei Landwirbeltieren auf. Wie bereits dargestellt, ist das Riechsystem der Schleimaale sehr gut ausgebildet und stellt das zentrale Sinnessystem dar. Ein für die meisten Fische typisches Seitenlinienorgan besitzen Schleimaale nicht; in der Kopfregion der Eptatretus-Arten finden sich jedoch Sinnesorgane, die eine ähnliche Funktion besitzen könnten. Die Tentakel tragen zudem Geschmacksknospen und Mechanorezeptoren. Die Augen nehmen wahrscheinlich ausschließlich Helligkeitsunterschiede wahr; weitere Lichtsinneszellen werden in der Haut der Tiere vermutet. Die Atmung erfolgt über Kiemen, deren Kiemenspalten in Kiementaschen enden. Bei den Myxinidae führen die Kiemenspalten alle zu einer einzigen Öffnung, während sie bei den Eptatretinae einzeln nach außen münden. Der Wasserstrom des Atemwassers entsteht durch Muskelkontraktion von der Nasenöffnung über den vorderen Darm (Kiemendarm) und durch die Kiementaschen nach außen. Das Blutgefäßsystem besteht vor allem aus einem muskulösen Herzen mit deutlicher Trennung in eine Hauptkammer (Ventrikel) und eine Vorkammer (Atrium). Dieses liegt hinter den Kiemen und pumpt das Blut in die Aorta ventralis (Bauchaorta), von der aus es über die Kiementaschen mit Sauerstoff versorgt wird und in die Aorta dorsalis (Rückenaorta) übergeht. Über weitere Arterien werden alle Körperregionen versorgt, über Venen gelangt das Blut zurück ins Herz. Die Pumpleistung des Herzens wird von einer Reihe kleinerer, muskulöser Bereiche unterstützt (Kardinal-, Caudal- und Portalherzen). Der Darm ist gestreckt und führt ohne Schleifen zum After. Der vordere Bereich ist als Kiemendarm ausgebildet und führt das Atemwasser. Die Verdauungsenzyme werden von der Darmwand sowie der Leber abgegeben, ein Pankreas und ein separater Magen existieren nicht. Verbreitung und Lebensraum Schleimaale sind mit Ausnahmen des Roten Meeres, des arktischen und des antarktischen Ozeans weltweit verbreitet und leben am Meeresboden in Tiefen von 30 bis 2000 m. Dabei ist ihre Verbreitung abhängig von verschiedenen abiotischen Faktoren, vor allem der Wassertemperatur und der Salinität, also dem Salzgehalt des Wassers. Die Wassertemperatur darf 20 °C nicht überschreiten, die optimale Temperatur liegt bei etwa 10 °C. Deshalb findet man die Tiere nur in den gemäßigten bis kalten Meeresgebieten in geringeren Tiefen von etwa 30 m. In den Warmwassergebieten der Tropen und Subtropen leben sie dagegen in wesentlich größeren Tiefen. In den Küstenregionen des nördlichen Atlantiks kommt dabei vor allem Myxine glutinosa vor, von dem eine Population auch an die Küste Südafrikas verschleppt worden ist. Im Pazifik sowie im tropischen Atlantik dominieren dagegen Arten der Gattung Eptatretus. Lebensweise Habitatnutzung und Ernährung Schleimaale leben die meiste Zeit eingegraben im Sediment des Meeresbodens, in das sie sich zuerst mit dem Hinterteil durch schlängelnde Bewegungen eingraben, um dann, langsamer werdend, den Kopf zum Graben zu nutzen. Sie befinden sich entsprechend senkrecht im Boden; der Kopf ist dabei der Röhrenöffnung an der Spitze eines Schlickkegels zugewandt. Populationen in seichteren, noch lichtdurchfluteten Meeresbereichen sind vor allem nachtaktiv. Ihre Nahrung besteht zum einen aus Organismen des Bodens, wie kleinen Weichtieren, Würmern, Einzellern und Bakterien, zum anderen aus dem Aas am Meeresboden liegender Fische und anderer größerer Tiere. Diese Kadaver werden von ihnen sehr effektiv verwertet. Meistens nutzen sie Körperöffnungen wie die Kiemen oder den Mund, um in das Körperinnere einzudringen. Sie attackieren allerdings auch noch lebende, verletzte und wehrlose Tiere – beispielsweise Fische, die in Grundnetzen gefangen sind –, wodurch sie zu nicht unerheblichem wirtschaftlichen Schaden für die Fischer beitragen. Zum Abreißen von Nahrungsstücken haben die Schleimaale eine besondere Technik entwickelt: Die überaus beweglichen Tiere bilden einen Knoten und ziehen dabei den Kopf durch die entstehende Knotenschlinge. Dieser drückt nun auf die Fläche und bildet ein Widerlager beim Abraspeln und -reißen von Beutestücken. Auf die gleiche Weise können die Tiere auch Schleimreste von der Körpervorderhälfte abstreifen. Sowohl als Sedimentwühler wie auch als Aasfresser spielen die Schleimaale in von ihnen besiedelten Meeresbereichen eine wichtige ökologische Rolle. Gemeinsam mit einer Reihe von anderen Spezies, besiedeln sie unter anderem Walstürze, deren Weichteile sie als Nahrung nutzen. Verteidigung mit Schleim Wenn sich Schleimaale bedroht fühlen, sondern sie aus ihren Schleimzellen ein Sekret ab, das schlagartig große Mengen Wasser als Schleim bindet und Mund und Kiemen von Fressfeinden verstopft. In den meisten Fällen stoßen die Angreifer den Schleim samt dem Schleimaal wieder aus. Er selber bildet mit seinem Körper einen Knoten, um den Schleim abzustreifen. Das Sekret besteht aus bis zu 15 cm langen, in Knäuel aufgewickelten Proteinfilamenten, die sich bei Kontakt mit Wasser explosionsartig aufwickeln, und aus Mucin. Der Schleim gilt als das effizienteste Bindemittel für Wasser in der Natur; 1 Gramm Sekret reichen aus, um ca. 10 Liter Schleim zu bilden, was einem Massenanteil von 0,01 % entspricht. Eine weitere Besonderheit ist, dass kein Energieeintrag zur Schleimbildung nötig ist, weshalb auch kaltes Meerwasser ohne Problem gebunden werden kann. Der Schleim ist jedoch sehr kurzlebig und nicht sonderlich stabil, weshalb man von Schleim spricht und von der Bezeichnung als Hydrogel absieht. Fortpflanzung und Entwicklung Die Schleimaale sind Zwitter, das heißt, jedes Individuum produziert sowohl weibliche als auch männliche Keimzellen. Dabei reifen die verschiedenen Geschlechtszellen wahrscheinlich zeitlich versetzt, damit eine Selbstbefruchtung vermieden wird. Die Bildung der Keimzellen erfolgt in einer einzelnen Gonade im hinteren Körperabschnitt der Tiere; die Produkte werden in die Leibeshöhle abgegeben und gelangen durch einen Ausgang nach außen. Die Befruchtung der Eier erfolgt im freien Wasser. Das Gelege besteht dabei meistens aus mehreren, mit Haftfilamenten verbundenen, langovalen Eiern mit großem Dotteranteil. Nach der Befruchtung kommt es zur diskoidalen Furchung, bei der sich auf dem Dotter der Eier eine Keimscheibe bildet und zum Embryo heranwächst. Aus den Eiern schlüpfen nach abgeschlossener Entwicklung Jungtiere, die den ausgewachsenen Schleimaalen bereits gleichen; Larvenstadien gibt es nicht. Stammesgeschichte Die ältesten bekannten Fossilien, die sich den Schleimaalen oder sehr nah verwandten Tiergruppen zuordnen lassen, stammen aus dem oberen Karbon. Es handelt sich dabei um den etwa 7 cm langen Myxinikola siroka aus den USA, der mit seinen Tentakeln an der Mundöffnung sowie den nachgewiesenen Hornzähnchen sehr typische Merkmale der Tiere aufwies. In die nahe Verwandtschaft der Schleimaale wird der Myllokunmingia fengjioana aus China aus dem unteren Kambrium eingeordnet. Dieses und auch die Einordnung verschiedener Tiergruppen in die weitere Stammesentwicklung in Richtung der moderneren Schädeltiere wie den Arandaspidida oder den Astraspidida aus dem mittleren bis oberen Ordovizium lassen darauf schließen, dass die Schleimaale auf Formen zurückgehen, die sich bereits im Kambrium vor etwa 545 Millionen Jahren entwickelt haben. Ein im Januar 2019 beschriebenes fast vollständiges und gut erhaltenes Fossil eines etwa 100 Millionen Jahre alten Schleimaals zeigt, dass sie schon in der Kreidezeit den heutigen Arten ähnelten und näher mit den Neunaugen verwandt sind als mit den kiefertragenden Wirbeltieren. Anders als frühere Annahmen nahelegten, scheint die sehr eingeschränkte Funktionstüchtigkeit der Augen von Schleimaalen keine Folge einer Rückbildung zu sein. Eine 2007 veröffentlichte Studie ergab, dass die Augen eher als eine besonders ursprüngliche („primitive“) Form im Rahmen der Evolution des Auges zu deuten seien. Systematik Externe Systematik Die Schleimaale wurden und werden seit 2010 wieder zusammen mit den Neunaugen (Petromyzontidae) in die Überklasse der Rundmäuler (Cyclostomata) eingeordnet. Mit dem Aufkommen der Prinzipien der Kladistik setzte sich in den späten 1970er Jahren vorübergehend die Auffassung durch, dass es sich bei den Rundmäulern um ein paraphyletisches Taxon handeln müsse und dass die Neunaugen näher mit den Kiefermäulern (Gnathostomata) (Knorpelfische, Knochenfische und Landwirbeltiere) verwandt seien als mit den Schleimaalen. Argumente dafür waren eine Reihe von gemeinsamen Merkmalen, die sich erst nach der Abspaltung der Schleimaale gebildet haben sollen, darunter vor allem die mit Muskulatur versehenen Basen der Flossen, das mit Nerven ausgestattete Herz, der Aufbau von Milz und Bauchspeicheldrüse und verschiedene physiologische Eigenschaften. Molekularbiologische Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Rundmäuler doch monophyletisch sind; d. h., Neunaugen und Schleimaale haben eine jüngste gemeinsame Stammform, aus der keine andere Gruppe hervorgeht. So teilen sie vier einzigartige microRNA-Familien und 15 einzigartige Paralogien zwischen primitiven microRNA-Familien. Die Rundmäuler sollen sich vor etwa 500 Millionen Jahren im Kambrium aus einem letzten gemeinsamen Vorfahren aller Wirbeltiere entwickelt haben, der allerdings wesentlich komplexer war als die Rundmäuler. Die Rundmäuler durchliefen daraufhin eine Degeneration und verloren zahlreiche der für Wirbeltiere typischen Merkmale, die Schleimaale mehr, die Neunaugen weniger. 300 Millionen Jahre alte Fossilien von Schleimaalen sind den modernen Formen schon recht ähnlich. Interne Systematik Die heute etwa 78 Arten der Schleimaale werden in drei Taxa aufgeteilt, die in der klassischen Systematik im Rang von Unterfamilien innerhalb der einzigen Familie Myxinidae der Schleimaale geführt werden. Als charakteristische Merkmale werden die Lage und Anzahl der Schleimporen sowie der Hornzähne genutzt. Hauptunterscheidungsmerkmal der Unterfamilien ist die Anzahl der nach außen sichtbaren Kiemenöffnungen. Dabei handelt es sich um: Die Myxininae, mit 28 Arten, die in vier Gattungen aufgeteilt werden und nur eine äußere Kiemenöffnung haben, zu der alle Kiemengänge führen. Myxine Nemamyxine Neomyxine Notomyxine die Eptatetrinae, mit 50 Arten in einer Gattung. Diese hat 5 bis 16 Kiemenöffnungen, meist entsprechend der Anzahl der Kiementaschen selbst. Eptatretus die Rubicundinae, eine erst 2013 neu beschriebene Unterfamilie mit einer Gattung mit 4 Arten, die durch verlängerte Röhrennasen und eine rötliche Färbung charakterisiert ist. Rubicundus Menschen und Schleimaale Besonders für die Fischer der Grundnetzfischerei stellen Schleimaale ein Problem dar, da diese die in den Netzen gefangenen Fische angreifen und sich von ihnen ernähren. Dort, wo sie in großen Zahlen vorkommen, können sie den Grundfang fast vollständig unbrauchbar machen. Schleimaale spielen jedoch nicht nur als wirtschaftliche Schädlinge eine Rolle. In den letzten 20 Jahren wuchs ihre Bedeutung als Lederlieferanten stark an, und heute wird das so genannte Aalleder fast ausschließlich aus den Häuten der Schleimaale hergestellt. Aus diesem Grund sind sie in einigen Küstengebieten zu begehrten Fangfischen geworden. Vor allem an der Westküste Nordamerikas und den asiatischen Küsten sind ihre Bestände daher bereits massiv zurückgegangen. Besonders der bis 60 cm lange Eptatretus atami an den Küsten Japans, Taiwans und Südkoreas ist sehr begehrt und entsprechend gefährdet. In Korea werden Schleimaale zudem gegessen. In den letzten Jahren gerieten Schleimaale in den Fokus des Interesses für genetische Analysen, welche die Verwandtschaften unter Chordatieren untersuchen. Kürzlich wurde zudem entdeckt, dass der Schleim, den Schleimaale abgeben, strukturell einzigartig ist, da er reißfeste, fadenförmige Fasern enthält, die chemisch gewisse Ähnlichkeiten mit denen der Spinnenseide aufweisen. Forscher suchen heute nach einer möglichen Verwendung des Inhaltsstoffes dieses Gels oder ähnlich aufgebauter synthetischer Gele. Potentielle Anwendungsgebiete wären neue biologisch abbaubare Polymere, Gele als Füllmaterial und Mittel, um Blutungen bei Unfallopfern und Chirurgie-Patienten zu stoppen. Gefährdung Zurzeit (2021) stuft die IUCN von 76 gelisteten Arten, eine als vom Aussterben bedroht (Critically Endangered), 2 Arten als stark gefährdet (Endangered) und 6 Arten als gefährdet (Vulnerable) ein. 30 Arten können aktuell nicht bewertet werden (data deficient). Literatur Joseph S. Nelson: Fishes of the World. John Wiley & Sons, 2006, ISBN 0-471-25031-7. Gunde Rieger, Wolfgang Maier: Myxinoida, Schleimaale, Inger. In: W. Westheide und R. Rieger: Spezielle Zoologie. Teil 2: Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum, München 2004, ISBN 3-8274-0307-3. Jørgen M. Jørgensen, J. P. Lomholt, R. E. Weber, H. Malte (Hrsg.): The biology of hagfishes. Chapman & Hall, London 1997, ISBN 0-412-78530-7. Weblinks Schleimaale beim Tree of Life Web Project (englisch) (englisch) Einzelnachweise Wirbeltiere
907759
https://de.wikipedia.org/wiki/Arch%C3%A4ologische%20St%C3%A4tten%20von%20Agrigent
Archäologische Stätten von Agrigent
Die archäologischen Stätten von Agrigent südlich des heutigen Stadtkerns von Agrigent gehören zu den eindrucksvollsten archäologischen Fundplätzen auf Sizilien. Sie zeigen vor allem die Überreste von Akragas (lat. Agrigentum), einer der bedeutendsten antiken griechischen Städte auf Sizilien. Die teilweise noch sehr gut erhaltenen griechischen Tempel zeugen von der Größe, Macht und kulturellen Hochblüte der damaligen griechischen Stadt. Akragas war zwar erst 582 v. Chr. in einer zweiten Welle der griechischen Kolonisation gegründet worden, hatte sich aber bald, besonders durch den Sieg in der Schlacht bei Himera, zu der zweitwichtigsten griechischen Polis auf Sizilien nach Syrakus entwickelt. Diese Bedeutung fand ihren Ausdruck unter anderem in einer Reihe monumentaler Tempel, die im Verlauf des 5. Jahrhunderts v. Chr. entlang der südlichen Stadtmauer auf einem Höhenzug errichtet wurden, der in der archäologischen Fachsprache die Bezeichnung „Hügel der Tempel“ (ital.: Collina dei Templi) hat, im Volksmund aber (durch seine Lage unterhalb der heutigen Stadt Agrigent) als „Tal der Tempel“ (ital.: Valle dei Templi) bezeichnet wird. Die Bezeichnung „Tal der Tempel“ wird oft auch allgemein für die gesamten archäologischen Stätten von Agrigent verwendet. Der Concordiatempel, der zu den am besten erhaltenen Tempeln der griechischen Antike überhaupt zählt, und die Überreste der anderen Tempel waren auch ein Grund dafür, dass die archäologischen Stätten von Agrigent ab der Mitte des 18. Jahrhunderts für viele an der antiken griechischen Kultur Interessierte zu einem festen Bestandteil einer Bildungsreise nach Süditalien wurden. Auch Johann Wolfgang von Goethe schildert in seinem Werk Italienische Reise seinen Besuch dieser Stätten. 1997 erklärte die UNESCO die archäologischen Stätten von Agrigent zum Weltkulturerbe mit der Begründung, dass Akragas „eine der größten Städte der Antike im Mittelmeerbereich war und in einem außergewöhnlich guten Zustand erhalten ist. Seine großartige Reihe dorischer Tempel ist eines der herausragendsten Denkmäler für die griechische Kunst und Kultur.“ Lage Die Stadt Akragas wurde auf einem Hochplateau aus Kalkstein nahe der Südwestküste Siziliens errichtet. Dieses Hochplateau fällt nach drei Seiten steil ab und bot daher eine gute Verteidigungsmöglichkeit für die Stadt. Östlich des Plateaus fließt der Fluss San Biagio (damals Akragas genannt), westlich der Fluss Sant’Anna (damals Hypsas genannt). Beide Flüsse vereinigen sich südlich des Plateaus und fließen in das etwa 4 km entfernte Meer. Das Plateau hat einen etwa rechteckigen Grundriss mit einer Größe von 2,2 × 1,6 km. Seine Oberfläche ist nicht eben, sondern bildet eine Art Trog, der in Ost-West-Richtung verläuft. Im Norden und Nordosten schließt der Athenafelsen (Rupe Atenea) das Plateau ab. Im Nordwesten schließt sich an das Plateau noch ein langgestreckter Höhenzug an, der Girgenti-Hügel, auf dem in archaischer Zeit die Akropolis stand und auf dem heute der historische Stadtkern Agrigents steht. Im Süden wird das Plateau von einem niedrigeren Hügelrücken begrenzt, an dessen Rand eine Reihe von Tempeln aufgereiht sind. Da dieser Hügelzug vom mittelalterlichen Stadtzentrum auf dem Girgenti-Hügel aus gesehen im Tal liegt, wird er etwas irreführend auch als „Tal der Tempel“ (ital.: „Valle dei Templi“) bezeichnet. Geschichte Archaische Zeit Akragas ist die jüngste der bedeutenderen griechischen Städte auf Sizilien. Die Stadt wurde ungefähr 582 v. Chr. gemeinsam von Siedlern aus Gela und Rhodos unter den Oikisten Aristonos und Pystillos gegründet. Es wird angenommen, dass das Gebiet schon vorher zum Einflussbereich Gelas gehörte und dass es hier an der Küste eine Handelsniederlassung (Emporion) gab, da sonst die Siedler aus Megara Hyblaea für ihre wesentlich ältere Neugründung Selinunt nicht so weit nach Westen hätten ziehen müssen. Schon bald nach der Gründung der Stadt konnte Phalaris die Macht an sich reißen. Durch Unterschlagung von Geld, das für einen Tempelbau bestimmt war, warb er Söldner an und machte sich in einem Staatsstreich zum Alleinherrscher (Tyrannen) der Stadt. Er regierte etwa 570–555 v. Chr. und war für seine Grausamkeit berüchtigt. Er dehnte seinen Machtbereich bis weit in das Landesinnere aus. Zu seiner Zeit wurde wohl bereits die massive Stadtmauer von Akragas errichtet. Sie folgt im Wesentlichen den Außenkanten des Plateaus, umschließt aber auch den Girgenti-Hügel. Sie hat eine Länge von 12 km und schließt eine Fläche von 4,5 km² ein. Neun Tore, die eine natürliche Bodensenke oder ein kleines Tal nutzten, führten in die Stadt. Teilweise waren diese Tore von Türmen flankiert. Durch das Haupttor (Tor IV), das sich in der Südmauer befand und in der Römerzeit Porta Aurea genannt wurde, führte die Straße zum Hafen. Durch das Tor I im Osten führte die Straße zur Mutterstadt Gela. Auf der Akropolis, die sich über den Girgenti-Hügel und den Athenafelsen erstreckte, wurden im 6. Jahrhundert v. Chr. ein Tempel des Zeus und zu Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. ein Tempel der Athena erbaut. Gegen Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. entstand der Heraklestempel nahe der Südmauer östlich der Porta Aurea. In der Senke zwischen der Akropolis und der Südmauer entwickelte sich die Stadt. Sie wurde von sechs Hauptstraßen (Plateiai) etwa in Ost-West-Richtung durchzogen, die von zahlreichen Nebenstraßen (Stenopoi) rechtwinklig gekreuzt wurden. So entstanden längliche Wohnblöcke, die etwa in Nord-Süd-Richtung verliefen. Außerhalb der Stadtmauern wurde Ackerland gewonnen und durch Forts gegen Übergriffe geschützt. Die Stadt verdankte ihren Wohlstand dem Anbau von Weizen, Öl und Mandelbäumen sowie der Schafzucht. Theron, der 488 v. Chr. Tyrann von Akragas wurde, dehnte seinen Machtbereich weiter aus und machte Akragas zur zweitwichtigsten Stadt Siziliens nach Syrakus. Das Gebiet umfasste große Teile Westsiziliens, wie durch eine kürzlich erfolgte Studie zur Münzverbreitung ermittelt wurde. Im Jahre 483 vertrieb er den Herrscher Terillos aus Himera und übernahm dort die Macht. Terillos bat die Karthager um Hilfe, die jedoch in der Schlacht bei Himera von Theron und seinem Schwiegersohn Gelon, dem Tyrannen von Syrakus, vernichtend geschlagen wurden. Klassische Zeit Durch die in der Schlacht bei Himera gewonnene Kriegsbeute, die als Sklaven arbeitenden Kriegsgefangenen und die Reparationen, die Karthago zu zahlen hatte, stieg der Reichtum von Akragas beträchtlich an. Dieser zeigt sich auch an den in Angriff genommenen Bauprojekten. Theron begann an der Südmauer westlich der Porta Aurea den riesenhaften Tempel des olympischen Zeus zu errichten. Pindar, der eine Zeit lang am Hof Therons weilte, beschrieb Akragas als „schönste der Sterblichen Städte“. Nach dem Tod Therons und der Vertreibung seines Sohnes Thrasydaios wurde Akragas zu einer Demokratie. Die kulturelle Hochblüte dauerte das ganze 5. Jahrhundert hindurch an. Der Reichtum der Stadt in dieser Zeit beruhte besonders auf dem Handel. In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts wurde die Mehrzahl der Tempel an der Südmauer errichtet, die einem vom Meer aus ankommenden Besucher einen imposanten ersten Eindruck von dem Reichtum der Stadt vermittelten. Der Philosoph Empedokles aus Akragas schrieb zu dieser Zeit, dass die Menschen von Akragas den Luxus genossen, als ob sie morgen sterben müssten, aber Bauten errichteten, als ob sie ewig leben würden. Als die Karthager, von Segesta zu Hilfe gerufen, 409 v. Chr. eine Großoffensive gegen die griechischen Städte Siziliens begannen, wurde auch Akragas 406 v. Chr. erobert und zerstört. Nachdem die Karthager 406 v. Chr. mit Dionysios I. von Syrakus Frieden geschlossen hatten, durften die Bewohner von Akragas wieder in ihre Stadt zurückkehren. Sie durften die Stadt aber nicht wieder befestigen und waren zu Tributzahlungen an Karthago verpflichtet. In der Folgezeit sank Akragas zu einem unbedeutenden Dorf herab. Obwohl die Stadt später wieder aufgebaut wurde, konnte sie trotz aller Anstrengungen nie wieder ihre einstige Größe erreichen. Hellenistische Zeit Nachdem Timoleon die Karthager 340 v. Chr. in der Schlacht am Krimisos besiegt und nach Westsizilien zurückgedrängt hatte, brachte er neue Siedler nach Akragas, um es wieder zu einer funktionierenden Polis zu machen. Die neuen Häuser wurden auf den Grundmauern der zerstörten alten Bauten errichtet. Dabei wurde das bereits bestehende Hippodamische Schema der rechtwinklig zueinander verlaufenden Haupt- und Nebenstraßen übernommen. Im 3. Jahrhundert v. Chr. brachte der Tyrann Phintias (289–279 v. Chr.) auch Gela, die Mutterstadt von Akragas, unter seine Herrschaft. Er ließ Gela zerstören und siedelte seine Bewohner an der Stelle des heutigen Licata neu an. Im ersten punischen Krieg wurde Akragas 261 v. Chr. von den Römern erobert und zerstört, und seine Einwohner wurden in die Sklaverei verkauft. 255 v. Chr. wurde Akragas von den Karthagern zurückerobert, was weitere Zerstörungen mit sich brachte. Endgültig unter römische Herrschaft kam Akragas 210 v. Chr. und wurde zu einer tributpflichtigen civitas. Römische Zeit Die Römer benannten die Stadt in Agrigentum um und bevölkerten sie mit neuen Siedlern. Die Wohngebäude und die öffentlichen Bauten breiteten sich in der Senke über den Resten der griechischen Stadt aus. Die Römer errichteten keine eigenen großen Tempel, sondern bauten einige der zerstörten Tempel wieder auf und widmeten sie römischen Göttern. Im Zuge der Verwaltungsreform des Augustus erhielt Agrigent den Status eines Municipiums. In der Kaiserzeit entwickelte sich Agrigentum wieder zu einer wohlhabenden und bedeutenden Stadt. Beim Einfall der Vandalen ab 439 kam es wieder zu Zerstörungen. In oströmischer Zeit entvölkerte sich die Stadt immer mehr und wurde erneut zu einem unbedeutenden Dorf. Vor der Bedrohung durch die Araber, die zu Beginn des 8. Jahrhunderts Raubzüge nach Sizilien unternahmen, zogen sich die Bewohner aus dem antiken Stadtgebiet auf den Girgenti-Hügel zurück. Rezeption in der Neuzeit Im Mittelalter und in der Neuzeit wurden die antiken Bauwerke wenig beachtet. Sie verfielen und wurden oft auch einfach als Steinbruch benutzt. Nur der Concordiatempel wurde durch seinen Umbau in eine Kirche bis ins 17. Jahrhundert weiter verwendet und blieb so nahezu unversehrt erhalten. Erst als im 18. Jahrhundert durch den Klassizismus wieder ein allgemeines Interesse an der griechischen Antike erwachte, fanden auch die antiken Stätten des alten Akragas wieder mehr Beachtung. Zu dieser Zeit wurde der Concordiatempel wieder in seinen ursprünglichen Zustand als Tempel zurückversetzt, und Säulen und Architrav an der Nordseite des Heratempels wurden wieder aufgerichtet. Da Griechenland damals Teil des Osmanischen Reiches und daher sehr viel schwieriger zu bereisen war, fuhren viele an der antiken griechischen Kultur Interessierte nach Unteritalien und Sizilien, um dort die ehemaligen griechischen Kolonien zu besichtigen. Die archäologischen Stätten von Agrigent waren dabei fester Bestandteil dieser Reisen. In Deutschland wurden die antiken Stätten im 18. Jahrhundert vor allem durch die Italienische Reise Johann Wolfgang von Goethes und den Spaziergang nach Syrakus Johann Gottfried Seumes bekannt. Der Zeichner Christoph Heinrich Kniep, der Goethe auf seiner italienischen Reise begleitete, und die Maler Jacob Philipp Hackert und Ferdinand Georg Waldmüller schufen Bilder der antiken Bauwerke, und Johann Joachim Winckelmann verfasste die Anmerkungen über die Baukunst der Tempel zu Grigenti in Sizilien. Architekten und Bauforscher wie Leo von Klenze, Friedrich von Gärtner und Karl Friedrich Schinkel besuchten auf ihren Studienreisen durch Süditalien und Sizilien auch Agrigent. Im 19. Jahrhundert erfolgten dann systematische Untersuchungen der antiken Stätten. Erste ausführliche Ausgrabungen wurden in den 1830er Jahren unter Serradifalco durchgeführt. Zu dieser Zeit wurde auch die Ecke des Dioskurentempels wiederaufgerichtet. Diese Rekonstruktion gilt jedoch heutzutage in der Fachwelt als verfehlt, da dabei anscheinend auch Elemente benachbarter Bauten (evtl. des Tempels L) aus verschiedenen Stilepochen verwendet wurden. Zu den Malern, die die Stätten im 19. Jahrhundert abbildeten, zählen Caspar David Friedrich (Junotempel in Agrigent) und Christian Wilberg. Julius Schubring beschrieb in seiner Historischen Topographie die Lage der antiken Stätten. In den 1890er Jahren unternahmen Robert Koldewey und Otto Puchstein zwei Reisen nach Unteritalien und Sizilien, auf denen sie auch die Tempel von Akragas vermaßen und beschrieben. Dabei fertigte Robert Koldewey Ansichten und Schemazeichnungen der Tempel an. Ihr gemeinsames zweibändiges Werk Die griechischen Tempel in Unteritalien und Sicilien wurde zu einem größtenteils heute noch gültigen Standardwerk der wissenschaftlichen Untersuchung der antiken Stätten. Weitere Ausgrabungen wurden in den 1920er-Jahren unter Leitung von Pirro Marconi durchgeführt. Zu dieser Zeit wurden auch die acht Säulen an der Südseite des Heraklestempels wiederaufgerichtet. Gefördert wurden diese Arbeiten durch Sir Alexander Hardcastle, der sein ganzes Vermögen in den Dienst der Archäologie steckte. Mit dem Bau des Archäologischen Museums wurden 1968 die vorher an verschiedenen Orten verteilten Sammlungen von Fundstücken der antiken Stätten der Öffentlichkeit gemeinsam an einer zentralen Stelle zugänglich gemacht. Auch weiterhin werden Ausgrabungen durchgeführt, die neben Details gelegentlich auch größere Überraschungen ans Tageslicht fördern. So wurde z. B. 1989 bei Ausgrabungen nördlich des Archäologischen Museums das Buleuterion gefunden. Vom Archäologischen Institut der FU Berlin werden auch im Jahr 2022 weitere Grabungen durchgeführt. Instandhaltung Beginn 21. Jahrhundert Da die Tempel von Akragas aus Kalkstein errichtet sind, sind sie empfindlich gegenüber Umwelteinflüssen und Verwitterung. 2005 wurde mit Hilfe von Fördergeldern der Europäischen Union mit umfangreichen Instandsetzungsarbeiten begonnen, die bis 2007 dauerten. Dadurch soll die Bausubstanz vor weiterem Verfall geschützt werden. Während der Instandsetzungsarbeiten waren die Tempel eingerüstet. Als Trostpflaster für Besucher war auf der Abdeckplane des Baugerüsts des Concordiatempels eine Rekonstruktion der ursprünglichen farblichen Gestaltung des Tempels abgebildet. Bedroht sind die archäologischen Stätten jedoch nicht nur durch den Verfall der Bausubstanz, sondern auch dadurch, dass Teile des antiken Stadtgebiets als Bauland ausgewiesen wurden und teilweise schon bebaut sind. Auch illegale Bauten wurden dort errichtet. Das hat eine Diskussion ausgelöst, wie die antiken Stätten besser geschützt und die Bausünden der Vergangenheit beseitigt werden können. Besonderheiten der Tempel Die meisten Tempel von Akragas sind wie die Mehrzahl der griechischen Tempel Siziliens vom Typ eines dorischen Ringhallentempels (Peripteros). Dabei ist das Innengebäude (der Naos mit der Cella) von einer Reihe von Säulen umgeben, die das Gebälk und das Dach tragen. Die ältesten Tempel von Akragas entstanden im 6. Jahrhundert v. Chr. auf der Akropolis, die sich über den Girgenti-Hügel und den Athenefelsen erstreckte. Im 5. Jahrhundert v. Chr. wurde dann auf dem südlichen Höhenrücken entlang der Stadtmauer eine Reihe von Tempeln errichtet, die vom Meer aus gesehen eine eindrucksvolle Silhouette bildeten. Anders als beispielsweise für die Tempel auf der Akropolis von Athen, die aus Marmor erbaut sind, wurde für die Tempel Agrigents als Baumaterial Kalkstein verwendet, der im nahen Flusstal des Akragas gebrochen wurde. Der Kalkstein wurde zum Abschluss der Bauarbeiten mit einer Stuckschicht überzogen, um ihm ein marmorartiges Aussehen zu geben. Einige Strukturelemente der Tempel waren farbig gestaltet. Anders als bei den Tempeln des griechischen Mutterlandes sind die Tempel von Akragas, wie in den meisten anderen Städten der Magna Graecia, in ihrem Entwurf frontbetont. Die Frontseite, meist die Ostseite, ist mit einer breiten Freitreppe versehen, und vor ihr steht ein großer Opferaltar, der beim Heratempel noch besonders eindrucksvoll erhalten ist. Um diesen Altar herum fanden die gemeinschaftlichen Zeremonien statt, und auf ihm wurden den Göttern Schlachtopfer von Vieh dargebracht. Die meisten Tempel aus der klassischen Epoche von Akragas haben, wie es auch im griechischen Mutterland üblich war, eine Säulenhalle mit 6 Säulen auf den Schmal- und 13 Säulen auf den Längsseiten, während ansonsten in Sizilien eher länger gestreckte Bauformen mit 6 × 14 oder sogar 6 × 15 Säulen üblich waren. Pronaos und Cella sind durch zwei große Pfeiler voneinander abgeteilt, in deren Inneren Treppen bis auf das Dach hinauf führen. Bei den meisten Tempeln von Akragas fehlt das sonst in Sizilien übliche Adyton. Eine Sonderform bildet das Olympieion, das auch karthagische Elemente enthält (z. B. Pfeiler statt Säulen) und den Sieg der Griechen über die Karthager verherrlichen sollte. Die Namen der Tempel gehen größtenteils auf die Zeit des Renaissance-Humanismus zurück. Ihre Zuordnung zu griechischen oder römischen Göttern ist teils historisch verbürgt (z. B. beim Heraklestempel und beim Olympieion), teils aufgrund der dort gefundenen Weihegeschenke rekonstruiert (z. B. beim Demetertempel und beim Heiligtum der chthonischen Gottheiten), teils fragwürdig (z. B. beim Heratempel) und teils völlig beliebig erfolgt (z. B. beim Dioskuren- und Concordiatempel). Der italienische Archäologe Pirro Marconi führte daher bei seinen Ausgrabungen in den 1920er-Jahren Bezeichnungen mit Buchstaben ein, wie sie auch in Selinunt verwendet werden. Diese konnten sich jedoch in Agrigent gegenüber den traditionellen Benennungen nicht allgemein durchsetzen. Auch die von Biagio Pace anhand der überlieferten Kulte versuchte Zuordnung der Tempel (z. B. Heratempel – Poseidon, Concordiatempel – Dioskuren) konnte den allgemeinen Sprachgebrauch nicht verdrängen. Die folgende Tabelle gibt einen chronologischen Überblick über die Tempel von Akragas. Dabei bedeutet Grundfläche die Abmessungen (Frontbreite × Seitenlänge) des Stylobats. Mit * gekennzeichnete Angaben sind rekonstruierte Werte, da der Stylobat nicht erhalten ist. Archäologischer Park „Tal der Tempel“ Der Archäologie- und Landschaftspark „Tal der Tempel“ (Parco Archaeologico e Paesaggistico della Valle dei Templi di Agrigento, kurz Parco Valle dei Templi Agrigento) enthält die bedeutendsten Überreste des alten Akragas, die Reihe der Tempel entlang der südlichen Stadtmauer. Auch das noch vor die griechische Besiedlung zurückreichende Heiligtum der chthonischen Gottheiten ist dort eingeschlossen. Die Bezeichnung „Tal der Tempel“ (Valle dei Templi) ist dabei irreführend, da sich der Park gegenüber der Umgebung auf einem Hochplateau erstreckt und vor allem dessen südlichen Hügelzug umfasst. Entstanden ist die Bezeichnung aus der Sicht der heutigen Stadt, die sich auf der ehemaligen Akropolis erstreckt und von der aus gesehen die Tempel tatsächlich am Rande eines Tals stehen. Verwendet wird die Bezeichnung teilweise nur für die Reihe der Tempel entlang der südlichen Stadtmauer und teilweise für das gesamte Stadtgebiet des alten Akragas südlich der Akropolis. Das Logo des Parks zeigt einen Krebs, das Symbol des Flussgottes des Akragas, nach dem die antike griechische Stadt benannt worden ist. Dieses Symbol findet sich auch auf vielen Münzen aus dem antiken Akragas. Der Park wird von der Via Passegiata Archeologica, die durch das ehemalige Tor IV verläuft, in zwei Hälften geteilt. Dort befinden sich auch ein Parkplatz und ein Zugang zu den beiden Hälften des Parks. Im Westteil stehen vor allem die Tempel des olympischen Zeus und der Dioskuren sowie das Heiligtum der chthonischen Gottheiten, im Ostteil die Tempel des Herkules, der Concordia und der Hera. Olympieion Hinter dem Eingang zu dem westlichen Teil des Parks stößt man direkt auf das riesige Trümmerfeld des Olympieion (auch Tempel des Olympischen Zeus genannt). Der Tyrann Theron ließ diesen Tempel um 480 v. Chr. nach dem Sieg über die Karthager in der Schlacht bei Himera erbauen. Er sollte den Sieg des griechischen Geistes über die Barbaren verherrlichen. Die Widmung des Tempels an Zeus ist durch den Historiker Diodor bezeugt, der eine Beschreibung des Tempels hinterließ. Mit einer Abmessung des Stylobats von 52,74 × 110,10 m war das Olympieion von Akragas der größte Tempel im dorischen Stil und der drittgrößte griechische Tempel der Antike überhaupt. Östlich des Tempels ist noch der mächtige Opferaltar zu erkennen, auf dem die Hekatombe, das gleichzeitige Opfer von 100 Stieren, dargebracht wurde. Der Unterbau (Krepis) des Tempels bestand aus fünf Stufen. Im Grundriss (siehe Abbildung) zeigt der Tempel Anklänge an das karthagische Bauprinzip des Pfeilersaals. Die Cella bestand aus zwei Reihen von je 12 etwa 21 m hohen Pfeilern, die durch Mauern verbunden waren, die ungefähr bis zur halben Höhe der Pfeiler reichten. Die Ringhalle bestand aus 7 × 14 etwa 17 m hohen Pfeilern, denen Halbsäulen vorgesetzt waren, die an ihrem unteren Ende einen Durchmesser von etwa 4 m hatten. Die Pfeiler waren durch eine durchgehende Mauer verbunden, weshalb man hier von einem Pseudoperipteros spricht. Die Ringhalle des Tempels war überdacht, während man bei der Cella davon ausgeht, dass sie nach oben hin offen war. Da die Mitte der Tempelfassade durch einen Pfeiler verstellt war, erfolgt der Zugang über zwei kleine Portale an den Eckjochen der Ostfassade, so dass man zunächst in die Seitenschiffe gelangte. Ein weiterer kleiner Eingang wird im mittleren Joch der Südseite vermutet. Eine weitere Besonderheit dieses Tempels waren fast 8 m hohe Figuren von Giganten, die sogenannten Telamone, die im oberen Bereich der Wände aufgestellt waren und die Last des Gebälks trugen (siehe Abbildung). Die Telamone hatten karthagische Züge und symbolisierten die unterlegenen Barbaren, die für die überlegenen Griechen Sklavenarbeit verrichten mussten. Darauf spielte auch die Darstellung des Kampfs der olympischen Götter gegen die Giganten im Giebelfeld des Ostgiebels an. Der Maler und Archäologe Rafaello Politi ließ 1825 einen dieser Telamone auf dem Boden wieder zusammensetzen. Das heute dort liegende Exemplar ist eine Nachbildung, das Original befindet sich im Archäologischen Museum von Agrigent. Bei der Eroberung von Akragas durch die Karthager 406 v. Chr. wurde der Tempel, der noch nicht fertiggestellt war, zerstört. Deswegen und weil der Tempel aus relativ kleinen Quadern erbaut war, die gut weiter zu verwerten waren, sind von dem einst monumentalen Olympieion nur noch die Grundmauern und einige Säulen- und Kapitellreste übrig geblieben. Dioskurentempel Westlich des Olympieions erstreckt sich bis zum ehemaligen Tor V ein Stadtgebiet mit Resten von Wohnhäusern. Nördlich des Olympieions führt eine Prozessionsstraße an diesem Wohngebiet entlang und stößt am Tor V auf den Dioskurentempel. Der Name wurde willkürlich vergeben. Aus antiken Quellen ist zwar bekannt, dass in Akragas die Dioskuren, also die Zwillingsbrüder Kastor und Pollux, verehrt wurden. Nach neueren Erkenntnissen war ihnen jedoch wahrscheinlich der heute „Concordiatempel“ genannte Tempel geweiht. Der Dioskurentempel war ein um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. im dorischen Stil erbauter Peripteros mit einem Grundriss ähnlich dem Concordiatempel. Im 19. Jahrhundert wurde die Nordwestecke von dem Bildhauer Valerio Villareale und dem Architekten Saverio Cavallari wieder aufgerichtet. Diese Rekonstruktion sieht zwar sehr malerisch aus und hat sich zu einem Wahrzeichen und einem der am meisten fotografierten Objekte von Agrigent entwickelt, wird aber in der Fachwelt abgelehnt, da dabei Bauteile aus unterschiedlichen Stilepochen miteinander vermischt wurden. Auf dem Gelände des Tempels sind die zahlreichen kannelierten Säulentrommeln verteilt, die ursprünglich die Säulen der Ringhalle bildeten. Östlich des Tempels ist noch der Altar zu erkennen. Heiligtum der chthonischen Gottheiten Der Dioskurentempel steht auf einem Temenos, der die älteste bekannte Kultstätte Agrigents darstellt. Hier verehrten die Griechen schon vor dem Bau der großen Tempel ihre Götter, und vermutlich war dieser Platz bereits von den Sikanen als Kultstätte verwendet worden. Auf diesem Temenos befinden sich südlich des Dioskurentempels Reste eines weiteren Peripteros (Tempel L), der kurz nach diesem errichtet wurde und einen ähnlichen Grundriss aufweist, aber etwas größer ist. Diese beiden Tempel wurden vermutlich über Resten älterer Kultstätten errichtet. Im Nordteil des Heiligtums befinden sich noch Grundmauern solcher Kultstätten, die aus der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. stammen, also bald nach der Gründung der Stadt errichtet wurden. Die Griechen verehrten hier die erdverbundenen (chthonischen) Götter, vor allem die Erdmutter und Fruchtbarkeitsgöttin Demeter und ihre Tochter Persephone, aber auch Hekate und Hades. Daher wird dieser Bezirk als Heiligtum der chthonischen Gottheiten bezeichnet. In der Mitte dieser Kultstätten befinden sich ein runder und ein viereckiger Altar. Der Rundaltar hat eine Vertiefung in der Mitte, die vermutlich zum Darbringen flüssiger Opfergaben oder zum Auffangen des Blutes der Opfertiere diente. Um diese Altäre herum sind Gebäude in Form eines Megarons mit Pronaos, Naos und Adyton angeordnet, zwei in Ost-West-Richtung und eines in Nord-Süd-Richtung. An das letztere schließt sich ein Kultbau mit quergestellter Cella an, der eine Vorhalle aufweist, deren Front von vier Pfeilern gebildet wird. Im Norden steht ein weiterer labyrinthähnlicher Kultbau mit einem quadratischen Altar in einem Seitenraum und einem Rundaltar in seinem als letztem zugänglichen Raum. Gärten von Kolymbéthra Nordwestlich des Heiligtums der chthonischen Gottheiten durchschneidet eine Talsenke, die den natürlichen Wasserablauf für das Hochplateau der antiken Stadt bildete, den südlichen Hügelzug. Es wird vermutet, dass sich hier auch das als Kolymbéthra bezeichnete große Wasserbecken befand, das der Wasserversorgung der Stadt diente. Es wurde vermutlich unter Theron errichtet. Nach der Verlandung des Beckens entstanden fruchtbare Obst- und Gemüsegärten, die Gärten von Kolymbéthra. Heute findet man hier Zitronen- und Orangenbäume, Feigenkakteen sowie Mandelbäume und Ölbäume, die teilweise mehrere Jahrhunderte alt sind. Die unterirdischen Wasserkanäle und Aquädukte, die in der Antike die Stadt mit Wasser versorgten, sind heute noch zu sehen und dienen jetzt zur Bewässerung der Gärten. Heraklestempel Kehrt man zurück zum Eingang und begibt man sich über die Straße in den östlichen Teil des Parks, sieht man zuerst die Reste des Heraklestempels, der sich direkt neben dem Tor IV (Porta Aurea) befand. Die Widmung dieses Tempels an Herakles ist durch Marcus Tullius Cicero bezeugt, der 75 v. Chr. Quaestor auf Sizilien war. In einer seiner Anklagereden gegen Gaius Verres berichtet er von einer riesigen Bronzestatue des Herakles im Inneren eines Tempels nahe der Agora (gemeint ist die niedere Agora, die nördlich des Tors IV gelegen war). Die Statue war an den Lippen und am Kinn von den Berührungen der Pilger abgenutzt, und Verres soll ihren Raub geplant haben. Der Heraklestempel ist der älteste Tempel an der südlichen Stadtmauer und stammt noch aus der archaischen Zeit zu Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr. Er ruht auf einem dreistufigen Unterbau. Sein Grundriss (siehe Abbildung) zeigt die sonst in Sizilien übliche, für die Tempel in Agrigent aber ungewöhnliche Streckung der Ringhalle in die Länge mit 6 × 15 Säulen. Die Vor- und Rückhalle (der Raum zwischen Pronaos bzw. Opisthodom und der vorderen bzw. hinteren Säulenreihe) hat dadurch eine Tiefe von 2 Säulenjochen. Dem Heraklestempel fehlt aber bereits das sonst in Sizilien übliche Adyton. Trümmer des Tempels sind über das ganze Areal verstreut, darunter beispielsweise einige Kapitelle, die noch mit Stuck verkleidet sind, wie er einst den ganzen Tempel überzog. Die acht Säulen auf der Südseite wurden 1924 wieder aufgerichtet, der Säulenstummel auf der Nordseite bereits im 19. Jahrhundert. In der Nähe des Tempels finden sich auch Schleifspuren. Concordiatempel Der sogenannte Concordiatempel zählt neben dem Theseion in Athen und dem Poseidontempel in Paestum zu den besterhaltenen Tempeln der griechischen Antike. Seine Benennung erfolgte willkürlich nach einer in der Nähe gefundenen römischen Inschrift, auf der von der Eintracht (lat. concordia) unter den Bewohnern von Agrigentum die Rede ist. Welcher griechischen Gottheit das Heiligtum geweiht war, ist unbekannt. Der Tempel wurde etwa 440 bis 430 v. Chr. errichtet. Da er auf einem sehr unebenen Terrain steht, ist er auf einem Sockel errichtet, der die Unebenheiten des Fels ausgleicht. Sein Grundriss (siehe Abbildung) entspricht der für Agrigent typischen Form der klassischen Zeit, wie sie oben beschrieben wurde, mit Pronaos, Naos, Opisthodom und einer Säulenhalle von 6 × 13 Säulen. Der Concordiatempel ist der am genauesten ausgeführte Tempel von Akragas, die Schwankung der Jochbreiten beträgt lediglich 5 mm. Der dorische Eckkonflikt ist auf ungewöhnliche Weise gelöst: alle vier Ecken zeigen eine doppelte Eckkontraktion, d. h. die äußeren beiden Säulenjoche sind abgestuft enger gemacht, und durch eine ebenfalls abgestufte Verbreiterung der Metopen am Rand wird eine harmonische Wirkung erzielt. Nach dem derzeitigen Stand der Forschung war der untere Teil des Tempels mit weißem Stuck bekleidet, Fries und Giebelfeld jedoch mit kräftigen Farben bemalt. Die Dachziegel waren aus Marmor. Bischof Gregorius von Agrigentum ließ den Tempel im Jahre 597 in eine christliche Basilika umwandeln und den Aposteln Petrus und Paulus weihen. Dabei wurden die Cellawände auf jeder Seite mit 6 Bogen durchbrochen und die Zwischenräume zwischen den Säulen zugemauert, wie es heute noch an der Kathedrale von Syrakus zu beobachten ist. Der Eingang wurde an die Westseite verlegt, wofür die Trennwand zwischen Naos und Opisthodom entfernt wurde. Die Sakristei wurde im ehemaligen Pronaos untergebracht. Im Tempelinneren fand man Standbilder von zwei punischen Götterbildern, die entfernt wurden. Es wird daher vermutet, dass bereits in griechischer Zeit zwei Götter hier verehrt worden waren und dass dies der Tempel ist, der ursprünglich den Dioskuren geweiht war. Die Kirche wurde auch nach der Aufgabe der Stadt bis ins 17. Jahrhundert weiter benutzt. 1748 wurde sie profaniert und anschließend weitgehend wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückverwandelt. Frühchristliche Nekropole Um den Concordiatempel herum befindet sich eine frühchristliche Nekropole. Die frühesten Gräber befinden sich zwischen dem Concordiatempel und dem Heraklestempel und stammen aus der Zeit zwischen dem 3. und dem 5. Jahrhundert n. Chr., die jüngsten Gräber stammen aus dem 9. Jahrhundert n. Chr. Die Gräber sind in den Kalkstein des Hügelzugs gegraben und verbreitern sich nach unten. Es gibt auch kürzere Gräber für Tote, die in einer Embryostellung beigesetzt wurden. Ein Gang, der die Nekropole in zwei Sektoren teilt, führt in eine Katakombe aus dem 4. bis 5. Jahrhundert mit dem Namen Fragapanegrotte. In die Wände dieser Katakombe sind bogenförmige Grabnischen eingeschnitten, die Arkosole genannt werden. Die Katakombe ist jedoch nicht öffentlich zugänglich. Stadtmauer In der Nähe des Concordiatempel befinden sich noch besonders eindrucksvolle Reste der alten Stadtmauer. Sie war hier auf der Südseite der Stadt teilweise nicht aus Steinblöcken errichtet, sondern aus dem Felsrücken herausgeschlagen worden, indem beide Seiten senkrecht abgetragen wurden. Am Fuß haben diese Mauerreste eine Dicke von etwas mehr als 1 m. In die Innenseite der Mauer sind Arkosolgräber eingeschnitten, die aus der oströmischen Zeit stammen. Heratempel Der letzte Tempel der Reihe ist der Heratempel an der Südostecke des Hochplateaus, auch Tempel der Hera Lakinia (oder Iuno Lacinia) genannt. Es ist jedoch unbekannt, welcher Gottheit der Tempel tatsächlich gewidmet war. Seine Zuordnung zu Hera beruht auf einer Verwechslung mit dem Heratempel auf dem Capo Lacinio in der Nähe der kalabrischen Stadt Crotone. Der Heratempel wurde etwa 460 bis 450 v. Chr. als dorischer Peripteros mit 6 × 13 Säulen errichtet. Er erhebt sich auf einem vierstufigen Unterbau (Krepis), der wie beim Concordiatempel zum Ausgleich des Geländes auf einem Sockel errichtet ist. Sein Grundriss (siehe Abbildung) entspricht in etwa dem des Concordiatempels. Der dorische Eckkonflikt wurde jedoch auf andere Weise gelöst: Nord-, West- und Südseite weisen eine einfache Eckkontraktion auf, d. h. nur jeweils das äußerste Säulenjoch wurde verengt, an der Frontseite (Ostseite) wurde dagegen keine Eckkontraktion durchgeführt, sondern das Mitteljoch verbreitert. Der Tempel wurde ca. 406 v. Chr. von den Karthagern niedergebrannt. Im ersten Jahrhundert v. Chr. wurde er von den Römern wieder instand gesetzt. Dabei wurden anstelle der ursprünglichen Marmorziegel Tonziegel zum Decken des Baus verwendet. Bereits im 18. Jahrhundert begann die Wiederaufrichtung der Säulen. Heute stehen 25 von den ehemals 34 Säulen der Ringhalle. Die Säulen der nördlichen Längsseite tragen alle ihre Kapitelle und einen Architrav. Von der Cella sind die Grundmauern und die Säulenstümpfe zwischen den Antenwänden von Pronaos und Opisthodom erhalten. Vor der Ostseite des Tempels befindet sich der Altar, der mit 29,3 × 10 m fast so groß ist wie die Cella (aber quer zu dieser steht). Nahe der Rückseite (Westseite) des Tempels wurde eine Zisterne gefunden. Poggetto San Nicola Etwa in der Mitte des antiken Stadtgebiets erhebt sich ein kleiner Hügel, der Poggetto San Nicola (Anhöhe von San Nicola) genannt wird. Auf ihm stehen das Archäologische Museum und die Kirche San Nicola. Hier befand sich in der hellenistisch-römischen Zeit das Verwaltungszentrum der antiken Stadt, von dem mehrere öffentliche Bauten wie z. B. das Ekklesiasterion und das Buleuterion ausgegraben sind. Hier wird auch die sogenannte „hohe“ Agora vermutet, während die sogenannte „niedere“ Agora am Fuß des südlichen Hügelzugs nördlich des Herkulestempels lag. Das Archäologische Museum entstand im Jahre 1967. Es wurde teilweise auf den Mauerresten eines Klosters der Zisterzienser aus dem 13. Jahrhundert errichtet. Es zeigt überwiegend Funde aus Agrigent und seiner Umgebung von der Vor- und Frühgeschichte bis zu der Römerzeit. Im Eingangsraum zeigt ein Modell die Topografie des antiken Akragas. Ausgestellt sind unter anderem: zahlreiche rot- und schwarzfigurige griechische Vasen, Löwenköpfe von den verschiedenen Tempeln, die dort als Wasserspeier an der Traufsima angebracht waren, Votivgaben aus den Heiligtümern, Mosaiken von den Fußböden ausgegrabener Häuser. Die bekanntesten Ausstellungsgegenstände sind: ein Telamon vom Olympieion, eine Marmorfigur eines Epheben und ein römischer Kindersarg mit Marmorreliefs, die die trauernden Eltern und Szenen aus dem Leben des Kindes zeigen. Die Kirche San Nicola war die ursprüngliche Klosterkirche der Zisterzienser. Sie stammt wie das Kloster aus dem 13. Jahrhundert und hat eine romanische Fassade mit zwei Antenpfeilern und einem spitzbogigen Portal sowie einem darüber verlaufenden Gesims, das die Fassade horizontal gliedert. In einer Seitenkapelle ist – angeblich vorläufig bis zur Wiedereröffnung des konsolidierten Diözesanmuseums – ein römischer Sarkophag aus dem 2. bis 3. Jahrhundert ausgestellt, der „Sarkophag der Phädra“ genannt wird. Seine Marmorreliefs zeigen die Geschichte der unerwiderten Liebe Phädras zu ihrem Stiefsohn Hippolytos und den Tod des Hippolytos. Südlich des Museums befindet sich das Ekklesiasterion, der Sitz der Ekklesia, der Volksversammlung in der hellenistischen Zeit. In den Hang des Hügels wurden 20 Sitzreihen etwa im Halbkreis konzentrisch um eine zentrale runde Rednertribüne herum aus dem Felsen geschlagen. Das Ekklesiasterion hat einen Durchmesser von etwa 48 m. Ungefähr 3000 Menschen fanden hier Platz. Am Rand des Ekklesiasterions und teilweise über dessen Sitzreihen erbaut steht das sogenannte Oratorium des Phalaris. Die Zuschreibung zu dem archaischen Tyrannen erfolgte fälschlicherweise aufgrund von Berichten, die einen Palast des Phalaris an dieser Stelle nennen. Der heute stehende Bau stammt jedoch aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. und ist der einzige während der Römerzeit neu errichtete Kultbau von Agrigentum. Ursprünglich war das Bauwerk ein Prostylos im ionischen Baustil, der auf einem Sockel errichtet war und dem ein quadratischer Altar vorgelagert war. Im 1. Jahrhundert wurde das Tempelchen als Grabmal verwendet, und im Mittelalter wurde es als Oratorium in das Zisterzienserkloster integriert. Aus dieser Zeit stammt auch das auf der Westseite herausgebrochene Fenster. Nördlich des Museums wurde das Buleuterion ausgegraben, das der Versammlungsort der Bule war, des Rates, der die Volksversammlungen vorbereitete. Dabei konnten zwei hauptsächliche Bauphasen festgestellt werden, die erste im 4. bis 3. Jahrhundert zur Zeit des Hellenismus und die zweite später zur Römerzeit. Das Buleuterion war ein etwa quadratisches Gebäude mit einem halbkreisförmigen Versammlungsort. Östlich der Anhöhe von San Nicola wurde ein Teil eines Hellenistisch-Römischen Stadtviertels ausgegraben. Die Gebäude wurden bei der Neubesiedelung von Akragas durch Timoleon auf den Grundmauern von Gebäuden der zerstörten Stadt errichtet, das hippodamische Straßensystem wurde übernommen. Auf dem ausgegrabenen Gelände befinden sich Reste von Gebäuden verschiedener Bauzeiten und Stile, z. B. hellenistische Peristylhäuser mit einem von Säulen umstandenen Innenhof und italische Atriumhäuser. Ein prunkvolles Peristylhaus hatte sogar eigene Thermenanlagen. Die Häuser hatten Mosaikfußböden, von denen die einfacheren, aus geometrischen Mustern und Ornamenten bestehenden, noch an Ort und Stelle zu sehen sind, während die komplexeren, z. B. ein Mosaikfragment, das eine Gazelle darstellt, in das Archäologische Museum übertragen wurden. Das ausgegrabene Viertel war etwa bis ins 7. Jahrhundert bewohnt, als sich die Bewohner allmählich auf den sichereren Girgentihügel zurückzogen. Akropolis Die Akropolis der antiken Stadt Akragas erstreckte sich über den Athenafelsen im Norden der Stadt und den Girgentihügel, der sich westlich an diesen anschloss. Polybios berichtet, dass sich auf dem Gipfel der Akropolis ein Temenos mit zwei Tempeln befand, die dem Zeus und der Athene geweiht waren. Der Zeustempel entstand nach zeitgenössischen Berichten bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. als ältester Tempel von Akragas. Die Reste dieses Tempels werden auf der höchsten Erhebung des Girgenti-Hügels unter dem heutigen Dom San Gerlando vermutet. Es gibt jedoch bisher keine archäologischen Funde, die diese Vermutung bestätigen. Der Athenatempel wurde etwa 480–460 v. Chr. als dorischer Peripteros errichtet. Auf den Resten dieses Tempels wurde wahrscheinlich schon in oströmischer Zeit eine Kirche errichtet. Die heutige Kirche Santa Maria dei Greci wurde etwa 1200 erbaut. Teile der ausgegrabenen Krepis und sechs dorische Säulenstümpfe von der Nordseite des Athenetempels sind heute unterhalb der Kirche zu sehen (siehe Grundriss). Von der Cella gibt es bislang keine Spur. Am östlichen Ende des Athenefelsens (Rupe Atenea) stand der Demetertempel. Er wurde etwa 480–470 v. Chr. in Form eines dorischen Antentempels errichtet. Erhalten sind das Fundament und ein Teil der Mauern der Cella. Auf dem Fundament und unter Verwendung der Mauerreste wurde im Mittelalter die Kirche San Biagio errichtet. Dabei wurde die Orientierung umgedreht, so dass die Apsis zwischen den Grundmauern der Anten des ursprünglichen Pronaos steht (siehe Grundriss). Rundaltäre und Votivbilder, die in der Nähe des Tempels gefunden wurden, deuten auf eine Verehrung der Erdgöttin Demeter hin. Die ebenfalls hier gefundenen zahlreichen Öllampen lassen nächtliche Zeremonien vermuten. Unterhalb des Demetertempels befindet sich das Felsheiligtum der Demeter. In einer Wand des Athenefelsens befinden sich drei Grotten, die von einer Quelle gespeist werden. Das Wasser wurde in mehreren miteinander verbundenen Becken gesammelt. Der Zugang zu den Grotten erfolgte über ein rechteckiges Bauwerk, in dem auch das Wasser gesammelt und in darunter liegende Wannen geleitet wurde. Es wird vermutet, dass die Grotten bereits eine Kultstätte der Sikaner bildeten, die vor der Ankunft der Griechen in dieser Gegend siedelten. Weitere Bauwerke Auf der Fortsetzung des Hügels der Tempel auf der gegenüberliegenden Talseite der Gärten von Kolymbéthra befindet sich der Hephaistostempel. Er lag noch innerhalb der antiken Stadtmauer, ist aber nicht mehr im Archäologischen Park „Valle dei Templi“ enthalten. Der Zugang zu dem Tempel des Hephaistos befindet sich auf der Straße zu dem Ortsteil Villaseta ca. 1 km westlich vom Grab des Theron. Vom Hephaistostempel aus hat man eine sehr schöne Sicht auf die Reihe der Tempel des Valle dei Templi. Der Hephaistostempel ist der jüngste der klassischen Tempel von Akragas und wurde etwa 430 v. Chr. als dorischer Peripteros auf einem vierstufigen Unterbau erbaut. Die Cella wurde über einem sehr viel kleineren archaischen Megaron errichtet. Von dem Hephaistostempel stehen nur noch zwei Säulenreste. Da sie nur teilweise kanneliert sind, ist zu vermuten, dass der Neubau des Tempels noch nicht abgeschlossen war, als die Karthager im Jahre 406 v. Chr. Akragas zerstörten. Außerhalb der antiken Stadt lag vor dem Tor IV (Porta Aurea) eine große hellenistisch-römische Nekropole, die „Necropoli Giambertoni“ genannt wird. Die meisten der Gräber sind einfache Gruben oder in die Erde versenkte Sarkophage, aber es gibt auch monumentale Bauwerke. Direkt außerhalb des Tors IV befindet sich das sogenannte Grab des Theron. Die Zuordnung erfolgte irrtümlich aufgrund einer Beschreibung des (nicht mehr erhaltenen) Grabmals des Tyrannen Theron durch Diodorus Siculus. Das heute noch stehende Bauwerk stammt jedoch aus einer viel späteren Zeit. Es wurde ca. 75–70 v. Chr. errichtet und war vermutlich ein Heroon, d. h. ein Gedenkbau für einen bedeutenden Bürger. Das Bauwerk hat einen quadratischen Sockel mit dorischem Gesims, auf den ein hausförmiger Aufbau aufgesetzt ist. Die Wände des Aufbaus haben Scheintüren, und an den Ecken stützen ionische Säulen ein dorisches Gebälk. Weiter außerhalb der Stadt befindet sich der Asklepiostempel. Die Zuordnung ist wieder durch Cicero überliefert, der von einem hier aufbewahrten Standbild des Apoll, des Vaters des Asklepios, berichtet, das Verres gestohlen hatte. Der Tempel hat die Form eines Antentempels mit Pseudo-Opisthodom, der etwa doppelt so lang wie breit ist. Die Vorhalle (Pronaos) ist durch zwei Säulen zwischen den hervortretenden Seitenwänden (Anten) gebildet, während die Rückhalle (Opisthodom) nur durch Halbsäulen und Pilaster auf der Rückwand vorgetäuscht ist. Bei neueren Grabungen wurde um den Tempel herum ein Gebäudekomplex mit einem Portikus, einer Zisterne und 28 Zimmern für Kranke gefunden, wie er für Asklepiostempel typisch ist. Östlich des Heratempels befindet sich am Fuß des Hochplateaus eine frühchristliche Basilicula (kleine Basilika, Kapelle) mit einer Größe von 10,45 × 6,80 m. Sie wurde vermutlich unter Kaiser Konstantin als Gedenkstätte für Märtyrer errichtet. Heute stehen nur noch das Fundament und die Grundmauern. Im Boden befinden sich zwei trapezförmige Gräber, in denen Terra-Sigillata-Reste und Fragmente eines römischen Sarkophags gefunden wurden. Einzelnachweise Literatur Johann Joachim Winckelmann: Anmerkungen über die Baukunst der Tempel zu Grigenti in Sizilien. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und Künste. Bd 5. Dyck/Olms, Leipzig/Hildesheim 1758, S. 223–242. Leo von Klenze: Der Tempel des olympischen Jupiter in Agrigent, nach den neuesten Ausgrabungen dargestellt. Cotta, Stuttgart 1821. Domenico Lo Faso Pietrasanta di Serradifalco: Le Antichità della Sicilia. Bd 3. „Antichità di Agragante“. Palermo 1836, online (PDF; 27 MB). Julius Schubring: Historische Topographie von Akragas. Engelmann, Leipzig 1870. Robert Koldewey, Otto Puchstein: Die griechischen Tempel in Unteritalien und Sicilien. 1. Bd Text, 2. Bd Tafeln. Asher, Berlin 1899. Online (Text und Tafeln) Pirro Marconi: Agrigento, Topografie ed Arte. Vallecchi Editore, Firenze 1929. Biagio Pace: Arte e civiltà della Sicilia antica. 4 Bde. Editrice Dante Alighieri, Rom 1935–1949. Pietro Griffo: Agrigent – Neuester Führer durch die antike und moderne Stadt. Soprintendenza alle antichità, Agrigento 1962. Klaus Gallas: Sizilien – Insel zwischen Morgenland und Abendland, DuMont Buchverlag, Köln 1986 (9. Aufl.), ISBN 3-7701-0818-3 Ernesto De Miro: Das Tal der Tempel in Agrigent, Sizilien. Atlantis, Herrsching 1989, ISBN 3-88199-543-9 Christoph Höcker: Planung und Konzeption der klassischen Ringhallentempel von Agrigent. Peter Lang, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-631-45853-3 Ferruccio Delle Cave, Marta Golin: Agrigent, das Tal der Tempel. Mit dem archäologischen Museum. Folio, Wien u. a. 2004, ISBN 3-85256-275-9 Dieter Mertens: Städte und Bauten der Westgriechen. Von der Kolonisation bis zur Krise am Ende des 5. Jh. v. Chr. Hirmer, München 2006, ISBN 3-7774-2755-1 Weblinks Archaeological Area of Agrigento (Seite des UNESCO World Heritage Committee, Englisch) Offizielle Seite des Freien Gemeindekonsortiums Agrigent zum Tal der Tempel (italienisch) Offizielle Seite des Parco Valle dei Templi Agrigento (italienisch) mit deutschsprachigem Prospekt und Fotogalerie Seite des Archäologischen Museums Agrigent (italienisch) Archäologischer Fundplatz in Sizilien Dorische Stadtgründung Antike griechische Stadt Welterbestätte in Europa Welterbestätte in Italien Weltkulturerbestätte
1103421
https://de.wikipedia.org/wiki/Philon%20von%20Larisa
Philon von Larisa
Philon von Larisa ( Phílōn, auch Philon von Larissa; * 159/158 v. Chr. in Larisa; † 84/83 v. Chr. in Rom) war ein antiker griechischer Philosoph. Er gehörte der Platonischen Akademie in Athen an, die er von 110/109 bis 88 als Scholarch (Schuloberhaupt) leitete. Sein tatsächlicher Name lautete mit hoher Wahrscheinlichkeit Philion von Larisa – mit einem zweiten Iota bzw. "i". Philon war der letzte Scholarch der „Jüngeren Akademie“, die damals von der Autorität des 129/128 gestorbenen berühmten Scholarchen Karneades von Kyrene geprägt war. Karneades war der prominenteste Repräsentant des für die Jüngere Akademie charakteristischen Skeptizismus, an dem seine Nachfolger festhielten. Seine Schüler und deren Schüler vertraten teils einen radikalen Skeptizismus, teils gemäßigte Varianten. Philon war gemäßigter Skeptiker. Sein Interesse galt vor allem Fragen der Erkenntnistheorie und der Ethik. Im Lauf der Entwicklung seines Denkens gelangte er zu einem neuen Ansatz, indem er das herkömmliche strenge Wahrheitskriterium aufgab und damit den Skeptizismus stark aufweichte. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Rom, wo Cicero zu seinen Hörern gehörte. Sein Hauptgegner war sein ehemaliger Schüler Antiochos von Askalon, der den Skeptizismus gänzlich verwarf und heftig bekämpfte. Bisweilen wird Philon wegen seiner Neuerung als Gründer einer neuen Schulrichtung, der „vierten Akademie“, bezeichnet; dieser Begriff kommt aber in zeitgenössischen Quellen nicht vor. Leben Philon wurde wahrscheinlich 159 oder 158 v. Chr. geboren. Falls jedoch die Angabe in einem Papyrus, dass er im Alter von 63 Jahren starb, entgegen der Wahrscheinlichkeit kein Fehler ist, ist seine Geburt um 147 v. Chr. zu datieren. Er verbrachte seine Kindheit und Jugend in seiner Heimatstadt Larisa in Thessalien. Dort erhielt er etwa acht Jahre lang Philosophieunterricht bei Kallikles, einem Schüler des berühmten Philosophen Karneades von Kyrene. Karneades, der damals führende Vertreter des akademischen Skeptizismus, leitete die Akademie in Athen bis zu seinem gesundheitsbedingten Rücktritt vom Amt des Scholarchen (137/136). 134/133 ging Philon nach Athen, wo er vierzehn Jahre lang Schüler des Kleitomachos war, der damals als Scholarch der Akademie fungierte. Daraufhin war er etwa von 120-118 Schüler des Grammatikers Apollodor von Athen, bevor er sieben Jahre lang am Unterricht eines Stoikers – sehr wahrscheinlich Mnesarchos von Athen – teilgenommen hat. Als Kleitomachos starb, wurde Philon 110/109 zu seinem Nachfolger gewählt. Schon unter Kleitomachos hatten Römer aus angesehenen Familien am Unterricht in der Akademie teilgenommen. Zu Philons Hörern gehörte der römische Politiker Gaius Aurelius Cotta, der später Konsul wurde. Eine generell romfreundliche Haltung der Akademie unter Philon ist allerdings nicht nachweisbar. Ferner hatte Philon in Athen zahlreiche griechische Schüler, deren Namen überliefert sind. Im Jahr 88 v. Chr. errichtete in Athen erst der Politiker Athenion und nach dessen Scheitern der Truppenführer Aristion eine Tyrannis. Beide handelten im Auftrag des romfeindlichen Königs Mithridates VI. von Pontos. Um der Terrorherrschaft in Athen zu entkommen, floh Philon vor Ende 88 nach Rom. Dabei schloss sich ihm wahrscheinlich ein großer Teil seiner Schüler an. So entging er den Kampfhandlungen des Ersten Mithridatischen Krieges, die zur Belagerung Athens durch die Römer führten. Wie lange nach Philons Flucht in der Akademie ein rudimentärer Schulbetrieb aufrechterhalten wurde, ist unbekannt. Im März 86 eroberten die Truppen Sullas Athen. Philon verbrachte seine wenigen restlichen Lebensjahre als angesehener Philosophielehrer in Rom. In den gebildeten Kreisen der römischen Oberschicht waren seine Vorträge außerordentlich beliebt. Zu seinen zahlreichen Hörern gehörten Cicero, dessen philosophische Entwicklung von Philons Unterricht stark beeinflusst wurde, der Politiker Quintus Lutatius Catulus, der im Jahr 102 Konsul gewesen war, und dessen gleichnamiger Sohn, der 78 zum Konsul gewählt wurde. In Rom lehrte Philon wie schon zuvor in Athen auch Rhetorik. Damit wich er von der rhetorikfeindlichen Haltung ab, welche seit Platons Zeiten in der Akademie vorherrschte. Im Winter 87/86 übte Philons ehemaliger Schüler Antiochos von Askalon, der sich damals in Alexandria aufhielt, heftige Kritik an der skeptischen Erkenntnistheorie. Antiochos hatte sich schon früher von der Akademie getrennt, da er zu einer prinzipiellen Ablehnung des Skeptizismus gelangt war. Nun bekämpfte er eine von Philon entwickelte und schriftlich verbreitete neue Variante des gemäßigten Skeptizismus in einer Gegenschrift Sosos, die nicht erhalten ist. Herakleitos von Tyros, ein in Alexandria lebender Schüler Philons, verteidigte die skeptische Philosophie gegen den Angriff des Antiochos. Kritik an Philons gemäßigtem Skeptizismus kam auch aus dem entgegengesetzten Lager: Ainesidemos, ein ehemaliger Akademiker, der eine radikal skeptische Haltung einnahm, wandte sich gegen die Aufweichung des Skeptizismus. Philon starb im Jahr 84 oder Anfang 83 in Italien im Zuge einer Influenzaepidemie, wie eine Papyrus-Neulesung gezeigt hat. Mit ihm endete die Epoche der vom Skeptizismus geprägten „Jüngeren Akademie“, deren letzter Scholarch er war. Werke Sämtliche Schriften Philons sind bis auf Fragmente verloren. Überliefert ist ein Titel Dihaíresis tou kata philosophían lógou, was wörtlich mit „Einteilung der Darstellung der Philosophie“ übersetzt wird; es kann sich um eine Programmschrift oder eine systematische Übersicht gehandelt haben. Daraus ist ein Abschnitt, der das Vorgehen bei der Vermittlung ethischer Lehren behandelt, in einer Paraphrase bei Johannes Stobaios erhalten. Sicher ist, dass Philon im Jahr 87 in Rom eine Schrift in zwei Büchern verfasste, die in der Forschung als „römische Bücher“ bezeichnet wird, da ihr authentischer Titel unbekannt ist. Darin behandelte er Fragen der Erkenntnistheorie. Lehre Da Philons Schriften nicht erhalten geblieben sind, kann seine Lehre nur aus Angaben in Werken anderer Autoren erschlossen werden. Die Hauptquelle sind die Academica Ciceros, der als Teilnehmer an Philons Unterricht gut informiert war und auch gegnerische Argumente mitteilt. Wie bei den anderen skeptischen Akademikern standen auch bei Philon Erkenntnistheorie und Ethik im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Wegen der ungünstigen Überlieferungslage und weil er seine Ansichten im Lauf der Zeit erheblich geändert hat, erweist sich die Ermittlung und Untersuchung seiner Lehraussagen als schwierig. Die damit zusammenhängenden Fragen werden in der reichhaltigen Forschungsliteratur kontrovers diskutiert. Erkenntnistheorie Ältere Entwicklungsphasen Als Schüler des Kleitomachos und auch noch zum Zeitpunkt seiner Wahl zum Scholarchen war Philon anscheinend ein getreuer Anhänger des herkömmlichen akademischen Skeptizismus, wenn auch möglicherweise nicht der von Kleitomachos vertretenen radikalen Variante. Er trat also – vor allem in der Auseinandersetzung mit den Stoikern – für die Überzeugung ein, dass es unmöglich sei, gesichertes philosophisches Wissen zu erlangen. Alle Versuche, Wahrheitskriterien schlüssig zu begründen und mit ihrer Hilfe die Richtigkeit eines Urteils zwingend zu erweisen, seien zum Scheitern verurteilt. Daher könne man als Philosoph zwar verschiedene Meinungen erörtern, doch dürfe man sich redlicherweise keine von ihnen im Sinne einer Tatsachenbehauptung zu eigen machen. Im praktischen Leben, wo man ständig Entscheidungen treffen muss und dafür Kriterien benötigt, sei es zulässig, sich unter dem Gesichtspunkt der Wahrscheinlichkeit oder Plausibilität für eine bestimmte Annahme zu entscheiden und sein Verhalten danach auszurichten. Philosophisch gesehen seien aber solche Annahmen nichts als belanglose Meinungen, da sie nicht beweisbar seien. Daher verzichte der Weise prinzipiell auf das Urteilen. Zu Philons Zeit war Karneades, der berühmteste unter den Skeptikern, die maßgebliche Autorität auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie. Philon hatte Karneades, der 137/136 aus gesundheitlichem Grund als Akademieleiter zurückgetreten und 129/128 gestorben war, nicht mehr persönlich erleben können. Da Karneades keine Schriften hinterlassen hatte, kannten jüngere Akademiker wie Philon seine Philosophie nur aus den teils subjektiv gefärbten Berichten seiner überlebenden Schüler, unter denen Kleitomachos und Metrodoros von Stratonikeia die prominentesten und wohl bedeutendsten waren. Metrodoros, der außerhalb der Akademie lehrte, vertrat im Gegensatz zu Kleitomachos einen gemäßigten Skeptizismus. Beide erhoben den Anspruch, die authentische Auffassung des Karneades zu verteidigen. Metrodoros behauptete, Karneades habe nicht die gesamte Wirklichkeit für unerfassbar gehalten. Vielmehr habe er bestimmte Sachverhalte als erkennbar betrachtet und daher auch in einzelnen Fällen ein Bekenntnis zu einer plausiblen Meinung akzeptiert. Zu einem schwer feststellbaren Zeitpunkt nahm Philon im Sinne der gemäßigten Richtung Stellung. Wahrscheinlich trat er erst nach seiner Wahl zum Scholarchen mit dieser Ansicht hervor, als die Radikalen mit dem Tod des Kleitomachos ihren prominentesten Kopf verloren hatten. Ob bzw. inwieweit er dabei von Metrodoros beeinflusst war und mit ihm übereinstimmte, ist unklar und wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Letzte (römische) Entwicklungsphase Nach seiner Übersiedlung nach Rom nahm Philon in seinen „römischen Büchern“ eine weitere gravierende Änderung seiner Position vor, womit er seinen ehemaligen Schüler Antiochos von Askalon empörte und zu einem heftigen Protest veranlasste. Ein wesentlicher Streitpunkt war der Umstand, dass Philon trotz seiner Meinungsänderungen stets an dem Anspruch der skeptischen Akademiker festhielt, die authentische Philosophie Platons zu bewahren. Er betrachtete also Platon als (gemäßigten) Skeptiker. Antiochos, der den gemäßigten Skeptizismus ebenso wie den radikalen bekämpfte, bestritt die Berechtigung dieses Anspruchs; er hielt sich selbst für den wahren Erben der platonischen Tradition. Cicero berichtet, dass Philon in den „römischen Büchern“ neuartige Behauptungen vortrug und damit auch seine Freunde und Anhänger überraschte. Worin dieser Kurswechsel des schon über siebzigjährigen Philosophen bestand, geht aus den Quellen nicht genau hervor, und in der Forschung gehen die Meinungen weit auseinander. Sicher ist, dass Philon Skeptiker blieb; anderenfalls hätte sich Antiochos nicht gegen ihn gewendet, sondern hätte ihm Beifall gezollt. Es steht aber auch fest, dass die Richtungsänderung auf eine erhebliche Einschränkung der Skepsis hinauslief und dass Philon nun die Möglichkeit von Erkenntnis objektiver Realität in weitem Umfang einräumte. Dabei handelte es sich jedoch sicher nicht – wie bei Antiochos – um eine Annäherung an die stoische Erkenntnistheorie, sondern um ein fundamental anderes Konzept von Erkenntnis. Die stoische Lehre besagt, dass Erkenntnis nur dann vorliegt, wenn eine Vorstellung (phantasía) vorhanden ist, die nur von etwas gemäß dieser Vorstellung Seiendem bewirkt sein kann und nicht auch von etwas, was nicht ist oder was anders ist, als die Vorstellung besagt. Ist dies der Fall, so ist „Zustimmung“ (synkatáthesis) zu dieser Vorstellung angebracht und eine „Erfassung“ (katálēpsis) der Wahrheit möglich, wobei der Erfassende sich darüber klar ist, dass es sich tatsächlich um echtes Wissen handelt. Demgegenüber hielt Philon an der Überzeugung des akademischen Skeptizismus fest, wonach keine Vorstellung dieser Anforderung genügen kann. Ein Erfassen im stoischen Sinne hielt er also weiterhin für unmöglich. Insofern blieb er Skeptiker. Er war jedoch zur Überzeugung gelangt, dass eine Erkenntnis einer objektiven Wahrheit als solcher unter Umständen auch dann vorliegen kann, wenn das strenge stoische Wahrheitskriterium nicht erfüllt ist, wonach außer dem erkannten Sachverhalt kein anderer möglich ist, der diese Vorstellung ebenfalls – in diesem Fall als Illusion – hervorrufen könnte. Philons neuer Lehre zufolge ist Wissen erreichbar, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Deutlichkeit oder Evidenz (enárgeia) und die Übereinstimmung (homología) mehrerer Beobachtungen. Dies ist der Fall, wenn eine einleuchtende Annahme in sich stimmig ist und wenn Beobachtungen, die von verschiedenen Beobachtern und zu verschiedenen Zeitpunkten gemacht wurden, mit ihr übereinstimmen. Dann ist ein so hohes Maß an Glaubwürdigkeit gegeben, dass man dieser Vorstellung nicht nur pragmatisch für die Lebenspraxis „folgen“, sondern ihr auch philosophisch „zustimmen“ darf, obwohl ihre Unrichtigkeit nicht mit absoluter Sicherheit auszuschließen ist. Auf diese Art erfasst man den Sachverhalt zwar nicht im Sinne der Stoa, wohl aber „gemäß der Natur der Dinge“. Mit dieser neuen Lehre wandte sich Philon weiterhin gegen das stoische Konzept eines möglichen absolut sicheren Wissens. Zugleich verwarf er aber auch den bisher von Stoikern und Skeptikern übereinstimmend gebilligten Grundsatz, dass alle Annahmen, die nicht mit absoluter Sicherheit als wahr erwiesen werden können, nichts als subjektive Meinungen und als solche philosophisch gleichermaßen wertlos sind. Damit beseitigte er die prinzipielle Schranke zwischen dem mehr oder weniger Plausiblen und dem, was man als wahr bezeichnen darf. Daher warf ihm Antiochos vor, er habe mit dem Verzicht auf die herkömmliche Abgrenzung von Wissen und Meinen das Unterscheidungskriterium abgeschafft, das die Definition von Wahrheit ermöglicht, und damit, ohne es zu wollen, den Wahrheitsbegriff aufgehoben. Philons neue Lehre schuf faktisch die erkenntnistheoretische Voraussetzung für eine Rückkehr zum „Dogmatismus“. Sie ermöglichte die Wiedereinführung von Lehrmeinungen mit Wahrheitsanspruch, wenn auch mit der Einschränkung, dass dieser Anspruch kein absoluter sein konnte. Inwieweit er selbst bereits einzelne derartige Lehrmeinungen verkündet hat, auch hinsichtlich des Bereichs des nicht sinnlich Wahrnehmbaren, ist in der Forschung umstritten. Harold Tarrant meint, Philons „römische Bücher“ hätten eine neue „dogmatische“ Lehre enthalten, die „Orthodoxie“ seiner „vierten Akademie“. Ethik Da Philon in seiner späten Lehre Erkenntnis grundsätzlich für erlangbar und einen dabei fortbestehenden Rest an Unsicherheit für tolerierbar hielt, stellte sich ihm das zentrale Problem des Skeptizismus nicht, wie man sich konsequent aller Urteile enthalten und dennoch in der Lebenspraxis Entscheidungen treffen, ausführen und verantworten kann. Er richtete sein Augenmerk vielmehr auf die Frage, wie man als Philosoph einen der Philosophie unkundigen Menschen zur Einsicht und damit zur Eudaimonie (Glückseligkeit) führt. Dabei schilderte er die Tätigkeit des philosophischen Lehrers in Analogie zu derjenigen eines Arztes. Er unterschied mehrere Schritte der Belehrung. Zunächst zeigt der Philosoph den Sinn eines tugendhaften philosophischen Lebens auf und widerlegt Kritik an diesem Konzept, so wie ein Arzt den Patienten von der Wirksamkeit einer Therapie überzeugt. Dann „heilt“ er, indem er falsche, schädliche Meinungen, welche die Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigen, beseitigt und sie durch zuträgliche ersetzt; dabei geht es um die Güter und die Übel. Bei der dritten Aufgabe geht es um das Verständnis des Endziels, der Eudaimonie, die mit dem Endziel des Arztes, der Gesundheit, verglichen wird. Die nächste Unterweisung besteht in der Vermittlung von Regeln für die Lebensführung und in der Klärung von Fragen, welche die staatliche Gemeinschaft und ihre verfassungsmäßige Ordnung betreffen. Diesem Schritt entspricht in der Medizin die prophylaktische Gesundheitsberatung. Der letzte Schritt, die Darstellung der Umsetzung des Gelernten im Alltag, ist für hinreichend Einsichtsfähige eigentlich überflüssig, wird aber für diejenigen, die dazu Hinweise benötigen, hinzugefügt. Rezeption Cicero Ein Hauptmerkmal des akademischen Skeptizismus war der konsequente Verzicht auf Suche nach der Wahrheit, da diese als unerreichbar galt. Cicero, dessen philosophisches Denken von der letzten Phase der Epoche der skeptischen Jüngeren Akademie geprägt war, äußerte sich gelegentlich in diesem Sinne als erkenntnistheoretischer Pessimist. Andererseits sah er aber in der Wahrheitssuche ein zentrales Anliegen der Philosophie und nahm an zahlreichen Stellen seiner philosophischen Werke eine optimistischere Haltung ein. Dies begründete er mit seinem Konzept einer Annäherung an die Wahrheit mittels Auffindung und Abwägung konträrer Argumente zu einer offenen Frage. Damit könne man etwas „hervorlocken“, was entweder wahr sei oder so nahe wie möglich an die Wahrheit herankomme. Hinter diesem für Cicero typischen, anderweitig nicht bezeugten Verständnis von Wahrheit und Erkenntnis sehen manche Forscher den Einfluss der Lehre des späten Philon. Wenn dies zutrifft, hat Philon eine Grundannahme des Skeptizismus preisgegeben, indem er den prinzipiellen Unterschied zwischen dem mehr oder weniger Wahrscheinlichen und Glaubwürdigen und dem Wahren verwischte und eine Steigerung der Plausibilität für ein graduelles Voranschreiten in Richtung der Wahrheit hielt. Es gibt aber in den Quellen keinen Beleg dafür, dass Philon diese im Skeptizismus fundamentale Unterscheidung jemals aufgegeben hat. Daher ist davon auszugehen, dass Cicero Philons Erkenntnislehre im Sinne seines eigenen Verständnisses von Philosophie als Wahrheitssuche umgewandelt hat. Römische Kaiserzeit Die Rezeption der philonischen Erkenntnistheorie in der römischen Kaiserzeit spiegelt ebenso wie schon die Reaktionen der Zeitgenossen die Stellung seines gemäßigten Skeptizismus „zwischen den Fronten“. Sextus Empiricus, ein konsequenter Vertreter des pyrrhonischen Skeptizismus, fand in Philons Aufweichung der Skepsis ein Argument für seine Behauptung, dass die Akademiker keine echten Skeptiker gewesen seien, da ihnen die dazu nötige Folgerichtigkeit gefehlt habe. Der Mittelplatoniker Numenios von Apamea war der Meinung, Philon habe sich der Notwendigkeit, den unhaltbaren Skeptizismus aufzugeben, nicht entziehen können, habe diesen Schritt aber nur halbherzig vollzogen. Der Kirchenvater Augustinus von Hippo lobte Philon, denn er betrachtete ihn als Anhänger eines „dogmatischen“ Platonismus, der nur scheinbar Skeptiker gewesen sei. Die von Philon veranlasste Abwendung der Akademie vom radikalen Skeptizismus wurde in der römischen Kaiserzeit als tiefer Einschnitt und als Neuanfang eingeschätzt. Daher bezeichnete man damals Philon als Gründer einer „vierten Akademie“ (wobei als Gründer der „ersten“ bzw. der „zweiten“ und der „dritten“ Akademie Platon, Arkesilaos und Karneades galten). Der Begriff „vierte Akademie“ wird auch in der modernen Forschung verwendet, wobei aber zu beachten ist, dass er bei zeitgenössischen Autoren nicht belegt ist. Moderne Urteile Die modernen Bewertungen von Philons philosophischer Leistung gehen weit auseinander. John Glucker, dem Woldemar Görler weitgehend zustimmt, sieht in ihm einen konservativen, farblosen und unbedeutenden Denker, der außerstande gewesen sei, der Akademie einen neuen Weg zu weisen. Sein Versuch, mit den Thesen der „römischen Bücher“ einen Ausweg aus der Sterilität eines nur verneinenden Skeptizismus zu finden, sei gescheitert. Gisela Striker ist der Ansicht, Philon habe sich zu Unrecht für einen Skeptiker gehalten; am Ende seiner philosophischen Entwicklung sei er faktisch ebenso wie sein Gegner Antiochos ein Dogmatiker gewesen. Anders urteilt Harold Tarrant. Er meint, Philons „vierte Akademie“ habe eine eigenständige Position erarbeitet, sie habe die künftige Rückbesinnung auf Platon vorbereitet und damit der späteren Entwicklung des Platonismus einen nachhaltig wirkenden Impuls gegeben. Zu einer positiven Einschätzung von Philons Leistung gelangt auch Bernard Besnier. Er sieht in der Position des letzten Scholarchen der Jüngeren Akademie eine berechtigte Konsequenz aus der Einsicht, dass die Kriterienlehre des Karneades, wenn man sie ernst nehmen wolle, einer Rechtfertigung bedürfe und eine solche nichts anderes als ein „Dogma“ sein könne. Dazu habe sich Philon bekannt. Damit habe er die Akademie aus der „parasitären“, rein destruktiven Rolle befreit, in der sie sich befunden habe, solange sich ihre Zielsetzung in der Widerlegung der stoischen Erkenntnistheorie erschöpfte. Raymond Gélibert hält Philon für einen Phänomenalisten, der keineswegs den Skeptizismus aufgegeben habe, sondern ihn vielmehr auf eine phänomenalistische Grundlage gestellt und damit den Dogmatismus herausgefordert habe. Quellensammlungen Heinrich Dörrie (Hrsg.): Der Platonismus in der Antike, Band 1: Die geschichtlichen Wurzeln des Platonismus. Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, ISBN 3-7728-1153-1, S. 170–193, 436–453 (Quellentexte mit Übersetzung und Kommentar) Hans Joachim Mette: Philon von Larisa und Antiochos von Askalon. In: Lustrum 28/29, 1986/87, S. 9–63 (Zusammenstellung der Quellentexte) Literatur Charles Brittain: Philo of Larissa. The Last of the Academic Sceptics. Oxford University Press, Oxford 2001, ISBN 0-19-815298-1 Woldemar Görler: Philon aus Larisa. In: Hellmut Flashar (Hrsg.): Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, Bd. 4: Die hellenistische Philosophie, 2. Halbband, Schwabe, Basel 1994, ISBN 3-7965-0930-4, S. 915–937 Richard Goulet: Philon de Larissa. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques, Bd. 5, Teil 1, CNRS Éditions, Paris 2012, ISBN 978-2-271-07335-8, S. 404–438 Weblinks Anmerkungen Griechische Philosophie Person (Thessalien) Grieche (Antike) Geboren im 2. Jahrhundert v. Chr. Gestorben im 1. Jahrhundert v. Chr. Mann
1111404
https://de.wikipedia.org/wiki/Interton%20VC%204000
Interton VC 4000
Der Interton Video Computer 4000 oder kurz Interton VC 4000 ist eine Videospielkonsole der Interton-Electronic Hörgeräte GmbH. Sie basiert auf dem Mikroprozessor Signetics 2650A und war ab 1978 in der Bundesrepublik Deutschland erhältlich, wenig später auch in anderen europäischen Länden. Erstmals verfügte mit diesem Gerät eine Spielkonsole über einen Controller mit analogen Joysticks und Funktionstastenfeld. Das Gerät war weniger leistungsfähig als seine Hauptkonkurrenten Atari VCS 2600 und Philips G 7000, dafür aber auch preiswerter. Die Produktion wurde wegen Insolvenz des Herstellers im Mai 1983 eingestellt. Der VC 4000 gilt als die einzige mikroprozessorgesteuerte Videospielkonsole, die in Deutschland entwickelt wurde. Ihre speziellen Controller werden als wegweisend für verschiedene Videospielkonsolen der darauffolgenden Generation angesehen. Entwicklung und Vermarktung Mitte der 1970er Jahre beschloss die in Köln ansässige Interton-Electronic Hörgeräte GmbH die Entwicklung einer eigenen mikroprozessorgesteuerten Spielkonsole. Durch deren Programmierbarkeit sollte ein leichter und preiswerter Austausch von Spielen in Form von Steckmodulen mit eingebauten ROM-Speicherchips ermöglicht werden. Ein solcher Wechsel war mit den damals weit verbreiteten festverdrahteten Konsolen in den meisten Fällen nicht möglich oder die Austauschmodule waren durch die Vielzahl ihrer elektronischen Bauelemente in der Herstellung wesentlich teurer. Häufig musste für jedes neue Spiel eine entsprechende Konsole erworben werden. Expertise im Bereich der Unterhaltungselektronik hatte sich Interton zuvor mit Konsolen wie beispielsweise Interton Video 2000 und Interton Video 3000 erworben. Die Entwickler des neuen „Videocomputer-Spielsystem“ wählten bei Konstruktionsbeginn im Jahr 1976 den Mikroprozessor Signetics 2650 als Grundlage ihrer Systemarchitektur. Ob die Kombination mit weiteren elektronischen Komponenten in Eigenregie geschah oder ob Interton auf das häufig zitierte 1292 Advanced Programmable Video System des Unternehmens Radofin International zurückgriff, ist ungeklärt. Während der bis ins Jahr 1977 hineinreichenden Entwicklungsarbeiten stattete mit Interton erstmals ein Hersteller seine Konsole mit Controllern aus, die über einen analogen Joystick und ein integriertes Tastenfeld zur Spielbedienung verfügten. Als Produktionsstandort wählte Interton Irland. Ein Prototyp des Geräts wurde der Öffentlichkeit am 29. August 1977 auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin vorgestellt. Dort verkündete Interton auch den geplanten Verkaufsstart für den Februar 1978 und einen Preis von etwa 300 DM. Die Markteinführung verzögerte sich jedoch bis Ende 1978. Die zwischenzeitlich in „Video Computer 4000“ oder kurz „VC 4000“ umbenannte Konsole konnte dann in Westdeutschland und in Großbritannien in Warenhäusern und über den Versandhandel erworben werden. Der Hersteller betonte in der begleitenden gedruckten Werbung insbesondere die innovative Nutzung des heimischen Fernsehers („Ihr Fernsehgerät kann mehr, als Sie glauben“) durch ein „zukunftssicheres“ Gerät, mit dem man alle von Interton „heute, morgen und übermorgen“ herausgebrachten Spiele nutzen könne. Der Preis im Katalog 1978/79 von Quelle GmbH beispielsweise betrug zunächst 398 DM (entspricht heute etwa  EUR), wurde aber bereits im Jahr 1979 auf 298 DM (heute ca.  EUR) gesenkt. In Großbritannien kostete das Gerät bei Verkaufsstart 129,95 Pfund Sterling, womit es etwa 25 Prozent teurer als in Westdeutschland war. Der VC 4000 war damit bei Erscheinen sowohl in Deutschland als auch Großbritannien günstiger als die ebenfalls 1978 erschienene Konsole Philips G-7000. Vermutlich kurz nach dem Verkaufsstart war das Gerät über regionale Anbieter auch in Österreich, den Niederlanden, Frankreich, Spanien und Australien erhältlich. Im Jahr 1979 lizenzierte Interton den VC 4000 an den Elektronikkonzern Grundig. Wegen seines speziellen TV-Anschlusses konnte dieser ansonsten fast baugleiche Super Play Computer 4000 nur mit Super-Color-Fernsehern von Grundig betrieben werden. Im Produktkatalog Grundig-Revue von 1979 beschrieb der Hersteller seine Konsole daher als „ideale[s], immer aktuelle[s] Tele-Spiel-System für Ihr Super Color Spitzenmodell“, das „zu jeder Tages- und Nachtzeit Spielspaß ohne Grenzen, Unterhaltung und Lernstoff am laufenden Band“ biete. Das Gerät wurde zusammen mit dem Spielmodul Autorennen ausgeliefert und kostete Ende 1979 etwa 380 DM. Die Körting Hannover AG brachte mit dem Tele-Video-Computer TVC 4000 ein weiteres Lizenzgerät auf den Markt. Nach und nach stellte Interton insgesamt 37 Spiele für den VC 4000 zur Verfügung. Die ersten Titel kosteten im Quelle-Katalog von 1978/79 zunächst 49,95 DM, nur wenig später waren die Preise auf bis zu 99 DM angehoben worden. In Großbritannien konnten die Module für 15 Pfund Sterling erworben werden. Im Mai 1983 stellte das in Konkurs gegangene Unternehmen Interton die Produktion ein und es wurde mit dem Ausverkauf noch verbliebener Bestände begonnen. Verkaufszahlen sind nicht bekannt. Technische Details Auf der Oberseite des Plastikgehäuses befindet sich der Aufnahmeschacht für das Steckmodul und diverse Tasten zur Steuerung des Geräts. Die elektronischen Komponenten befinden sich auf einer Platine, die im Inneren des Gehäuses verbaut ist. Die beiden identischen, jeweils etwa 200 Gramm schweren Controller können zum Spielen den entsprechenden Gehäusemulden entnommen werden. Verbunden sind sie mit dem Grundgerät jeweils über ein ca. 1 Meter langes Kabel, das an der Rückseite der Konsole eingesteckt wird. Hauptprozessor Der VC 4000 basiert auf dem 8-Bit-Mikroprozessor Signetics 2650A mit einem Systemtakt von ca. 0,887 MHz. Diese CPU kann auf einen Adressraum von 32768 Byte zugreifen, was auch die theoretisch mögliche Obergrenze des Arbeits- bzw. Festwertspeichers von 32 Kilobytes (KB) festlegt. Der Adressraum segmentiert sich beim VC 4000 in verschiedene Abschnitte unterschiedlicher Größe. Aus praktischen Gründen ist es üblich, für deren Adressen anstelle der dezimalen Notation die hexadezimale zu verwenden. Ihr wird zur besseren Unterscheidbarkeit üblicherweise ein $-Symbol vorangestellt. Den Adressen von 0 bis 32767 in dezimaler Notation entsprechen im hexadezimalen System die Adressen $0000 bis $7FFF. Die bis zu 6 KB umfassenden Inhalte von Steckmodulen etwa werden beim VC 4000 ab der Speicheradresse $0000 eingeblendet. Unmittelbar nach dem Einschalten des Geräts mit dem Schiebeschalter beginnt die CPU mit dem Auslesen der Inhalte eines eingesteckten Spiels: es erscheint zunächst ein roter Farbstreifen auf dem Bildschirm. Durch Betätigen der Einlesetaste (Doppelpfeil-Piktogramm) wird nun das erste Spiel des Steckmoduls gestartet. Mithilfe der Fortschalt-Taste (Pfeil-Piktogramm) können weitere Spiele bzw. Spielvariationen ausgewählt und durch Drücken der Start-Taste ausgeführt werden. Die Konsole verfügt über keine eigene Firmware. Grafik- und Tonerzeugung Die Grafik- und Tonerzeugung übernimmt der ebenfalls von Signetics stammende elektronische Baustein Programmable Video Interface 2636, der im Adressbereich von $1E80 bis $1FFF angesprochen wird. Der VC 4000 stellt mit seiner Hilfe maximal 128 horizontale und 200 vertikale Bildpunkte dar. Der Bildschirm für die Spielfläche ist dabei in 16 × 20 unterschiedlich hohe, aber jeweils acht Bildpunkte breite Zellen eingeteilt. In allen Zellen können lediglich vier verschiedene horizontale Punktemuster dargestellt werden. Das vom VC 4000 erzeugbare Spielfeld beschränkt sich daher auf gitterartige Strukturen, erweitert um die Möglichkeit, im oberen und unteren Bereich Punktestände einzublenden. Es steht eine Auswahl von insgesamt acht Farben zur Verfügung, wobei für das Spielfeld lediglich zwei (Vordergrund und Hintergrund) gleichzeitig darstellbar sind. Der Grafikbaustein erlaubt es zudem, bis zu vier unabhängige Grafikobjekte pro Zeile zu ergänzen. Diese Sprites werden gemäß benutzerdefinierbaren Überlappungsregeln in das aktuelle Hintergrundbild kopiert und dann einer Kollisionsprüfung unterzogen. Dabei wird festgestellt, ob sich die Sprites untereinander oder Teile des Hintergrundbildes wie beispielsweise Labyrinthwände berühren. Diese Fähigkeiten dienen der vereinfachten Erstellung von Spielen mit interagierenden Grafikobjekten und schnellem Spielgeschehen. Der 2636 enthält zudem den insgesamt 37 Byte umfassenden Arbeitsspeicher des VC 4000. Weiterer RAM ist durch Steckmodule nachrüstbar. In den beiden von Interton herausgebrachten Schachspielen beispielsweise sind neben dem Festwertspeicher mit den Programminhalten jeweils auch 1 KB Arbeitsspeicher verbaut, um die Spielzüge berechnen und protokollieren zu können. Zu den weiteren Aufgaben des 2636 gehört die Abfrage der beiden Controller und auch die auf einen Audiokanal beschränkte Ton- und Geräuscherzeugung. Die vom VC 4000 und Körting-Lizenzgerät bereitgestellten Bild- und Audiodaten werden anschließend in einen HF-Modulator eingespeist, der sich auf der Unterseite der Hauptplatine befindet. Das dabei erzeugte Signal wird über ein Fernsehgerät mit Antenneneingang ausgegeben. Der Super Play Computer 4000 ist dagegen ausschließlich für den Betrieb mit Fernsehern der Super-Color-80-Serie von Grundig, an deren proprietären Universal-Cassettenschacht er mithilfe eines speziellen Steckers angeschlossen wird, vorgesehen. Der Stecker enthält einen Schnittstellenbaustein, auf dem sich elektronische Schaltungen zur Erzeugung der Fernsehsignale für Bild und Ton befinden. Durch die damit realisierte RGB-Ansteuerung des Fernsehgerätes ist die Bildqualität überdurchschnittlich gut, da eine störanfällige Hochfrequenzmodulation wie etwa beim Interton VC 4000 entfällt. Zudem wird die Spielkonsole über diesen Anschluss mit Strom versorgt, so dass für den Betrieb des Super Play Computer 4000 kein externes Netzteil erforderlich ist. Controller Die in den Controllern verbauten Spielhebel sind anstelle der damals üblichen Kontaktpunkte oder Mikroschalter mit Drehwiderständen ausgestattet. Eine Hebelbewegung wird somit analog, das heißt stufenlos weitergegeben. Eine heftigere Bewegung des Joysticks führt – bei entsprechender programmtechnischer Abfrage – auch zu einer schnelleren Bewegung beispielsweise einer Spielfigur. Jeder Controller beinhaltet zudem ein Feld mit 14 Tasten. Deren Funktionen werden durch eine auflegbare Pappschablone, die einigen Spielen beigefügt ist, gekennzeichnet. Nur etwa die Hälfte aller erschienenen Spiele macht von den Tasten Gebrauch, wobei je nach Art des Spiels unterschiedlich viele davon unterstützt werden. Beispielsweise nutzt Fußball zur Ansteuerung jeder der elf Spielfiguren und zum Schießen des Balles jeweils eine eigene Taste. Komplexe Spiele wie Schach und Backgammon profitieren ebenfalls von den vielfachen Eingabemöglichkeiten per Tastenfeld. Spiele Viele der für den VC 4000 erschienenen Spiele stammen vermutlich von Mitarbeitern des Elektronikkonzerns Philips, dem Hersteller der Signetics-Schaltkreisreihe. Einige Spiele übernahm Interton von externen Entwicklern wie z. B. Paul-Jürgen Dickers, Martin Greiner und Hans-Heinz Bieling oder beauftragte diese. Weitere Spiele stammen aus Asien. Interton bot insgesamt 37 verschiedene Spiele an. Mithilfe von auch kommerziell vertriebenen Adaptern lassen sich zudem Spiele anderer Computer und Konsolen, die auf dem Chipsatz von Signetics basieren, benutzen. Beispielsweise erlaubt ein Anfang 1983 von der britischen Firma Voltmace verkaufter Adapter das Abspielen der Spiele des Voltmace Database Games Computer auf dem VC 4000. Ebenso konnten Programme des software-kompatiblen Elektor 2650 TV Spiel-Computer, ein Eigenbau-Projekt der Zeitschrift Elektor, auf den VC 4000 portiert werden. Hans-Heinz Bieling etwa diente dieser Computer als Entwicklungssystem für Interton-Spiele. Rechnet man die von Fremdherstellern wie Radofin, Acetronic, Teleng, Rowtron, Voltmace und Prinztronic übertragbaren Spiele hinzu, so stehen dem VC 4000 insgesamt 48 unterschiedliche Spiele zur Verfügung. Rezeption In einem umfassenden Test verschiedener Videospielkonsolen bescheinigte die Stiftung Warentest Anfang 1984 dem VC 4000 bei der technischen Prüfung ein gutes Abschneiden. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf die mechanischen Eigenschaften der „Bedienelemente“ gelegt, die die Tester für das Gerät von Interton nach der Dauer- und Fallprüfung als „sehr gut“ bewerteten. Die Güte der Steckverbindungen sei dagegen nur „zufriedenstellend“, ebenso wie die Benutzerfreundlichkeit bei der Inbetriebnahme und Handhabung des Geräts. Auch die Spielanleitungen und die getesteten Spiele selbst ließen zu wünschen übrig: „Die Programme lassen nur geringen Spielfluß aufkommen, und die Einflußmöglichkeiten des Spielers sind recht begrenzt“. Der Sachbuchautor Winnie Forster führt im Jahr 2009 aus, dass die Konsole technisch „zwischen den analogen Spielen der frühen 70er-Jahre und der digitalen Zukunft“ stehe. Es sei ein „erstaunliches Gerät mit durchdachtem Design“ und wirke „wie aus einem Guss“. Konkret lobt Forster das „kompakte“ Gehäuse, die einfachen Bedienelemente und die zuverlässige Verarbeitung. Die Controller seien „zukunftsweisend“ gewesen, und spätere Konsolen wie Mattel Intellivision oder Colecovision hätten deren Design wieder aufgenommen. Auch die Zeitschrift Retro Gamer attestiert im Jahr 2017 dem VC 4000 „in vielen Gebieten Neuland“ betreten zu haben, wozu insbesondere die analogen und selbstzentrierenden Joysticks zählen würden. Die Nachteile der Konsole sieht Forster in der fehlenden hochauflösenden Grafik und der mangelnden Auswahl an Spielen, obwohl die vorhandenen Spiele für die damalige Zeit eine „Sensation“ gewesen seien. Die Zeitschrift Power Play ordnet 1995 den VC 4000 als dem Atari VCS 2600 gegenüber technisch unterlegen ein, weshalb sich die Konsole nur kurzzeitig auf dem Videospielemarkt habe halten können. In dieser Zeit habe sie aber laut Spiegel Online „beachtliche“ Erfolge gefeiert. Nach Einschätzung des Computerspielemuseums Berlin „fristete“ das VC 4000 mit seinen „zweitklassigen“ Spielen dagegen „eher ein Nischendasein als billigere Variante der „richtigen“ Konsolen wie dem Intellivision oder dem VCS von Atari“. Einig sind sich jedoch alle Autoren darin, dass der VC 4000 die einzige in Westdeutschland entwickelte Videospielkonsole ist. Der Hersteller Interton habe laut der auf Heimcomputer spezialisierten Zeitschrift Happy Computer dabei zu denjenigen Firmen gehört, die „ein Riesengeschäft mit den Telespielkonsolen witterten“, denn in Deutschland gab es laut Forster mit dem Atari VCS 2600 nur einen einzigen ernstzunehmenden Konkurrenten. Weblinks Emulator für die Betriebssysteme Windows, Amiga und Android Technische Informationen zum Grundig Super Play Computer 4000 (Seiten 149 bis 152) Signetics 2650 & 2636 Wikibook Einzelnachweise Spielkonsole
1197219
https://de.wikipedia.org/wiki/Existential%20Graphs
Existential Graphs
Existential Graphs (die deutschen Übersetzungen „existenzielle Graphen“ und „Existenzgraphen“ sind nicht sehr gebräuchlich) sind ein logisches System des US-amerikanischen Logikers und Philosophen Charles Sanders Peirce. Sie umfassen sowohl eine eigene graphische Schreibweise (Notation) für logische Aussagen als auch einen logischen Kalkül, d. h. (im Wesentlichen) ein formales System von Schlussregeln, mit denen bestehende Aussagen so umgeformt werden können, dass daraus neue Aussagen entstehen, die aus ersteren folgen. Einleitung Peirce empfand die algebraische Schreibweise (d. h. Formelschreibweise) der Logik, vor allem die der zu seinen Lebzeiten noch sehr neuen, von ihm selbst wesentlich mitentwickelten Prädikatenlogik philosophisch als unbefriedigend, weil den Formelzeichen ihre Bedeutung durch bloße Konvention zukomme. Im Gegensatz dazu strebte er eine Schreibweise an, bei der die Zeichen ihre Bedeutung buchstäblich in sich tragen – in der Begrifflichkeit seiner Zeichentheorie: ein System ikonischer Zeichen, die den bezeichneten Gegenständen und Relationen ähneln oder gleichen. So war die Entwicklung eines ikonischen, graphischen und – wie er beabsichtigte – damit intuitiven und leicht erlernbaren logischen Systems ein Projekt, das Peirce zeitlebens beschäftigte. Nach mindestens einem abgebrochenen Ansatz – den „Entitative Graphs“ – entstand schließlich von 1896 an das geschlossene System der Existential Graphs. Obwohl von ihrem Schöpfer als klar überlegenes und intuitiveres System betrachtet, waren sie als Schreibweise und als Kalkül ohne größeren Einfluss auf die Geschichte der Logik; zurückgeführt wird das einerseits darauf, dass Peirce zu diesem Thema nur wenig publizierte und die veröffentlichten Texte nicht sehr verständlich geschrieben seien; und andererseits darauf, dass die lineare Formelschreibweise in der Hand von Fachleuten das weniger aufwändig handhabbare Werkzeug sei. So wurden die Existential Graphs nur wenig beachtet oder als unhandliche Schreibweise angesehen. Zu besserem Verständnis führten ab 1963 Arbeiten von Don D. Roberts und J. Jay Zeman, in denen Peirce’ graphische Systeme systematisch untersucht und dargestellt wurden. Eine praktische Rolle spielt heute allerdings nur eine moderne Anwendung, die 1976 von John F. Sowa eingeführten Begriffsgraphen, die in der Informatik zur Wissensrepräsentation verwendet werden. Als Forschungsgegenstand treten die Existential Graphs im Zusammenhang mit einem wachsenden Interesse an graphischer Logik wieder vermehrt in Erscheinung, was sich auch in Versuchen äußert, die von Peirce angegebenen Schlussregeln durch intuitivere zu ersetzen. Das Gesamtsystem der Existential Graphs setzt sich aus drei aufeinander aufbauenden Teilsystemen zusammen, den Alphagraphen, den Betagraphen und den Gammagraphen. Die Alphagraphen sind ein rein aussagenlogisches System. Auf sie aufbauend entstehen als echte Erweiterung die Betagraphen, ein prädikatenlogisches System der ersten Stufe. Die bis heute nicht vollständig erforschten und von Peirce nicht vollendeten Gammagraphen werden als Weiterentwicklung der Alpha- und Betagraphen verstanden. Bei geeigneter Interpretation decken die Gammagraphen Prädikatenlogik höherer Stufe sowie Modallogik ab. Noch 1903 begann Peirce mit einem neuen Ansatz, den „Tinctured Existential Graphs,“ mit denen er die bisherigen Systeme der Alpha-, Beta- und Gammagraphen ablösen und deren Ausdrucksstärke und Leistungsfähigkeit in einem einzigen neuen System vereinen wollte. Wie die Gammagraphen blieben die „Tinctured Existential Graphs“ unvollendet. Als Kalküle sind die Alpha- und Betagraphen sowohl korrekt (d. h., alle als Alpha- bzw. Betagraphen herleitbaren Ausdrücke sind aussagen- bzw. prädikatenlogisch semantisch gültig) als auch vollständig (d. h., alle aussagen- bzw. prädikatenlogisch semantisch gültigen Ausdrücke sind als Alpha- bzw. Betagraphen herleitbar). Die Wahl der Bezeichnung „Existential Graphs“ begründet Peirce damit, dass der einfachste sinnvolle und wohlgeformte Betagraph eine Existenzaussage trifft. Peirce verwendet diese Bezeichnung erstmals Ende 1897; zuvor spricht er von „positive logical graphs“ oder einfach von seinem System logischer Diagramme. Der vorliegende Artikel behandelt die Alpha- und Betagraphen als den vollendeten und am besten erforschten Teil von Peirce’ System. Darüber hinausgehende Informationen bieten die in der Literaturliste genannten Werke. Alphagraphen Notation der Alphagraphen Atomare Aussagen, d. h. solche Aussagen, die ihrerseits nicht aus anderen Aussagen zusammengesetzt sind, werden – wie in der Aussagenlogik üblich – durch Buchstaben ausgedrückt; zum Beispiel kann die atomare Aussage „Es regnet“ durch den Buchstaben „P“ ausgedrückt werden. Die Konjunktion mehrerer – atomarer oder nicht atomarer – Aussagen wird durch ihr Nebeneinanderschreiben ausgedrückt. Um zu sagen, dass zwei Aussagen P und Q wahr sind, schreibt man daher „PQ“. Neben der Konjunktion umfasst das System die Negation. Sie wird ausgedrückt, indem der zu verneinende Ausdruck – egal ob einfach oder zusammengesetzt – von einem geschlossenen Linienzug umgeben wird, sozusagen „eingeringelt“ wird. Spezielle Anforderungen an die Gestalt des Linienzugs werden keine gemacht, es ist aber gebräuchlich, einen Kreis oder ein Oval zu verwenden. Den geschlossenen Linienzug, der eine Aussage verneint, nennt Peirce den Cut (wörtlich: Schnitt). Bildlicher Hintergrund des Cuts ist, dass auf dem Blatt Papier, auf dem geschrieben wird – dem sheet of assertion, Annahmeblatt –, die als wahr angenommenen Aussagen niedergeschrieben werden. Falsche Aussagen müssen vom Bereich der wahren Aussagen ausgeschlossen, abgegrenzt, „abgeschnitten“ werden, und ebendiese Funktion übernimmt der Cut. Um ein Konditional auszudrücken, d. h., um zu sagen, dass eine Aussage P eine hinreichende Bedingung für eine Aussage Q ist, wird eine Schreibweise gewählt, die im Englischen als „P scrolls Q“, „P ringelt Q ein“, bezeichnet wird: Die Aussage Q, also der bedingte Satz, steht innerhalb eines eigenen Cuts gemeinsam mit seiner Bedingung, der Aussage P, in einem zweiten, äußeren Cut (siehe Abbildung, Punkt c1 und c2). Diese Schreibweise ist im logischen System der Existential Graphs atomar eingeführt, aber im Wissen, dass es sich bei dem Cut um die Negation und beim Nebeneinanderschreiben um die Konjunktion handelt, leicht mit den Wahrheitsbedingungen dieser beiden Verknüpfungen in Deckung zu bringen: Das Konditional, P→Q, ist äquivalent mit der Negation ¬(P ∧ ¬Q), und genau das ist die Aussage des „P scrolls Q“, die genau den Fall des wahren P und falschen Q vom sheet of assertion abgrenzt, „herausschneidet“. Die Disjunktion wird ausgedrückt, indem die beiden Disjunkte – jeweils für sich in einzelne Cuts gesetzt – nebeneinander geschrieben und mit einem zusätzlichen äußeren Cut versehen werden. Man sieht leicht, dass diese Schreibweise in moderner Notation die Aussage ¬(¬P∧¬Q) darstellt, eine Aussage, die mit P∨Q äquivalent ist. Bildlicher Hintergrund ist wieder, dass die Disjunktion den Fall vom sheet of assertion ausschließt, dass sowohl P als auch Q falsch sind. Mit den beiden Verknüpfungen der Alphagraphen, der Verneinung (dem Cut) und der Und-Verknüpfung (Aufschreiben mehrerer Aussagen auf dem Annahmeblatt) lassen sich – wie für das Konditional und die Disjunktion beispielhaft gezeigt wurde – alle anderen Verknüpfungen der zweiwertigen Aussagenlogik darstellen (siehe funktionale Vollständigkeit von Junktoren). Alphagraphen sind damit eine vollwertige Schreibweise für die Aussagenlogik. Wenn Aussagen in der Schreibweise der Alphagraphen von elektronischen Rechenanlagen verarbeitet oder einfach mit Textverarbeitungssystemen bzw. früher Schreibmaschinen wiedergegeben werden sollen, behilft man sich oft damit, die Cuts durch Klammerungen auszudrücken. Statt eines geschlossenen Linienzugs um den Satz P zu zeichnen, schreibt man in diesem Fall (P). Das Konditional, „P scrolls Q“, wird in dieser Schreibweise zu (P(Q)). Aus typographischen Gründen wird auch in diesem Artikel so vorgegangen. Schlussregeln der Alphagraphen Um die Regeln formulieren zu können, ist es zunächst erforderlich, das Konzept der Ebene einer Aussage (in der Literatur: „proposition level“) zu definieren. Die Ebene einer – elementaren oder zusammengesetzten – Aussage ist definiert als die Anzahl der Cuts, von denen diese Aussage direkt oder indirekt umschlossen ist. Zum Beispiel ist im Ausdruck (P(Q)) die Ebene von P und jene von (Q) 1, weil sowohl P als auch (Q) nur Teil des äußeren Cuts sind. Die Ebene von Q hingegen ist 2, weil Q nicht nur unmittelbar von einem Cut umgeben ist, sondern dieser wiederum Teil des äußeren Cuts ist. Nach dieser Vorbemerkung lassen sich die Schlussregeln wie folgt angeben: Annahme Die Regel der Annahme erlaubt es, eine beliebige Aussage als Prämisse aufzuschreiben und von ihr ausgehend Folgerungen zu ziehen. Möchte man ein Argument herleiten, das mehr als eine Prämisse umfasst, dann schreibt man die Prämissen nebeneinander – Nebeneinanderschreiben bedeutet ja nichts anderes, als jeden der so kombinierten Sätze anzunehmen. R1 – Löschregel („Rule of Erasure“) Jede Aussage, die auf geradzahliger Ebene auftritt, darf ersatzlos gestrichen werden. Mit dieser Regel kann man zum Beispiel von (P(Q)) durch Löschung von Q auf (P()) schließen, weil Q auf Ebene 2 liegt und 2 eine gerade Zahl ist. Nicht gelöscht werden dürfte in diesem Beispiel P, weil P auf Ebene 1 liegt und 1 eine ungerade Zahl ist. R2 – Einfügungsregel („Rule of Insertion“) Auf ungeradzahliger Ebene darf jede beliebige Aussage eingefügt werden. Zum Beispiel ist es zulässig, mit dieser Regel aus (P(Q)) auf (PR(Q)) zu schließen: Die eingefügte Aussage, R, kommt auf Ebene 1 zu stehen, und 1 ist eine ungerade Zahl. R3 – Wiederholungsregel („Rule of Iteration“) Jede Aussage, die Teil einer zusammengesetzten Aussage ist, darf auf derselben Ebene oder auf tieferer Ebene wiederholt werden, jedoch nicht innerhalb ihrer selbst. Nach R3 darf zum Beispiel aus (P(Q)) durch Wiederholung von P auf derselben Ebene auf (P(Q)P) oder durch Wiederholung von P auf tieferer Ebene auf (P(QP)) geschlossen werden. Ebenso darf aus derselben Aussage durch Wiederholung von (Q) auf (P(Q)(Q)) geschlossen werden. Nicht zulässig wäre es, (Q) innerhalb seiner selbst zu wiederholen und so auf (P(Q(Q))) zu schließen – diese theoretische Möglichkeit wird durch die Zusatzbedingung, dass die Wiederholung einer Aussage nicht innerhalb ihrer selbst erfolgen darf, ausgeschlossen. R4 – Aufhebung der Wiederholung („Rule of Deiteration“) Wenn eine Aussage X formal von einer Gestalt ist, dass sie aus einer Aussage Y durch Anwendung von R3, der Wiederholungsregel, entstanden sein könnte, dann darf mittels R4 von X auf Y geschlossen werden; es ist dazu nicht erforderlich, dass X tatsächlich durch eine Anwendung von R3 entstanden ist. Zum Beispiel darf mit R4 von (P(Q)(Q)) auf (P(Q)) geschlossen werden, weil mittels R3 von (P(Q)) auf (P(Q)(Q)) geschlossen werden dürfte. R5 – Regel des doppelten Cut („Rule of the Double Cut“) Doppelte Cuts dürfen nach Belieben eingefügt und gestrichen werden, sowohl um bestehende Aussagen herum als auch für sich alleine. Zum Beispiel darf nach R5 von PQ auf P((Q)), auf ((P))Q und auch auf ((PQ)) geschlossen werden. Ebenso darf aber von PQ auf PQ(()) oder auf P(())Q geschlossen werden. Beispiel Es soll aus und die Aussage abgeleitet werden (Kettenschluss). Dazu beginnt man mit den Annahmen (P(Q)) und (Q(R)) und leitet schrittweise die Aussage (P(R)) her: Betagraphen Die Betagraphen sind das prädikatenlogische System der Existential Graphs. Sie erweitern das System der Alphagraphen um das Sprachmittel der Identitätslinie („line of identity“) und verallgemeinern die bereits bestehenden Schlussregeln. Die atomaren Ausdrücke sind bei den Betagraphen nicht mehr Aussagebuchstaben (P, Q, R,…) bzw. Aussagen („Es regnet,“ „Peirce starb in Armut“), sondern Prädikate im Sinn der Prädikatenlogik (Näheres siehe dort), gegebenenfalls abgekürzt zu Prädikatbuchstaben (F, G, H,…). Ein Prädikat im Sinn der Prädikatenlogik ist eine Folge von Wörtern mit klar definierten Leerstellen, die zu einem Aussagesatz wird, wenn man in jede Leerstelle einen Eigennamen einsetzt. So ist zum Beispiel die Wortfolge „_ starb in Armut“ ein Prädikat, weil daraus der Aussagesatz „Peirce starb in Armut“ entsteht, wenn man den Eigennamen „Peirce“ in die Leerstelle einträgt. Ebenso ist die Wortfolge „_1 ist reicher als _2“ ein Prädikat, weil daraus die Aussage „Sokrates ist reicher als Platon“ entsteht, wenn man in die Leerstellen die Eigennamen „Sokrates“ bzw. „Platon“ einsetzt. Notation der Betagraphen Das grundlegende Sprachmittel ist die Identitätslinie („line of identity“), eine dick gezeichnete Linie beliebiger Form. Die Identitätslinie dockt an die Leerstelle eines Prädikats an, um zu zeigen, dass das Prädikat auf mindestens ein Individuum zutrifft. Um auszudrücken, dass das Prädikat „_ ist ein Mensch“ auf mindestens ein Individuum zutrifft – um also zu sagen, dass es (mindestens) einen Menschen gibt –, schreibt man demnach eine Identitätslinie in die Leerstelle des Prädikats „_ ist ein Mensch:“ Verbindet eine Identitätslinie zwei oder mehrere Leerstellen – egal ob unterschiedlicher Prädikate oder desselben Prädikats –, dann drückt sie aus, dass es mindestens ein Individuum gibt, das – in die jeweilige Leerstelle geschrieben – jedes dieser Prädikate zugleich wahr macht. Ein einfaches Beispiel ist nachfolgender Betagraph. In diesem Graphen drückt die Identitätslinie aus, dass es mindestens ein Objekt gibt, das sowohl das Prädikat „_ ist Amerikaner“ als auch das Prädikat „_ starb in Armut“ zugleich erfüllt – mit anderen Worten, dass es mindestens einen Amerikaner gibt, der in Armut starb. Von diesem Betagraphen klar unterscheiden muss man den nachfolgenden, der nach den Regeln der Alphagraphen zusammengesetzt ist: In diesem Fall handelt es sich um zwei untereinander geschriebene einzelne Betagraphen. Der obere Teilgraph sagt aus, dass mindestens ein Individuum das Prädikat „_ ist Amerikaner“ erfüllt, d. h., dass es Amerikaner gibt. Der untere Teilgraph sagt analog aus, dass mindestens ein Individuum das Prädikat „_ starb in Armut“ erfüllt, d. h., dass mindestens ein Individuum in Armut starb. Zwei Betagraphen nebeneinander oder untereinander zu schreiben bedeutet nach den Regeln der Alphagraphen, die Wahrheit beider auszusagen. Der kombinierte Graph besagt demnach, dass es mindestens einen Amerikaner gibt und dass mindestens ein Individuum in Armut starb – er behauptet aber nicht, dass auf die Individuen, auf die das eine Prädikat zutrifft, auch das andere Prädikat zutrifft. Durch geeignete Kombination der Identitätslinie mit den bekannten aussagenlogischen Mitteln der Alphagraphen lassen sich bereits fast alle prädikatenlogischen Aussagen formulieren. Ein einfacher Fall ist das Verneinen einer Existenzaussage. Im folgenden Beispiel wird die Aussage des ersten Beispiels, d. h., die Aussage, dass es Menschen gibt, verneint, indem sie innerhalb eines Cuts geschrieben wird. Es wird also ausgesagt, dass es nicht der Fall ist, dass es Menschen gibt – in schönerem Deutsch: Dass es keine Menschen gibt. Von diesem Graphen unterscheidet sich der nachstehende, bei dem die Identitätslinie aus dem Cut herauszuragen scheint: Nach der Lesart der Betagraphen liegt hier die Verbindung zweier Graphen vor: Einer äußeren, leeren Identitätslinie, die schlicht besagt: „Etwas existiert;“ und einer Identitätslinie innerhalb des Cuts, der für sich aussagt: Es ist nicht der Fall, dass es mindestens ein Individuum gibt, das das Prädikat „_ ist ein Mensch“ erfüllt. Die Verbindung beider Linien in jenem Punkt, in dem sie den Cut schneiden, drückt die Identität der gegenständlichen Individuen aus: „Es gibt etwas, und dieses Etwas ist kein Mensch.“ So drückt obiger Betagraph nichts anderes aus als die Aussage, dass es Dinge gibt, die keine Menschen sind. Ebenso gut lässt sich eine innerhalb eines Cuts liegende Identitätslinie mit einer äußeren Identitätslinie verbinden, die ihrerseits an ein Prädikat andockt. Der nachstehende Graph ist ein Beispiel für diese Konstellation. Für sich alleine genommen sagt der Cut aus: Es ist nicht der Fall, dass es ein Individuum gibt, das in Armut starb; und für sich alleine genommen sagt der äußere Ausdruck aus, dass es mindestens ein Individuum gibt, das Amerikaner ist. Da beider Ausdrücke Identitätslinien einander im Cut berühren, drückt der Gesamtausdruck die Identität beider Individuen aus, sagt also: Es gibt mindestens einen Amerikaner, der nicht in Armut starb. Eine Allaussage vom Typ „Alle Schweine sind rosa“ würde durch einen Betagraphen des nachstehenden Typs dargestellt. Wörtlich handelt es sich hierbei um die Verneinung eines Satzes vom Typ des vorangehenden Beispiels, konkret um die Verneinung von „Es gibt mindestens ein Schwein, das nicht rosa ist.“ Zu verneinen, dass es nicht-rosa Schweine gebe, bedeutet nun aber auszusagen, dass alle Schweine tatsächlich rosa sind. Ist eine Identitätslinie wie im folgenden Beispiel mit einem leeren Cut markiert, so drückt das die Nichtidentität der Individuen aus, die jene Leerstellen erfüllen, an denen die Identitätslinie andockt. In diesem Sinn sagt nebenstehendes Beispiel aus, dass es mindestens ein Schwein gibt und dass es mindestens ein rosa Individuum gibt, die aber beide nicht identisch sind. Analog zum vorangehenden drückt der nachstehende Betagraph aus, dass es mindestens zwei Schweine gibt: „Es gibt ein Schwein, und es gibt (noch ein) Schwein, das mit ersterem nicht identisch ist.“ Schlussregeln der Betagraphen Beim System der Betagraphen werden keine genuin prädikatenlogischen Schlussregeln hinzugefügt, sondern es werden die bestehenden Regeln modifiziert. Im Einzelnen erhalten die bekannten Schlussregeln damit folgenden neuen Wortlaut: R1 – Löschregel („Rule of Erasure“) Jede Aussage, die auf geradzahliger Ebene liegt, und jeder Teil einer Identitätslinie, der auf geradzahliger Ebene auftritt, darf ersatzlos gestrichen werden. R2 – Einfügungsregel („Rule of Insertion“) Auf ungeradzahliger Ebene darf jede beliebige Aussage eingefügt werden und dürfen zwei oder mehrere unverbundene Enden von Identitätslinien beliebig miteinander verbunden werden. R3 – Wiederholungsregel („Rule of Iteration“) Jede Aussage, die Teil einer zusammengesetzten Aussage ist, darf auf derselben Ebene oder auf tieferer Ebene wiederholt werden, jedoch nicht innerhalb ihrer selbst. Für Identitätslinien sind folgende Iterationen zulässig: An eine bestehende Identitätslinie darf jederzeit eine zusätzliche Identitätslinie mit losem Ende angefügt werden, d. h. eine Identitätslinie, die an keine Leerstelle eines Prädikats und an keine andere Identitätslinie andockt. Die so angefügte Identitätslinie darf jedoch keinen Cut berühren oder kreuzen. Jede Identitätslinie mit losem Ende darf so verlängert werden, dass ihr neues Ende auf derselben oder auf tieferer Ebene zu liegen kommt. Die Iteration einer Aussage und die Iteration einer Identitätslinie dürfen dergestalt miteinander kombiniert werden, dass das lose Ende der iterierten Identitätslinie mit der iterierten Aussage verbunden wird. R4 – Aufhebung der Wiederholung („Rule of Deiteration“) Wenn eine Aussage X formal von einer Gestalt ist, dass sie aus einer Aussage Y durch Anwendung von R3, der Wiederholungsregel, entstanden sein könnte, dann darf mittels R4 von X auf Y geschlossen werden; es ist dazu nicht erforderlich, dass X tatsächlich durch eine Anwendung von R3 entstanden ist. R5 – Regel des doppelten Cut („Rule of the Double Cut“) Doppelte Cuts dürfen nach Belieben eingefügt und gestrichen werden, sowohl um bestehende Aussagen herum als auch für sich alleine. Doppelte Cuts dürfen auch so eingefügt werden, dass sie Identitätslinien schneiden, es müssen dabei jedoch stets beide eingefügten Cuts alle geschnittenen Linien schneiden. Weitere Beispiele Quellen Literatur Primärliteratur Charles Hartshorne, Paul Weiss (Hrsg.): The Collected Papers of C. S. Peirce, Cambridge: Harvard 1931–35 (Nachdruck von Band 3 und Band 4: Harvard University Press 1987, ISBN 0-674-13801-5) – insbesondere Seiten 320–470 und 530–572 von Band IV. Online verfügbar sind: „Symbolic Logic“ und „Existential Graphs“ (CP 4.372–417) „On Existential Graphs, Euler’s Diagrams, and Logical Algebra“ und „The Gamma Part of Existential Graphs“ (CP 4.418–529) „Prolegomena to an Apology for Pragmaticism“ (CP 4.530–572) „An Improvement on the Gamma Graphs“ (CP 4.473–584) Sekundärliteratur Monographien Don D. Roberts: The Existential Graphs of Charles S. Peirce, The Hague: Mouton 1973 (=Approaches to Semiotics 27) – das Standard-Einführungswerk zu den Existential Graphs, in englischer Sprache Sun-Joo Shin: The Iconic Logic of Peirce’s Graphs, Cambridge, Massachusetts: MIT Press, Bradford 2002, ISBN 0-262-19470-8 – jüngste Monographie zum Thema J. Jay Zeman: The Graphical Logic of C. S. Peirce, Chicago: 1964 (Dissertation), online verfügbar unter – bahnbrechende, stark formale Darstellung, in der unter anderem die Vollständigkeit und Korrektheit von Alpha- und Betagraphen gezeigt wird Artikel Eric M. Hammer: Semantics for Existential Graphs, Journal of Philosophical Logic, Volume 27, Issue 5 (Oktober 1998), Seite 489–503 Dennis Higgins, Bram Van Heuveln, Elizabeth Hatfield, Deborah Kilpatrick, Lut Wong: „A Java implementation for Peirce’s existential graphs,“ Journal of Computing Sciences in Colleges, Volume 16 Issue 3, März 2001, online kostenpflichtig unter  – behandelt zwar eine Java-Implementierung, bietet aber einleitend eine kompakte Einführung in die Alphagraphen Richard B. White: „Peirce’s Alpha Graphs: The Completeness of Propositional Logic and the Fast Simplification of Truth Functions,“ Transactions of the Charles S. Peirce Society, Volume 20, Number 4, 1984, Seite 351–361 Weblinks Mary Keeler: The Philosophical Context of Peirce's Existential Graphs Existential Graphs MS 514 by Charles Sanders Peirce with commentary by John F. Sowa (englisch) Peirce Edition Project (englisch) Peirce-Beweisbauer – ein Java-Applet zum interaktiven Beweisen in Peirce’ System der Alphagraphen Homepage von Dr. Frithjof Dau mit umfangreichem Material zum Thema Existential Graphs (unter anderem mit Scans der originalen Notizen von Peirce über die Existential Graphs MS 145) Logikkalkül Diagramm
1273295
https://de.wikipedia.org/wiki/Grundlsee%20%28See%29
Grundlsee (See)
Der Grundlsee ist ein Bergsee am Südfuß des Toten Gebirges im steirischen Teil des Salzkammergutes. Er liegt auf Am Nordwestufer befindet sich das Siedlungszentrum der Gemeinde Grundlsee. Der Abfluss des Grundlsees ist die Grundlseer Traun, die über die Traun in die Donau entwässert. Mit einer Fläche von 4,22 km² ist er der größte See der Steiermark. Der Grundlsee im Besitz der Österreichischen Bundesforste ist wegen seiner schönen Lage ein bedeutendes Tourismusziel und ein beliebter Badesee sowie ein Tauch- und Segelrevier. Jedes dritte Jahr findet am Grundlsee das Narzissenfest, Österreichs größtes Blumenfest, statt. Der See wird von einem Berufsfischer bewirtschaftet. Die Hauptfischart ist der Seesaibling (Salvelinus alpinus), der als Ausseer Seesaibling vermarktet wird. Geographie Der Grundlsee liegt vollständig im Gemeindegebiet von Grundlsee. Das Siedlungszentrum von Grundlsee befindet sich am Nordwestufer. Der See ist hufeisenförmig von Bergen des Toten Gebirges umgeben. Im Nordwesten beginnt mit der Trisselwand () ein Karstplateau, das sich über den schroff aufragenden Backenstein () bis zum Reichenstein () und den Siniweler () im Nordosten erstreckt. Am Ostufer befindet sich der Ortsteil Gößl mit der Gößler Wand. Im Süden erhebt sich der Ressen (). Im Westen beginnt das Hügelland des Ausseer Beckens. Der von Westsüdwest nach Ostnordost langgestreckte See hat eine Länge von 5,8 km und eine maximale Breite von 917 m. Die Oberfläche beträgt etwa 4,14 km², die durchschnittliche Tiefe ist 35 m. Die Seewanne zeigt besonders am Nord- und Südufer steil abfallende Hänge. Nur am Ost- und Westufer existieren flachere Bereiche mit allmählich zunehmenden Tiefen. Die tiefste Stelle des Sees befindet sich etwa in Seemitte, die größte Tiefe beträgt 62 m. Das Wasservolumen beträgt 145 Millionen Kubikmeter. Der See ist über die Grundlseer Straße L703 erreichbar, die am Nordufer bis zur Ortschaft Gößl im Osten verläuft. Hydrologie Das hydrologische Einzugsgebiet des Grundlsees hat eine Gesamtfläche von 125 km² und liegt zur Gänze im Toten Gebirge. Die Speisung des Sees erfolgt überwiegend durch den Toplitzbach, der den Toplitzsee entwässert, und den Stimitzbach. Toplitzbach und Stimitzbach münden unweit voneinander entfernt in den östlichen Bereich des Grundlsees. Die Ortschaft Gößl liegt auf dem Schwemmkegel des Toplitzbachs. Der Ortsteil Gaiswinkel wurde auf Schwemmkegel-Ablagerungen des Mühlbaches errichtet. Dieser baute wie auch der Zimitzbach beim Ortsteil Schachen ein kleines, nunmehr besiedeltes Delta in den See vor. Die Grundlseer Traun verlässt im Westen bei der Seeklause den See, wo eine Brücke über den Ausfluss führt. Der Abfluss beträgt 5,94 m³/s. Die theoretische Wassererneuerungszeit beträgt 0,9 Jahre. Geologie Tektonik Der Grundlsee liegt am Südwestrand der Totengebirgsdecke (Tirolikum) und ist somit ein Teil der Nördlichen Kalkalpen. Diese Deckeneinheit besteht überwiegend aus mesozoischen Kalken und Dolomiten der Trias und des Jura. Die Seewanne des Grundlsees befindet sich entlang einer von Westsüdwest nach Ostnordost verlaufenden geologischen Störung. Diese als Toplitzsee-Störung bezeichnete Linie zieht über den Toplitz- und den Kammersee ins Tote Gebirge hinein. Rund um den See befinden sich Reste von End- und Seitenmoränen. Nördlich des Sees dominieren Tressenstein- und Plassenkalk, während im Süden Hallstätterkalk überwiegt. Den östlichen Bereich und somit auch das Haupteinzugsgebiet bildet der Dachsteinkalk. Am Südufer bei Wienern kommt auch Haselgebirge vor, wo die Firma Saint-Gobain Rigips Austria den Abbau dieser größten Gipslagerstätte der Ostalpen betreibt. Ehemalige Vergletscherung und Entstehung Der eiszeitliche Grundlsee-Lokalgletscher, der vom Hochplateau des Toten Gebirges ins Ausseer Becken floss, folgte ebenfalls der störungsbedingten Schwächezone und erweiterte hierbei das Tal und schürfte das Zungenbecken des Grundlsees aus. An seinem westlichen Ende hinterließ der mächtige Gletscher einen mehrere Zehnermeter hohen Endmoränenwall, der den See abdämmt. Parallel zum Eisfreiwerden des übertieften Beckens bildete sich am Rand des Eiskörpers ein erster See aus. Auf diese Phase mit dem Eiskörper im Seebecken deutet die hohe Kante der Schuttbildung um das Becken des Grundlsees hin. Die Seefläche war ursprünglich größer und erstreckte sich in der späten Würm-Kaltzeit über den Toplitz- bis zum Kammersee. Nach dem endgültigen Verschwinden des Eises stellte sich der Schwemmkegel auf das heutige Seeniveau ein. In der Nacheiszeit veränderte das Seebecken infolge Verlandung ständig seine Form und wird in einigen zehntausend Jahren wieder verschwunden sein. Klima Die Wetterwarte der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik im 3 km entfernten Bad Aussee stellt exakte Daten für den Grundlsee zur Verfügung. Die Klimadaten zeigen eine für die nördlichen Kalkalpen typische Temperatur- und Niederschlagsverteilung: kühle und niederschlagsreiche Sommer, mit einem Maximum von 15,6 °C bzw. 208 mm im Juli, und niederschlagsarme Winter, mit einem Temperaturminimum von −2,7 °C im Jänner. Der Niederschlag weist von Dezember bis Jänner ein Nebenmaximum auf. Der Jahresniederschlag betrug 1566 mm mit einer Jahresdurchschnittstemperatur von 7,7 °C. Bedingt durch den oftmaligen Wolkenstau am Rand des Toten Gebirges fällt im Bereich des Grundlsees überdurchschnittlich viel Niederschlag. Ein Vergleich mit dem Jahresniederschlag von 1222 mm in Bad Mitterndorf () an der Südseite des Toten Gebirges zeigt bei ähnlicher Seehöhe und einer Entfernung von nur 10 km deutlich die Barrierewirkung des Toten Gebirges. Die Zeitdauer der winterlichen Schneebedeckung liegt bei etwa 126 Tagen. Limnologie Zirkulation Der Grundlsee ist ein dimiktischer See. Im Frühjahr nach der Eisschmelze durchmischt sich der Wasserkörper und bringt sauerstoffreiches Wasser in die Tiefe. Im Sommerhalbjahr bildet sich eine Sprungschicht und nur die Oberflächenschicht erwärmt sich, im Herbst kommt es erneut zur Durchmischung, der die Eisbildung folgt. Im Grundlsee liegen ausgeprägte Schichtungsverhältnisse vor. Das Epilimnion weist nur eine sehr geringe Mächtigkeit von etwa fünf Metern auf. Das gleichförmig temperierte Hypolimnion beginnt bei 30 Metern. Bereits kurz nach der Frühjahrszirkulation beginnen die Wassertemperaturen an der Oberfläche zu steigen und erreichten bei Messungen im August in den Jahren 2000 bis 2006 ein Oberflächenmittel von 17,5 °C. Die bisher höchste Wassertemperatur von 22 °C wurde während des Sommers 2003 festgestellt. Unterhalb von 30 Metern Tiefe liegen die Temperaturen bei mittleren 4,2 °C. Bis zur sommerlichen Stagnationsphase erwärmt sich das Hypolimnion durchschnittlich nur um 0,1 °C. Der See ist durchschnittlich an 64 Tagen im Jahr von einer Eisschicht bedeckt. Trophie Der See weist eine niedrige Konzentration an Nährstoffen auf und ist somit oligotroph. Bei Messungen in den Jahren 2000 bis 2006 ergab sich für den Grundlsee ein mittlerer Phosphorgehalt von 5,7 µg/l. Durch die Einleitung ungeklärter Abwässer konnte in den 1960er Jahren ein Eutrophierungstrend festgestellt werden und die Sauerstoffsättigung über Grund nahm bereits ab. Daraufhin wurden Sanierungsmaßnahmen durchgeführt, die 1980 mit der Errichtung einer regionalen Verbandskläranlage mit einer dritten Reinigungsstufe im Gemeindegebiet von Bad Aussee beendet wurden. Die Sauerstoffsituation verbesserte sich rasch und der oligotrophe Zustand des Sees konnte langfristig erhalten werden. Durch die geringe Phytoplanktonkonzentration und das geringe Algenwachstum beträgt die mittlere sommerliche Sichttiefe 8,5 Meter. Plankton Chlorophylluntersuchungen zufolge ist das Algenwachstum im Grundlsee als sehr gering einzuschätzen. Cryptophyceae und Kieselalgen, vor allem Arten der Gattung Cyclotella, bilden den Hauptbestandteil des Phytoplanktons. Cyclotella styriaca stellt eine Besonderheit dar, da diese Art bisher nur im Altausseer See und im Grundlsee nachgewiesen wurde. Das Zooplankton ist mit deutlich mehr Biomasse vertreten. Von den Rotatorien wurden Kellicottia longispina, Keratella cochlearis und Keratella hiemalis häufig festgestellt. Das Crustaceenplankton des Grundlsees setzt sich größtenteils aus den Arten Eudiaptomus gracilis, Cyclops abyssorum, Daphnia hyalina und Eubosmina longispina zusammen. Flora und Vegetation Die Wasserpflanzenflora ist im See durch die abwechselnd steinigen und sandig‐schlammigen, reich strukturierten Uferbereiche besonders vielfältig. Beim Wasserwehrhaus Gößl wachsen etwa großflächig dichte Rasen des Gras-Laichkrauts (Potamogeton gramineus) und an mehreren Stellen das Schimmernde Laichkraut (Potamogeton x nitens). Weitere Vertreter der Gefäßpflanzen sind Kanadische Wasserpest (Elodea canadensis), Ähriges Tausendblatt (Myriophyllum spicatum), Berchtolds Zwerg-Laichkraut (Potamogeton berchtoldii), Krauses Laichkraut (Potamogeton crispus), Spiegelndes Laichkraut (Potamogeton lucens), Schwimmendes Laichkraut (Potamogeton natans) und Kamm-Laichkraut (Potamogeton pectinatus), Durchwachsenes Laichkraut (Potamogeton perfoliatus) und Haarblättriger Wasserhahnenfuß (Ranunculus trichophyllus). Von den Armleuchteralgen sind folgende Arten vertreten: Chara contraria, Chara globularis, Chara strigosa und Chara virgata. Fauna Ursprünglich waren im Grundlsee nur folgende acht Fischarten heimisch: Aalrutte (Lota lota), Aitel (Squalius cephalus), Elritze (Phoxinus phoxinus), Schmerle (Barbatula barbatula), Seeforelle (Salmo trutta), Seelaube (Alburnus chalcoides) und Seesaibling (Salvelinus alpinus). Durch künstlichen Besatz oder Einschleppung kommen überdies noch folgende Fischarten vor: Aal (Anguilla anguilla), Flussbarsch (Perca fluviatilis), Hecht (Esox lucius), Koppe (Cottus gobio) und Reinanke (Coregonus sp.). Die auffälligste Vogelart am Grundlsee und an den anderen Salzkammergutseen ist der Höckerschwan (Cygnus olor), dessen erste Ansiedlung am Traunsee im Jahre 1875 erfolgte. Am Grundlsee ist er seit den 1950er Jahren nachgewiesen. Weitere häufige Jahresvögel sind Stockente (Anas platyrhynchos) und das Blässhuhn (Fulica atra). Seltener sind Reiherente (Aythya fuligula), Tafelente (Aythya ferina) und Haubentaucher (Podiceps cristatus) anzutreffen. Der Kormoran (Phalacrocorax carbo) ist am Grundlsee heimisch und ernährt sich vom Fischbestand im See und auch von den Fischen der umliegenden Zuchtanlagen, weshalb er dort auch gejagt wird. Naturschutz Der Grundlsee steht nicht unter Naturschutz, jedoch beginnt am Ostufer das Europaschutzgebiet Totes Gebirge mit Altausseer See Europaschutzgebiet Nr. 35, das gemäß FFH- und Vogelschutzrichtlinie als Teil des Netzwerks Natura 2000 verordnet wurde. Die im See lebende Seelaube (Chalcalburnus chalcoides) ist nach der FFH-Richtlinie eine geschützte Art und wandert zur Laichzeit in den Toplitz- und Stimitzbach. Um zusätzliche Laichplätze für die Seelaube und andere Tierarten zu schaffen, wurde 2016 der Mündungsbereich der Stimitz renaturiert und ein Altarm geöffnet, um die Verbindung zum See wiederherzustellen. Wirtschaft Schifffahrt 1879 gründete Albin Schraml ein Dampfschifffahrts‑Unternehmen und eröffnete am 14. Juni 1879 mit dem kleinen hölzernen Dampfboot Erzherzog Johann den Schiffsverkehr. Die Schifffahrt Grundlsee wechselte mehrmals den Besitzer. 2015 übernahm die Tauroa GmbH von Dietrich Mateschitz die Schifffahrt Grundlsee. Auf dem See wird von Ende April bis Ende Oktober eine Linien- und Ausflugsschifffahrt mit drei Motorschiffen (Rudolf, Traun und Gössl) sowie mit Plätten, betrieben. Die Linienschiffe verkehren zwischen dem West- und dem Südufer mit Nord- und Südkurs. Weiters gibt es mehrere Verleihstationen für Elektroboote. Am Grundlsee wie auf allen Seen des inneren Salzkammergutes besteht ein Verbot von Verbrennungsmotoren auf Schiffen und Booten. Ausgenommen sind Berufsfischerei, Linienschifffahrt und Fahrzeuge der Rettung und Feuerwehr. Fischerei Der Grundlsee wird seit dem 13. Jahrhundert fischereiwirtschaftlich genutzt. Die Fischerei wird im Herzog Albrechtschen Gesamturbar von 1280 bis 1295 erwähnt. 1425 legte eine Urkunde von Friedrich III. die Namen der Personen fest, die Fischereirechte im Grundlsee hatten. Im Mittelalter erblühte die Berufsfischerei und die Netzfischerei war bereits hoch entwickelt. Im Mittelalter wurden noch lebende Zinsfische in Holzfässer an den Grazer Hof transportiert. Im 16. Jahrhundert wurden Seesaiblinge an den Wiener Hof geliefert. Aufgrund der langen Wegstrecke wurden sie oft in gebratener, geselchter Form oder in Essig eingelegt transportiert. Heute wird die Fischerei von einem Berufsfischer der Österreichischen Bundesforste professionell betreut und bewirtschaftet. Die Hauptfischart ist der Seesaibling (Salvelinus alpinus). Die jährliche Fangmenge liegt bei zirka 3000 kg Fischen. Ähnlich wie am nahen Hallstätter See soll die Fangmenge dem jährlichen natürlichen Zuwachs im Gewässer entsprechen. Der Flussbarsch (Perca fluviatilis) war ursprünglich nicht im See heimisch, sondern gelangte Ende der 1980er Jahre aus bislang ungeklärter Ursache in das Gewässer. Als Fremdfischart veränderte er das Gewässerökosystem und richtete Schaden am Bestand der Elritzen und Seesaiblinge an, von deren Laich er sich ernährt. Um das Gleichgewicht wieder herzustellen, wird versucht, die Population des Flussbarsches zu verkleinern. Dies geschieht unter anderem mit versenkten Fichtenzweigen, an denen der Barsch laicht. Die Zweige werden geborgen und die Fischeier vernichtet. Die Hauptaufgabe in der Seefischerei Grundlsee ist seither der Wiederaufbau der standorttypischen Fischfauna, speziell des heimischen Grundlseesaiblings und der Seeforelle. Die letztgenannte Fischart erreicht im Grundlsee große Ausmaße. Die größte jemals gefangene Seeforelle wog 27 kg und ist als Präparat im Gemeindeamt Grundlsee ausgestellt. 2005 wurde erstmals eine Masseninfektion der Seesaiblinge durch den Bandwurm Triaenophorus crassus nachgewiesen. Der Bandwurm verursacht Zysten im Fleisch der Fische, weshalb diese nicht mehr vermarktet werden dürfen. Üblicherweise dienen Reinanken als Zwischenwirt und der Hecht als Endwirt. Um den Seesaiblingbestand zu schützen, wird seither versucht, die Hechte aus dem See zu entfernen. Dies geschieht durch gezielte Befischung und Fangprämien. Tourismus Der Grundlsee ist wegen seiner schönen Lage ein beliebtes Ausflugsziel. In den umliegenden Orten existiert eine ausgeprägte touristische Infrastruktur mit Beherbergungs- und Bewirtungsbetrieben. Am Ostufer befindet sich ein Campingplatz. Der Großteil des Ufers ist frei zugänglich. Um den See befinden sich mehrere öffentliche Naturbadeplätze und Badestege. Ein Freibad gibt es in der Ortschaft Archkogl. Der Grundlsee ist auch zum Eislaufen und Eisstockschießen geeignet, da er im Winter oft vollständig zufriert. Während des mehrtägigen Narzissenfests Ende Mai / Anfang Juni findet jedes dritte Jahr ein Bootskorso am Grundlsee statt. Hierbei werden mit Stern-Narzissen verzierte Skulpturen zur Schau gestellt. Sport Aufgrund der guten Windsituation ist der Grundlsee ein beliebtes Segel- und Surfrevier. Der Steirische Yachtclub Grundlsee mit Sitz im Ortsteil Bräuhof wurde 1954 gegründet. Am Grundlsee bildet sich häufig eine typische Thermik, die sich durch die topographische Lage entwickeln kann. Bei stabiler Schönwetterlage entsteht am frühen Nachmittag durch das Erwärmen des nordöstlich gelegenen Gebirgsmassivs eine Vertikalströmung, die von einer kühlen Zuluft vom westlichen Abfluss bis ins östlich gelegene Becken gespeist wird. So entsteht auch bei stabiler Hochdrucklage eine gleichmäßige frische Brise. Aufgrund der meistens hervorragenden Sichttiefe ist der Grundlsee ein beliebtes Tauchgebiet. Beim Badeplatz in Gößl befindet sich eine Tauchschule. Der Grundlsee ist Ausgangspunkt mehrerer Wanderwege: Weg 213: Von Schachen über die Gößler Alm zum Wildgößl Weg 214: Von Gößl über die Lahngangseen zur Pühringerhütte Weg 235: Vom Ortsteil Grundlsee über den Almbergweg zum Albert-Appel-Haus Weg 272: Von Gößl zur Schneckenalm Namenskunde Das Ennstal war Siedlungsraum der Alpenslawen und viele Flurnamen sind slawischen Ursprungs. Der Grundlsee wurde erstmals 1188 als „Chrungilse“ erwähnt und geht auf altslawisch krǫglo jezero (runder See) zurück. Der Name wurde früh eingedeutscht, da der alte slawische Nasal erhalten geblieben ist. Später wurde das Hydronym an mittelhochdeutsch grundel (Gründling) angeglichen. Der Name des einmündenden Toplitzbachs leitet sich vom slawischen toplica ab und bedeutet warmes Quellwasser. Da er der größte See der Steiermark ist, nennen ihn die Einheimischen auch „das steirische Meer“. Geschichte Wie an allen Seen des inneren Salzkammerguts war auch am Ausfluss des Grundlsees eine Klause zur Holztrift vorhanden, da dort mit relativ geringen Mitteln sehr große Wassermengen gespeichert werden konnten. Erstmals wurde sie in der Waldbeschau von 1561 erwähnt. Zu dieser Zeit bestand sie noch vollständig aus Holz. Die Lebensdauer einer Klause betrug im Durchschnitt 30 Jahre. Um den großen Holzverbrauch infolge der häufigen Neubauten zu vermindern, wurden wichtige Klausen ab Mitte des 18. Jahrhunderts im Zuge der Reformen des Salzamtmannes Freiherr von Sternbach mit Steinquadern neu gebaut. Dies erfolgte bei der Grundlseeklause 1754. 1883 wurde sie erneuert. Zum Auffangen des geschwemmten Holzes existierte ein Außenrechwerk, das vermutlich bereits um 1300 erbaut wurde. Vermutlich um 1500 wurde ein Vorwerkrechen in der Grundlseetraun erbaut. Nach Auflassung des Sudbetriebes im Markt Aussee 1867 waren die Rechen funktionslos geworden. Die Klause wurde vermutlich bei einem Hochwasser 1899 zerstört. Die letzten Reste der Rechen wurden bei den Verbauungsmaßnahmen nach den Katastrophenhochwässern 1897 und 1899 beseitigt. Bei der Seeklause befindet sich ein denkmalgeschütztes Gebäudeensemble aus dem 16. Jahrhundert. Dazu gehört auch ein Fischkalter. Dieser steht auf Pfählen im Wasser und hält in Unterwasserkäfigen Fische auf Vorrat. Während des Zweiten Weltkriegs war das Ausseer Land mit dem Grundlsee Teil der Alpenfestung und Rückzugsort der Nationalsozialisten. Am Nordostufer befindet sich die Villa Roth, die von Joseph Goebbels mit seiner Familie als Sommerresidenz genutzt wurde. Von 1943 bis 1945 war die Villa offizielle Dienststelle der Chemisch-Physikalischen Versuchsanstalt der Marine (CPVA), die am Toplitzsee eine Versuchsstation unterhielt. In der Villa Castiglioni wurden am Ende des Weltkrieges Teile der Führerbibliothek gelagert, die im Rahmen des Sonderauftrags Linz geschaffen werden sollte. Der Grundlsee in Kunst und Literatur Der See ist Gegenstand der Sage Der Wassermann vom Grundlsee. In der Sage wird von Fischern erzählt, die einen Wassermann fingen. Aus Mitleid ließen sie ihn wieder frei und der Wassermann offenbarte ihnen das Salzvorkommen im Sandling. Der Wassermann ziert das Wappen der Gemeinde Grundlsee. In der Biedermeierzeit kamen Landschaftsmaler in das Salzkammergut und an den Grundlsee. Rudolf von Alt, Conrad Kreuzer und Ferdinand Georg Waldmüller schufen Werke, die den Grundlsee und dessen Umgebung zeigen. Vor allem Ansichten vom Westufer auf den Backenstein waren beliebte Motive. Grundlsee ist der Titel eines gleichnamigen Romans des österreichischen Schriftstellers Gustav Ernst. Literatur Einzelnachweise Weblinks See im Salzkammergut See in der Steiermark See in Europa SGrundlsee Totes Gebirge Geographie (Grundlsee, Gemeinde) Badesee in Österreich Gewässer im Bezirk Liezen Gewässer in den Alpen
1367470
https://de.wikipedia.org/wiki/Keramischer%20Faserverbundwerkstoff
Keramischer Faserverbundwerkstoff
Keramische Faserverbundwerkstoffe sind eine Werkstoffklasse innerhalb der Gruppe der Verbundwerkstoffe oder auch der technischen Keramiken. Sie sind charakterisiert durch eine zwischen Langfasern eingebettete Matrix aus normaler Keramik, die durch keramische Fasern verstärkt wird und so zur faserverstärkten Keramik, Verbundkeramik oder auch einfach Faserkeramik wird. In der deutschen Fachliteratur wird die Werkstoffklasse häufig auch auf Englisch als Ceramic Matrix Composites bezeichnet und mit CMC abgekürzt. Matrix und Fasern können im Prinzip aus allen bekannten keramischen Werkstoffen bestehen, wobei in diesem Zusammenhang auch Kohlenstoff als keramischer Werkstoff behandelt wird. Der Artikel beschreibt die zurzeit industriell verfügbaren Verbundkeramiken mit ihren wichtigsten Herstellungsverfahren, wesentlichen Eigenschaften sowie einige Entwicklungs- und erfolgreiche Anwendungsbeispiele dieser relativ jungen Gruppe von Werkstoffen. Einleitung In Entwicklung und Anwendung von Verbundkeramik kommen zurzeit im Wesentlichen Kohlenstoff- und sogenannte Siliciumcarbid-Fasern zum Einsatz und in geringerem Umfang auch Fasern, die aus Aluminiumoxid (Al2O3) oder Mischkristallen aus Aluminiumoxid und Siliciumdioxid (SiO2), sogenanntem Mullit, bestehen. Als Matrixmaterialien werden bei technischen Anwendungen zurzeit hauptsächlich Aluminiumoxid, Mullit, Kohlenstoff und Siliciumcarbid eingesetzt (Lit.: W. Krenkel, 2003). Die Motivation zur Entwicklung dieser Keramiken ist aus den Problemen entstanden, die sich beim Einsatz konventioneller technischer Keramiken wie Aluminiumoxid, Siliciumcarbid, Aluminiumnitrid, Siliciumnitrid oder Zirconium(IV)-oxid gezeigt haben: alle diese Werkstoffe zerbrechen leicht unter mechanischen oder thermomechanischen Belastungen, weil selbst kleine Fertigungsfehler oder Kratzer auf der Oberfläche zum Startpunkt eines Risses werden können. Einer Ausbreitung von Rissen wird, anders als bei Metallen (Stichwort: Duktilität), aber ähnlich wie bei Glas, nur ein sehr geringer Widerstand entgegengesetzt. Charakteristisch ist ein sprödes Bruchverhalten, das viele Anwendungen erschwert oder unmöglich macht. Entwicklungen, diese Eigenschaft durch Einbettung von Fremdpartikeln, einkristallinen Kurzfasern (sogenannten Whiskern) oder Scheibchen (sogenannten Platelets) in die Keramik zu verbessern, haben deren Risswiderstand nur begrenzt verbessern können, aber in einigen keramischen Schneidwerkzeugen Anwendung gefunden. Erst die Verwendung von Langfasern zur Verstärkung von Keramik hat diesen Risswiderstand drastisch erhöhen können und zu verbesserten Eigenschaften wie zum Beispiel erhöhter Dehnbarkeit, Bruchzähigkeit und Thermoschockbeständigkeit geführt, mit denen neue Anwendungsfelder erschlossen werden konnten und können. Üblicherweise werden die so hergestellten Verbundkeramiken in der Form „Fasertyp/Matrixtyp“ abgekürzt. So steht „C/C“ zum Beispiel für Kohlenstofffaser-verstärkter Kohlenstoff oder „C/SiC“ für Kohlenstofffaser-verstärktes Siliciumcarbid. Soll das Herstellverfahren noch in diese Kurzbezeichnung mit aufgenommen werden, wird häufig (und auch im folgenden Artikel) mit dem Schema „Herstellverfahren-Fasertyp/Matrixtyp“ abgekürzt. So wird zum Beispiel ein mit dem Liquid-Polymer-Infiltration-Verfahren (siehe unten) hergestelltes Kohlenstofffaser-verstärktes Siliciumcarbid einfach als „LPI-C/SiC“ bezeichnet. Die wichtigsten, zurzeit industriell verfügbaren faserverstärkten Keramiken sind C/C, C/SiC, SiC/SiC und Al2O3/Al2O3. Sie unterscheiden sich von den konventionellen technischen Keramiken im Wesentlichen durch weiter unten ausführlicher vorgestellte Eigenschaften: höhere Bruchdehnung von bis zu einem Prozent deutlich höherer Risswiderstand extreme Thermoschockbeständigkeit bessere dynamische Belastbarkeit anisotrope, an den Faserausrichtungen orientierte Eigenschaften Geschichte Für die Verarbeitung von CMCs unter Verwendung von flüssigen, gasförmigen oder festen Ausgangsstoffen stehen mehrere Ansätze zur Verfügung. Die Technik der Chemische Gasphaseninfiltration (CVI) förderte die Entwicklung von CMCs. Die CVI-Technik wird seit den 1960er Jahren als Erweiterung der Chemical Vapor Deposition (CVD) Technologie untersucht. CVD beinhaltet die Abscheidung eines Feststoffs auf einem erwärmten Substrat aus gasförmigen Vorläufern. Es wird seit vielen Jahren zur Herstellung von verschleißfesten Beschichtungen, Beschichtungen für Kernbrennstoffe, dünnen Schichten für elektronische Schaltungen, Keramikfasern und so weiter verwendet. Wenn die CVD-Technik eingesetzt wird, um relativ große Mengen von Matrixmaterialien in faserigen Preforms zu imprägnieren, wird sie wird als CVI bezeichnet. CVI wurde erstmals für die Herstellung von Kohlenstoff-Kohlenstoff-Verbundwerkstoffen durch Pyrolyse von Methan bei 1000–2000 °C. Kohlenstoff-Kohlenstoff (C/C)-Verbundwerkstoffe weisen mehrere vorteilhafte Eigenschaften auf (z. B. wie niedrige Dichte und gute mechanische Eigenschaften bei hohen Temperaturen). Es wurde jedoch ca. 1973 sichtbar, dass Anwendungen von C/C-Verbundwerkstoffen aufgrund ihrer schlechten Oxidationsbeständigkeit bei Temperaturen über 450 °C begrenzt wären. SiC-Matrix-Verbundwerkstoffe wurden als Lösung betrachtet, um den oben genannten Mangel an C/C-Verbundwerkstoffen zu beheben für lange Lebensdauer bei erhöhten Temperaturen in oxidativer Umgebung. Die faserverstärkten CMCs folgten der Entwicklung von C/C-Verbundwerkstoffen und der CVI-Fertigungstechnik. Die Entwicklung von CVI SiC/SiC-Verbundwerkstoffen begann in den 1980er Jahren, als SEP (heute SNECMA), Amercorm, Refractory Composites und andere begannen, Ausrüstungen und Prozesse zur Herstellung von CMC-Komponenten für Luft- und Raumfahrt, Verteidigung und andere Anwendungen zu entwickeln. SNECMA war an der Spitze dieser Technologie und zeigte verschiedene CVI-SiC/SiC-Komponenten mit zufriedenstellender Leistung in Turbinentriebwerken. Eine Reihe von CVI-SiC/SiC-Komponenten haben sich erfolgreich in Turbinentriebwerken und anderen Komponenten bewährt. Die Machbarkeit von CVI-SiC-Matrix-Verbundwerkstoffen wurde 1977 untersucht und 1978 unabhängig davon bestätigt. CVI SiC-Matrix-Verbundwerkstoffe, die durch SiC-Fasern verstärkt sind, werden seit Ende der 1980er Jahre hergestellt. Die aktuellen CVI SiC/SiC-Verbundwerkstoffe weisen eine hervorragende Leistung unter extremen Bedingungen auf, wie zum Beispiel bei erhöhten Temperaturen. Inzwischen wurden alternative Herstellungsverfahren wie die Schmelzinfiltration (MI), Polymerinfiltration und Pyrolyse (PIP) und Hybridansätze, die eine Kombination aus CVI und anderen Methoden entwickelt. In den letzten 30 Jahren wurden enorme Fortschritte bei den CMC-Entwicklungen erzielt. Herstellung allgemein Die Herstellung von Bauteilen aus faserverstärkter Keramik erfolgt in der Regel in drei Schritten: Ablegen und Fixieren der Fasern in der gewünschten Bauteilform Einbringen des keramischen Matrixmaterials zwischen die Fasern Endbearbeitung und bei Bedarf weitere Nachbehandlungsschritte wie zum Beispiel das Aufbringen von Beschichtungen Der erste und letzte Schritt ist bei allen Typen von faserverstärkter Keramik nahezu gleich: Beim ersten Schritt werden die Fasern (technisch auch als Rovings bezeichnet) ähnlich wie bei der Herstellung von faserverstärktem Kunststoff mit verschiedenen Techniken abgelegt und fixiert: Ablegen von Fasergewebe, Wickeln, Flechten oder Stricken von Fasern sind Beispiele hierfür. Im dritten und letzten Schritt sind konventionelle schleifende, bohrende, läppende oder fräsende Bearbeitungstechniken üblich, wie bei allen Keramiken durchweg mit Diamantwerkzeugen. Durch die besonderen Eigenschaften der faserverstärkten Keramik sind zusätzlich noch Bearbeitungstechniken mit dem Wasserstrahl und dem Laser ohne Probleme möglich. Der zweite Schritt kennt zurzeit im Prinzip fünf unterschiedliche Verfahren, die keramische Matrix zwischen die Fasern zu bringen: Abscheidung von Keramik aus einem heißen Gasgemisch Erzeugung durch Pyrolyse eines Si- und C-Atome enthaltenden Polymers Erzeugung durch chemische Reaktion Erzeugung durch Sintern bei niedrigen Temperaturen (1000 bis 1200 °C) Erzeugung durch Elektrophorese mit keramischem Pulver Das fünfte Verfahren wird zurzeit noch nicht industriell eingesetzt. Bei allen genannten Verfahren gibt es noch Untervarianten, die sich in verfahrenstechnischen Details unterscheiden, sowie Kombinationen. Sie können in Büchern, Fachzeitschriften und Kongressliteratur nachvollzogen werden. Im Folgenden sind sie nur vereinfacht beschrieben. Die ersten drei Verfahren werden praktisch ausschließlich zur Herstellung der nicht-oxidischen, das vierte zur Herstellung der oxidischen Verbundkeramik benutzt. Allen Verfahren gemeinsam ist, dass der Herstellprozess, wie im Folgenden erläutert, zu einem porösen Werkstoff führt. Bemerkungen über keramische Fasern Unter keramischen Fasern werden im Zusammenhang mit faserverstärkter Keramik nicht nur Fasern verstanden, die, wie echte Technische Keramik, eine polykristalline Materialstruktur aufweisen, sondern auch solche mit amorpher Anordnung der Atome. Wegen der hohen Temperatur bei der Herstellung von Verbundkeramik ist die Verwendung nicht nur der organischen, sondern auch der anorganischen Metall- und Glasfasern ausgeschlossen. Nur hochtemperaturstabile keramische Fasern aus kristallinem Aluminiumoxid, Mullit (Mischkristallen aus Aluminiumoxid und Siliciumoxid), weitgehend kristallinem Siliciumcarbid sowie Zirkonoxid, Kohlenstofffasern mit den graphitischen Lamellenebenen in Faserrichtung sowie amorphe Fasern aus Siliciumcarbid sind in Anwendungen im Einsatz. Alle diese „keramischen“ Fasern zeichnen sich aus durch eine Dehnbarkeit, die zum Teil mit über 2 % wesentlich über der Dehnbarkeit normaler Keramik (etwa 0,05 bis 0,10 %) liegt. Ursache hierfür ist, dass in den Fasern je nach Hersteller verschiedene Additive (zum Beispiel Sauerstoff, Titan, Aluminium, siehe Keramikfaser) enthalten sind, ohne die zum Beispiel die amorphen SiC-Fasern niemals eine Dehnbarkeit von 2 % und eine Zugfestigkeit von über 3000 MPa erreichen könnten. Mit diesen Eigenschaften können die Fasern auch zu zwei- und dreidimensionaler Faserstrukturen verwoben werden (siehe Bild). Beim Verarbeiten wie zum Beispiel beim Weben müssen die Fasern hohe Zuglasten und kleine Biegeradien überstehen. Herstellung im Einzelnen Abscheidung der Matrix aus einem Gasgemisch Dieses Verfahren ist abgeleitet aus Beschichtungsverfahren, bei denen ein bestimmtes Gas oder Gasgemisch an erhitzten Oberflächen Material abscheidet. Es wird CVD-Verfahren genannt; CVD ist die Abkürzung für Chemical Vapor Deposition. Bei der Anwendung dieses Verfahrens auf ein in Bauteilform fixiertes Fasergebilde scheidet sich auf den Faseroberflächen auch im Inneren des Bauteils das Beschichtungsmaterial ab. Daher wird dieses Verfahren auch als Chemische Gasphaseninfiltration (engl. Chemical Vapour Infiltration oder CVI-Verfahren) bezeichnet. Ein Beispiel hierfür ist ein Verfahren zur Herstellung von C/C: ein C-Fasergebilde wird unter bestimmten Druck- (in der Regel unter 100 hPa) und Temperaturbedingungen (in der Regel über 1000 °C) mit einem Gemisch aus Argon und Methan (CH4) oder Propan (C3H8) begast. Aus dem Gasgemisch scheidet sich Kohlenstoff auf und zwischen den Fasern ab. Ein weiteres Beispiel ist die Abscheidung von Siliciumcarbid. Hierzu wird üblicherweise ein Gasgemisch aus Wasserstoff als Katalysator und Methyl-Trichlor-Silan (MTS, chemische Formel CH3SiCl3) verwendet, das auch bei der Herstellung von Silikonen eine Rolle spielt. Das Kohlenstoff- und Siliciumatom des MTS-Moleküls bildet auf jeder über etwa 800 °C heißen Oberfläche Siliciumcarbid, die übrigen H- und Cl-Atome verlassen als HCl-Gas mit dem Wasserstoff den Prozess. Bei der Abscheidung entstehen zwangsläufig geschlossene Poren, wenn Gaszutrittsöffnungen zugewachsen sind. Matrixerzeugung durch Pyrolyse C- und Si-haltiger Polymere Geeignete Polymere aus Kohlenwasserstoffen bilden bei der Pyrolyse unter Volumenschwund und Ausgasung Kohlenstoff. Polymere, bei denen ein Teil der Kohlenstoffatome durch Siliciumatome ersetzt worden ist, zum Beispiel sogenannte Carbosilane, bilden bei der Pyrolyse ebenfalls unter Volumenschwund und Ausgasung in analoger Weise ein amorphes und meist mit Kohlenstoff angereichertes Siliciumcarbid. Fasern, Fasergewebe oder -gewebestapel und auch dreidimensionale Fasergebilde lassen sich mit diesen Polymeren tränken bzw. infiltrieren. Durch anschließende Härtung und Pyrolyse wird das Gebilde in einer ersten Stufe fixiert. Durch den Volumenschwund hat die Matrix in dieser Stufe noch eine hohe Porosität, die für die meisten Anwendungen nicht akzeptabel ist. Um die Porosität zu senken, sind daher in der Regel fünf bis acht anschließende Zyklen aus Imprägnierung, Härtung und Pyrolyse zur Fertigstellung des Rohbauteiles erforderlich. Das Verfahren wird meist als Liquid Polymer Infiltration bezeichnet, abgekürzt mit LPI-Verfahren, und manchmal auch als Polymer Infiltration and Pyrolysis, abgekürzt PIP-Verfahren. Auch hier gibt es eine Restporosität, da jedes Polymer bei der Pyrolyse im Volumen schrumpft. Die Porosität reduziert sich mit jedem Infiltrations- und Pyrolysezyklus. Matrixerzeugung durch chemische Reaktion Bei diesem Verfahren ist zwischen den Fasern bereits ein Material vorhanden, das durch chemische Reaktion mit einem weiteren Stoff zur eigentlich gewünschten keramischen Matrix umgewandelt wird. Die Herstellung konventioneller Keramiken benutzt solche Reaktionen ebenfalls: So wird reaktionsgebundenes Siliciumnitrid (RBSN) durch die Reaktion von Siliciumpulver mit Stickstoff hergestellt und poröser Kohlenstoff wird mit Silicium zum siliciumhaltigen Siliciumcarbid, sogenanntem SiSiC, umgesetzt. Ein Beispiel für die Herstellung von faserverstärkter Keramik mit diesem Verfahren ist die sogenannte gerichtete Schmelzinfiltration: geschmolzenes Aluminium zwischen den Fasern wird durch den Zutritt von Sauerstoff zur Aluminiumoxid-Matrix oxidiert. Legierungsbestandteile in der Schmelze verhindern, dass die durchgängige Oxidation durch Bildung von Aluminiumoxidbarrieren unterbrochen wird. Der fertige Werkstoff enthält immer noch Restbestandteile von nicht abreagiertem Aluminium. Ein weiteres Beispiel, das bei der Herstellung keramischer Bremsscheiben industriell eingeführt worden ist, ist die Umwandlung des Matrixkohlenstoffes eines porösen C/C-Materials mit flüssigem Silicium. Bei kontrollierter Prozessführung unter Vakuum und oberhalb der Schmelztemperatur des Siliciums (1410 °C) reagiert im Wesentlichen der Matrixkohlenstoff zu Siliciumcarbid und die Fasern bleiben nahezu unberührt und können so ihre Verstärkungsfunktion erfüllen. Dieses Verfahren wird meist mit Liquid Silicon Infiltration, abgekürzt LSI-Verfahren, bezeichnet. Bei diesen Verfahren liegt die Restporosität bei niedrigen Werten von unter 3 %. Matrixerzeugung durch Sintern In oxidischer Verbundkeramik wird das Matrixmaterial zurzeit durch Hochtemperaturbehandlung („Sintern“) aus Vormaterialien erzeugt. Diese Vormaterialien erlauben es, die Temperaturen niedriger zu halten als die üblichen Sintertemperaturen der herkömmlichen Keramik, die bei etwa 1600 °C liegen. Die verfügbaren oxidischen Fasern würden durch so hohe Temperaturen zu stark geschädigt. Die Vormaterialien sind Flüssigkeiten, die mit mehr oder weniger hohen Anteilen von oxidischen Keramikpulvern zu einem sogenannten Schlicker angerührt und in die Fasern eingebracht werden. Bei Temperaturen zwischen 1000 und 1200 °C entsteht (mit starker Volumenschrumpfung verbunden) die oxidkeramische, poröse Matrix. Ein Beispiel für Vormaterialien sind Mischungen aus Al2O3-Pulver mit Tetra-Ethyl-Ortho-Silikat (als Silicium- und Sauerstoff-Spender) und Aluminium-Butylat (als Aluminium-Spender), die in richtiger Mischung Mullit als Matrix erzeugen. An weiteren Möglichkeiten für die Flüssigkeiten sind noch Sol-Gel-Ansätze zu nennen. Stand der Technik sind aber rein wässrige Suspensionen von Pulver mit Nanometer-Korngrößen, in denen auch ein Anteil gröberer oxidkeramischer Pulver verschiedener Qualität (Aluminiumoxid, Zirkoniumoxid) beigemischt wird. Hier liegt die Porosität bei kommerziell eingesetztem Material um etwa 20 %. Matrixerzeugung durch Elektrophorese Bei der Elektrophorese werden dispergierte, elektrisch geladene Teilchen in einer Flüssigkeit im elektrischen Gleichspannungsfeld zweier Elektroden auf die entgegengesetzt geladene Oberfläche transportiert und dort abgesetzt. Wird als Oberfläche ein Fasergebilde benutzt, scheiden sich die Pulverteilchen dort ab und füllen auch die Faserzwischenräume aus. Auf diese Weise hergestellte faserverstärkte Keramik ist zurzeit noch nicht im industriellen Einsatz. Probleme sind unter anderem die relativ komplexe Aufbereitung und Dispergierung der Pulver, die Einstellung der Ladung und die Begrenzung auf recht dünne Bauteilwandstärken. Bleibende Porosität wird auch hier durch das Zuwachsen von Zutrittskanälen erzeugt. Eigenschaften Mechanische Eigenschaften Grundmechanismus der mechanischen Eigenschaften Die in der Einleitung erwähnte Erhöhung des Risswiderstandes durch die Einbettung keramischer Fasern in die keramische Matrix basiert auf folgendem Grundmechanismus: Bei Belastung bildet das Matrixmaterial Risse genau wie in der unverstärkten Form bei Dehnungen über (je nach Matrixtyp) 0,05 % und die eingebetteten Fasern bilden eine Brücke über den Riss. Dieser Mechanismus der Brückenbildung setzt voraus, dass die Matrix längs der Fasern gleiten kann, also nur schwach mechanisch mit den Fasern verbunden ist. Bei fester Verbindung zwischen Matrix und Fasern müssten die Fasern in der Brücke eine extrem hohe Dehnbarkeit oder entsprechend niedrige Steifigkeit besitzen, was aber nicht der Fall ist. Das bedeutet, dass bei fester Verbindung der Matrixriss an der gleichen Stelle auch durch die Fasern ginge und die faserverstärkte Keramik das spröde Bruchverhalten der nicht verstärkten Keramik zeigte. Das Geheimnis faserverstärkter Keramik mit hohem Risswiderstand besteht demnach darin, bei der Herstellung sicherzustellen, dass die Verbindung zwischen Fasern und Matrix ein Gleiten zulässt. Nur auf diese Weise können die Fasern eine nennenswerte Brücke über Risse bilden und ihre Dehnbarkeit (bei C- und SiC-Fasern über 2 %, bei Al2O3-Fasern knapp 1 %) zur Geltung bringen. Bei der Herstellung von faserverstärkter Keramik wird dieser Gleitmechanismus meist durch eine dünne Beschichtung der Fasern mit Kohlenstoff oder Bornitrid sichergestellt. Diese Beschichtungen haben atomar angeordnete, lamellenartige Gleitebenen und bilden das Schmiermittel zwischen Fasern und Matrix. Bei oxidischer Verbundkeramik liegt eine Besonderheit vor: die schwache Anbindung wird durch hohe Porosität der Matrix oder durch künstlich erzeugte Lücken zwischen Faser und Matrix hergestellt. Letztere erhält man zum Beispiel durch eine beliebige Beschichtung der Fasern, zum Beispiel mit Kohlenstoff, die beim abschließenden Sinterprozess ausbrennt und eine entsprechende Lücke hinterlässt. Eine zu hohe Matrixporosität führt allerdings zu niedrigen Druck- und Biegefestigkeiten, so dass in der Praxis ein Kompromiss zwischen guten Festigkeitswerten und gutem Bruchverhalten gefunden werden muss. Eigenschaften bei Zug- und Biegebelastungen, Risswiderstand Der Einfluss der Faserbeschichtung auf die Eigenschaften solcher Verbundkeramiken wird bei der Bestimmung von Biege-, Zugfestigkeit und Risswiderstand an Materialproben sichtbar. Die Kurven von Risswiderstandsmessungen an gekerbten Proben sind im Bild rechts beispielhaft gezeigt. Bei diesen Versuchen wird mit zunehmender Kraft eine gekerbte Probe (siehe Bild) bis zum Bruch belastet. Kraft und der Weg des die Kraft einleitenden Stempels werden gemessen. In der Bruchmechanik wird die Kraft auf den Spannungsintensitätsfaktor (SIF, in der Technik K1c-Faktor genannt) normiert, wobei die Größe der entstehenden Bruchfläche berücksichtigt wird. Da sich herausgestellt hat, dass die Größe der Bruchfläche in Verbundkeramiken nicht bestimmt werden kann, ist in den gezeigten Kurven die Normierung nur auf die Größe der Anfangskerbe erfolgt und deshalb im Bild auch als formaler SIF „K“ bezeichnet worden. Da dieser Wert einer Kraft entspricht, kann man die Fläche (das Integral) unter den Kurven im relativen Vergleich der Kurven untereinander als die Energie betrachten, die zur Zerstörung der Probe aufgewendet werden muss. Direkt vergleichbar sind die Ergebnisse nur, wenn die Probengeometrie bei allen Proben identisch ist. Die Risswiderstandskurven der im Bild gezeigten verschiedenen Verbundkeramiken zeigen, dass der spezifische Energieaufwand, mit dem ein Riss durch Verbundkeramikproben getrieben werden kann, ein Vielfaches von dem der konventionellen SiSiC-Keramik beträgt. Das Maximum der verschiedenen Risswiderstandskurven gibt das Kraftniveau an, das erforderlich ist, um den Riss durch die Probe zu treiben. Unterschiedliche Typen und Herstellverfahren führen zu erkennbaren und deutlichen Unterschieden in den Qualitäten dieser Werkstoffklasse, speziell im Hinblick auf den Risswiderstand. Erläuterungen zur Tabelle: Mit dem Vorsatz CVI-, LPI- und LSI- ist das Herstellverfahren der jeweiligen C/SiC-Verbundkeramik gemeint. Die Daten für die Verbundkeramiken stammen aus (Lit.: W. Krenkel, S. 143), die der oxidischen Verbundkeramik Al2O3 von der Firma Pritzkow Spezialkeramik und die Daten für SSiC aus einem Datenblatt der Firma H.C.Starck Ceramics. Die Zugfestigkeit für SSiC und Al2O3 wurde aus Bruchdehnung und E-Modul berechnet, da für konventionelle Keramiken Zugfestigkeiten nicht angegeben werden, sondern üblicherweise nur Biegefestigkeitswerte. Es muss darauf hingewiesen werden, dass es sich um durchschnittliche Werte handelt. Innerhalb der einzelnen Herstellverfahren auch der konventionellen Keramik gibt es zum Teil erhebliche Abweichungen von den angegebenen Werten. Bei Prüfung der Zugfestigkeit von Verbundkeramiken zeigen sich, verursacht durch den Rissüberbrückungsmechanismus, im Unterschied zu konventioneller Keramik quasi-plastische Kurvenverläufe und mögliche Dehnungen bis zu einem Prozent, mehr als dem Zehnfachen der Dehnbarkeit aller technischen Keramiken; quasi-plastisch deshalb, weil das Abbiegen der Kurve nach dem linear-elastischen Bereich nicht auf plastischer Verformung des Werkstoffes beruht, sondern auf die Ausbildung eines Risssystems zurückzuführen ist, das durch die Fasern zusammengehalten wird. Da die lasttragenden Fasern einen kleineren E-Modul besitzen, nimmt die Steigung der Kurve ab und täuscht so ein plastisches Verhalten vor. Die Werte in der Tabelle zeigen auch hier, dass die verschiedenen Verbundkeramiktypen die Faserdehnbarkeit in unterschiedlichem Maße nutzen. Die Messkurven zur Bestimmung der Biegefestigkeit sehen praktisch genauso aus wie die oben gezeigten Kurven zur Bestimmung des Risswiderstandes. Bei der Bewertung von Zug- und Biegefestigkeiten sind zwei Dinge zu unterscheiden: Material mit wenig oder im Extremfall ohne Matrix weist hohe Zug- (nämlich Faserzug-), aber so gut wie keine Biegefestigkeit auf. Umgekehrt zeigt Material mit hohem Matrixanteil und geringer Porosität hohe Biegefestigkeiten (wie konventionelle Keramik), die wiederum nichts darüber aussagen, ob die Dehnbarkeit der Fasern genutzt wird. Beide Werte müssen unabhängig voneinander betrachtet werden. Sonstige mechanische Eigenschaften In vielen Bauteilen aus Verbundkeramik liegen die Fasern in zweidimensionaler Form entweder als gestapelte Gewebelagen oder als gekreuzte Lagen eindimensional ausgerichteter Fasern vor. Die Werkstoffe sind damit anisotrop. Eine Rissausbreitung zwischen diesen Lagen wird durch keine Faserbrücke behindert. Die Werte für die interlaminare Scherfestigkeit sind bei diesem Material entsprechend niedrig, ebenso wie die Zugfestigkeit senkrecht zum Gewebe. Wie beim faserverstärkten Kunststoff sind mögliche Delaminationen eine Schwachstelle des Materials. Sie kann durch Einführung dreidimensionaler Faserstrukturen erheblich verbessert werden. Bemerkungen zur Tabelle: Durch die Porosität sind die Druckfestigkeitswerte niedriger als bei konventioneller Keramik, wo für Siliciumcarbid über 2000 MPa angegeben werden. Porosität und fehlende Faserbrücken führen zu den sehr niedrigen Zugfestigkeiten senkrecht zur Faserebene. Die rissüberbrückende Wirkung der Fasern erlaubt auch eine hohe dynamische Belastung dieser Keramik. Proben werden in Wechsellastversuchen, sogenannten „Low-“ oder „High-Cycle-Fatigue“-Versuchen, zyklischen Druck- und Zugbelastungen bis zum Bruch ausgesetzt. Je höher die Startbelastung gewählt wird, umso weniger Zyklen überlebt die Probe. Verschiedene Startlasten aufgetragen gegen den Logarithmus der jeweils erreichten Zyklenzahl ergeben die sogenannte Wöhler-Linie. Sie zeigt an, wie viele Tausend oder Millionen Lastzyklen das getestete Material bei einer bestimmten dynamischen Belastung überleben kann. Faserverstärkte Keramik kann hier mit ausgezeichneten Ergebnissen aufwarten: bei 80 % der Dehnbarkeit zyklisch belastet überlebt SiC/SiC etwa 8 Millionen Zug-Druck-Zyklen (siehe Bild). Die Querkontraktionszahl zeigt senkrecht zur zweidimensionalen Faserebene während der Messung eine Anomalie: sie nimmt in der Richtung senkrecht zu den Fasern negative Werte an, wenn durch die Bildung interlaminarer Risse die Probendicke in der Frühphase der Messung kurz ansteigt statt abzunehmen. Thermische und elektrische Eigenschaften Die thermischen und elektrischen Eigenschaften von faserverstärkter Keramik ergeben sich aus den Bestandteilen von Fasern, Matrix und Poren und deren Zusammensetzung. Die Faserorientierung erzeugt darüber hinaus noch richtungsabhängige (anisotrope) Kennwerte. Zu den häufigsten zurzeit verfügbaren Verbundkeramiken lässt sich Folgendes zusammenfassen: Faserverstärkte Keramiken, die Oxide einsetzen, sind unverändert sehr gute elektrische Isolatoren und wegen der Poren steigt auch die thermische Isolationswirkung deutlich über die von konventionellen Oxidkeramiken. Die Verwendung von Kohlenstofffasern erhöht die elektrische und die thermische Leitfähigkeit in Richtung der Fasern, sobald direkter elektrischer Kontakt zu ihnen vorliegt. Siliciumcarbid als Matrix ist ein sehr guter Wärmeleiter. Als elektrischer Halbleiter nimmt sein elektrischer Widerstand mit steigender Temperatur ab. Siliciumcarbid-Fasern leiten Wärme und elektrischen Strom wegen der amorphen Mikrostruktur deutlich schlechter. In Verbundkeramik mit Siliciumcarbid als Matrix sinken sowohl die Wärme- als auch die elektrische Leitfähigkeit wegen der Porosität auf niedrigere Werte. Einige Angaben sind in der folgenden Tabelle aufgelistet. Bemerkungen zur Tabelle: Mit (p) und (s) sind die Eigenschaften parallel und senkrecht zu Faserorientierung des anisotropen Materials gemeint. Zu nicht eingetragenen Werten fehlen Literatur- oder Herstellerangaben. Wegen der geringen Porosität zeigt das LSI-Material die höchste Wärmeleitfähigkeit aller Verbundkeramiken – ein Vorteil für den Einsatz dieses Werkstoffes als hochbelastetes Bremsscheibenmaterial. Auch hier gilt, dass die Werte selbst innerhalb der einzelnen Keramiktypen je nach Details beim Herstellprozess erheblich abweichen können. Normale Keramik und technische Keramik sind empfindlich gegenüber Thermospannungen, die bei Thermoschockbelastungen besonders hoch sind. Die Ursache liegt in der geringen Dehnbarkeit und hohen Steifigkeit (hohem E-Modul) dieser Materialien. Temperaturunterschiede im Material erzeugen unterschiedliche Ausdehnung, die wegen des hohen E- Moduls zu entsprechend hohen Spannungen führt. Durch diese wird das Material überdehnt und bricht. In faserverstärkter Keramik werden solche Risse durch die Fasern überbrückt. Ein Bauteil erleidet keinen makroskopischen Schaden, auch wenn sich in der keramischen Matrix Risse gebildet haben. Der Einsatz dieser Materialklasse in Scheibenbremsen beweist die Leistungsfähigkeit von Verbundkeramik unter extremen Thermoschockverhältnissen. Korrosionseigenschaften Breitere Untersuchungen zum Korrosionsverhalten von faserverstärkter Keramik liegen noch nicht vor. Auch hier sind die Eigenschaften bestimmt durch die Eigenschaften der verwendeten Bestandteile, nämlich Fasern und Matrix. Generell sind keramische Werkstoffe im Vergleich zu den meisten übrigen Werkstoffen sehr korrosionsstabil. Die Vielzahl der Herstellvarianten mit verschiedenen Additiven, zum Beispiel Sinterhilfsmitteln, Mischformen, vor allem bei den Oxiden, Verunreinigungen, Glasphasen an den Korngrenzen und Porositätsunterschiede beeinflussen das Korrosionsverhalten entscheidend (Lit.: J. Kriegesmann). Über die zurzeit in Anwendungen wichtigen Matrix- und Fasermaterialien lässt sich stichwortartig Folgendes aus der Literatur entnehmen: Aluminiumoxid:Aluminiumoxid ist in sehr reinem Zustand gegen fast alles beständig; amorphe Glasphasen an den Korngrenzen und Siliciumoxid-Gehalt entscheiden die Korrosionsgeschwindigkeit in konzentrierten Säuren und Laugen. Bei hohen Temperaturen führen sie unter Last zu Kriechverhalten. Für Metallschmelzen wird Aluminiumoxid nur bei Edelmetallen wie Gold oder Platin eingesetzt. Aluminiumoxidfasern:Verhalten sich ähnlich wie Aluminiumoxid. Die kommerziell verfügbaren Fasern sind nicht von extremer Reinheit und daher anfälliger. Das Kriechverhalten bei Temperaturen über etwa 1000 °C erlaubt zurzeit auch nur wenige Anwendungen oxidischer Verbundkeramik. Kohlenstoff:Kohlenstoff korrodiert, besser verbrennt, mit Sauerstoff bei Temperaturen ab etwa 500 °C. Ebenso oxidiert er in stark oxidierenden Medien (zum Beispiel konzentrierter Salpetersäure). In den meisten Metallschmelzen löst er sich oder bildet Carbide. Kohlenstofffasern:Kohlenstofffasern verhalten sich praktisch so wie Kohlenstoff. Siliciumcarbid:Sehr reine Varianten des Siliciumcarbides gehören zu den korrosionsbeständigsten Werkstoffen. Lediglich starke Laugen, Sauerstoff ab ca. 800 °C und die meisten Metallschmelzen reagieren mit diesem Material. Bei Metallschmelzen bilden sich sowohl Carbide als auch Silicide (Verbindungen von Silicium mit Metall).Bei der mit Sauerstoff einsetzenden Reaktion von SiC zu SiO2 und CO2 bildet das Siliciumdioxid eine Schutzschicht, die passivierend wirkt („passive Oxidation“). Bei noch höheren Temperaturen (ab ca. 1600 °C) und gleichzeitigem Sauerstoffmangel (Partialdruck unter 50 mbar) bildet sich jedoch neben dem CO2 und CO das gasförmige Siliciummonoxid (SiO), das jede Schutzwirkung verhindert. Diese sogenannte „aktive Oxidation“ führt unter den genannten Bedingungen zu sehr raschem Abbau des Siliciumcarbides.Im Zusammenhang mit Verbundkeramik gilt diese Charakterisierung nur für SiC-Matrixmaterial, das mit dem CVI-Verfahren hergestellt worden ist. Dort besteht die Matrix aus sehr reinem, feinkristallinen SiC. Mit dem LPI-Verfahren hergestellte Matrix ist wegen der amorphen Struktur und der Porosität deutlich empfindlicher für alle Arten von Korrosion. In der Matrix des LSI-Materials sorgen die immer vorhandenen Reste von Silicium für eine verschlechterte Korrosionsbeständigkeit. Siliciumcarbidfasern:Da Siliciumcarbidfasern durch Pyrolyse vernetzter, silicium-organischer Kunstharze (analog zur Herstellung von Kohlenstofffasern) hergestellt werden, gilt für sie das Gleiche wie für die im LPI-Verfahren hergestellte Matrix: deutlich stärkere Korrosionsempfindlichkeit gegen Laugen und oxidierende Medien. Anwendungen Mit faserverstärkter Keramik steht ein Werkstoff zur Verfügung, der gewichtige Nachteile konventioneller technischer Keramik, nämlich deren geringe Bruchzähigkeit und hohe Thermoschockempfindlichkeit, nicht mehr besitzt. Anwendungsentwicklungen haben sich folglich auf Gebiete konzentriert, in denen Zuverlässigkeit bei hohen, für Metalle nicht mehr zugänglichen Temperaturen und bei abrasiven (= Verschleiß erzeugenden) Belastungen gefordert sind. Folgende Schwerpunkte haben sich in Entwicklungen und Anwendungen bisher ergeben: Hitzeschutzsysteme für Raumflugkörper, die beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre hohen Thermospannungen und Vibrationsbelastungen ausgesetzt sind. Komponenten für Gasturbinen im Bereich der heißen Gase, also in der Turbinenbrennkammer, den statischen, den Gasstrom lenkenden Leitschaufeln und den eigentlichen Turbinenschaufeln, die den Verdichter der Gasturbine antreiben. Bauteile für die Brennertechnik und Heißgasführungen aus oxidischer Verbundkeramik. Bremsscheiben für hoch belastete Scheibenbremsen, die auf der Reibfläche extremen Thermoschockbedingungen ausgesetzt sind (anders als beim Eintauchen eines glühenden Teiles in Wasser entsteht hier keine wärmeisolierende Wasserdampfschicht). Komponenten für Gleitlager mit hoher Korrosions- und Verschleißbelastung. Darüber hinaus sind grundsätzlich alle Bereiche interessant, in denen konventionelle technische Keramik verwendet wird oder in denen metallische Komponenten wegen Korrosion oder hoher Temperaturen keine befriedigenden Lebensdauern erreichen. Die folgende Präsentation einiger Entwicklungs- und Anwendungsbeispiele ist bei weitem nicht vollständig und soll nur die Breite der technischen Möglichkeiten andeuten. Entwicklungen für Anwendungen in der Raumfahrt Im Bereich der Raumfahrt ist faserverstärkte Keramik interessant für Komponenten von Hitzeschutzsystemen und für bewegliche Steuerklappen von Raumgleitern. Beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre entstehen für einige Minuten an diesen Elementen Oberflächentemperaturen über 1500 °C, die nur von keramischen Werkstoffen ohne größere Beeinträchtigung ertragen werden. Durch den Einsatz von faserverstärkter Keramik für heiße Strukturen in der Raumfahrt verspricht man sich im Unterschied zu den bisher eingesetzten Materialsystemen unter anderem: Gewichtseinsparungen Einen Beitrag des Hitzeschutzsystems zur lasttragenden Struktur Wiederverwendbarkeit für mehrere Wiedereintritte Da bei diesen hohen Temperaturen die verfügbaren oxidischen Fasern unter Last kriechen und die amorphen SiC-Fasern durch Rekristallisation ihre Festigkeit verlieren, haben sich die Material- und Komponentenentwicklungen auf die Verbundkeramik C/SiC konzentriert. Die im Rahmen des HERMES-Programmes der ESA in den 1980er Jahren durchgeführten und 1992 abgebrochenen Entwicklungen haben nach mehreren Folgeprogrammen ihren Höhepunkt mit der Entwicklung und Qualifikation von Bugnase, Flügelvorderkanten und Hecksteuerklappen des Raumgleiters X-38 der NASA gefunden. Eine dieser Entwicklungen diente zum Beispiel der Qualifikation von Schrauben und Muttern aus Verbundkeramik. Schrauben aus technischer Keramik sind zwar verfügbar, auf Grund der Kerben im Gewindegrund aber bruchempfindlich und haben bei weitem nicht die geforderte Zuverlässigkeit. Der Einsatz von Schrauben aus C/C ist auf Grund der Oxidationsempfindlichkeit ebenfalls zu risikoreich. Eine weitere wichtige Komponente dieser Steuerklappen ist das zentral gelegene Lager, über das die Kraft für die Bewegung eingeleitet wird. Dieses Lager wurde unter realitätsnahen Bedingungen (4 Tonnen Last, 1600 °C auf der Unterseite, Sauerstoffkonzentration auf dem Niveau beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre und gleichzeitige 8°-Lagerbewegungen mit einem Bewegungszyklus in vier Sekunden) erfolgreich beim DLR in Stuttgart getestet; fünf Wiedereintrittsphasen wurden auf diese Weise simuliert. Die Verwendung von C/SiC hat die Entwicklung und Qualifikation von Beschichtungssystemen erzwungen, die den raschen Ausbrand der C-Fasern unter den Wiedereintrittsbedingungen verhindern. Versuche im Plasmastrom unter simulierten Wiedereintrittsbedingungen haben den Erfolg dieser Entwicklungsarbeiten nachgewiesen. Ein weiterer Qualifikationsschritt für die Flugtauglichkeit erfolgte durch Verformungstests bei über 1000 °C auf einem Prüfstand der IABG in München. Die Verformung unter 4 Tonnen Last bestätigte die entsprechenden Berechnungen und die Auslegung. Abschließende Bodentests nach der Montage der Klappen an den für den Flugtest vorgesehene X-38-Raumgleiter in Houston, Texas, USA, verliefen ebenfalls erfolgreich. Die NASA hat aus finanzpolitischen Gründen das Ziel des Projektes, nämlich den Transport des X-38 mit einem Space-Shuttle-Flug in die Erdumlaufbahn und den anschließenden (unbemannten) Wiedereintritt in die Erdatmosphäre, nicht mehr realisieren können. Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass diese Qualifikationen dem Einsatz von C/SiC-Verbundkeramik für diesen speziellen Fall gedient haben. Die Hochtemperaturbelastung dauert bei einem Wiedereintritt etwa 20 Minuten. Bei Wiederverwendbarkeit addiert sich die Dauer auf wenige Stunden zyklischer Belastung. Ein Einsatz von oxidationsgeschütztem C/SiC für industrielle Hochtemperaturanwendungen mit mehreren Hundert oder Tausend Stunden geforderter Lebensdauer ist damit noch nicht sichergestellt. Entwicklungen für den Einsatz in Gasturbinen Ziel des Verbundkeramikeinsatzes in Gasturbinen ist die Erhöhung der Gastemperatur, die einen Anstieg des Wirkungsgrades zur Folge hat. Die komplexe Formgebung für Leitschaufeln und Turbinenschaufeln in Gasturbinen sowie die sehr hohe thermische und mechanische Belastung dieser Teile haben dazu geführt, dass zunächst mit Erfolg nur die Entwicklung von Brennkammern aus Verbundkeramik vorangetrieben worden ist. Am weitesten sind hier die Fortschritte in den Vereinigten Staaten gediehen. Eine Brennkammer aus SiC/SiC-Verbundkeramik auf der Basis einer speziellen hochtemperaturfesten SiC-Faser ist über 15.000 Stunden in einer Gasturbine im Einsatz gewesen. Da SiC in solchen Zeiträumen bei Temperaturen von etwa 1100 °C schon nennenswert durch Oxidation angegriffen wird, musste auch hier ein sehr leistungsfähiger Oxidationsschutz entwickelt werden. Er besteht aus einem mehrschichtigen System oxidischer Keramiken. Einer schnellen Umsetzung der bisherigen Ergebnisse in reale Anwendung steht noch entgegen, dass das getestete Temperaturniveau noch keine Vorteile gegenüber den herkömmlichen, mit einem Luftfilm gekühlten metallischen Brennkammern bietet, dass die der Brennkammer folgenden Komponenten (Leitschaufeln und Turbinenschaufeln) ebenfalls für ein erhöhtes Temperaturniveau entwickelt und qualifiziert werden müssen und dass die Kosten für die Herstellung des Verbundwerkstoffsystems aus speziellen SiC-Fasern, SiC-Matrix und speziellem Beschichtungssystem noch sehr hoch sind. Anwendung oxidischer Verbundkeramik in Brennern und Heißgasführungen Sauerstoffhaltige, heiße Gase mit einer Temperatur über 1000 °C führen über kurz oder lang in Brennern mit konventionellen Flammrohren aus hochtemperaturfestem Stahl zu deren Verzunderung, bei Rohren aus Siliciumcarbid zur Schädigung durch Oxidation. Da diese Teile keiner hohen mechanischen Belastung, sondern nur starken Thermoschocks ausgesetzt sind, eignet sich oxidische Verbundkeramik besonders gut für solche Einsätze bis zu 1300 °C. Die Bilderreihe unten zeigt das Flammrohr eines Brenners aus oxidischer Aluminiumoxid-Verbundkeramik, das 15.000 Stunden in einer Backstraße für Knäckebrot genutzt worden ist und inzwischen über 20.000 Betriebsstunden erreicht hat. Eine Lebensdauer bis zum 20fachen von konventionellen Werkstoffen kann bei diesen Einsatzfällen realisiert werden. Klappen oder Ventilatoren zur Regelung oder Förderung von sauerstoffhaltigen Heißgasströmen in verschiedenen Anlagen können aus Oxid-Verbundkeramik in baugleicher Form wie Metalle hergestellt werden. Sie haben den Vorteil, dass sie sich nicht – wie Metalle bei Temperaturen über 650 °C – verformen („verziehen“). Der Einsatz diese Werkstoffes für Hubtore (siehe Bilderreihe) zum Beispiel in Sinteröfen, die bei häufigen Öffnungs- und Schließvorgängen ebenfalls thermisch hoch bis 1300 °C belastet werden, hat sich in einem Fall seit mehr als 12 Monaten mit über 260.000 Öffnungs- und Schließzyklen bewährt. Anwendung als Bremsscheibe Nach den Bremsscheiben aus C/C-Material, die schon seit längerem in Rennwagen der Formel 1 und in Bremsen von Flugzeugen eingesetzt werden, sind inzwischen Bremsscheiben aus C/SiC-Material, die mit dem LSI-Verfahren hergestellt werden, kommerziell verfügbar und werden in teuren Sportwagen, teilweise gegen Aufpreis, verbaut. Das LSI-Verfahren bietet Kostenvorteile bei der Herstellung. So werden die Scheiben aus einem Gemisch von Kurzfasern und Harz vergleichsweise schnell und kostengünstig gepresst, gehärtet, zur C/C-Scheibe pyrolysiert und anschließend, wie oben beschrieben, mit geschmolzenem Silicium in eine LSI-C/SiC-Scheibe umgewandelt. Die Vorteile dieser Bremsscheiben lassen sich wie folgt zusammenfassen: Der Scheibenverschleiß ist sehr gering. Die Lebensdauer im Vergleich zu einer herkömmlichen Grauguß-Scheibe ist rund sechs Mal höher. Je nach Fahrweise erlaubt dies auch den Einsatz einer Scheibe über die gesamte Lebensdauer des Fahrzeuges. Bis zu 300.000 km werden bei normaler Belastung angegeben. Es gibt auch bei hoher Beanspruchung keine Schwankungen im Reibkoeffizienten, den bei Metallscheiben bekannten sogenannten Fading-Effekt. Im Unterschied zu Bremsscheiben aus C/C wird kein Einfluss von Feuchtigkeit auf die Bremsleistung beobachtet. Das Scheibenmaterial ist außerordentlich korrosionsbeständig und damit unempfindlich gegenüber Streusalzwirkung im Winter. Die Masse kann im Vergleich zur Stahlscheibe auf ca. 40 % reduziert werden. Das bedeutet wegen der deutlich geringeren ungefederten Massen der Räder verbesserten Fahrkomfort und gleichzeitig bessere Haftung, da das Rad der Kontur des Bodens leichter folgen kann. Da die C-Fasern weitgehend durch die SiC-Matrix vor Oxidation geschützt sind und der Zeitraum, in der Bremsscheiben Temperaturen von über 500 °C nennenswert überschreiten, in der gesamten Lebensdauer eines Fahrzeuges auf wenige Stunden begrenzt ist, spielt die Oxidation des Werkstoffes bei dieser Anwendung keine wesentliche Rolle. Es bleibt abzuwarten, ob die Herstellkosten für solche Scheiben so weit abgesenkt werden können, dass auch Fahrzeuge der Mittelklasse damit ausgestattet werden. Den aktuellen Stand kann man aus den Internetseiten der Anbieter entnehmen. Anwendungen in Gleitlagern In Gleitlagern von Pumpen wird konventionelles SSiC oder auch das kostengünstigere SiSiC schon seit über 20 Jahren mit viel Erfolg verwendet (Lit.: W. J. Bartz, 2003). Das Lager benutzt dabei die von der Pumpe geförderte Flüssigkeit als Schmiermittel. Ursache für den Erfolg dieses Lagerkonzeptes ist die Korrosionsfestigkeit gegenüber fast allen Medien und der durch die große Härte bedingte extrem geringe Verschleiß bei Reibbelastung oder abrasiver Belastung durch Partikel sowie der niedrige Reibkoeffizient bei Flüssigkeitsschmierung. Die SiC-Komponenten des Gleitlagers bestehen aus der sogenannten Wellenschutzhülse, die auf der Welle montiert ist und in der Lagerbuchse rotiert. Die SiC-Lagerbuchse ist in der Regel in ihre metallische Umgebung eingeschrumpft und steht unter Druckspannung. Ein spröder Bruch dieser Komponente ist damit sehr unwahrscheinlich. Die SiC-Wellenschutzhülse hat diesen Vorteil nicht und wird deshalb in der Regel mit einer großen Wandstärke ausgeführt und/oder mit speziellen konstruktiven Vorkehrungen eingebaut. Bei großen Pumpen mit entsprechend großen Wellendurchmessern (100 bis 300 mm) sowie bei Pumpen mit hoher Lagerbelastung hat sich wegen des Ausfallrisikos der Wellenschutzhülse das keramische Lagerkonzept erst mit dem Einsatz von Verbundkeramik realisieren lassen. Auf dem Prüfstand konnte gezeigt werden, dass die Lagerpaarung aus CVI-SiC/SiC und konventionellem SSiC unter Mischreibungsbedingungen nahezu das Dreifache an spezifischer Lagerbelastung ertragen kann wie viele andere geprüfte Paarungen. Mit spezifischer Lagerbelastung ist das Produkt aus Reibkoeffizient (dimensionslos), Laufgeschwindigkeit (m/s) und Lagerbelastung (MPa oder N/mm²) gemeint; es gibt die im Lagerspalt umgesetzte Leistung in W/mm² an und wird oft auch – unter Weglassung des Reibkoeffizienten – als „P mal V-Wert“ angegeben. Kesselspeisewasserpumpen in Kraftwerken, mit denen einige tausend m³/h von 160 °C heißem Wasser auf 20 bar Druck gefördert werden, oder Rohrgehäusepumpen, mit denen einige zehntausend m³/h Schleusenwasser oder Meerwasser für Entsalzungsanlagen gepumpt werden, sind seit 1994 die bisher bevorzugten Einsatzfälle für wassergeschmierte Gleitlager mit Wellenschutzhülsen aus CVI-SiC/SiC-Verbundkeramik (Bild am Anfang dieses Artikels). In der Entwicklung befindet sich noch die Anwendung dieses Gleitlagertyps in Turbopumpen, mit denen in Triebwerken der Raumfahrt flüssiger Sauerstoff (Liquid Oxygen = LOx, Siedepunkt: −183 °C) gefördert wird. Die bisherigen Tests haben gezeigt: SiC und CVI-SiC/SiC sind mit LOx verträglich und reagieren auch unter verschärften Bedingungen nicht mit Sauerstoff (Zur Bestimmung der Selbstzündungstemperatur wird Pulver unter 20 bar reinem Sauerstoffgas nach der französischen Norm NF 29-763 bis auf 525 °C erhitzt.). Reib-Verschleißversuche haben im Vergleich zu einer metallischen Standard-Paarung einen halbierten Reibkoeffizienten und einen auf ein Hundertstel reduzierten Verschleiß ergeben. Das mit LOx-Schmierung hydrostatisch ausgelegte Gleitlager hat einen Test einige Stunden bei einer Drehzahl von 10.000 min−1 mit unterschiedlichen Lagerlasten sowie 50 Start/Stopp-Übergänge unter Mischreibungsbedingungen praktisch verschleißfrei überstanden. Der Vorteil dieser keramischen Lager mit Verbundkeramik im Vergleich zu Lagern mit herkömmlicher Keramik liegt in der stark erhöhten Zuverlässigkeit. Eine Beschädigung der Wellenschutzhülse führt nicht zu einer Zersplitterung in mehrere größere und harte Bruchstücke mit großen Folgeschäden für Pumpengehäuse und -rad. Sonstige Anwendungen und Entwicklungsansätze Erwähnt werden können noch die folgenden Anwendungs- und Entwicklungsbeispiele: Schubsteuerklappen in Strahltriebwerken von Kampfflugzeugen, mit denen der Strahlquerschnitt an die Triebwerksleistung angepasst wird. CVI-SiC/SiC-Platten mit dreidimensionaler Faserstruktur als Auskleidung heißer Bereiche von Fusionsreaktoren. Durch die dreidimensionale Faserstruktur wird die Wärmeleitung senkrecht zur Plattenebene erhöht. Da kristallines SiC sich in der mit Neutronenstrahlung belasteten Umgebung als vergleichsweise beständiges Material erwiesen hat, werden hier auch kristalline SiC-Fasern eingesetzt, deren Hochtemperaturstabilität im Vergleich zu den amorphen stark verbessert ist. Strahlruder („Fins“), Flammhalter und Heißgasleitrohre in Überschallraketen, die extrem heiße Abgase, bei Festbrennstoffen auch mit Partikelanteilen, für kurze Zeit kontrolliert führen und umlenken müssen. Bremsklötze zur Schnellbremsung von Schlitten in Simulationsanlagen für Unfälle im Automobilverkehr mit dem Vorteil des geringen Verschleißes und auch bei mehreren Tests sehr stabiler Bremsverzögerungswerte. Hochtemperatur-Wärmeübertrager mit den noch ähnlich wie bei Gasturbinen anstehenden Problemen der Heißgaskorrosion und zusätzlich der notwendigen Gasdichtigkeit. Steife Strukturen für Präzisionsspiegel. Verkleidungselemente im Bereich Abgas führender Rohre von Rennwagen der Formel 1 sowie Scheiben für die stark belasteten Kupplungen dieser Fahrzeuge. Industrielle Hersteller in Europa WPX Faserkeramik: Oxidische Faserkeramik Bauteile und Komponenten für industrielle Wärmebehandlung und Hochtemperaturanwendungen KLETKE Advanced Composites: Komponenten aus C/C, C/C mit SiC-Beschichtung mit C-CVI und LSI-Verfahren SGL Carbon: Bremsscheiben (LSI-Verfahren) Schunk Group: Axiallager, Radiallager, Gleitbeläge, Ofenauskleidungen aus C/C-Material BJS Ceramics: Raumfahrtkomponenten, Gleitlagerkomponenten (CVI-Verfahren) Snecma: Komponenten für Raumfahrt, Verteidigungstechnik, Bremsscheiben (CVI-Verfahren) Brembo: Bremsscheiben (LSI-Verfahren) Pritzkow Spezialkeramik: Hochtemperaturbeständige Bauteile für den Industriebedarf aus oxidischer Verbundkeramik CERAFIB GmbH: Hochtemperaturbeständige Filamente und Werkstoffe Forschungseinrichtungen in Deutschland Universität Bremen: Fachgebiet Keramische Werkstoffe und Bauteile sowie Biokeramik Universität Stuttgart: Institut für Fertigungstechnologie Keramischer Bauteile (IFKB) Universität Karlsruhe: Institut für Keramik im Maschinenbau (IKM) Dresden: Fraunhofer-Institut für Keramische Technologien und Systeme (IKTS), sowie das Institut für Leichtbau und Kunststofftechnik (ILK) an der TU Dresden Universität Bayreuth: Lehrstuhl Keramische Werkstoffe des Instituts für Materialforschung (IMA) Institut für Textilchemie und Chemiefasern (ITCF Denkendorf): Faserforschung und -entwicklung DLR Institut für Bauweisen und Strukturtechnologie: Entwicklung von maßgeschneiderten CMC-Werkstoffen, z. B. Thermalschutzsysteme DLR Institut für Werkstoff-Forschung Köln: Entwicklung von oxidischen Faserverbundkeramiken für den Hochtemperatureinsatz Fraunhofer-Zentrum für Hochtemperatur-Leichtbau (HTL): Forschung und Entwicklung von Ceramic Matrix Composites (CMC), Keramikfasern und Hochleistungskeramiken Literatur W. Krenkel (Hrsg.): Keramische Verbundwerkstoffe. Wiley-VCH, Weinheim 2003. ISBN 3-527-30529-7 J. Kriegesmann (Hrsg.): DKG – Technische Keramische Werkstoffe. HvB-Verlag, Ellerau 2005. ISBN 978-3-938595-00-8 W. J. Bartz (Hrsg.): Keramiklager, Werkstoffe – Gleit- und Wälzlager – Dichtungen. Handbuch der Tribologie und Schmierungstechnik. Bd. 12. Expert Verlag, Renningen 2003. ISBN 3-8169-2050-0 Quellenangaben Verbundkeramik Textiler Verbundwerkstoff
1506569
https://de.wikipedia.org/wiki/Ellbogendysplasie
Ellbogendysplasie
Die Ellenbogengelenksdysplasie (ED) ist ein chronisch verlaufender Krankheitskomplex des Ellenbogengelenks schnellwüchsiger Hunderassen. Die ED stellt eine vererbte Entwicklungsstörung des wachsenden Skeletts dar. Hohes Körpermassewachstum und Fütterungsfehler sind weitere begünstigende (prädisponierende) Faktoren. Die ED beginnt in der späten Wachstumsphase bei vier bis acht Monate alten Jungtieren mit einer schmerzhaften Veränderung des Gelenks und der gelenkbildenden Knochenteile (Osteoarthrose) mit Lahmheit. Der Bewegungsumfang des Ellenbogengelenks ist eingeschränkt. Frühzeichen sind Steifigkeit am Morgen oder nach Ruhepausen. Die Krankheit schreitet lebenslang fort und ist nicht heilbar, eine weitgehende Schmerzfreiheit kann aber in vielen Fällen erreicht werden. Vorkommen und Ursachen Eine Ellbogendysplasie kann bei allen großwüchsigen Hunderassen auftreten. Am häufigsten betroffen sind Chow-Chow, Rottweiler, Berner Sennenhund, Grosser Schweizer Sennenhund, Neufundländer, Labrador Retriever, Deutscher Schäferhund und Bordeaux-Dogge. Die Häufigkeit des Auftretens (Prävalenz) beträgt bei einigen Rassen über 40 %. Die ED wird polygenetisch (über mehrere Gene) vererbt. Der genaue Erbgang und die beteiligten Gene sind bislang nicht bekannt, so dass kein Gentest für die Erkrankung existiert. Der Nachweis kann daher bislang nur über die tierärztliche Beurteilung des Einzeltieres erfolgen, einige Hundezuchtverbände fordern eine Röntgenuntersuchung für Zuchttiere. Der Grad der Vererbbarkeit (Heritabilität) ist für Rüden größer als für Hündinnen und wird je nach Rasse und Population mit Werten zwischen 0,1 und 0,7 angegeben. Klinische Symptome Die erkrankten Tiere werden durch Lahmheiten im Bereich der Vordergliedmaße auffällig. Es besteht hierbei eine Mischform aus Hangbein- und Stützbeinlahmheit, häufig kommt es zu einer Wegführung des Unterarmes und der Pfote von der normalen Achse der Gliedmaße (Abduktion) sowie einem Heranziehen des Ellenbogens an den Körper (Adduktion), wobei die Gliedmaße eingedreht wird. Bei der klinischen Untersuchung kann häufig eine vermehrte Füllung der Gelenkkapsel festgestellt werden, das Gelenk ist meist schmerzhaft und teilweise können Knirschgeräusche wie Pseudokrepitationen ausgelöst werden. Manifestationen Eine Ellbogendysplasie entsteht, wenn die gelenkbildenden Knochenteile Oberarmknochen (Humerus), Elle (Ulna) und Speiche (Radius) nicht exakt genug zueinander passen. Die ungenaue Passform oder Inkongruenz führt zu chronischen Umbauvorgängen am Ellbogengelenk und den gelenkbildenden Knochenteilen (Osteoarthrose), die zu einer Sklerosierung der Knochen und zur Ausbildung von Knochenauswüchsen (Osteophyten) führen. Bei geringer Inkongruenz der Gelenkflächen ist die Osteoarthrose das einzige Anzeichen einer Ellbogendysplasie, darüber hinaus können weitere Veränderungen auftreten: Fragmentierung des Processus coronoideus medialis (FCP, Ablösung des innen liegenden Kronfortsatzes der Elle) Osteochondrosis dissecans am Condylus medialis humeri (OCD, Knorpelablösung am innen liegenden Rollhöcker des Oberarmknochens) Isolierung des Processus anconaeus (IPA, Ablösung des Ellenbogenfortsatzes der Elle) Ein gleichzeitiges Auftreten mehrerer dieser Komplikationen ist häufig. In der neueren Literatur werden FCP und OCD auch unter dem Begriff Medial Compartment Disease (MCD) zusammengefasst. Gelegentlich werden im deutschsprachigen Raum auch weitere Entwicklungsstörungen wie die ausbleibende Fusion der drei ellenbogenseitigen Verknöcherungskerne des Oberarmknochens und die angeborene Ellbogenluxation oder Subluxation bei kleinen (sogenannten chondrodystrophen) Hunderassen in den Ellbogendysplasie-Komplex eingeordnet. Letztere begünstigen ebenfalls das Auftreten eines IPA oder FCP, werden aber von der International Elbow working Group nicht zum ED-Komplex gezählt. Fragmentierung des Processus coronoideus medialis ulnae (FCP) Als Ursache für die Ablösung des Processus coronoideus medialis (engl. fragmented coronoid process, FCP) werden verschiedene Mechanismen diskutiert: Wachstumsverzögerung der Speiche mit Verkürzung derselben (short-radius-syndrome), die zu einer verstärkten Belastung der Elle führt. Am Processus coronoideus medialis kommt es dadurch zur Knochenverdichtung (Sklerosierung), Deformation und schließlich zur Ablösung. Verfrühter Epiphysenfugenschluss des Radiuskopfes. Gestörte Feindurchblutung (Mikrovaskularisation) durch eine mechanisch induzierte Sklerose des Knochens im Bereich des Kronfortsatzes. Die Erkrankung tritt frühestens im Alter von fünf bis sieben Monaten auf. Unter Umständen wird sie aber vom Besitzer nicht sofort bemerkt, so dass auch Tiere erst im zweiten Lebensjahr dem Tierarzt vorgestellt werden. Klinisch äußert sich eine FCP als Lahmheit, die vor allem nach längerer Ruhe oder stärkerer Belastung auftritt. Der Ellenbogen wird zur Seite ausgestellt. Bei der klinischen Untersuchung zeigt sich eine Schmerzhaftigkeit bei starker Streckung oder Beugung des Gelenks. Im Röntgenbild sind vor allem die Verschattungen im Bereich der Elle, der Verlust der Knochenbälkchenzeichnung, eine undeutliche vordere Kontur im latero-lateralen Strahlengang (seitliche Projektion) und gegebenenfalls die Frakturlinie des Fortsatzes sichtbar. Ein vollständiger Abriss des Processus coronoideus ist jedoch selten. Aufgrund der mangelnden Kongruenz können sich eine Stufe zwischen Speiche und Elle und ein ungleichmäßig breiter Gelenkspalt darstellen. Diese Inkongruenz tritt bei 60 % der Patienten mit einem FCP auf und lässt sich mittels eines Quotienten darstellen. Hierzu werden die Länge der Incisura trochlearis sowie die Entfernung zwischen der Spitze des Processus anconaeus und der Spitze des Processus coronoideus lateralis ulnae gemessen und durch einander geteilt. Liegt der Quotient beider Werte über 1,15, gilt das Ellenbogengelenk als inkongruent. Die mit dem FCP verbundene Arthrose zeigt sich bei schwereren Formen in Lippenbildungen der angrenzenden Knochenkonturen. Knochenanbauten treten vor allem am innen liegenden (medialen) Rand der Elle und des Oberarmknochens auf. Eine sichere Diagnose eines FCP ist am Röntgenbild nur selten möglich. Eine Computertomografie und Arthroskopie kann die Diagnose FCP untermauern. Osteochondrosis dissecans humeri Eine Osteochondrosis dissecans (OCD) kommt im Bereich des Ellenbogengelenks fast ausschließlich am innen liegenden Rollhöcker des Oberarmknochens (Condylus medialis humeri) vor. Sie entsteht zumeist im Alter von 5 Monaten und in der Regel beidseitig. Häufiger betroffene Rassen sind Labrador Retriever, Golden Retriever und Rottweiler. Häufig ist diese Form der Ellbogendysplasie mit einem fragmentierten Processus coronoideus verbunden. Allerdings wird meist eine „echte“ OCD mit den Knorpelerosionen (kissing lesions) bei einem FCP verwechselt, welche nicht das unter dem Gelenkknorpel gelegene (subchondrale) Knochengewebe betreffen, so dass Read ein gleichzeitiges Auftreten beider Läsionen anzweifelt. Die Diagnose lässt sich zumeist anhand eines Röntgenbildes, vor allem im anterior-posterioren Strahlengang (Projektion von vorn nach hinten) stellen. Der röntgenologische Nachweis gelingt jedoch nicht immer, so dass der sichere Ausschluss nur über eine Arthroskopie oder Computertomografie (CT) erfolgen kann. Isolierter Processus anconaeus (IPA) Ein selbstständiger (isolierter) Ellenbogenfortsatz der Elle ist eine erblich bedingte Störung der enchondralen Ossifikation und wurde 1956 erstmals beschrieben. Beim IPA unterbleibt die Fusion zwischen Elle und ihrem Processus anconaeus, der ein eigenes Ossifikationszentrum besitzt, welches normalerweise im Alter von 18 bis 24 Wochen mit der Elle verschmilzt. In diesem Alter besteht aufgrund einer verminderten Elastizität die Gefahr eines teilweisen oder vollständigen Abrisses durch ein Trauma oder das Ausbleiben des Fugenschlusses infolge hoher körperlicher Aktivität. Als weitere Ursache wird ein vermindertes Längenwachstum der Elle (sog. short-ulna-syndrome) diskutiert. Eine Überversorgung mit Calcium und Phosphor begünstigt das Auftreten eines IPA. Überdurchschnittlich betroffen sind Rottweiler und Deutscher Schäferhund. Bei Rüden ist die Erkrankung häufiger als bei Hündinnen. In etwa 60 % der Fälle tritt ein IPA einseitig auf. Die Diagnose wird anhand eines Röntgenbildes in Beugestellung des Gelenks gestellt, wobei zu beachten ist, dass der Processus anconeus erst mit etwa sechs Monaten mit der Elle verschmilzt. Die Frakturlinie ist in den meisten Fällen gut sichtbar, außerdem kommt es zu Sklerosierungen des betroffenen Bereiches und bei längerem Bestehen zu Knochenanbauten. Klassifizierung Nach der International Elbow working Group wird die ED je nach Ausmaß der Erkrankung in drei klinische Stadien eingeteilt. Hierbei wird lediglich der Schweregrad der Arthrose über das Ausmaß der Knochenzubildungen (Osteophyten) beurteilt. Das Auftreten spezifischer Läsionen (FCP, IPA, OCD) wird lediglich vermerkt, nicht jedoch für die Klassifizierung verwendet: Eine weitere Einteilung ist der ED-Score nach Lang. Hier wird anhand verschiedener radiologischer Merkmale eine Punkteklassifizierung erstellt, bei der sich Scores zwischen 0 (keine ED) und 21 (schwere ED) ergeben: Therapie Losgelöste Skelett- (FCP und IPA) bzw. Knorpelteile (OCD) sollten chirurgisch entfernt werden, da sie einen ständigen Reiz auf die Gelenkkapsel ausüben. Diese Entfernung kann über eine Gelenkeröffnung (Arthrotomie) oder minimal-invasiv mittels Arthroskopie durchgeführt werden und sollte möglichst früh erfolgen, also bevor sich eine Arthrose entwickelt. Ein IPA kann auch mittels Osteosynthese wieder fixiert werden. Anschließend sollte das Tier zwei bis vier Wochen möglichst gar nicht bewegt werden (Leinenzwang, Boxenruhe) und ihm anschließend für die gleiche Zeit nur wenig Bewegungsspielraum eingeräumt werden. Besteht zusätzlich eine Inkongruenz im Gelenk, ist die chirurgische Entfernung der losgelösten Fragmente allein nicht ausreichend. Hier wird zumeist ein chirurgisches Durchtrennen (Osteotomie) der Elle durchgeführt. Mittlerweile sind hierfür eine ganze Reihe von Operationstechniken (Distale dynamische Ulnaostektomie, Proximale dynamische Ulnaostektomie, Bi-oblique proximale dynamische Ulnaostektomie, Proximal abducting ulnar ostectomy, Sliding humeral osteotomy) entwickelt worden, bis hin zum Einsetzen eines Implantats (Canine unicompartemental elbow). Alle operativen Maßnahmen verhindern jedoch häufig nicht das Fortschreiten der Arthrose. Eine Nutzung als Begleithund ist zwar möglich, von stärkerer Arbeit wie bei Gebrauchshunden wird aber abgeraten. Bei schweren Ellbogendysplasien kann eine Endoprothese angezeigt sein. Bei sehr starken Veränderungen müssen eine Endoprothese oder eine Versteifung des Ellbogengelenks in Erwägung gezogen werden. Unterstützend ist eine schmerz- und entzündungshemmende Therapie sinnvoll. Hier werden zumeist nichtsteroidale Antiphlogistika wie Carprofen eingesetzt. Eine 2006 veröffentlichte Studie zeigte eine gute Verträglichkeit einer zweimonatigen Therapie mit Carprofen bei Hunden und keine Hinweise auf eine Toxizität für Nieren oder Leber. Eine Gewichtsreduktion ist bei übergewichtigen Tieren unbedingt zu empfehlen. Die Wirksamkeit alternativmedizinischer Behandlungsformen (Akupunktur, Gold-Implantate, Homöopathie) ist bislang nicht durch randomisierte Kontrollstudien bewiesen worden. Eine aktuelle evidenzbasierte Studie konnte keine positive Wirkung einer Elektroakupunktur nachweisen. Eine tägliche Verabreichung von Gelatine als Granulat ins Futter soll eine Arthrose verhindern oder zumindest hinauszögern können. Vorbeugung und züchterische Maßnahmen Hunde mit einer ED sollten wegen der Vererbbarkeit von der Zucht ausgeschlossen werden. Zur weiteren Bekämpfung in der Zucht wird von einigen Verbänden eine Zuchtwertschätzung durchgeführt. Dazu werden Röntgenaufnahmen von anerkannten Gutachtern beurteilt. Prinzipiell sind beide Ellbogengelenke zu röntgen und die Tiere müssen zum Zeitpunkt der Untersuchung ein Alter von mindestens zwölf Monaten haben. Zur Befundung sind jeweils eine seitliche Aufnahme (mediolateraler Strahlengang) in 40–90° Beugehaltung sowie eine kraniokaudale in 15° Supination notwendig. Besser ist es, zwei mediolaterale Aufnahmen mit Beugewinkeln von 30 und von 100–120° zu erstellen, weil sich so ein IPA sicherer nachweisen lässt. Literatur und Quellen Weblinks International Elbow working Group Rassestatistik der Orthopedic Foundation for Animals Informationen der UCD (englisch) Erbkrankheit des Hundes
1716661
https://de.wikipedia.org/wiki/Hungerplan
Hungerplan
Als Hungerplan oder Backe-Plan (nach dem Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Herbert Backe) wird eine 1941 entwickelte nationalsozialistische Strategie im Rahmen der Kriegsführung gegen die Sowjetunion bezeichnet. Danach sollten die in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten produzierten Lebensmittel an die deutschen Besatzungstruppen sowie ins Deutsche Reich geliefert werden. Dabei wurde bewusst einkalkuliert, dass infolge des Entzugs von Nahrungsmitteln bis zu dreißig Millionen Menschen in der Sowjetunion verhungern. Dieser Plan wurde von den für die Kriegswirtschaft maßgeblichen Teilen der nationalsozialistischen Führung des Deutschen Reiches ausgearbeitet und verantwortet. Es ist in der Forschung nicht endgültig geklärt, ob es sich bei dem in Hermann Görings Vierjahresplanbehörde entwickelten Hungerplan um eine detaillierte Planung der offiziellen Politik des NS-Regimes, um seine allgemeine ideologische und politische Haltung oder eher um die Kalkulation der Folgen einer Versorgung der Wehrmacht mit den Nahrungsmitteln „aus dem Lande“ handelte. Die meisten Historiker sehen im Hungerplan eine todbringende Kombination aus Rassismus und Kriegsökonomie. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in Form einer gewünschten Dezimierung der slawischen Bevölkerung verband sich demnach mit einer in Kauf genommenen und von den Akteuren gerechtfertigten Konsequenz selbst erzeugter Sachzwänge der rücksichtslosen Kriegswirtschaft zum Wohle der Wehrmacht sowie des Deutschen Reiches. Planungen von Lebensmittelversorgung und Hunger Im Ersten Weltkrieg hatte Deutschland erhebliche Probleme mit der Nahrungsmittelversorgung. Im Zweiten Weltkrieg stand man vor einer ähnlichen Situation. Trotz der aufwendigen „Erzeugungsschlachten“ der deutschen Landwirtschaft genügte die Agrarproduktion des Reiches nicht zur Selbstversorgung (vergleiche Agrarwirtschaft und Agrarpolitik im Deutschen Reich (1933–1945)). Am 14. Februar 1940 erklärte Herbert Backe, Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, es drohe der . Backe, der die Geschäftsgruppe Ernährung im Vierjahresplan leitete, war der Meinung, dass das deutsche Ernährungsproblem mit dem bevorstehenden Angriff auf die Sowjetunion gelöst werden könne. Da aber Berechnungen der Landwirtschaftsführung zeigten, dass größere Überschüsse in der Sowjetunion nicht vorhanden waren, wurde eine Strategie für die Behandlung der sowjetischen Bevölkerung entworfen, um ein Höchstmaß an Nahrungsmitteln aus dem Land zu pressen und gleichzeitig den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg im Osten voranzutreiben. Durch Abtrennen der Zuschussgebiete, insbesondere der großen Industriegebiete, von ihrer Ernährungsbasis sollten alleine an Getreide „Überschüsse“ in Höhe von 8,7 Millionen Tonnen für den deutschen Verbrauch erzielt werden. Nach Einschätzung des Historikers Christian Gerlach war die nationalsozialistische Wirtschaftsführung im Osten ein Instrument der Massenvernichtung. Protokoll der Staatssekretäre-Besprechung, 2. Mai 1941 Als Beweise für die Existenz einer solchen Strategie gibt es eine Reihe von Dokumenten, die aus den Planungsstäben der Staats- und Parteiinstanzen stammen, und Reden auf Ministerebene. Sieben Wochen vor dem deutschen Überfall auf die UdSSR am 22. Juni 1941 hieß es in einer Aktennotiz über eine Besprechung von mehreren Staatssekretären und führenden Offizieren der Wehrmacht am 2. Mai 1941 zu den kriegswirtschaftlichen Konsequenzen des geplanten Unternehmens Barbarossa: Die Bedeutung dieser Besprechung der Staatssekretäre und insbesondere Backes spiegelt sich in Tagebucheinträgen von Propagandaminister Joseph Goebbels wider. So notierte Goebbels einen Tag vor der Besprechung: Wenige Tage nach der Besprechung sah Goebbels die Probleme als gelöst an: Christian Gerlach wies in seiner 1999 zur deutschen Besatzungspolitik in Weißrussland erschienenen Studie darauf hin, dass dieses Dokument sei. 2006 wurde der Hintergrund der Besprechung vom britischen Historiker Alex J. Kay näher untersucht und in den Kontext der wirtschaftlichen Planung für die deutsche Besatzungspolitik eingeordnet. Da keine Teilnehmerliste für die Besprechung gefunden wurde, kommt Kay nach dem Abgleich verschiedener Quellen, darunter Tagebücher, Terminkalender und die Zustellung des Protokolls zu dem Schluss, dass Wirtschaftspolitische Richtlinien, Gruppe Landwirtschaft, 23. Mai 1941 Die „Wirtschaftspolitischen Richtlinien für Wirtschaftsorganisation Ost, Gruppe Landwirtschaft“ vom 23. Mai 1941 bilden die schriftliche Fassung der Schlussfolgerungen, zu denen drei Wochen vorher die Staatssekretärsbesprechung gekommen war. Sie zeigen schon in den einleitenden Sätzen die Sichtweise der Planer, dass die Getreideüberschüsse der Sowjetunion deswegen stark zurückgegangen seien, weil die Sowjetunion im Vergleich zur Zeit des Russischen Kaiserreiches heute dreißig Millionen Menschen mehr, vor allem in den Großstädten, zu ernähren habe. In den Richtlinien heißt es: Während diese wirtschaftspolitischen Richtlinien nur als internes Papier und in den Führungsstellen des Wirtschaftsstabes Ost kursierten, teilte Backe den Landwirtschaftsbeauftragten vor Ort deren wichtigste Inhalte in seiner „Kreislandwirtschaftsführer-Mappe“ vom 1. Juni 1941 mit. Diese in der Literatur als „Gelbe Mappe“ bezeichnete Broschüre enthielt in komprimierter Form die wichtigsten Inhalte der Richtlinien vom 23. Mai 1941 und wurde an die über 10.000 Landwirtschaftsführer verteilt. Backe fügte dieser Mappe von ihm selbst unterschriebene 12 Gebote für Landwirtschaftsführer bei. Darin führte Görings Ernährungsbeauftragter aus, es sei das Ziel, „die Bevölkerung […] zu unserem Werkzeug zu machen“, wobei die zentrale Frage jeder Entscheidung lautete: „Was nützt es Deutschland?“ Damit keine falschen Skrupel bei der Beantwortung dieser Frage störten, führte er im 11. Gebot aus: „Armut, Hunger und Genügsamkeit erträgt der russische Mensch schon seit Jahrhunderten. Sein Magen ist dehnbar, daher kein falsches Mitleid.“ Die Ukraine und der Kaukasus bildeten die Hauptüberschuss- und Nord- sowie Zentralrussland die Hauptzuschussgebiete. Am 20. Juni 1941, zwei Tage vor dem Überfall auf die Sowjetunion, erklärte der designierte Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, Reichsleiter Alfred Rosenberg, in einer „große[n], weit ausgreifende[n] Rede“ vor Vertretern der Wehrmacht, des Staates und der Partei: Görings Richtlinien für die Führung der Wirtschaft („Grüne Mappe“), Juni 1941 Die wirtschaftspolitischen Richtlinien fanden auch Eingang in die Richtlinien für die Führung der Wirtschaft in den neubesetzten Ostgebieten, die „Grüne Mappe“, die am 16. Juni 1941 – unmittelbar vor dem Überfall – als offizielles Handbuch für die künftige Wirtschaftsverwaltung in der besetzten Sowjetunion von Hermann Göring herausgegeben wurde. Die erste Auflage der „Grünen Mappe“ betrug 1000 Ausfertigungen, die zweite einen Monat später 2000. Im Hinblick auf die Größe der Verteilerliste war die Ausdrucksweise, die in der „Grünen Mappe“ verwendet wurde, notgedrungen vorsichtiger als bei den Wirtschaftspolitischen Richtlinien. Trotzdem stimmt der Inhalt der beiden Dokumente weitgehend überein. Sie enthielten „neben den organisatorischen Regelungen eine genaue Ausführung der Prinzipien, die von den Staatssekretären am 2. Mai 1941 festgelegt worden waren“. Die Bestimmungen der „Grünen Mappe“ sahen sowohl die weitgehende Entindustrialisierung der besetzten sowjetischen Gebiete als auch die Umlenkung deren Nahrungsmittel vor – weg von der Versorgung der sowjetischen Städte, hin zum Bedarf von Wehrmacht und deutscher Bevölkerung. Seitens der Wehrmachtführung war der Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes General Georg Thomas im Auftrag Görings für die Planungen zuständig. Zu den Konsequenzen der von ihm verantworteten wirtschaftlichen Ausbeutung in den besetzten sowjetischen Gebieten äußerte sich Göring gegenüber dem italienischen Außenminister Graf Galeazzo Ciano im November 1941: Die Ankläger in den Nürnberger Prozessen hielten Hermann Göring als Verantwortlichem für die wirtschaftlichen Pläne in den besetzten sowjetischen Gebieten das Protokoll der Staatssekretäre-Besprechung vom 2. Mai 1941 und die von ihm herausgegeben „Grüne Mappe“ vom Juni 1941 vor. Er wurde laut Urteilstext unter anderem explizit wegen seiner wirtschaftspolitischen Richtlinien sowohl zur als auch zur zum Tode verurteilt. Mehrere Indizien sprechen dafür, dass durch den Hungerplan der Tod von 30 Millionen vorgesehen war. Wie aus den wirtschaftspolitischen Richtlinien hervorgeht, hatte das Vorgehen in den Ernährungsfragen , also Hitler, Göring und des Reichsführers SS und Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums Heinrich Himmler, erfahren. Es steht fest, dass durch die wirtschaftliche Ausbeutung der sowjetischen Gebiete Millionen Menschen die Nahrungsmittelgrundlage entzogen wurde und deswegen sehr viele Zivilisten verhungerten. Da die Zahl der Deutschland zur Verfügung stehenden Truppen zu klein war, es im Osten entgegen den deutschen Erwartungen keinen schnellen Sieg gab und die militärische Lage für Deutschland dadurch immer ungünstiger wurde, konnten die Planungen der NS-Bürokratie jedoch nicht vollständig umgesetzt werden, argumentierte 2006 der Historiker Alex J. Kay: Es habe sich bald nach dem Überfall herausgestellt, dass es nicht möglich sein würde, ganze Gebiete abzuriegeln und Millionen von Menschen auf diese Weise dem Hungertod preiszugeben. Der Hungerplan wäre deshalb in der Praxis nicht so durchzuführen gewesen, wie er konzipiert worden war. Auswirkungen der Hungerplanungen In ihrem Abschlussbericht „Kriegswirtschaft im Operationsgebiet des Ostens in den Jahren 1941–1943“ berechneten die Planer des Wirtschaftsstabes Ost, dass die Getreideproduktion in den besetzten Gebieten von 23,2 Millionen Tonnen vor dem Krieg auf 11,7 Millionen Tonnen im Kriegsjahr 1942 zurückging. Aus diesem schon halbierten Getreideaufkommen wurden dann weitere Millionen Tonnen Nahrungsmittel für die Wehrmacht und deutsche Bevölkerung gepresst. Das Statistische Reichsamt hielt fest, dass die deutsche Besatzungsmacht bis zum Sommer 1943 aus den eroberten Teilen der Sowjetunion folgende Mengen an Nahrungsmitteln herausholte: 4.372.339 Tonnen Getreide, 495.643 Tonnen Fleisch, 723.450 Tonnen Speiseöle und Fette sowie 1.895.775 Tonnen Kartoffeln. Dazu kamen nach Auffassung der zeitgenössischen Statistiker noch in geringerem Umfang „die unmittelbar von der Truppe gewonnenen oder erbeuteten Erzeugnisse“ sowie „die Versorgung der im Osten eingesetzten deutschen Reichsangehörigen“ u. a. „Beamte, Gefolgschaftsmitglieder der Ostfirmen.“ Götz Aly gelangt auf dieser Datenbasis an geraubten Lebensmitteln rechnerisch zu einem Nährwert von insgesamt 106.268.262 Getreideeinheiten. Da ein Mensch zum Überleben 2,5 Getreideeinheiten pro Jahr braucht, wäre also rein arithmetisch 21,2 Millionen Menschen die Ernährungsgrundlage entzogen worden, was in der Realität des Krieges eine Hungerkatastrophe für viele Millionen Menschen bedeutete. Nach jüngeren Angaben sind im Deutsch-Sowjetischen Krieg 17 Millionen sowjetische Zivilisten umgekommen, davon etwa sieben Millionen Menschen vor allem durch Hunger und unerträgliche Lebensumstände. Insgesamt hat „die Hälfte aller sowjetischen Zivilisten unter deutscher Besatzung gehungert“, so Christian Hartmann, Historiker am Institut für Zeitgeschichte. Am schlimmsten seien die Menschen bei Leningrad, im Donezbecken, der Nordostukraine, der Krim und in den Städten generell betroffen gewesen. Bis Ende 1942 verhungerten allein in der Stadt Charkiw 14.000 Menschen. Bis zum Ende der deutschen Besatzung starben mindestens 30.000 Bewohner dieser ukrainischen Stadt den Hungertod. Wegen des früh fehlgeschlagenen Blitzkriegs musste die territoriale Abriegelungspolitik zwischen sogenannten Überschuss- und Zuschussgebieten modifiziert werden und ging in eine selektive und mörderische Hungerpolitik vor allem gegenüber der jüdischen Bevölkerung und den sowjetischen Kriegsgefangenen über. Statt der einkalkulierten 30 Millionen Hungertoten wurden zwischen vier und sieben Millionen Menschen mittels Hunger zu Tode gebracht. Gemildert wurden die Folgen des Nahrungsmittelentzugs auch dadurch, dass die Vereinigten Staaten von Amerika große Mengen Lebensmittel lieferten, die ausreichten, „jeden sowjetischen Soldaten während des gesamten Krieges täglich mit schätzungsweise einem halben Pfund Nahrungskonzentrat zu versorgen“. Der Osteuropa-Historiker Timothy Snyder schätzt die Zahl der sowjetischen Bürger, die die deutschen Besatzer zwischen 1941 und 1944 in den von ihnen besetzten Gebieten der Sowjetunion bewusst verhungern ließen, auf 4,2 Millionen. Neben den Einwohnern abgeriegelter Großstädte, vor allem Leningrad mit ca. einer Million Hungertoten, wurden in erster Linie Menschen, die aufgrund der rassischen Wertigkeit gemäß der NS-Ideologie oder kriegswirtschaftlicher Nützlichkeitserwägungen am unteren Ende der Ernährungshierarchie standen, Opfer der Hungerplanungen: Sowjetische Kriegsgefangene, Juden, Behinderte und Psychiatriepatienten. Von den 5,7 Millionen Rotarmisten in deutscher Kriegsgefangenschaft starben rund 3,1 Millionen; 2,6 Millionen von ihnen verhungerten und starben während der Märsche. Diese Menschen, so Timothy Snyder, wurden „gezielt umgebracht, oder es lag die bewusste Absicht vor, sie den Hungertod sterben zu lassen. Wäre der Holocaust nicht gewesen, man würde dies als das schlimmste Kriegsverbrechen der Neuzeit erinnern.“ Die Auswirkungen der Hungerpolitik über die Besatzungszeit hinaus bis Kriegsende und die ersten zwei Jahre danach waren verheerend. So fiel die Getreideernte in den ehemals deutsch besetzten Gebieten der UdSSR im Jahr 1945 um knapp die Hälfte geringer aus als 1940, ein Jahr vor dem deutschen Überfall. Als dann noch auf dem Hintergrund dieser Verheerungen und extremen Mangelsituation 1946 eine Missernte in Folge außerordentlicher Dürre hinzukam, hungerten zig Millionen Menschen und starben weitere zwei Millionen an Hunger. Erst nach 1947 stabilisierte sich die Lebensmittelversorgung auf niedrigem Niveau. Hungerplan oder Hungerpolitik – historische Verortung Der brasilianische Experte für Welternährungsprobleme Josué de Castro, schrieb schon 1952, als er Vorsitzender des Exekutivrates der UN-Welternährungsorganisation FAO war, „das Dritte Reich [führte] eine Ernährungsdiskriminierung ein […] Der vom Dritten Reich organisierte Hungerplan hatte eine wissenschaftliche Grundlage und ein klares Ziel. Er sollte eine mächtige Kriegswaffe sein, die möglichst umfassend und wirksam eingesetzt werden sollte.“ Von geschichtswissenschaftlicher Seite verwendete zuerst der amerikanische Historiker Alexander Dallin sinngemäß den Hungerplan-Begriff. In seiner mit dem Wolfson Prize for History ausgezeichneten Besatzungsstudie German Rule in Russia definierte er 1957 den geplanten Raub von Lebensmitteln aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion als „Geopolitik des Hungers“ und bezeichnete diese Politik mit den wirtschaftspolitischen Richtlinien vom 23. Mai 1941 als „Plan, auf den sich Wirtschaftsstäbe und Rosenberg-Ministerium einigten“. Adam Tooze, britischer Historiker und Spezialist zur Wirtschaftsgeschichte im Nationalsozialismus, verwendet den Terminus Hungerplan und definiert ihn als In ihrem gemeinsamen Buch Vordenker der Vernichtung, das im Jahre 1991 erschien, ist bei Götz Aly und Susanne Heim, wie bei Gerlach, auch von einem Plan die Rede. In Hitlers Volksstaat bevorzugt Aly den Begriff „Hungerpolitik“. Dieser Begriff wird auch von Alex J. Kay verwendet. Rolf-Dieter Müller nutzt diese Bezeichnung, um den aktuellen Forschungsstand zu charakterisieren: Der Osteuropa-Historiker Hans-Heinrich Nolte bilanziert auf derselben begrifflichen Basis 2009: Der Osteuropa-Historiker Jörg Ganzenmüller verortet die Leningrader Blockade 1941 bis 1944, bei der ungefähr eine Million Menschen umgekommen sind, „im Konzept der deutschen Hungerpolitik“, die „zum Genozid an den Leningradern in einem engen Zusammenhang stand“. Dieses Konzept sah, so Ganzenmüller, die weitgehende Entindustrialisierung und Zerstörung der sowjetischen Großstädte vor. In diesem Zusammenhang stehe die vom Generalstabschef Franz Halder am 8. Juli 1941 in seinem Tagebuch notierte Äußerung Adolf Hitlers: Nach Dieter Pohls Studie über die Herrschaft der Wehrmacht sah man die Einwohner der Sowjetunion „als Menschen zweiter Klasse“ an. „Entscheidend an Backes Hungerplan [war] die Kalkulation, dass ein erheblicher Teil der sowjetischen Bevölkerung verhungern würde bzw. nach Osten fliehen müsste […] Dass diese gigantischen Verbrechenspläne mit der Wehrmacht ernsthaft diskutiert wurden, zeigt das völkerrechtliche Niveau der deutschen Kriegsplanung vom Frühjahr 1941“. Dem kanadischen Holocaustforscher Robert Gellately zufolge nahm mit dem „Hungerplan“, der „Hitlers Segen“ erhalten habe, „ein Plan Gestalt an, der die größte absichtlich herbeigeführte Hungersnot in der Geschichte der Menschheit vorsah“. Für den Yale-Historiker Timothy Snyder ist der „Hungerplan“ eines der vier größten Verbrechensprojekte der NS-Führung, die diese ab Sommer 1941 in utopischen Ausmaßen in die Tat umzusetzen gedachte: Positionen der Forschung Inwieweit es sich bei den Planungen um einen dezidierten Hungerplan handelte, der auf allen Ebenen zu verwirklichen gewesen sei, ist in der Forschung nicht endgültig geklärt. Die meisten Historiker gehen von einer Verbindung nationalsozialistischer Vernichtungspolitik in Form einer gewünschten Dezimierung der slawischen Bevölkerung mit den Bedürfnissen der deutschen Kriegswirtschaft und deren selbst geschaffenen Sachzwänge aus. Die prognostizierten Millionen Hungertoten der sowjetischen Bevölkerung wurden darin als scheinbar unvermeidliche Konsequenz dieser kriegswirtschaftlichen Vorgaben in Kauf genommen und gerechtfertigt: Der Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller bezweifelt aber, dass man Müller ist der Ansicht, dass die Wehrmacht als Institution über die Ernährungsfrage tief in den Massenmord und Holocaust verstrickt ist. Dabei habe es sich nicht nur um den Willen gehandelt, die eigenen Bedürfnisse beim Ausbeuten des Ostens an erste Stelle zu setzen. Der amerikanische Holocaustforscher Christopher Browning und sein deutscher Kollege Jürgen Matthäus, Leiter der Forschungsabteilung am United States Holocaust Memorial Museum, sehen keinen Widerspruch, sondern einen Zusammenhang von ideologisch motivierten Vernichtungsabsichten zur Dezimierung der slawischen Bevölkerung und kriegswirtschaftlichen Zielsetzungen, den sie anhand des Protokolls der Staatssekretäre-Besprechung vom 2. Mai 1941 erläutern: Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hob 2009 hervor, dass selbst 2004 hatte Klaus Jochen Arnold zur Rolle der Wehrmacht bei der Besatzungspolitik im „Unternehmen Barbarossa“ die Auffassung vertreten, dass von einer gezielten Massenvernichtung durch wirtschaftliche Ausbeutung, also einem Hungerplan, nicht die Rede sein könne. Einen vor Kriegsbeginn „befehlsmäßig und allgemein festgelegten ‚Hungerplan’ hat es nicht gegeben“, so Arnold, „wohl aber Absichten Hitlers und Herbert Backes, Millionen verhungern zu lassen“, die konkret eingetretene Hungersituation sei aber primär Folge einer wechselseitig sich radikalisierenden Kriegführung gewesen. Der Historiker Gert C. Lübbers kritisierte 2010, der Hungerplan sei kein wesentlicher Teil der Kriegführung gewesen, sondern sollte erst nach deren erfolgreichem Abschluss, in erster Linie in der Nachkriegszeit, realisiert werden, ähnlich dem Generalplan Ost. Die Bedeutung der Besprechung der Staatssekretäre vom 2. Mai 1941, so Lübbers und Arnold, werde überschätzt. Ihr Protokoll gebe Aussagen einer Arbeitssitzung wieder, keine Beschlüsse. Zudem habe der designierte Ostminister Rosenberg nicht an dem Treffen teilgenommen. 2012 kritisierten die Herausgeber eines Dokumentenbandes zur Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener in deutschem Gewahrsam, die von Christian Gerlach und anderen vorgelegten Quellen belegten keinen Hungerplan zur Ermordung gefangengenommener Rotarmisten. Vielmehr zeige die Quellenlage, „dass ihre Verpflegung bewusst drastisch eingeschränkt wurde“ und deute bezüglich des Massensterbens auf dessen „billigende Inkaufnahme, in konkreten Entscheidungsfällen auch bewusste Kalkulationen hin, die sich mit kontextuellen Faktoren verbanden“, worunter die Autoren vor allem den gescheiterten Blitzkrieg verstehen. In seiner Geschichte der Wirtschaft des Nationalsozialismus ordnete Adam Tooze das Protokoll der Staatssekretäre-Besprechung vom 2. Mai 1941 als ein – insbesondere die Formulierung, , stehe für eine Sprache, die Alex J. Kay teilte die Ansichten Gerlachs bezüglich der Zustimmung innerhalb der NS- und Militärführung und der hohen Bedeutung des Vorgehens für die deutsche Politik in der Sowjetunion durchaus. Dennoch kam er zu dem Schluss, dass die Planung zu wenig durchdacht war, um als im Detail operationalisierbarer Plan bezeichnet werden zu können. Kay erkannte ein Hungerkonzept mit vorhandener Grob-, aber unzureichender Detailplanung. Es gab unter den Wirtschaftsplanern keine klare Vorstellung, genau wo und vor allem wie diese Strategie der Abriegelung zu implementieren war. Christopher Browning und Jürgen Matthäus beziehen sich in ihrem Standardwerk The Origins of the Final Solution in dem betreffenden Kapitel „Economic and demographic preparations for ‚Operation Barbarossa’“ hauptsächlich auf Christian Gerlachs Forschungen, deren Ergebnisse sie sich weitgehend zu eigen machen. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass im Rahmen einer Gesamtbetrachtung die Planungen den Vorstellungen der NS-Führung entsprachen. Sie kritisieren aber in einer Fußnote speziell zu Gerlachs Darstellung der „Wirtschaftspolitischen Richtlinien vom 23. Mai“ 1941, dass er bei seiner ansonsten „ausgezeichneten Fallstudie über Weißrussland“ bei diesem Dokument übersehe, „wie vage der Bezug auf ‚höchste Stellen‘ ist“ und dass Gerlach zu einer Überbewertung der „Folgen der Vorkriegspläne für die Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung“ neige. Für Timothy Snyder ist ganz klar, dass Hitler selbst voll und ganz hinter den Richtlinien vom 23. Mai 1941 stand. Im Unterschied zu der von Josef Stalin durch Zwangskollektivierungen und Entkulakisierung verursachten Hungersnot in der Ukraine (Holodomor), die „zuerst als ungewolltes Resultat von Ineffizienz und überhöhten Getreideabgabequoten, dann als gewollte Folge rachsüchtiger Requirierungen Ende 1932 und Anfang 1933“ herbeigeführt wurde, galt für den deutschen Hungerplan 1941: „Hitler dagegen plante im Voraus den Hungertod der unerwünschten sowjetischen Bevölkerung“. Der Hungerplan 1941 sei offizielle deutsche Politik gewesen; er „sah die Wiederherstellung einer vorindustriellen Sowjetunion mit weit weniger Bewohnern, wenig Industrie und ohne Großstädte vor“. Johannes Hürter schließlich kam zu dem Ergebnis, man müsse von einem Hungerkalkül sprechen, denn Der Hunger sei, mit Ausnahme der Blockade Leningrads, nicht als Waffe oder Mittel zum Ziel der Ausnutzung des besetzten Landes eingesetzt worden, sondern wurde als . Gewiss würden durch solche Ergebnisse die Folgen dieser , die verbrecherischen Konsequenzen dieser Politik, in der sich militärstrategisches und wirtschaftliches Kalkül mit der nationalsozialistischen Rassen- und Lebensraumideologie verband, nicht relativiert. Christian Hartmann, Kollege Hürters am Institut für Zeitgeschichte, interpretiert den „stupenden Gleichmut“, mit dem die Planer schon vor Feldzugsbeginn den Hungertod von „zig Millionen Menschen […] in ihr Kalkül gezogen“ haben, als Verbindung „wirtschaftlicher mit genozidalen Planungen“. Die Militärhistoriker Michael Epkenhans und John Zimmermann resümieren 2019, dass der „Hungertod von Millionen sowjetischer Zivilisten bereits vor dem Überfall einkalkuliert war“ und im Verlauf des Krieges „schätzungsweise sieben Millionen sowjetische Zivilisten den katastrophalen Lebensumständen, vor allem aber dem Hunger zum Opfer fielen“. – „Erst allmählich setzte sich“, so Epkenhans und Zimmermann, „die zutreffende Einordnung durch, dass der Hungerpolitik eine Schlüsselrolle im Vernichtungskrieg zugedacht war“. Ulrich Schlie verwendet 2020 in der vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2016 an eine aus sechs Mitgliedern bestehende Historikerkommission in Auftrag gegebenen Studie zur Agrarpolitik im 20. Jahrhundert sowohl die Begriffe „Hungerplan“ als auch „Hungerkalkül“. Als wichtiges kriegsstrategisches Ziel der deutschen Besatzungspolitik konstatiert er die Versorgung mit Rohstoffen und Nahrungsmittellieferungen zur Abwendung einer heimischen Ernährungskrise. Schlie kommt zu einem Schluss, der auch die moralische Dimension betont: „Das kriegswirtschaftliche Kalkül des Hungerplans, das sich mit dem Entschluss und der Bekanntgabe des ideologischen Vorhabens der Ermordung der europäischen Juden nahezu gleichzeitig verbindet – beide Vorhaben sind wesentlich an die Vorbereitung bzw. Realisierung des deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 gebunden -, erhält vor dem Hintergrund des dadurch verschuldeten millionenfachen Leidens eine moralische Dimension, die geeignet ist, fundamental und dauerhaft über die deutsche Politik im Zweiten Weltkrieg zu urteilen.“ Literatur Götz Aly, Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung. Hoffmann und Campe, Hamburg 1990, ISBN 3-455-08366-8. Wigbert Benz: Kalkül und Ideologie – Das Hungervorhaben im „Unternehmen Barbarossa“ 1941. In: Klaus Kremb (Hrsg.): Weltordnungskonzepte. Hoffnungen und Enttäuschungen des 20. Jahrhunderts. Wochenschau, Schwalbach am Taunus 2010, ISBN 978-3-89974-543-6, S. 19–37 (Textauszug). Wigbert Benz: Der Hungerplan im „Unternehmen Barbarossa“ 1941. wvb, Berlin 2011, ISBN 978-3-86573-613-0. Alexander Dallin: Deutsche Herrschaft in Rußland 1941–1945. Eine Studie über Besatzungspolitik. Königstein 1981 (unveränderter Nachdruck der 1958 im Droste Verlag erschienenen Ausgabe. Titel der amerikanischen Originalausgabe German Rule in Russia 1941–1945. A Study of Occupation Policies. New York 1957), ISBN 3-7610-7242-2. Christoph Dieckmann, Babette Quinkert (Hg.): Kriegführung und Hunger 1939–1945, Wallstein, Göttingen 2015 ISBN 978-3-8353-1492-4 Jörg Ganzenmüller: Das belagerte Leningrad 1941 bis 1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern (= Krieg in der Geschichte. Bd. 22. Hrsg. von Stig Förster, Bernhard R. Kroener, Bernd Wegner mit Unterstützung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes Potsdam), 2. Auflage 2007, ISBN 978-3-506-72889-0. Christian Gerlach: Krieg, Ernährung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg. Hamburger Edition, Hamburg 1998, ISBN 3-930908-39-5. Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944. Hamburger Edition, Hamburg 1999, ISBN 3-930908-54-9. Christian Hartmann: Unternehmen Barbarossa. Der deutsche Krieg im Osten 1941–1945. C.H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-61226-8. Johannes Hürter: Hitlers Heerführer: Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42. Oldenbourg, München 2006, ISBN 3-486-57982-7 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Band 66). Alex J. Kay: Exploitation, Resettlement, Mass Murder. Political and Economic Planning for German Occupation Policy in the Soviet Union, 1940–1941. Berghahn Books, New York/Oxford 2006, ISBN 1-84545-186-4 (= Studies on War and Genocide 10). Alex J. Kay: Verhungernlassen als Massenmordstrategie. Das Treffen der deutschen Staatssekretäre am 2. Mai 1941. In: Zeitschrift für Weltgeschichte 11, 2010, Heft 1, S. 81–105 (übersetzte und überarbeitete Fassung von: Alex J. Kay: Germany’s Staatssekretäre, Mass Starvation and the Meeting of 2 May 1941. In: Journal of Contemporary History 41, 2006, Heft 4, S. 685–700). Gert C. Lübbers: Wehrmacht und Wirtschaftsplanung für das Unternehmen „Barbarossa“. Deutsche Ausbeutungspolitik in den besetzten Gebieten der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges. Dissertation, Universität Münster 2010. . Rolf-Dieter Müller: Von der Wirtschaftsallianz zum kolonialen Ausbeutungskrieg. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Hrsg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Bd. 4. Der Angriff auf die Sowjetunion. Deutsche Verlags-Anstalt. Stuttgart 1983. ISBN 3-421-06098-3, S. 98–189. Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. C.H. Beck, München 2011, S. 11, S. 174–199 u. S. 419, ISBN 978-3-406-62184-0; englischsprachige Ausgabe: Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin. The Bodley Head, London 2010, ISBN 978-0-224-08141-2, S. xiv, 162–188 u. S. 411. Christian Streit: Keine Kameraden: Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945. Bonn 1997 (Neuausgabe). ISBN 978-3-8012-5023-2. Adam Tooze: Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus. Aus dem Englischen von Yvonne Badal. Siedler, München 2007, ISBN 978-3-88680-857-1 (Neuauflage Pantheon, München 2008, ISBN 3-570-55056-7). Weblinks Aktennotiz über Ergebnis der heutigen Besprechung mit den Staatssekretären über Barbarossa, 2. Mai 1941. Mit einer Einführung von Wigbert Benz. In: 1000dokumente.de. Christoph Gunkel: 70 Jahre „Unternehmen Barbarossa“. Massenmord in der Kornkammer. In: einestages, 10. Juni 2011. Anmerkungen Deutsche Besetzung Europas 1939–1945 Deutsch-Sowjetischer Krieg NS-Kriegsverbrechen Nationalsozialistische Agrarpolitik Hungersnot Rassismus im Nationalsozialismus Ernährungspolitik (Deutschland) Politik 1941
1727137
https://de.wikipedia.org/wiki/Felsenburg%20Neurathen
Felsenburg Neurathen
Die Felsenburg Neurathen ist die Ruine einer mittelalterlichen Felsenburg im Elbsandsteingebirge in Sachsen. Sie liegt auf dem Gebiet der Gemeinde Lohmen oberhalb des Elbtales in den Basteifelsen bei Rathen im Nationalpark Sächsische Schweiz. Neurathen ist die größte mittelalterliche Felsenburg der Sächsischen Schweiz. Die erstmals 1289 urkundlich erwähnte Burg befand sich im Besitz verschiedener böhmischer Adelsgeschlechter, bis sie zunächst 1426 und nach mehrfachen Kämpfen endgültig 1469 in den Besitz der sächsischen Kurfürsten überging. Da ihre Bauten wie bei den meisten Felsenburgen des Elbsandsteingebirges weitgehend aus Holz bestanden, sind nur die ausgehauenen Räume, Durchgänge, die Zisterne und die Balkenauflager der einstigen hölzernen Aufbauten erhalten. Seit 1906 wurde das Areal mehrfach archäologisch untersucht, im Rahmen der letzten Grabungen wurden in den Jahren 1982 bis 1984 Teile der weiträumigen Burganlage als Freilichtmuseum rekonstruiert. Lage und Geologie Die Burg Neurathen befindet sich auf einem an der breitesten Stelle etwa 100 m breiten Felsgrat, der sich am Nordufer der Elbe von der Bastei östlich in Richtung Rathen zieht und auch als Basteiriff bezeichnet wird. Zur Bastei hin sind die Elbsandsteinfelsen durch Schluchten unterbrochen, deren breiteste die von der Basteibrücke überspannte Mardertelle ist. Nördlich der nach fast allen Seiten steil mit 50 bis 60 m abfallenden Burgfelsen liegt der Wehlgrund. Lediglich nach Osten hin fällt der Hang etwas flacher nach Rathen hin ab. Geologisch sind die Burgfelsen wie auch das gesamte Elbsandsteingebirge aus flachmarinen Ablagerungen eines kreidezeitlichen Meeres entstanden, die im Turonium und Coniacium bis zu 400 m mächtige klastische Sedimente ablagerten. Die Rathener Burgfelsen gehören entsprechend der ursprünglichen petrographisch-morphologischen Gliederung von Friedrich Lamprecht zum großbankigen, zur Schrammstein-Formation gehörenden Horizont der „Sandsteinstufe d“, die die mit 50 bis 80 m mächtigste Sandsteinstufe im Elbsandsteingebirge darstellt. Die aus kieselig zementierten Quarzsandsteinen bestehenden Burgfelsen sind daher durch die für die Stufe d typischen hohen und steil abfallenden Wände geprägt, die kaum typische Verwitterungsformen des Sandsteins wie etwa Sanduhren oder Waben aufweisen. Die Felsköpfe wurden durch Wollsackverwitterung geformt, die Bauten der Burg und die seitherige Nutzung des Areals haben die ursprünglichen Formen aber teilweise erheblich beeinflusst. Geschichte Mittelalter Die Ursprünge der Felsenburg Neurathen, die an der Nordgrenze des Königreichs Böhmen errichtet wurde, liegen im Dunkeln, archäologische Funde im Bereich der Burg lassen aber eine Besiedlung bereits in der Bronzezeit vermuten. Historiker vermuten eine Entstehung im Zuge der Grenzsicherung der Mark Meißen gegen Böhmen unter Heinrich dem Erlauchten um 1245. In diesem Jahr erhielt Heinrich die Burg Wehlen übereignet, die wenige Kilometer flussabwärts liegt. Für eine teilweise vermutete Entstehung bereits im 11. Jahrhundert gibt es weder schriftliche noch archäologische Belege. Erstmals schriftlich erwähnt wurde die Burg indirekt am 29. November 1261 in einer Urkunde, wonach Papst Urban IV. den Propst von St. Thomas in Leipzig damit beauftragte, einen Streit zwischen dem Bischof von Meißen und verschiedenen böhmischen Lehnsleuten, darunter Teodoricus de Raten, über die Veruntreuung bischöflicher Güter zu schlichten. Aus der zweiten urkundlichen Nennung aus dem Jahr 1289 in einem Tauschvertrag zwischen dem böhmischen König Wenzel II. und Friedrich Clem, dem Herrn von Dresden, geht erstmals explizit hervor, dass in Rathen ein Castrum bestand. Zu jener Zeit war die Burganlage böhmisches Lehen, das sie bis 1426 blieb. Die Burg Neurathen bildete gemeinsam mit der tiefer gelegenen Burg Altrathen eine Doppelburg, die Bezeichnungen beider Teilburgen als Altrathen und Neurathen sind modernen Ursprungs. Die urkundlichen Nennungen lassen daher im Unklaren, auf welche der Burgen sie sich beziehen. Neurathen gilt entgegen der Namensgebung als die ältere Anlage. Der Name der Burg und auch des Ortes geht auf den altsorbischen Vornamen *Ratěn/*Ratan zurück, der eine Kurzform des Vornamens *Ratibor darstellt. Meiche deutet den Namen als Burg des Ratin oder Burg des Ratimer (des durch Krieg Berühmten). Ein Zusammenhang mit dem tschechischen Wort hrad (dt. ‚Burg‘) ist unwahrscheinlich. Einhundert Jahre nach der ersten Nennung, im Jahr 1361, wurden in einer Urkunde Kaiser Karls IV. mit ambo castra Ratny erstmals zwei Burgen genannt. Zu dieser Zeit gehörte Neurathen als freie Herrschaft den Herren von Michelsberg. Peter von Michelsberg unterwarf sich symbolisch dem Kaiser, indem er ihm die Tore der beiden Teilburgen öffnete. Zwei Jahre später gestattete Karl in seiner Funktion als böhmischer König den Michelsbergern die Gütergemeinschaft ihrer duobus castris rachny mit ihrer Besitzung Auscha. Dies sind die einzigen mittelalterlichen Urkunden, die explizit beide Burgen nennen. Alle anderen Quellen lassen offen, ob Alt- oder Neurathen oder beide Burgen gemeint sind. Für das Jahr 1388 wurde Rathen in der Rechnung über die Lieferung von Steinen durch einen Dresdner Brückenmeister erwähnt, ein Beleg für die frühe Verwendung des in der Umgebung gebrochenen Sandsteins. Rathen ging 1406 durch Kauf von den Michelsbergern an die Berken von der Duba über, Hinko Berka von der Duba der Ältere wurde der neue Eigentümer. Dieser teilte 1410 seine Besitzungen unter seinen fünf Söhnen auf. Benesch Berka von der Duba erhielt Rathen, übernahm den Besitz jedoch erst nach dem Tod des Vaters im Jahr 1419. Die Berken von der Duba, die vor allem von Burg Hohnstein aus intensiv den Ausbau der Felsenburgen und Burgwarten in der heutigen Sächsischen Schweiz vorangetrieben hatten, lagen in dieser Zeit in steter Fehde mit den meißnischen Markgrafen aus dem Hause Wettin. Diese dehnten nach dem Tod Kaiser Karls IV. unter dessen schwachem Sohn Wenzel IV. schrittweise ihre Landesherrschaft auf die Gebiete der verschiedenen böhmischen Adelsfamilien aus. Markgraf Wilhelm I. hatte 1402 in der Dohnaischen Fehde bereits Burg Dohna von den Burggrafen von Dohna erobert, 1408 fiel die Festung Königstein an Meißen. Friedrich von Oelsnitz, Vogt auf dem Königstein und Lehnsmann des 1423 zum Kurfürsten aufgestiegenen Friedrich I. von Sachsen, eroberte 1426 in dessen Auftrag die Burg. Er wurde 1428 als Burgherr bezeichnet; die Berken von der Duba waren gezwungen, dem Markgrafen und Kurfürsten im gleichen Jahr die Erbhuldigung zu leisten. Dennoch kam es in den Folgejahren erneut zum Streit. Albrecht Berka von der Duba, Besitzer der Herrschaft Wildenstein, eroberte 1438 Rathen zurück und brachte es wieder in den Besitz der Berken von der Duba. Bereits im Jahr darauf erkämpfte sich Friedrich von Oelsnitz 1439 den Besitz wieder zurück, wohl mit Unterstützung durch Kurfürst Friedrich II. von Sachsen. Ein Friedensvertrag, der die Entscheidung über den Besitz in die Hände des Kaisers legen sollte, wurde bald gebrochen. In den nachfolgenden Kämpfen fiel Benesch Berka von der Duba. Albrecht Berka und sein Unterstützer Jan von Wartenberg gerieten infolge der Eroberung der Burg Wildenstein in die Hände Friedrichs von Oelsnitz, der sie ins Rathener Burgverlies sperrte. Nach ihrer Freilassung setzten sich die Streitigkeiten fort und konnten erst mit einem am 10. März 1441 abgeschlossenen Sühnevertrag beigelegt werden. Rathen blieb in den Händen von Friedrich von Oelsnitz, die Berken mussten auf ihren Besitz verzichten. Im Vertrag von Eger fiel Rathen endgültig an die Wettiner, auch wenn es lehnsrechtlich bis zur Auflösung des Heiligen Römischen Reichs im Jahr 1806 unter böhmischer Oberlehnsherrschaft blieb. Spätestens ab 1450 diente Rathen auch als Zollstelle für die Elbschifffahrt. In diesem Jahr schickte die Stadt Dresden einen Boten nach Rathen, um einen zollfreien Transport von Steinen zu erreichen. In den Folgejahren wurde Rathen unter Friedrichs Sohn Hans von Oelsnitz, der 1466 als Besitzer erscheint, zur Raubritterburg, wie in der Chronik des Johannes Lindner überliefert ist. Kurfürst Ernst von Sachsen und sein Bruder, Herzog Albrecht, gingen ab 1467 gegen Hans von Oelsnitz vor und begannen mit der Belagerung der beiden Burgen. Erst nach über einem Jahr gelang den markgräflichen Truppen im Mai 1469, die Burgen in Brand zu setzen und zu erobern. Hans von Oelsnitz konnte fliehen. Seine Versuche, über Fürsprache durch König Matthias Corvinus die Burg zurückzuerhalten, blieben erfolglos. Der Kurfürst gestattete ihm aber, sich wieder in Sachsen anzusiedeln, zudem erhielt er eine finanzielle Entschädigung. Rathen wurde als verwirktes Lehen eingezogen und dem Amt Pirna zugeordnet. Die Burg fiel in der Leipziger Teilung 1485 dem Herzog Albrecht von Sachsen zu. Bereits 60 Jahre nach der Eroberung waren beide Burgen verfallen. Frühe Neuzeit Bereits 1530 soll Burg Neurathen eine Ruine gewesen sein. Noch 1593 sind allerdings auf der durch Matthias Oeder erstellten ersten sächsischen Landeskarte ein „Schloß Der neue Raden“ – die erste urkundliche Nennung des heutigen Namens – und ein Wächterhaus bei Rathen verzeichnet. Später dienten die Räumlichkeiten der verfallenen Burg als Zufluchtsort der Bevölkerung in Kriegszeiten. So sollen während des Dreißigjährigen Kriegs 1639 viele Pirnaer Bürger aus Furcht vor den Schweden in den Felsen der Burg Zuflucht gesucht haben. Auch zeugt eine 1706 während des Nordischen Kriegs angebrachte Felsinschrift von der Angst der Bevölkerung vor den Schweden: CHRISTOPF HASE – 1706 WAR TER SWETE IN LANTE ES KUSTETE VIL GELT. Ende des 18. Jahrhunderts waren noch einzelne Teile der Burg erhalten. Im Jahr 1755 existierten noch steinerne Pfeiler der früheren, an der Stelle der heutigen Basteibrücke befindlichen und als Zugang von Westen dienenden Brücke über die unterhalb der Bastei liegende Mardertelle. Diese etwa 50 m tiefe Schlucht liegt zwischen der Bastei und dem heute als Steinschleuder bezeichneten Felsturm, der ursprünglich Teil der Burgbefestigung war. Ebenso wies das talseitige Burgtor im Südosten noch eine Überwölbung auf. Von diesem Tor berichtete 1804 auch noch Wilhelm Leberecht Götzinger. 19. und 20. Jahrhundert Als erste touristische Erschließung der Bastei ließ der Forstadjunkt Auerswald 1814 eine Treppe mit 487 Stufen anlegen, die von Rathen zur Bastei an den Felswänden der Vogeltelle, einer nördlich der Bastei liegenden Schlucht, hinaufführte. Um 1821 entstanden unter Verwendung mittelalterlicher Steinpfeiler zwei einfache Holzbrücken zwischen dem Neurathener Felsentor, einem Felsturm, der im Mittelalter als Burgtor gedient hatte, und dem als Steinschleuder bezeichneten Felsturm, die auf einer 1823 von Ludwig Richter angefertigten Radierung zu erkennen sind. Im Jahr 1826 ging die Felsgruppe samt Anlage von dem Erbgericht zu Rathen in den Besitz des Königreichs Sachsen über. Im selben Jahr entstand eine Holzbrücke über die Mardertelle. Zusammen mit den beiden kleineren Brücken zwischen der Steinschleuder und dem Neurathener Felsentor ermöglichte sie erstmals seit der Zerstörung der Burg den Übergang von der Bastei zur Felsenburg. Bis dahin gab es nur einen Zugang von Rathen durch den steilen Waldhang unterhalb der Burg, etwa im Verlauf des heutigen Basteiwegs. Infolge bautechnischer Probleme wurde die Holzbrücke bereits 1851 durch die jetzige Brücke aus Stein ersetzt. Diese Brücke folgt damit dem ursprünglichen Zugang zur Burg, liegt allerdings etwas höher. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden einzelne Felsen im Burgbereich als Klettergipfel genutzt, als erster ab 1874 der Mönch. Bald folgten im Bereich der Basteibrücke die Steinschleuder und das Neurathener Felsentor. Hinzu kamen einzelne kleinere Felstürme unterhalb der Burgfelsen. An den Burgfelsen selbst war und ist entsprechend der Sächsischen Kletterregeln das Klettern untersagt. Der Arzt Herbert Beschorner untersuchte die Anlage 1906 erstmals archäologisch. Dabei wurde neben verschiedenen Balkenfalzen und ausgeschlägelten Felsräumen auch die bislang nur aus älteren Überlieferungen bekannte Zisterne entdeckt und freigelegt. In den Jahren 1932 bis 1934 führte Alfred Neugebauer in der Burganlage weitere archäologische Grabungen durch. Er entdeckte dabei den Wehrgang, der bis dahin unter dem im Laufe der Jahrhunderte auf den Felsköpfen angesammelten Humus verborgen war. Außerdem konnte er verschiedene Keramik- und Ziegelfunde bergen. Der Wehrgang wurde 1934 auf zunächst 120 m Länge zur Nutzung durch Besucher rekonstruiert. Ab 1938 gehörten die Burgfelsen zum Naturschutzgebiet Bastei. 1956 wurde das NSG durch Einrichtung des Landschaftsschutzgebiets Sächsische Schweiz rechtlich aufgewertet. Die seitherigen archäologischen Arbeiten im Areal der Felsenburg waren daher nur als Ausnahme möglich. Der Wehrgang verfiel während des Krieges und wurde daher 1953 saniert. Zwischen 1982 und 1984 gab es erneut archäologische Grabungen. Dabei untersuchten Experten vor allem die Zisterne und die Wasserversorgung der Burg. Außerdem wurden die Anlagen des Wehrgangs erneut rekonstruiert; Sebnitzer Bergsteiger unterstützten die Erneuerung des gesamten, aus Metall ausgeführten Rundgangs. Zeitgleich wurden weitere archäologische Ausgrabungen gemacht und die einstige Felsenburg zu einem Freilichtmuseum ausgebaut. Seit 1990 liegt der Burgbereich in der Kernzone des Nationalparks Sächsische Schweiz. Das Areal der Burg und aller vorgelagerten Felsen darf daher nur auf entsprechend markierten Wegen und Pfaden betreten werden. Burganlage Wie bei den meisten Felsenburgen der Sächsischen Schweiz wurden die Bauten der Burg entweder aus dem Fels geschlägelt oder als Fachwerkbauten errichtet. Von den hölzernen Gängen und den Fachwerkbauten ist daher so gut wie nichts erhalten. Eine Rekonstruktion stützt sich deshalb auf die archäologischen Befunde aus den Grabungen, einzelnes Mauerwerk sowie die erhalten gebliebenen, aus dem Fels geschlägelten Balkenlöcher, Falze und Widerlager, in denen die Holzbalken, Streben und Bohlen verankert waren. Zugang und Außenanlagen Hauptzugang der Burg war eine Holzbrücke, die von der Bastei über die Mardertelle bis zum ehemaligen Burgtor führte. An ihrer Stelle befindet sich seit 1851 die steinerne Basteibrücke. Beim Versuch einer Erstürmung konnte die Holzbrücke noch unter den Füßen der Angreifer zerstört werden. Dies soll des Öfteren gelungen sein, wobei viele Soldaten in den Tod stürzten. Davon erhielt die Schlucht angeblich ihren ursprünglichen Namen Martertelle, was bereits von Alfred Meiche als „Fabel“ bezeichnet wurde. Daneben bestand auch auf dem heute als Zugang von Rathen dienenden Basteiweg ein talseitiges Burgtor. Vorgelagert zum Hauptzugang befanden sich im Bereich der heutigen Bastei und der dortigen Bauten Vorbefestigungen, von denen aber kaum Spuren zu finden sind und die sich vor allem in den Geländenamen erhalten haben. Auf der Felskanzel der Bastei sind noch verwitterte Bodenfalze erkennbar, die wahrscheinlich einem hölzernen Turm als Verankerung dienten. Neben der Bastei liegt zudem ein Felsgrat am Zugang zum zwischen Mardertelle und Vogeltelle oberhalb des Wehlgrunds liegenden Ferdinandstein, der als Schanze bezeichnet wird. Der heutige Klettergipfel Neurathener Felsentor bildete das eigentliche Burgtor. An ihm war als letzter Teil des Zugangs eine Zugbrücke angebracht. Der Durchgang war so breit aus dem Fels geschlagen worden, dass er für Wagen passierbar war. Sichtbar sind im Felsentor seitlich noch Kratzspuren der Wagenachsen. Vorgelagert befand sich auf dem heute als Steinschleuder bezeichneten Felsturm etwa in der Mitte der Basteibrücke ein Vorposten. Vom Basteiweg aus gut sichtbar sind die in der Nordseite des Felsturms eingehauenen, teilweise stark verwitterten Steinstufen, die als Zugang dienten. Auf dem Felsen selbst wurden Steinkugeln und Bodenfalze entdeckt, daher galt er lange als Standort einer Blide. Aufgrund des fehlenden Platzes zum Laden sowie der unzureichenden Dimensionierung der Verankerung ist dies allerdings unwahrscheinlich. Die innerhalb der Burg gefundenen Steinkugeln werden inzwischen als von den Bliden stammend angesehen, die bei den verschiedenen Belagerungen von den Angreifern benutzt wurden. Zur Absicherung waren auf verschiedenen Felsen rund um die Burg zusätzliche Posten ausgebaut. Auf dem östlich der Burg gelegenen heutigen Klettergipfel Mönch wurde für die Wachposten eine Nische in den Gipfelkopf geschlagen, das etwa 1,75 m hohe und rund 1,3 m tiefe Mönchsloch. Dieser Postenstand konnte wahrscheinlich über Leitern und Holzstege erreicht werden. Ein weiterer Postenstand befand sich beim sogenannten Kanapee, einem am heutigen talseitigen Zugang südlich der Burg gelegenen Felssporn mit guter Aussicht auf Elbtal und Bastei. Weiter unterhalb dieses Postenstands legten die Erbauer der Burg etwas oberhalb der heutigen Aussicht am Tiedgestein ebenfalls einen aus dem Fels geschlägelten Wachraum an. Anschließend an diesen Raum lag am Beginn einer Felskluft das talseitige Burgtor, von dem sich ein Teil des Mauerwerks erhalten hat, nicht allerdings der noch 1755 erwähnte Torbogen. In der Felskluft sind aus dem Fels geschlagene Lager für das Tor und weitere Sperren erkennbar. Dieser Bereich außerhalb der eigentlichen Burg wurde bislang nicht genauer archäologisch untersucht. Vermutlich ebenfalls in die Außenanlagen eingezogen war die Rahmhanke, ein schmales ausgesetztes Felsband, das ab dem Tiedgestein in etwa halber Höhe unterhalb der Burgfelsen elbseitig bis hinter die Bastei führt. Insgesamt hat die Burgstätte von der Bastei bis nach Altrathen hin eine Längenausdehnung von etwa 700 Metern, die Breite der Burgfelsen liegt bei maximal 100 Metern. Die eigentliche Felsenburg Neurathen bedeckt eine Fläche von etwa 220 × 100 m. Kernburg Fast alle Teile der Kernburg können beim Rundgang besichtigt werden. Neben dem Wehrgang besteht sie vor allem aus den Überresten der verschiedenen Bauten, die sich um einen kleinen und westlich davon einen großen Innenhof gruppieren. Wehrgang Der Wehrgang befand sich vor allem auf der nordwestlichen und der nordöstlichen Seite der Burg, zum Elbtal hin wurden lediglich kleinere Sperrriegel in Felslücken entdeckt. Auf den ersten Metern hinter dem Burgtor bestand der Gang zur Mardertelle hin teilweise sogar in doppelter Ausführung, um diesen gefährdeten Bereich besser zu sichern. Die heutigen Stahlstege folgen weitgehend dem alten Wehrgang, an dem entlang sich kleinere Bauten befanden. Teilweise dienten sie Wohnzwecken, worauf Funde von Gebrauchskeramik und Spuren von Feuerstellen schließen lassen. Am nördlichsten Punkt des Wehrgangs lag oberhalb des Wehlgrunds eine ausgebaute Warte. Östlich davon überspannte der Wehrgang mehrere Felstürme, am sogenannten Brückenturm mit einer etwa 11 m langen Holzbrücke. An ihrer Stelle befindet sich heute eine Stahlbrücke. Auf dem Brückenturm befand sich auch ein Wohnraum, dokumentiert durch Funde von Ziegelstücken und Keramik. Am südwestlichen Ende des Wehrgangs, mit Blick zum Posten auf dem Mönch, wurden auf dem Gipfel des dortigen Felskopfs Spuren eines Mauerrings mit unregelmäßigem Grundriss entdeckt. Im Inneren befand sich ein zweiter Mauerring aus Lehm und Granitbruch. Wahrscheinlich war dies das Fundament eines Signal- oder Wachturms aus Fachwerk. Die auf diesen Felskopf führenden Stufen wurden allerdings erst 1934 angelegt. Die Palisaden zwischen der Kernburg und dem Basteiweg gehören nicht zum Wehrgang, sie dienen lediglich der Abtrennung des entgeltpflichtigen Freilichtmuseums vom allgemein zugänglichen Weg. Bauten Oberhalb des Kassenhäuschens für das Freilichtmuseum stand auf einem Felsstock der Burgturm, der ebenfalls auf einem Mauerfundament aus Fachwerk errichtet worden war. Dort steht heute eine kleine Blockhütte. Der Burgturm war wahrscheinlich zwei- bis dreistöckig und repräsentativ ausgestattet. Darauf lassen Reste von Butzenscheiben, Spuren eines Kamins oder Ofens sowie Ton- und Glasscherben schließen. Westlich des Felsstocks und direkt am Wehrgang sind Spuren eines weiteren Baus vorhanden, gefunden wurden dort Mauerwerksreste und Keramik. Im sich südöstlich anschließenden großen Burghof befanden sich weitere Bauten. Eine genaue Rekonstruktion ist schwierig, da nicht alle Balkenfalze zeitgleich genutzt wurden und wahrscheinlich teilweise unterschiedlichen Bauphasen zugeordnet werden müssen. Mit Sicherheit war ein etwa 50 m² großer, ursprünglich zweistöckiger Saalbau vorhanden, dessen Keller bereits während der Ausgrabungen Anfang der 1930er Jahre freigelegt wurde. In ihm befand sich eine etwa 2 m starke Schicht aus Brandschutt. Anhand der darin gefundenen Holzreste, Nägel und Lehmziegel war zu erkennen, dass der Saalbau als Fachwerkkonstruktion auf den Keller aufgesetzt worden war. Die ungefähren Proportionen des Baus lassen sich an den rekonstruierten Deckenbalken und Einbauten gut erkennen. An den Saalbau anschließend befand sich ein weiteres Gemach, das aufgrund gefundener Spuren eines Ofens und von Butzenscheiben vermutlich ebenfalls repräsentativen Wohnzwecken diente. Weiter südöstlich schlossen sich der sogenannte Schwedenraum, benannt nach der dortigen Felsinschrift von 1706, und ein Raum an, der früher als Burgkapelle angesehen wurde. Oberhalb der als Zugang dienenden Treppe ist ein Kreuz in den Fels gemeißelt, auch gibt es eine Wandnische, die als Aufbewahrungsort für sakrale Gegenstände hätte dienen können. Ebenfalls gefundene Reste von Ofenkacheln und eines Ofenfundaments geben eher Anlass zur Vermutung, dass sich dort ein weiterer beheizbarer Wohnraum befand. Am höchsten Punkt zwischen Saalbau und Wehrgang, östlich des Saalbaus, befand sich wahrscheinlich die Burgküche. Für sie war ein etwa 6 × 5,6 m großer Raum aus dem Fels gehauen und an den offenen Seiten mit Fachwerk geschlossen worden. In der Schlucht unterhalb dieses Raums konnten Knochenreste unter anderem von Schweinen, Hirschen und Rindern sowie zerschlagenes Geschirr geborgen werden. Nördlich der Küche und südlich des Brückenturms befindet sich der kleine Burghof, dessen Bebauung bislang noch nicht befriedigend geklärt werden konnte. Er ist unzugänglich und kann lediglich vom Wehrgang aus besichtigt werden. Zisterne Im großen Burghof unterhalb des Burgturms befindet sich die Zisterne, die die Wasserversorgung der Burg sicherstellen sollte. Eine natürliche Wasserversorgung über eine Quelle existiert in den wasserarmen Sandsteinfelsen nicht. Aufgrund der Lage auf dem hohen und flächenmäßig recht kleinen Felsen war es nicht möglich, die Wasserversorgung durch Bau eines Brunnens zu sichern, ein Problem, das sich auf allen Felsenburgen des Elbsandsteingebirges stellte. Die einzige Ausnahme ist der erst etwa 100 Jahre nach Zerstörung der Burg Neurathen erfolgte Brunnenbau der benachbarten Festung Königstein. Diese liegt auf einem Tafelberg mit wesentlich größerer Grundfläche, der für einen Brunnenbau aufgrund des Trennflächengefüges geeignet ist. Dennoch war dort die Abteufung des Brunnens mit einem erheblichen zeitlichen und technologischen Aufwand verbunden. Auf Neurathen wurde daher, wie auch auf anderen Felsenburgen, eine Zisterne zur Sammlung des Regenwassers von den Dächern der umliegenden Gebäude gefasst. Eine für die Felsenburgen der Sächsischen und Böhmischen Schweiz einmalige Konstruktion ist ihre Ausführung mit Wasserentnahme nach Filtrierung in einem Kiesbett. Der Zisternenboden erhielt einen in den Elbsandstein getriebenen Trichter von 0,78 m Tiefe mit einem oberen Durchmesser von 2,40 m. Dies ergibt ein Volumen von rund 1,18 m³. Im unteren Teil der Zisterne ist die Grundfläche 4,10 × 2,4 m und in einer Höhe von 2 m (über der tiefsten Sohle) misst sie 3,75 × 5,60 m. Auf der Westseite hat die Zisterne eine Gesamttiefe von 6,87 m und auf der Ostseite von 6,32 m. Sie ist das größte Wassersammelbecken einer Felsenburg in der Sächsischen Schweiz. Maximal konnte die Zisterne etwa 135.000 l Wasser fassen. Der Trichter diente wahrscheinlich der Sammlung der letzten Reserven als auch dem Abscheiden von Verunreinigungen, die darin zusammengeschwemmt wurden. Die Zisterne wurde direkt in den Fels gehauen, was an mehreren zum Trichter führenden Rillen erkennbar ist. Gemauerte Wände aus Sandstein auf der Nord- und der Südseite ermöglichten ein größeres Speichervolumen. Ein Dach schützte das Wasser vor Verschmutzung. Die Wasserentnahme geschah anscheinend nicht durch einen Schöpfeimer, sondern durch eine Art Ablaufrohr. Im unteren Bereich der Zisterne konnte ein entsprechender Durchbruch nachgewiesen werden. Das Wasser lief von dort zur Filtrierung durch einen Kiesgraben bis zur eigentlichen Zapfstelle. An dieser Zapfstelle wie auch am Durchbruch durch die Zisternenmauer waren wahrscheinlich ein hölzerner Hahn oder Spund angebracht. Grabungsfunde Die verschiedenen archäologischen Grabungen im Burgbereich haben eine Vielzahl an Funden bis zurück in die Bronzezeit erbracht. Ein Teil der Grabungsfunde ist im Freilichtmuseum ausgestellt, vor allem Keramiken. Aus der Bronzezeit fanden die Archäologen neben Streufunden von Keramik vor allem einen Mahlstein aus Granit. Keramiken wurden auch am Nordfuß der Burgfelsen zum Wehlgrund hin gefunden. Wesentlich umfangreicher sind die Funde aus der Zeit der mittelalterlichen Burg vom 13. bis ins 15. Jahrhundert. Ein Teil der gefundenen Töpferwaren stammt aus Böhmen, vor allem aus nordböhmischen Werkstätten, unter anderem Scherben von Lewiner Geschirr. Aus der Spätzeit der Burg stammen Topfkacheln und glasiertes Geschirr in verschiedenen Farben. Neben Gebrauchskeramik fanden die Grabungsarbeiter Baustoffe, Ziegelsteine, Dachziegel, gebrannten Lehm, Reste von Holzkohle, Balkennägel und Teile von Türbeschlägen. Auch die Zerstörung der Burg 1469 spiegelte sich bei den Ausgrabungen durch Brandschutt und darin enthaltene Reste von Waffen wie etwa Steinkugeln und Pfeilspitzen wider. Zu den wichtigsten Funden gehören zwei bereits im 19. Jahrhundert entdeckte Schwerter sowie zwei kleine, 1934 ausgegrabene mittelalterliche Tonfiguren, eine Madonna und eine Wiege mit Kind. Beide Figuren sind wahrscheinlich Weihegeschenke aus dem 14. oder 15. Jahrhundert. Die Archäologen entdeckten 1982 im Burghof neben keramischen Waren auch einen Spinnwirtel. Freilichtmuseum In der zweiten Ausgrabungsperiode ab 1932 wurde 1934 der Wehrgang in Teilen rekonstruiert. Seither können Besucher die Felsenburg erkunden. In den Jahren 1953 und 1984 wurden jeweils die Gänge erneuert, allerdings in Stahlausführung. Zum Schutz vorhandener mittelalterlicher Stufen wurden diese in der Regel mit Stahlstufen abgedeckt. Auf dem Rundgang können die noch sichtbaren Reste der Burg, wie etwa Balkenfalze und die verschiedenen aus dem Fels gehauene Räume, die wenigen noch vorhandenen Mauerwerksreste, die einschließlich einer Überdachung rekonstruierte Zisterne und aufgefundene Steinkugeln mittelalterlicher Steinschleudern oder Katapulte besichtigt werden. Schautafeln vermitteln Informationen zu den einzelnen Stationen des Rundgangs. Seit 1986 steht eine rekonstruierte Steinschleuder in der Felsenburg. Ausgestellt ist auch ein Modell der Felsenburg, wie sie wahrscheinlich bis zu ihrer Zerstörung 1469 ausgesehen hat. Problematisch ist der Erhalt der verbliebenen Burgreste, insbesondere wegen der Verwitterung des Sandsteins. Bereits 1936 musste ein umgestürzter, Spuren von Balkenfalzen tragender Felsblock gesprengt werden. An der Nordseite der Burg hat der ursprüngliche Ablauf der Zisterne zur Erosion beigetragen und die zum Wehlgrund hin errichtete Kluftmauer unterspült und abgetragen. Zum Schutz ist das Begehen dieser gefährdeten Bereiche nicht möglich. Sagen Um die hoch über Rathen aufragenden Burgfelsen rankten sich nach ihrer Zerstörung verschiedene Sagen. Einen Teil davon hat Alfred Meiche um 1900 gesammelt und veröffentlicht. Auch die Errichtung der Burg, die in den Schriftquellen kaum fassbar wird, spiegelt sich darin wider. Der Legende nach wurde die Burg bereits von den Sorben errichtet und schon im 11. Jahrhundert unter Kaiser Heinrich IV. erobert. Die Deutschen hätten demnach die Sorben überrascht, worauf diese sich in ihrem Schrecken in den Abgrund, die heutige Mardertelle, gestürzt haben sollen. Der Name der Schlucht sei auf die toten Sorben zurückzuführen. Zu dieser Zeit habe eine Brücke aus Leder die Schlucht überspannt. Ebenfalls geschichtlich nicht belegt und durch die Quellen widerlegt ist die Legende der Zerstörung der Burg in den Hussitenkriegen. Eine weitere Sage, die das weit verbreitete Motiv des hartherzigen Burgherrn aufgreift, verbindet die Felsenburg mit der benachbarten Felsgruppe der Honigsteine. Sie soll ihren Namen von dort ansässigen wilden Bienen haben, die in den Felsklüften ihre Stöcke hatten. Die Felsen seien auf den unzugänglichen Seiten daher immer noch mit Honig überzogen. Der Burgherr von Rathen verbot einst den Bewohnern des Ortes das Sammeln des wilden Honigs. Als er eines Tages zwei alte Leute beim Sammeln erwischte und sie mit seinen Hunden hetzen ließ, seien die Bienen in dichten Schwärmen auf ihn losgestürzt. Aus Angst sei der Ritter aus dem Fenster gesprungen und umgekommen. Literatur Anne Müller, Matthias Weinhold: Felsenburgen der Sächsischen Schweiz. Neurathen – Winterstein – Arnstein. Reihe Burgen, Schlösser und Wehrbauten in Mitteleuropa Band 23, Verlag Schnell und Steiner, Regensburg 2010, ISBN 978-3-7954-2303-2. Alfred Neugebauer: Felsenburg Neurathen, Rat der Gemeinde Lohmen, 1984. Weblinks Anmerkungen Einzelnachweise Felsenburg Neurathen Neurathen Bauwerk in Rathen Ersterwähnung 1289 Bodendenkmal im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge Lohmen (Sachsen) Neurathen Neurathen
1774730
https://de.wikipedia.org/wiki/Regenmoor
Regenmoor
Regenmoore, auch ombrotrophe Moore oder Hochmoore genannt (in Oberbayern auch Filze), sind mineralsalzarme, saure und nasse Lebensräume mit einer an diese extremen Bedingungen angepassten Flora und Fauna. Regenmoore werden im Gegensatz zu Niedermooren ausschließlich aus Niederschlägen (Ombrotrophie) und durch aus der Luft eingetragene Mineralsalze versorgt und stellen damit einen speziellen hydrologischen, ökologischen und entwicklungsgeschichtlichen Moortyp dar, bei dessen Jahrhunderte bis Jahrtausende währendem Wachstum Torfmoose als Torfbildner eine entscheidende Rolle spielen. Regenmoore sind durch Torfabbau und Mineralsalzeinträge aus der Umgebung (Landwirtschaft, Industrie) stark gefährdet. Lebende und noch wachsende Regenmoore gibt es heute kaum noch. Die letzten großen Regenmoorgebiete befinden sich in Westsibirien und Kanada. Terminologie Die Begriffe Regenmoor und Hochmoor werden gleichbedeutend verwendet. Aufgrund der Torfbildung wachsen Regen- bzw. Hochmoore in die Höhe. Sie gleichen gewissermaßen mit Wasser vollgesogenen Torfmoosschwämmen, die mehr oder weniger erhaben in der Landschaft liegen. Daher rührt der Begriff Hochmoor, der sich strenggenommen nur auf die klassischen uhrglasförmig aufgewölbten Moore Nordwestdeutschlands bezieht. Die Moore stehen nicht unter Einfluss mineralsalzreichen Grund- oder Oberflächenwassers, sondern werden ausschließlich durch Niederschläge – hauptsächlich Regenwasser (daher die Bezeichnung) – genährt. Die Bezeichnung Regenmoor vereint damit alle nicht oder kaum bis deutlich aufgewölbten Moore, die sich durch eine extreme Mineralsalzarmut und weitere daraus resultierende ökologische Eigenschaften auszeichnen. Entstehung und Aufbau Ein lebendes Hochmoor benötigt zum Wachstum ein feuchtes, ausgeglichenes Klima. Die Menge des Niederschlages muss den Wasserverlust durch Abfluss und Verdunstung übersteigen. Außerdem müssen die Niederschläge gleichmäßig über das Jahr verteilt sein. Die Regenmoore in Europa entwickeln sich seit etwa 11.000 Jahren (Beginn des Holozän) nach dem Rückzug der letzten Eisschilde. Hinsichtlich ihrer Entstehung unterscheidet man Verlandungshochmoore und wurzelechte Hochmoore. Erstere sind sekundär aus der Verlandung von Seen oder aus verlandenden Altarmen von Fließgewässern hervorgegangen (siehe Abbildung rechts in der Sequenz). Es entwickelten sich zunächst Niedermoore unter Einfluss des Grundwassers (Mineralbodenwasser). Sauerstoffmangel und hoher Säuregrad im ständig feuchten Substrat hemmen die Zersetzung von abgestorbenen Pflanzenteilen und führen zur Torfbildung. So wächst das Hochmoor sehr langsam über das Niveau des Grundwasserspiegels, daher der Name Hochmoor. Nachdem der entstehende Torf langsam aus dem Einfluss des Mineralbodenwassers herauswuchs, schlug das Wachstum in eine Hochmoorbildung um, das heißt, diese Moore wurden von nun an nur noch vom mineralsalzarmen Regenwasser gespeist. Wurzelechte Hochmoore, auch Versumpfungsmoore genannt, entstanden dagegen direkt auf dem mineralischen Untergrund mineralsalzarmer Gebiete ohne vorherige Niedermoorbildung (siehe Abbildung links in der Sequenz) entweder als primäre Moorbildung durch Versumpfung vormals trockener Mineralböden, zum Beispiel infolge von Rodungen, Klimawandel, verminderter Versickerung, oder sekundär durch das Hinauswachsen eines Hochmoores auf den benachbarten Mineralboden. Die Bildung eines typischen Hochmoores ist ein sehr langsamer Prozess, der sogar bei günstigem, ungestörtem Ablauf Jahrhunderte bis Jahrtausende dauert. Weiterhin gibt es eine Reihe sogenannter Übergangs- und Zwischenmoore, die in unterschiedlichen Anteilen Merkmale von Hoch- und Niedermoore in sich vereinen (siehe Definition Moor). Haupttorfbildner sind die wurzellosen Torfmoose, die nur langsam in die Höhe wachsen, während gleichzeitig der untere Teil unter Luftabschluss vertorft. Je nach geographischer Lage sind verschiedene Arten der Torfmoose am Aufbau der Regenmoore beteiligt. Die Zuwachsrate an Torfsubstanz beträgt nur etwa einen Millimeter pro Jahr. Wachsende Moore können in zwei Schichten unterteilt werden. Das „Akrotelm“ (griech.: akros = höchst; telma = Sumpf) ist der obere Bereich und umfasst die Vegetationsschicht und den Moorboden. Dort entstehen durch Wachstum und Absterben von Pflanzenteilen die frischen organischen Substanzen (Torfbildungshorizont). Das „Katotelm“ (griech.: kato = unten) ist der darunter liegende wassergesättigte Bereich mit geringerer biologischer Aktivität. Diese Schicht wird aufgrund der geringen noch ablaufenden bodenbildenden Prozesse zum geologischen Untergrund gezählt und als Torferhaltungshorizont bezeichnet. In Regenmooren wird die oberste Torfschicht Weißtorf genannt, da sie aus weitgehend unzersetzten hellbraunen Torfmoosen besteht. Bei der unteren Torfschicht handelt es sich um Schwarztorf, der schon gut humifiziert ist und eine schwarz-braune Färbung mit noch erkennbaren Pflanzenresten aufweist. Regenmoorformen und Verbreitung Die Bildung von Regenmooren ist vom Klima abhängig, also der Höhe der Niederschläge und der Größe der Verdunstung, die wiederum entscheidend von der Temperatur bestimmt werden. Weiterhin nimmt das Geländerelief Einfluss auf das Abflussgeschehen und damit auf die Gestalt eines Regenmoores. Daraus ergibt sich eine geographische Begrenzung der Regenmoorentstehung. Hochmoorwachstum begünstigende Bedingungen findet man hauptsächlich in Nordamerika (Kanada, Alaska), Nordeuropa und Westsibirien, Südamerika, Südostasien und im Amazonasbecken. Hier entstanden Moore aller Art und Torflagerstätten von insgesamt vier Millionen Quadratkilometer, womit sie drei Prozent der Landfläche der Erde bedecken. Auf der Südhalbkugel sind mineralsalzarme Moore selten aus Torfmoosen aufgebaut. Einzig auf den feuerländischen Inseln existieren Torfmoosregenmoore. Die torfreichsten Länder der Tropen finden sich in Südostasien. In vielen Fällen ist noch nicht geklärt, wie das Wachstum dieser Moore vonstattengeht, denn Moose fehlen hier völlig. Deckenmoore In stark ozeanisch geprägten Regionen bilden sich bei hohen, sehr regelmäßig verteilten Niederschlägen (an mehr als 235 Tagen im Jahr) sogenannte Deckenmoore (engl. „blanket bog“). Diese meist sehr geringmächtigen Torfdecken ohne deutliche Oberflächenstrukturen überziehen in Europa Hügel und Täler der Landschaften Irlands, Schottlands, Englands und Norwegens. In Nordamerika sind Deckenmoore in Kanada vorwiegend östlich der Hudson Bay verbreitet. Diese Moore stehen oft noch unter Einfluss des Mineralbodenwassers (Grundwasser). Deckenmoore kommen nördlich des 65. Breitengrad nicht vor. Planregenmoore Aufgrund ihrer Nähe zum Meer werden Planregenmoore auch als Küstenregenmoore oder atlantische Regenmoore bezeichnet. Im Verbreitungsgebiet der Deckenmoore treten auch leicht gewölbte Planregenmoore mit schwach ausgeprägtem Oberflächenrelief in ebener Lage auf. Das Gebiet der Planhochmoore Europas erstreckt sich von Irland nach Osten über Südnorwegen nach Südwestschweden und nach Norden bis zu den Lofoten. In Nordamerika finden sich Planhochmoore im Bereich der Großen Seen (vor allem in Minnesota und Ontario). Planhochmoore werden ebenfalls ausschließlich vom Regen gespeist. Plateauregenmoore In den weniger ozeanisch geprägten Klimagebieten Nordwesteuropas (geringere Niederschläge) nehmen die Regenmoore die klassische uhrglasförmig aufgewölbte Gestalt an und werden als Plateauregenmoore (engl. „raised bog“) bezeichnet. Sie wachsen in der Mitte stärker als in den Randbereichen. Dadurch kommt es zu einer Aufwölbung im zentralen Teil, dem die Hochmoore ihren Namen verdanken. Diese Aufwölbung kann mehrere Meter betragen. Demzufolge sind die Randbereiche mehr oder weniger stark geneigt. Sie werden als Randgehänge bezeichnet. Die Randgehänge größerer Moore werden von Abflussbahnen (sogenannten Rüllen) durchzogen, über die das überschüssige Wasser abgeleitet wird. Weitere charakteristische Strukturen dieser Hochmoore sind der ebene, baumfreie Hochmoorkern (Regenmoor- oder Hochmoorweite) mit einem charakteristischen Mikrorelief aus flachen nassen Vertiefungen (Schlenken), die sich mit trockeneren Torfmooskuppen (Bulten) abwechseln (Bult-Schlenken-Komplex, siehe Abbildung). Größere Wasseransammlungen inmitten der Hochmoore werden als Kolke oder Mooraugen (huminsäurereiche Gewässer) bezeichnet, die nassen Bereiche an den Außenrändern als Randlagg. Echte ombrotrophe Hochmoore des nordwestdeutschen Tieflandes zeigen im Aufbau eine meist markante Zweigliederung in Schwarztorf (stark zersetzt) und darüber liegenden Weißtorf (schwächer zersetzt). Dieser Wechsel ist eine Folge von Änderungen im Wasserhaushalt des jeweiligen Moores. Der Weißtorf ist unter feuchteren Bedingungen schneller gewachsen als der Schwarztorf. Diese Veränderung wird auf eine Klimaveränderung mit hohen Niederschlägen und geringer Verdunstung um etwa 1000 bis 500 v. Chr. zurückgeführt. Dadurch kam es örtlich zu unterschiedlichem Torfmooswachstum und der damit verbundenen Ausbildung der Schwarztorf-Weißtorfgrenzschicht, der aber nicht in allen Hochmooren zeitgleich entstand. Gebirgshochmoore In niederschlagsreichen Gebirgen treten im montanen Bereich – und seltener auch alpinen (also über der Baumgrenze) – ebenfalls Regenmoore auf, die aufgrund des Gefälles oft eine charakteristische asymmetrische oder nicht konzentrische Gestalt aufweisen. Gebirgsregenmoore lassen sich topographisch einteilen in: Plateauregenmoore im ebenen Zonen Hangregenmoore – das sind Moore in Hanglage, die keine echten Durchströmungsmoore darstellen; die oberen Moorteile werden stärker durch Zulaufwasser gespeist und sind meist flach ausgebildet. Die unteren ausschließlich regenwasserernährten Moorteile können dagegen beachtliche Mächtigkeiten erreichen. Das untere Randgehänge ist oft ausgesprochen steil und meist fehlt die typische Vernässungszone des Laggs (s. o.). Kolke, flache Blänken und Rüllen sind ebenso wie bei den klassischen Hochmooren vorhanden. Sattelregenmoore – meist langgezogene Moore in Passlage, die auch gewissen Wassereintrag aus den Flankenhängen haben, selten; die Randbereiche ähneln dem Hangmoor, die Zentralbereiche dem Plateaumoor Gipfel- und Kammregenmoore – sehr selten Alle diese Moorformen können aber auch Randzonen von Niedermooren darstellen, beziehungsweise in diese übergehen. Kermimoore Kermimoore werden auch als Schildhochmoore oder Strang- bzw. Blankenmoore bezeichnet. Sie haben eine schwach kuppelige Gestalt. Die Mooroberfläche steigt von der breiten Laggzone bis zum Zentrum kontinuierlich an. Es handelt sich bei den Kermis um strangförmige Torfmoosbulte, die entlang der Höhenlinien angeordnet sind. Die Schlenken (Flarke) sind meist wannenartig ausgebildet und äußerlich von Kolken kaum zu unterscheiden. Im zentralen Bereich dieser Moore sind immer größere Kolke ausgebildet. Im Norden Russlands und in Westsibirien treten Kermimoore häufig in riesigen zusammengewachsenen Komplexen auf. Ferner finden sich Schildhochmoore in Finnland in der mittleren und nördlichen borealen Nadelwaldzone. Aapamoore Aapamoore (engl. „aapa fen“, „string bog“) werden auch als Strangmoore bezeichnet. An der nördlichen Verbreitungsgrenze der Regenmoore in der subpolaren Zone (nördlich des 66. Breitengrades der Nordhalbkugel) können sich Hochmoore nur noch inselartig innerhalb von durch Mineralbodenwasser versorgten Mooren ausbilden. In ebener Lage sind diese Inseln unregelmäßig verteilt, in Hanglagen ordnen sie sich zu hangparallelen Wällen an. Die Wälle schließen dabei durch Mineralboden vernässte Moorstreifen ein. Diese werden mit einem finnischen Wort als „Rimpis“ bezeichnet. Das Hauptverbreitungsgebiet der Aapamoore sind die skandinavischen Gebirge, Mittelfinnland und Karelien sowie Nord-Sibirien. In Nordamerika ist es vor allem Alaska, das aufgrund des kalten Kontinentalklimas über Aapamoore verfügt. Bei den dargestellten Mooren spielen Frosteinwirkungen eine bedeutende Rolle. In den Moorsträngen findet man bis in den Sommer hinein Bodeneis. Palsamoore Palsamoore (engl. „palsa bog“) werden auch als Palsenmoore bezeichnet. Im Grenzbereich des arktischen Dauerfrostbodens (Tundra) können die Stränge der Aapamoore zu meterhohen Torfhügeln aufwachsen. Die sogenannten Palsas liegen häufig wie die Aapamoore inmitten der durch Mineralbodenwasser versorgte Moore. Teilweise sind sie von wassergefüllten grabenförmigen Vertiefungen umgeben. Torfwachstum ist kaum ausgeprägt, diese Moore sind Torflager aus Wärmezeiten und wurden erst mit dem kälter werdenden Klima von im inneren wachsenden Eiskernen aufgewölbt. Diese Eiskerne vergrößern sich von Jahr zu Jahr durch Auftau- und Gefriervorgänge des umgebenden Wassers. Die niedrigen Temperaturen verhindern eine vollständige Zersetzung des organischen Materials. Polygonmoore Polygonmoore sind in den arktischen und subarktischen Ebenen Sibiriens und Nordamerikas verbreitet und nehmen hier große Flächen ein. Sie sind an Frostmuster- und Eiskeilböden gebunden. Eine spärliche torfbildende Vegetation kann sich in den inneren wabenartigen Flächen dieser Frostmusterböden (Kryoturbation) halten und wird während der kurzen Sommer mit ausreichender Feuchtigkeit versorgt, da das Schmelzwasser durch die erhöhten Polygonränder am Abfluss gehindert wird. Die Torfdecken erreichen eine Mächtigkeit von 0,3 bis 1 Meter. Regenmoorgebiete der Nordhalbkugel Asien: Das westsibirische Regenmoorgebiet umfasst allein 700.000 km². Die großen Moore erreichen im Zentrum Aufwölbungen bis zu 10 m. Sie gehören überwiegend zum Regenmoortyp der Kermimoore. Sie werden auch als Strang- und Blankenmoore bezeichnet. Sie stellen die wohl bedeutendste Ausbildungsform der Regenmoore auf der Erde dar. Allein das Wassjugan-Moor in dieser Region, das größte Moorsystem der Erde, bedeckt mehr als 50.000 km². Die Torflager werden auf über 14 Milliarden Tonnen geschätzt. Nordamerika: Von Alaska im Westen bis zu den Küsten des Atlantiks im Osten breitet sich ein Moorgebiet aus, das in der Ausdehnung mit dem Westsibiriens vergleichbar ist. Auf die Zone der Palsa- und Aapamoore („string fens“) schließt sich eine Zone der aufgewölbten Regenmoore an. In Richtung des Ozeanitätsgefälles von Ost nach West sind östlich der Hudson Bay Deckenmoore verbreitet. Diese werden nach Westen von Plateauregenmooren im Gebiet der Großen Seen und schließlich von Kermimooren abgelöst. Europa: Die größten mitteleuropäischen Regenmoorgebiete sind der südliche Nordseeküstenraum und das Alpenvorland. Wie in Nordamerika ergibt sich eine Abfolge der Regenmoortypen entlang dem Ozeanitätsgefälle hier von Nordwesten nach Südosten. Durch die Torfnutzung sind die Regenmoore bis auf wenige Reste (weniger als 10 % der ursprünglichen Fläche) abgebaut und kultiviert. Das größte zusammenhängende Hochmoor Mitteleuropas war das Bourtanger Moor, das mit dem niederländischen Anteil ursprünglich eine Fläche von zirka 2.300 km² einnahm. Weitere große Hochmoore sind das Teufelsmoor nordöstlich von Bremen, sowie das Vehnemoor (abgetorft) und die Esterweger Dose (ehemals etwa 80 km², abgetorft) zwischen Oldenburg und Papenburg. Die Hochmoore in den Mittelgebirgen Harz, Solling, Thüringer Wald (Großer Beerberg, Schneekopf – Teufelsbad, Fichtenkopf, Saukopf), Riesengebirge, Erzgebirge, Fichtelgebirge und Rhön (Schwarzes Moor, Rotes Moor) sind dagegen vergleichsweise klein. Im Schwarzwald wurde das Wildseemoor großflächig unter Schutz gestellt, in den Vogesen ist am Tanet (franz.: le Tanet), nördlich vom Col de la Schlucht eine größere Fläche geschützt. Ferner befindet sich im durch eiszeitliche Gletscher geformten Alpenvorland ein moorreiches Gebiet. Das Wurzacher Ried (Haidgauer Regenmoorschild) wird als das größte und am besten erhaltene Regenmoor Mitteleuropas angesehen. Weitere Regenmoore und Regenmoorlandschaften sind beispielsweise der Federsee, das Hohe Venn im deutsch-belgischen Grenzland, das Ewige Meer bei Aurich und das Lengener Meer bei Wiesmoor. Die letzten baltischen Hochmoore werden derzeit abgetorft. Estland exportierte im Jahre 2003 3,6 Millionen m³ Torf für den westeuropäischen Gartenbaubereich, das sind mehr als 60 Prozent der Landesproduktion. In Litauen sind 60 Prozent der abbaufähigen Moorfläche für den Abbau aufbereitet oder werden bereits abgetorft. Ökosystem Regenmoore nehmen eine Sonderstellung in den Stoffkreisläufen der Natur ein. Ihre selbstregulierende Kraft unterscheidet sie von allen anderen Ökosystemen der Erde. Moore sind Lebensräume mit positiver Stoffbilanz. Die Bildung organischer Substanz ist größer als ihre Zersetzung und damit ihr Aufbrauch. Dieser Zuwachs an organischer Masse und die Ablagerung in Form von Torf ist aber nur an Standorten mit Wasserüberschuss möglich. Bei ausreichender Wasserversorgung wächst das Moor fortwährend. Die Torflagen sind das Ergebnis der Assimilationstätigkeit ihrer ehemals auf der Oberfläche wachsenden Pflanzen. Somit beherbergen sie über jahrtausende gespeicherte Sonnenenergie. Moore sind damit riesige Stoffsenken für Kohlenstoff und Stickstoff. Die bedeutendste Pflanzengruppe in Regenmooren sind die Torf- oder Bleichmoose (Sphagnum), die den Moorkörper aufbauen. Torfmoose sorgen für das Höhenwachstum der Hochmoore. Innerhalb der jährlichen Vegetationsperiode wachsen die kleinen Pflänzchen zwischen ein und 30 Zentimeter in die Höhe. Das jährliche Höhenwachstum von einem halben bis zu einem Millimeter ergibt sich durch Vertorfung der absterbenden Pflanzenreste nach unten hin. Wasserhaushalt Eine wichtige Eigenschaft der Regenmoore ist ihre Speicher- und Aufnahmekapazität für Wasser. Indem Moore aufwachsen, akkumulieren sie Wasser. Der Volumenanteil des Wassers im Torfkörper kann bis zu 97 Prozent ausmachen. Bei stärkerer Wasserzufuhr können Moore ihr Volumen ausdehnen und das Wasser oberflächlich einstauen. Infolgedessen quillt und schrumpft der Torfkörper (Mooratmung, -oszillation). Aufgrund der anatomischen Besonderheiten der Torfmoose verfügen Regenmoore gewissermaßen über ein sich selbst regulierendes Wasserregime. Die straff aufrechte Wuchsform der einzelnen dicht nebeneinander gelagerten, wurzellosen Moospflanzen bedingen eine kapillare Leitfähigkeit und vermögen somit den Wasserstand anzuheben. Zusätzlich können die Blätter der Torfmoose in ihren großen Speicherzellen (Hyalinzellen) mehr als das 30-fache ihrer Trockenmasse an Wasser speichern. Die Polsterbildung vergrößert zudem das Gesamtporenvolumen. Durch die hohe Speicherfähigkeit für Wasser werden bei Starkregenfällen Abflussspitzen in die Umgebung vermieden. In niederschlagsarmen Perioden ist durch die Kapillarwirkung immer eine Zufuhr von Wasser aus den unteren Schichten des Moorkörpers gewährleistet. Bei oberflächlicher Abtrocknung füllen sich die Speicherzellen der Torfmoose mit Luft und werden dadurch bleich. Sonnenstrahlung wird reflektiert und dadurch die Verdunstung eingeschränkt. Stoffhaushalt Hochmoore sind extrem mineralsalzarme (oligotrophe) Lebensräume. Sie zeichnen sich besonders durch Stickstoffmangel aus, ein wichtiges Nährelement für Pflanzen. Die permanente Wassersättigung (Sauerstoffmangel) bedingt eine unvollständige Zersetzung pflanzlicher Reste. Ein vollständiger Abbau (Mineralisation) kann nur in den oberen Schichten des Moores (Akrotelm, siehe oben) stattfinden, wo noch ausreichend Sauerstoff für die mikrobielle Aktivität vorhanden ist. Torfmoose haben die Fähigkeit, Mineralstoffe an sich zu binden und dafür Wasserstoffionen (H+, Protonen) abzugeben. Im Austausch nimmt das Torfmoos Mineralstoffe auf. So verbessert die Pflanze ihre Wachstumsbedingungen und schafft sich eine saure Umgebung, die sie selbst ertragen kann, in der aber konkurrierende Pflanzen keine Überlebenschance haben. Regenmoore verfügen über einen pH-Wert von 3 bis 4,8. Klima Das Eigenklima eines Hochmoores ist kontinentaler als das seiner Umgebung und zeichnet sich durch große, zum Teil extreme Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht, aber durch geringere Unterschiede im Jahresgang aus. Je feuchter ein Boden ist, umso mehr Wärme muss zugeführt werden, um eine bestimmte Temperatur zu erreichen. Die Wärmekapazität eines wassergesättigten Moorbodens ist damit hoch. Die Wärmeleitfähigkeit des Torfes ist dagegen gering. Der Moorkörper erwärmt sich deshalb im Jahresgang nur sehr langsam und kühlt sich aber auch im Spätherbst nur langsam wieder ab. In strengen Wintern kann das Hochmoor mehrere Meter tief durchfrieren. In diesem Fall bleibt der Moorkörper auch in der Tiefe bis in den Frühsommer hinein gefroren, da die einstrahlende Sonnenenergie kaum nach unten weitergeleitet wird. Im Juni liegt die Temperatur in 10 bis 20 Zentimeter Tiefe zwischen null und zehn °C. Die Folge ist ein späterer Beginn der Vegetationsperiode. Im Gegensatz dazu friert das Hochmoor zu Beginn des Winters wesentlich langsamer ein als die umgebenden Gewässer und bleibt in wärmeren Wintern manchmal schnee- und eisfrei. Da ein Hochmoor in diesen Jahreszeiten eine deutlich abweichende Temperatur als die darüberliegenden Luftmassen hat, sind Bodennebel hier häufig. Bei Sonneneinstrahlung im Sommer erwärmt sich der dunkle Torf an der Oberfläche rasch. Durch die geringe Wärmeleitfähigkeit des Torfes, die kaum Wärme an darunterliegende Schichten ableitet, kann es im Hochsommer an der Oberfläche zu extremen Temperaturunterschieden zwischen Nachtfrösten bei klarem Nachthimmel und bis zu 70 °C Hitze an sonnigen Tagen kommen. Temperaturschwankungen zwischen 4 und 40 °C innerhalb von 12 Stunden in Oberflächennähe sind auch in mitteleuropäischen Hochmooren keine Seltenheit. Einzelne Messungen ergaben bis zu 77 °C in einem Gebirgshochmoor. Da die Oberfläche des Moores in der Regel nicht mit hochwüchsiger Vegetation bedeckt ist, kann die Wärmeenergie ungehindert abstrahlen, ohne dass wegen der isolierenden Eigenschaft des Torfes eine Wärmenachfuhr, wie es bei Mineralböden der Fall ist, aus der Tiefe möglich ist. Bei unbewölktem Nachthimmel und geringer Luftfeuchtigkeit kann es sogar noch im Sommer im Moor zu Nachtfrösten kommen. Intakte Hochmoore speichern nicht nur enorme Mengen an Niederschlagswasser, sie prägen auch das Regionalklima entscheidend mit. Trocken-warme Luft wird durch die Verdunstungskälte abgekühlt und angefeuchtet, während warme, wassergesättigte Luft zum Abregnen gezwungen wird. Große ausgedehnte Moore begünstigen so ihr eigenes Wachstum. Nach der Durchschnittstemperatur sind Hochmoorregionen zu allen Jahreszeiten am kältesten. Noch heute haben Städte dieser Moorregionen trotz Küstennähe ein „nachtkaltes Klima“. Lebewelt Die extreme Mineralsalzarmut, der niedrige pH-Wert und die permanente Wassersättigung der Hochmoorlebensräume bedingen eine hochspezialisierte einzigartige Flora und Fauna mit einer Vielzahl gefährdeter Arten. Flora und Vegetation Pflanzen, die mit den extremen Bedingungen im Hochmoor zurechtkommen, sind Spezialisten und Hungerkünstler. Vielfach wurden spezielle Anpassungen und Strategien entwickelt. So gedeihen Hochmoorspezialisten ausschließlich in Hochmooren. Die Regenmoorzentren sind in der Regel baumfrei. Anpassungen der Pflanzen Eine Anpassung an das karge Leben im Hochmoor haben fleischfressende Pflanzen (Carnivorie) gefunden: Einige Arten fangen Insekten, verdauen sie und können so zusätzlich Stickstoff und Mineralsalze aufnehmen. Der Rundblättrige Sonnentau (Drosera rotundifolia) hat auf seinen rundlichen Blättern rötliche Drüsen. Diese sondern eine klebrige Flüssigkeit ab, die beispielsweise Ameisen anziehen. Sie bleiben an den klebrigen Drüsen hängen und lösen beim Sonnentau einen Bewegungsreiz aus. Die klebrigen, fingerartigen Ausstülpungen mit Drüsen neigen sich über die Beute und rollen mit den Blatträndern das Insekt ein. Ein Verdauungssaft, der dem Magensaft von Tieren ähnlich ist, löst die pflanzenverwertbaren Stoffe aus dem Insekt heraus. Der Sonnentau deckt damit den Bedarf an Stickstoff, der im Boden nicht vorhanden ist. Die Venusfliegenfalle (Dionaea muscipula) ist in den Mooren in Nord- und Süd-Carolina im Osten der USA beheimatet. Dort stellt die handflächengroße Pflanze im Sommer ihre Klappfallen auf, um damit Insekten und Spinnen zu fangen. Kennzeichnend für die Pflanzenwelt der Regenmoore sind Zwergsträucher, die fast alle Vertreter der Familie der Heidekrautgewächse (Ericaceen) sind. Dazu gehören zum Beispiel die Rosmarinheide (Andromeda polifolia), die Besenheide (Calluna vulgaris), die Glockenheide (Erica tetralix), die Moosbeere (Vaccinium oxycoccos). Diese Zwergsträucher bilden mit Pilzen eine sogenannte Pilzwurzel (Mykorrhiza) aus. Diese Lebensgemeinschaft erlaubt ihnen eine bessere Aufnahme der spärlichen Bodenmineralstoffe. Ferner ist auffällig, dass die Blätter dieser Pflanzen meist dickfleischig und mit einer dicken Epidermis ausgestattet sind. Außerdem sind die Blätter mit einer Wachsschicht (Cuticula) überzogen und die Spaltöffnungen sind meist eingesenkt. Diese Merkmale stellen eine Anpassung an den Nährstoffmangel und die extremen Temperaturschwankungen dar. Sonnentau und Moosbeere können ihre Wurzeln im Stockwerksbau ausbilden und beugen so dem Sauerstoffmangel durch das ständig höher wachsende Torfmoos vor. Torfmoose und Torfmoosgesellschaften Charakteristische torfbildende Pflanzen im Regenmoor sind neben den Torfmoosen Wollgräser (Eriophorum), Seggen (Carex) und Rasenbinsen (Trichophorum). Das Scheiden-Wollgras (Eriophorum vaginatum) hat einen horstartigen Wuchs. Bei guter Wasserversorgung wird es immer wieder von den Torfmoosen überwuchert. Mit seinen zerfasernden Blattscheiden trägt es wesentlich zur Bildung von Fasertorf bei. Die einzelnen Torfmoosarten der Hochmoore haben unterschiedliche Feuchteansprüche. An sehr nassen Stellen und in Schlenken wachsen gelblichgrüne Arten wie das Spieß-Torfmoos (Sphagnum cuspidatum), das Baltische Torfmoos (Sphagnum balticum) oder Sphagnum dusenii. Entsprechend wird die Pflanzengesellschaft der wassergesättigten Bereiche als Grüne Torfmoosschlenken-Gesellschaft bezeichnet (Cuspidato-Scheuchzerietum palustris). Ergänzt wird diese Gesellschaft von der Schlamm-Segge (Carex limosa), Weißem Schnabelried (Rhynchospora alba) und der seltenen Blasenbinse (Scheuchzeria palustris). Andere Torfmoose, besonders das Magellans Torfmoos (Sphagnum magellanicum) und das Rötliche Torfmoos (Sphagnum rubellum), meist intensiv rot gefärbt, oder das Braune Torfmoos (Sphagnum fuscum) besiedeln dagegen trockenere Stellen und die erhöhten Bulte. Sie bilden zusammen mit weiteren höheren Pflanzen wie Moosbeere (Vaccinium oxycoccos), Rosmarinheide (Andromeda polifolia) und Besenheide (Calluna vulgaris) die Bunte Torfmoosgesellschaft (Sphagnetum magellanici). Sie ist die wichtigste torfbildende Pflanzengesellschaft in Regenmooren. Im atlantisch geprägten Tiefland war als torfbildende Pflanzengesellschaft der Glockenheide-Torfmoosrasen (Erico-Sphagnetum magellanici) verbreitet. Kennzeichnend sind die ozeanisch bis subozeanisch verbreitete Glockenheide (Erica tetralix) und die Moorlilie (Narthecium ossifragum). Im östlichen Tiefland treten an die Stelle dieser Arten der Sumpfporst (Rhododendron palustre) und über Mitteleuropa hinaus nach Norden die Moltebeere (Rubus chamaemorus) und die Torfgränke (Chamaedaphne calyculata). Diese Pflanzengesellschaft des Ledo-Sphagnetum-magellanici ist von zwergwüchsigen Waldkiefern (Pinus sylvestris) durchsetzt. In Osteuropa wird das Magellans Torfmoos (Sphagnum magellanicum) durch das Braune Torfmoos (Sphagnum fuscum) ersetzt. In den Mittelgebirgen hat sich ein durch Zwergformen der Bergkiefer (Pinus mugo) geprägter Torfmoosrasen (Pino mugi-Sphagnetum magellanici) entwickelt. In der subalpinen Stufe zwischen 1.500 und 2.000 Meter (Alpen, Riesengebirge, Hohe Tatra) sind Rasenbinsen-Torfmoosrasen (Eriophoro-Trichophoretum cespitosi) entwickelt. Die Vegetation der nordamerikanischen Hochmoore gleicht in ihrer Zusammensetzung den europäischen Pflanzengesellschaften, wobei die einzelnen Arten hier häufig durch andere Arten derselben Gattungen ersetzt werden. So tritt beispielsweise an die Stelle des Sumpfporstes die Spezies Ledum groenlandicum. Bei den Wollgräsern gehören Eriophorum virginicum und Eriophorum vaginatum var. spissum zu den torfbildenden Pflanzen. Unter den Zwergsträuchern der nordamerikanischen Regenmoore erscheinen zusätzlich Arten der Gattungen Gaylussacia, Gaultheria und Kalmia. In Nordasien tritt die Sibirische Zirbelkiefer (Pinus sibirica) auf den Hochflächen auf. In den Schlenken findet sich hier Sphagnum dusenii und das Baltische Torfmoos (Sphagnum balticum) zusammen mit der Blasenbinse (Scheuchzeria palustris) und Schlamm-Segge (Carex limosa). Das Hochmoorgebiet Feuerlands (Südamerika) reicht bis in das antarktische Klima- und Vegetationsgebiet. Die Moore werden hauptsächlich aus dem Torfmoos Magellans Torfmoos (Sphagnum magellanicum) und Zwergsträuchern gebildet. Letztere setzen sich aus der zwergwüchsigen Antarktischen Südbuche (Nothofagus antarctica), Rote Krähenbeere (Empetrum rubrum) und dem Heidekrautgewächs Pernettya pumila zusammen. Statt Wollgras siedelt hier das Binsengewächs Tetronium magellanicum. Gehölze und Moorwälder Bäume wie Moorbirke (Betula pubescens), Fichte (Picea), Kiefer (Pinus) gehören auch in lebenden Hochmooren ozeanischer Klimaregionen zum charakteristischen Bild. Sie finden sich jedoch bevorzugt auf den stärker dränierten Randgehängen und an Kolkrändern mit besserer Nährstoffversorgung. Auf den Hochflächen sind meist nur vereinzelt Gehölze mit niedrigem Wuchs (Mineralsalzmangel) anzutreffen. An den Gewässerrändern kommt es durch Wellenschlag zu einer verstärkten Mineralisation, die konkurrenzstärkeren Gehölzen, Gräsern und anderen Pflanzen eine Ansiedlungsmöglichkeit bieten können. Dazu gehört auch das in Renaturierungsbemühungen gefürchtete Blaue Pfeifengras (Molinia caerulea). In trockeneren, mineralsalzarmen Übergangszonen zu Hochmooren kontinentaler Klimate und in höheren Gebirgslagen können Bruch- und Moorwälder wie Bergkiefern-Moorwälder, Birken-Bruchwälder oder Karpatenbirkenwälder ausgebildet sein. Dies sind meist schlechtwüchsige, niedrige, lichte Bestände aus Kiefern oder Birken mit einem strauchreichen Unterwuchs und einer niedrigwüchsigen und lückigen, meist aus Gräsern und Seggen sowie Zwergsträuchern bestehenden Krautschicht aber einer gut ausgebildeten Moosschicht aus vorwiegend Torfmoosen. Fauna Innerhalb wachsender Regenmoore können sich nur wenige Organismengruppen entfalten. Es gibt weder Fische im sauren Wasser, noch gibt es Schnecken, Muscheln, Krebse oder andere Tiere, die eine reichliche Kalziumzufuhr benötigen. Nur Spezialisten ist es möglich, unter den extremen Standortbedingungen zu existieren und sich fortzupflanzen. Ähnlich den Torfmoosen sind auch viele Tiere rot oder dunkel gefärbt (Melanismus), als Anpassung an die Strahlungsintensität und die extremen Temperaturen. Eine andere häufig zu beobachtende Erscheinung ist der Zwergwuchs. Viele Tiere, besonders Insekten, sind in ihrer Ernährungsweise auf nur bestimmte Pflanzenarten und/oder Pflanzengattungen der Hochmoore beschränkt (Mono- bis Oligophagie), so dass sie nur in diesem Lebensraum existieren können. Einzeller Eine kennzeichnende Tiergruppe der Torfmoosrasen sind die Wurzelfüßer (Rhizopoden). Dieses sind beschalte Amöben (Testaceen), die in hoher Individuendichte auftreten können. Dank der Erhaltungsfähigkeit der Schalen ist eine sogenannte Rhizopodenanalyse möglich, mit deren Hilfe die ökologischen Bedingungen eines Moores während seiner Entwicklungsgeschichte verfolgt werden kann. Insekten und Spinnen Im Sommer fallen die zahlreichen Libellen im Hochmoor auf. Libellen lieben feuchte Standorte, darunter sowohl Hoch- als auch Niedermoore. Einige Arten sind in allen Lebensphasen an die ökologischen Bedingungen der Moore gebunden. Andere Arten verbringen hier ihre Jugendzeit. Die Hochmoor-Mosaikjungfer (Aeshna subarctica) ist in den Monaten Juli bis September aktiv und ausschließlich an Hochmoorgewässern mit Torfmoos-Schwingrasen zu finden. Besonders an Vormittagen sonniger Tage findet man die sich sonnenden Männchen auf Baumstämmen. Die Männchen fliegen auf der Suche nach Weibchen über die Torfmoosflächen. Die Paarung beginnt über den Rasen und endet meistens in der Vegetation. Das Weibchen sticht die Eier in die Torfmoose ein. Der Hochmoor-Glanz-Flachläufer (Agonum ericeti) ist der Hochmoorspezialist unter den Laufkäfern. Außerhalb von Übergangs- und Hochmooren ist er nicht zu finden. Er lebt zwischen Bulten und Schlenken der lebenden Hochmoore, mitunter kommt er auch auf Hochmoor-Regenerationsflächen vor. Die Art kann nur auf sehr sauren Böden leben und reagiert empfindlich auf Veränderungen. Auch der Hochmoor-Perlmuttfalter (Boloria aquilonaris) ist auf Moore angewiesen, in denen die Futterpflanze der Raupe, die Gewöhnliche Moosbeere (Vaccinum oxycoccos), wächst. Teilweise ernährt sich die Raupe auch von jungen Trieben der Rosmarinheide (Andromeda polifolia). In Norddeutschland ist die Glockenheide (Erica tetralix) eine wichtige Saugpflanze der Falter. Auch die Zikadenfauna weist eine Vielzahl hochspezialisierter, meist monophager Hochmoorarten mit einem sehr engen Nahrungsspektrum auf. Ausschließlich an Scheiden-Wollgras (Eriophorum vaginatum) der offenen Hochmoorzentren lebt die Moorkäferzikade (Ommatidiotus dissimilis). Torfmoos-Schwingrasen mit Schmalblättrigem Wollgras (Eriophorum angustifolium) werden von der Weißlippen-Spornzikade (Delphacodes capnodes) bevorzugt. An ähnlichen Standorten lebt die im Weser-Ems-Gebiet möglicherweise inzwischen ausgestorbene Schnabelriedzirpe (Limotettix atricapillus), die sich vom Weißen Schnabelried (Rhynchospora alba) ernährt. Wo eine so reichhaltige Insekten- und Milbenfauna vorkommt, sind auch deren Feinde nicht weit. Sie besiedeln das Wasser, zum Beispiel die sehr seltene Wasserspinne, die Torfmoose wie die in Deutschland stark gefährdeten bzw. vom Aussterben bedrohten Wolfsspinnen Pardosa sphagnicola und Pirata insularis und die Krautschicht und niedere Gehölze wie die Sumpfkreuzspinne oder die Jagdspinne Dolomedes fimbriatus. Vorwiegend im Randgehänge lebt die Brückenspinne. Amphibien, Reptilien und Vögel Amphibien, insbesondere der Moorfrosch (Rana arvalis), leben und/oder laichen im Hochmoor. An Reptilien finden sich die Mooreidechse (Lacerta vivipara) und die Kreuzottern (Vipera berus). Letztere ist in Mooren häufig auch völlig schwarz gefärbt und wird auch als Moorotter bezeichnet. Vögel baumarmer Hochmoore sind Krick- und Knäkente, Birkhuhn, Sumpfohreule, Großer Brachvogel, Bruchwasserläufer, Südlicher Goldregenpfeifer und der Kranich. In den Randbereichen leben Uferschnepfe, Rotschenkel, Feldlerche, Braunkehlchen und etliche weitere Arten. Die Vögel der ehemaligen Hochmoore sind heute häufig in Feuchtgrünland, Moor- und Marschgrünland zu finden. Mit der Zerstörung der Moore sind viele dieser Arten drastisch zurückgegangen und heute vom Aussterben bedroht oder bereits verschwunden. Säugetiere Säuger spielen in der Moorfauna eher eine untergeordnete Rolle. Der feuchte Boden, der nicht zum Anlegen von Gängen geeignet ist, macht Moorböden beispielsweise für Mäuse unattraktiv. Eine gewisse Rolle spielt allerdings der Iltis, der sich hier bevorzugt von Fröschen ernährt. Entwässertes Moor Die Nutzung von Hochmooren war fast immer mit Entwässerung verbunden oder setzte diese sogar voraus. Werden Entwässerungsgräben in ein Hochmoor gebaut, verändert sich der biotopbestimmende Faktor grundlegend. Es kommt schließlich zum Stillstand des Moorwachstums. Der mooreigene Wasserspiegel sinkt, die entleerten Poren des Torfkörpers kollabieren, und das Moor sackt ab. Sauerstoff aus der Luft dringt ein und setzt den Abbau in Gang. Das organische Material wird mineralisiert, die darin gespeicherten Mineralsalze werden freigesetzt. Mineralsalzbedürftigere Pflanzen siedeln sich an und verdrängen die Hochmoorarten. In Nordwestdeutschland bildeten sich auf ausgetrockneten Hochmoorböden riesige Moorheiden (Sphagno-Callunetum). Schreitet die Entwässerung fort, siedeln sich die ersten Gehölze an. Durch die Transpiration der Gehölze trocknen die Moore weiter ab. Zuletzt entstehen Moorwälder unterschiedlicher Zusammensetzung. Meist sind es Moorbirke (Betula pubescens) und Waldkiefer (Pinus sylvestris), die diese Wälder bilden. In den Mittelgebirgen wird Pinus sylvestris durch die Bergkiefer (Pinus mugo) ersetzt. Vereinzelt kommt hier auch die Karpaten-Birke (Betula pubescens var. glabrata ) vor. Kennzeichnend für solche Moorwälder sind das Pfeifengras (Molinia caerulea) sowie Heidel- und Preiselbeere (Vaccinium myrtillus, V. vitis-idaea). Auch die Tierwelt verändert sich. Durch die Mineralsalzanreicherung und Erhöhung der kleinräumigen Strukturvielfalt steigt die Artenzahl an. Moorspezialisten werden verdrängt. Solche Moore beherbergen eine größere Anzahl von Tierarten, die in der Kulturlandschaft keinen Platz mehr finden (Kulturflüchter). Daher sind auch entwässerte Moore wertvoll und von großer Bedeutung für den Artenschutz. Bedeutung und Funktionen Die große Bedeutung der Hochmoore liegt vor allem in ihrer Eigenschaft als Lebensraum für seltene Pflanzengesellschaften, Pflanzenarten und Tiere. Etliche Arten wie die Zwerg-Birke (Betula nana) konnten in Hochmooren als Relikte der Nacheiszeit überdauern. Hochmoore sind außerdem Rückzugsgebiete für bedrohte Tierarten, die in der umgebenden stark menschlich geprägten Umwelt keinen Platz mehr finden. Schließlich sind Hochmoore landschaftsprägende Elemente, da sie große Flächenbereiche einnehmen. Landschaftsökologische Funktionen Hochmoore haben landschaftsökologische Funktionen, die sich aus den oben dargestellten Besonderheiten im Wasser- und Nährstoffhaushalt sowie den klimatischen Bedingungen von intakten Regenmooren ergeben. Eine besondere Bedeutung im Landschaftshaushalt kommt der Vorratsbildung durch Ausgliederung von Stoffen aus dem ursprünglichen Kreislauf zu. Aufgrund der unvollkommenen Zersetzung des Torfes sind Kohlenstoff und andere Stoffe festgelegt. Der Torfkörper und die Torfmoose dienen bei Starkregenfällen und Hochwasser als Wasserspeicher mit abflussdämpfender Wirkung. Hochmoore haben einen deutlichen Einfluss auf das Klima, denn aufgrund ihres hohen Wassergehaltes und der damit verbundenen verzögerten Erwärmung zu Beginn der Vegetationsperiode, werden Hochmoore als kalte Lebensräume angesehen und nehmen damit Einfluss auf das Regionalklima. Darüber hinaus können Moore, deren Torfkörper von Wasser durchströmt und durchsickert werden, wie Ionenaustauscher wirken und Fremdstoffe wie Pestizide oder Schwermetalle zurückhalten. Diese Filterwirkung stellt in unserer zunehmend belasteten Umwelt eine sehr bedeutsame landschaftsökologische Funktion dar. Natur- und kulturhistorische Funktionen Nicht zuletzt haben Hochmoore eine hohe naturwissenschaftliche Bedeutung bei der Erforschung ökologischer Systeme und für die Natur- und Kulturgeschichte als Archive für vegetationsgeschichtliche sowie die vor- und frühgeschichtliche Forschung. Diese Funktion ergibt sich aus der konservierenden Wirkung im sauren Milieu unter Sauerstoffabschluss sowie die Wirkung der Huminsäuren. Im Torf haben sich Pollen hervorragend erhalten. Anhand von Pollenanalysen ließ sich fast flächendeckend die Vegetations- und Klimageschichte seit der letzten Eiszeit rekonstruieren. Funde von Pollen von Kulturpflanzen geben Hinweise auf erste Siedlungen und die Anfänge des Ackerbaus. Ferner wurden in den europäischen Mooren zahlreiche Bohlenwege freigelegt und etwa 600 Leichenreste gefunden, welche als Moorleichen bekannt sind. Moore sind damit Archive der Kulturgeschichte seit der letzten Eiszeit (Moor-Archäologie). Gefährdung von Regenmooren Die größte Gefährdung der Regenmoore geht vom Torfabbau aus. Insbesondere der Abbau von Torf zur Herstellung von Gartenerde hat heute einen hohen Stellenwert eingenommen. Die Torfvorräte Mitteleuropas sind weitgehend aufgebraucht. Deshalb wird immer mehr Torf aus West-Sibirien und Kanada importiert und gefährdet die dortigen meist noch großflächigen und weitgehend intakten Regenmoore. Die Gefährdung von Regenmooren durch die Moorkultivierung, das heißt die Gewinnung von landwirtschaftlichen Flächen, hat heute nur noch eine geringe Bedeutung. Intensivgrünland und Acker auf Regenmoorstandorten erfordern aufgrund der physikalischen Eigenschaften des Torfes (Sackung und Schrumpfung) mehrmalige Bearbeitungen sowie intensive Düngungen und sind daher nicht rentabel. Indirekte Einflüsse wie Mineralsalzeinträge durch Dünger aus der Landwirtschaft, Pestizide, sowie Nährstoff-, Mineralsalz- und schadstoffbelastetes Regenwasser aus häuslichen und industriellen Verbrennungsanlagen sind von größerer Bedeutung. Dadurch können noch intakte Regenmoore in ihrem hochmoortypischen Stoffhaushalt empfindlich gestört werden. Auswirkungen der Regenmoornutzungen Neben der durch die Entwässerung hervorgerufenen veränderten Pflanzen- und Tierwelt der Moore mit dem damit verbundenen Artenverlust, sind noch weitreichendere Folgen, regional wie global, zu berücksichtigen. Jede Entwässerung bedeutet auch eine Belüftung der Torfe. Damit werden Abbauvorgänge in Gang gesetzt, die unter dem Begriff „oxidativer Torfverzehr“ zusammengefasst werden. Durch diesen Vorgang wird die Funktion der Regenmoore als Stoffsenke (siehe oben) aufgehoben. Die Stoffe, welche bis dahin im Moor festgelegt, also entsorgt waren, werden nun den Kreisläufen der Natur wieder zugeführt. Beispielsweise wird der seit Jahrtausenden gespeicherte Stickstoff in Form von Ammoniak (NH3), molekularem Stickstoff (N2), Stickstoffoxiden (NOx) und Distickstoffoxid (N2O) in die Atmosphäre freigesetzt. Das freigesetzte Nitrat (NO3−) gelangt in gelöster Form in die Gewässer und belastet schließlich das Grund- und Trinkwasser. Das Distickstoffoxid, auch Lachgas genannt, hat sogar globale Folgen, da es sowohl am Ozonabbau als auch am Treibhauseffekt beteiligt ist. Verstärkt werden diese Effekte noch durch die Freisetzung von Kohlendioxid. Auch Phosphor wird mobilisiert und belastet in Form von Phosphat (PO43−) die umgebenden Gewässer und trägt zu deren Eutrophierung bei. Schutzmaßnahmen Erst in den letzten Jahrzehnten wurde die Bedeutung der Hochmoore erkannt. Es setzte sich die Einsicht durch, zumindest die noch vorhandenen Hochmoore zu schonen und soweit möglich zu regenerieren. Der Schutz der verbliebenen naturnahen Hochmoorreste ist umso dringlicher, weil Hochmoore aufgrund ihrer jahrtausendelangen Entwicklungszeit unersetzbare, in absehbaren Zeiträumen nicht wiederherstellbare Lebensräume sind. Moore im weiteren Sinne sind heute auf nationaler und internationaler Ebene weitestgehend gegen Eingriffe und Beeinträchtigungen geschützt. Aber immer noch stehen wirtschaftliche Interessen im Vordergrund, so dass die letzten Regenmoore weiterhin akut von der völligen Zerstörung bedroht sind. Auf internationaler Ebene greift die Ramsar-Konvention auch für Regenmoore. Im Februar 1976 trat Deutschland der Ramsar-Konvention, einem internationalen völkerrechtlichen Vertrag zum Schutz der Feuchtgebiete, bei. In Deutschland gibt es derzeit 32 ausgewiesene Feuchtgebiete mit einer Gesamtfläche von 839.327 Hektar. Dazu gehören unter anderem das Wollmatinger Ried (1.286 ha), die Diepholzer Moorniederung (15.060 ha) und das Elbe-Weser-Dreieck mit dem Ahlenmoor. Aber noch längst nicht haben alle Länder die Konvention unterzeichnet beziehungsweise die entsprechenden Schutzmaßnahmen und Ausweisung geeigneter Gebiete ergriffen. Ramsar-Gebiete in Europa mit Regenmooranteilen: Region um Limbaži und Valmiera im Nordwesten Lettlands mit 5.318 ha Lielais Pelečāres purvs in Lettland, 5.331 ha Teiču dabas rezervāts, mit 19.337 ha größtes Reservat in Lettland Čepkelių raistas, Reservat in Südostlitauen mit 11.212 ha, davon 5.000 ha Moore Thursley und Ockley Moore in England mit 265 ha Waldviertel in Niederösterreich mit 13.000 ha Die Umsetzung der durch die Ramsar-Konvention eingegangenen Verpflichtungen erfolgt durch mehrere europäische Richtlinien. In Deutschland vor allem durch das Bundesnaturschutzgesetz und die Naturschutzgesetze der Länder. Inzwischen stehen in Niedersachsen, dem ehemals hochmoorreichsten Bundesland, rund 32.000 Hektar Regenmoorflächen unter Naturschutz (Niedersächsisches Moorschutzprogramm). In einem natürlichen Zustand befinden sich allerdings nur 3.600 Hektar. Bisher sind etwa 6.000 Hektar wiedervernässt worden. Bis zum Jahr 2020 sollen insgesamt 20.000 Hektar renaturiert werden. In der Schweiz sind seit Annahme der Rothenthurm-Initiative im Jahr 1987 alle Moore von nationaler Bedeutung unter Schutz gestellt. Alle rund 550 noch erhaltenen Hoch- und Übergangsmoore der Schweiz werden durch die Hochmoorverordnung vom 21. Januar 1991 (SR 451.32) geschützt. Sie müssen in ihrem vollen Umfang erhalten werden, und es gilt ein Bauverbot. In den Schutzgebieten sind einzig landwirtschaftliche Aktivitäten im bisherigen Umfang und Erhaltungs- und Regenerierungsmaßnahmen erlaubt. In vielen geschützten Objekten von nationaler Bedeutung sinkt allerdings die ökologische Qualität. Benötigt werden Pufferzonen und Regenerationen. Das BAFU unterstützt die Kantone mit Vollzugshilfen. Derzeit sind Bestrebungen im Gange, das Wassjuganmoor in Westsibirien als UNESCO-Weltnaturerbegebiet auszuweisen. Eine der Aufgaben der UNESCO ist die Verwaltung des Welterbes der Menschheit, welche durch die Unterorganisation World Heritage Committee durchgeführt wird. Das große Wassjuganmoor, das mit über fünf Millionen Hektar größte Moor der Erde, ist für ein Weltnaturerbegebiet prädestiniert, denn es zeichnet sich besonders durch seine weltweit einmaligen Makrostrukturen aus, die nur auf der Fläche derart großer Moore entstehen können. Hochmoor-Renaturierung Die Wiedervernässung trockengelegter Hochmoore ist der erste, zentrale Schritt einer Renaturierung. Wichtig und von Bedeutung ist bei der Hochmoor-Renaturierung die Vernässung mit mineralsalzarmem Wasser, also Regenwasser. Dieses erreicht man, indem man zuerst alte Entwässerungsgräben mit Hilfe von Dämmen wieder verschließt. Weiterhin müssen Gehölze auf der Fläche beseitigt werden, denn sie nehmen den lichtliebenden Torfmoosen das Licht, tragen zur Verdunstung und damit zum Verlust großer Mengen an Wasser bei. Eine Wiedervernässung dauert in der Regel einige Jahre. Gleichzeitig führt der steigende Wasserspiegel zu einem Absterben der unerwünschten Vegetation. Über einige Jahrzehnte hinweg soll es dann zur Wiederherstellung naturnaher Bedingungen kommen. Hochmoorpflanzen sollen sich wieder ausbreiten. Langfristiges Ziel, das heißt in Jahrhunderten, ist schließlich die vollständige Regeneration. Die Hochmoor-Regeneration ist dann erreicht, wenn die vernässte Moorfläche wieder zu einem lebenden und torfbildenden, also wachsenden, Hochmoor geworden ist. Auch teilabgetorfte Moore können unter bestimmten Bedingungen so hergerichtet werden, dass eine erneute Hochmoorentwicklung bzw. -bildung möglich erscheint. Zunächst werden die Torfabbauflächen, bei denen eine Resttorfmächtigkeit von mindestens 50 Zentimeter erhalten geblieben ist, planiert. Dann werden sogenannte Polder, das sind Regenrückhaltebecken aus Torf, angelegt und mit Torfdämmen umgeben. Es erfolgt wie in entwässerten Restmooren eine Wiedervernässung, Regeneration und möglicherweise eine Renaturierung. Heute kann noch nicht entschieden werden, ob ein erneutes Moorwachstum möglich ist bzw. sein wird. Bisher ist keines der Renaturierungsprojekte bis zu einer Regeneration herangereift. Dennoch haben etliche Renaturierungsmaßnahmen bis heute gezeigt, dass sich durchaus moorartige Bedingungen einstellen. Besonders die steigende Umweltbelastung und die Mineralsalzanreicherung des Regenwassers könnten Gegenspieler einer positiven Moorentwicklung sein ebenso ein sich möglicherweise veränderndes Klima. Diese Hochmoorentwicklung verläuft als ein dreiphasiger Prozess mit jeweils unterschiedlicher Zeitdauer über die Wiedervernässung und Renaturierung zur Regeneration: Um die CO2-Bilanz zu verbessern, setzt Schottland auf großflächige Renaturierungen. In der Schweiz erprobt man die sog. Zuger Methode, nach dem innerschweizer Kanton Zug benannt, eine von zwei Moorspezialisten und einem Naturschutzbeauftragten entwickelte Vorgehensweise, bei der zunächst die alten Entwässerungsgräben mit Holzschaltafeln gestaut und dann mit Sägemehl aufgefüllt werden. Dieses stellt ein nährstoffarmes Füllmittel dar und so vermeidet man Torfabtrag aus bestehendem Torfvorkommen. Kultur- und Zeitgeschichte Wie die Menschen Regenmoore und Regenmoorlandschaften wahrgenommen haben, ist in Dichtung, Literatur und Malerei überliefert. Während dem Wald unzählige Dichtungen und Gemälde gewidmet wurden, spielten Moore als Gegenstand künstlerischer Darstellungen nur eine vergleichsweise untergeordnete Rolle. Die Unwirtlichkeit der großen, nicht kultivierten Moore waren den Menschen bis in das 20. Jahrhundert hinein unheimlich. Sie wurden fast immer als düstere, abstoßende, unwirtliche, verzauberte, sogar todbringende Orte beschrieben. Aus diesen Gründen ranken sich schon seit Urzeiten unheimliche Sagen und Mythen um die Moore. Moore wurden als Aufenthaltsort für böse Geister angesehen. Erscheinungen wie Irrlichter haben diese Einstellungen verstärkt. Diese Irrlichter erklären sich aus sich selbst entzündenden Sumpfgasen, die in Mooren durch bestimmte Bakterien gebildet werden und durch Spalten austreten können. Diese Irrlichter sind so gut wie verschwunden, denn nahezu alle Moore sind durch Entwässerungen in ihrem natürlichen Wasser- und Stoffhaushalt verändert. Neben den düsteren Darstellungen gibt es aber auch romantisch-verklärte Beschreibungen der Regenmoorlandschaften „[…] in der Erhabenheit und Schönheit mit dem Grauen einer trostlosen Öde dicht nebeneinander wohnten.“. Nachdem die planmäßige und großflächige Nutzung der Moore begonnen hatte, gesellten sich Darstellungen hinzu, die sich mit dem beschwerlichen Leben der ersten Moorkolonisten befassen. Die neu im Moor angesiedelten Bauern, die sich mit der Aussicht auf eigenes Eigentum und Befreiung von Steuern und Militärdienst bewarben, hatten es schwer. Der Spruch „Den Eersten sien Dod, den Tweeten sien Not, den Drütten sien Brod“ (Dem Ersten der Tod, dem Zweiten die Not und dem Dritten das Brot) galt wohl in allen Moorgebieten. Aufgrund ihrer Unwegsamkeit waren Hochmoore gerade gut genug, um entwurzelte Menschen und Strafgefangene anzusiedeln und im Dienste des Staates auszubeuten. Ein schlimmes Kapitel der Zeitgeschichte ist die Zwangsarbeit der Häftlinge in emsländischen Konzentrationslagern, das in dem Lied „Wir sind die Moorsoldaten“ in die Geschichte eingegangen ist. Gefahren für Besucher Moore sind unwegsam, sie zu durchqueren ist beschwerlich und man kann sich in den scheinbar unendlichen Weiten unberührter großer Moore in der Wildnis verirren. Es wurde und wird angenommen, dass man in den Mooren versinken könne, weil Körper angeblich nach unten gezogen würden. Dies ist jedoch ein Mythos. Da Torfschlamm eine wesentlich höhere Dichte als Wasser hat, ist es sogar schwierig, Körper im Moor zu versenken. Ertrinken kann man lediglich in tiefgründigeren Kolken, die bei schlechter Sicht (Nebel) nicht rechtzeitig erkannt werden. Bricht man in Schlammlöcher oder Schwingrasen auf Wasserflächen ein, kann man dort nicht vollständig untergehen. Auf Schwingrasen wird man sich in der Regel wieder hochziehen können, bei großen Schlammlöchern besteht jedoch die Gefahr, sich ohne fremde Hilfe nicht mehr befreien zu können. Je nach Witterung ist dann Unterkühlung, Erfrieren oder auch Verhungern möglich. Die Zentren intakter Regenmoore waren großteils immer begehbar, wenn auch unter erschwerten Bedingungen. In allen Zeiten mussten die Menschen Moore überqueren. Wo es die Größe des Moores erlaubte, wurden sie weiträumig umgangen. Waren sie zu groß, wurden Knüppeldämme angelegt und später solidere Bohlenwege. Die Funde von Moorleichen beweisen, dass es sich nur selten um Verunglückte handelt, sondern dass diese meist eines gewaltsamen Todes gestorben sind. Dichtung und Literatur In ihrem Gedicht „Der Knabe im Moor“ aus dem Jahr 1842 beschreibt die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff die bedrückende Stimmung der Moorlandschaft. Romantisch-verklärt beschreibt der Botaniker August Grisebach (1840–1879) die Regenmoorlandschaften (in Overbeck 1975): Auch Rainer Maria Rilke befasst sich mit Mooren und setzt das beschwerliche Leben der Moorbauern wie folgt literarisch um (in Succow & Jeschke 1990): Sir Arthur Conan Doyle siedelte seine Kriminalgeschichte „The Hound of the Baskervilles“ in der Moorlandschaft von Dartmoor an. Landschaftsmalerei In Worpswede, einem kleinen Ort im Teufelsmoor bei Bremen hatten sich um 1900 einige Maler in einer Künstlerkolonie zusammengefunden, die in bewusster Abkehr von der akademischen Malerei den Kontakt zur Natur suchten und sich von ihr zu einer bis dahin nicht gekannten, neuen Ästhetik inspirieren ließen. Ihr Vorbild waren die französischen Impressionisten. Die Maler schufen eine Reihe von Gemälden, welche die damals bereits stark anthropogen überformte Moorlandschaft Nordwestdeutschlands zeigen. Die wichtigsten Vertreter dieser ersten Generation Worpsweder Künstler sind: Heinrich Vogeler, Otto Modersohn, Paula Modersohn-Becker, Hans am Ende, Fritz Mackensen und Fritz Overbeck. Das Gemälde von Fritz Overbeck „Im Moor“ (um 1900) zeigt verschiedene Abbaustadien eines Hochmoores. Fritz Mackensens „Einsame Fahrt“ oder Hans Endes „Weites Land“ zeigen Torfkähne und verheidete Moorflächen. Ein eindrucksvolles Landschaftserlebnis zeigt das Gemälde von Otto Modersohn „Herbst im Moor“ (1895). Zeitgeschichte Am 27. August 1933 wurde im KZ Börgermoor das Lied Die Moorsoldaten von KZ-Insassen zum ersten Mal aufgeführt. Es beschreibt die bedrückende Situation der Häftlinge, die im Rahmen der Zwangsarbeit Torf mit dem Spaten stechen mussten und aus dieser Perspektive das Moor ganz anders wahrnehmen mussten: Literatur M. Succow, M. Jeschke: Moore in der Landschaft. Entstehung, Haushalt, Lebewelt, Verbreitung, Nutzung und Erhaltung der Moore. Thun, Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-87144-954-7. H. Joosten, M. Succow: Landschaftsökologische Moorkunde. E. Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 2001, ISBN 3-510-65198-7. Heinz Ellenberg: Vegetation Mitteleuropas mit den Alpen in ökologischer, dynamischer und historischer Sicht. 5., stark veränderte und verbesserte Auflage. Ulmer, Stuttgart 1996, ISBN 3-8001-2696-6. J. Eigner, E. Schmatzler: Handbuch des Hochmoorschutzes. Kilda, Greven 1991, ISBN 3-88949-176-6. Claus-Peter Hutter (Hrsg.), Alois Kapfer, Peter Poschlod: Sümpfe und Moore – Biotope erkennen, bestimmen, schützen. Weitbrecht, Stuttgart/ Wien/ Bern 1997, ISBN 3-522-72060-1. H. Joosten: Denken wie ein Hochmoor. Hydrologische Selbstregulation von Hochmooren und deren Bedeutung für Wiedervernässung und Restauration. In: Telma. Hannover 23.1993, S. 95–115, F. Overbeck: Botanisch-geologische Moorkunde. Wachholtz, Neumünster 1975, ISBN 3-529-06150-6. Weblinks Das Ewige Meer (Beschreibung eines Hochmoorrestes in Ostfriesland) (sehr informative Seite über Moore in Irland, englisch) (PDF; 35 kB) Bargerveen, Renaturierungsgebiet im Bourtanger Moor; in der niederländischsprachigen Wikipedia Einzelnachweise Ökosystem !Regenmoor Biotoptyp Landschaftstyp
1790919
https://de.wikipedia.org/wiki/Nahrungstabu
Nahrungstabu
Als Nahrungstabu wird das Phänomen bezeichnet, dass bestimmte Tiere, Pflanzen oder Pilze, die prinzipiell essbar sind, von einer bestimmbaren sozialen Gruppe oder in einem Kulturraum mit einem Tabu belegt und daher nicht verzehrt werden. Es gibt kein Nahrungstabu, das universelle Gültigkeit besitzt. Viele dieser Tabus sind nicht schriftlich fixiert, werden jedoch im jeweiligen Gültigkeitsbereich dennoch als bindend aufgefasst und beachtet. Da Genussmittel nicht zu den Nahrungsmitteln gezählt werden, wird zum Beispiel das Alkoholverbot im Islam wissenschaftlich nicht als Nahrungstabu aufgefasst. Nicht als Nahrungstabu behandelt wird auch die zeitlich begrenzte Meidung bestimmter Nahrungsmittel beim Fasten. Mit der Erforschung von Nahrungsverboten beschäftigen sich mehrere Wissenschaften, vor allem Anthropologie, Ethnologie, Ernährungssoziologie und Nahrungsforschung. Einführung Der Mensch ist ein Allesfresser (Omnivore), kann also sowohl tierische als auch pflanzliche Nahrung aufnehmen und verdauen. Dennoch wird in allen bekannten Kulturen eine Nahrungsauswahl getroffen, so dass unterschieden wird zwischen bevorzugten, weniger bevorzugten, zu meidenden und verbotenen Nahrungsmitteln. Nur die strikte Meidung unverdaulicher und giftiger Substanzen ist physiologisch begründbar. Alle anderen Nahrungsverbote und -meidungen gelten als sozio-kulturell erworben und differieren in verschiedenen Kulturen, Nationen oder Gruppen. Die menschliche Nahrungsauswahl wird im Unterschied zu der bei Tieren nicht durch den Instinkt gesteuert. Studien haben ergeben, dass Kleinkinder bis zum Alter von etwa zwei Jahren noch grundsätzlich bereit sind, alles in den Mund zu stecken und zu essen, also auch Steine, Käfer oder Kot. Ekelgefühle werden sozial erworben und aufgrund des Verhaltens der Umwelt erlernt, sind also nicht angeboren. Bei Tieren wurden noch nie wirkliche Ekelreaktionen beobachtet. Verbotene Nahrungsmittel werden oft mit einem Gefühl des Ekels assoziiert. Da dasselbe Nahrungsmittel, das in einem Kulturraum entschieden als nicht essbar angesehen wird, in einem anderen als Delikatesse gelten kann, zum Beispiel Hundefleisch, kann diese Reaktion nicht als Instinkt interpretiert werden; sie steht offenkundig nicht in Zusammenhang mit den Eigenschaften des prinzipiell essbaren Objekts. Die Fähigkeit, in Notsituationen wie einer Hungersnot Ekelreaktionen unterdrücken zu können und etwas Tabuisiertes zu essen, ist individuell unterschiedlich. Im Regelfall löst starker Widerwille beim Essen einen Brechreiz aus, der eine Nahrungsaufnahme unmöglich macht. Diese Ekelreaktion ist von einer Idiosynkrasie zu unterscheiden: Sowohl die hier beschriebene Ekelreaktion als auch die Idiosynkrasie sind zwar beides körperliche Abwehrreaktionen, die bereits im Vorfeld der Nahrungsaufnahme oder bei erstem Kontakt mit der Nahrung auftreten. Während eine Idiosynkrasie jedoch ihren Auslöser in einer tatsächlichen Unverträglichkeit, wie einer Allergie, hat, die zu gesundheitlichen Problemen führt, sollte das Nahrungsmittel gegessen werden, basiert die hier beschriebene Abwehrreaktion hingegen lediglich aufgrund des Widerwillens, sodass die eigentliche Nahrungsaufnahme trotz der körperlichen Ekelreaktion gesundheitlich ohne Probleme möglich wäre. Der überwiegende Teil der weltweit bekannten Nahrungstabus bezieht sich auf Fleisch und tierische Produkte, nur ein kleiner Teil auf Pflanzen. Daniel Fessler und Carlos David Navarrete fanden in zwölf untersuchten Kulturräumen insgesamt 38 Fleischtabus, aber nur sieben Pflanzentabus. Tatsächlich ist eine Bedrohung durch den Verzehr von Giftpflanzen realistischer als durch tierische Produkte im Allgemeinen – bei giftigen Tieren wäre nur der Verzehr der Gift produzierenden Organe gefährlich. Weltweit gelten die Chinesen als das Volk mit den wenigsten Nahrungstabus, in Europa die Franzosen. Anhand historischer Quellen lässt sich belegen, dass die Zahl der Nahrungstabus in Europa in der Neuzeit deutlich zugenommen hat. Erklärungsmodelle Es gibt mehrere Ansätze, um die Entstehung und Aufrechterhaltung von Nahrungstabus zu erklären. Die bekanntesten sind: der kulturmaterialistische oder ökonomisch-rationalistische Ansatz. Der bekannteste Vertreter des Kulturmaterialismus ist der amerikanische Anthropologe Marvin Harris (Good to eat. Riddles of Food and Culture, 1985). Dieser Ansatz geht davon aus, dass Nahrungstabus immer rational begründbar sind und Folge einer Kosten-Nutzen-Analyse im Hinblick auf effiziente Nahrungsversorgung. Das ist die „Theorie der optimalen Futtersuche“. Jede Kultur und jede soziale Gruppe entwickelt demnach Ernährungsgewohnheiten, die aufgrund der regionalen Gegebenheiten ökologisch und ökonomisch sinnvoll sind und den höchsten Nutzen versprechen. So weist Harris nach, dass die Kühe in Indien lebend sehr wertvoll sind bzw. waren, so dass es unklug wäre, sie zu schlachten und zu verspeisen; aus dieser Einsicht heraus entstand nach dieser Argumentation das Tabu der Heiligen Kühe. der sozio-kulturelle oder funktionalistische Ansatz. Die Vertreter dieses Modells gehen davon aus, dass Tabus in erster Linie der Stärkung der Gruppenidentität und der Abgrenzung von anderen Gruppen dienen. Die Nahrungstabus stehen somit im Dienst einer sozialen Ordnung. Tabuisiert werden gezielt solche Speisen und Lebensmittel, die von den Gruppen gegessen werden, von denen eine Abgrenzung angestrebt wird. Ein bekannter Vertreter dieses Modells ist Frederick J. Simoons (Eat Not This Flesh. Food Avoidances in the Old World, 1967). Dieser Ansatz kann in der Regel jedoch nicht erklären, warum gerade ein bestimmtes Nahrungsmittel tabuisiert wird, nicht irgendein anderes. Die Bedeutung der jeweiligen Nahrung wird nicht weiter hinterfragt. der strukturalistische Ansatz, der vor allem von Mary Douglas (Purity and Danger, 1966), Claude Lévi-Strauss und in Deutschland von Ulrich Tolksdorf vertreten wird. Nahrungsmittel werden bei diesem Erklärungsmodell als Symbole angesehen, die dabei helfen sollen, eine gewisse gedachte Ordnung in die Umwelt zu bringen. Jede Kultur trennt daher nicht nur Nahrung in rein und unrein, heilig und profan. Reine Nahrung gilt als essbar, unreine als nicht essbar. Für die Klassifikation werden bestimmte Kriterien gebildet. Abgelehnt werden von manchen sozialen Gruppen die Tiere, die in keine Kategorie hineinpassen. Ein abgewandeltes strukturalistisches Ernährungsmodell hat der Ethnosoziologe Edmund Leach eingeführt (Kultur und Kommunikation, 1974). Nicht essbar sind danach in der Regel Tiere, die entweder als zu fremd oder zu verwandt eingestuft werden, in Mitteleuropa also Raubtiere oder Insekten, aber auch Affen oder Hunde. Leach hat die Essbarkeit von Tieren in Beziehung gesetzt zu Regeln für eheliche Verbindungen. Ist die Beziehung zum „Objekt“ sehr nahe, dann gilt das Inzesttabu und ein Heiratsverbot, entsprechend sind Schoßtiere nicht essbar. Nähere Verwandtschaft bzw. räumliche Nähe bedeuten die Missbilligung einer Heirat, aber die Erlaubnis zu sexuellen Kontakten; entsprechend seien Haustiere (Nutztiere) als Jungtiere essbar. Nicht verwandt, aber auch nicht sehr fern entsprechen der Heiratserlaubnis und der Essbarkeit von Wildtieren. „Sehr fern“ schließt engere soziale Kontakte bei Menschen aus und die Essbarkeit von Tieren, die als „zu wild“ oder „zu fremd“ abgelehnt werden. der evolutionspsychologische Ansatz, vertreten von Fessler/Navarrete. Diese Forscher gehen davon aus, dass Emotionen die Basis von Nahrungstabus sind, und argumentieren damit, dass das Gefühl des Ekels sich im Laufe der Evolution herausgebildet habe, um die Nahrungsauswahl zu erleichtern und das Risiko, an „falscher Nahrung“ zu sterben, zu minimieren. Dieses Risiko sei bei Fleisch größer als bei Pflanzen. Diese Ekelgefühle seien durch Übelkeit und Erbrechen nach Verzehr des Falschen gewissermaßen im Gehirn verankert worden. Die Autoren schreiben: „… für viele Tabus war Ekel der Auslöser, der ein Kaskaden-Phänomen in Gang setzte, bei dem normative Moralisierung und egozentrische Empathie erst später eine Rolle spielten.“ Fleisch biete sich durch seine animalische Herkunft stärker als Projektionsobjekt für symbolische Zuschreibungen und so genanntes Magisches Denken an als pflanzliche Lebensmittel, was zur Verstärkung der Tabuisierung beitrage. Dieser Ansatz ist angreifbar, denn es scheint durch Studien erwiesen, dass Ekel nicht angeboren und daher kein Instinkt ist; angeboren sind lediglich gewisse, sehr elementare Geschmackspräferenzen, die bei allen Menschen relativ ähnlich sind, wie die Vorliebe für Zucker, und im Laufe des Erwachsenwerdens häufig verschwinden. Alle diese Überlegungen haben den Nachteil, dass sie nicht einmal die Mehrzahl aller bekannten Nahrungstabus zufriedenstellend erklären können. Eva Barlösius: „Es ist höchst unwahrscheinlich, dass so unterschiedlichen Phänomenen wie dem Tötungsverbot von Rindern in Indien, der Ablehnung von Pferdefleisch in Nordeuropa, dem Widerwillen gegen Hunde- und Katzenfleisch in Europa und Nordamerika und dem mosaischen und islamischen Schweinefleischtabu jeweils das gleiche verursachende Prinzip zugrunde liegt.“ Religiös begründete Nahrungstabus Rindfleisch Eines der bekanntesten Nahrungstabus ist das religiös begründete Verbot für Hindus, Rinder zu schlachten und zu essen. Vor allem milchgebende Kühe gelten als heilig und unantastbar. Die Kuh gilt als Verkörperung der Göttin Prithivi Mata, Mutter Erde. Außerdem wuchs Krishna, eine Inkarnation des Gottes Vishnu, hinduistischer Überlieferung zufolge in der Familie eines Kuhhirten auf und wird auf Abbildungen häufig als Hirte mit einer Kuh dargestellt. Ein Stier namens Nandi ist das Begleittier des Gottes Shiva. Für manche Hindus bedeutet die Wiedergeburt als Kuh die Stufe direkt unterhalb der des Menschen und wer eine Kuh tötet, dessen Seele soll wieder auf die unterste von 87 Stufen zurücksinken. Hier gelten die Kuhmilch und alle Ausscheidungen von Kühen als rein. In den meisten indischen Bundesstaaten und Unionsterritorien ist das Schlachten von Rindern gesetzlich verboten oder nur eingeschränkt zulässig, eine einheitliche unionsweite Regelung gibt es in Indien jedoch nicht. Von Mahatma Gandhi ist das Zitat überliefert: Die Rinderverehrung unter Hindus ist jedoch durchaus unterschiedlich stark ausgeprägt. Während einige, besonders im Norden Indiens, ein enges emotionales Verhältnis zu den Tieren haben, verzichtet man im südlichen Kerala lediglich auf das Schlachten und verkauft alte Tiere an christliche oder muslimische Metzger; Rindfleisch wird dort auch gegessen. Von den 450 unteren Kasten, die es offiziell in Indien gibt, ist 117 der Verzehr von Rindfleisch erlaubt. Aus finanziellen Gründen kommt für sie meist nur das Fleisch verendeter Tiere in Frage. Für die Mehrheit der Hindus ist Rindfleisch jedoch tabu. Altersschwache und unproduktive Kühe können meist im Stall bleiben und werden weiter gefüttert; manchmal bringt man sie in speziellen Tierheimen unter, wo sie das Gnadenbrot erhalten. Laut dem Anthropologen Marvin Harris gab es in den 1980er Jahren in Indien rund 3000 solcher „Altersheime“ für Kühe, in denen etwa 580.000 Tiere lebten. Die meisten davon gehörten Anhängern des Jainismus. Die meisten Hindus glauben, dass die Inder bereits in alter Zeit Rinder verehrt und grundsätzlich nicht geschlachtet haben – der Rindfleischverzehr sei erst mit den Muslimen im Land verbreitet worden. Diese Meinung lässt sich jedoch anhand von Quellen widerlegen. Von 1800 bis 800 v. Chr. lebten die indoarischen Träger der vedischen Kultur in Nordindien, ein Nomadenvolk, das den Quellen zufolge Rinder sowohl aß als auch als Teil religiöser Rituale opferte. Die Opfertiere wurden nach der Tötung unter den Gefolgsleuten der Priester und Krieger aufgeteilt. Diese Darstellung entspricht den Forschungserkenntnissen der Indologen aufgrund der Auswertung altindischer Quellen. „Das Rind war in vedischer Zeit nicht nur eines der wichtigsten Opfertiere, sondern wurde auch im alltäglichen Leben gerne und viel verspeist, wie aus (…) zahlreichen (…) Texten hervorgeht. Noch zu Zeiten des Kaisers Ashoka in der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. gab es kein Rindertötungstabu. Die Brahmanen aßen Rindfleisch, und vor allem Gäste wurden mit Rindfleisch bewirtet (…). Im Laufe der Zeit wird Rindfleisch aber schließlich völlig und für alle Hindus tabu, während die von der Kuh stammenden Produkte für heilig, rein und purifizierend erklärt werden.“ Zu vedischer Zeit gab es bereits vier Kasten: die Priesterkaste der Brahmanen, eine Kriegerkaste, eine Bauern- und Handwerkerkaste und eine Knechtkaste. Als die Bevölkerung wuchs, wurde zunehmend mehr Ackerland gebraucht, so dass es weniger Weideland gab und damit auch weniger Rinder. So aßen bald nur noch die privilegierten Kasten das begehrte Fleisch. Um 600 vor unserer Zeitrechnung kam es durch Kriege und Überschwemmungen zu Hungersnöten, und zu dieser Zeit entstand der Buddhismus als konkurrierende Religion. Er verurteilte Tieropfer und das Schlachten von Tieren generell. Das Ergebnis dieses „Konkurrenzkampfs“ in Indien führte laut Harris zur Entstehung des Nahrungstabus im Zusammenhang mit den Rindern: „Neunhundert Jahre lang kämpften Buddhismus und Hinduismus um die Mägen und Köpfe der indischen Bevölkerung. Am Ende konnte der Hinduismus den Kampf für sich entscheiden, aber erst, nachdem die Brahmanen sich von der Tieropferfixierung des Rigweda gelöst, das Tötungsverbot […] als Prinzip übernommen und sich selbst als Beschützer des Rindes statt als sein Vernichter etabliert hatten. […] Statt Fleisch wurde jetzt Milch zur wichtigsten rituellen Nahrung im Hinduismus […]“. Wären die Rinder mit einem negativen Tabu belegt worden, hätte das das Aus für die Rinderzucht bedeutet, denn „unreine“ Tiere werden von Gläubigen nicht gehalten. Die Rinder spielten und spielen jedoch noch für die Ackerbau treibende Bevölkerung in Indien eine wichtige Rolle und sind unverzichtbar, denn sie dienen als Zugtiere auf dem Feld, liefern Milch, und der Kuhdung wird sowohl als Dünger als auch als Heizmaterial gebraucht. Außerdem sichert der Besitz nur einer einzigen Kuh vielen Kleinbauern überhaupt ihren Status als Besitzer eines winzigen Stück Landes. Das ist nach der Argumentation von Harris der Grund für die Ausbildung des Tabus der Heiligen Kühe. Das eigentliche Motiv habe mit der Religion nichts zu tun, sondern sei ökonomischer Art. Nach dem sozio-kulturellen Erklärungsmodell dient das Nahrungstabu der Stärkung der eigenen Identität der Hindus und der Abgrenzung von anderen Religionsgruppen wie Christen und Muslimen. Schweinefleisch Sowohl für Juden als auch für Muslime ist Schweinefleisch tabu. In beiden Religionen ist dieses Speiseverbot schriftlich fixiert. Die Tora verbietet den Verzehr einer ganzen Reihe von Tieren, darunter auch den des Schweins. So heißt es im 3. Buch Mose: Auch die Judenchristen in der Jerusalemer Urgemeinde befolgten die jüdischen Speiseverbote. Der Erfolg der christlichen Mission unter Nichtjuden warf nun die Frage auf, inwieweit man von bekehrten Heiden verlangen konnte, diese Vorschriften ebenfalls einzuhalten. Auf dem „Apostelkonzil“ um 48/49 n. Chr. einigte man sich zunächst auf einen Kompromiss, um weiterhin das gemeinsame Mahl von Judenchristen mit Heidenchristen zu ermöglichen: Die Heidenchristen sollten sich zumindest der „Unzucht“ enthalten sowie des Genusses von Ersticktem, Blut und Götzenopferfleisch (). Schweinefleisch wird hier nicht explizit erwähnt, gehörte bei Griechen und Römern aber mit zu den am häufigsten im Kult verwendeten Opfern. Besonders der „Heidenapostel“ Paulus lehnte die jüdischen Speisevorschriften jedoch grundsätzlich ab. Er hielt sie für ein Anzeichen von Glaubensschwäche , und schon in den Pastoralbriefen wird jeglicher Speiseverzicht als Undankbarkeit gegen die Gaben Gottes und als „Lehre der Dämonen“ gebrandmarkt . Die judenchristlichen Ansichten verloren nun schnell an Bedeutung und konnten sich nur noch lokal bis ins 4. nachchristliche Jahrhundert halten, besonders im Ostjordanland und in Syrien. Die Speisevorschriften im Koran sind denen des „Apostelkonzils“ ähnlich. Der Koran verbietet explizit nur das Schwein als einziges Tier: Allerdings gibt es im Islam eine grundsätzliche Einteilung der Lebensmittel in rein (halāl) und unrein (harām), die als bindend gilt, auch wenn sie nicht explizit auf dem Korantext basiert. Das Schweinefleischtabu in Judentum und Islam wird spätestens seit dem 12. Jahrhundert oft damit begründet, dass Schweine im wahrsten Sinne des Wortes unsaubere Tiere seien, die sich mit Vorliebe im Dreck wälzten und ihren eigenen Kot fressen, wie es bei nicht artgerechter Haltung oder Nahrungsmangel auftritt. Der jüdische Leibarzt des Sultans Saladin, Maimonides, schrieb: Da sie keine Schweißdrüsen haben, wälzen sie sich zur Abkühlung im Schlamm. Und auch Hühner und Ziegen fressen mitunter Kot. Eine wissenschaftliche Begründung aus dem 19. Jahrhundert begründete die „Unreinheit“ mit einer möglichen Erkrankung an Trichinose durch nicht vollständig gegartes Schweinefleisch. Allerdings kann auch das rohe Fleisch anderer Tierarten schwere Krankheiten hervorrufen. Die Trichinose wurde von Wissenschaftlern erst Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt und kann daher nicht der Grund für die Entstehung dieses Tabus gewesen sein. „Wäre der hygienische Aspekt die Hauptursache für das Verbot, dann müsste Rindfleisch noch dringender verboten werden, da es einen Parasiten enthalten kann, der die tödliche Krankheit des Milzbrandes hervorruft, während die Folgen einer Trichinenkontamination weniger schwerer Natur sind […]“. Archäologische Funde belegen, dass früher in der Region des Nahen Ostens Schweine gehalten und gegessen wurden. Zur Zeit des Neolithikums gab es dort noch ausreichend Eichen- und Buchenwälder, in denen Schweineherden Futter und Schatten fanden. Im Neuen Testament wird noch eine Schweineherde im Gebiet der hellenistischen Dekapolis erwähnt. Aufgrund des Bevölkerungswachstums wurden aber immer mehr Wälder gerodet, um Ackerland zu gewinnen. So wurde die Schweinehaltung in dieser heißen Gegend zunehmend unökonomischer, denn Schweine sind zwar Allesfresser, können im Gegensatz zu Wiederkäuern aber keine Pflanzen mit hohem Zellulosegehalt verdauen, also kein Gras. Als Haustiere müssen sie mit Getreide oder anderen Feldfrüchten gefüttert werden, wodurch sie, im Unterschied zu den Wiederkäuern, zu Nahrungskonkurrenten der Menschen werden. Im Gegensatz zu Rindern sind Schweine nicht als Zugtiere geeignet, sie sind keine Reittiere, sie lassen sich nicht melken, und ihr Fell ist weniger vielseitig verwertbar. Ihre Haltung war damit laut Harris unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten ab einem bestimmten Zeitpunkt unökonomisch und daher unerwünscht. Sowohl das Kerngebiet des Judentums als auch das des Islam liegen im Nahen Osten. „Das wiederholte Auftreten der Aversionen gegen das Schwein in verschiedenen Kulturen des Vorderen Orients stützt […] unsere Ansicht, dass das Schweinefleischverbot der alten Israeliten eine Reaktion auf weit verbreitete Lebensbedingungen und nicht die Folge eines Glaubenssystems war, das den Vorstellungen einer bestimmten Religion über reine und unreine Tiere entsprang.“ Das strukturalistische Erklärungsmodell geht im Gegensatz dazu davon aus, dass Nahrungstabus die Denkmodelle einer Gesellschaft widerspiegeln. Mary Douglas interpretiert die Speisegesetze des Alten Testaments als Teil einer Ordnung, in der die Attribute „rein“ und „unrein“ eine wichtige Rolle spielen. Heilig und rein seien alle Dinge, die makellos, vollkommen und eindeutig einzuordnen seien. Für Tiere werden in den Büchern Mose drei Gruppen gebildet für Tiere im Wasser, in der Luft und auf dem Land, wobei es für jede Gruppe bestimmte Kriterien gibt. Tiere, die alle Kriterien erfüllen, gelten als rein und damit essbar, die anderen als unrein. Das Schwein wird laut Douglas als unrein eingestuft, weil es den Kriterien für essbare Landtiere nicht entspricht. Allerdings räumt die Forscherin selbst ein, dass diese Kriterien offenkundig erst später schriftlich festgelegt wurden, um bereits bestehende Essgewohnheiten zu stützen und zu begründen. Eva Barlösius: „Einige der tabuisierten Speisen wurden lange bevor die mosaischen Speisegesetze entstanden, nicht gegessen. Die Klassifikation der Tiere nach dem Kriterium ‚paarzehige Wiederkäuer‘ wurde demnach erst im Nachhinein erfunden.“ Frederick J. Simoons als Vertreter der funktionalistischen Theorie sieht in dem Schweinefleischtabu die Folge eines Konflikts zwischen sesshaften und nicht-sesshaften Gruppen. Die Schweinehaltung sei für die Lebensform der Nomaden, also der alten Israeliten, ungeeignet gewesen und daher aufgegeben worden. Das Schwein sei so zu einem Symbol der Sesshaftigkeit geworden und aus diesem Grund abgelehnt worden. Sein Verzehr sei mit Volksstämmen assoziiert worden, die das Volk Israel bedrohten. Diese Erklärung hält der Islamwissenschaftler Peter Heine für plausibel, der darauf verweist, dass im alten Ägypten Schweine geschätzte Opfertiere waren. Er sieht als Hauptgrund des Tabus die „Betonung des Monotheismus gegenüber einer polytheistischen Umgebung“ an. Ein anderer, moderner Erklärungsversuch von Marvin Harris geht von ökonomischen und ökologischen Faktoren aus. Durch Vergrößerung der Ackerflächen, Holzeinschlag und Erosion gingen in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas die vormals ausgedehnten Wälder um 2000 v. Chr. auf nur noch kleine Restbestände zurück. Die Schweine, die bis dahin in Eichen- und Buchenwäldern Schatten, Nahrung und feuchten Schlamm zum Suhlen gefunden haben, verloren dadurch ihre ökologische Nische und wurden zum Nahrungskonkurrenten des Menschen, der sich mit Getreide und dem knapp gewordenen Wasser versorgte. Durch die veränderten Lebensbedingungen waren Schweine schwer und nicht mehr rentabel zu halten und zusätzlich wälzten sie sich durch den Wassermangel in ihrem Kot. In der Folge setzte sich die Haltung von Rindern, Schafen und Ziegen durch, da sie sich als Wiederkäuer von für Menschen unverdaulichen Pflanzen ernähren und besser an Wasserknappheit und Hitze angepasst sind. In Phönizien, Ägypten und Babylonien begann zu dieser Zeit der Verzehr von Schweinefleisch zunehmend verpönt und mit religiösen Verboten belegt zu werden, was später auch bei den Juden und schließlich den Muslimen auftrat. Sowohl islamische als auch jüdische Gelehrte lehnen solche Interpretationen und Überlegungen als „menschliche Auslegungsversuche des göttlichen Willens“ ab und berufen sich einfach auf die Festlegung Gottes, die ein Mensch weder interpretieren kann noch darf. Pferdefleisch Pferdefleisch gilt in manchen Ländern als ganz normales Nahrungsmittel wie Rind- oder Schweinefleisch, in anderen Ländern wird es tabuisiert oder zumindest gemieden. Die jüdischen Speisegesetze untersagen unter anderem den Verzehr von Pferdefleisch, im Islam gelten Pferde und Esel ebenfalls nicht als reguläre Lebensmittel, da sie als Nutztiere nicht halāl sind. Auch im Christentum galt lange Zeit ein päpstliches Schlachtverbot für Pferde als verbindlich. Noch im 16. Jahrhundert galt der Verzehr von Pferdefleisch als ein Beweis für Hexerei und teufelsbündlerische Umtriebe. Ernährungsphysiologisch spricht nichts gegen den Verzehr von Pferdefleisch. Das Fleisch ist eher mager und enthält deshalb wenig Nahrungsenergie. Zudem ist der Gehalt an bioverfügbarem Eisen vergleichsweise hoch. Knochenfunde und Höhlenmalereien aus der Steinzeit belegen, dass die Menschen damals häufig Pferde erlegt und verzehrt haben. Als in Europa aufgrund der Klimaveränderung die ausgedehnten Weideflächen von Wäldern verdrängt wurden, wurde Pferdefleisch die Nahrung hauptsächlich von typischen Reitervölkern wie den Mongolen und Hunnen. Die Pferde wurden jedoch nie nur für den Verzehr gezüchtet, denn als reine Fleischlieferanten sind Rinder und Schweine aufgrund der effektiveren Futterverwertung besser geeignet. Die Römer der Antike aßen den Quellen zufolge kein Pferdefleisch, allerdings Eselfleisch. Die Mauren verfügten über berittene Heere. Sie eroberten im Jahr 711 Spanien und überquerten 720 die Pyrenäen; 732 konnten sie in der Schlacht von Tours durch das Heer von Karl Martell mit Mühe geschlagen werden, sodass ihr weiterer Vormarsch gestoppt wurde. Die Kavallerie soll bei diesem Sieg eine wichtige Rolle gespielt haben. Zu dieser Zeit waren bei vielen heidnischen Völkern, auch den Germanen, Tieropfer für die Götter üblich; Pferde wurden regelmäßig geschlachtet. Nach der Schlacht von Tours im Jahr 732 schrieb Papst Gregor III. einen Brief an den Missionar Bonifatius, in dem er ihn aufforderte, den Verzehr von Pferden ab sofort zu untersagen: „Unter anderem hast du auch erwähnt, einige äßen wilde Pferde und sogar noch mehr äßen zahme Pferde. Unter keinen Umständen, heiliger Bruder, darfst du erlauben, dass dergleichen jemals (wieder, erg.) geschieht. […] Denn dieses Tun ist unrein und verabscheuungswürdig.“ Marvin Harris sieht einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Bedeutung der Pferde für die Ritter und dem drohenden Vormarsch der islamischen Mauren sowie dem päpstlichen Verbot. Die Pferde waren zu kostbar für die Verteidigung der christlichen Gebiete, als dass man sie hätte schlachten dürfen, folgert er. Dennoch wurden zu Tode gekommene Tiere in Europa weiterhin von den unteren Bevölkerungsschichten, die sich kaum anderes Fleisch leisten konnten, verzehrt. In Frankreich wurden im 18. Jahrhundert wiederholt Verordnungen erlassen, die den Verzehr von Pferdefleisch untersagten, was ein Hinweis darauf ist, dass dies immer wieder vorkam. Ein Meinungsumschwung soll durch die Schlacht bei Eylau im Jahr 1807 erfolgt sein, als der oberste Heeresarzt in Napoleons Armee, Baron Dominique Jean Larrey, den hungrigen Soldaten empfahl, das Fleisch getöteter Pferde zu essen. Mehrere französische Wissenschaftler betonten im 19. Jahrhundert den Nährwert dieses Fleisches und empfahlen es ausdrücklich für ärmere Familien. Während der Belagerung von Paris im Jahr 1871 durch die deutsche Armee sollen in der Stadt massenweise Pferde geschlachtet worden sein, um die Versorgung der Bevölkerung zu sichern. Während in Frankreich und einigen anderen europäischen Ländern der Konsum von Pferdefleisch im 19. Jahrhundert wieder zugelassen und sogar gefördert wurde, trifft dies auf Großbritannien und die Vereinigten Staaten nicht zu, obwohl dort der Katholizismus keine wichtige Rolle spielte. Harris erklärt das damit, dass es in England aufgrund seines Handelsimperiums seit dem 18. Jahrhundert keinen Mangel an anderem essbaren Fleisch gegeben habe, auch nicht für die unteren Schichten. Das gelte ebenso für die Vereinigten Staaten. Allerdings räumt er ein, dass Pferdefleisch in diesen Ländern nicht einfach als Lebensmittel ignoriert wird, sondern dass der Verzehr von den meisten Bewohnern ganz entschieden abgelehnt wird; es wird als „nicht essbar“ betrachtet, also tabuisiert. Dennoch behauptet er, dass viele Amerikaner bereit wären, Pferdefleisch zu essen, wenn es deutlich billiger als Rind- oder Schweinefleisch wäre. Er führt die existierenden Aversionen auch auf eine „Rindfleisch-Lobby“ und anhaltende Proteste von Tierschützern zurück, deren Motive er jedoch nicht hinterfragt. In Texas gibt es zwei große Pferdeschlachthöfe, die das Fleisch fast ausschließlich ins Ausland liefern; ein Teil wird zu Hundefutter verarbeitet. Die Aufrechterhaltung des Pferdefleischtabus in der heutigen Zeit und in Ländern, die überwiegend protestantisch sind, lässt sich schlüssiger mit einem anderen soziologischen Ansatz erklären, der davon ausgeht, dass einige Tiere nicht verzehrt werden, weil sie als Haustiere gelten, nicht als Nutztiere, und damit den Menschen zu nahe stehen, um als Nahrungsmittel in Frage zu kommen. Hasenfleisch Hirschfleisch In den Glaubensvorstellungen südamerikanischer Ureinwohner, insbesondere von Stämmen in Ostperu und Zentralbrasilien (bspw. Matsigenka) ist noch immer der Verzehr von Hirschen stark tabuisiert. Durch die beobachtbare Lebensweise, die ihn als einen Einzelgänger charakterisiert, der zudem „nachtaktiv, scheu, schnell [und] leise“ ist, haben sich Glaubensvorstellungen entwickelt, die ihn als einen Träger menschlicher Seelen ansehen. „Als Träger der menschlichen Totenseele gilt der Hirsch als Dämon, und diese dämonische Kraft, die dem Tier zugeschrieben wird, macht sein ‚Sanktionspotential‘ aus,“ betont Monika Setzwein die Ursprünge dieser Vorstellung. Allerdings folgen auf den Verzehr von Hirschfleisch keinerlei soziale Maßregelungen. Durch die Auslöschung der Lebewesen in dieser Region und christliche Indoktrinationskampagnen durch Missionare wird dieses Nahrungstabu langsam aufgebrochen. Blut Sowohl im Judentum wie im Islam ist der Verzehr von Blut, blutigem Fleisch und Lebensmitteln, die Blut enthalten, tabu. In der Bibel heißt es im 5. Buch Mose (12,23): „Doch beherrsche dich und genieße kein Blut, denn Blut ist Lebenskraft, und du sollst nicht zusammen mit dem Fleisch die Lebenskraft verzehren.“ Dieses Verbot wird in der Tora wiederholt; es heißt in Leviticus (7,26–27): „In all euren Wohnstätten dürft ihr keinerlei Blut genießen, weder von Vögeln noch von Vierfüßlern. Wer nur immer etwas Blut genießt, der soll aus seinem Volk hinweggetilgt werden.“ Im Koran lautet das entsprechende Verbot in Sure 5,4: „Verboten ist euch der Genuss von Fleisch verendeter Tiere, Blut, Schweinefleisch […]“. Diesem Tabu wird in beiden Religionen durch das Schächten als Schlachtmethode entsprochen, wobei das Tier ausbluten soll. Die jüdischen Speisegesetze schreiben auch vor, wie das Fleisch der als rein geltenden Tiere zuzubereiten ist, um das Blut daraus vor dem Verzehr zu entfernen. Selbst bei den Opferungen im Tempel, bei der die jüdischen Priester das Fleisch einiger Opfertiere essen durften, war der Genuss des Blutes der Opfertiere immer streng tabu. Weniger bekannt ist, dass der Verzehr von Blut in der Frühzeit des Christentums von der Kirche untersagt wurde. Im Neuen Testament verbietet der Apostel Jakobus den Verzehr von Götzenopferfleisch, Ersticktem und Blut. Überliefert ist ein Blutwurst-Verbot des oströmischen Kaisers Leo VI.: „Es ist uns zu Ohren gekommen, dass man Blut in Gedärme, wie in Röcke, einpackt und so als ganz gewöhnliches Gericht dem Magen zuschickt. Es kann unsere kaiserliche Majestät nicht länger zusehen, dass die Ehre unseres Staates durch eine so frevelhafte Erfindung (…) fresslustiger Menschen geschändet werde. Wer Blut zu Speisen umschafft, der wird hart gegeisselt, bis auf die Haut geschoren und auf ewig aus dem Lande verbannt.“ In einer Koranauslegung (Razi, Band 2) heißt es, das Schächten sei notwendig, da sich bei anders geschlachteten Tieren das Blut in den Adern staue, dort verderbe und somit das Fleisch ungenießbar mache; dessen Verzehr sei gesundheitsschädlich. Diese Annahme ist aber nicht haltbar, weil auch bei der konventionellen Schlachtung der Tod durch Ausbluten erfolgt, jedoch unter vorheriger Betäubung des Tieres. Mit den bekannten Erklärungsmodellen für Nahrungstabus (Unreinheit) ist das Bluttabu nicht oder nur unzureichend erklärbar. Nach jüdischem Glauben ist Blut aber nicht unrein, sondern „der Sitz der Seele“. Wenn eine Frau nach der Menstruation sieben Tage lang als unrein gilt, so bezieht sich das nicht auf ihre Blutung an sich, sondern weil in ihr ein Absterbeprozess stattgefunden hat, der den betroffenen Menschen unrein macht. Blut aus Wunden eines tödlich verletzten Menschen (auch in Kleidungen) muss so weit wie möglich mit beerdigt werden, damit kein Blut verloren geht. Das Nahrungstabu kann also nicht isoliert gesehen werden. Nichtreligiöse Nahrungstabus Hundefleisch Hundefleisch ist nur in wenigen Ländern ein Nahrungsmittel, während es in zahlreichen Ländern absolut tabu ist. Es ist jedoch nicht so, dass der Verzehr von Hunden in Europa nie üblich oder nur auf Notzeiten beschränkt war. Dieses Nahrungstabu hat sich hier den Quellen zufolge erst in jüngerer Vergangenheit entwickelt und weitgehend durchgesetzt, parallel zur wachsenden Bedeutung der Tierschutzbewegung in Europa. Hundefleisch wird unter anderem in China, Korea, Vietnam, auf den Philippinen, Osttimor und im Kongo gegessen. Es gibt jedoch ernsthafte Hinweise darauf, dass zumindest bis in die jüngste Zeit hinein in der Schweiz, wo der Privatkonsum legal ist, und auch in Deutschland Hunde gegessen wurden. Für die Zeit um 1900 gibt es offizielle Angaben über Hundeschlachtungen für Chemnitz, Dresden und Zwickau. Im Mai 2006 erregte ein Interview von Prinz Henrik von Dänemark Aufsehen, das in einer dänischen Zeitschrift erschien und in dem er offen äußerte, dass er sowohl ein Liebhaber lebender Hunde als auch von Hundefleisch sei, denn zum Verzehr bestimmte Hunde würden eigens dafür gezüchtet, das sei also vergleichbar mit Hühnern. Der Geschmack von Hunden erinnere an Kalbfleisch. Der Prinz war gebürtiger Franzose und in Indochina aufgewachsen, wo er Gerichte aus Hundefleisch kennen lernte. Rein ernährungsphysiologisch gesehen ist Hundefleisch zum Verzehr geeignet. Die Akzeptanz oder Ablehnung dieses Fleisches als Nahrung durch eine Gesellschaft oder soziale Gruppe ist, wie bei anderen Fleischsorten auch, als kulturell erworben anzusehen. Da Hunde in Europa und den Vereinigten Staaten beliebte Haustiere sind, wird die Diskussion über dieses Nahrungstabu bzw. dessen Nichtexistenz in manchen Ländern häufig sehr emotional geführt. Im Zusammenhang mit der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 in Südkorea gab es internationale Kritik daran, dass der Verzehr von Hundefleisch in Korea nicht explizit verboten ist. Die Schauspielerin und Tierschützerin Brigitte Bardot sprach beispielsweise von „barbarischen Unsitten“ und handelte sich dafür den Vorwurf des Rassismus ein. Haustiere, die gewissermaßen als Teil der Familie gelten und „gehätschelt“ werden, werden von Anthropologen wie Harris als Schoßtiere bezeichnet, um sie von Haustieren abzugrenzen, die eher als Nutztiere gelten wie Kühe und Schweine. In Europa und den Vereinigten Staaten gelten Schoßtiere wie Hunde überwiegend als nicht essbar. Harris bestreitet jedoch aufgrund seiner sozioökonomischen Theorie, dass die emotionale Bindung an Tiere der wesentliche Grund für die Entstehung eines Nahrungstabus sei. Er führt als Begründung Beispiele von ursprünglich lebenden Ethnien an, die Hunde oder Schweine im Haus halten und hätscheln, diese Tiere aber dennoch schlachten und essen, zum Beispiel die . Nach Harris ist das Hundetabu ein weiteres Beispiel einer Kosten-Nutzen-Rechnung: „Wir im Westen verzichten darauf, Hunde zu essen, nicht weil Hunde unsere Lieblinge unter den Tieren sind, sondern im Grunde deshalb, weil Hunde, da sie selbst Fleischfresser sind, eine ineffektive Fleischquelle darstellen; wir verfügen über eine große Fülle alternativer Quellen tierischer Nahrung, und Hunde können uns lebendig zahlreiche Dienste leisten, die den Wert ihres Fleisches und Kadavers weit übertreffen.“ Er stellt die Hypothese auf, dass in China Hunde gegessen werden, weil anderes Fleisch dort immer wieder knapp sei. „Und was den Dienst angeht, den Hunde anderswo als Gesellschafter für den Menschen leisten, so ist Gesellschaft das einzige, wovon man in einem Land mit einer Milliarde Einwohner jede Menge kriegt.“ Auch diese soziale Funktion von Hunden ist laut Harris eine „Dienstleistung“ und hat damit einen reinen Nutzwert. Asien In mehreren ost- und südostasiatischen Ländern wird Hundefleisch verzehrt und teilweise in Restaurants angeboten. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Alltagsspeise; Hundefleisch gilt in diesen Ländern unter Liebhabern als hochwertige Spezialität und hat fast den Rang eines Heilmittels, ist also nicht billig. In Seoul hat sich eine Protestbewegung gegen den Verzehr von Hundefleisch gebildet. Das bekannteste koreanische Gericht mit Hundefleisch ist eine Suppe namens Bosintang, es gibt jedoch auch noch einige andere Speisen. Es trifft zumindest für Restaurants nicht zu, dass beliebige Haushunde im Kochtopf oder in der Pfanne landen; für den Verzehr werden „Tafelhunde“ gezüchtet, die gu genannt werden, während die üblichen Haushunde gyun heißen. Dem Verzehr von Hundefleisch werden in Korea gesundheitsfördernde Wirkungen zugeschrieben, darunter die Förderung der Rekonvaleszenz nach Krankheiten, Heilung von Tuberkulose, Bekämpfung von „Hitzeauszehrung“ im Sommer sowie die Anregung der männlichen Potenz. In China und Malaysia, auf Taiwan und den Philippinen gilt Hundefleisch als Delikatesse und auch als männliches Aphrodisiakum. Besonders beliebt ist das Fleisch von Bernhardinern, die aus Europa importiert und dann weitergezüchtet werden, um „Fleischhunde“ zu produzieren. In Asien soll es über 60 entsprechende Zuchtstätten geben. Tierschützer aus Deutschland und der Schweiz haben offiziell gegen den Verzehr von Bernhardinern in China protestiert. In der Schweiz sammelte der Verein „SOS Saint Bernard Dogs“ rund 11.000 Unterschriften. Der Verzehr von Hundefleisch im eigenen Land wurde in diesem Zusammenhang nicht erwähnt. Da Hundefleisch in Asien keine Alltagsspeise ist und als seltene Delikatesse gilt, scheint Harris’ These, es diene als Ersatz für anderes Fleisch, wenig schlüssig. Stattdessen wäre die Hypothese zu überprüfen, dass Hunde in Asien im Gegensatz zu Europa und den Vereinigten Staaten keinen ausgeprägten Status als Schoßtiere haben, sondern wie Rinder und Schweine eher als Nutztiere angesehen werden. Für Thailand hingegen kann man dies nicht so formulieren. Es gibt Gegenden, in denen Hunde gegessen werden, zwar nicht als Alltagsspeise, aber auch nicht im Sinne besonderer Leckerbissen, sondern eher aus Laune, zur Abwechslung oder aus Verlegenheit. Doch selbst in Dörfern, wo dies stattfindet, sind es bestimmte Familien. Die Nachbarn würden nie auf den Gedanken kommen. In Thailand wird allerdings sehr wohl zwischen gewöhnlichen Haus- und Hofhunden und niedlichen gehätschelten Schoßhunden unterschieden, wobei Letztere als etwas Besonderes nicht gegessen werden. Anders ist es bei der chinesischen Minderheit im Lande und bei einigen Ethnien der Bergvölker, bei denen Verzehr vom Fleisch normaler Haushunde gängiger ist. Europa Für die meisten Europäer ist der Verzehr von Hundefleisch ebenso wie für US-Amerikaner ein Tabu. Innerhalb der EU ist das Schlachten von Hunden und der Handel mit Hundefleisch seit 1986 verboten. In der Schweiz ist zwar der Handel verboten, private Schlachtungen dagegen nicht. Medienberichte über den Verzehr von Hundefleisch in der Schweiz auch in jüngster Zeit sind durchaus als seriös einzustufen, und es scheint sich nicht um Einzelfälle zu handeln. Die Tierschützerin Edith Zellweger hat sich dazu wiederholt in Interviews geäußert und Beispiele genannt. Hundefleisch werde in der Schweiz illegal gehandelt, wobei es im Land drei große Anbieter gebe; ein Kilo koste rund 25 Schweizer Franken. „Nicht nur im Rheintal und im Appenzell, in der ganzen Schweiz werden Hunde und Katzen gegessen“, so Zellweger. Der Journalist Markus Rohner hat Interviews mit „Hundeessern“ geführt und veröffentlicht. Der Verzehr von Hundefleisch soll vor allem im ländlichen Raum üblich sein, wobei es auch Abnehmer in Deutschland geben soll. Außerdem gilt das Fett von Hunden als altes Heilmittel bei Husten und Atemwegserkrankungen. Die weite Verbreitung von Hunde- und Katzenfett, aber auch von Hundefleisch innerhalb der deutschsprachigen Volksmedizin ist belegt. Im Antiken Griechenland war der Verzehr des Fleischs verbreitet und Hippokrates empfahl gekochten Hund bei weiblicher Unfruchtbarkeit. Aktuelle archäozoologische Untersuchungen haben gezeigt, dass sich in Europa über die Jahrtausende hinweg die Nutzung des Hundes nicht nur auf Leistungen wie Sozialpartner und Arbeitstier beschränkte, sondern Hunde von der Steinzeit bis in die Moderne auch Fleisch- und Felllieferanten waren. Dass in mittelalterlichen Heilkundebüchern von Hunde- und Katzenfleisch abgeraten wird, lässt den Schluss zu, dass es im gesamten deutschen Sprachraum auch gegessen wurde. Im Quellenkatalog zum Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich (WBÖ) gibt es etliche Belege für den Verzehr dieses Fleisches in ärmeren Familien noch im 20. Jahrhundert. Bei Hungersnöten wurden häufig Hunde und Katzen gegessen. Dass Hunde getötet und deren Felle bzw. Häute verwertet wurden, lässt sich im deutschen Sprachraum durch Quellen belegen und somit ihr Status als Nutztiere. Die Häute wurden von Gerbern, Schustern, Handschuhmachern und Kürschnern verarbeitet. Es gab die Bezeichnung Hundeschläger; der so genannte Hundeschlag war eine Aufgabe der Abdecker, um die Zahl herrenloser Hunde in den Städten zu verringern. Die von Archäologen gefundenen Knochen aus der Zeit des Mittelalters belegen, dass zahlreiche Hunde gehäutet wurden, wobei die Tiere in der Regel Jungtiere waren. Die große Zahl solcher Funde lässt den Schluss zu, dass diese gezielt getötet wurden und keines natürlichen Todes gestorben waren. Für das Deutsche Reich existieren amtliche Statistiken über Hundeschlachtungen, die wie andere Schlachtungen offiziell angezeigt werden mussten. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden pro Jahr etwa 7000 Hundeschlachtungen registriert, wobei von zahlreichen illegalen Schlachtungen auszugehen ist. „Rechnet man die offiziellen Zahlen in Mengen um, so wurden vor dem Krieg in Deutschland pro Jahr ca. 84 t Hundefleisch geschlachtet, zwischen 1920 und 1924 waren es jeweils ca. 115 t – bei einer vielfach höheren Dunkelziffer.“ Die Statistiken zeigen regionale Schwerpunkte, die meisten offiziellen Schlachtungen gab es in Sachsen, Thüringen und Schlesien. „In Chemnitz gab es ein eigenes Hundeschlachthaus und auch eine Reihe von Wirtschaften, wo man Hundefleisch essen konnte. (…) Besonders als roher Tatar galt Hundefleisch als regionale Delikatesse (…)“. Zwischen 1899 und 1901 wurden in Chemnitz amtlich 884 Hunde geschlachtet, in Dresden 120, in Zwickau 93, in Leipzig 52. Hundefleisch galt zur Zeit des Ersten Weltkriegs in Deutschland als Armenkost. Das deutsche Fleischbeschaugesetz aus den 1940er-Jahren führt unter § 1 aber immer noch den Hund als Schlachttier auf. Die gehaltenen Haustiere hatten früher eine eindeutige Funktion. Schoßhunde kamen in der frühen Neuzeit zuerst bei adligen Damen in Mode, die diese mit sich herumtrugen. In England gewann die Tierschutzbewegung nachweislich erst im 19. Jahrhundert an Bedeutung, in dieser Zeit entstand parallel die Vegetarier-Bewegung, die jeglichen Fleischverzehr vor allem aus ethischen Gründen ablehnte. Gleichzeitig wurde die öffentliche Schlachtung in Schlachthäuser verlegt und damit den Blicken der Öffentlichkeit entzogen, die an diesen Vorgängen erstmals in der Geschichte zunehmend Anstoß nahm. Nach einem ethnosoziologischen Ansatz (Leach) gelten Hunde in den Gesellschaften als nicht essbar, in denen diese gewissermaßen als Familienmitglieder betrachtet werden und den Menschen aufgrund der emotionalen Bedeutung dieser Tiere zu nahe stehen, um als Nahrung in Frage zu kommen. „Hundefleisch wird in unserer Kultur nicht zurückgewiesen, weil es ernährungsphysiologisch nicht wertvoll wäre, sein Genuss gesundheitliche Schädigungen nach sich zöge oder weil es der Stabilisierung unserer kollektiven Identität diente, sondern weil mit ihm eine Bedeutung verknüpft ist.“ Insekten Insekten werden von der Mehrheit der Europäer überhaupt nicht als Nahrungsmittel in Betracht gezogen, obwohl viele Arten prinzipiell essbar sind und in vielen Kulturen Asiens, Afrikas und Südamerikas auch verzehrt werden. In Europa und in den Vereinigten Staaten werden Insekten jedoch in der Regel mit Schmutz assoziiert und rufen häufig Ekelgefühle hervor. Für den Verzehr von Insekten gibt es im westlichen Kulturraum den Fachbegriff Entomophagie, woraus hervorgeht, dass dies als ungewöhnliches und abweichendes Verhalten betrachtet wird. Anthropologen gehen jedoch davon aus, dass einige Insekten früher Bestandteil der europäischen Nahrung waren. Der antike Dichter Aristophanes bezeichnete Heuschrecken als „vierflügeliges Geflügel“, und die Römer aßen gerne die Raupen eines Schmetterlings namens Cossus (Weidenbohrer). Im Mittelalter veränderten sich jedoch die europäischen Essgewohnheiten, und die Insekten verschwanden aus dem Speiseplan. Dennoch soll noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Nordhessen und in Frankreich Maikäfersuppe zubereitet worden sein. Sowohl in der Bibel als auch im Koran wird der Verzehr von Heuschrecken erwähnt. Angesichts befürchteter Versorgungsengpässe mit Fleisch bei einem stetigen Anstieg der Weltbevölkerung gibt es bei Ernährungsexperten Überlegungen, Insekten als geeignete Nahrung auch in Europa populärer zu machen. Vereinzelt werden „Insektenmenüs“ von Restaurants angeboten, es sind entsprechende Kochbücher erschienen, doch sprechen sie in unserem Kulturraum bislang nur eine Randgruppe an. Zum Verzehr bestimmte Insekten fallen innerhalb der EU unter die Novel-Food-Verordnung und müssen für den Handel zugelassen werden. Ernährungsphysiologisch gesehen sind viele Insekten eine gute Proteinquelle, vor allem Larven. 100 Gramm afrikanische Termiten enthalten 610 Kilokalorien, 38 Gramm Protein und 46 Gramm Fett; 100 Gramm Nachtfalterlarven haben rund 375 Kilokalorien bei 46 Gramm Protein und 10 Gramm Fett. Getrocknete Bienenlarven bieten zu 90 Prozent Proteine und acht Prozent Fett. Dass Insekten eine unverdauliche Substanz namens Chitin enthalten, spricht nicht gegen ihre Verzehrbarkeit, da sich diese entfernen lässt oder unverdaut ausgeschieden wird; bei den nicht zu den Insekten zählenden Krebstieren wie Hummern und Garnelen muss die mit Kalk verstärkte und damit sehr harte Chitinschicht vor dem Verzehr entfernt werden. Einige Larven enthalten nur wenig Chitin. Der Geschmack von Termiten und Grillen soll an Kopfsalat erinnern, frittierte Heuschrecken schmecken süßlich. Es sind jedoch nicht alle Insekten essbar, ein Teil ist giftig. Weltweit gibt es zahlreiche Beispiele für Kulturen, die Insekten als Nahrungsmittel ansehen. In Teilen Ostasiens und Südostasiens werden Riesenwasserwanzen verzehrt, in Thailand werden frittierte Heuschrecken auf jedem Markt angeboten, in Mexiko Grashüpfer und andere Insektenarten, die teilweise mit Schokolade überzogen als Süßwaren verkauft werden. In Australien soll es vereinzelt Supermärkte geben, in denen Witchetty-Maden im Kühlregal angeboten werden. Diese Insekten waren in Australien traditionelles Bush Food der Aborigines der zentralen Wüsten. Viele Indianerstämme ernährten sich teilweise von Insekten. In Nevada und in Kalifornien trieben sie Heuschreckenschwärme systematisch auf Flächen mit glühender Kohle, wo sie direkt zum Verzehr geröstet wurden. Die Frage, wieso Insekten trotz ihrer Essbarkeit in Europa und den Vereinigten Staaten tabuisiert sind, beantwortet Harris wie immer mit seiner Theorie der „optimalen Futtersuche“ und einem ungünstigen Kosten-Nutzen-Verhältnis. Nur Insekten, die eine bestimmte Größe haben und gleichzeitig in Schwärmen auftreten, seien als Nährstoffquelle wirklich interessant. „Wenn […] eine natürliche Umgebung arm an Insektenfauna ist – besonders an großen und/oder schwarmbildenden Arten – und wenn sie gleichzeitig reich an domestizierten oder wildlebenden großen Wirbeltierarten ist, dann werden im Zweifelsfall zur Nahrung keine Insekten gehören.“ Dieser Ansatz erklärt jedoch nur, wieso Insekten als Nahrung gemieden werden, er erklärt nicht die ausdrückliche Tabuisierung und den damit verbundenen Ekel. Das räumt Harris auch selbst ein; schon der Hautkontakt mit krabbelnden Insekten wird von vielen als ekelhaft empfunden. Seine Erklärung dafür ist: „Ob eine Tierart zur Gottheit gemacht oder verabscheut wird, hängt davon ab, ob sie sonst noch einen Nutzen hat oder nur schädlich ist. […] Ein Schwein, das nicht gegessen wird, ist nutzlos […] Deshalb wird es verabscheut. Insekten, die nicht gegessen werden, sind schlimmer als Schweine […] Sie verschlingen nicht nur die Frucht auf den Feldern, sie fressen uns auch das Essen vor der Nase vom Teller weg, beißen uns, stechen uns, verursachen uns Juckreiz und trinken unser Blut. […] Sie sind durch und durch schädlich und haben nicht den geringsten Nutzen. […] Da wir sie ja nicht essen, steht es uns frei, sie mit dem Inbegriff des Bösen zu identifizieren […] und Sinnbilder des Schmutzes, des Angsterregenden, des Verhaßten aus ihnen zu machen.“ Diese Erklärung hat den Nachteil, dass sie auf andere Kulturräume offenkundig nicht zutrifft, denn dort werden – auch laut Harris – Insekten, die die Ernte gefährden und damit Nahrungskonkurrenten sind, bevorzugt gegessen, um ihre Zahl zu reduzieren. Harris schreibt beispielsweise: „Angesichts der Zerstörung, die die Heuschrecken im Bereich der pflanzlichen und der tierischen Nahrungsquellen anrichten, bleibt den davon Betroffenen gar nichts anderes übrig, als ihren Speiseplan zu erweitern und die Verzehrer zu verzehren.“ Auch in Europa sind schon Heuschreckenschwärme als Plage aufgetreten. David Gordon, Autor eines Insekten-Kochbuchs, widerspricht Harris und geht im Gegenteil davon aus, dass Insekten gerade deshalb in Agrargesellschaften tabuisiert werden, weil sie die Ernte und damit die Nahrungsgrundlage von Menschen zerstören. Das mache sie zu verhassten Schädlingen. Allerdings erklärt dies nicht, warum auch Insektenarten tabuisiert werden, die unschädlich bis nützlich für den Menschen sind. Es gibt also völlig unterschiedliche Deutungsversuche, je nachdem, welcher Kulturraum betrachtet wird. Neben den bereits genannten Problemen ist mit rationalen Argumenten auch schwer erklärbar, wieso andere Gliederfüßer wie Garnelen oder Krabben in Europa von vielen nicht als ekelhaft eingestuft, sondern als Lebensmittel und zum Teil sogar als Delikatesse akzeptiert werden. Pflanzentabus Während es in allen Kulturräumen Fleischtabus gibt, sind Pflanzentabus selten und vor allem von kleineren Ethnien bekannt; diese Tabus gelten mancherorts geschlechtsspezifisch, also nur für Männer oder nur für Frauen. Sie werden nur von wenigen Autoren überhaupt erwähnt, einige setzen den Begriff Nahrungstabu pauschal mit Fleischtabu gleich. Die Ethnologin Anne Meigs hat die Kultur und das soziale Leben des Stammes der Hua in Papua-Neuguinea erforscht und unter anderem eine Liste mit den Nahrungstabus der initiierten Männer erstellt. Alle tabuisierten Lebensmittel werden mit Weiblichkeit und weiblicher Sexualität assoziiert. Tabu sind zum Beispiel rote Gemüsearten, rötliche Früchte und rote Pilze, die mit der Menstruation in Verbindung gebracht werden, außerdem unter anderem „behaartes“ Gemüse (Schamhaar), Lebensmittel mit einem bestimmten Geruch (eine Pilzart und zwei Arten von Yamswurzeln), die angeblich an menstruierende Frauen erinnern, sowie wild wachsende Pflanzen wie wilde Bananen (wild = schädlich für Männer). Die Männer rechnen mit Sanktionen für den Fall, dass sie diese Nahrungstabus brechen. Es handelt sich dabei um eine Form von magischem Denken, bei dem Lebensmitteln besondere Eigenschaften zugeschrieben werden. Im westlichen Kulturraum wurden einige Pflanzen früher ebenfalls mit Sexualität assoziiert, allerdings wurden diese nicht mit einem Tabu belegt, sondern als Aphrodisiaka verzehrt. Ein Beispiel für ein historisches Pflanzentabu ist die Tabuisierung von Bohnen durch die Pythagoreer, die Anhänger des Pythagoras von Samos, und die Orphiker. Die Existenz dieses Tabus ist durch antike Quellen überliefert. Beide Gruppen haben selbst keine Erklärung für das Speiseverbot angegeben, so dass bereits von Zeitgenossen mehrere Deutungen gegeben wurden. Die verbreitetste Erklärung basiert auf dem Glauben an Wiedergeburt und Seelenwanderung bei Pythagoras und den Orphikern. Deshalb durfte nichts „Beseeltes“ gegessen werden, was ein Speiseverbot für Tiere (Fleisch und Fisch) bedeutete; daneben galten aber auch Bohnen als „beseelt“. Diese Annahme beruhte laut Aristoteles auf der Tatsache, dass der Bohnenstängel hohl und ungeteilt aus der Erde wächst, so dass eine direkte Verbindung zum Reich der Toten, zum Hades angenommen wurde, aus dem die Seelen aufstiegen. So sei der Ausspruch zu verstehen: „Bohnen zu essen ist so wie die Köpfe der Eltern zu essen“. Pythagoras soll unter Berufung auf Zarathustra auch erklärt haben, dass nach Entstehung der Erde zuallererst die Bohne entstanden und somit der Ursprung allen Lebens sei. Als Beweis führte er den Quellen zufolge an, dass eine zerbissene Bohne, die man in die Sonne legt, nach einiger Zeit den Geruch von Sperma abgebe. Ein anderer Beleg sei, dass eine in einem Topf in der Erde vergrabene Bohnenblüte, die nach einigen Tagen wieder ausgegraben wird, den weiblichen Genitalien ähnele und bei genauem Hinsehen dem Kopf eines Kindes. Die antiken Griechen sollen ausschließlich Ackerbohnen (Saubohnen) gekannt haben. Eine weitere Begründung für das Bohnentabu der asketisch lebenden Orphiker und Pythagoreer ist die im antiken Griechenland verbreitete Vorstellung, der Verzehr von Bohnen verstärke das sexuelle Verlangen. Zu den von Aristoteles genannten möglichen Gründen gehört auch, dass die Bohnen Genitalien ähneln. Schließlich gibt es noch die Vermutung, die gasbildende Wirkung von Bohnen bei der Verdauung habe eine Rolle gespielt, da Flatulenzen als animalisch betrachtet worden seien, die zudem die geistige Konzentration und die Träume stören würden. Die Krankheit Favismus war in der Antike noch unbekannt und wurde erst im 19. Jahrhundert mit dem Verzehr von Bohnen in Zusammenhang gebracht. Ein anderes historisches Pflanzentabu ist aus dem antiken Griechenland überliefert. Der Verzehr von Knoblauch galt als unerwünscht, und Knoblauchesser wurden von der Teilnahme an kultischen Handlungen für bestimmte Götter ausgeschlossen. Sie durften außerdem die Tempel der Göttin Kybele nicht betreten. Manche orthodoxe Brahmanen-Gruppen (z. B. Chaturvedi) meiden Knoblauch und Zwiebeln. Auch der Gründer der ISKCON A. C. Bhaktivedanta Prabhupada untersagte seinen Anhängern den Verzehr von Knoblauch und Zwiebeln, da dies laut den Shastras (die hinduistischen Schriften) für Vaishnavas verboten sei. Übersicht verschiedener Nahrungstabus Verbote und Meidung von Nahrungsmitteln Der Handel mit Erzeugnissen einiger Tierarten ist aus Gründen des Artenschutzes gesetzlich verboten. Zu diesen Arten gehören beispielsweise Schildkröten, Biber, einige Robbenarten und Wale. Allerdings haben nicht alle Staaten das Washingtoner Artenschutzabkommen unterzeichnet. Innerhalb der EU ist dieses Abkommen flächendeckend in Kraft. Darüber hinaus gelten weitere Verbote, zum Beispiel zur Gewinnung von Hunde- und Katzenfleisch, welches im Zusammenhang mit dem entsprechenden Nahrungstabu in der EU zu sehen ist, oder zur Verwendung von Rinderhirn bei der Nahrungsherstellung zum Schutz vor BSE-Infektionen. Ein gesetzliches Verbot ist aber nicht mit einem Tabu gleichzusetzen. Es gibt Tierarten, die unabhängig von einem Verbot von der Bevölkerungsmehrheit einzelner Länder gemieden werden – zwar werden sie noch als (potentielle) Lebensmittel angesehen, de facto aber nur von wenigen gegessen. Der Übergang zwischen grundsätzlichem Nahrungstabu und bloßer Meidung ist fließend. Die meisten Autoren nehmen daher keine definitive Unterscheidung vor und behandeln beide Phänomene als Tabu. Die Soziologin Monika Setzwein unterscheidet zwischen Verbot, Tabu und Meidung, wobei sie die allgemeine Akzeptanz von Tabus und von Meidungen höher einschätzt als die von Verboten. Sie definiert Tabu als „inneres Verbot“, das keiner besonderen Begründung bedarf, da es als Selbstverständlichkeit gilt. „Ein wesentliches Merkmal des Tabus ist seine emotionale Besetzung und sein häufig ambivalenter Charakter, in dem sich Ehrfurcht und Abscheu vereint finden. […] Von Verboten und Tabus können Nahrungsmeidungen abgegrenzt werden, die auf den sozialen Konnotationen der Speisen beruhen. Meidungen betreffen Substanzen, die […] nicht ausdrücklich verboten sind, jedoch aufgrund der gesellschaftlichen Assoziationen, die sie hervorrufen, von jeweils unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft abgelehnt werden.“ Laut Setzwein können sich sowohl Meidungen als auch Verbote im Laufe der Zeit in Tabus verwandeln. Für Klaus Eder sind Nahrungstabus grundsätzlich mit Emotionen und moralischen Aspekten verknüpft: „Eßtabus sind kulturell tiefsitzende und zugleich emotional hochbesetzte Essverbote. Sie drücken ein kollektives moralisches Gefühl oder moralisches Empfinden aus […]“ Diese Definitionen werden allerdings nicht von allen Autoren geteilt. Der nicht religiös begründete Nichtverzehr mancher Tierarten kann daher sowohl als Meidung als auch als Tabu interpretiert werden. Singvögel Für Singvögel gibt es innerhalb der EU keine Verzehrsbeschränkungen, jedoch Bejagungs- und Fangverbote für den Vogelfang begründet auf Naturschutz, Jagd, Artenschutz und der EG-Vogelschutzrichtlinie. Dennoch gelten Singvögel in den Ländern nördlich der Alpen seit geraumer Zeit nicht mehr als akzeptables Nahrungsmittel, während sie südlich der Alpen, vor allem in Italien und in Frankreich, als Delikatesse in Restaurants serviert werden. Besonders erwähnenswert ist hier die Fettammer, ein gemästeter Ortolan. Anhand von historischen Kochbüchern konnte man nachweisen, dass Singvögel jahrhundertelang auch im nördlichen Europa gegessen wurden, und zwar prinzipiell von allen Bevölkerungsschichten. Erst mit dem Erstarken der bürgerlichen Tierschutzbewegung im 19. Jahrhundert wandelte sich die Einstellung zum damals verbreiteten Vogelfang, wie der Kulturwissenschaftler Friedemann Schmoll gezeigt hat, der der Frage nachgegangen ist, wie aus „selbstverständlichen Lebensmitteln“ allmählich „unantastbare Geschöpfe“ wurden. Der Autor behandelt den Nichtverzehr von Singvögeln als Nahrungstabu, nicht als Meidung. Bekannte Vogelgerichte sind aus Italien Polenta e osei, aus Deutschland zum Beispiel Thüringer Meisensuppe, Helgoländer Drosselsoop oder die international bekannten und beliebten Leipziger Lerchen. Schmoll stellt fest, dass seit dem 18. Jahrhundert in Nordeuropa zunehmend Protest gegen den Verzehr von Singvögeln laut wurde. Die Forstwissenschaft habe zu dieser Zeit begonnen, den Wert dieser Vögel als biologische Schädlingsbekämpfer zu betonen. Diese Auffassung habe allmählich zu einem öffentlichen Meinungsumschwung geführt, die Vögel seien zunehmend als „gefiederte Freunde“ angesehen worden. „Damit war auch die Essbarkeit von Vögeln schwieriger geworden, denn gute Freunde – so die Gesetze des freundschaftlichen Umgangs – bringt man nicht einfach um die Ecke, um sie zu verspeisen.“ Generell begann das Bürgertum laut Schmoll in dieser Zeit – im Gegensatz zu Adel und Bauernschaft – eindeutige Sympathien für Tiere zu entwickeln und damit eine stärker emotional motivierte Einstellung zu Tötung und Verzehr von Tieren. Außerdem verlor der Vogelfang im 19. Jahrhundert wirtschaftlich stark an Bedeutung, da genügend anderes Fleisch zur Versorgung der Bevölkerung vorhanden war. Vogelfleisch wurde von einer gesuchten Delikatesse zu einer Speise für die Armen, die sich sonst kein Fleisch leisten konnten. In Bezug auf nationalistisches Gedankengut erhoben einige Autoren die Ablehnung des Singvogelverzehrs zu einem Zeichen der hochstehenden Zivilisation und Kultur eines Volkes. So erklärte Ludwig Reinhard 1912, dass die Deutschen sich als „Kulturmenschen“ so positiv von anderen Kulturen unterschieden: „Anders die gefühlsrohen, noch von der römischen Kaiserzeit (sich, erg.) an Blutvergießen und Tierquälerei […] erfreuenden Romanen, die diese kleinen Leichname gerupft, an dünnen Weidenruten aufgezogen, auf den Markt bringen und ihren Volksgenossen […] verkaufen.“ Allerdings musste Reinhard zugeben, dass Lerchen in Aspik ein bevorzugtes Gericht des deutschen Kaisers Wilhelm I. waren. Schildkröten Ein Beispiel für ein gesetzlich begründetes Nahrungsverbot ist das Importverbot für Meeresschildkröten, wobei die Art, die für die Fleischeinlage der echten Schildkrötensuppe verwendet wurde, Suppenschildkröte genannt wird. Dieses Verbot trat in Deutschland 1984 in Kraft; seit Ende der 1980er-Jahre sind keine Produkte aus Meeresschildkröten mehr im Handel. Die Meeresschildkröte gilt als gefährdete Art und steht unter dem Schutz des Washingtoner Artenschutzabkommens. Nach den jüdischen Speisegesetzen sind Schildkröten unrein und daher tabu. Die Schildkrötensuppe wurde im 18. Jahrhundert in Großbritannien erfunden und galt in Europa sehr bald als besondere exotische Delikatesse für das gehobene Bürgertum. Das Essen dieser Suppe wurde zum Statussymbol. Der Verzehr von Schildkrötenfleisch war jedoch schon vorher populär gewesen, es wurde ab dem 16. Jahrhundert in großen Mengen importiert und galt als sehr nahrhaft. Da die Wasserschildkröten als „Fische“ eingestuft wurden, war ihr Verzehr in der Fastenzeit zulässig, was den Konsum deutlich steigerte. Noch immer gelten diese Schildkröten in Südamerika als Fastenspeise. Allein in Mexiko werden nach Angaben von Tierschützern in der Woche vor Ostern trotz des Fangverbots etwa 10.000 Exemplare verzehrt. Der Import von Schildkröten nach Europa nahm im 19. Jahrhundert weiter zu, so dass ihr Bestand schon in dieser Zeit stark abnahm, was jedoch das Image der Exklusivität noch steigerte. Auch das Fleisch in Konserven war recht teuer. In der Nachkriegszeit wurde Schildkrötensuppe in Dosen in Westdeutschland ein begehrtes Produkt, das nun auch für die Mittelschicht erschwinglich war. Besonders populär war Schildkrötensuppe „Lady Curzon“. Seit den 1970er-Jahren verstärkte sich mit der wachsenden Bedeutung der Ökologie-Bewegung jedoch die Kritik am Verzehr von Schildkröten. Zwar gab es schon seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als Ersatz die Mockturtlesuppe aus Kalbskopf, jedoch nicht aus Artenschutzgründen, sondern wegen des hohen Preises der echten Schildkrötensuppe. Deutschland war bis 1984 ein bedeutendes Importland von Schildkrötenfleisch. Es ist davon auszugehen, dass es ohne Verbot nur von einem Teil der Bevölkerung in Europa gemieden und von vielen weiterhin gegessen würde. In Südamerika und Asien werden nach wie vor verschiedene Landschildkrötenarten, aber auch Suppenschildkröten verzehrt; in China werden Schildkröten auch zu angeblichen Potenzmitteln und diversen Arzneien verarbeitet. Allein in China sollen jährlich rund 20 Millionen Exemplare verzehrt werden. Weitere Wirbeltiere Auch Biber stehen unter Artenschutz, waren allerdings schon einige Zeit vorher aus den Kochbüchern verschwunden – die Art war vielerorts schon im 19. Jahrhundert ausgestorben. Ebenso wie die Suppenschildkröte waren Biber aufgrund ihres schuppigen Schwanzes im Mittelalter als „Fisch“ deklariert worden, so dass sie in der Fastenzeit gegessen werden durften. Vor allem der Schwanz galt als Delikatesse. Eichhörnchen wurden früher in Europa ebenfalls gegessen. In Deutschland fallen sie unter die Bundesartenschutzverordnung, in der Schweiz ist die Jagd seit 1989 verboten. In der Basler Kochschule von Amalie Schneider-Schlöth war noch 1877 zu lesen: „Eichhörnchenfleisch ist sehr fein und zart und gilt als ein besonders beliebtes Gericht.“ Es werde am besten als Ragout zubereitet. Innereien Traditionell wurden nach der Schlachtung von Rindern, Schweinen und Geflügel alle verwertbaren Teile gegessen und in irgendeiner Weise verarbeitet, nicht nur in armen Haushalten. Mittlerweile finden Innereien jedoch nur noch selten Verwendung in der Küche, der Anteil entsprechender Rezepte in Kochbüchern ist seit dem 19. Jahrhundert stark zurückgegangen. Der Engländer Stephen Mennell stellt fest: „Den heftigsten Widerwillen empfinden viele Menschen heute nicht gegenüber dem Fleischverzehr überhaupt, sondern insbesondere gegenüber bestimmten eßbaren Teilen von Tieren, die man als Innereien bezeichnet.“ Innereien lassen sich daher als Beispiel für die Meidung von Nahrungsmitteln auffassen, wobei die Ablehnung in einzelnen Ländern und auch regional unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Der zunehmende Widerwille betrifft nicht alle Innereien gleichermaßen; außerdem kann etwas, das von weiten Bevölkerungskreisen entschieden abgelehnt wird, von einer Minderheit gleichzeitig als Delikatesse angesehen werden, zum Beispiel Kalbsbries. „Sozialpsychologen könnten wahrscheinlich eine Guttman-Skala der Einstellungen zu Innereien aufstellen, mit steigender Ablehnung von Leber über Niere, Zunge, Bries, Hirn, Kutteln bis zu Hoden und Augen, in der die Amerikaner die höchste Stufe der Ablehnung, die Engländer einen Mittelplatz und die Franzosen […] die niedrigste Stufe einnehmen würden.“ In Deutschland ist der Verzehr von Innereien nach Angaben des Fleischerhandwerks vor allem durch die Angst vor BSE deutlich zurückgegangen. Für 1985 wurde noch ein jährlicher Pro-Kopf-Verzehr von 2,1 kg angegeben, 1995 waren es nur noch 1,2 kg, im Jahr 2003 sogar nur noch 600 Gramm. Da Innereien auch früher als weniger wertvoll und nahrhaft galten als das Muskelfleisch, wurden sie des Öfteren nach dem Schlachten an Suppenküchen für Arme und arme Familien verschenkt, was sie im Laufe der Zeit als typische Armenkost erscheinen ließ. Schon im 17. Jahrhundert enthielten englische Kochbücher weniger Rezepte für Innereien als französische. Im 20. Jahrhundert ging die Anzahl der Rezepte deutlich zurück. 1939 heißt es in einem Artikel in Wine and Food: „Es gibt eine ganze Reihe von Teilen des Tieres, die man gewöhnlich als unpassend für ein korrektes Essen betrachtet und die von Liebhabern meist mit leichten Schuldgefühlen verzehrt werden […]“ 1969 nannten bei einer Umfrage in Frankreich zu Aversionen gegen Lebensmittel zwar 4,1 Prozent der Befragten Innereien, aber doppelt so viele Sellerie und Rüben. Milch Während Milch und Milchprodukte in Europa und in den Vereinigten Staaten beliebte Nahrungsmittel sind, werden sie in anderen Kulturräumen von vielen Menschen abgelehnt und gemieden, zum Beispiel von vielen Asiaten. Das hat nichts mit dem Geschmack der Milch zu tun, sondern basiert auf der Tatsache, dass die Mehrheit der Weltbevölkerung im Erwachsenenalter nicht über das Enzym Lactase verfügt, das nötig ist, um den in der Milch enthaltenen Milchzucker (Lactose) abzubauen und zu verdauen. Dieses Phänomen heißt Laktoseintoleranz und ist genetisch bedingt. Säuglinge verfügen dagegen in allen Kulturen noch über dieses Enzym, das sie benötigen, um Muttermilch verdauen zu können. Der Körper stellt die Produktion im Regelfall nach etwa drei Jahren ein; die Lactoseverträglichkeit ist daher nicht die Regel, sondern eine genetische Abweichung. Ohne das Enzym gelangt der Milchzucker unverdaut in den Dickdarm und gärt dort, was zu Bauchschmerzen, Blähungen und Durchfall führt, wobei das Ausmaß der Beschwerden von der Menge abhängt. Der Verzicht auf Milch bei vielen Völkern ist keine Tabuisierung, sondern ein Beispiel für eine Meidung aus physiologischen Gründen. Die Viehzucht wurde erst vor rund 10.000 Jahren eingeführt, wahrscheinlich in der Uralregion, von wo aus sie sich ausbreitete. Erst seit diesem Zeitpunkt kamen Milch und Milchprodukte für die menschliche Ernährung in Frage, denn Wildtiere lassen sich nicht melken. Viehzüchter, die durch eine genetische Mutation in der Lage waren, sich von Milch zu ernähren, waren nach dieser Theorie überlebensfähiger und daher bei der Fortpflanzung im Vorteil, da Milch außer Fett und Eiweiß auch Kalzium enthält. Ein Kalziummangel führt bei Kindern zu Rachitis. Da Lactose im Darm die Absorption von Kalzium fördert, war Lactosetoleranz auch in dieser Hinsicht von Vorteil. Dies könnte vor allem in nördlichen Regionen gelten, wo aufgrund eher geringer Sonneneinstrahlung die körpereigene Bildung von Vitamin D nicht ausreicht, das ebenfalls die Kalziumaufnahme begünstigt. Die ethnischen Gruppen, die Milch vertragen, sind die Nachfahren dieser Viehzüchterstämme. In vielen Regionen der Erde spielte Viehzucht bis in die jüngste Vergangenheit hinein jedoch keine Rolle, so dass das Enzym Lactase überflüssig war. Im Gegensatz zu den Chinesen sind die meisten Inder in der Lage, Milch problemlos zu verdauen. In Indien spielt die Rinderhaltung traditionell eine große Rolle. Harris erklärt die unterschiedliche Entwicklung damit, dass in der chinesischen Feldwirtschaft auf Bewässerungsbasis und mit Terrassenanbau keine Zugtiere eingesetzt werden können, so dass die Haltung von Rindern sinnlos gewesen wäre. Schweine lassen sich nicht melken. Da Kalzium auch in dunklen Blattgemüsen enthalten ist, war Milch als Kalziumquelle nicht nötig. Dennoch hat sich in der jüngsten Vergangenheit in China die Milchwirtschaft entwickelt. Nach der Gründung der Volksrepublik im Jahr 1949 gab es bereits 120.000 Milchkühe, der jährliche Milchertrag betrug 250.000 Tonnen. Milch wurde nicht als Lebensmittel, sondern als Heilmittel angesehen und galt als Stärkungsmittel für Kranke. Seit einigen Jahren fördert die chinesische Regierung den Milchkonsum; seit 1999 gibt es die Kampagne „ein Glas Milch zur Stärkung unseres Volkes“ und das „Projekt Schulmilch“. Damit soll nach offiziellen Angaben die Kalziumversorgung der Bevölkerung verbessert werden. 2004 gab es rund 10 Millionen Milchkühe in der VR China, es wurden knapp 22 Millionen Tonnen Milch produziert. Der jährliche durchschnittliche Pro-Kopf-Konsum wurde mit 12 Liter angegeben, in den Städten lag er bei 25 Litern, in Peking bei 47 Litern. Rund 200 Millionen Chinesen (von 1,3 Mrd. Einwohnern) trinken mittlerweile zumindest in kleinen Mengen Milch. Käse gilt in China für die meisten jedoch weiterhin als „verdorbene Milch“ und ungenießbar. Lebendtiere Im ostasiatischen Raum (China, Japan, Korea) werden auch lebende Tiere (Schlangen, Oktopus, Hummer, Austern, „drunk(en) shrimp“, „Ying Yang fish“, „Ikizukuri“, „Odori ebi“, „Sannakji“, u. a. m.) serviert oder Fische so gebraten, dass etwa der Kopf noch „Leben“ zeigt, womit die Frische des Lebensmittels bewiesen werden soll. Laut Andreas Nieder, Professor am Institut für Neurobiologie an der Universität Tübingen, können Körperteile auch ohne Gehirn noch eine Weile aktiv sein: „Wenn Körperteile des Tieres vom Kopf abgetrennt sind und sich dennoch bewegen, sind noch kleinere Nervenansammlungen intakt.“ Das deutsche Tierschutzrecht verbietet lediglich das schmerzhafte Töten von Wirbeltieren, was etwa Oktopusse ausnimmt. Auch die sardische Käsespezialität Casu Marzu mit lebenden Maden fällt nicht unter dieses Gesetz. Kannibalismus Mittlerweile gilt Kannibalismus in fast allen Kulturen als starkes Tabu, das häufig als Maßstab für Zivilisation angesehen wird. Sozial akzeptiert wird der Verzehr von Menschenfleisch nur in Ausnahmesituationen, zum Beispiel bei Schiffbrüchigen, die nur so überleben können. Marvin Harris begrenzt den Begriff auf „den gesellschaftlich sanktionierten Verzehr von Menschenfleisch bei gleichzeitigem Vorhandensein anderer Nahrungsmittel“, wobei der Ausdruck Nahrungsmittel in diesem Fall umstritten ist. Archäologische Funde deuten darauf hin, dass Kannibalismus in der Frühgeschichte der Menschheit verbreitet war. Die ältesten entsprechenden Knochenfunde sind rund 350.000 Jahre alt und wurden in China gefunden. Auch aus der Zeit der Neandertaler gibt es solche Funde, die eindeutige Bearbeitungs- und auch Feuerspuren aufweisen, denn das Fleisch wurde offenkundig nicht roh verzehrt. Menschenopfer als Teil eines religiösen Kultes wurden in Bad Frankenhausen in Thüringen entdeckt. Anthropologen und Ethnologen unterscheiden im Allgemeinen vier Formen von Kannibalismus: den profanen Kannibalismus, bei dem Menschenfleisch als Nahrungsmittel angesehen wird den antisozialen Kannibalismus, auch Kriegskannibalismus genannt, bei dem gefangene Feinde getötet und gegessen werden den gerichtlichen Kannibalismus, bei dem Verurteilte (oft aus der eigenen Gemeinschaft) zur Strafe gegessen werden den rituellen Kannibalismus als Teil eines religiösen Kultes Sexueller Kannibalismus wird als Merkmal einer psychischen Störung oft von Nekrophilie begleitet und ist wissenschaftlich für die Fachgebiete Psychiatrie, Sexualmedizin, Psychologie und Rechtsmedizin von Bedeutung. Zum rituellen Kannibalismus werden zum Beispiel Begräbnisrituale gezählt, zu denen der Verzehr der Asche Verstorbener gehörte, etwa bei Indianern im Amazonasgebiet. Hintergrund ist die Vorstellung, dass der Geist der Toten so nicht verloren geht, sondern im Körper der Verwandten weiterlebt. Beim Stamm der Fore in Papua-Neuguinea wurden die bestatteten Toten nach kurzer Zeit durch die Frauen wieder ausgegraben, die dann das Fleisch verzehrten. Diese Praxis entstand nach Harris erst in den 1920er-Jahren, früher waren lediglich die Knochen nach einer gewissen Zeit wieder ausgegraben worden. In den 1950er-Jahren erkrankten vor allem Frauen dieses Stammes an einer bis dahin unbekannten Krankheit namens Kuru, die wahrscheinlich durch den Verzehr infizierter menschlicher Gehirne ausgelöst wurde. Harris erklärt die Einführung des Kannibalismus bei den Fore damit, dass die Frauen und Kinder des Stammes deutlich weniger Fleisch größerer Tiere zugeteilt bekamen als die Männer und sich überwiegend von Pflanzen, Fröschen und Insekten ernähren mussten. Sie litten daher unter Proteinmangel, so dass der Kannibalismus als Ausweg gedient habe. Marvin Harris geht davon aus, dass in den meisten Kulturen Menschenfleisch nur im Zusammenhang mit Kriegskannibalismus verzehrt wurde. Es sei für sie sinnvoller gewesen, Gefangene zu töten und zu essen als diese als Sklaven zu halten. „Die Tupinambá, Huronen oder Irokesen zogen nicht in den Krieg, um Menschenfleisch zu erbeuten; sie erbeuteten Menschenfleisch als ein Abfallprodukt ihrer Kriegszüge. […] Was sie taten, war ein ernährungspraktisch vernünftiges Vorgehen, wenn sie nicht eine tadellose Quelle tierischer Nahrung ungenutzt lassen wollten […]“. Die Tabuisierung des Kannibalismus habe nicht aus ethischen und moralischen Gründen eingesetzt, sondern sei ebenfalls Folge einer Kosten-Nutzen-Rechnung, da größere staatlich organisierte Gesellschaften andere Interessen hätten als kleine Gruppen; sie benötigten zum einen mehr Arbeitskräfte und zum anderen Steuerzahler. Außerdem nahm die Haltung von Nutztieren zu. So folgert Harris, „[…] dass Menschenfleisch aus den prinzipiell gleichen Gründen seine Eignung zum Verzehr einbüßte wie das Rindfleisch bei den Brahmanen und Hundefleisch bei den Amerikanern: die Bilanz zwischen Kosten und Nutzen sprach dagegen.“ Der Kannibalismus der Azteken scheint Harris’ Theorie zu widersprechen, denn bei ihnen wurde er nicht parallel zur Entwicklung des Staatswesens aufgegeben. Bei den Azteken gehörten massenhafte rituelle Menschenopfer zu ihrem Opferkult, und zwar in erheblichem Ausmaß. Umfangreiche Knochenfunde und gebaute Schädeltürme belegen diese jahrhundertelang geübte Praxis, die erstmals von Hernán Cortés 1519 beschrieben wurde. Die Opferungen fanden in Tenochtitlán auf der obersten Plattform von Pyramiden im Tempelbezirk statt. Den Opfern wurde dort von mehreren Priestern das Herz aus dem Brustkorb geschnitten, das jeweils einer Gottheit geopfert wurde. Der Kopf wurde für die Schädelgerüste abgetrennt, der übrige Körper ging an den Besitzer, der das Opfer bei einem Kriegszug gefangen genommen hatte. Die Leiche wurde dann als Eintopf bei einem Festmahl verzehrt. Schätzungen der jährlichen Opferzahlen reichen von 15.000 bis 250.000. Geopfert wurden Frauen und Männer, selten Kinder. Dass die Azteken potenzielle Sklaven und Steuerzahler aufaßen, erklärt Harris damit, dass sie nicht über eine nennenswerte Viehzucht verfügten; ihre einzigen Haustiere waren Truthähne und Hunde. Er geht davon aus, dass dies der Oberschicht als Fleischquelle nicht ausreichte. Dennoch lehnt er die These von Michael Harner ab, dass der Kannibalismus eine Folge des Haustiermangels war und der Opferkult gewissermaßen „Fleischbeschaffung auf aztekische Weise“ gewesen sei; in diesem Fall wären seiner Ansicht nach die Kosten für die Beutezüge höher gewesen als der Nutzen. „Die Knappheit an tierischer Nahrung bei den Azteken zwang diese nicht notwendig zum Verzehr von Menschenfleisch; sie machte einfach […] die politischen Vorteile einer Unterdrückung des Kannibalismus weniger zwingend.“ Harris bezeichnet den Kannibalismus der Azteken als Kriegskannibalismus, nach Harner ist es profaner Kannibalismus, im Zusammenhang mit dem religiösen Kult ist es jedoch auch ritueller Kannibalismus. Harris erwähnt nicht, dass im Zentrum des aztekischen Kultes die Sonne stand, die nach der mythischen Überlieferung aus dem Fleisch und Blut geopferter Götter entstanden ist. Das Leben im Jenseits galt als wichtiger als das irdische Dasein, Zugang zum Paradies hatten nach ihrem Glauben Geopferte und in der Schlacht gefallene Krieger. Beide Todesarten galten auf einer Skala mit 13 Stufen als die höchsten. Der Lauf der Sonne konnte nach aztekischem Glauben nur durch das Opfern von menschlichem Blut gesichert werden, da sich zuvor die Götter für die Existenz der Welt geopfert hatten. Die Fortsetzung des Kannibalismus bei den Azteken lässt sich folglich auch damit erklären, dass sie ihren Kult nicht mit der Etablierung eines Staatswesens aufgegeben haben. Literatur Eva Barlösius: Soziologie des Essens. Juventa, München 1999, ISBN 3-7799-1464-6. Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung. (Originaltitel: Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo. 1966.) Berlin 1985, ISBN 3-518-28312-X. Marvin Harris: Wohlgeschmack und Widerwillen. Die Rätsel der Nahrungstabus. (Originaltitel: Good to eat. Riddles of Food and Culture. 1985.) Klett-Cotta, Stuttgart 1988, ISBN 3-608-93123-6. Jerry Hopkins Strange Food. Skurrile Spezialitäten. Insekten, Quallen und andere Köstlichkeiten. Komet 2001, ISBN 3-89836-106-3. Dwijendra Narayan Jha: The Myth of the Holy Cow. Verso Books, London 2002, ISBN 1-85984-676-9. Stephen Mennell: Die Kultivierung des Appetits. Geschichte des Essens vom Mittelalter bis heute. (Originaltitel: All Manners of Food.). Athenäum, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-610-08509-6. Paula Schrode: Sunnitisch-islamische Diskurse zu Halal-Ernährung. Konstituierung religiöser Praxis und sozialer Positionierung unter Muslimen in Deutschland. Ergon, Würzburg 2010, ISBN 978-3-89913-816-0. Perry Schmidt-Leukel (Hrsg.): Die Religionen und das Essen. Hugendubel, Kreuzlingen 2000, ISBN 3-7205-2115-X. Calvin W. Schwabe: Unmentionable Cuisine. University of Virginia Press 1988, ISBN 0-8139-1162-1. Monika Setzwein: Zur Soziologie des Essens. Tabu, Verbot, Meidung. Leske + Budrich, Opladen 1997, ISBN 3-8100-1797-3. Frederick J. Simoons: Eat Not This Flesh. Food Avoidances from Prehistory to the Present. Wisconsin Press, Madison 1994 (2. Aufl.), ISBN 0-299-14254-X. Sabine Wilke: Die verspeiste Esskultur. Nahrung und Nahrungstabus. Tectum Verlag, Marburg 2005, ISBN 3-8288-8789-9. Jörg Erwersen: Hundehaltung auf der kaiserzeitlichen Wurt Feddersen Wierde – ein Rekonstruktionsversuch. Siedlungs- und Küstenforschung im südlichen Nordseegebiet 33 (2010) S. 53–75. Jörg Erwersen: Der Hund – geliebt, gebraucht und gegessen. In: B. Ramminger, H. Lasch: Hunde – Menschen – Artefakte. Gedenkschrift für Gretel Gallery. Studia honoraria Band 32, Rahden/Westf. 2012, S. 249–262. Marvin Harris Kannibalen und Könige. Die Wachstumsgrenzen der Hochkulturen. dtv, München 1995, ISBN 3-423-30500-2. V. B. Meyer-Rochow: Food taboos: their origins and purposes. In: Journal of ethnobiology and ethnomedicine. Band 5, 2009, S. 18, doi:10.1186/1746-4269-5-18. PMID 19563636, (Review). Weblinks Rolf Degen: Nicht nur Verdorbenes macht Angst. In: Tabula. SVE, Bern 2005,02. Daniel M. T. Fessler, Carlos David Navarrete: Meat is Good to Taboo. In: Journal of Cognition and Culture. Brill, Leiden 2003 (pdf; 260 kB). Ram Puniyani: Beef Eating, Strangulating History. In: The Hindu. Madras 2003. Alexander Rabl: Tabuzone Teller. In: A La Cart. Gourmet-Magazin. D+R Verlag, Wien 2006. Einzelnachweise Esskultur Soziale Norm Konsumsoziologie
1998379
https://de.wikipedia.org/wiki/Bildschirmspiel%2001
Bildschirmspiel 01
Das Bildschirmspiel 01 (kurz BSS 01) ist die einzige Spielkonsole, die in der Deutschen Demokratischen Republik entwickelt und hergestellt wurde. Es basiert auf dem elektronischen Schaltkreis AY-3-8500 des US-amerikanischen Unternehmens General Instrument. Die vier einzeln auswählbaren Spiele orientieren sich in ihrem Spielablauf, der Steuerung und der audiovisuellen Präsentation stark an Pong. Das vom VEB Halbleiterwerk Frankfurt an der Oder (HFO) konstruierte und produzierte Bildschirmspiel kam Ende 1979 unter der Marke RFT in den nationalen Handel. Es kostete 550 Mark der DDR. Mangels Rentabilität wurde die Fertigung bereits nach zwei Jahren wieder eingestellt. Ein Nachfolgegerät mit mehr Spieloptionen und zusätzlich farbiger Bildausgabe kam über das Prototypenstadium nicht hinaus. Geschichte Ab Mitte der 1970er Jahre entwickelten sich vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch der Bundesrepublik Deutschland Spielkonsolen immer mehr zum festen Bestandteil der Alltagskultur. In den Ostblockstaaten – darunter die Deutsche Demokratische Republik – hingegen existierten solche Geräte kaum. Das lag nicht zuletzt auch am technologischen Rückstand vor allem der dortigen Mikroelektronik. Um diesen Rückstand aufzuholen, erschien es der DDR-Staatsführung wichtig, die Ausbildung entsprechender Berufsgruppen und Ingenieure voranzutreiben. Die Bevölkerung sollte deshalb an die digitale Technologie herangeführt und so das Interesse beim potentiellen Nachwuchs geweckt werden. Videospiele als Unterhaltungsmedien erschienen den Verantwortlichen dafür als durchaus geeignetes Mittel. Das Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik beschloss deshalb im Jahr 1977, in der DDR ein „Bildschirmspielgerät“ zu produzieren. Entwicklung und Produktion Die technisch-industriellen Möglichkeiten der DDR reichten 1977 nicht für eine vollständige Eigenentwicklung aus, die auch wirtschaftlich sein musste. Es sollte daher die zentrale Komponente der zukünftigen Spielkonsole – der hochintegrierte elektronische Schaltkreis AY-3-8500 – aus dem westlichen Ausland eingeführt werden. Im Gegensatz zu Mikroprozessoren, die auch für militärische Zwecke eingesetzt werden konnten, unterlag der AY-3-8500 nicht den Einfuhrbeschränkungen des CoCom-Embargos, das zu dieser Zeit von den westlichen Ländern verhängt worden war. Die restlichen elektronischen und mechanischen Bestandteile konnten in Eigenregie hergestellt oder aus anderen Ostblockstaaten importiert werden. Mit der Konstruktion und Fertigung der Konsole wurde 1977 der VEB Halbleiterwerk Frankfurt an der Oder (HFO) betraut. Einem Halbleiterhersteller auch die eigentlich betriebsfremde Produktion von Konsumgütern zu übertragen, war in der Planwirtschaft der DDR üblich. Nach einigen Verzögerungen begannen 1978 die Entwicklungsarbeiten für die Spielkonsole. Etwa ein Jahr später hatten die Ingenieure des HFO das Gerät zur Produktionsreife gebracht. Seine Fertigung startete im letzten Quartal des Jahres 1979. Ausgeführt wurden die Montagearbeiten von der Konsumgüterabteilung mit etwa 150 Mitarbeitern. Probleme bei der Materialversorgung verzögerten indes die Produktion des Geräts in den gewünschten Stückzahlen. Es mangelte an Gehäuseteilen, zuweilen fehlten Verkaufsverpackungen, und auch der Schaltkreis AY-3-8500 war nicht immer in den benötigten Mengen verfügbar. Dennoch konnten 1979 etwa 750 Exemplare der Spielkonsole hergestellt werden. Vermarktung Das Bildschirmspiel 01 oder RFT TV-Spiel genannte Gerät war rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft des Jahres 1979 im Handel erhältlich. Der Preis betrug 550 Mark der DDR, was etwa der Hälfte eines durchschnittlichen Monatsgehalts entsprach. Neben Privatpersonen gehörten deshalb zu den Käufern hauptsächlich staatlich finanzierte Freizeiteinrichtungen wie etwa Pionierhäuser oder Jugendclubs. Öffentlichkeitswirksam vorgestellt wurde die Konsole erstmals auf einer Produktschau des HFO wohl im Februar 1980. Im März präsentierte der Hersteller das Gerät dann auch auf der international ausgerichteten Leipziger Frühjahrsmesse. Etwa zum selben Zeitpunkt vermeldete das HFO, die Spielmöglichkeiten erweitern zu wollen; auch eine Version mit Bildausgabe für Farbfernsehgeräte befinde sich in Planung. Ein entsprechendes Gerät kam aber über ein frühes Prototypenstadium nicht hinaus, weil sich noch im selben Jahr die Herstellung des BSS 01 als unrentabel erweisen sollte und damit keine Kapazitäten für einen Nachfolger freigemacht werden konnten. Produktionseinstellung und Abverkäufe Bereits im ersten Halbjahr 1980 mussten elektronische Teile außerplanmäßig zugekauft werden, um die Produktion aufrechterhalten zu können. Einige Komponenten der Konsole überschritten zudem die zuvor kalkulierten Kosten deutlich. Beispielsweise war der Einfuhrpreis des AY-3-8500 im Jahr 1980 völlig unerwartet von 6,55 auf 25 DM angestiegen. Angesichts der damit verbundenen schlechten wirtschaftlichen Kennzahlen und der überdies nur schleppenden Verkäufe wurde die Produktion im Jahr 1981 eingestellt. Ein Teil der noch in der DDR lagernden schwer verkäuflichen Konsolenbestände wurde daraufhin im westlichen Ausland angeboten. So gelangten 1982 Geräte nach Griechenland und wenig später auch in die Bundesrepublik Deutschland. Allerdings rechneten sich die Verkäufe dort nicht – die erzielten Erlöse lagen weit unter der geplanten „Exportrentabilität“. 1983 schließlich verschrottete das HFO letzte Reste neuer, aber anderweitig nicht verwendbarer Konsolenteile im Wert von fast 17.000 Mark der DDR. Offiziellen Angaben des Herstellers zufolge sollen insgesamt „einige hundert“ Konsolen produziert worden sein. Nicht zuletzt die bekannten Seriennummern deuten aber darauf hin, dass es tatsächlich wohl höhere Stückzahlen waren. Ein ehemaliger Mitarbeiter des HFO geht von etwa 1000 Exemplaren aus. Technische Informationen Zum Spielen der fünf vorinstallierten Spiele wird zusätzlich ein Fernseher benötigt. Ein Batteriebetrieb der Konsole ist nicht möglich, ebenso wenig wie das Ausführen anderer als der eingebauten Spiele. Gleichwohl besteht die Möglichkeit, verschiedene Spieloptionen einzustellen und dadurch beispielsweise den Schwierigkeitsgrad zu ändern. Aufbau des Grundgerätes In das schwarze oder weiße Plastikgehäuse mit den Abmessungen 32,5 × 17,5 × 5,5 cm ist ein Bedienfeld mit verschiedenen Tasten zur Steuerung eingelassen. Der bei allen Geräten rot ausgeführte Netzschalter nimmt das Gerät in und außer Betrieb. Mithilfe der darunterliegenden Tasten wird das auszuführende Spiel gewählt. Weitere Tasten auf der linken Seite des Bedienpults ermöglichen beispielsweise das Einstellen von Optionen für das gerade ausgeführte Spiel. Die beiden identischen Controller („Bedienteile“) können zum Spielen den jeweiligen Gehäusemulden entnommen werden. Verbunden sind sie mit dem Grundgerät jeweils über ein ca. 1,6 m langes Kabel. Im Gehäuse der Spielkonsole befinden sich die Stromversorgung mitsamt Transformator, ein Lautsprecher zum Ausgeben der Spielgeräusche und Platinen, auf der alle elektronischen und einige mechanischen Baugruppen untergebracht sind. Eine ebenfalls im Inneren untergebrachte Metallabschirmung dient zur Verringerung elektromagnetischer Störstrahlung, die den Antennenempfang von zeitgenössischen Fernsehgeräten merklich verschlechtern konnte. Funktionsweise Die Spielkonsole basiert auf dem hochintegrierten Schaltkreis AY-3-8500, von seinem Hersteller General Instrument auch Ball & Paddle genannt. Der Schaltkreis enthält sämtliche Baugruppen zur Abfrage von Handcontrollern, zur Ausführung der Spielmechanik und zur Erzeugung sowohl von Ton als auch Bild. Im Gegensatz zu den damals in westlichen Spielkonsolen ebenfalls gebräuchlichen Mikroprozessoren wie etwa dem Signetics 2650A oder dem MOS 6507 ist der AY-3-8500 nicht programmierbar und er hat auch keinen änderbaren Bildschirmspeicher. Der Spielablauf und sämtliche grafische Daten sind durch entsprechend verschaltete elektronische Bauelemente in seinem Inneren vorgegeben. Insbesondere sind diese nicht modifizierbar. Zur besseren Verdeutlichung dieses Sachverhalts werden darauf basierende Spielkonsolen deshalb als „fest verdrahtet“ oder „spezialisiert“ bezeichnet. Spielarten und Schwierigkeitsgrade werden durch externe Schalter und äußere elektronische Bauteile wie etwa Widerstände eingestellt. Auch die Auswahl eines Spiels erfolgt durch einen Schalter, mit dem die zum jeweiligen Spiel gehörenden Baugruppen innerhalb des Chips aktiviert und alle nicht benötigten deaktiviert werden. Die Erzeugung der elektrischen Signale für das Fernsehbild erfolgt durch den AY-3-8500 gemäß den technischen Spezifikationen für die in den 1970er und frühen 1980er Jahren ausschließlich genutzten analogen Röhrenfernsehgeräte. Die vom Schaltkreis generierten Bilddaten werden in einer externen elektronischen Baugruppe, dem Videosummierer, zum schwarzweißen BAS-Signal zusammengeführt. Anschließend erfolgt mithilfe eines Hochfrequenzmodulators und eines Antennenkabels die Einspeisung in die Antennenbuchse des Fernsehgeräts. Die Tonsignale werden durch den in der Konsole verbauten Lautsprecher ausgegeben. Blockschaltbild des Bildschirmspiel 01 Spiele Mit der Konsole können fünf Varianten von Pong, einem Spiel, das erstmals 1972 von Atari in Form eines Arkadeautomaten veröffentlicht wurde, gespielt werden. Analog zum namensgebenden Ping-Pong beziehungsweise Tischtennis gilt es dabei für zwei Spieler, abwechselnd einen Ball derart ins gegnerische Spielfeld zu schlagen, dass er nicht zurückgespielt werden kann. Das Regelwerk, die Spielmechanik und die audiovisuelle Präsentation sind wegen der damaligen leistungsschwachen Hardware stark vereinfacht. So wird das Spielfeld im Draufblick und ohne jegliche Texturen oder andere grafische Details in Schwarz und Weiß gezeigt. Die Spielfiguren werden jeweils durch einen hochkant stehenden blockartigen Strich – den Schläger (englisch paddle) – angedeutet. Der Ball, dessen Bewegung im Sinne technisch einfacher Handhabbarkeit stets geradlinig verläuft, wird durch ein durch die damalige Hardware ebenfalls leicht zu erzeugenden quadratischen Punkt dargestellt. Um diesen Ball zurückspielen zu können, muss der Schläger mittels Konsolen-Handregler in eine solche vertikale Position gebracht werden, dass er die Bewegungsbahn des Balls kreuzt. Der auftreffende Ball prallt dann mit einem dem Einfallswinkel entgegengesetzten Ausfallwinkel ab und wird damit zur gegnerischen Seite zurückgespielt. Verpasst einer der Spieler den Ball und verlässt dieser daraufhin das Spielfeld, erhält der Gegenspieler einen Punkt. Die Partie endet, wenn einer der beiden Spieler 15 Punkte erreicht hat. Der Spielstand wird dabei durch grob aufgelöste, blockige Ziffern angezeigt. Pong zählt durch die starken Abstraktionen sowohl in der Präsentation als auch in der Spielmechanik zu den einfachstmöglichen Videospielen überhaupt. Es ist mit den später erschienenen und wesentlich komplexeren Sportspielen nicht vergleichbar. Tennis Analog zum realen Tennisspiel stehen sich auch hier zwei Spieler gegenüber. Das als Linie in der Bildschirmmitte dargestellte Netz dient lediglich der optischen Trennung des Spielfelds und hat keinen Einfluss auf den Ball. Die ebenfalls gezeigte obere und untere Spielfeldbegrenzung ist – im Gegensatz zum realen Tennis – ins Spielgeschehen eingebunden, da der Ball bei Berührung ins Spielfeld zurückgelenkt wird und zwar mit einem dem Einfallswinkel entgegengesetzten Ausfallwinkel. Fußball Das Spielfeld unterscheidet sich vom Tennisplatz durch zwei zusätzliche reflektierende Linien am rechten und linken Spielfeldrand. Diese vertikalen Spielfeldbegrenzungen sind jedoch nicht durchgängig, sondern mittig durchbrochen. Passiert ein Ball diese Öffnung, das Tor, so enthält die gegnerische Mannschaft einen Punkt. Jede dieser Mannschaften besteht im Gegensatz zum realen Fußballteam lediglich aus einem Stürmer und einem Torwart, jeweils in zwei verschiedenen Spielfeldhälften. Diese sind ebenfalls nur schematisch in Strichform dargestellt. Beide werden vom Spieler simultan in vertikaler Richtung bewegt, um den Ball zurückschlagen und ein Tor erzielen beziehungsweise verhindern zu können. Squash Gleich dem realen Squash wird von zwei Spielern wechselseitig solange ein Ball gegen eine feststehende vertikale und reflektierende Wand geschlagen, bis ihn eine der beiden Parteien nicht mehr zurückspielen kann. Pelota Der Übungsmodus Pelota entspricht dem Spiel Squash für einen einzelnen Spieler. Undokumentiertes Spiel Das Spiel ist eine erweiterte Variante von Fußball. Auf der rechten Spielfeldseite befinden sich nun drei anstelle der zwei Schläger. Dieses Spiel wird ausgeführt, wenn keine der vier Spieltasten gedrückt ist. Screenshots der Spiele Rezeption Zeitgenössisch Das Gerät war neben Ausstellungen und Messen, auf denen es das „Interesse der Besucher erweckte“, auch Gegenstand einiger werbender Mitteilungen der Tagespresse. Eine kurze Erwähnung findet sich beispielsweise 1980 in der überregionalen und auflagenstarken Zeitung Neues Deutschland, die vor allem die „kurzweilige Art“, das Reaktionsvermögen schulen zu können, hervorhebt. Nur wenig später berichteten auch regionale Zeitungen mit etwas ausführlicheren Artikeln über das neue Produkt, dessen Fertigstellung „eine Verpflichtung des Halbleiterwerkes zum 30. Jahrestag der DDR“ sei. Das „Televisionsspiel“ könne auf dem Bildschirm von Fernsehgeräten „Sportspiele simulieren“, heißt es in einem Artikel der Märkischen Volksstimme von 1980 weiter. Das Gerät sei leicht zu handhaben und bringe sowohl Kindern als auch Erwachsenen „Kurzweil ins Haus“. Wenn einmal „keine rechte Freude am Fernsehprogramm“ aufkomme, dann sei das BSS 01 ein „Retter in Fernsehnot“. Wie bei allen anderen Spielen auch, würde mit der Zeit aber das Interesse an der Konsole „schwinden“, so die Berliner Zeitung weiter. Ebenfalls 1980 erschien ein erster umfangreicher Bericht in der Fachzeitschrift Radio Fernsehen Elektronik, der vor allem die technischen Aspekte des BSS 01 näher beleuchtete. Bis ins Jahr 1986 hinein wurden Bauanleitungen für Konsolenerweiterungen u. a. auch in einer weiteren Fachzeitschrift, dem Funkamateur, veröffentlicht. Mit Hilfe dieser Anleitungen war es dann möglich, die beiden im AY-3-8500 vorhandenen, aber werkseitig ungenutzten „Jagdspiele“ zum Gebrauch mit einer „Waffe“ (Lichtpistole) zu aktivieren oder allein gegen die Konsole anzutreten („Cybernetic Mode“). Retrospektiv Rückblickend gesehen habe das Bildschirmspiel 01 vor allem Bedeutung für die technische Entwicklungsgeschichte der DDR, so die Medienwissenschaftler Karla Sofia Höß und Bengt Jöran Eitel im Jahr 2011. Hinzu komme eine gewisse Relevanz für einzelne Spieler und deren späteren Lebensweg. Die Spielkonsole sei für viele der erste Kontakt mit einem Videospiel gewesen, der dann auch zu einer beruflichen oder privaten Beschäftigung mit Computer- und Videospielen führte. Wirtschaftlich konnte die Konsole dagegen nicht überzeugen; als Konsumgut der planwirtschaftlichen Produktion sei sie laut Höß und Eitel sogar ein „Flop“ gewesen. Dazu beigetragen habe vor allem der hohe Preis. Ähnlich sehen es andere Autoren, die den Preis als „stolz“, „exorbitant“ oder „Mondpreis“ bezeichnen. Auch sei das Produkt wegen eines viel zu geringen Budgets nur unzureichend beworben worden. Spätestens nach der Wende 1989 hätten die nun als wertlos geltenden Geräte endgültig keine Beachtung mehr gefunden – wohl auch, weil ihnen die „Aura des alten Regimes“ anhaftete, so Höß und Eitel weiter. Erst 1997 sei die Spielkonsole wieder ins Interesse der Öffentlichkeit gerückt. Zu diesem Zeitpunkt war nämlich – begleitet von zahlreichen Pressemitteilungen – das Computerspielemuseum Berlin mit dem BSS 01 als ständigem Ausstellungsstück eröffnet worden. Das Gerät erfuhr aber nicht nur diese weitere Bedeutung als museales Objekt, sondern darüber hinaus auch als „geschätztes“ Sammelobjekt für Computerspielbegeisterte. Phil Penninger ergänzt, dass dies nicht zuletzt auch an seinem speziellem Status als einzigem Heimvideospielsystem der DDR und seiner Seltenheit gelegen habe. Literatur Karla Sofia Höß, Bengt Jöran Eitel, Emily Claire Völker: Das Bildschirmspiel 01 – Versuch einer symmetrischen Netzwerkanalyse in drei Teilen. M.A. – Arbeit Studiengang Europäische Medienwissenschaft an der Universität Potsdam, April 2011 (Digitalisat Teil 1, Teile 2 und 3). Bedienungsanleitung und Serviceanleitung Weblinks Online-Archiv für das BSS 01 mit vielen Informationen und Fotos Einzelnachweise Spielkonsole Kombinat Mikroelektronik Technik (DDR) Kultur (DDR)
2062850
https://de.wikipedia.org/wiki/Weinbau%20in%20Stuttgart
Weinbau in Stuttgart
Der Weinbau in Stuttgart umfasst 423 Hektar Rebfläche – gut zwei Prozent der Stadtfläche. Die baden-württembergische Landeshauptstadt Stuttgart liegt im klimatisch begünstigten Neckartal und zählt zu Deutschlands größten Weinbaugemeinden. In 16 der 23 Stadtbezirke wird Weinbau betrieben, von den meisten der ca. 500 Betriebe im Nebenerwerb. Landwirtschaftliche Betriebe im engeren Sinne bewirtschafteten 358 ha (Stand 2007). Die Anbaufläche verteilt sich auf 18 Einzellagen, die alle zur Großlage Weinsteige gehören. Bewirtschaftet werden großenteils Steillagen. 71 Prozent der Produktion entfallen auf Rotwein (295 ha von insgesamt 415 ha bestockter Rebfläche). Klima und Geologie Das gesamte Anbaugebiet Württemberg liegt in einer Übergangszone zwischen atlantischem und kontinentalem Klima. Das Neckartal profitiert vom mildernden Einfluss des Flusses. Aufgrund seiner Lage im Regenschatten des Nordschwarzwaldes ist Stuttgart einer der Orte in Deutschland mit der höchsten Sonneneinstrahlung. Mit einer 230–240 Tage langen Vegetationsperiode (Durchschnittstemperatur über 5 °C) besitzt Stuttgart die längste Wachstumszeit in ganz Württemberg. Nachteilig für den Weinbau ist lediglich die hohe Gefahr von Hagelschlag, gegen den ein bis zwei Hagelflieger zum Einsatz kommen. Geologisch gehören die Stuttgarter Weinbergslagen überwiegend dem Keuper an. Lediglich im Nordosten des Stadtgebietes (Bad Cannstatt, Mühlhausen) dominiert der Muschelkalk. Aufgrund der Steilheit der Lagen ist die Bodenschicht aus den Verwitterungsprodukten des Unterbodens – Mergel und sandiger bis toniger Lehm – recht dünn. Die Reben müssen deshalb ihre Wurzeln bis in das Muttergestein hineintreiben. Rebsorten Der württembergischen Tradition folgend, dominiert auch in Stuttgart der Rotwein. Zu Anfang der 1990er Jahre waren 62,5 Prozent der 400 Hektar mit roten Rebsorten bepflanzt. Allein auf den Trollinger entfielen 190 ha. 15 ha beanspruchte der Spätburgunder. Wachsende Bedeutung gewinnt inzwischen der Dornfelder. Daneben sind noch Lemberger, Heroldrebe, Samtrot, Muskat-Trollinger und Sankt Laurent zu nennen. In jüngster Zeit wurden auch Merlot und Cabernet Sauvignon gepflanzt – eine Reaktion auf die wachsende Nachfrage nach körperreichen Rotweinen. Das typischerweise trockene und sonnige Herbstwetter lässt auch diese aus weit südlicher gelegenen Weinbaugebieten stammenden Rebsorten noch ausreifen. Ihr Qualitätspotenzial ist allerdings schwer zu beurteilen, da diese Rebanlagen noch sehr jung sind. In den letzten Jahrzehnten hat der Weißwein wieder an Boden gewonnen – 1950 waren über 90 Prozent mit Rotweinreben bestockt. Unter den weißen Rebsorten ist der Riesling führend – er nahm Anfang der 1990er Jahre 65 ha ein. 40 ha entfielen auf den Müller-Thurgau. Daneben werden noch Silvaner, Kerner, Weißburgunder und Gewürztraminer in größerem Umfang kultiviert. Neuerdings gewinnen auch Chardonnay und Sauvignon Blanc an Raum. Weinlagen Die Stuttgarter Weinbergslagen bilden zusammen mit denjenigen der Stadt Esslingen am Neckar und Teilen der Fellbacher Weinberge die Großlage „Weinsteige“. Letztere findet sich allerdings nur selten auf Etiketten, da die Stuttgarter Weine in der Regel ohnehin nur aus einer Einzellage stammen. Vor dem Lagennamen wird der Stuttgarter Ortsteil vermerkt, also z. B. „Cannstatter Zuckerle“ oder „Untertürkheimer Altenberg“. Lediglich die in den inneren Stadtbezirken gewachsenen Weine dürfen sich als „Stuttgarter“ bezeichnen. Die einst ausgedehnten Weinberge an den Hängen des Stuttgarter Kessels sind weitgehend dem Wachstum der Großstadt und den entsprechend hohen Bodenpreisen zum Opfer gefallen. So vereint die Mönchhalde neben einem größeren Weinberg an der Birkenwaldstraße drei kleine, weit voneinander entfernte Parzellen an der Karlshöhe, an der Neuen Weinsteige und am Hasenberg. Letztere ist der Rest der früheren Südlagen Afternhalde, Wanne und Gebelsberg. Die am Neckar gelegenen Stadtteile Hedelfingen, Obertürkheim, Untertürkheim, Uhlbach und Rotenberg besitzen hingegen große zusammenhängende Weinbergflächen. Diese stark ansteigenden Lagen wurden im Rahmen von Flurbereinigungen in größere Terrassen umgewandelt und durch parallel zum Hang verlaufende Wirtschaftswege erschlossen. Die steilsten Lagen Stuttgarts – Cannstatter Zuckerle, Degerlocher Scharrenberg und der in Rohracker gelegene Teil des Lenzenbergs – besitzen hingegen nach wie vor ihre Mauerterrassen. Aufgrund des besonders günstigen Klimas zählen einige Stuttgarter Lagen zu den besten Württembergs. Besonderen Ruf genießen neben der Stuttgarter Mönchhalde die Untertürkheimer Lagen Herzogenberg, Mönchberg und Schlossberg, der Uhlbacher Götzenberg sowie das Cannstatter Zuckerle,die Cannstatter Halde und Besigheim. Kuriositäten bilden der nur wenige hundert Meter vom Hauptbahnhof gelegene Kriegsberg, der von der Stuttgarter IHK und der Landesbausparkasse bewirtschaftet wird, sowie der Hohenheimer Schlossberg, der als Versuchsgut der Landwirtschaftlichen Fakultät der Universität Hohenheim dient. Der teilweise auch auf Fellbacher Gemarkung gelegene Untertürkheimer Gips ist ein ehemaliger Gipssteinbruch, dessen ausgebeutete Flächen sukzessive wieder bestockt wurden. Die Stuttgarter Weinlagen im Einzelnen (von der Stadtmitte aus im Uhrzeigersinn): Erzeuger Genossenschaften Der größte Teil der Stuttgarter Weine wird von den fünf Winzergenossenschaften erzeugt. Zu ihren Mitgliedern zählen nicht zuletzt die vielen Nebenerwerbswinzer. Die Produktion ist im Wesentlichen für den lokalen Markt bestimmt, weshalb der traditionelle Trollinger überwiegt. Auf eine Verschiebung der Nachfrage haben die größeren Genossenschaften jedoch mit neuen Produktlinien reagiert. Internationale Rebsorten, Ertragsbeschränkung und moderne Kellerverfahren einschließlich des Barriqueausbaus gehören heute zum Repertoire. An der Spitze dieser Bewegung steht die Weinmanufaktur Untertürkheim, eine Genossenschaft die sich seit 2001 Weinmanufaktur nennt. Ihr Kellermeister Jürgen Off wurde vom Gault-Millau zum „Gutsverwalter des Jahres“ 2005 gewählt. Durch die Verleihung der dritten Traube im Gault Millau 2009 hat die Weinmanufaktur Untertürkheim den Aufstieg ins württembergische Oberhaus geschafft. Dieser Erfolg überzeugte auch die Nachbarn: Die Obertürkheimer Genossen votierten 2004 einstimmig für den Anschluss an die Weinmanufaktur. Im Jahr 2007 schlossen sich die Weingärtnergenossenschaften Uhlbach und Rotenberg zum Collegium Wirtemberg – Weingärtner Rotenberg & Uhlbach e. G. zusammen. Ihre Weine werden in der Kelter „Fleckensteinbruch“ am Ortsrand von Untertürkheim bereitet. Die Weingärtnergenossenschaft Hedelfingen ist in ihrer genossenschaftlichen Struktur eine der kleinsten Genossenschaft im Großraum Stuttgart. Private Weingüter Die meisten der privaten Stuttgarter Weingüter produzieren nur kleine Mengen, die entweder in der angeschlossenen Besenwirtschaft oder aber in örtlichen Weinstuben ausgeschenkt werden. Nur wenige genießen überregionale Bekanntheit. Vier Güter mit Stuttgarter Lagen sind Mitglieder des Verbands Deutscher Prädikatsweingüter (VDP): Das in Fellbach ansässige Weingut Aldinger bewirtschaftet insgesamt 23 ha, darunter als Monopollage den Untertürkheimer Gips (9,6 ha). 24 % entfällt auf Riesling, 19 % auf Trollinger, je 12 % auf Rote Burgunder und Lemberger, der Rest auf Sauvignon Blanc, Weißburgunder, Cabernet-Rebsorten und Merlot. Dem Untertürkheimer Weingut Wöhrwag gehört der Untertürkheimer Herzogenberg (15 ha) im Alleinbesitz. Auf insgesamt 18,5 ha wachsen 35 Prozent Riesling, 20 Prozent Trollinger und je 10 Prozent Lemberger und Merlot, der Rest entfällt auf Grau- und Weißburgunder, Sauvignon Blanc, Muskateller, Spätburgunder und Cabernet Sauvignon. Das zur Hofkammer des Hauses Württemberg gehörende Weingut Herzog von Württemberg in Ludwigsburg besitzt 7,5 ha im Untertürkheimer Mönchberg am Württemberg. Als Lagenweine werden Lemberger und Spätburgunder angeboten. Das Fellbacher Weingut Rainer Schnaitmann bewirtschaftet nicht nur Fellbacher Lagen, sondern auch kleinere Flächen im Uhlbacher Götzenberg und im Untertürkheimer Altenberg. Ersterer liefert sogar ein Großes Gewächs. Weitere qualitätsorientierte Güter sind Weingut Diehl (5,4 ha), Rotenberg (Schlossberg) Weingut Warth (10 ha) Rotenberg (Altenberg und Mönchberg) Weingut Markus Schwarz (8,6 ha), Untertürkheim (Altenberg und Mönchberg) Wein- und Sektgut Christel Currle (8,5 ha), Uhlbach (Götzenberg) Weingut Gerhard Schwarz (2,5 ha), Untertürkheim (Altenberg und Mönchberg) Weingut Peter Mayer Jägerhof (3,3 ha), Burgholzhof (Cannstatter Berg) Weingut Albert und Konrad Zaiß (11 ha), Obertürkheim (Kirchberg) Weingut Bauer (4 ha), Bad Cannstatt (Lagen: Cannstatter Berg und Zuckerle, Feuerbacher Berg) Städtisches Weingut Seit 1949 besteht das Weingut der Stadt Stuttgart. Zuvor wurde der Ertrag der städtischen Weinberge versteigert. Die Kellerei befindet sich in einem ehemaligen Luftschutzbunker in Bad Cannstatt. Das Gut bewirtschaftet 17,4 ha in der Stuttgarter Mönchhalde (u. a. an der Karlshöhe und der Neuen Weinsteige), dem Cannstatter Berg und dem Cannstatter Zuckerle. Mit der Pflege von zusammen 4,9 ha terrassierten Steillagen leistet die Stadt ihren Beitrag zum Erhalt dieser Kulturdenkmäler. Qualitativ haben sich die Weine in den letzten Jahren deutlich verbessert. Im Jahr 2007 wurde durch den Verkauf von 124.000 Litern Wein ein Umsatz von 700.000 € erzielt, das Weingut schreibt damit rote Zahlen. Als Ausweg schlug ein von der Stadt beauftragter Gutachter eine Privatisierung oder Verpachtung des Gutes vor. Nun soll eine Markterkundung die Alternativen Verpachtung oder Weiterführung als städtischer Eigenbetrieb untersuchen. Eine Entscheidung sollte bis Ende 2008 fallen. Im April 2009 genehmigte der städtische Ausschuss für Wirtschaft und Wohnen eine Sanierung der städtischen Kelter, nachdem das Gebäude wegen statischer Mängel nur noch eingeschränkt nutzbar war. Neben dem Weingut betreibt die Stadt auch das Stuttgarter Weinbaumuseum in der ehemaligen Kelter von Uhlbach. Geschichte Möglicherweise reichen die Wurzeln des Weinbaus am mittleren Neckar in die Römerzeit zurück. Die erste urkundliche Erwähnung stammt aus dem Jahr 708 und belegt Weinbergbesitz des Klosters Sankt Gallen in Cannstatt. Im 10. Jahrhundert wurde im Neckartal der Anbau auf Mauerterrassen eingeführt. Im inneren Stadtgebiet wird mit hoher Sicherheit seit dem 11. Jahrhundert Wein angebaut, denn eine Urkunde aus dem Jahre 1108 erwähnt die Schenkung eines Stuttgarter Weinberges an das Kloster Blaubeuren. Ältester Stuttgarter Weinberg könnte aber der in der Nähe des Alten Schlosses gelegene Relenberg sein, dessen Name auf die Herzogin Regelinda zurückgeht, Gattin des Herzogs Hermann I. von Schwaben. Erstmals urkundlich erwähnt wurden unter anderem 1229 die Mönchhalde und 1259 der Kriegsberg. Seit dem 13. Jahrhundert sind Aufzeichnungen über die Qualität der Ernten erhalten. Im Jahr 1400 wurde eine Weingärtnerverordnung erlassen, die Weinfälschungen Einhalt gebieten sollte. Im frühen 16. Jahrhundert entstand die Stuttgarter Weingärtnerzunft. Um die häufigen Streitigkeiten über die Weinpreise zu unterbinden, wurde 1456 angeordnet, dass nach der Lese eine „Weinrechnung“ zu machen sei. Hierzu wurde eine Kommission aus zwei Ratsherren, einem Unterkäufer (Weinmakler) und vier Weingärtnern eingesetzt. Diese „Siebener“ machten einen Preisvorschlag für den Weinhandel. Trotz der Reglementierung schwankten die Preise sehr stark. Der Preis für einen Eimer (293,92 l) bewegte sich im 16. Jahrhundert zwischen zwei und zehn Gulden. Missernten zwischen 1585 und 1589 trieben ihn bis auf 36 Gulden. Der Weinbau blieb das ganze Mittelalter hindurch die Haupterwerbsquelle der Stuttgarter. 1350 waren bereits 502 Hektar bestockt, 1594 sogar über 1200 Hektar – die später eingemeindeten Vororte wie Cannstatt und Untertürkheim sind hier nicht mitgezählt! Nach Wien und Würzburg war Stuttgart im 16. Jahrhundert Deutschlands größte Weinbaugemeinde. Der Stuttgarter Wein wurde großenteils über Ulm nach Osten exportiert. Diese agrarische Wirtschaftsstruktur ihrer Residenzstadt störte jedoch die württembergischen Herrscher. In der Mitte des 16. Jahrhunderts verbot Herzog Christoph von Württemberg sogar unter Strafandrohung die Neuanlage von Weinbergen, außer in bis dato „ungeschlachter Wildnis“. Nach den Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges – ein Viertel der Rebfläche lag 1648 brach – schlug das Pendel jedoch zurück: Zum Schutz des Stuttgarter Weinbaus wurde 1655 der Import fremden Weines verboten, und 1667 wurde auch das Bierbrauen untersagt. 1710 wurde dieses Verbot auf ganz Württemberg ausgedehnt. Auch Maßnahmen zur Qualitätssicherung gehen in die frühe Neuzeit zurück: Die erste, 1595 erlassene Herbstordnung regelte unter anderem den Lesebeginn, den sogenannten Herbstsatz, und den Betrieb der Keltern. Eine weitere Herbstordnung empfahl den Weinbauern im Jahr 1607 den Anbau von Qualitätssorten. Dies waren damals Klevner, Silvaner, Grüner Veltliner, Gutedel, Gewürztraminer und Muskateller. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts überwogen die weißen Rebsorten mit rund 80 %. Feudale Strukturen beherrschten den Weinbau bis ins 18. Jahrhundert. Erst 1813 wurde der sogenannte Kelterbann aufgehoben, der den Betrieb von Keltern nur adligen und geistlichen Grundherren erlaubte. So konnte die Menge des Zehntweines genau kontrolliert werden. Die Keltern gingen in städtisches Eigentum über, durften jedoch seitdem nur noch außerhalb der Stadtmauern betrieben werden. Die Bedeutung des Weinbaus für Stuttgart sank erst mit der Industrialisierung und der damit einhergehenden Verdrängung der Weinberge. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewirtschafteten 400 Weingärtnerfamilien noch ein knappes Drittel der Gemarkung Alt-Stuttgarts, 1895 nur noch 15 Prozent – 400 Hektar. Die Stuttgarter Weinbergfläche wuchs durch Eingemeindungen zwar nochmals bis auf 750 Hektar an, dem Wachstum der Großstadt fielen aber immer mehr Rebflächen zum Opfer. Mitte des 19. Jahrhunderts waren in Alt-Stuttgart nur noch sechs Keltern in Betrieb, zu Anfang des 18. Jahrhunderts gab es deren noch 27. Heute ist von diesen nur noch der „Fruchtkasten“ am Schillerplatz übrig geblieben, der als Museum für alte Musikinstrumente genutzt wird. Den Rückgang der Stuttgarter Weinbaufläche zeigt die nachfolgende Tabelle: Den letzten markanten Einschnitt brachte die Rebflurbereinigung seit den 1960er Jahren. Die Trockenmauern in Ober- und Untertürkheim, Hedelfingen, Rotenberg und Uhlbach wichen breiten Terrassen, die durch asphaltierte Wirtschaftswege erschlossen sind. 110 Hektar besitzen noch heute ihre ursprüngliche Gestalt. Die vom Verfall bedrohten Weinberge an der Neuen Weinsteige wurden bis 1990 restauriert und vom städtischen Weingut wiederbestockt. Die Weingärtner bildeten bis weit ins 19. Jahrhundert einen gewichtigen, zumeist konservativen, politischen Faktor. So lösten 1848 mit Stöcken bewaffnete „Wingerter“ in Stuttgart eine Demonstration von Demokraten auf. Die republikanische Minderheit unter den Weingärtnern gründete 1863 den „Winzerklubb“, und erst 1904 schlossen sich alle Wingerter im „Stuttgarter Winzerbund“ zusammen. Die erste Weingärtnergenossenschaft entstand 1887 in Untertürkheim. Sie wurde allerdings in jedem Herbst neu gegründet und erst 1907 zur Dauerorganisation. Weitere Genossenschaften entstanden unter anderem 1918 in Obertürkheim, 1923 in Cannstatt und 1936 in Rotenberg. Nach dem Zweiten Weltkrieg schlossen sich 45 Genossenschaften zur Landeszentralgenossenschaft württembergischer Weingärtnergenossenschaften mit Sitz in Untertürkheim zusammen. Sie nennt sich inzwischen Württembergische Weingärtnerzentralgenossenschaft und verlegte ihren Sitz 1968 nach Möglingen. Auch wenn der Weinbau in der Stuttgarter Wirtschaft heute nicht mehr ins Gewicht fällt, besitzen die „Wingerter“ noch immer politischen Einfluss: Zwei der 60 Stuttgarter Gemeinderäte sind hauptberufliche Weinbauern. Weinkultur Zahlreiche Veranstaltungen zeigen die Verbundenheit Stuttgarts mit seinem Weinbau. Größtes Ereignis ist das Stuttgarter Weindorf, das seit 1974 Ende August bis Anfang September in der Innenstadt seinen Platz findet. An 120 Ständen werden Stuttgarter und andere Württemberger Weine an die Besucher ausgeschenkt. Ableger hiervon gibt es in Hamburg und Berlin. Unter sich bleiben können die schwäbischen „Vierteles-Schlotzer“ auf den Kelterfesten der Stadtteile sowie in den zahlreichen Besenwirtschaften und Weinstuben. Die Spitze der Qualitätspyramide stellt sich auf der jährlich Mitte November stattfindenden Weinverkostung „Stuttgarts beste Weine“ dem Urteil des Publikums. Durch Stuttgart führt die Württemberger Weinstraße, seit dem 12. April 2007 macht sie einen Schlenker von Stuttgart-Münster bis in die Innenstadt und von dort weiter nach Bad Cannstatt. Die Geschichte des Stuttgarter Weinbaus wird im Weinbaumuseum Uhlbach präsentiert. Das Fremdenverkehrsamt hat vier Weinwanderwege gekennzeichnet. Quellenangaben Literatur Gunter Link: Stuttgart und sein Wein. Silberburg Verlag, Tübingen/Stuttgart 1993, ISBN 3-87407-145-6 Hans Ambrosi, Bernhard Breuer: Deutsche Vinothek – Württemberg. Busse + Seewald, Herford 1996, ISBN 3-512-03044-0 Hans Schleuning (Hrsg.): Stuttgart-Handbuch. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1985, ISBN 3-8062-0376-8 Ulrike Maushake, Martin Nied: Württemberger Weinstraße – Menschen, Traditionen, Landschaften, Brackenheim 2006, ISBN 978-3-935474-04-7 Stuttgart-Marketing GmbH (Hrsg.): Die Stuttgarter Weine. Stuttgart 2008 Weblinks Weinregion Stuttgart Stuttgarter Weinwanderwege Wein und Besenwirtschaften Württemberg (Weinanbaugebiet) Essen und Trinken (Stuttgart) Wirtschaft (Stuttgart)
2228894
https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6nig-Ludwig-Eiche
König-Ludwig-Eiche
Die König-Ludwig-Eiche (auch Königseiche, Tausendjährige Eiche, bis Mitte des 19. Jahrhunderts Stolze Eiche) ist ein Naturdenkmal im Staatsbad Brückenau, einem Ortsteil des drei Kilometer nordöstlich gelegenen Bad Brückenaus im Landkreis Bad Kissingen in Bayern. Es handelt sich um eine Stieleiche (Quercus robur). Sie ist nach unterschiedlichen Schätzungen 370 bis 700 Jahre alt. Der Umfang des Stammes beträgt etwa sieben Meter. Sie hat ihren Namen von König Ludwig I., dessen Lieblingseiche sie bei seinen zahlreichen Kuraufenthalten im Staatsbad Brückenau war. Die Eiche wurde seit 1780 oft beschrieben und abgebildet. Zahlreiche Adelige aus dem Inland und Monarchen aus dem Ausland, die zur Kur in Brückenau weilten, besuchten die Eiche. Das Deutsche Baumarchiv zählt die Eiche zu den national bedeutsamen Bäumen (NBB). Lage Die Königseiche steht auf etwa 300 Meter über Normalhöhennull im Sinntal am Fuße des Dreistelzberges. Bis zum vergangenen Jahrhundert befand sie sich inmitten des Kurparks von Brückenau. Heute steht sie mehr am Rande des Parks in der Nähe eines Parkplatzes auf einer plateauähnlichen Freifläche an einem Hang, etwa zehn Meter oberhalb der Sinn. An der Eiche führt ein Wanderweg mit Informationstafeln vorbei. Vom erhöhten Standort der Eiche aus ist beinahe das gesamte Kurgebiet einsehbar. Der zentrale Kurbereich mit dem Kursaalgebäude, dem Badhotel und der Wandelhalle liegt etwa 200 Meter südöstlich der Eiche. Dazwischen verläuft die Staatsstraße 3180 vom Staatsbad nach Züntersbach. Der im Jahre 1775 im Auftrag des Fürstbischofs Heinrich von Bibra als Sommerresidenz erbaute Fürstenhof, das heutige Schlosshotel Fürstenhof, in dem König Ludwig I. bei seinen Kuraufenthalten residierte, liegt etwa 150 Meter nordöstlich der Eiche. Nördlich schließt sich in der alten Schlossgärtnerei ein kleiner Tierpark und östlich ein Kräutergarten an. Im Westen kamen ab etwa 1900 mehrere Villen und die evangelische Kirche dazu. Beschreibung Die Eiche ist seit dem 2. März 1987 als Naturdenkmal bei der Unteren Naturschutzbehörde des Landkreises Bad Kissingen mit der Nummer 672-N/009 gelistet und als Königseiche bezeichnet. Die Königseiche, die früher auch Stolze Eiche genannt wurde, wirkt im unteren Kronenteil extrem unsymmetrisch. Früher diente ihr Umkreis den Kurgästen als Fest-, Spiel-, Tanz- und Ruheplatz. Vor mehr als hundert Jahren konnten bei einem Kronendurchmesser von 45 Metern und der Fläche von 1500 Quadratmetern unter dem Baum mehr als 100 Sitzplätze eingerichtet werden. Um die Eiche nicht weiter zu belasten, werden dort keine Feste mehr abgehalten. Wenn die Angaben in den Quellen stimmen, wäre sie mit 45 Metern Kronendurchmesser die größte aller Alteichen in Deutschland gewesen. Gegenwärtig beträgt der Kronendurchmesser nur noch etwa 30 bei einer Höhe von 23 Metern, da einige Äste gekappt wurden. Fünf Äste, die in etwa vier Meter Höhe einseitig waagerecht ausladen und wie auch andere Äste der Krone auf der Oberseite stark bemoost sind, liegen auf drei Eisenstäben und zwei Holzstangen, um den Baum zu entlasten. Der sich verjüngende Stamm strebt bis auf etwa 20 Meter Höhe senkrecht nach oben. Er ist mit etwa 20 Grad in die Richtung geneigt, an der die meisten waagerechten Hauptäste abgehen. Mit Stangen gestützte Eichen sind, im Gegensatz zu den gezogenen und gestützten Tanzlinden äußerst selten. Die Femeiche in Erle (etwa zwölf Meter Stammumfang), die Lenzeiche bei Sichertshausen (etwa 6,5 Meter Stammumfang) und die Königseiche sind die einzigen gestützten Eichen dieser Größe in Deutschland. Vor hundert Jahren hatte sie noch mehr als zehn Stützen und den Höhepunkt ihrer Wuchskraft. Der Stamm war noch vollständig geschlossen, die Krone dicht beastet. Sechs in etwa gleicher Höhe abgehende Äste bildeten einen Kranz. Wann die Stützen erstmals angebracht wurden, ist nicht überliefert. König Ludwig I. setzte sich bei seinen Kuraufenthalten in Brückenau für die Pflege der Eiche ein. Vermutlich wurden daraufhin die ersten Stützen angebracht, deren älteste Beschreibung aus dem Jahre 1838 stammt. Als in den 1960er Jahren der mit 22 Meter längste waagerecht verlaufende Ast herausbrach, bildete sich auf der Nordseite ein tiefer Spalt im Stamm. Der Ast war mit einem Eisenring versehen, der ihn zusammenhalten sollte. Er war in den Ast eingewachsen, bis er ihn schließlich sprengte. Um den eingewachsenen Eisenring wurden 84 Jahresringe gezählt. Der Stamm ist völlig hohl und hat einen etwa vier Meter hohen und 0,6 Meter breiten Riss, der nach dem Herausbrechen des großen Astes entstanden und mit einem engmaschigen Drahtgeflecht verschlossen ist. Ein Teil der gestützten Altäste ist ebenfalls hohl und es fehlt teilweise die obere Wandung, so dass sie nur aus einer Halbschale aus Rindenmaterial bestehen. Zusätzlich zu den Stützen ist die Eiche mit einer Kronensicherung aus etwa 20 Stahlseilen versehen, die strahlenförmig von der Hauptachse zu den waagerechten Seitenästen führen. Es handelt sich um eine statische Kronensicherung, bei der die Äste durch die Stahlseile mit dem Stamm verspannt sind. Die Seile sind an Gewindestäben, die durch die Äste gebohrt sind, befestigt und führen zu den in den Stamm geschraubten, teilweise eingewachsenen Halteösen. Seit dem heißen Sommer 2003 mehren sich die vorher geringen Totholzanteile, die regelmäßig herausgeschnitten werden; eine nachlassende Vitalität der Eiche ist bemerkbar. Einer der unteren Hauptäste weist mehrere starke Faulherde auf. Inschriftentafel An der Eiche ist eine Holztafel mit folgender Inschrift angebracht: Die Inschrift der Vorgängertafel lautete: Stammdurchmesser Der völlig hohle Stamm hatte im Jahre 2011 an der Stelle seines geringsten Durchmessers einen Umfang von 6,81 und in einem Meter Höhe von 7,11 Metern. Das Deutsche Baumarchiv gab im Jahre 2000 an der Stelle des geringsten Durchmessers einen Umfang von 6,68 und im Jahre 2001 in einem Meter Höhe von 7,00 Metern an. Der Stamm hat 2016 auf 1,3 Meter, der Höhe des sogenannten Brusthöhendurchmessers (BHD), einen Umfang von 7,00 und auf 1,5 Meter Höhe von 6,90 Metern. Im Jahre 1912 waren es auf gleicher Höhe noch 5,70 Meter. Der Überlieferung nach hat der Umfang in den vergangenen knapp hundert Jahren um etwa 1,2 Meter zugenommen, jährlich somit durchschnittlich um 1,2 Zentimeter. Dies deckt sich in etwa mit Messungen an der Stelle des geringsten Durchmessers im Jahre 1991 mit 6,60 und im Jahre 2016 mit 6,79 Metern. Ein Umfangszuwachs von 19 Zentimetern in 26 Jahren entspricht pro Jahr etwas unter 1 Zentimetern. Die Eiche wächst wegen des nährstoffarmen Bodensubstrats und der abgestützten Krone etwas langsamer als die meisten ihrer Art mit vergleichbarer Größe, bei denen die jährliche Umfangszunahme bei etwa 1,8 bis 2 Zentimetern liegt. Ähnlich langsam wuchs zwischen 1804 und 1996 mit einer jährlichen Umfangszunahme von 1,16 Zentimetern die im Umfang über zwölf Meter messende, etwa 800 Jahre alte größte Eiche im Tiergarten bei Ivenack, die stärkste Eiche in Deutschland und mit 140 Festmetern die massereichste in Europa. Alter Zum Alter der Eiche werden unterschiedliche Angaben gemacht. Die Untere Naturschutzbehörde schätzte es auf 400 bis 600, der Forstwissenschaftler Hans Joachim Fröhlich im Jahr 2000 auf 700 und das Deutsche Baumarchiv 2009 auf 360 bis 420 Jahre. Teilweise werden 1000 oder sogar 1500 Jahre angegeben. Dies dürfte aber erheblich zu hoch angesetzt sein. Da im Zentrum des Stammes das älteste Holz fehlt, ist weder eine Jahresringzählung, beispielsweise mit Hilfe einer Bohrkernentnahme oder durch eine Bohrwiderstandsmessung mittels Resistograph, noch eine Radiokohlenstoffdatierung möglich. Das tatsächliche Alter kann deshalb nur anhand des Stammumfangs und der Überlieferungen grob geschätzt werden. Aufgrund der Umfangszunahme in den vergangenen hundert Jahren von jährlich etwa 1,2 Zentimetern ist das Alter der Eiche auf maximal 500 Jahre anzusetzen, vorausgesetzt, dass die Eiche in jüngeren Jahren aufgrund ungünstiger Wachstumsbedingungen nicht langsamer gewachsen ist als in den letzten hundert Jahren. Die Zählung an einem im Jahre 2007 im äußeren Kronenbereich gestutzten Ast, der bis zur Mitte vollholzig war, ergab etwa 300 Jahresringe. Es ist jedoch nicht bekannt, wann die Eiche diesen Ast bildete. Vor etwa 120 Jahren kam es zu einer abrupten Änderung der Jahresringbreite. Die Jahresringe haben seitdem nur noch einen etwa halb so großen Abstand voneinander wie vorher. Dies könnte auf die Entlastung des Astes durch die Abstützung zurückzuführen sein. Geschichte Älteste Überlieferungen Im Jahre 1747 wurde unter dem Fuldaer Fürstabt Amand von Buseck die erste Heilwasserquelle gefasst. Dies war der Beginn des Kurbetriebs in dem fuldaischen Bad. Bei der Gestaltung der Gartenanlage im Kurpark wurde um die Eiche ein freier Platz gelassen, auf den einer der Hauptwege zuführt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es zu einer ersten Blütezeit im Kurbetrieb des Bades, wie aus zahlreichen Schilderungen hervorgeht. In vielen dieser Berichte ist die Eiche erwähnt und abgebildet. Auf einem Kupferstich des Künstlers Egid Verhelst aus dem Jahre 1780 ist die Eiche mit einer spitz zulaufenden, hochreichenden Krone abgebildet. Dies ist die älteste bekannte bildnerische Darstellung des Baumes. Die älteste Beschreibung, in der sie als stolze Eiche bezeichnet wird, stammt ebenfalls aus dem Jahre 1780. Der Badearzt Melchior Adam Weikard schrieb damals in einer Brunnenschrift: Eine Skizze des Staatsbades von 1781 zeigt die Kuranlage mit der Eiche und dem Wappen von Heinrich von Bibra, Fürstbischof von Fulda. Leopold Friedrich Günther von Goeckingk, ein Publizist schrieb im Jahre 1782 in Deutsches Museum, einer Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben: Zwei Jahre später, im Jahre 1784, schrieb er in der monatlich erscheinenden Zeitschrift Journal von und für Deutschland: „auch verdient eine stolze Eiche bewundert zu werden, unter deren Schatten mehr als hundert Personen, auf den, rings angebrachten, Rasenbänken und Kanapeen, Platz finden.“ Auf weiteren Kupferstichen des Staatsbads vom Ende des 18. und des folgenden Jahrhunderts ist die Eiche zu erkennen. Ein überarbeiteter Stich von Verhelst aus dem Jahre 1790 zeigt sie mit einer großen, halbkugelförmigen Krone. Christian von Eggers schrieb 1810 in Reise durch Franken, Baiern, Oesterreich, Preußen und Sachsen über seine Reise nach Brückenau im Jahre 1804: „In dem Garten, der zum allgemeinen Spaziergang dient, sind schöne Alleen. Ich bemerkte eine sehr große Eiche von acht Ellen im Umfange, die einen ungemein breiten Gipfel hat. Er umschattet reichlich die in der Runde angebrachten Sitze.“ Ludwigszeit Nach mehreren Herrschaftswechseln wurde Brückenau 1816 durch den Wiener Kongress dem Königreich Bayern zugesprochen. Eine der ersten Ansichten des bayerischen Kurbads aus dem Jahre 1817/1818 stammt von dem Architekturmaler Domenico Quaglio, der auf einem Aquarell die Eiche mit einer großen Krone darstellte. Im Jahre 1818 besuchte Kronprinz Ludwig von Bayern zum ersten Mal das Staatsbad. Er war ein Förderer der Künste und Wissenschaften und stellte im gleichen Jahr die Laubwälder und insbesondere die alten Eichen im Staatsbad Brückenau unter seinen besonderen Schutz. Bei seinen insgesamt 26 oft monatelangen Kuraufenthalten zwischen 1818 und 1862 in Brückenau, ab 1825 als König von Bayern, besuchte er regelmäßig die Königseiche und ruhte darunter. Im Jahre 1822 schrieb der Arzt Johann Evangelist Wetzler in Gesundbrunnen und Heilbäder: Im Jahre 1823 schrieb der Königlich Bayerische Forstmeister Stephan Behlen in Der Spessart: Zwei Jahre später, im Jahre 1825, schrieb der Brückenauer Kurgast H. von Martin in Briefe aus dem Bade Brückenau: Um das Jahr 1835 ging eine andere Eiche ein, die etwa 150 Meter westlich der Königseiche etwas höher als diese stand. Sie hatte einen ähnlichen Umfang, war ungefähr gleich hoch und ist ebenfalls in den älteren Schilderungen des Kurbads beschrieben und abgebildet. Der Schriftsteller Gustav Kühne erwähnte im Jahre 1838 in der Zeitung für die elegante Welt erstmals Stützen zur Entlastung der großen Krone: „Der König unterhält das Bad auf eigene Kosten, setzt aber dabei noch immer jährlich nicht unansehnlich zu. In der Nähe seiner Wohnung ist eine berühmte Eiche, deren Zweige mit Eisenstangen unterstützt werden, und deren Alter auf fünfzehnhundert Jahre geschätzt wird.“ Am 29. Juli 1840 schrieb Ludwig I., der später auch von seinem Enkel, dem späteren Bayernkönig und Kunstliebhaber Ludwig II., begleitet wurde, unter der Eiche das Gedicht Unter der großen Eiche im Bade Brückenau: In einer Topografie des Bades Brückenau schrieb der Badearzt Franz Kilian Josef Schipper im Jahre 1847 über die Eiche: Bei der ersten flächendeckenden Vermessung im damaligen Königreich Bayern in den Jahren 1808 bis 1853 wurde die Eiche auf dem Uraufnahmeblatt Bad Brückenau – NW CIV 56 vom November 1848 mit der Flurnummer 284 und der Bezeichnung Königseiche eingetragen. Der Kurbetrieb in Brückenau hatte von Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts eine zweite Blütezeit, als zahlreiche Monarchen aus dem Ausland zur Kur kamen und den Baum besuchten. Unter der Eiche weilten König Maximilian II. im Jahre 1856 und im Jahre 1873 die Königin Amalie von Griechenland bei ihren längeren Kuraufenthalten in Brückenau. Weitere Besucher des Kurbades und der Eiche waren im Jahre 1857 die Zarinwitwe Alexandra Fjodorowna, die Zarin Marija Alexandrowna und die Königin von Bayern, Marie Friederike. Der Gärtner und Gartenschriftsteller Hermann Jäger schrieb im Jahre 1861 in der Zeitung zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnis und Naturanschauung für Leser aller Ständ: „Ich kenne eine Eiche bei Brückenau am südlichen Fuße des Rhöngebirges, welche seine 4 Fuß Stammdurchmesser und noch keinen trockenen Ast hat, also verhältnismäßig noch jung (etwa 200 Jahre alt) ist, die mit ihren 35 dichtbelaubten Ästen eine Krone von 125 Fuß Durchmesser bildet, also noch mehr’ als die starke Eiche in Frankreich.“ Luitpoldzeit Prinzregent Luitpold enthüllte 1897 in Brückenau ein zu Ehren seines Vaters Ludwig I. errichtetes Denkmal. Bei der Königseiche trank er ein Glas Wein auf eine erfolgreiche Zukunft von Brückenau. Auch Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn weilte im Jahre 1898 vier Wochen dort. Aus dem Jahre 1900 stammt die erste detaillierte Beschreibung der Eiche. Der Baumfotograf Friedrich Stützer, Inspektor der königlich bayerischen Staatseisenbahn in München, schrieb in seinem Baumbuch Die größten, ältesten oder sonst merkwürdigen Bäume Bayerns in Wort und Bild: Etwa ab 1900 wurde die Eiche auf Ansichtskarten abgebildet. Um die Jahrhundertwende und in den Jahren danach schwankte die Anzahl der Stützen. 1912 waren es 13, zeitweise bis zu 16, also deutlich mehr als heute mit 5. In den Mitteilungen der Deutschen Dendrologischen Gesellschaft des Jahres 1912, einem Jahrbuch des 1892 gegründeten Vereins, schrieb der Königliche Landesökonomierat August Siebert: Neuere Zeit In Schneiders Rhönführer aus dem Jahre 1928 steht: „Aus dem Schloßgarten führt westlich ein durch das Ineinanderwachsen von 16 Lindenbäumen gebildetes Laubgewölbe zur Königseiche, welche wohl über 1000 Jahre alt sein mag und durch lange, horizontal ausgestreckte Äste eine Strecke von ca. 30 m im Durchmesser bedeckt.“ In den letzten 50 Jahren wurden an der Eiche mehrmals Baumpflegemaßnahmen durchgeführt. Im hohlen Stamm wurde das morsche und pilzbefallene Holz entfernt, dann wurde er gedexelt, der Rest geglättet und die Oberfläche mit pilztötenden Mitteln behandelt. Um den Stamm zu stabilisieren, wurden mehrere sich kreuzende Gewindestäbe mit Überrohren im Hohlraum angebracht. Die Krone wurde mit einer Kronensicherung versehen, Äste wurden eingekürzt und zurechtgestutzt und an Schnittflächen Wundverschlussmittel aufgebracht. Drei der Holzstützen wurden durch Eisenstäbe ersetzt, mit denen die Äste durch Gewindestäbe mit offenen Bögen verbunden sind. Eine Sitzbank rings um den Stamm aus dem 19. Jahrhundert wurde entfernt, um eine weitere Bodenverdichtung im Wurzelbereich zu vermeiden. Im Jahre 1996 wurde der Baum saniert und dabei ein Nachlassen der Vitalität sowie ein hoher Anteil an Totholz festgestellt. Ein Fachunternehmen führte eine Kronenpflege durch, erneuerte die Abstützungen und baute eine neue Stütze ein. Alte Wunden und Faulstellen wurden überprüft und die Verankerungen der Halteseile kontrolliert. Gleichzeitig wurde die Bodenart bestimmt und eine Nährstoffanalyse durchgeführt. An einem hohlen Starkast wurde eine Restwandstärkenmessung durchgeführt. Die Eiche hat sehr unter dem heißen (dem wärmsten seit mindestens 250 Jahren) und teilweise trockenen Sommer des Jahres 2003 gelitten. Ihre bis dahin noch gute Vitalität hat dabei weiter nachgelassen. Im äußeren Kronenbereich starben mehrere Äste ab. Dies ist wohl auf die Grundwasserabsenkung und den sich daraus ergebenden Wassermangel zurückzuführen. Es wurde begonnen, dem Verfall entgegenzuwirken, indem die Baumscheibe jährlich mit einem Bodenaktivator gedüngt wird, um über die Bodenstruktur günstigere Bedingungen für die Wurzeln zu schaffen. In trockenen Phasen wird die Eiche bei Bedarf im möglichen Maß gewässert. Die abgestorbenen Äste wurden im Winter 2005/2006 entfernt; die Krone wurde zurechtgestutzt und die Kronensicherung überprüft. Die Gärtnerei des Staatsbades brachte im Frühjahr 2006 spezielle Vitalpilze (Mykorrhiza) in den Wurzelbereich ein. Seit 2008 wird im Herbst der Boden im Kronenbereich mit einer Laubschicht abgedeckt, die das ganze Jahr dort verbleibt, um eine Austrocknung der oberen Bodenschichten zu vermeiden. Aufgrund der weiter nachlassenden Vitalität fanden im Frühjahr 2009 weitere Pflegemaßnahmen durch ein Fachunternehmen statt. Hierbei wurden erneut tote Äste entfernt und die Stahlseilanbindungen überprüft. Zusätzlich wurde eine Kronensicherung nach dem BOA-System durchgeführt. Bei dieser neueren Form der Astsicherung wurden die seitlich abstehenden Äste mittels Seilverbindungen, die in Schlaufen enden, an einem oder mehreren Hauptästen angebunden, so dass sich die Last innerhalb des Baumes verteilt. Im September 2012 wurden zehn neue Stahlstützen angebracht. Von den bisherigen Holzstützen blieben zwei übrig. Von den zehn neuen Stützen aus etwa acht Zentimeter dicken Rundrohren sind sieben als A-Stützen ausgeführt, die auch seitliche Kräfte abfangen können. Die Äste sind mit Spanngurten auf den Stützen befestigt, deren Auflagefläche mit Gummi beschichtet ist. Durch Lücken im Gummi kann das Wasser besser abfließen. Ein Teil der Stützen besitzt ein Gewindeteil und kann nachjustiert werden. Die Stützen sind in 20 Zentimeter tiefe Betonfundamente eingelassen. Siehe auch Liste der Naturdenkmäler im Landkreis Bad Kissingen Liste der dicksten Bäume in der Rhön Liste markanter und alter Baumexemplare in Deutschland Literatur Rainer Gerber: 175 Jahre Baumpflege: Die König-Ludwig-Eiche. In: TASPO BaumZeitung, 03/2014, Seiten 31–34. Weblinks König-Ludwig-Eiche. In: DeutschesBaumarchiv.de König-Ludwig-Eiche. In: BR.de Einzelnachweise Einzelbaum in Bayern Gedenkbaum Naturdenkmal im Landkreis Bad Kissingen Bad Brückenau Geographie (Rhön) Einzelbaum in Europa Ludwig I. (Bayern) als Namensgeber Individuelle Eiche oder Baumgruppe mit Eichen
2271561
https://de.wikipedia.org/wiki/Nekomata
Nekomata
Eine Nekomata ( oder ; von japanisch neko „Katze“ und mata „Gabelung“ oder „gegabelt“; vollständig also „Gegabelte Katze“) ist ein fiktives Wesen aus dem japanischen Volksglauben, das sich aus einer Hauskatze entwickeln kann, aber auch wild in bestimmten Bergregionen Japans und Chinas hausen soll. Sie gehört zur Gruppe der höheren Dämonen, der Yōkai. Die Nekomata wird als eine Verwandte des Bakeneko (ebenfalls ein zauberkundiger Katzendämon) angesehen, wobei die Übergänge fließend sind und die Nekomata sehr oft mit den Bakeneko verwechselt werden. Erst der doppelte beziehungsweise gegabelte Schweif soll eine Unterscheidung sichern. Nekomata gelten im traditionellen Volksglauben als bösartig, im Gegensatz zur Maneki-neko, der „Winke-Katze“, die Glück bringen soll. Der Glaube an Nekomata ist sowohl im Buddhismus als auch im Shintoismus vertreten. Auch aus der chinesischen Mythologie sind mit Nekomata vergleichbare Katzendämonen bekannt. Erzählungen und Sagen über vorgebliche Begegnungen mit Nekomata sind mindestens seit dem frühen Autor Yoshida Kenkō (1283–1350) der Übergangszeit von der Kamakura-Zeit (1185–1333) zum Beginn der Muromachi-Zeit (1336–1573) überliefert. Hintergründe Etymologie Von den unterschiedlichen zur Schreibung des Japanischen verwendeten Schriftsystemen sind zwei für die Etymologie von „Nekomata“ von Bedeutung: Kanji (aus der chinesischen Schrift übernommene Zeichen) und Hiragana (eine japanische Silbenschrift). Die älteste Schreibung des Namens „Nekomata“ war eine Kombination aus dem Kanji, (neko) für „Katze“ und den beiden Hiragana-Zeichen また (mata). Eine spätere Schreibung verwendete die beiden Kanji . Das zweite Kanji hat die Bedeutung „Gabelung“ bzw. „gegabelt“ und zusammen ergeben die Kanji – in Bezug auf den doppelten Schweif – die beschreibende Bezeichnung „gegabelte Katze“. Die am häufigsten gebrauchte Schreibung erfolgt jedoch mit den Kanji . Auch hier steht das erste Kanji für „Katze“. Zur Bedeutung des zweiten gibt es unterschiedliche Erklärungen. Eine erklärt das zweite Kanji mit der Bedeutung des Zählwortes mata wa („vielfach“, „wiederholen“, aber auch „entweder oder“) und bezieht sich auf den doppelten Schweif des Dämons. Die zweite Erklärung bezieht sich auf die Bedeutung des Kanji im Sinne von „wieder“ oder „auch“. Die „Wieder-Katze“ oder „Auch-Katze“, auch übersetzt als „Wiedergänger-Katze“, wäre demnach auf den im Volk verbreiteten Aberglauben zurückzuführen, dass eine Katze mehrere Leben besitze. Beide Kanji, und , sind spätere Hinzufügungen. Höchstwahrscheinlich sind sie ein Versuch, Erklärungen für ein aus der Vergangenheit tradiertes Wort zu bieten, dessen eigentliche Bedeutung durch die Abweichungen innerhalb der Überlieferungen verloren ging (sogenanntes Stille-Post-Prinzip), sodass zwischen Wortherkunft und heutiger Bezeichnung kein klarer Bezug mehr hergestellt werden kann. Der genaue Ursprung des Namens Nekomata ist somit nicht überliefert. Da mata jedoch auch „Gabelung“ oder „gegabelt“ bedeutet, was dem Aussehen des Dämons am ehesten gerecht wird, wird der japanische Name Nekomata in moderner Literatur gemeinhin mit „gegabelte Katze“ übersetzt. Traditionelle Beschreibung Der japanischen Folklore zufolge sollen Nekomata einer gewöhnlichen Katze sehr ähnlich sein, sie fallen jedoch durch ihre ungewöhnliche Größe und durch zwei Schweife auf. Sie sollen dann entstehen, wenn eine Hauskatze ungewöhnlich alt (meist älter als drei beziehungsweise dreizehn Jahre) oder fettleibig und schwerer als acht Pfund (entspricht 4 kg) wird. Es heißt zudem, dass Nekomata, wenn sie sich unbeobachtet fühlen, aufrecht auf zwei Beinen gehen. Außerdem sollen sie sich in alte Frauen verwandeln können. Des Weiteren werden ihnen gewisse schwarzmagische Kräfte nachgesagt: So können sie nicht-magische Hauskatzen verhexen, Hitodama beschwören und sich vom Blut ihrer Besitzer ernähren (ähnlich wie Vampire). Im chinesischen Volksglauben heißt es, dass die Schweife einer Nekomata während der Nacht zu Schlangen würden, weshalb es bereits im frühen 11. Jahrhundert Mode wurde, den Hauskatzen die Schwänze zu kupieren. Um 1602 wurde dies durch kaiserlichen Beschluss verboten. Verschiedene Formen Der japanische Volksglaube unterscheidet zusätzlich grob zwischen zwei Formen der Nekomata: Die eine lebt als wildes Tier in den Bergen, während die andere Form in Häusern lebt und sich aus der Hauskatze entwickelt. Dabei ist zu beobachten, dass die Körpergröße der Nekomata im Laufe der Zeit in den Überlieferungen zunimmt. 1685 berichtet das Shinchomonshū von einer Nekomata, die in den Bergen der Provinz Kii gefangen wurde und die annähernd die Größe eines Wildschweins besessen haben soll; 1775 berichtet das Wakun no shiori vom Brüllen einer Nekomata, das aus den Bergen zu vernehmen war, worauf die Größe eines Löwen oder Panthers angenommen wurde. Das Gūisō () von 1809 weiß von einer 2,8 m großen Nekomata zu berichten, die einen Hund im Maul davontrug. Ähnlichkeiten mit der Bakeneko Nekomata werden recht häufig mit den ihnen ähnlichen Bakeneko ( „Monsterkatze“) verwechselt. Dies rührt daher, dass Bakeneko nicht nur äußerlich den Erstgenannten gleichen (auch sie haben das Aussehen einer Hauskatze), beide Dämonen sind zauberkundig, können ihre Gestalt ändern und entstehen auf die gleiche Art und Weise. Daher ist es für Unkundige oft nicht leicht zu erkennen, welche Legende oder Anekdote von einer Nekomata und welche von einer Bakeneko erzählt, es sei denn, der Dämon wird bei seiner Eigenbezeichnung genannt. Unterschiede zwischen beiden Wesen bestehen darin, dass Nekomata aufrecht auf zwei Beinen gehen und zwei oder mehr Schweife besitzen, während die Bakeneko nur einen Schweif besitzt und stets auf allen vieren läuft. Überlieferungen Wilde Nekomata Die bislang früheste Nennung des Wortes „Nekomata“ findet sich im Zuihitsu Tsurezuregusa ( „Betrachtungen aus der Stille“) aus den Jahren 1334 bis 1339, verfasst von dem buddhistischen Mönch Yoshida Kenkō. Eines dieser Essays erzählt von einem frommen Priester und eifrigen Dichter namens Amedabutsu, der in der Nähe des Gyōgan-Tempels lebt. Von seinen Nachbarn erfährt er, dass in den nahegelegenen Bergen eine ‚Nekomata‘ gesichtet worden sei, ein Monster, das Menschen fresse. Die Leute berichten ihm: Amedabutsu sagt sich daraufhin: „Ich sollte wohl vorsichtig sein, wenn ich allein unterwegs bin.“ Als der Dichter spät abends von einer Vorlesung heimkehrt und im Dunkeln von einem zunächst undefinierbaren Wesen angefallen wird, hält er es für eine Nekomata und erschrickt. Der Mann stürzt in einen Bach und ruft um Hilfe. Im Schein der Fackeln der herbeieilenden Anwohner erkennt Amedabutsu, dass es in Wirklichkeit sein eigener Haushund war, der sein Herrchen im Dunkeln wiedererkannt, begrüßt und unbeabsichtigt in den Bach gestoßen hatte. Amedabutsu aber, obwohl er seine kostbaren Gedichte und Schreibutensilien bei dem Sturz verloren hatte, kehrt nach Hause zurück, als sei ihm soeben die Flucht seines Lebens geglückt, und er wird von den Dorfbewohnern gehörig ausgelacht. Aus dem Jahr 1685 stammt ein Kawaraban (traditionelles japanisches Flugblatt), das von einer als Ōneko ( „Riesenkatze“) bezeichneten Nekomata berichtet: In der Ortschaft Azabu (heute Stadtteil von Tokio) sollen wiederholt Menschen angegriffen und Hunde und sogar Füchse verletzt oder getötet worden sein. Nach mehreren Versuchen, das Tier zu vertreiben oder zu erlegen, konnte die Kreatur in einem Käfig gefangen werden. Der Erzählung zufolge entpuppte sich das Tier als eine fast drei Fuß (entspricht ca. 91,0 cm) hohe Katze mit gegabeltem Schweif. Begleiter des Menschen Im Yamato Kaiiki ( „Mysteriöse Geschichten Japans“), um 1709 von einem unbekannten Autor geschrieben, wird von dem Haus eines Samurai berichtet, in dem es immer wieder zu unerklärlichen Hitodama-Erscheinungen kommt: Unheimlich glühende Feuerbälle, welche knapp 8 cm über dem Boden schweben, werden im und um das Haus herum beobachtet, alle Versuche, sie zu erhaschen, bleiben erfolglos. Eines Abends beobachten die Bewohner des Wohnviertels einen ganzen Pulk von Hitodama in einem Baumwipfel eines Nachbargartens. Gleichzeitig werden die Dienerinnen des Samurai von Poltergeist-Aktivitäten erschreckt: Ihre Schlafkissen rotieren wie Kreisel und bei einer der Dienerinnen bewegt sich das Kissen in alle Himmelsrichtungen, bevor sie spurlos verschwindet. Der Samurai bittet unzählige Schamanen, Beschwörer und Priester um Hilfe, doch keiner findet die Quelle oder den Urheber des Spuks. Auch bleiben ihre Gebete und Bannsprüche wirkungslos. Eines Tages schließlich entdeckt der Hausherr eine sehr alte Katze, die auf ihren Hinterbeinen über das Dach spaziert und ein Kopftuch mit dem Namen der verschwundenen Dienerin trägt. Als der Mann die Katze mit Pfeil und Bogen tötet, entdecken die Anwohner, dass das Tier zwei Schweife besitzt und somit offenkundig eine Nekomata war. Mit dem Tod der Dämonenkatze sollen die Vorkommnisse umgehend geendet haben. Eine ähnliche Anekdote findet sich im Buson yōkai emaki ( „Busons bebilderte Erzählung der Yōkai“), das um 1754 von Yosa Buson (* 1716 – †1784) verfasst wurde. Darin heißt es, auf dem Anwesen Nagoya () des Fürsten Sakakibara () habe sich eine Nekomata herumgetrieben und die Bewohner schikaniert. Einer der Gefolgsleute, ein gewisser Inaba Rokurō, stellt das Wesen schließlich. Die Nekomata richtet sich auf, klopft sich mit den Pfoten auf den Bauch und ruft frech: „Schieß doch!“. Inaba beschießt das Monster über fünfzig Mal mit seiner Arkebuse, doch die Schrotkugeln prallen vom Bauch der Katze ab, ohne diese zu verletzen. Die Erzählung lässt offen, ob die Nekomata je vertrieben werden kann. Auch in Schriftstücken wie dem Taihei Hyaku Monogatari ( „Sammlung von 100 Märchen“) von Ichinaka Sanjin Yūsa aus dem Jahre 1732 wird von einer Nekomata berichtet. Ein Besucher des buddhistischen Hyongo-Tempels zu Kyōto nutzt die Abwesenheit des Abts, um sich im Tempel umzusehen. Durch einen Türspalt beobachtet er in einem Nebenzimmer drei wunderschöne, junge Frauen bei einer Konversation. Dies kommt dem Besucher seltsam vor, immerhin ist dies ein Tempel und der Abt ist eigentlich als asketisch lebender Kleriker bekannt. Als der Abt zurückkehrt und den jungen Mann in jenen Raum einlädt, in dem zuvor die Frauen waren, sitzen dort nun – zur großen Überraschung des Besuchers – drei Katzen. Der Mann alarmiert den Abt, als er die Katzen als Nekomata identifiziert, und der Abt jagt die Wesen aus dem Tempel. Aus Rache belegen die Nekomata den Besucher mit einem Fluch, an welchem der junge Mann zugrunde geht. Im Rōō Chawa ( „Teeplaudereien alter Frauen“) von Kida Tomizō () aus dem Jahr 1742 wird gleichfalls von Begegnungen mit Nekomata erzählt. Eine alte Katzenliebhaberin befindet sich auf einer Pilgerreise zum Suwa-Schrein und liest nahe dem dortigen Ema-Schrein eine kleine rote Katze auf. Überglücklich beschließt die alte Frau, die Katze mit nach Hause zu nehmen, doch das Tier ist plötzlich verschwunden. Bald darauf beginnt die Katzenoma, ein seltsames Augenleiden zu entwickeln, aufgrund dessen sie ihr dunkles Zimmer nicht mehr verlässt. Unverständlicherweise verweigert sie jede Hilfe. Eines Tages entdeckt einer der Hausdiener in einem nahegelegenen Feld Knochen und blutige Kleidungsstücke von Dienerinnen, die zuvor als vermisst gemeldet wurden. Auf dem Weg zum Hausherrn, dem er den Fund melden will, trifft er auf die alte Katzenoma. Diese reagiert erbost bei dem Anblick der Fundsachen. Sie reißt dem unglücklichen Diener die Sachen aus der Hand und droht ihm: „Wenn Du meinem Sohn von diesen Knochen und Kleidern erzählst, verschlinge ich dich hier und jetzt!“ Die alte Frau gerät daraufhin in Verdacht, in Wirklichkeit eine Nekomata zu sein: Ein Nachbar hatte mehrfach beobachtet, wie die Alte über den hohen Zaun des Grundstücks sprang und im Bach direkt dahinter Blut vom Mund wusch. Plötzlich tauchte ein großer, schwarzer Hund auf und biss der Frau in den Arm. Doch die alte Frau schüttelte den Hund einfach so ab und sprang wieder zurück über den Zaun. Als der Nachbar dem Hausherrn davon erzählt, sagt dieser: „Zweifellos war es jene rote Katze, die meine Mutter verschlungen und ihre Gestalt angenommen hat. Meine Mutter hat sich stets um ihr zukünftiges Leben gesorgt und deshalb regelmäßig zu Buddha gebetet. Aber seit letztem Sommer hat sie Buddha keine Blumen und kein Parfüm mehr dargereicht und sie hat sich in ein dunkles Zimmer verkrochen. Sie schaut mich auch nicht mehr an, wohl deshalb, weil die Augen einer Katze sich zu jeder vollen Stunde verändern. Lasst uns Hunde auf sie ansetzen und sehen, was passiert.“ Daraufhin leiht sich der Hausherr die stärksten und mutigsten Hunde aus und entlässt sie in das Zimmer seiner Mutter. Kaum haben die Hunde die alte Frau erblickt, bellen sie wie verrückt und versuchen augenblicklich, sie in Stücke zu reißen. Noch während des Kampfes offenbart die Frau ihre wahre Gestalt: Es war in der Tat jene rote Katze, welche die alte Frau dereinst am Ema-Schrein aufgelesen hatte. Eine weitere Erzählung stammt aus dem Epos Nansō Satomi Hakkenden ( „Die Geschichte der acht Hunde aus [dem Hause] Satomi in Nansō“) von Kyokutei Bakin, das in den Jahren 1814–1842 verfasst wurde. Einem der „Hunde“, genannt Inumura Daikaku (), gelingt es nach einem spektakulären Kampf eine Nekomata zu töten. Eine ebenfalls bekannte Legende aus dem Jahr 1840 handelt von dem jungen Daimyō des Nabeshima-Clans von Hizen, der von einer Nekomata bedroht wird. Der Daimyō zieht sich regelmäßig des Abends mit seiner ihm liebsten Geisha in die privaten Gemächer zurück, nachdem das Pärchen im Garten spazieren war. Bei einem dieser üblichen Abendspaziergänge werden der Daimyō und die Geisha von einer Nekomata beobachtet und verfolgt. Diese schleicht sich in das Privatzimmer der Geisha, um ihr unter dem Bett aufzulauern. Als die Geisha einschläft, wird sie von der Nekomata überrascht und erwürgt. Der Katzendämon vergräbt den Leichnam im Garten. Dann nimmt er die Gestalt der Geisha an und schafft es so tatsächlich, jeden im Palast zu täuschen. Die Nekomata schleicht sich von nun an stets um Mitternacht in das Schlafgemach des Daimyō, um von dessen Blut zu trinken. Der Daimyō ahnt nichts davon, doch er wird vor den Augen der besorgten Familie immer blasser und kränklicher. Die Hofärzte sind erstaunt und zunächst machtlos. Schließlich raten sie Daimyō und Hofstaat, die Schlafgemächer rund um die Uhr scharf bewachen zu lassen. Doch wie durch Zauberei fallen sämtliche Wachen punkt Mitternacht in tiefen Schlaf und der junge Daimyō siecht mehr und mehr dahin. Eines Tages meldet sich ein junger Soldat bei Hofe. Er gibt vor, eine Technik zu beherrschen, mit deren Hilfe er ganz sicher Tage und Nächte über wach bleiben könne. Und so bezieht er vor dem Gemach des Daimyō Stellung. Gegen Mitternacht wird er Zeuge, wie die Soldaten wie auf Knopfdruck einschlafen. Er zieht einen Dolch und sticht sich immer wieder mit der Klingenspitze, um bloß nicht einzuschlafen. Kurz darauf beobachtet er eine wunderschöne Geisha, die sich auf allen vieren in das Gemach des Daimyō schleicht. Als der Soldat diese mit gezogenem Schwert stellt, starrt sie ihn mit leuchtend gelben Katzenaugen verächtlich an und läuft weg. Dieser Vorfall wiederholt sich vier Nächte lang. In dieser Zeit erholt sich der Daimyō auf wundersame Weise wieder. Dem jungen Soldaten kommt schließlich ein Verdacht. Doch als er den Herrn des Hauses auf die verdächtigte Geisha anspricht, wird dieser ungehalten und schimpft den Soldaten aus. Doch Letzterer ist überzeugt, dass die Geisha nicht die Person ist, die sie zu sein vorgibt. Also wartet er wieder bis Mitternacht und sucht das Schlafgemach der Geisha auf. Die Frau öffnet ihm und der Soldat überreicht ihr ein Papier mit magischen Bannsprüchen mit der Bitte, die Geisha möge ihm doch das Geschriebene vorlesen. Daraufhin fängt die Frau an zu fauchen und spucken, ganz wie eine Katze dies tut, wenn sie sich bedroht sieht. Sie ergreift eine Hellebarde und der Soldat und die Dämonin kämpfen erbittert miteinander, bis die Wachen vom Kampflärm wach werden und in den Kampf eingreifen. Die falsche Geisha offenbart ihre wahre Gestalt, wird wieder zu einer Katze mit zwei Schweifen und springt aus dem Fenster. Der Soldat berichtet dem Daimyō von dem Kampf und eine der Wachen zeigt dem Hausherrn den Leichnam der echten Geisha. Der Daimyō ist entsetzt und ordnet an, dass die Katze unverzüglich zu töten sei. Dies gelingt dem Soldaten schließlich auch. Weitere Überlieferungen Theater Ähnlich wie Bakeneko und Tanuki sind Nekomata ein geläufiges und althergebrachtes Maskenmotiv im japanischen Kabuki-Theater. Im Jahr 1740 wurde im japanischen Puppentheater, dem Bunraku, zum ersten Mal ein mit magischen Kräften ausgestatteter Katzendämon in dem Stück Honryō Nekomata Yakata dargestellt. Im Kabuki-Theater entstanden im 19. Jahrhundert einige weitere Stücke (so zum Beispiel Hitori Tabi Gojūsan Tsugi (, 1827), Hanano Saga Nekomata Sōshi (, 1853) und Saga no Oku Yomyō Sōshi (, 1880)), in der eine Nekomata eine Hauptrolle spielte. In verschiedenen Varianten und mit neuen Titeln versehen kamen diese Stücke im Verlauf des Jahrhunderts gelegentlich erneut auf die Spielpläne der Theater der Edo-Epoche. Die Aufführung von Hanano Saga Nekomata Sōshi wurde allerdings nach wenigen Inszenierungen auf Einspruch des Saga-han wieder aus dem Programm genommen, weil die Handlung den Mord an einem ranghohen, blinden Beamten und die Verwandlung seiner Frau in eine Nekomata zum Gegenstand hatte. Körperschmuck Abbildungen von Nekomata als Kleidermotiv und sogar als Tätowierungen sind seit der späten Edo-Zeit (ab etwa 1750) überliefert. So sind die Körper der Heldengestalten des Suikoden () unter anderem mit blauen Abbildern von neunschwänzigen Katzen verziert. Auch heute gehören Tattoos mit Nekomata als Körperverzierungen in Japan zu den beliebten Motiven. Moderne Film Nekomata sind ein häufiges Motiv in modernen Horrorfilmen, so zum Beispiel in „The Ghost Cat of Otama Pond“ und „Kuroneko“ („Schwarze Katzen“). Dort entsprechen sie dem modernen Stereotyp der „rachsüchtigen Katzenfrau“ und gehen auf den alten, chinesischen wie japanischen Volksglauben zurück, man müsse jungen Kätzchen die Schwänze kupieren, weil sie sonst irgendwann zu Bakeneko oder Nekomata würden. In den Filmen werden die Nekomata als schöne und aufreizende Frauen beschrieben, die ihre dämonische Katzengestalt offenbaren, sobald ein männliches Opfer auf sie hereinfällt. Manga und Anime Nekomata sind außerdem ein populäres Motiv in modernen Anime-Serien und Fantasy-Romanen. Eine bekannte Nekomata ist Kirara aus der Manga- und Anime-Reihe Inuyasha () von Takahashi Rumiko, die im Normalzustand als kleines Kätzchen mit zwei Schweifen auftritt und sich im Erregungszustand (oder auf Befehl ihrer Herrin Sangō hin) in einen riesigen, flugfähigen Säbelzahntiger verwandelt. Eine weitere bekannte Nekomata ist Kūro alias „Blackie“ aus der Manga- und Animereihe Ao no Exorcist (). Kūro erscheint dort als zahme, stets melancholisch gestimmte Katze, die geduldig auf die Rückkehr ihres Hausherrn wartet. Als Kūro durch die Wachen vom Tod des Meisters erfährt, erleidet er einen Wutanfall und verwandelt sich in eine riesige Nekomata. Erst der Sohn des Hausherrn kann Kūro wieder beruhigen. Auch in der beliebten Manga-Reihe Naruto () erscheint eine Nekomata: „Matatabi“, besser bekannt als Nibi ( „Zweischweif“). Dieser Dämon erscheint in Gestalt einer riesigen Raubkatze mit verschiedenfarbigen Augen und zwei Schweifen, deren Körper vollständig aus blauen Flammen besteht. Zwei weitere Nekomata tauchen in High School DxD auf: Es sind Kuroka Tōjō und ihre Schwester Koneko Tōjō. Spiele Das Pokémon Psiaugon aus der gleichnamigen Spielereihe basiert auf der Nekomata. Sein Aussehen ist an eine zweischwänzige Katze angelehnt, sein japanischer Name Nyaonix heißt soviel wie „miauende Kralle“. Mythologische Verwandte oder ähnliche Wesen Neben der Nekomata existieren im Shintō-Glauben und im Buddhismus weitere, der Nekomata ähnliche und – gemäß dem Volksglauben – mit ihr verwandte Katzendämonen: Bakeneko: Ein Gestaltwandler und Totenbeschwörer, der nur einen Schweif besitzt. Er wird mit der Nekomata oft verwechselt. Kasha: Ein Jenseitsdämon, der Leichname stiehlt und in einer brennenden Kutsche umherreist. Sein Körper soll ganz aus Flammen bestehen. Maneki-neko: Ein glücksbringendes Geistwesen in Gestalt einer unablässig winkenden Katze. Sie ist heute vor allem als kleine Figurine bekannt, die als Massenware hergestellt und in Geschäften, privaten Wohnhäusern und auf Märkten aufgestellt wird. Nekogami: Katzengottheiten, die in speziellen Schreinen verehrt und um Segen und Wohlstand gebeten werden. Der in Japan bekannteste Schrein der Katzenverehrung ist der Nekogami-jinja (猫神神社 „Katzengott-Schrein“) in Kagoshima. Literatur Susanne Formanek: Die „böse Alte“ in der japanischen Populärkultur der Edo-Zeit. Die Feindvalenz und ihr soziales Umfeld (= Beiträge zur Kultur- und Geistesgeschichte Asiens. Band 47; = Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Sitzungsberichte 727). Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2005, ISBN 3-7001-3546-7. Willem Robert van Gulik: Irezumi. The Pattern of Dermatography in Japan (= Mededelingen van het Rijksmuseum voor Volkenkunde. Vol. 22, ). Brill, Leiden 1982 (Zugleich: Leiden, Univ., Diss., 1982). Samuel L. Leiter: New Kabuki Encyclopedia. A Revised Adaptation of Kabuki Jiten. Greenwood Press, Westport CT u. a. 1997, ISBN 0-313-29288-4. Weblinks Internetartikel über Nekomata bei obakemono.com (englisch) Hintergrundinformationen zu Nekomata (englisch) Einzelnachweise Mythologische Katze oder Werkatze Yōkai
2448599
https://de.wikipedia.org/wiki/Rettershof
Rettershof
Der Rettershof (auch Hof Retters oder Röders) ist ein Hofgut nordöstlich von Fischbach, einem Stadtteil von Kelkheim im Vordertaunus. Es geht zurück auf ein ehemaliges Prämonstratenserkloster. Vom 12. Jahrhundert bis 1559 waren Ordensfrauen in Retters ansässig, später nutzten verschiedene Eigentümer das Anwesen und seine Ländereien als Hofgut. Heute ist der Rettershof neben der weiterhin bestehenden landwirtschaftlichen Nutzung ein beliebtes regionales Ausflugsziel. Lage Der Rettershof befindet sich auf dem Gebiet des Kelkheimer Stadtteils Fischbach, rund zwei Kilometer nordöstlich des Ortskerns. Er liegt am Rand des sogenannten Retterswaldes in einem weiten, sich westlich von ihm erstreckendem Tal des Krebsbaches (Zufluss des Fischbachs, der in den Schwarzbach entwässert) zwischen Ruppertshain und Fischbach. In unmittelbarer Nähe des Hofes verläuft der Rettersbach, ein linker Zufluss des Krebsbaches. Westlich schließen sich heute Ackerflächen an, im Osten liegen ausgedehnte Waldflächen. Etwa ein Kilometer nordöstlich beginnt der Königsteiner Stadtteil Schneidhain. Infrastruktur Über das Gelände führen zahlreiche Wanderwege, es gibt das Gasthaus „Zum fröhlichen Landmann“ und einen großen Parkplatz mit Zufahrt von der B 455 zwischen Fischbach und Schneidhain. Dort befindet sich auch eine Bushaltestelle, die von den Linien 263 und 815 des Rhein-Main-Verkehrsverbundes angefahren wird. Geschichte Gründung und wirtschaftliche Blüte des Klosters (1146 bis 1369) Um 1136 siedelten die ersten Chorfrauen aus wirtschaftlichen Erwägungen nach Retters über. Der Ortsname Retters leitet sich her von Rat Gottes (= lat. Consilium Dei). Das Gebiet wurde als Retters und Braubach – in reteresse et in brubach – bezeichnet und fortan auch Tal des heiligen Kreuzes genannt – que nunc vallis sancte crucis apellatur. Die Chorfrauen entstammten dem Kloster Steinbach im Westerwald, das zur Abtei Rommersdorf bei Neuwied gehörte. Die Ländereien erstreckten sich als Retters über die Wiesen- und Weideflächen zwischen Fischbach und Ruppertshain und Braubach als Tal des zwischen Hornau und Schneidhain verlaufenden Braubachs (die ungefähre Lage der Ländereien lässt sich heute am Braubachweiher erkennen) und befanden sich im Besitz des Grafen Gerhard von Nürings. Er stiftete als letzter Vertreter seines Adelsgeschlechts, das vorwiegend Ländereien in der Wetterau besaß, im Jahr 1146 seine Ländereien von Retters, um auf ihnen ein Kloster errichten zu lassen. In einer Urkunde aus dem Jahr 1245 wird von einem Kloster des Augustinerordens berichtet. Als sicher gilt, dass spätestens ab 1272 Prämonstratenser (ein Orden, der sich im 12. Jahrhundert entwickelte und gleichfalls auf die Augustinusregel beruft) in Retters lebten. Anfangs handelte es sich bei Retters um ein Doppelkloster, in dem Chorfrauen und -herren ansässig waren. Ab etwa 1200 bestand nur noch ein reines Nonnenkloster, dem meist Ordensfrauen von niederem Adel angehörten. In späterer Zeit verbreitete sich die Legende, Gerhard von Nüringen, der während des Zweiten Kreuzzugs bei Edessa mit 100 Gefolgsleuten in arabische Gefangenschaft geriet und zwei Jahre gefangengehalten wurde, habe das Kloster aus Dankbarkeit über seine Befreiung gestiftet. Dies widerspricht allerdings der Datierung der Schenkungsurkunde vom 13. November 1146, rund ein Jahr vor Beginn des Zweiten Kreuzzugs. Seit der Fertigstellung der Abtei war die Klosterkirche der heiligen Jungfrau Maria geweiht (1272 urkundlich erstmals bestätigt). Nach Berichten des im 17. Jahrhundert in Retters ansässigen Geschichtsschreibers Petrus Diederichs wurde die Kirche außerdem noch durch den Mainzer Erzbischof dem hl. Nikolaus geweiht. Spätestens ab 1162 unterstand Retters als Filialkloster der Abtei Rommersdorf, der ältesten Prämonstratenserabtei auf dem Gebiet des Erzbistums Trier. Sein Schutz oblag zu jener Zeit dem Mainzer Erzbischof. Es dürfte sich zunächst um eine eher ärmliche Klosterzelle gehandelt haben, wie aus einer Niederschrift zum Tod von Burchard von Nürings, dem Bruder des Klosterstifters, hervorgeht. Durch Schenkungen und Handel mit den umliegenden Herrschaften gewann das Kloster jedoch bald an Einfluss, so dass rasch ein wirtschaftlicher Aufschwung einsetzte. In einem Brief des Mainzer Erzbischofs Konrad I. von Wittelsbach aus dem Jahr 1191 waren bereits 22 Ländereien im Vordertaunus und in der Wetterau verzeichnet, denen er als Besitz von Retters Schutz garantierte. In den folgenden Jahrhunderten konzentrierte das Kloster seinen Besitz auf den Vordertaunus, weiter entfernte Ländereien wurden verkauft oder gegen umliegende Gebiete getauscht. Aus einem weiteren Schutzbrief des Mainzer Erzbischofs Siegfried II. von Eppstein vom 30. Dezember 1221 ist zu entnehmen, dass Retters Ländereien an 40 Orten zwischen Wiesbaden, Frankfurt und Butzbach besaß, darunter als wichtigste Güter Münster, Hornau (beides heute Kelkheimer Stadtteile), Beidenau (heute eine Wüstung), Schneidhain und Liederbach. Insgesamt verfügte Retters zu dieser Zeit über 24 Höfe, zwei Mühlen, 67 Hufen Land (entspricht etwa 407 Hektar, meist Wald und Wiesen), 66 Morgen (rund 13 Hektar) selbst bewirtschaftete Äcker und 20 Weinberge. Hinzu kamen grundzinspflichtige Höfe sowie das Patronat über die Pfarrkirche von Dornheim (von 1191 bis 1559, bei Groß-Gerau). Am 13. September 1275 unterstellte der römisch-deutsche König Rudolf I., der dem Haus Habsburg entstammte, Retters dem Schutz des Reiches. Während dieser Zeit der wirtschaftlichen Blüte musste die Zahl der Chorfrauen auf maximal 50 begrenzt werden, da mehr Interessentinnen Aufnahme in das Kloster begehrten als dieses versorgen konnte. In diesen Jahren trug auch die Mystikerin Christina von Retters (geboren 1269, gestorben 1291 oder 1292, später seliggesprochen) ob ihres Namens zur Bekanntheit des Klosters bei. Gleichwohl ist fraglich, ob sie je in Retters wirkte. Im 13. Jahrhundert banden die Herren von Eppstein das Kloster Retters eng an sich. 1272 erhielt es von Gottfried (dem Älteren) von Eppstein die Ländereien von Treisberg und Seelenberg als Schenkung. Am 13. Mai 1297 erließ der aus dem Eppsteiner Haus stammende Mainzer Erzbischof Gerhard II. dem Kloster seine Abgaben. Im 14. Jahrhundert geriet das Kloster dann zunehmend in Abhängigkeit von den Eppsteiner Landesherren und wurde von diesen bald als Eigenkloster angesehen. Die Herren von Eppstein waren fortan Klosterherren von Retters, das Investiturrecht und die geistliche Führung oblagen aber weiterhin der Abtei Rommershausen. Niedergang und Auflösung des Klosters (1369 bis 1559) Mitte des 14. Jahrhunderts begann ein massiver wirtschaftlicher Niedergang, mit dem der Verkauf von Gütern einherging. Pest, Bevölkerungsrückgang und Kriege wirkten sich negativ auf Handel und Klosterbetrieb aus. Zudem geriet Retters während verschiedener Fehden immer wieder zwischen die Fronten, 1374 wurde es durch Reifenberger Raubritter geplündert. 1369 musste mit den Besitzungen von Treisberg, die für 200 Gulden an Frank VIII. von Cronberg verkauft wurden, ein wesentlicher Bestandteil des Grundbesitzes abgegeben werden. Nun wurden vorwiegend die verbliebenen Ländereien in der Umgebung von Retters aus selbst bestellt, mit Ausnahme von Beidenau befanden sich keine Höfe mehr in Abhängigkeit vom Kloster. Von 1350 bis 1507 war Retters der Freien Reichsstadt Frankfurt heerpflichtig und im Kriegsfall in die Verteidigung der Stadt und des Umlandes eingebunden. 1433 spaltete sich das Haus Eppstein in die Linien Eppstein-Münzenberg (vormals Falkenstein-Münzenberg, da in Falkenstein ansässig) und Eppstein-Königstein auf, die Retters fortan als gemeinsamen Besitz verwalteten. Durch Streitigkeiten zwischen beiden Familienzweigen geriet das Kloster zunehmend in wirtschaftliche Not, Hunger und Verwahrlosung griffen um sich. Um 1500 lebten noch etwa 20 Personen in Retters. Als im Jahr 1535 mit Eberhard IV. der letzte Eppsteiner Graf und Schutzherr von Retters starb, ohne Nachfahren zu hinterlassen, fielen das Kloster und seine Ländereien an die Herren von Stolberg, wie es bei der Heirat seiner Schwester Anna mit Botho von Stolberg beschlossen worden war. Nachdem Botho 1538 gestorben war, teilten seine Söhne in einem Erbvergleich am 26. August 1538 seinen Besitz untereinander auf. Retters wurde hierbei dem neuen Familienoberhaupt, Ludwig von Stolberg-Königstein (er residierte in Königstein), zugeschlagen. Ludwig war von seinem Bruder Christoph zu Stolberg, dem Dompropst von Halberstadt, zur lutherischen Lehre bekehrt worden. Ab 1540 führte Ludwig in seiner gesamten Grafschaft die Reformation ein und begann Klöster und Stifte aufzulösen. In den Jahren 1542 und 1544 wütete die Pest im Vordertaunus, auch Retters war betroffen, mehr als die Hälfte der Ordensfrauen starben. Stück für Stück lösten die Herren von Stolberg die besten Ländereien aus dem Besitz des zunehmend in Auflösung befindlichen Klosters, das durch hohe Schulden, Misswirtschaft und eine große Zahl von Austritten so geschwächt war, dass immer wieder Krankheit und Hunger ausbrachen und Geld für dringend notwendige Reparaturen fehlte. Nach Streitigkeiten mit dem Pächter des Beidenauer Hofes, Konrad von Hattstein, der sich über die schlechten Bedingungen beim Grafen Ludwig beklagt hatte, beschlagnahmte dieser schließlich Beidenau und belehnte den bisherigen Pächter mit diesem Gut. Somit verlor das Kloster auch noch seinen letzten großen Besitz. Nach dem Tod der letzten Äbtissin Anna von Riedesel am 27. September 1559 kam es zur Auflösung des Frauenklosters im Namen von Ludwig von Stolberg-Königstein. Sein Königsteiner Amtmann, Christof von Hattstein, beschlagnahmte unmittelbar nach dem Tod der Äbtissin sämtliche Siegel sowie Urkunden und drängte die verunsicherten Chorfrauen zur Unterzeichnung einer Abtretungsurkunde an das Haus Stolberg. Noch während die Abtei Rommersdorf eine Kommission zur Ernennung einer neuen Äbtissin einberief, ließ der Amtmann am 23. Oktober 1559 das Kloster trotz der Proteste der verbliebenen Ordensfrauen räumen. Die drei noch verbliebenen Nonnen mussten Retters schließlich verlassen, bekamen jedoch von Ludwig eine Leibrente von 25 Gulden jährlich zugesichert. In der Folge versuchte die Abtei Rommersdorf mit dem Hinweis auf die Unrechtmäßigkeit der Abtretungsurkunde (die Chorfrauen waren nicht befugt, einen solchen Vertrag zu unterzeichnen) mehrmals erfolglos ihr enteignetes Filialkloster zurückzuerlangen. Retters als landesherrliches Hofgut (1559 bis 1883) Unter der Herrschaft der Herren von Stolberg wurde Retters als Pachthof genutzt. Nach dem Tod Ludwigs im Jahr 1574 fiel dessen Besitz an seinen jüngeren Bruder Christoph. Dieser vermachte seine Besitztümer im Vordertaunus, darunter Retters, 1581 dem Frankfurter Bartholomäusstift, welches sie kurz darauf für 1200 Gulden an Kurmainz weiterreichte. Die neu erworbenen Gebiete wurden vom Amt Königstein verwaltet, die lutherische Lehre bald im Zuge der Gegenreformation wieder zurückgedrängt. Während des Dreißigjährigen Krieges plünderten kaiserliche Truppen den Hof und brannten ihn nieder. In der Folge wurde das Gut wieder errichtet und von verschiedenen Pächtern bewirtschaftet. 1792 eroberten französische Truppen während des Ersten Koalitionskrieges Mainz und besetzten 1797 nach dem Frieden von Campo Formio das gesamte linksrheinische Gebiet. 1803 lösten die Besatzer das klerikale Kurfürstentum im Rahmen der Säkularisation auf, das Hofgut sowie große Teile des Mainzer Besitzes im Vordertaunus wurden dem Fürstentum Nassau-Usingen zugesprochen. Nassau-Usingen und Nassau-Weilburg fusionierten 1806 zum Herzogtum Nassau. Fortan bestand Retters, das nun häufig auch abgewandelt als Röders bezeichnet wurde, als staatliche Domäne weiter. Nach der Auflösung des Herzogtums Nassau 1866 fiel der Rettershof an Preußen. Rettershof seit 1884 Im Jahr 1883 erwarb der deutsch-englische Adelige Frederik Arnold Rodewald zu Feldheim den Rettershof für 78.000 Goldmark vom preußischen Staat und tilgte das Erbleihrecht. 1885 ließ er auf einer Anhöhe nördlich des Hofes ein repräsentatives Schlösschen im Tudorstil nach englischem Vorbild errichten, das als Wohnsitz seiner Tochter Alice und ihres Ehemanns Oskar Freiherr von Dieskau dienen sollte. Als dieser im gleichen Jahr verstarb, heiratete Alice seinen Bruder Leopold und übernahm nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1886 zusammen mit ihrem zweiten Ehemann die Leitung des Hofguts. Jedoch reichten die im Vergleich zu den Besitzungen im Mittelalter stark verkleinerten Ländereien nicht aus, um den Rettershof als Luxusbesitz mit angeschlossenem Schloss wirtschaftlich zu betreiben. Schließlich verkauften die Eigentümer das Hofgut im Jahr 1903 für 210.000 Goldmark an den wohlhabenden Freiherr von Vincke und seine Frau Sibylle von Hessen. 1924 erwarb Felix von Richter den Hof und richtete ihn als Stammsitz seiner Familie ein, die sich fortan Richter-Rettershof nannte. Um die Wirtschaftlichkeit zu erhöhen, suchte er nach Nebenerwerbsmöglichkeiten. Im Jahr 1928 nahm eine Damenreitschule mit angeschlossenem Internat ihren Betrieb auf, für die der heute noch in Betrieb befindliche Reitplatz angelegt wurde. In den 1930er-Jahren eröffnete eine bis heute bestehende Gaststätte etwas abseits des Hofes. Während der 1920er- und 1930er-Jahre ließen Felix von Richter-Rettershof und seine Frau Hertha umfangreiche Renovierungen und Umbauten an dem Hofgut vornehmen. Hertha von Richter-Rettershof war eine geborene vom Rath, deren Großvater mütterlicherseits, Carl Friedrich Wilhelm Meister, einer der Mitbegründer der Farbwerke Hoechst, später Hoechst AG, war. Ihre Schwester Hanna war die Frau des Dirigenten und Kunstkritikers Paul Bekker sowie die Begründerin des Frankfurter Kunstkabinetts; eine weitere Schwester, Eugenie vom Rath, war die Mutter des CDU-Politikers Walther Leisler Kiep. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschlagnahmte die US-Armee das Schlösschen und nutzte es bis 1953 als Repräsentanz. Danach quartierte sich für kurze Zeit die Organisation Gehlen, die Vorläuferorganisation des Bundesnachrichtendienstes, in das Gebäude ein. Ab Mitte der 1950er Jahre war eine private Sprachenschule hier ansässig. Das Hofgut wurde weiterhin von der Familie Richter-Rettershof bewirtschaftet, nach dem Tod Felix von Richter-Rettershofs von dessen Tochter Felicitas Bienzle. 1973–1980 hatte dort die deutsche Zentrale der Hare Krishna Bewegung (ISKCON) ihren Hauptsitz und einen Tempel als Mieter des Schlösschens. Als schließlich Ende der 1970er-Jahre die Familie Richter-Rettershof beschloss, das Anwesen zu veräußern, übernahm die Stadt Kelkheim am 1. Januar 1980 den gesamten Besitz mit Schloss und Gutshof sowie rund 110 Hektar Land für neun Millionen DM. In der Folge baute die Stadt Kelkheim das denkmalgeschützte Schlösschen aufwendig zu einem Hotel um und finanzierte die kostspielige Renovierung des in die Jahre gekommenen Gutshofs. Zum Betrieb des Gutes wurde die stadteigene Gutsverwaltung Rettershof GmbH gegründet. Seither wird der Rettershof als Reiterhof und für kulturelle Veranstaltungen genutzt. Der in den 1990ern entstandene Plan, rund um das Gestüt einen Golfplatz zu errichten, scheiterte 1997 am Veto der Kelkheimer Bürger im Rahmen eines Bürgerentscheids. Ab den 1970er-Jahren stand der Bau einer vierspurigen Umgehungstrasse der Bundesstraße 8 zur Entlastung von Kelkheim und Königstein zur Debatte; nach den Planungen wäre die Trasse in unmittelbarer Nähe des Rettershofs verlaufen. Im Dezember 2009 wurde das umstrittene Projekt durch die Regionalversammlung Südhessen endgültig gestoppt. In der Nacht vom 3. auf den 4. Juli 2018 wurden Teile des Dachstuhls und ein Teil der Stallungen des Rettershofs in Folge eines Großbrands zerstört. Die Brandursache ist bis dato unbekannt. Architektur und künstlerische Ausgestaltung Kloster Retters Zur Zeit des Klosters bestanden der Gutshof und eine kleine Kapelle. Die Stelle, an der sich die Kapelle befand, wird nach Funden bei Bauarbeiten aus dem Jahr 1939 an der Nordseite des heutigen Reitplatzes gegenüber dem Hoftor vermutet. Von den ursprünglichen Gebäuden blieben nach der Zerstörung während des Dreißigjährigen Krieges lediglich die Grundmauern bestehen, die im Laufe der Jahre überwiegend abgetragen und zum Teil zur Errichtung der neuen Gebäude benutzt wurden. Es besteht noch ein Kellergewölbe unterhalb des Hofes, das aus Zeiten des Klosters stammen könnte. Außerdem wurden im Wald östlich des Hofes Überreste einer alten Mauer gefunden, deren Verlauf sich mit der ehemaligen Klostermauer deckt. Hofgut Retters Das Hofgut in Fachwerkbauweise als Vierseithof entstand in seiner heutigen Form im Stile des Historizismus in den 1920er- und 1930er-Jahren unter der Führung der Familie von Richter-Rettershof. Den Abschluss bildete das 1936 errichtete Torhaus mit reichen Ausschmückungen an der Fassade sowie den Wappen der verschiedenen historischen Herrschaften und mit Retters verbundenen Adelshäusern, die in das schmiedeeiserne Tor aus dem Jahr 1932 eingelassen sind. Die meisten Ausschmückungen an den Wänden des Gutshofs, zumeist Fassadensprüche zum Thema Pferd und Reiterei, stammen direkt von Felix und Hertha von Richter-Rettershof, die in den 1930er-Jahren begannen, den Hof mit Verzierungen dieser Art auszugestalten. Auch die reichlich anzutreffenden Jagdtrophäen und anderer Zierrat, darunter Heiligenfiguren und Wappensteine, stammen aus dieser Zeit. Zudem wurden in der Folge einige, etwas abseits gelegene Zweckbauten, zur Bewirtschaftung errichtet. Im Jahr 2000 kam eine große Reithalle im Osten des Gestüts hinzu. Schlösschen Das Schlösschen wurde im Jahr 1884 zunächst als Wohnsitz der Freiherrn von Dieskau im englischen Tudorstil auf einer Anhöhe nördlich des Gutshofs errichtet. Als Baumaterial diente Sandstein und Gestein aus dem Vordertaunus. Nachdem es von wechselnden Eigentümern genutzt wurde, baute es in den frühen 1980er-Jahren die Stadt Kelkheim zu einem Hotel um. Hierzu wurde an der südlich gelegenen Hangseite ein bronzeverkleideter Hoteltrakt mit 35 Gästezimmern angebaut, der über einen gläsernen Verbindungsgang mit dem Hauptgebäude verbunden ist. Das neue Domizil wurde 1984 als Schlosshotel Rettershof eröffnet. Seit 1983 steht das Schloss auf der Denkmalliste für Kulturdenkmäler des Landes Hessen. Mit dem Rettershof verbundene Personen Edwin Graf von Rothkirch und Trach (1888–1980) ein früherer General der Kavallerie und Springreiter, starb auf dem Rettershof. Literatur Albert Hardt: Urkundenbuch der Klöster Altenberg, Dorlar, Retters, Niederbreitbach-Wolfenacker 2000, S. 782–840 Dietrich Kleipa: Kelkheim/Taunus. Ein Streifzug durch die Geschichte der Stadt. Herausgegeben vom Magistrat der Stadt Kelkheim, 1968 Bock, Dr. Hartmut/ Kleipa, Dietrich/ Zimmermann, Heinz: Kelkheim im Taunus. Beiträge zur Geschichte seiner Stadtteile. Herausgegeben vom Magistrat der Stadt Kelkheim, 1980 (S. 34–80) Adolf Guba (Hrsg.): Kelkheim im Taunus. Druckerei Blei & Guba, Kelkheim/Taunus 1995 (S. 22–25) ISBN 3-00-000369-X. (Informationen über das Geschlecht Eppstein-Stolberg) Weblinks Rettershof auf www.kelkheim.de Archäologe rekonstruiert Kloster am Rettershof Einzelnachweise und Anmerkungen Ehemaliges Prämonstratenserkloster in Hessen Bauwerk in Kelkheim (Taunus) Kulturdenkmal in Kelkheim (Taunus) Organisation (Kelkheim (Taunus)) Religion (Main-Taunus-Kreis)
2559362
https://de.wikipedia.org/wiki/Grabeiche
Grabeiche
Die Grabeiche (auch Begräbniseiche, Thümmel-Eiche oder „Tausendjährige Eiche“ genannt) ist ein markantes altes Baumexemplar der Stieleiche (Quercus robur) in Nöbdenitz in Thüringen. Im hohlen Stamm des Baumes befindet sich eine Grabstätte. Laut Guinness-Buch der Rekorde handelt es sich um die älteste Stieleiche in Europa. Das im Guinness-Buch angegebene Alter von zirka 2000 Jahren ist jedoch umstritten. In der neuesten Literatur wird die Eiche auf ein Alter von 700 bis 800 Jahren geschätzt. Die Eiche befindet sich in der Ortsmitte von Nöbdenitz, etwa sechs Kilometer südwestlich von Schmölln, im thüringischen Landkreis Altenburger Land. In ihrem Wurzelraum, direkt unterhalb des hohlen Stammes, befindet sich eine gemauerte Gruft mit dem Leichnam des 1824 verstorbenen Rittergutsbesitzers Hans Wilhelm von Thümmel. Dieser war Schriftsteller, Chronist und Kartograf des Herzogtums Altenburg und hatte diese ungewöhnliche Begräbnisstätte vor seinem Tod von der Pfarrgemeinde erworben. Beschreibung Die Grabeiche steht auf etwa 230 Meter Höhe über Normalnull im Zentrum von Nöbdenitz in der Nähe der Kirche. Ursprünglich führte unmittelbar südwestlich des Naturdenkmals eine Straße vorbei, die im Jahre 2007 im Bereich der Eiche verlegt wurde. Dadurch hat sich um den Stammfuß eine Freifläche ergeben, auf der eine Schautafel über die Eiche informiert. Die Höhe der Eiche wird mit knapp 14 Metern angegeben. Im Jahr 2002 betrug der Umfang des Stammes über dem Boden gemessen 12,7 Meter. Der Stamm ist durch Insektenfraß und das Zerstörungswerk des Schwefelporlings (Laetiporus sulphureus) vollkommen hohl. Er ist sehr unregelmäßig ausgebildet und endet oben abrupt in einer scharfkantigen Bruchstelle. Die Krone ist schon im frühen 19. Jahrhundert auf einer Stammhöhe von ungefähr zehn Metern abgebrochen, eine Sekundärkrone unterhalb der Bruchstelle besteht aus zwei Seitenästen mit einer Breite von 15 Metern in Nord-Süd-Richtung und von zehn Metern in West-Ost-Richtung. Von der Bruchstelle bis kurz über dem Boden ist der Stamm vertikal gespalten und wird durch drei breite Eisengurte aus Ketten- und Bandgliedern zusammengehalten. Damit soll das endgültige Auseinanderbrechen des Stammes, welches das Ende des Baumes bedeuten würde, verhindert werden. Wann und von wem diese Sicherung angebracht wurde, ist nicht bekannt. Für die Eiche ist ein Adventivstamm lebenswichtig, der sich vor einigen Jahrzehnten im hohlen Stammbereich auf der Südwestseite gebildet hat und der im unteren Bereich stark borkig ist. Über diesen Jungstamm, der durch die großflächige Öffnung der Nebenkrone ausreichend Licht und Niederschläge erhält, bekommt die Eiche genügend Nahrung. Sie befindet sich dennoch in keinem guten Zustand. Der hohle Stamm ist bereits in vielen Bereichen abgestorben und morsch. Die Krone weist ebenfalls schon viele Schäden auf. Einige Zweige sind durch Kümmerwuchs nur mangelhaft ausgebildet. Die Standfestigkeit der Eiche ist allerdings noch nicht unmittelbar gefährdet. Über das Alter der Eiche gibt es verschiedene Angaben. Das Guinness-Buch der Rekorde gibt ihr Alter mit 2000 Jahren an. Damit wäre die Grabeiche nicht nur die älteste Eiche in Deutschland, sondern in ganz Europa. Dies ist aber umstritten. Hans Joachim Fröhlich gab 1994 ein Alter von 1000 bis 1200 Jahren an. Dieses Alter dürfte aber ebenfalls noch zu hoch sein, insbesondere wenn man die Zerstörung des Stammes durch den Schwefelporling und holzabbauende Insekten berücksichtigt. Wegen des hohlen Stammes können die Jahresringe nicht ausgezählt werden. Eine Altersbestimmung an einem Altast ist, bedingt durch den Kronenbruch von 1820, ebenfalls nicht durchführbar. Der Stamm der Eiche verstärkte sich in den vergangenen hundert Jahren nur unwesentlich und eine größere Umfangszunahme ist auch in Zukunft nicht zu erwarten, weshalb sich das Alter auch nicht anhand des Dickenwachstums bestimmen lässt. Zudem fehlen auch belegte jährliche Zuwachsraten des Adventivstammes. In der neuesten Literatur wird das Alter des Baumes mit 700 bis 800 Jahren angegeben. Auch mit diesem Wert zählt die Grabeiche zu den ältesten Eichen Deutschlands. Andere Eichen, die von Fachleuten zeitweise als die ältesten in Deutschland angesehen wurden, sind beispielsweise die Femeiche, die Gerichtseiche bei Gahrenberg und die Ivenacker Eichen. Geschichte Am Befall durch den Schwefelporling leidet die Eiche schon seit Jahrhunderten. Die Zerstörungen am Stamm begannen, als die Eiche bereits geschwächt war. In einem Eintrag im Kirchenbuch der Nöbdenitzer Pfarrei im Jahre 1598 wird die Eiche mit den Worten beschrieben: In den vergangenen Jahren konnten allerdings keine neuen Fruchtkörper des Schwefelporlings an der Eiche festgestellt werden. 1815 wurde die Eiche vom Blitz getroffen. Bei einem Sturm, der mehrheitlich auf das Jahr 1820, von einigen Quellen aber auch auf die Jahre 1812 oder 1819 datiert wird, brach die Krone auf einer Stammhöhe von ungefähr zehn Metern ab. Zudem brachen dabei mehrere starke Äste heraus. Die Eiche erholte sich bis in die heutige Zeit nur langsam von diesem Kronenbruch. Im Jahre 1826 schrieb Friedrich August Schmidt über die Eiche: Der Berliner Altertumsforscher Gustav Parthey, der bei Herzogin Anna Dorothea von Kurland in Löbichau zu Besuch war, berichtete in seinem Tagebuch über die Eiche: Im Jahr 1937 beschrieb Bauamtmann Berg den Zustand der Eiche: Die Eiche wird seit 1940 als Naturdenkmal geführt. Die vorbeiführende Dorfstraße wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitert und asphaltiert, wodurch die Asphaltdecke unmittelbar an den westlichen Stammfuß heranreichte. Im Zuge der Straßenverbreiterung wurden eine Rohrleitung für die Kanalisation und eine Erdgasleitung verlegt, die den Wurzelbereich berührten. Die asphaltierte Straßendecke beeinflusste auch den Lebenshaushalt der Eiche, da die Bodenqualität im Bereich der Wurzeln unterhalb der Asphaltdecke nicht mehr den früheren Verhältnissen entsprach. Der Eiche standen weniger Niederschläge zur Verfügung, die größtenteils oberirdisch abliefen. Beim Straßenausbau war vermutlich auch der zur Straße zeigende unterste Starkast entfernt worden. Vor einigen Jahren wurden mehrere Äste gestutzt, die jetzt zehn bis 30 Zentimeter lang sind. Das mittlere der drei Eisenbänder, die den Baum zusammenhalten, wurde erneuert. Um die Beeinträchtigung des Baumes durch die Bodenverdichtung zu beseitigen, wurde im August 2006 ein baufälliges Haus gegenüber der Eiche abgerissen und im Jahr 2007 die Straße dorthin verlegt. Dadurch erhält die Eiche wieder mehr Feuchtigkeit und im aufgelockerten Boden eine bessere Durchlüftung der Wurzeln. Dadurch erhofft man sich eine Verlängerung ihres Lebens. Weiterhin ist vorgesehen, den Kronenbereich durch Stützen zu entlasten. Im Jahre 2009 bestand die Gefahr, dass die Eiche umstürzte. Die mächtige Krone des Baumes wurde nur noch vom äußeren Rand des Stammes gehalten. Einem Gutachten zufolge war die Standsicherheit nicht mehr gegeben; der mittlere Stützring konnte seine Aufgabe nicht mehr erfüllen. Im mittleren Teil des Stammes wurde deshalb ein weiterer Eisenring angebracht. Ein Statikbüro führte eine Tragwerksplanung durch, um den genauen Lastpunkt des Baumes zu berechnen und den Druck vom Stamm zu nehmen. Zwei Stahlrohre wurden in ein Betonfundament eingelassen und stützen nun an der berechneten Stelle den Baum ab. Um bei einem eventuellen Einknicken des Stammes das Umfallen auf die Straße und den Gehweg zu vermeiden, wurden zusätzlich zwei Halteseile vom Pfarrgarten aus zur Eiche gespannt. Die gesamte Maßnahme kostete etwa 13.000 Euro. 5.000 Euro trug die Gemeinde Nöbdenitz, den Rest übernahm der Landkreis. Im Mai 2014 gab es Bestrebungen, die Eiche wegen Gefährdung der Verkehrssicherheit zu fällen. Landesweite Bürgerproteste konnten jedoch eine Rettung des Naturdenkmals durchsetzen. Entwicklung des Stammumfangs Der Umfang der Eiche wurde in den letzten Jahrhunderten mehrmals ermittelt. Ernst Amende gab 1902 einen Umfang in Bodennähe von zwölf Metern und in Mannshöhe von 8,3 Metern an: 1937 wurde die Eiche von Bauamtmann Berg vermessen. Er ermittelte einen Umfang in Bodennähe von 12,5 Metern. Im Jahre 1990 betrug der Stammumfang in einem Meter Höhe elf Meter. Um das Jahr 2000 hatte der Stamm an der Stelle seines geringsten Durchmessers (Taille) einen Umfang von 9,12 Metern. Der Brusthöhenumfang, 1,3 m oberhalb des höchsten Bodenbereichs gemessen, beträgt 10,25 m (2014). Weitere Messungen liegen vom 19. April 2001 vor. Der Umfang bezieht sich dabei auf einer Höhe von 1,3 Metern. Da der Boden um die Eiche stark abfällt und der Stamm stark konisch ausgebildet ist, wurden mehrere Messungen durchgeführt und daraus ein Mittelwert von 10,64 Metern berechnet. Um einen Vergleich mit den früheren Messungen, die am Boden durchgeführt worden waren, zu ermöglichen, wurde die Eiche am 11. Juni 2002 erneut vermessen. Der Umfang in Bodennähe betrug dabei 12,7 Meter. Demnach wurde die Eiche in den letzten hundert Jahren etwa elf Zentimeter dicker, was ein sehr geringes Dickenwachstum bedeutet. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass sich das Bodenprofil in diesem Zeitraum, bedingt durch Erdbewegungen, veränderte. Thümmel-Grabstätte Die Eiche gilt als der einzige Baum in Deutschland, in dem sich eine Grabstätte befindet. Im hohlen Innenraum des Wurzelbereiches ruht der 1744 auf einem Rittergut bei Leipzig geborene Hans Wilhelm von Thümmel. Er starb am 1. März 1824 im Alter von 80 Jahren und wurde gemäß seinem Vermächtnis am 3. März 1824 in einer ausgemauerten Gruft im Wurzelraum der Eiche bestattet. Diese Bestattung wurde von der herzoglichen Regierung genehmigt und ist im Kirchenregister dokumentiert. Nach der Begräbnisrede wurde der Leichnam ohne Sarg auf eine Moosbank gebettet. Die Gruft wurde oben mit drei Natursteinen verschlossen und darauf eine amtlich vorgeschriebene, 30 Zentimeter dicke Schicht aus Löschkalk als Versiegelung der Gruft aufgetragen. Die Bestattung ist im Totenregister der Pfarrei von Nöbdenitz 1824 beschrieben: Damit die Eiche als Andachtsraum genutzt werden konnte, stellte man im Inneren des hohlen Stammes eine Sitzbank aus einem hohlen Weidenstamm und eine Holzkonsole auf. Die Ritzen des Stammes wurden mit Moos abgedichtet, der Andachtsraum wurde durch eine eiserne Gittertür zur Straße hin abgeriegelt und die Eiche mit Sandsteinsäulen und einem Lattenzaun umfriedet. Von der Eisentür zeugt eine verrostete senkrechte Eisenschiene am Stamm, an der die Tür angebracht war. Hans Wilhelm von Thümmel Die Verbindung von Thümmel mit Nöbdenitz begann im Jahre 1785, als er die Rittergutsbesitzerin Charlotte von Rothkirch-Trach heiratete. Diese erbte später die Rittergüter Nöbdenitz und Untschen. Thümmel übte viele verschiedene Tätigkeiten aus. Am Hof des Herzogtums Sachsen-Gotha und Altenburg bekleidete er verschiedene Ämter und wurde der Freund von Herzog Ernst II. Er brachte es vom Pagen bis zum Geheimrat und später sogar zum Minister. Zwischen 1803 und 1808 unternahm er mehrere diplomatische Missionen in Berlin, Paris, Kopenhagen und anderen Städten. Bekannt wurde er auch durch die Gründung der Kammerleihbank und die Förderung des Straßenwesens. Er schied 1817 aus dem herzoglichen Dienst aus, wo er einen großen Einfluss ausgeübt hatte. Thümmel hatte sich auch mit der Landvermessung beschäftigt und hinterließ am Ende seiner Dienstzeit ein umfangreiches topografisches Kartenwerk. Dieses umfasst die Ämter Ronneburg und Altenburg und ist als Thümmel-Karten bekannt geworden, die 1813 fertiggestellt wurden. Danach hielt sich Thümmel öfters in Nöbdenitz auf und besuchte auch die Herzogin Anna Dorothea von Kurland, da er bis zum Jahre 1821 dem Dichterkreis des Musenhofs angehörte. Er war sehr romantisch veranlagt und legte verschiedene Gärten und Parkanlagen an. Nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, schuf er auch in Nöbdenitz eine Gartenanlage. Die Errichtung der Gärten und Parkanlagen kostete den ehemaligen Minister viel Geld, so dass er schließlich mittellos wurde. Dadurch kam es immer wieder zu Streitigkeiten zwischen den Ehepartnern. Bei einem solchen Streit schrie ihn seine Frau an: „Ohne Heirat hättest du nicht einmal genug Land für dein Grab!“ Daraufhin kaufte der gekränkte Ehemann von der Pfarrei die Eiche, die sich im damaligen Pfarrgarten befand, um sie nach seinem Tode als Grabstätte zu nutzen. Eine Schilderung des Grabmals gab Bauamtmann Berg' im Jahre 1937: Untersuchung der Grabstätte Über den Leichnam unter der Eiche erzählte man sich viele Geschichten. Mehrere Jahrzehnte lang wurde berichtet, dass der Tote auf einem Stuhl sitzend in der Eiche eingemauert worden sei. Andere wiederum bezweifelten, dass sich überhaupt ein Toter in der Eiche befindet. Um endlich Klarheit zu schaffen, versuchte der Heimatforscher Ernst Bräunlich aus Posterstein, der jahrelang Lehrer in Nöbdenitz war, 135 Jahre nach Thümmels Tod den Sachverhalt zu ergründen. Am 8. April 1959 entdeckte er mit seinen Schülern, die er für diese Untersuchung gewinnen konnte, in der Stammhöhle einen Andachtsraum. Darin befanden sich eine zerbrochene Vase, eine morsche Holzkonsole und Reste metallener Kranzschleifen. Daraufhin gruben sie ein Loch in den Boden und fanden nach Beseitigung von Erde und morschem Holz die Kalkschicht mit einer Dicke von 20 Zentimetern und die drei Natursteinplatten. Der darunter liegende Hohlraum konnte durch einen Spalt mit einer Taschenlampe ausgeleuchtet werden, wobei man ein Skelett erblickte, das quer zur ehemaligen Fahrbahn der Dorfstraße und mit dem Kopf in südlicher Richtung lag. Das zwei Meter lange Grab lag 1,3 Meter tief und war 85 Zentimeter breit. Mit dem Fund des Skeletts waren alle Zweifel an der Baumbestattung ausgeräumt. Einzelnachweise Literatur Weblinks Die Begräbnis-Eiche in Nöbdenitz Einzelbaum in Thüringen Naturdenkmal in Thüringen Geographie (Landkreis Altenburger Land) Pflanzlicher Rekord Schmölln Einzelbaum in Europa Individuelle Eiche oder Baumgruppe mit Eichen
3159275
https://de.wikipedia.org/wiki/Kreuz%20mit%20den%20gro%C3%9Fen%20Senkschmelzen
Kreuz mit den großen Senkschmelzen
Das Kreuz mit den großen Senkschmelzen ist ein Vortragekreuz des Essener Domschatzes, das unter der Essener Äbtissin Mathilde († 1011) angefertigt wurde. Die Bezeichnung als Senkschmelzen-Kreuz weist auf seinen wichtigsten Schmuck hin, fünf große Emails in Senkschmelztechnik. Das Kreuz gilt als eines der Meisterwerke der ottonischen Goldschmiedekunst. Beschreibung Das Kreuz ist 46 cm hoch und 33,5 cm breit, sein Kern besteht aus Eichenholz. Es handelt sich um ein lateinisches Kreuz mit blockförmig verbreiteten Enden. Diese weisen Ähnlichkeiten zu Würfelkapitellen mit Halsringen auf, die in der Architektur um das Jahr 1000 populär wurden. Das Kreuz ist auf der Vorderseite mit Goldblech beschlagen, auf der Rückseite mit vergoldetem Kupferblech. Es handelt sich bei dem Kreuz um ein reines Gemmenkreuz, wobei die Senkschmelze der Kreuzvierung jedoch die Kreuzigung zeigt. Das Senkschmelzenkreuz nimmt Bezug auf das älteste der vier Essener Vortragekreuze, das ebenfalls von Mathilde gestiftete Otto-Mathilden-Kreuz. Gleich diesem ist ein Binnenkreuz von einem Rahmen umgeben. Während beim Otto-Mathilden-Kreuz dieser Rahmen aus jeweils von zwei Perlen begleiteten Edelsteinen besteht, ist beim Senkschmelzenkreuz der Rahmen an den Kreuzbalken zusätzlich durch ursprünglich 24 (21 sind noch vorhanden) kleine Emails erweitert, die sich mit von jeweils vier Perlen begleiteten Edelsteinen abwechseln. Die Fläche innerhalb des Rahmens ist beim Senkschmelzenkreuz mit kunstvoll doppelt geführtem Filigran, Edelsteinen, kreuzförmig angeordneten Perlen und einem antiken Kameo verziert. Bei dem Kameo handelt es sich um ein Medusenhaupt, einen so genannten Gorgoneion. Es ist ein Sardonyx aus der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts nach Christus. Der Kameo ist in drei Schichten gearbeitet (grau-braun, weiß und goldbraun) und hat einen max. Durchmesser von 2,7 cm. Der Kameo steht in Anlehnung an Psalm 91,13 symbolisch für das durch den Erlöser überwundene Böse. Namensgebend sind die fünf großen Senkschmelzen des Kreuzes. In der Vierung des Kreuzes befindet sich eine leicht rechteckige Platte mit der Darstellung der Kreuzigung: Christus steht vor dem Kreuz, mit leicht geneigtem Kopf und weit geöffneten Augen. Zu Seiten seines Kreuzes stehen Maria und Johannes, der durch seine nachdenkliche Geste identifiziert wird. Über dem waagrechten Kreuzbalken betrachten die Personifikationen von Sonne und Mond das Geschehen. Das von winzigen Perlen gerahmte Email ragt aufgrund seiner Größe nach unten etwas über die Vierung des Kreuzes hinaus. An den Enden der Kreuzbalken befinden sich innerhalb einer vereinfachten Rahmung aus Edelsteinen, die die Rahmung der Kreuzbalken aufgreift, vier weitere große, unregelmäßig geformte Senkschmelzen mit den Symbolen der vier Evangelisten: Oben der Adler für Johannes, unten der geflügelte Mensch für Matthäus, rechts der Stier für Lukas und links der geflügelte Löwe für Markus. Diese großen Senkschmelzen des Kreuzes weisen eine hohe technische und künstlerische Qualität auf, die in der reichen Farbigkeit und feinen Durchzeichnung der Flügel erkennbar ist. Die im 12. Jahrhundert erneuerte Rückseite des Kreuzes ist als Lebensbaum gestaltet. In den Verbreiterungen der Kreuzenden befinden sich vier getriebene Medaillons mit Engeln, in der Kreuzvierung ein Medaillon mit dem Agnus Dei. Kunsthistorische Forschung Das Kreuz ist in der Forschung durchgängig um 1000 datiert worden. Diese Datierung stützt sich zum einen auf die Motive der 21 kleinen Emails des Rahmens, die überwiegend florale und teppichartige Muster zeigen, die um die Jahrtausendwende aufkamen, zum anderen auf die aus den Fassungen des um 982 datierten Otto-Mathilden-Kreuzes ableitenden Fassungen der Steine und Rahmenemails. Auffällig an den namensgebenden fünf großen Senkschmelzen ist die unregelmäßige Form der Evangelistensenkschmelzen. Auch der Umstand, dass die Senkschmelze der Vierung nicht größengleich mit der Vierung ist, fällt auf. Diese Senkschmelzen sind um 1000 entstanden. Aufgrund der auffällig unregelmäßigen Form sind diese Senkschmelzen jedoch wahrscheinlich in einem anderen Zusammenhang entstanden und wurden nachträglich in das Kreuz eingefügt, das dabei erheblich umgestaltet wurde. Zu diesem Zweck wurden die Senkschmelzen mit den Evangelisten, deren Gestaltung byzantinischen Einfluss erkennen lässt, zurechtgesägt. Die unregelmäßige Form betonte dabei ihren Charakter als Spolien. Um diese Senkschmelzen einzufügen, wurde die ursprüngliche Gestaltung der Kreuzenden und der Vierung aufgegeben, durch die vereinfachte Rahmung wurden die Senkschmelzen sowohl in das Kreuz eingebunden als auch ihr Charakter als nachträgliche Einfügung betont. Beuckers datiert die Umgestaltung in das Abbatiat der Essener Äbtissin Sophia. Bei der Umgestaltung wurden die Halsringe der kapitellförmigen Kreuzenden zwecklos, der Goldschmied der Umgestaltung kaschierte diese durch spiralförmig aufgedrehten Filigrandraht, sogenannte „Bienenkörbe“. Diese Zierform kam besonders im Umkreis Heinrichs II. häufig vor, ebenso wie eine weitere Filigranform, sogenannte Blütenkronen, die bei den Essener Schatzstücken auch nur an den Enden dieses Kreuzes vorkommt. Sophia war von Heinrich II. in Essen als Äbtissin eingesetzt worden und stand diesem nahe, was ihr die Möglichkeit gegeben haben dürfte, die Goldschmiede aus dessen Umfeld zu beauftragen. Weder „Bienenkörbe“ noch Blütenkronen kommen an den Schatzstücken vor, die Sophias Nachfolgerin Theophanu offenbar in einer anderen Werkstatt herstellen ließ, so dass Beuckers sie als Auftraggeberin der Umgestaltung des Senkschmelzenkreuzes ausschließt. Aus welchem Grund Sophia einen Sakralgegenstand, den ihre Vorgängerin Mathilde herstellen ließ, umgestalten ließ und dabei die Senkschmelzen aus einem anderen, Sophia offenbar wichtigen Kunstwerk, einfügen ließ, ist unbekannt. Das Kreuz mit den großen Senkschmelzen entstand aufgrund der Datierung um 1000 zeitgleich mit dem Sammelreliquiar, das später als Marsusschrein bezeichnet wurde. Dieses als bedeutendster Schatz des Stifts angesehene Kunstwerk war eine Memorialstiftung Kaiser Ottos III. für seinen Vater Otto II. und entsprechend kostbar gearbeitet. Der Schrein ging 1794 verloren, Abbildungen sind nicht überliefert. Beuckers geht davon aus, dass das Kreuz und der Schrein, der mit Goldemails verziert war, in einer Werkstatt entstanden, die in Essen angesiedelt war. Da die Rahmenemails des Kreuzes teilweise Trierer Motive aufgreifen, der Marsusschrein ab 997 entstand und die Trierer Egbert-Werkstatt, die einzige bekannte ottonische Emailwerkstatt, nach 993 nicht mehr nachweisbar ist, nimmt Beuckers an, dass Äbtissin Mathilde nach dem Tod Egberts 993 dessen Emailwerkstatt nach Essen holte. Das Kreuz mit den großen Senkschmelzen erlaubt so auch Rückschlüsse auf die Qualität eines weiteren, verlorenen Kunstwerkes. Geschichte Das Kreuz befindet sich seit seiner Entstehung in Essen, wenn man kriegs- und krisenbedingte Evakuierungen außer Betracht lässt. Das Inventarium reliquiarum Essendiensium vom 12. Juli 1627, die früheste Liste des Stiftsschatzes, erlaubt keine einwandfreie Identifizierung, da es lediglich Zwei crucifixer fornhero mit vielen gesteinen und gold uberzogen, hinten aber kupfer uberguldet verzeichnet. Diese Beschreibung trifft auf alle vier im Essener Domschatz vorhandenen Vortragekreuze zu. Auch der Liber ordinarius, der die liturgische Verwendung des Stiftschatzes regelte, erwähnt nur allgemein Vortragekreuze. Weil gestiftete Sakralgegenstände gewöhnlich nicht weitergegeben wurden, ist jedoch davon auszugehen, dass das Kreuz von seiner Stiftung bis zur Säkularisation des Essener Damenstiftes 1802 ununterbrochen diesem gehörte. Während des Dreißigjährigen Kriegs flüchtete die Äbtissin des Stiftes mit den Schätzen nach Köln, während anderer Krisen wurde das Kreuz vermutlich im Stiftsgebiet versteckt. Belegt ist dies für 1794, als die Franzosen auf Essen vorrückten und der Stiftsschatz nach Steele (heute Essen-Steele) in das von der Äbtissin Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach gestiftete Waisenhaus verbracht wurde. Bei der Säkularisation übernahm die katholische St.-Johannes-Gemeinde die Stiftskirche mitsamt deren Inventar als Pfarrkirche. Während des Ruhraufstandes 1920 wurde der gesamte Stiftsschatz in größter Heimlichkeit nach Hildesheim verbracht, von wo er unter gleich konspirativen Umständen 1925 zurückgebracht wurde. Im Zweiten Weltkrieg wurde der Domschatz zunächst nach Warstein, dann auf die Albrechtsburg in Meißen und von dort in einen Bunker nach Siegen gebracht. Nach Kriegsende dort von amerikanischen Truppen gefunden, gelangte das Kreuz mit dem Schatz in das Landesmuseum nach Marburg und später in eine Sammelstelle für ausgelagerte Kunstwerke nach Schloss Dyck bei Rheydt. Von April bis Oktober 1949 wurde der Essener Domschatz in Brüssel und Amsterdam ausgestellt, um im Anschluss nach Essen zurückgebracht zu werden. Mit der Errichtung des Ruhrbistums 1958 und der Erhebung des Essener Münsters zur Kathedrale gelangte das Kreuz an das Bistum Essen. Liturgische Verwendung Einzelheiten zur liturgischen Verwendung des Kreuzes sind nicht bekannt. Soweit die Quellen, vor allem der um 1400 entstandene Essener Liber Ordinarius, für Prozessionen die Verwendung von Vortragekreuzen vorschrieben, geschah dieses allgemein und ohne einzelne Kreuze zu erwähnen. Vortragekreuze wurden häufig paarweise verwendet, aufgrund der Entstehung des Kreuzes mit den großen Senkschmelzen unter Äbtissin Mathilde wird angenommen, dass das Senkschmelzen-Kreuz als Ergänzung zum Otto-Mathilden-Kreuz beschafft worden ist. Die beiden Kreuze wurden bis unter Kardinal Hengsbach gemeinsam genutzt. Zuletzt wurde das Senkschmelzenkreuz 1992 bei der Einführung des zweiten Essener Bischofs, Dr. Hubert Luthe, diesem vorgetragen. Heute ist das Senkschmelzenkreuz wie die übrigen drei ottonischen Vortragekreuze des Domschatzes aus konservatorischen Gründen nicht mehr im Einsatz. Siehe auch Mathildenkreuz Theophanu-Kreuz Literatur Klaus Gereon Beuckers: Der Essener Marsusschrein. Untersuchungen zu einem verlorenen Hauptwerk der ottonischen Goldschmiedekunst, Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, Münster 2006, ISBN 3-402-06251-8. Klaus Gereon Beuckers: Kreuz mit den großen Senkschmelzen. In: Gold vor Schwarz – Der Essener Domschatz auf Zollverein, herausgegeben von Birgitta Falk. Katalog zur Ausstellung 2008. Klartext Verlag, Essen 2008, ISBN 978-3-8375-0050-9, S. 70. Klaus Gereon Beuckers, Ulrich Knapp: Farbiges Gold – Die ottonischen Kreuze in der Domschatzkammer Essen und ihre Emails. Domschatzkammer Essen 2006, ISBN 3-00-020039-8. Georg Humann: Die Kunstwerke der Münsterkirche zu Essen. Düsseldorf 1904. Lydia Konnegen: Verborgene Schätze. Der Essener Münsterschatz in Zeiten des Ruhrkampfes. In: Münster am Hellweg 2005, S. 67ff. Alfred Pothmann: Der Essener Kirchenschatz aus der Frühzeit der Stiftsgeschichte. In: Herrschaft, Bildung und Gebet – Gründung und Anfänge des Frauenstifts Essen. Klartext Verlag, Essen 2000, ISBN 3-88474-907-2. Anmerkungen Essener Domschatz Gemmenkreuz Ottonische Kunst Goldschmiedearbeit Stift Essen Werk (11. Jahrhundert)
3242766
https://de.wikipedia.org/wiki/4th%20Infantry%20Division%20%28Vereinigte%20Staaten%29
4th Infantry Division (Vereinigte Staaten)
Die 4th Infantry Division () ist ein Großverband der United States Army. Das Hauptquartier der rund 16.000 Mann starken Division befindet sich in Fort Carson im US-Bundesstaat Colorado. Das Motto des Verbandes lautet Steadfast and Loyal („standhaft und treu“). Sie wurde seit ihrer Aufstellung 1917 bei fast allen militärischen Konflikten der Vereinigten Staaten eingesetzt. Sie wurde 2004 umstrukturiert zu einer Panzerdivision mit einer eigenen Heeresfliegerbrigade. Die 4. US-Infanteriedivision war oft ein Experimentalverband für neue Einsatzkonzepte und Verbandsstrukturen. So war sie als eine der ersten Infanteriedivisionen der US Army motorisiert, erprobte als erster Verband das Gefecht der verbundenen Waffen und wurde als erste komplett digitalisiert. Sie war auch einer der ersten Verbände der US Army, bei denen die Heeresreform von 1997 mit dem Konzept einer standardisierten modularen Brigadestruktur (Brigade Combat Teams, „Kampfbrigaden“) vollständig umgesetzt wurde. Für die Division sind zwei Spitznamen gebräuchlich: Iron Horse, zu deutsch „Dampfross“, und Ivy Division, deutsch „Efeudivision“. Dieser Spitzname und das Abzeichen der Division leiten sich aus einem mehrfachen Wortspiel ab, da die römische Schreibweise der Divisionskardinalzahl „IV“ im Englischen homonym zum Wort ivy (, englisch für Efeu) ausgesprochen wird. Diese Anspielung auf die Zahl „Vier“ und das Efeublatt finden sich im Wappen der Division wieder, in dem ein stilisiertes Kreuz mit vier Efeublättern dargestellt ist. In einer weiteren Doppelbedeutung wird durch die Pflanzensymbolik des Efeus im Abzeichen das Motto der Division (Beständigkeit und Treue) wiederholt. Geschichte Aufstellung Die 4. US-Infanteriedivision wurde nach dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg im Zuge der Aufrüstung am 10. Dezember 1917 in Camp Greene, North Carolina, als Karree-Division unter dem Kommando von Major General George H. Cameron komplett neu aufgestellt. Dabei wurde nicht auf bereits vorhandene Einheiten zurückgegriffen. Die Division umfasste etwa 32.000 Mann und setzte sich zu Beginn aus folgenden Verbänden zusammen: 7th Infantry Brigade, 7. Infanteriebrigade 39th Infantry Regiment, 39. Infanterieregiment 47th Infantry Regiment, 47. Infanterieregiment 11th Machine Gun Battalion, 11. Maschinengewehrbataillon 8th Infantry Brigade, 8. Infanteriebrigade 58th Infantry Regiment, 58. Infanterieregiment 59th Infantry Regiment, 59. Infanterieregiment 12th Machine Gun Battalion, 12. Maschinengewehrbataillon 4th Artillery Brigade, 4. Artilleriebrigade 77th Field Artillery Regiment, 77. Feldartillerieregiment 13th Field Artillery Regiment, 13. Feldartillerieregiment 16th Field Artillery Regiment, 16. Feldartillerieregiment 4th Engineer Regiment, 4. Pionierregiment 8th Field Signal Battalion, 8. Fernmeldebataillon Train Headquarters and Military Police, Nachschubhauptquartier- und Militärpolizeizug 4th Ammunition Train, 4. Munitionskolonne 4th Supply Train, 4. Nachschubkolonne 4th Engineer Train, 4. Pionierkolonne 4th Sanitary Train, 4. Sanitätskolonne 1st Field Hospital, 1. Feldlazarett 19th Field Hospital, 19. Feldlazarett 28th Field Hospital, 28. Feldlazarett 33rd Field Hospital, 33. Feldlazarett Erster Weltkrieg Die Division wurde Anfang Juni 1918 im Rahmen des amerikanischen Expeditionskorps (American Expeditionary Forces) unter General John J. Pershing nach Frankreich verlegt, dort zunächst aufgeteilt und verschiedenen französischen Infanteriedivisionen zugeordnet. Während der Gegenoffensive aus dem Wald von Villers-Cotterêts (ab 18. Juli 1918) wurden die aufgeteilten Brigaden der Division bei der französischen 6. Armee im Raum La Ferté-Milon und am Clignon-Abschnitt als Reserve eingesetzt. St. Mihiel-Offensive Die Vereinigten Staaten setzten anschließend durch, dass ihre Streitkräfte eigenständig neben denen der europäischen Alliierten, Frankreich und dem Vereinigten Königreich operieren durften. Im August 1918 wurde die Division wieder als eigenständiger Verband zusammengefasst und der neu aufgestellten 1. US-Armee unterstellt. Am 12. September 1918 hatte der Verband seinen ersten Kampfeinsatz in der Schlacht von St. Mihiel. Die 4. Division unter Generalmajor John L. Hines bildete als Teil des V. US-Korps im Rahmen einer Zangenoperation die linke Zange und sollte das östlich gelegene IV. US-Korps im Rücken der deutschen Stellungen treffen. Durch diese Bewegung sollten die Deutschen im Raum St. Mihiel eingekesselt werden. Der Angriff begann am 15. September, als die 8. Infanteriebrigade Manheulles einnahm. Die deutschen Einheiten konnten ihren Frontvorsprung nicht halten und es gelang den amerikanischen Verbänden, in dieser Schlacht den gegnerischen Frontvorsprung zugunsten der Entente zu begradigen. Maas-Argonnen-Offensive Am 26. September 1918 begann die letzte große Schlacht des Ersten Weltkrieges, die Maas-Argonnen-Offensive. Ziel der Alliierten war die Eroberung der Stadt Sedan an der Maas, weil sich dort mehrere für die deutschen Truppen lebensnotwendige Versorgungslinien trafen. Im Schutz der Dunkelheit konnten die amerikanischen Korps am 26. September unbemerkt ihre Bereitstellungsräume für den Angriff im Raum St. Mihiel einnehmen. Das III. US-Korps einschließlich der 4. US-Infanteriedivision hielt die rechte östliche Flanke des Frontabschnitts, links daneben ging das V. US-Korps in Stellung. Innerhalb des Abschnitts des III. Korps nahm die 33. US-Infanteriedivision den rechten, die 80. US-Infanteriedivision den zentralen und die 4. US-Infanteriedivision mit der 79. US-Infanteriedivision des V. Korps an ihrer Seite den linken Sektor ein. Der Angriff führte durch ein schmales Tal; die 7. Brigade durchquerte es zügig und erreichte um neun Uhr die äußerste Verteidigungslinie von Cuisy. Trotz des entschlossenen Widerstands der deutschen Truppen konnten diese den Ort nicht halten. Am Ende des Tages verlegte die 4. Division ihr Hauptquartier nach Cuisy. Die Schlacht dauerte vom 27. September bis zum 3. Oktober an, ohne dass der Verband nennenswerte weitere Fronteinbrüche erzielte, während das von Trommelfeuer zerfurchte Gebiet das Heranführen von Nachschub und Truppen zunehmend erschwerte. Die zweite Phase der Schlacht zielte in Richtung Brieulles und begann, als die vordersten Truppen ausreichend versorgt werden konnten. Am 4. Oktober verließ die 8. Brigade ihre Schützengräben und griff im dichten Nebel an. Als sich dieser legte, nahmen die deutschen Truppen sie von drei Seiten ins Kreuzfeuer. Trotz schwerer Verluste konnte sich die Brigade in Bois de Fays festsetzen. In den nächsten vier Tagen erlitt die Division weitere hohe Verluste durch schweren Artillerie- und Gasbeschuss. Die 8. Brigade wurde zurückgezogen und durch die 7. Brigade ersetzt. Am 9. Oktober setzte der Verband den Angriff auf Befehl Pershings fort und konnte bis zum 12. Oktober das Gebiet um Bois de Foret einnehmen und sichern. Am 13. Oktober wurde die Division von der 3. US-Infanteriedivision abgelöst und bis zum 19. Oktober von der Front zurückgezogen. Am 10. Oktober wurde Generalmajor George H. Cameron von Generalmajor John L. Hines als Interimskommandeur des III. Korps abgelöst. Cameron übernahm wieder das Kommando über die 4. US-Infanteriedivision. Die Division wurde der 2. US-Armee unterstellt und in Lucey stationiert. Am 22. Oktober übernahm Cameron ein neues Kommando in den Vereinigten Staaten und wurde zwischenzeitlich durch den Kommandeur der 7. Brigade, Brigadier General Benjamin A. Poore ersetzt. Am 31. Oktober 1918 übernahm dann Generalmajor Mark L. Hersey das Kommando. Bei der Unterzeichnung des Waffenstillstands am 11. November 1918 war die 4. US-Infanteriedivision der einzige US-Verband, der sowohl im britischen als auch im französischen Frontabschnitt zum Einsatz gekommen war. Die Verluste der Division betrugen 2611 Tote und 9895 Verwundete. Besatzungszeit in Deutschland und Demobilisierung Das Deutsche Reich musste sein Militär aus allen Gebieten westlich des Rheins abziehen und amerikanische Truppen besetzten das Zentrum dieser Gebiete bis zum Brückenkopf Koblenz. Die Ivy Division legte in einem 15-tägigen Eilmarsch 330 Meilen (etwa 531 km) zurück, begab sich auf deutsches Territorium und richtete ihr Hauptquartier in Bad Bertrich ein. Dort fungierte sie als Besatzungsmacht und wurde im April 1919 ins nördliche Rheinland verlegt. Im Juli 1919 kehrte sie zurück nach Frankreich, um am 13. Juli zurück in die Vereinigten Staaten eingeschifft zu werden. Sie wurde in Fort Lewis im US-Bundesstaat Washington stationiert, bis sie am 20. September 1921 im Rahmen des Reorganization Act von 1920 demobilisiert wurde. Neuaufstellung und Zweiter Weltkrieg Am 1. Juni 1940 wurde die 4. US-Infanteriedivision in Fort Benning im US-Bundesstaat Georgia unter dem Kommando von Major General Walter E. Prosser als Triangulare Division (drei Infanterieregimenter anstatt vier) neu aufgestellt. Am 1. August wurde sie gemäß dem Table of Organization and Equipment (deutsch: „Stärke- und Ausrüstungsnachweisung“) des Kriegsministeriums zu einer motorisierten Infanteriedivision umgewidmet, entsprechend reorganisiert und gemeinsam mit der ebenfalls umorganisierten 2. US-Panzerdivision (ehemals 2. US-Kavalleriedivision) dem I. US-Panzerkorps unterstellt. Nach dem Abschluss dieser Umstrukturierung wurde sie in Dry Prong im US-Bundesstaat Louisiana stationiert, wo sie mit intensiven Ausbildungsmaßnahmen begann und die neue taktische Ausrichtung verinnerlichte. In den 1930er-Jahren waren im Kriegsministerium neue Theorien des kombinierten Kampfes verschiedener Waffengattungen (Gefecht der verbundenen Waffen) entwickelt worden. In der Zeit von 1941 bis 1943 diente die Ivy Division an verschiedenen Standorten als Experimentalverband, um diese Theorien in zahlreichen Manövern und unterschiedlichen militärischen Großverbandsstrukturen zu erproben und so die Grundlagen einer modernen Gefechtsführung mit verbundenen Waffen in der Praxis zu entwickeln. Im September wurde sie nach Camp Gordon Johnson in Carabelle, Florida, verlegt, um dort amphibische Landungen zu üben. Die nun motorisierte 4. US-Infanteriedivision setzte sich aus folgenden Verbänden zusammen: 8th Infantry Regiment – 8. Infanterieregiment 12th Infantry Regiment – 12. Infanterieregiment 22nd Infantry Regiment – 22. Infanterieregiment 20th Field Artillery Battalion (155 mm) – 20. Feldartilleriebataillon 29th Field Artillery Battalion (105 mm) – 29. Feldartilleriebataillon 42nd Field Artillery Battalion (105 mm) – 42. Feldartilleriebataillon 44th Field Artillery Battalion (105 mm) – 44. Feldartilleriebataillon 4th Reconnaissance Troop – 4. Aufklärungskompanie 4th Engineer Battalion – 4. Pionierbataillon 4th Medical Battalion – 4. Sanitäts-Bataillon 4th Quartermaster Battalion – 4. Quartiermeisterbataillon 4th Signal Company – 4. Fernmeldekompanie 704th Ordnance Company (LM) – 704. Kampfmittelkompanie (Light Maintenance) Landung in der Normandie Am 18. Januar 1944 wurde die Division nach Großbritannien verlegt, um sich auf die geplante Operation Overlord – die Landung der Alliierten in der Normandie – vorzubereiten. Obwohl der Küstenabschnitt schwieriges Gelände bot, hatte sich das alliierte Oberkommando für eine Landung in der Normandie entschieden, weil der Atlantikwall dort lange nicht so stark ausgebaut war wie im Gebiet um Calais und man davon ausging, dass das militärische Überraschungsmoment dort am größten sein würde. Aufgrund der Truppenkonzentrationen der Wehrmacht glaubte man auf alliierter Seite, dass die Deutschen eher mit einer Landung an der engsten Stelle zwischen England und Frankreich rechneten. Am 6. Juni 1944 ging die Division unter Major General Raymond Barton im Rahmen des VII. Korps während der größten amphibischen Landungsoperation aller Zeiten in ihrem Abschnitt Utah Beach an Land. Die erste Welle erreichte jedoch 1800 Meter südlich des geplanten Landeabschnitts das Ufer. Dies war die Folge einer starken seitlichen Strömung, welche die Landungsboote nach Süden abdrängte. Da die Küstenlinie infolge des vorangegangenen Beschusses von Rauchwolken verdeckt war, fehlten den Besatzungen Orientierungspunkte für eine Kurskorrektur. Trotz der Landung an einem nicht dafür vorgesehenen Küstenabschnitt trat bei den angelandeten Truppen nur wenig Verwirrung ein. Allerdings ließen sich einzelne Befehle nicht im Detail ausführen. Brigadegeneral Theodore Roosevelt, Jr., dem einzigen persönlich an der Landung teilnehmenden US-General und stellvertretenden Kommandeur der 4. US-Infanteriedivision, gelang es jedoch, trotz dieser Nachteile die Ordnung den Umständen entsprechend zu wahren und die erreichbaren starken deutschen Stellungen angreifen zu lassen. Die 4. Infanteriedivision griff die Batterie von Crisbecq zwischen dem 6. und 12. Juni 1944 mehrfach an. Die Truppe konnte zu den Hauptstraßen im Hinterland vorstoßen und die deutschen Kräfte von dort aus weiter attackieren. Das 8. Infanterieregiment war dabei die erste Nicht-Luftlandeeinheit der Alliierten, die französischen Boden betrat. Nach der Sicherung ihres Landeabschnitts, den sie unter großen Verlusten erobert hatte, schlug sie sich zur 82. US-Luftlandedivision durch, die bei Sainte-Mère-Église festsaß. Anschließend eroberte sie die Halbinsel Cotentin und nahm am 25. Juni 1944 gemeinsam mit anderen Truppen Cherbourg ein. Die Verluste des Verbandes bei der Landung in der Normandie betrugen über 5.000 Tote und Verwundete. Am Tag des Beginns des amerikanischen Ausbruchsunternehmens aus dem Landekopf, der Operation Cobra, am 25. Juli 1944, „verlief der Angriff (des VII. US-Korps auf dem linken Flügel) – mit der 9. Division rechts, der 4. Division in der Mitte und der 30. Division links – planmäßig. Sein allgemeines Ziel war die Straße Marigny – St. Gilles.“ Die Infanterie sollte eine Gasse für die nachfolgenden Panzer-Divisionen freimachen und dann seitlich ausschwenken. Am 26. Juli folgten morgens bereits die 2. und die 3. US-Panzer-Division. Die 4. Infanteriedivision übernahm in den folgenden Tagen Deckungsaufgaben mit einem Teil der 3. US-Panzer-Division im Raum Villedieu und stand während des Gegenangriffs der deutschen 7. Armee in der Nacht vom 6. August bei Mortain vor Sourdeval der deutschen 116. Panzer-Division gegenüber. Nach der Abwehr des deutschen Angriffs marschierte die 4. Infanterie-Division um die deutsche Südflanke herum und war beim Vorstoß der 3. US-Armee (unter George S. Patton) nach Norden auf Argentan dem XV. US-Korps unterstellt. Noch während der Schlacht um den Kessel von Falaise wurde die Division dem V. US-Korps (Generalmajor Leonard T. Gerow) zusammen mit der französischen 2. Panzer-Division zum Vormarsch an die Seine angeschlossen. Am 6. Juni 1944 kam es zu Kriegsverbrechen von Angehörigen der Division an deutschen Kriegsgefangenen. Bei Hermanville-sur-Mer wurden mehrere deutsche Soldaten, die sich ergeben hatten, von Soldaten der Division erschossen. Befreiung von Paris und Schlacht im Hürtgenwald Der 4. US-Infanterie-Division wurde die Ehre zuteil, Die 4. US-Infanterie-Division war als einziger amerikanischer Verband an der Befreiung von Paris beteiligt. Die Stadt wurde vom deutschen Garnisonskommandeur von Choltitz am 25. August 1944 offiziell kampflos übergeben. Allerdings hielten sich die in der französischen Hauptstadt zahlreich vorhandenen Einheiten der allgemeinen SS, der Gestapo, des SD und der Waffen-SS nicht an die Kapitulationsvereinbarung und leisteten der Résistance Widerstand, der aber niedergeschlagen wurde. Nach einer Ruhephase wurde die Division über Houffalize nach Belgien verlegt, um am 14. November 1944 den Westwall in der Schnee-Eifel anzugreifen. Bei diesem Angriff gelangen ihr einige Einbrüche. Bis November kam die Division nur langsam voran, da das Wetter die alliierte Luftüberlegenheit behinderte und sich die deutschen Verbände trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit als zähe Gegner erwiesen. In der Schlacht im Hürtgenwald traf die Ivy Division auf äußerst starke deutsche Gegenwehr, sodass das alliierte Operationsziel gefährdet schien, an dieser Stelle durchzubrechen, um den entlang der Rurfront stehenden deutschen Verbänden in die Flanke zu fallen. In dieser Schlacht erlebte die Division wahrscheinlich ihre schwersten Kämpfe des Zweiten Weltkrieges. Der Hürtgenwald, ein 140 km² großes Waldplateau nordöstlich der belgisch-deutschen Grenze, südlich der Linie Aachen–Düren und westlich der Rur gelegen, stellte für beide Seiten eine enorm wichtige Höhe dar. Für die Deutschen eignete sich seine Beschaffenheit hervorragend für eine defensive Gefechtsführung, unter anderem, weil er Schutz vor Luftangriffen bot. Ein Halten des Abschnitts galt als notwendig, um die Nordflanke des Aufmarschs der geplanten Ardennenoffensive zu schützen. Für die Alliierten war die Einnahme des Hürtgenwalds Voraussetzung für den Durchbruch zum Rhein und das Sprengen der Rurfront. Die Division wurde am 7. Dezember 1944 aus der Schlacht herausgelöst, nachdem sie mit 7500 Verwundeten und Toten fast ein Drittel ihrer Mannstärke verloren hatte. In der Etappe in Luxemburg sollte sie ihre enormen Verluste ausgleichen, welche die bei der Landung in der Normandie erlittenen noch übertrafen und die schwersten der Division während des Zweiten Weltkrieges darstellten. Ardennen-Offensive und Kriegsende Die eben erst aus dem Hürtgenwald herausgezogene und schwer angeschlagene Division wurde nach Luxemburg verlegt, wo sie am 16. Dezember 1944 von der Ardennen-Offensive der Deutschen überrascht wurde. Obwohl sie zunächst zurückweichen musste, gelang es ihr, den Frontabschnitt zwischen Dickweiler und Osweiler zu stabilisieren, im Januar 1945 die Sauer zu überqueren, und die erschöpften deutschen Einheiten in ihren Stellungen in Fouhren und Vianden zu überrennen. Erst bei Prüm konnte ihr Vorstoß durch heftigen deutschen Widerstand zum Halten gebracht werden. Dennoch gelang ihr am 28. Februar 1945 das Übersetzen nahe Olzheim und der schnelle Vorstoß entlang der Kyll am 7. März. Nach einer kurzen Ruhezeit zur Auffrischung und zum Ersatz der Verluste überquerte die „Vierte“ am 29. März bei Worms den Rhein, eroberte anschließend Würzburg und bildete am 3. April 1945 einen Brückenkopf am Main bei Ochsenfurt. Anschließend nahm sie Bad Mergentheim, Rothenburg, Crailsheim und Aalen. Am 25. April überquerte sie die Donau bei Lauingen und schwenkte in Richtung München. Insgesamt machte die 4. US-Infanteriedivision im März und April 1945 über 50.000 Kriegsgefangene. Anfang Mai erreichte der Verband bei Miesbach die Isar, wonach er aus der Front herausgelöst wurde, an keinen Kampfhandlungen mehr teilnahm und nur noch Besatzungsaufgaben wahrnahm. Die Verluste der 4. US-Infanteriedivision im Zweiten Weltkrieg betrugen insgesamt rund 22.660 Tote und Verwundete. Reorganisation und Zwischenjahre Nach seiner Rückverlegung in die Vereinigten Staaten im Juni 1945 wurde der Verband in Camp Butner im US-Bundesstaat North Carolina stationiert, um sich auf den Kriegseinsatz gegen Japan im pazifischen Raum vorzubereiten. Dazu kam es jedoch nicht mehr, weil Japan nach dem Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki seine bedingungslose Kapitulation erklärte und eine Landung auf dem japanischen Festland unnötig wurde. Am 5. März 1946 wurde die Division zum zweiten Mal demobilisiert, jedoch nur ein Jahr später, am 15. Juli 1947, wieder aktiviert, um als reine Ausbildungseinheit in Fort Ord, Kalifornien, zu dienen. Am 10. Oktober 1950 wurde die „Vierte“ wieder zur Kampfeinheit umgewidmet, was eine umfangreiche Neuorganisation und eine erneute Verlegung nach Fort Benning, Georgia, nach sich zog. Im Mai 1951 wurde die Division angesichts des durch den Koreakrieg eskalierenden Kalten Krieges als eine von vier US-Divisionen der NATO unterstellt. Sie kam nach Westdeutschland zur 7. US-Armee, V. Korps. Das Hauptquartier war in der Drake-Kaserne, Frankfurt am Main. Weitere Standorte waren Büdingen, Butzbach, Gelnhausen, Hanau, Mannheim und Schweinfurt. Zwischen 1951 und 1953 unterstützte die 4. US-Infanteriedivision indirekt die US-Truppen im Koreakrieg durch regelmäßige Abkommandierung von Personal zu dort kämpfenden Einheiten, um deren Verluste auszugleichen. Nach einer fünfjährigen Dislozierung in Deutschland wurde sie im Mai 1956 wieder in Fort Lewis im US-Bundesstaat Washington stationiert und dem US States Pacific Command (PACOM) unterstellt. Bis zum Vietnamkrieg behielt die Division diese Unterstellung und ihren Standort bei. Vietnamkrieg Im September 1966 wurde die 4. US-Infanteriedivision nach Südvietnam verlegt und richtete ihr Hauptquartier in Camp Holloway bei Plei Cu in der Provinz Gia Lai im zentralen Hochland Vietnams ein, wo sie dem II. US-Korps unterstellt wurde. Die Erste und Zweite Brigade wurden im zentralen Hochland eingesetzt. Die Dritte Brigade einschließlich des Panzerbataillons der Division unterstützte die 23. US-Infanteriedivision (Americal Division) in der Provinz Tây Ninh (in der sogenannten Kriegszone C) nordwestlich von Saigon bei der Operation Attleboro, einer sogenannten Such- und Zerstörungsoperation, die bis Ende November 1966 dauerte. Von Februar bis Mai 1967 war die Division an der Operation Junction City beteiligt, der einzigen großen Luftlandeoperation des Vietnamkrieges und einer der größten der Militärgeschichte überhaupt. Dieser „Such- und Zerstörungseinsatz“ sollte die Aktivitäten der Vietnamesischen Volksarmee und des Viet Cong in dieser Region endgültig beenden. Gleichzeitig sollte das Hauptquartier für alle nordvietnamesischen Aktivitäten, das „Zentralbüro für Südvietnam“ (Central Office for South Vietnam), lokalisiert und zerstört werden. In der über 70 Tage andauernden Schlacht, bei der die nordvietnamesischen Kräfte hohe Verluste erlitten, konnten diese Ziele allerdings nur zum Teil erreicht werden. Das gesuchte Hauptquartier war rechtzeitig evakuiert worden und operierte für den Rest des Krieges von kambodschanischem Gebiet aus. Nach diesem Einsatz wurde die 3. Brigade der 25. US-Infanteriedivision unterstellt, die sich während der Tet-Offensive des Vietcong 1968–1969 an der Verteidigung der südvietnamesischen Hauptstadt Sàigòn beteiligte. Gemeinsam mit ihrem neuen Mutterverband diente sie im Rahmen des „Vietnamisierungs-Programms“ (Nixon-Doktrin) bis 1970 als Ausbildungseinheit bei den südvietnamesischen Streitkräften. Diese Schwächung wurde durch Teile der Task Force Oregon kompensiert, als die 4. US-Infanteriedivision in der Provinz Quảng Ngãi im Einsatz war. Während ihrer Zeit in Vietnam unternahm die Division diverse Operationen im westlichen zentralen Hochland entlang der Grenze zu Kambodscha, um die Infiltration Südvietnams durch den Vietcong zu unterbinden und seine Nachschubwege (Teile des Ho-Chi-Minh-Pfades) zu unterbrechen. Im Herbst 1967 war sie bei Kontum in heftige Gefechte mit der regulären Vietnamesischen Volksarmee verwickelt. Im April 1970 wurde die 3. Brigade aus der 25. US-Infanteriedivision herausgelöst und zurück nach Fort Lewis verlegt, wo sie demobilisiert wurde. Die „Vierte“ wurde im selben Jahr im Rahmen der sogenannten Cambodian Campaign („Schlacht von Kambodscha“), ebenso Cambodian Incursion („Einfall in Kambodscha“) genannt, eingesetzt. Dies war ein groß angelegter Feldzug, der aus dreizehn einzelnen Operationen in Südkambodscha bestand und hauptsächlich von den südvietnamesischen Streitkräften bestritten wurde. Wegen ihrer überdurchschnittlichen Erfolge in diesen Kämpfen wurde die Division nach Ende des Einsatzes zur Auffrischung in die Etappe verlegt, im Rahmen des „Vietnamisierungs-Programms“ am 8. Dezember 1970 vom asiatischen Kriegsschauplatz zurückgezogen und nach Fort Carson im US-Bundesstaat Colorado verlegt. Die Gesamtverluste der 4. US-Infanteriedivision im Vietnamkrieg betrugen 2.541 Tote und 15.229 Verwundete. Reorganisation und Eingreifreserve Nachdem der Verband sein neues Hauptquartier in Fort Carson, Colorado, eingerichtet hatte, wurde er zu einer mechanisierten Infanteriedivision umgewandelt und entsprechend umstrukturiert und ausgerüstet. Anschließend begann ein umfangreiches Ausbildungsprogramm, um diese neue taktische Ausrichtung zu erlernen. Nachdem dieser Prozess abgeschlossen war, behielt die Division ihren Standort für die nächsten 25 Jahre bei und diente als Teil der weltweit verlegbaren schnellen Eingreifreserve der Army. In dieser Zeit wandelte sich ihr alter Spitzname Ivy Division (deutsch: „Efeudivision“) zu dem heute gebräuchlicheren Iron Horse („Dampfross“), weil der Verband nun gepanzert war und täglich bereitstand, um in jeder erdenklichen Krisenregion der Welt eingesetzt zu werden. In dieser Funktion war der Bereitschaftsgrad, die Intensität der Ausbildung und der Manöverturnus im Vergleich zu anderen amerikanischen Verbänden überdurchschnittlich hoch. Umflaggung, Digitalisierung (EXFOR) und Neuausrichtung (Force XXI) Umflaggung Entsprechend den Plänen des Heeresstaatssekretärs (SECARM) für eine Umstrukturierung der zehn Divisionen wurde die Flagge der 2. US-Panzerdivision in Fort Hood, Texas, eingeholt und dieser Verband am 15. Dezember 1995 zur 4. US-Infanteriedivision umgeflaggt und partiell mit der eigentlichen „Vierten“ vereint, die von Fort Carson nach Fort Hood verlegt wurde. Bei dieser Zusammenführung wurden einige Truppenteile demobilisiert. Der Division wurde im Rahmen dieser Maßnahme eine dritte Kampfbrigade zugeteilt. EXFOR und Umorganisation zur ersten digitalisierten Division Die 4. US-Infanteriedivision wurde der US Army Experimental Force (EXFOR) (Heeresexperimentalkräfte) unterstellt. Dieser EXFOR gehörten die Truppen der Army an, die in das Army Warfighting Experiment (AWE) (dt. „Heeres-Gefechtsführungsexperiment“) eingebunden waren, ein Programm zur Digitalisierung und modularen Reorganisation der Divisions- und Brigadestruktur der Landstreitkräfte. Dazu wurden umfangreiche und einzigartige neue Trainingseinrichtungen in Fort Hood geschaffen, die insbesondere die geplanten digitalen Kommando- und Kontrolleinrichtungen darstellten und so deren Entwicklung, Erprobung und Ausbildung an ebendiesen ermöglichte. Diese neue Trainingsumgebung nutzte eine Kombination herkömmlicher computergestützter Simulationsprogramme (Simulation Network (SIMNET)) mit neu entwickelter Simulationssoftware. Dadurch konnte der künftig digitalisierte Informationsaustausch auf allen Ebenen der Division bis hinunter zum einzelnen Schützenpanzer simuliert werden und die Soldaten mit der neuen Kommando- und Kontrollkommunikationstechnik (Single channel Ground and Airborne Radio System – Systems Improvement Program (SINCGARS-SIP), „Einzelkanal-Boden-und-Luft-Funksystem“ – „Systemverbesserungsprogramm“) und der neuen (Enhanced Position Location Reporting System (EPLRS), „Erweitertes Positions-Meldungs-System“) vertraut gemacht werden. Diese Digitalisierung ermöglichte es, den in dieses taktische Netzwerk eingebundenen Einheiten und Kommandoebenen in Echtzeit Daten auszutauschen und die Standorte der jeweils anderen anzuzeigen. 1997 wurde die Division der erste Verband, der gemäß der in der Heeresreform von 1997 (Force XXI, „Streitkraft XXI“) geplanten Digitalisierung aller Divisionen, mit diesen neuen Kommunikations- und Kontrollmodulen vom Typ FBCB2 ausgerüstet wurde. Beginn der Force-XXI-Umsetzung 1998 begann die schrittweise Umgruppierung hin zur Verwirklichung des modularen Brigadekonzepts der Heeresreform (ebenfalls im Rahmen Force-XXI). Die 4. US-Infanteriedivision war hier ebenso der Vorreiter für alle weiteren Umstrukturierungen auf Divisions- und Brigadeebene der Army. Im selben Jahr wurde ein Pilotprogramm zur Umgruppierung und gemeinsamen Ausbildungs- und Ressourcennutzung zwischen aktiven und Nationalgardeverbänden auf Divisionsebene gestartet, nachdem der Generalstabschef der Army General Dennis J. Reimer dies zuvor postuliert hatte. Im selben Jahr wurde dem Verband eine eigene Heeresfliegerbrigade, die 4th Aviation Brigade (Iron Eagles) unterstellt, als erster Schritt zur Umstrukturierung zur modularen Heeresdivision. Im Sommer kam das 1st Battalion 4th Aviation (R/A) bereits zum Einsatz, als es während der G 8-Friedenskonferenz im bosnischen Sarajevo mit seinen Kampfhubschraubern vom Typ Hughes AH-64 Apache den Luftraum sicherte. Als Kernverband der Erprobung und schrittweisen Umsetzung der Heeresreform (Force XXI) trainierte, testete und evaluierte die 4. US-Infanteriedivision bis 2001 72 Direktiven der Reform in der Praxis, einschließlich der Division Capstone Exercise (DCX) (Divisions-Capstone-Manöver), das am 22. Mai 2001 im National Training Center (NTC) in Fort Irwin im US-Bundesstaat, Kalifornien, dem modernsten Übungszentrum für Panzer- und Panzergrenadiereinheiten der Army stattfand. Bei diesem Manöver, an dem mehr als 7.000 Mann teilnahmen, konnte die 4. US-Infanteriedivision die lokale Opposing Force (Manövereinheit zur Feinddarstellung), das 11th Armored Cavalry Regiment (Black Horses / „Rappen“), deutlich schlagen und die Vorteile der Neuerungen erstmals in der Praxis beweisen. Nach dieser Großübung wurde die Vierte aus dem Erprobungsprogramm der Army wieder ausgegliedert. Irakkrieg und Neuorganisation Irakkrieg Die Planungen für den Irakkrieg im Jahr 2003 sahen die „Vierte“ als Speerspitze eines Vorstoßes aus der Türkei in den Nordirak vor. Diese Planungen wurden am 9. Januar 2003 intern bekanntgegeben und die Division in Alarmbereitschaft versetzt. Entgegen amerikanischen Erwartungen untersagte das türkische Parlament den USA jedoch, türkischen Boden zum Angriff auf den Irak zu benutzen. Daher wurde der gesamte Verband an Bord von 14 entsprechend ausgerüsteten Schiffen in die Region verbracht und dort vorgehalten, um beim Angriff von See her angelandet zu werden. Die 4. Infanteriedivision erreichte Kuwait am 15. April 2003, nachdem der Krieg bereits begonnen hatte. In dieser Phase war sie mehrmals durch irakische Abschüsse von Kurzstrecken-Boden-Boden-Raketen vom Typ Scud bedroht. Da zu diesem Zeitpunkt noch mit einer Eskalation bis hin zur Anwendung von Massenvernichtungswaffen gerechnet wurde, musste die Division in vollständiger Chemiewaffen-Schutzausrüstung Bunker in Camp Wolf und Udairii aufsuchen. Dies führte zu einer Verzögerung ihrer Bereitstellung, sodass sie schließlich erst nach der Anfangsphase des Krieges bei den Angriffen auf Mosul und die Widerstandshochburg Tikrit zum Einsatz kam. Diese Städte nahm die 4. US-Infanteriedivision zusammen mit anderen Verbänden ein. Die Division richtete ihr Hauptquartier in einem ehemaligen Palast Saddam Husseins im sogenannten Sunnitischen Dreieck nahe Tikrit ein, während das 3rd Heavy Brigade Combat Team (3. Panzerbrigade) Quartier auf dem Luftwaffenstützpunkt Balad Air Base bezog. Von Juli bis August 2003 gelang es Einheiten der 4. US-Infanteriedivision, die iranischen Volksmudschahedin im Nordirak zu entwaffnen. In der Schlussphase des Krieges wurde sie im Nordirak eingesetzt, um das Gebiet zwischen Kirkuk und der iranischen Grenze nach vermuteten Schlupfwinkeln des ehemaligen Staatspräsidenten des Irak, Saddam Hussein, und seiner Familie zu durchkämmen. Dabei hatte sie am 13. Dezember 2003 ihren größten Erfolg, als es Truppenteilen des 1st Heavy Brigade Combat Team (1. Panzerbrigade) gemeinsam mit Spezialeinsatzkräften gelang, den flüchtigen Saddam Hussein festzunehmen (Operation Red Dawn, „Unternehmen Rote Morgendämmerung“). Im Frühjahr 2004 wurde die Division aus dem Irak abgezogen und von der 1. US-Infanteriedivision abgelöst. In diesem ersten Einsatz im Irak betrugen die Verluste der Division 82 Tote. Kritik Der damalige Kommandeur des Verbandes, Major General Raymond T. Odierno, erzielte diese Erfolge durch ein bis an die Grenzen der Genfer Konventionen gehendes rigoroses und rücksichtsloses Vorgehen. Laut einer Darstellung der Washington Post vom 24. Juli 2006 war es gängige Praxis der Division, Dörfer vollständig zu umstellen, die wehrfähige männliche Bevölkerung pauschal als Terrorverdächtige gefangen zu nehmen und in das als Verhörzentrum dienende Abu-Ghuraib-Gefängnis zu überstellen. Dieses Vorgehen stellte keine Ausnahme dar und führte sogar zu heeresinternen Beschwerden der verantwortlichen Gefängnisleitung der Militärpolizei, die der schieren Quantität der Gefangenen nicht mehr Herr zu werden drohte. Die Einheit versuchte durch diese und andere Maßnahmen dem Anwachsen des irregulären Widerstandes zu begegnen. Vereinzelt griffen Mitglieder des Verbandes in einer Weise auf Akteure über, die nach US-Militärstrafrecht verboten ist. Beispielsweise töteten sie vermeintliche Aufständische und Bewaffnete, die sich im Nachhinein als unbeteiligte Zivilisten herausstellten. Diese und weniger gravierende Verbrechen und Vergehen wurden jedoch nicht in allen Fällen angeklagt, weil entweder Zeugen, meist Kameraden, diese Taten nicht anzeigten oder sie von verantwortlichen Kommandeuren gedeckt wurden. Die Publikation dieser aggressiven Kampfführung in verschiedenen Presseorganen trug dazu bei, die Zivilbevölkerung von der ursprünglich als Befreier auftretenden Besatzungsmacht zu entfremden. Selbst Kameraden des Heeresnachrichtendienstes der 101. US-Luftlandedivision beschrieben Soldaten der Vierten als „gemein und hässlich dreinschauende Individuen, die sich nichts daraus machten, auf einem Laster stehend ihre Waffen auf Zivilisten zu richten.“ Im Interview mit der Washington Post werteten sie dieses Verhalten als „falsch und kontraproduktiv“. Neuorganisation zur modularen Brigadestruktur Nach ihrem Irakeinsatz wurde die Division entsprechend der in der 1997 postulierten Heeresreform, am 16. Dezember 2004 offiziell in eine modulare Brigadenstruktur überführt. Damit war die 1997 begonnene Umstrukturierung des Force-XXI-Programms endgültig abgeschlossen. Das hatte zur Folge, dass von nun an jede Brigade ihre eigenen Kampfunterstützungsmittel (Aufklärung, Artillerie, Panzerjäger) anderer Waffengattungen des Heeres in sich vereinte und somit in dieser Hinsicht von der Division unabhängig wurde. Besatzungszeit im Irak Im Herbst 2005 wurde die nun modulare Division, der für diesen Einsatz noch eine eigene Artilleriebrigade mit Raketenwerfern vom Typ MLRS unterstellt wurde, wieder in den Irak verlegt, um die 3. US-Infanteriedivision abzulösen, die der Multi-National Force Iraq („Multinationale Truppe im Irak“) unterstellt und nach Camp Liberty in Bagdad verlegt wurde. Durch die neue Struktur und die neue vierte Kampfbrigade, sowie die temporär unterstellte Artilleriebrigade erlebte die Division einen Zuwachs auf 20.000 Mann Stärke. Der Verband übernahm die militärische Verantwortung für die Zentral- und Südprovinzen des Irak mit den Ballungszentren Bagdad, Kerbela, an-Nadschaf und Babil sowie die Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte, die in diesen vier Provinzen Guerilleros bekämpfen und die öffentliche Sicherheit gewährleisten sollten. Während dieser Zeit war die Division gemeinsam mit der 101. US-Luftlandedivision der Task Force Band of Brothers („Einsatzgruppe Geschwisterband“) unterstellt, die im gesamten Irak zur Bekämpfung aufrührerischer Gruppierungen verschiedener Couleur eingesetzt war. Trotz der kritischen Würdigung der Einsatzpraxis der 4. US-Infanteriedivision durch die Presse und anderer Army-Dienststellen im Jahr 2003 knüpfte ihr neuer Kommandeur Major General James D. Thurman an dieselbe Vorgehensweise wie sein Vorgänger an. Die nach Army-Eigendarstellung „intensiven und konzertierten“ Einsätze führten zu einem Zusammenbruch des Widerstandes im sunnitischen Dreieck. Dieses rigorose Vorgehen führte diesmal wieder dazu, dass neuerlich viele unbeteiligte Zivilisten in Mitleidenschaft gezogen wurden. Nachteilige Folgen (Kollateralschäden), die eine Anti-Guerilla-Kriegsführung mit sich bringt, wie getötete Unbeteiligte, die Festnahme Unschuldiger, das Anwachsen von Obdachlosigkeit durch im Kampf zerstörte Häuser und die allgemeine Verunsicherung der Zivilbevölkerung durch das jederzeit aufflackernde Gefecht in Wohngebieten waren die logischen Konsequenzen, die zu einer weiteren Entfremdung der irakischen Zivilbevölkerung führten. Obwohl bereits 2004 Fotos von Misshandlungen im Abu-Ghuraib-Gefängnis von CBS veröffentlicht wurden, kam die Masse der kompromittierenden Bilder, die den Abu-Ghuraib-Folterskandal begründeten, erst Anfang 2006 in die Medien. Die Veröffentlichung fiel also in die Zeit, in der die 4. US-Infanteriedivision für die Bewachung und Zuführung von Terrorverdächtigen zuständig war. Die Verhöre hingegen fielen in den Zuständigkeitsbereich der Spezialeinheiten und Nachrichtendienste, wie CIA und DIA, damit waren diese Organisationen auch verantwortlich für die rechtswidrigen Folterungen. Trotz dieser problematischen Entwicklung und der Zunahme der aufrührerischer Aktivitäten in anderen Landesteilen, gelang es nach offiziellen Angaben der US Army während dieser Stationierungsrunde, die ersten demokratischen Wahlen abzuhalten, die irakischen Sicherheitskräfte an größere und sensiblere Aufgaben heranzuführen und die stark beschädigte Infrastruktur für die Bevölkerung zu verbessern. Ende 2006 war der Einsatz im Irak für die Division beendet und sie wurde wieder in ihren Heimatstandorte Fort Hood, Texas, und Fort Carson, Colorado, verlegt. Die Gesamtverlustzahlen der Division während der Besatzungszeit belaufen sich auf insgesamt 227 Tote. Auftrag Auftragsdefinition laut offizieller Eigendarstellung der Army: Als Teil des III. US-Korps (America’s Hammer, deutsch „Amerikas Hammer“), einem von vier US-Korps, bildet sie zusammen mit der 1. US-Kavalleriedivision, ebenfalls eine Panzerdivision, die strategische und globale Eingreifreserve für schwere Bodenstreitkräfte der Army. In dieser Funktion wird sie grundsätzlich an allen Brennpunkten der Welt eingesetzt, wo die Regierung der Vereinigten Staaten es für die Umsetzung ihrer politischen Ziele für erforderlich hält. Der Verband ist im Gegensatz zu vielen anderen Divisionen der Army nicht traditionell mit einer bestimmten Region verbunden, da er sein Hauptquartier immer in den USA hatte. Ausnahmen hiervon stellen lediglich seine Dislozierung in Deutschland von 1951 bis 1956 und die Kriegseinsätze dar. Organisation und Bewaffnung (Großgerät) Die 4. US-Infanteriedivision verfügt über drei Kampfbrigaden mit integrierten Aufklärungs-, Artillerie- und Unterstützungstruppenteilen, eine Heeresfliegerbrigade, eine Unterstützungsbrigade, die Divisionsartillerie und ein Stabsbataillon. Die Terminologie als „Infanteriedivision“ ist historisch bedingt und seit der Heeresreform kein Hinweis mehr auf die tatsächliche Ausrüstung und Struktur einer US-Division. Die Brigaden der 4. US-Infanteriedivision bestehen aus folgenden Verbänden: Stabsbataillon 1. Strykerbrigade Stryker Brigade Combat Team (SBCT) Brigade Hauptquartier und Hauptquartierkompanie 2. Eskadron, 1. Kavallerieregiment 1. Bataillon, 38. Infanterieregiment 2. Bataillon, 23. Infanterieregiment 4. Bataillon, 9. Infanterieregiment 2. Bataillon, 12. Feldartillerieregiment 299. Brigadepionierbataillon 4. Brigadeunterstützungsbataillon 2. Strykerbrigade Stryker Brigade Combat Team (SBCT) Brigade Hauptquartier und Hauptquartierkompanie 3. Eskadron, 61. Kavallerieregiment 1. Bataillon, 12. Infanterieregiment 2. Bataillon, 12. Infanterieregiment 1. Bataillon, 41. Infanterieregiment 2. Bataillon, 77. Feldartillerieregiment 52. Brigadepionierbataillon 704. Brigadeunterstützungsbataillon 3. Panzerbrigade (3. ABCT) (3rd Armored Brigade Combat Team) Armored Brigade Combat Teams (ABCT) Brigade Hauptquartier und Hauptquartierkompanie 4. Eskadron, 10. Kavallerieregiment 1. Bataillon, 66. Panzerregiment 1. Bataillon, 68. Panzerregiment 1. Bataillon, 41. Infanterieregiment 3. Bataillon, 29. Feldartillerieregiment 588. Brigadepionierbataillon 64. Brigadeunterstützungsbataillon 4. Infanteriedivision Artillerie Hauptquartier und Hauptquartierkompanie 4. Heeresfliegerbrigade Brigade Hauptquartier und Hauptquartierkompanie 2. Angriffsbataillon, 4. Heeresfliegerregiment, ausgerüstet mit Mehrzweckhubschraubern vom Typ UH-60 Black Hawk 3. Unterstützungsbataillon, 4. Heeresfliegerregiment, ausgerüstet mit Transporthubschraubern vom Typ CH-47 Chinook 4. Angriffs- und Aufklärungsbataillon, 4. Heeresfliegerregiment, ausgerüstet mit AH-64D Apache 6. Angriffs- und Aufklärungsgruppe, 17. Kavallerieregiment, ausgerüstet mit Kampfhubschraubern vom Typ Hughes AH-64D Apache. 404. Heeresfliegerunterstützungsbataillon 4. Unterstützungsbrigade Brigade Hauptquartier und Hauptquartierkompanie 4. Spezial Truppen Bataillon 68. Kampfunterstützungsbataillon Abzeichen Schulterabzeichen Beschreibung: Auf einer khakifarbenen Raute, mit einer Seitenlänge von zwei Inch, befinden sich vier Efeublätter von einem schmalen mittigen Zirkel aus zur Kreuzform arrangiert. Die Enden der Blätter füllen jeweils eine der vier Innenkanten der Raute aus. Symbolik: Die vier Efeublätter weisen auf ein Wortspiel der römischen Zahl der Division (IV) hin, die im Englischen wie Efeu ( englisch ivy, Efeu) ausgesprochen wird. Das Efeublatt soll außerdem Vertrauenswürdigkeit und Zähigkeit (Hartnäckigkeit) symbolisieren. Geschichte: das Schulterabzeichen wurde ursprünglich am 30. Oktober 1918 ohne jeglichen Hintergrund genehmigt und auf olivgrünen Hintergrund (Farbe des damaligen Uniformhemdes) aufgestickt. Am 2. Juli 1958 wurde das Abzeichen geändert und bekam den khakifarbenen Hintergrund. Es war ursprünglich bereits am 4. August 1943 als Schulterabzeichen vorgesehen. Einheitsabzeichen Beschreibung: Ein aus vergoldetem Metall und emaillierter Oberfläche bestehendes Abzeichen von einem Inch Höhe mit einem grün lackierten Efeublatt und einem Schriftzug des Mottos der Division „steadfast and loyal“ darunter. Symbolik: Das Efeublatt ist identisch mit dem des Schulterabzeichens und soll dieselbe Symbolik verkörpern. Der Wahlspruch soll im Abzeichen die Verbundenheit zu ihm symbolisieren. Geschichte: Das Einheitsabzeichen wurde am 16. November 1965 genehmigt. Führung Command Group →Hinweis: Bei den US-Streitkräften führt bereits ein Divisionskommandeur den Titel „Kommandierender General“, abweichend von der internationalen Praxis, dass nur Kommandeure der Korpsebene oder höher diesen Titel führen. Die Führungsgruppe (Command Group) des Divisionsstabes besteht aus dem Kommandeur einem Generalmajor und seinem Stellvertreter, sowie den Generalstabsoffizieren und dem Command Sergeant Major der Division. Seit dem 19. August 2021 ist General-Major David Hodne Kommandierender General der Einheit. Liste der Kommandeure Traditionspflege (Denkmal, Museum, Marschlied) Auf dem Gelände von Fort Hood, dem Heimatstandort der 4. US-Infanteriedivision, befindet sich ein Denkmal der Division. Das eigene Museum des Verbandes, das 4th Infantry Division Museum, befindet sich ebenfalls auf dem Gelände seines Heimatstützpunktes Fort Hood und ist öffentlich zugänglich. Die Division hat ein eigenes Marschlied (4th Infantry Division March): Weiterführende Informationen Literatur Robert O. Babcock: War Stories, Utah Beach to Pleiku. 4th Infantry Division. WWII, Cold War, Vietnam. Deed’s Publishing, Marietta GA 2006, ISBN 0-9776018-1-1. Ivan N. Pierce: An infantry lieutenant’s Vietnam. January 1967 to March 1968 with the 4th Infantry Division. Capsarge Publishing, El Dorado Springs MO 2004, ISBN 0-9748595-0-8. Robert O. Babcock: Operation Iraqi Freedom I. A Year in the Sunni Triangle. The history of the 4th Infantry Division and Task Force Ironhorse in Iraq. April 2003 to April 2004. St. John’s Press, Tuscaloosa AL 2005, ISBN 0-9710551-8-1. Weblinks Offizielle Website der 4th ID (englisch) 4th Infantry bei globalsecurity.org (englisch) Interview der New York Post mit Lieutenant General Raymond T. Odierno, ehemaliger Kommandeur der 4th ID während des ersten Irakeinsatzes über die öffentliche Kritik an der Besatzungspolitik (englisch) (englisch; PDF; 20 kB) 4th Infantry Division-Verbindung (englisch) Einzelnachweise Infantry #:4 Infantry Division #:4 Infantry Division #:4 Vereinigte Staaten im Kalten Krieg Militärischer Verband im Vietnamkrieg Militärischer Verband im Irakkrieg Gegründet 1917
3330635
https://de.wikipedia.org/wiki/Dodona
Dodona
Dodona (dorisch: Δωδώνα, Dōdṓnā; attisch und ionisch: Δωδώνη, Dōdṓnē) war ein antikes griechisches Heiligtum und Orakel. Es galt als ältestes Orakel Griechenlands und war nach Delphi das bedeutendste überregionale Orakel der griechischen Welt. Der mit dem Orakel verbundene Zeuskult scheint sich aus einem älteren Kult entwickelt zu haben, von dem sich in späterer Zeit unerklärliche Riten der Priesterschaft erhalten hatten. So wurde aus dem Rauschen einer dem Zeus heiligen Eiche, der Eiche von Dodona, geweissagt. Zusätzlich wurde der Flug von Tauben gedeutet und später wurden mit Hilfe von Losen Anfragen beantwortet. Die Geschichte des Ortes ist eng mit der Geschichte der Landschaft Epirus verbunden. Erste Spuren menschlicher Zivilisation finden sich aus der frühen Bronzezeit. Die Ureinwohner der Region sollen die Pelasger gewesen sein, die bei der ersten griechischen Einwanderungswelle von Thesprotern verdrängt worden sein sollen. Diese konnten Dodona bei späteren Einwanderungswellen verteidigen und verloren die Herrschaft möglicherweise erst zu Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. an die Molosser. Durch diese lang währende Kontinuität konnten sich zunächst althergebrachte Riten erhalten. Der Ausbau Dodonas zu einem „modernen“ Heiligtum begann nach der Machtübernahme durch die Molosser. Zu dieser Zeit wurde der Ort religiöses und kulturelles Zentrum der Epiroten. Im Zuge der Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft in Epirus wurde Dodona mehrfach zerstört, doch blieb der Kultplatz bis in die Spätantike bestehen. Die heute zum Teil nur noch schlecht erhaltene und noch nicht komplett ausgegrabene archäologische Stätte besteht aus den Resten mehrerer Tempel und profaner Verwaltungsgebäude. Besonders gut erhalten ist das Theater, das eines der größten seiner Art im griechischen Mutterland war. Lage und Geschichte Dodonas Dodona liegt in der griechischen Landschaft Epirus. Sein Eichenhain war neben den Orakelstätten in Delphi, Lebadeia, Abai und Oropos im griechischen Mutterland sowie Klaros, Didyma und Patara in Kleinasien und dem ägyptischen Orakel in der Oase Siwa eines der bedeutendsten Orakel der griechischen Welt. In seiner überregionalen Bedeutung stand es in historischer Zeit nur hinter Delphi zurück, beanspruchte jedoch für sich, das älteste und für lange Zeit einzige Orakel in Griechenland gewesen zu sein. Die antike Stätte liegt 15 Kilometer südwestlich des heutigen Ioannina in einem 12 Kilometer langen und bis zu 1.200 Meter breiten Tal im Osten der Kalkstein-Bergkette von Agios Nikolaos-Manoliasas und im Westen des Tomaros-Gebirges. Das Tal ist vor allem bei starken Regenfällen sumpfig, wozu auch viele Quellen im Tomaros beitragen. Drei Kilometer südlich von Dodona befindet sich die Quelle des Louros. Schon in der Antike wurde die Existenz eines zweiten Dodona in Thessalien diskutiert. Diese Überlegungen halten bis in die heutige Zeit an, doch gibt es bisher keine handfesten Beweise für dessen Vorhandensein. Vorgeschichte In ganz Epirus sind bisher nur sieben Fundplätze bekannt, an denen Überreste aus der frühen und mittleren Bronzezeit gefunden wurden. Zu diesen gehört Dodona, was für eine frühe Bedeutung und für eine günstige Lage als Siedlungsplatz spricht. Die frühesten Funde werden in die Zeit um 2500 bis 2100 v. Chr. datiert. Es handelt sich dabei um Scherben handgefertigter, dickwandiger Keramik. Erste Bronzefunde – neun Messer – werden in den Zeitraum zwischen 2100/1900 und 1600 v. Chr. datiert. Aus der späten Bronzezeit wurden mykenische Keramikfragmente gefunden, die für Beziehungen zum mykenischen Kulturraum sprechen. Weitere Funde lassen Verbindungen nach Mitteleuropa und Kleinasien vermuten. Bei Ausgrabungen im Jahr 1967 wurden zudem architektonische Spuren gefunden. Damit ist Dodona einer von nur vier Orten in Epirus, in denen man sicher bronzezeitliche Architekturspuren nachweisen konnte. Es ist bis heute unklar, ob diese Reste aus der Zeit zwischen dem 13. und 10. Jahrhundert v. Chr. schon in Zusammenhang mit einem Kult standen. Vor allem die Funde von Äxten, die im Allgemeinen eine der wichtigsten Votivgaben dieser Zeit waren, und das Fehlen von Gräbern legen jedoch die Vermutung nahe, dass es sich hier um einen Kultplatz und nicht um eine Siedlung handelte. Funde fehlen weitgehend für die Zeitspanne der sogenannten Dunklen Jahrhunderte und für die homerische Zeit. Die Kontakte zu weiter entfernten Regionen scheinen abgebrochen zu sein. In der wissenschaftlichen Diskussion stehen dafür drei Modelle, die die Verbindung zwischen Bronze- und Eisenzeit erklären sollen. Zum Ersten ist ein Neubeginn des Kultes im 8. Jahrhundert v. Chr. möglich. Zum Zweiten gab es vielleicht eine Kultkontinuität seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. Dritte Möglichkeit ist eine kultische Anknüpfung an einen früheren Kult im 8. Jahrhundert v. Chr., an den sich Erinnerungen erhalten haben. Gründungsmythos und früheste Erwähnungen Schon bei den Griechen stand Dodona in einem besonderen Ruf, wofür die mythologischen Begebenheiten um die Stadt sprechen. Die Pelasger, die zu den mythischen Ureinwohner Griechenlands gezählt wurden, sollen schon sehr lange in Dodona ihre namentlich nicht überlieferten Götter verehrt haben. Die Gründungssage beschreibt eine enge Beziehung zum Alten Ägypten. Laut einer Variante der Gründungssage, die Herodot im ägyptischen Theben hörte, entführten Phönizier zwei Priesterinnen aus Theben und verkauften eine von ihnen nach Libyen, wo sie in der Oase Siwa das Heiligtum des Zeus Ammon stiftete. Die andere verkauften sie nach Dodona, wo sie den Kult des Zeus begründet haben soll. In Dodona selbst wurde Herodot erzählt, dass aus Theben zwei schwarze Tauben entflogen seien, von denen eine in die Oase Siwa flog und ein Orakel des Zeus gestiftet habe, während die andere bis Dodona gekommen sei. Dort habe sie sich auf einer Eiche niedergelassen und die Bewohner mit menschlicher Stimme angewiesen, hier ein Zeus-Orakel zu errichten. Schon Herodot deutete die Tauben allegorisch als Priesterinnen. Die Verbindung zu Ägypten, das – wie seit Herodot bereits antike griechische Autoren mehrfach betonten – die weitaus ältere Hochkultur besaß, ist zumindest ein Hinweis auf das Alter, die Bedeutung und nicht zuletzt den Anspruch des Orakels als größter Konkurrent Delphis, im Ansehen als herausragendes Orakel in Griechenland zu gelten. Die erste Nennung des Orakels in der Literatur ist jedoch noch weitaus älter als die Schrift Herodots. Schon in Homers Ilias, in der Dodona als einzige Orakelstätte Erwähnung findet, betet Achilleus: Die Anrufung des Zeus von Dodona als „pelasgischer“ und die Erwähnung von barfüßigen Sehern sind singulär in der Überlieferung. Auch in der Odyssee spielte das Orakel eine Rolle. So soll Odysseus während seiner Irrfahrt das Orakel befragt haben: Weitere Bezüge zu Dodona im griechischen Mythos sind etwa die sprechende und weissagende Planke aus dodonischem Eichenholz, die in der Argo verbaut wurde, und der bei Sophokles überlieferte Tod des Herakles, der in Dodona geweissagt wurde. Dodona in historischer Zeit Wahrscheinlich kamen zu Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. in der ersten Einwanderungswelle griechischer Stämme die Thesproter nach Epirus. Während der großen Wanderung um 1200 v. Chr. wanderten die Molosser ein, doch blieb Dodona offenbar noch bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. thesprotisch. Während der sogenannten Dunklen Jahrhunderte scheint es keinen Kontakt über Epirus hinaus gegeben zu haben. Endgültige Aussagen kann man dazu jedoch nicht treffen, da diese Zeit archäologisch bisher kaum untersucht wurde. Allerdings zeugen die Weihgeschenke davon, dass das Orakel vor allem von regionaler Bedeutung war. Erst im späten 8. Jahrhundert v. Chr. scheint es einen verstärkten Kontakt nach Südgriechenland gegeben zu haben. Durch die lange und kontinuierliche Herrschaft der Thesproter in Dodona konnten sich hier alte Bräuche lange erhalten, zudem kam es erst spät zur Übernahme von Neuerungen wie befestigten Bauten. Erst gegen Ende des 5. oder zu Anfang des 4. Jahrhunderts v. Chr. kam die Stadt unter die Herrschaft der Molosser. Um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. übernahmen die Makedonen unter Philipp II. die Kontrolle über Epirus und damit über Dodona. Vor allem Philipps Frau Olympias soll eine enge Beziehung zum Dodonäischen Orakel gepflegt haben. Nur kurz darauf kam Epirus unter die Kontrolle des makedonenfreundlichen Alexander I., eines Molossers. Höhepunkt dieser Molosserzeit war die Regentschaft von König Pyrrhos aus der Dynastie der Aiakiden, der wie die zeitgleichen hellenistischen Herrscher seine Macht durch ein intensives Bau- und Kultprogramm zu festigen versuchte. Davon profitierte Dodona, wo er eine rege Bautätigkeit einsetzte. Fast alle Bauten von Bedeutung gehen auf seine Initiative zurück. Hinzu kamen wertvolle Weihgeschenke an die heilige Stätte. Dies festigte Dodonas Stellung als kulturelles und politisches Zentrum von Epirus. Nach dem Sturz der herrschenden Aiakiden 232 v. Chr. wurde Epirus demokratisch regiert. 224/23 v. Chr. schlossen sich die Epiroten den Makedonen an, was zu Konflikten mit deren Gegnern führte. Besonders betroffen war davon auch Dodona, das 219 v. Chr. von den Aitolern unter der Führung ihres Feldherrn Dorimachos verwüstet wurde – dabei wurde die Säulenhalle in Brand gesetzt, viele Weihgeschenke vernichtet und auch das heilige Haus zerstört. Ein Jahr später rächte Philipp V. die Zerstörung des Ortes, indem er bei einem Feldzug Thermos zerstörte und die Beute zum Wiederaufbau des Heiligtums verwendete. Während der weiteren Auseinandersetzungen zwischen Makedonen, Aitolern und Römern versuchte sich Epirus neutral zu verhalten. Die römische Aufforderung, sie zu unterstützen, führte zum Bruch des Epirischen Bundes. Während die Molosser die Makedonen unterstützen, hielten die Thesproter und die Chaonier zu den Römern. Nachdem die Römer 168 v. Chr. endgültig über die Makedonen gesiegt und deren Verbündete bestraft hatten, wurde Dodona in Mitleidenschaft gezogen. Da als Folge der Auseinandersetzungen die Münzprägung in Epirus aussetzte, begann Dodona mit der Prägung eigener Münzen, um einen Engpass in der Münzversorgung der Pilgerscharen auszugleichen, doch wurden Münzen nur in einem Zeitraum von 20 Jahren bis ins Jahr 148 v. Chr. In diesem Jahr wurde Epirus Teil der römischen Provinz Macedonia. Während des Ersten Mithridatischen Krieges wurde der Ort 86 v. Chr. erneut – diesmal von den Thrakern – zerstört. Strabon berichtet um die Zeitenwende, dass das Heiligtum zu der Zeit fast gänzlich verschwunden war. Dennoch bestand das Orakel als solches weiter fort. So besuchte Hadrian die Stätte im Jahr 132 n. Chr., und Kaiser Julian befragte das Orakel noch im Jahr 362. Der christliche Kaiser Theodosius I. verbot jedoch im späten 4. Jahrhundert alle heidnischen Religionen, und in Dodona wurde die heilige Eiche 391 oder 392 gefällt. Die antike Orakelstätte wurde von den Christen für immer zerstört. Auch die neue Religion des Christentums erkannte die kultische Bedeutung dieses seit mehr als 1.000 Jahren bestehenden Kultortes – Dodona wurde Bischofssitz. Unklar ist, wann Dodona diese Stellung einbüßte und der Bischof nach Ioannina übersiedelte, dessen Aufenthalt dort seit spätestens 879 belegt ist. Anzunehmen ist jedoch, dass der Ort schon um 550 im Zuge der Slawenwanderung zerstört und aufgegeben wurde. Damit endete die Geschichte des Ortes. Die heutige Gemeinde Dodoni befindet sich in der Nähe des Heiligtums und hat 1.790 Einwohner (2001). Orakelwesen und Götterverehrung Nicht vollständig gesichert ist die Form der Weissagung im Heiligtum von Dodona und die Entwicklung des Orakelwesens. Vor allem in literarischen Quellen wird von der Interpretation des Rauschens der heiligen Eiche und des Fluges der heiligen Tauben berichtet. Diese Techniken verweisen alle in den Himmel, den Wirkungsbereich des Orakelinhabers Zeus. Dem stehen die Funde mehrerer tausend Orakeltäfelchen gegenüber, die in das 5. Jahrhundert v. Chr. und danach datiert werden. Ein Großteil dieser Tafeln sind noch unbearbeitet und unveröffentlicht – die bisher erkannte Formelhaftigkeit der Texte legt nahe, dass die Antworten durch ein Losverfahren gegeben wurden. Auch diese Orakeltechnik ist für Dodona in literarischen Quellen belegt. Die lange Tradition der Stätte wird selbst für spätere Griechen in den schwer erklärbaren archaischen Riten erkennbar. Männliche Priester, die schon bei Homer als (auch ) bekannt waren, wuschen sich beispielsweise nie die Füße und schliefen auf dem Boden, was vor allem in den kühlen Wintermonaten als außergewöhnlich angesehen werden muss. Sie waren für die eher einfachen Aufgaben zuständig und führten ein geregeltes Leben. Offenbar waren einzelne Selloi auf bestimmte Tätigkeiten spezialisiert. Flavius Philostratos beschreibt den Kultplatz in seinem Werk: Von der heiligen Eiche hängen Bänder, der ganze Ort liegt unter Opferrauch. Zu den Selloi schreibt er: Die Selloi waren offenbar zunächst für die Interpretation des Eichenrauschens sowie des Fluges und des Gurrens der Tauben zuständig, wobei vor allem die Grundlagen für die Interpretation des Rauschens der Eiche heute kaum mehr nachvollzogen werden können und schon den antiken Zeitgenossen Rätsel aufgaben. Im Laufe der Zeit, wenn auch relativ spät, bekam Zeus in seinem Heiligtum eine Gefährtin. Nicht etwa seine später kanonische Gemahlin Hera, sondern seine erste Frau Dione wurde orakelgebende Partnerin – war sie doch die Göttin der Weisheit, die sich Zeus einverleibt hatte. Damit hielten drei ältere Priesterinnen Einzug, die angeblich in einem Rauschzustand vor allem für die Interpretation des Taubenflugs zuständig waren. Sie waren nicht an die alten Riten der Selloi gebunden und verkörperten eher modernere Traditionen. Philostratos beschreibt sie folgendermaßen: Es gibt Meinungen in der Forschung, nach der der Dione-Kult sogar der ältere der dodonischen Kulte war. Sollte dies zutreffen, muss man jedoch von einer zeitweiligen Unterbrechung dieses Kultes ausgehen, da lange Zeit ein Kult neben dem des Zeus nicht nachweisbar ist. Die Selloi gelten als Repräsentanten einer vorzivilisatorischen Zeit. Die Priesterinnen hingegen verkörpern eine höhere Stufe der Zivilisation. Dazu passt auch die Ausübung der einfacheren Tätigkeiten durch die Priester, während die Priesterinnen komplexere Aufgaben, etwa beim Losorakel, bewerkstelligten. Das Losorakel scheint die beiden älteren Techniken seit dem 5. vorchristlichen Jahrhundert, spätestens aber bis zum 4. vorchristlichen Jahrhundert zunehmend verdrängt zu haben. Unter Aufsicht der Priesterinnen wurden auf Orakelanfragen kleine Lose in Form von Bleitäfelchen aus einem Topf gezogen, auf dem die Antworten des Orakels standen. Damit entwickelte sich Dodona von einem Zeichenorakel, bei dem der göttliche Wille interpretiert wurde, zu einem Wortorakel, bei dem nach modernem Verständnis Antworten zufällig gegeben wurden. Die Bedeutung des Orakels in der griechischen Welt spiegelt sich in den vielen gefundenen Votiven wider, die aus weiten Teilen der griechischen Welt – neben dem griechischen Mutterland vor allem aus Süditalien, aber auch aus Kleinasien – stammten. Nach einem Seesieg über die Spartaner stiftete beispielsweise die Stadt Athen ein Bronzebändchen mit einer Inschrift, das möglicherweise an einer wertvolleren Gabe befestigt war oder in die heilige Eiche gehängt wurde. Die Entwicklung zum Losorakel ging wohl sogar mit einer Verdrängung der männlichen Priester und ihrer vorgriechischen Riten durch die weiblichen Priesterschaft einher. Nicht selten widersprechen sich die literarischen Mitteilungen und die archäologischen Funde. So ist die durch schriftliche Quellen belegte Ekstase der Priesterinnen bei der Orakelverkündung schwerlich mit der praktisch belegten Orakelverkündung durch Lose vereinbar. Nur in Dodona wurde Zeus Naios verehrt. Der Beiname leitet sich offenbar von bzw. ‚fließen‘ ab. Demnach ist der dodonische Zeus der zum Wasser gehörige Zeus. Die Gleichsetzung mit einem vorzeitlichen bei Dodona verehrten Quell- und Wassergott ist allerdings zweifelhaft; eine heilige Quelle bei Dodona wird erstmals von Plinius dem Älteren erwähnt. Wahrscheinlicher erscheint eine Verbindung zu Zeus als Wettergott. So ist er als Regengottheit zu verstehen, war die Gegend um Dodona doch von blühender Landwirtschaft geprägt, die schon Hesiod und Pindar hervorheben. Zu seinen Ehren wurden wohl seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. alle vier Jahre Festspiele in Dodona, die so genannten Naia, veranstaltet, deren Hochzeit bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. ging. Zu diesen Festen gehörten wohl neben musischen Agonen auch Regenzauber. Im Laufe der Zeit entwickelte sich die Veranstaltung zu einem überregionalen Fest mit Gästen auch aus anderen Teilen Griechenlands. Nach der Errichtung des Stadions wurden neben dramatischen Agonen auch sportliche, darunter auch Pferdewettkämpfe abgehalten. Archäologischer Befund Erstmals wurde um 400 v. Chr. bei der Eiche ein kleines Bauwerk errichtet. In der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. wurde der Bereich der Eiche und des Hauses durch eine Mauer eingefasst. Bis zum Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. war ein kleines Temenos mit hohen Mauern und Säulenhallen an drei Innenseiten entstanden. Das heilige Haus war zu einem kleinen Tempel mit Cella und Vorhalle erweitert, der Eingangsbereich mit einem Propylon ausgestattet worden. Östlich des Eichenhains erhielt Dione einen kleinen Tempel, später auch Herakles. Westlich der Eiche entstanden kleine Tempel für Themis und Aphrodite. Während der Regentschaft des Pyrrhos wurde der Bau eines Bouleuterions, eines Stadions und ein Theaters begonnen und nach dem Tod des Regenten vollendet. Auf der Akropolis wurden eine Mauer und ein Turm errichtet, hier entstand ein Rückzugsort für unruhige Zeiten. Die Sakralarchitektur stand in der Tradition hellenistischer Architektur. Im Laufe der Zeit näherte sich die architektonische Ausstattung immer mehr denen anderer Kultplätze an, die schon früher mit Tempeln geschmückt worden waren. In Dodona wurden allerdings vergleichsweise fortschrittliche Bauformen verwendet, wodurch Dodona moderner als vergleichbare Heiligtümer wirkte. Problematisch für die Erforschung, vor allem für die Deutung vieler Bauten, ist zum einen der sehr schlechte Erhaltungszustand vieler Gebäude, zum anderen die sehr schlechte Publikationslage für nahezu alle Gebäude. Über die meisten Grabungskampagnen gibt es kaum mehr als vorläufige Grabungsberichte, Abschlussberichte fehlen bislang völlig. Viele Annahmen in der Forschung beruhen bislang auf den Vermutungen der Ausgräber, die jedoch nicht selten diskussionswürdig sind. Die Baugeschichte des Heiligtums wird in drei Phasen unterteilt. Die erste Phase dauert von den ersten Bauten in klassischer Zeit (um 400 v. Chr.) bis zur Zerstörung durch die Römer 219 v. Chr. Innerhalb dieser Phase sind die Datierungen nicht immer gesichert. Die sich anschließende zweite Phase endet 168 v. Chr. Alle weiteren Neu- und Umbauten stammen aus der dritten Bauphase in römischer und frühchristlicher Zeit. Sakralbauten Die in Dodona am frühesten belegte Sakralarchitektur stammt aus vergleichsweise später Zeit. Während bei anderen Orakeln und Heiligtümern schon seit der Epoche des geometrischen Stils (ca. 900 – 700/675 v. Chr.), verstärkt aber etwa ab 600 v. Chr., Holz- und Lehmbauten in Steingebäude umgebaut oder neue errichtet wurden, setzte diese Entwicklung in Dodona erst sehr spät ein. Dies ist verwunderlich, da man davon ausgehen kann, dass Dodona einer der ältesten bedeutenden Kultorte Griechenlands war. Möglicherweise hängt dieser Umstand mit der besonderen Verehrung des Zeus zusammen. Auch andernorts, etwa in Olympia, wurde der Göttervater noch im Freien an einem Altar verehrt, als andere Götter, etwa seine Gemahlin Hera, schon einen teilweise aus Stein errichteten Tempel besaßen. Der Bau erster Kultgebäude aus Stein scheint mit der historischen Entwicklung einhergegangen zu sein. Die eher archaischen Formen der Götterverehrung wandelten sich in dieser Zeit auch durch den Einfluss der kulturellen Entwicklung in Epirus. Eine Rückständigkeit des Kultes und des Kultplatzes lässt sich daraus offenbar nicht ableiten; man benötigte in den 200 Jahren zuvor keine Gebäude. Die Verehrung des Gottes in Form der Eiche schien den Ansprüchen ungewöhnlich lange zu genügen. Abweichend von gängigen Gepflogenheiten orientiert sich die gesamte Anlage nicht nach Osten, sondern nach Südosten, was durch landschaftliche Gegebenheiten bedingt gewesen sein mag. Zeustempel Die Anlage des Zeusheiligtums befindet sich im Mittelpunkt der anderen Kultbauten und ist somit als Mittelpunkt Dodonas zu erkennen. Eichen aus dieser Zeit der Verehrung im Hain stehen nicht mehr. In die erste Ausbauphase des Heiligtums fallen drei der bislang erkannten Bauphasen des Zeusheiligtums. Der älteste Bau war ein Naïskos von 6,40 × 4,10 m. Heute existiert davon nur die unterste Schicht des Fundaments aus rechteckigen Quadersteinen, von der die Ostseite noch gut zu erkennen ist. Da sich keine Reste des (hölzernen?) Architravs erhalten haben, ist es unklar, ob es ein Tempel ionischer oder dorischer Ordnung war. Auch eine Kultbildbank wurde nicht gefunden. Der in die Zeit zwischen dem Ende des 5. und ersten Viertel des 4. Jahrhunderts v. Chr. datierte Bau sollte nicht der Wohnort des Gottes sein, sondern diente allein zur Aufnahme der Weihgeschenke. Die zweite Bauphase ist durch eine Erweiterung der Anlage gekennzeichnet. Hierbei wurde der Naïskos selbst nicht erweitert, sondern vielmehr mit Mauern ein großer viereckiger Bereich eingefasst, der die Heilige Eiche und den Eingangsbereich des Naïskos umschloss. Im Süden befand sich der Eingang. Der Bereich hatte eine Nordost-Südwest-Ausdehnung von 13,72 Metern. Die Umfassungsmauern wurden aus Kalksteinquadern errichtet, die Höhe variiert von 1,08 Metern an der nordöstlichen bis zu 1,50 m an der südwestlichen Seite des Eingangs. Der Höhenunterschied ist dem nach Westen hin abfallenden Gelände geschuldet. Deshalb schließt sich die Mauer im Westen fast direkt an den Eingangsbereich des Tempels an, dehnt sich aber nach Osten viel weiter aus. Der auf die Eiche orientierte Eingang des Kultbereiches liegt nicht in einer Flucht mit dem Eingang des Tempels. Diese Erweiterung wird etwa in die Zeit zwischen 350 und 330 v. Chr. datiert. In der dritten Bauphase wurde die schlichte Temenosmauer durch einen größeren, 19,20 × 20,80 m umschließenden Peribolos ersetzt. Drei Innenseiten des Peribolos erhielten Säulenhallen, nur die von der Eiche eingenommene Nordostseite erhielt keinen Säulengang. Der Naïskos blieb gegenüber der ersten Phase unverändert. Die Rückseite des Tempels bildete nun allerdings einen Teil der Umfassungsmauer. Durch diese Verschiebung der Nordmauer wurde das Zeusheiligtum vergrößert. Die Süd- und Westseite wurden neu errichtet, die Ostseite wurde hingegen auf dem Fundament der alten Mauer aufgebaut. Etwas östlich der Südseite befand sich ein fünf Meter breiter Eingangsbereich. Die Säulen der Innenhalle waren aus dunklem Sandstein in ionischer Ordnung gefertigt. Diese dritte Bauphase wird am Übergang des vierten zum dritten Jahrhunderts v. Chr. angesetzt. Die vierte Bauphase des Zeustempels stammt aus der zweiten Ausbauphase Dodonas. Eine konzeptionelle Neuordnung des Heiligtums fand nicht statt. Der Umfang der Anlage blieb bestehen. Der Eingang wurde durch ein prostyles, 4 × 2 Säulen umfassendes Propylon besonders hervorgehoben. Die Säulenhallen im Inneren blieben in alter Größe erhalten. Der Naïskos hingegen wurde durch einen größeren Prostylos mit 4 × 2 Säulen großer Vorhalle ersetzt. Der Bau aus großen rechteckigen Steinen misst 14,40 × 7,10 m. Der Bau ist in Pronaos (2,50 × 4,60 m), Cella (5,00 × 4,60 m) und Adyton dreigeteilt. Die Verbreiterung des Tempels ging zu Lasten der nordöstlichen Säulenhalle, die um eine Säulenstellung gekürzt wurde. Damit stand der neue Tempel in der Mitte der Nordseite. Als Folge lagen der breitere Tempel und der Eingangsbereich nun in einer Flucht. Die mit der Verbreiterung des Tempels einhergehende Verlängerung führte dazu, dass er im Norden um vier Meter über die Umfassungsmauer hinausragte. Der Neubau nach den Zerstörungen von 219 v. Chr. wird ins Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr., wahrscheinlich in die Zeit zwischen 219 und 210 v. Chr. datiert. Der Anlage waren im Süden neun Sockelbasen aus verschiedenen architektonischen Perioden vorgelagert. Sie waren zur Aufstellung von Weihgeschenken gedacht. Dionetempel Der Dionetempel wurde 1958 freigelegt. Es ist nur noch der Unterbau aus Kalkstein erhalten. Der Grundriss des Prostylos – 9,82 m in der Nord-Süd- und 9,35 m in der Ost-West-Ausdehnung – ist fast quadratisch. Eine quer verlaufende Mauer unterteilt den kleinen Tempel in zwei Bereiche, den vorgelagerten Pronaos und die eigentliche Cella. Sie waren durch eine sich nach innen öffnende Tür verbunden. Es wurden nur wenige Reste der architektonischen Bauglieder gefunden. Bei den erhaltenen Säulenresten aus Sandstein handelt es sich um Säulen der ionischen Ordnung. Eine gefundene Lehmschicht wurde als Rest einer Lehmziegelmauer interpretiert, die offenbar zur Kostenersparnis für den Aufbau der Wände verwendet wurden. Da Sandsteinsäulen nicht beim Wiederaufbau nach 219 v. Chr. verwendet wurden, muss die erste Bauphase des Gebäudes vor dieses Jahr datiert werden. Wenn es sich hier um den Dionetempel handelt, ist eine Datierung in die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. wahrscheinlich, da Hypereides einen Tempel und ein Kultbild der Dione in Dodona erwähnt. Fundamentreste im westlichen Raum, der Cella, könnte man somit als Standort des Kultbildes interpretieren. Nach der Zerstörung wurde der alte Tempel nicht erneuert, sondern durch einen weiter südwestlich gelegenen Neubau ersetzt, der 1935 entdeckt und 1954 ausgegraben wurde. Er hat eine Grundfläche von 9,60 × 6,35 n. Der Tempel wurde durch eine Quermauer in Pronaos und Cella unterteilt. Die Zuweisung an Dione ist in beiden Fällen unsicher. Durch gefundene Fibeln, die hier als Opfergaben gebracht wurden, ist zumindest die Zuschreibung an eine weibliche Göttin beim ersten Tempel sehr wahrscheinlich. Schon Herodot berichtete von der Sitte, weiblichen Gottheiten Fibeln zu opfern. Themistempel Das Gebäude wurde in den 1930er-Jahren ausgegraben. Erhalten sind das Fundament aus großen Platten sowie Teile der Euthynterie. Der ionische Prostylos war etwa 10,30 × 6,25 n groß und wurde durch eine quer verlaufende Mauer in Pronaos und Cella geteilt. Parallel zur Vorderfront des Naïskos haben sich Spuren erhalten, die als ein von Orthostaten umgebener Altar interpretiert werden. Die Datierung des Komplexes ist schwierig, aufgrund der Verwendung von Sandstein ist die Datierung des Baus jedoch vor 219 v. Chr. anzusetzen. Der Tempel wurde zunächst für den Tempel der Aphrodite gehalten, doch 1967 von Dakaris aufgrund einer gefundenen Orakelinschrift revidiert. Möglicherweise lässt diese Inschrift auf eine göttlich verehrte Trias aus Zeus, Dione und Themis schließen. Dann müssten die Tempel der Göttinnen den Tempel des Zeus flankieren. Diese Deutung ist jedoch umstritten. Die Entwicklung des Tempels in der zweiten Architekturphase ist ebenso unsicher wie die Zuweisung. Aphroditetempel Das Gebäude wurde 1955 entdeckt und 1967 ein zweites Mal untersucht. Nur die Grundmauern des Tempels sind erhalten. Der Unterbau besteht aus relativ kleinen Steinen und wurde vergleichsweise nachlässig errichtet. Das 8,50 × 4,70 n große Gebäude ist durch eine Quermauer geteilt. Aufgrund einiger Architekturreste ist dieser Tempel wahrscheinlich als Naïskos in Form eines Antentempels anzusehen, der in dorischer Form errichtet wurde. Säulenfragmente aus Kalkstein und Kapitellfragmente aus Sandstein helfen bei der Datierung in den Zeitraum zwischen Ende des 4. und Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr. Die Zuordnung des Gebäudes zu Aphrodite erfolgte 1967, als der bis dahin als Aphroditetempel angesehene Themistempel uminterpretiert wurde. Beweis für die Zuschreibung an Aphrodite sollen einige Kleinfunde aus der unmittelbaren Umgebung des Tempels sein – weibliche Tonfragmente mit vor die Brust gehaltenen Tauben, einem Aphroditeattribut. Allerdings sind solche Opfergaben auch im Zusammenhang mit anderen Göttern, etwa Hera und Athene, bekannt. Da die Göttin in Epirus sehr beliebt und zudem eine Tochter der Dione war, ist die Annahme eines Aphroditetempels vertretbar, doch ist die Zuschreibung auch dieses Tempels letztlich unklar. Der Zustand des Tempels nach den Zerstörungen von 219 v. Chr. ist nicht untersucht. Nordöstlich des Baus wurde ein weiteres Gebäude aus römischer Zeit gefunden, dessen Bedeutung unklar ist. Heraklestempel Das erstmals 1921 ausgegrabene Gebäude wurde erneut 1929 und nochmals 1955 untersucht. Schon früh wurde der 9,55 m breite, 12,60 m lange und nach Südosten orientierte Naïskos als dorischer Prostylos erkannt, doch zunächst als Schatzhaus gedeutet. Vor dem Eingangsbereich befand sich eine terrassenartige Pflasterung aus drei Reihen von Kalksteinen. Direkt östlich des Pronaos fand sich ein steinernes Fundament, vermutlich eines Altars. Jedoch ist bereits die Annahme eines Herakleskultes für Dodona umstritten. Die Zuschreibung des Tempels erfolgte auf Grund einer am Tempel gefundenen Metope aus Kalkstein, die den Kampf des Herakles mit der Hydra zeigt. Anhand der Metope ist der Tempel in das 3. Jahrhundert v. Chr. zu datieren. Wenn es sich um einen Heraklestempel handelt, könnte man von einer genaueren Datierung in die Zeit zwischen 297 und 272 v. Chr. ausgehen, da sich die Aiakiden als Nachfahren des Herakles sahen. Allerdings ist die Zuschreibung auf Grund der Metope sehr ungewiss, eine Darstellung der Taten des Herakles konnte auch an anderen Tempeln erfolgen, wie das Beispiel des Zeustempels in Olympia zeigt. Sollte es sich hier um einen Heraklestempel handeln, so erfolgte die Verehrung an dieser Stelle allein aus politischen, nicht aus althergebrachten religiösen Motiven und diente allein der Machtdemonstration der Aiakiden. Für den Tempel sind Reparaturen an der inneren Quermauer für die Zeit nach der Zerstörung von 219 v. Chr. nachweisbar. Christliche Basilika Der Tempel wurde im nördlichen Bereich teilweise von der christlichen Kirche überbaut. Sie stammt wohl aus der Zeit, in der Dodona kurzzeitig Bischofssitz war. Bei der Errichtung wurden nördliche Teile des Heraklestempels und ein kleiner Teil des älteren Dionetempels einbezogen. Die Basilika wurde schon während der ersten Grabungen freigelegt, da hier der Zeustempel vermutet wurde. Diese Zuschreibung auf Grund diverser gefundener Artefakte und Inschriften war jedoch nicht haltbar. Profanbauten Bei den Profanbauten war Dodona im Vergleich zu anderen Heiligtümern ebenfalls Nachzügler, begann ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. jedoch schnell aufzuholen, und im Laufe der Zeit wurde ein Großteil der in einem Heiligtum üblicherweise anzutreffenden Gebäude errichtet. So gab es ein Bouleuterion, ein Theater, ein Stadion und ein Prytaneion. Auch die Profanbauten orientierten sich an den gängigen Architekturformen des Hellenismus. Vor allem auf das Theater, das eines der größten im griechischen Mutterland war, wurde besonderes Augenmerk gelegt. Im Vergleich zu den eher kleinen Sakralbauten sind die Profanbauten, vor allem Bouleuterion, Prytaneion und Theater, ungewöhnlich groß. Priesterhaus Zwischen dem Theater und einem hinsichtlich seiner Funktion nicht zu bestimmenden Gebäude befindet sich ein Haus, das zunächst als Wohngebäude für die Priester gedeutet wurde. Der rechteckige Bau hat eine Ausdehnung von 17,30 × 10,70 m. Die Mauern wurden aus aufgeschichteten, kleinen plattenartigen Steinen und aus Lehmziegeln errichtet. Im Inneren des Hauses fanden Archäologen einen Herd mit Asche und Keramikscherben, aufgrund derer das Haus in das 4. Jahrhundert v. Chr. datiert wurde, womit es eines der ältesten Gebäude Dodonas ist. Der im Zentrum befindliche Herd spricht für eine typologische Verbindung zu Hausformen aus geometrischer Zeit. Die erste Deutung des Hauses als Prytaneion, als Wohngebäude der Priesterschaft und der molossischen Beamten, war nach dem Fund des eigentlichen Prytaneions nicht mehr haltbar. Möglicherweise diente das Gebäude auch als Gästehaus für hochrangige Besucher. In einer zweiten Bauphase in pyrrhischer Zeit wurden die West- und Südseite mit großen Quadersteinen verkleidet, um eine bessere Wirkung in der Verbindung mit dem Theater zu erreichen. Nach der Zerstörung Dodonas durch die Aitoler wurde das Gebäude aufgegeben. Bouleuterion Das Bouleuterion wurde schon bei Ausgrabungen im 19. Jahrhundert entdeckt, jedoch noch nicht als Ratsgebäude erkannt. Erst 1965 begannen die eigentlichen Ausgrabungen, die Aufschluss in Bezug auf die Bedeutung und die Datierung brachten. Der große rechteckige Bau mit einer Nord-Süd-Ausdehnung von 43,60 m ist an der Südseite 32,50 m breit, an der Nordseite 31,60 m. Das Gebäude wurde an einem Hang errichtet – nach Norden hin gibt es einen Höhenunterschied von acht Metern. Dem Hauptgebäude war an der Südseite eine an den Seiten offene Stoa im dorischen Stil vorgelagert. Es war vom Süden her durch zwei Türen zu betreten. An den Innenseiten der Nord- und der Südmauer, sowie an den Außenseiten der beiden anderen Mauern, wurden Stützpfeiler errichtet. Im nördlichen Teil des Baus finden sich zwei Reihen mit je drei Säulen im Innenraum. Da stützende Säulen im Süden fehlen, ist unklar, ob nur der nördliche Teil des Gebäudes überdacht war. In der Forschung ist außerdem umstritten, ob die etwa 20 Meter breite Fläche mit einer frei tragenden Decke überspannt gewesen sein könnte. Nach der Zerstörung 219 v. Chr. wurde das Gebäude mit unverändertem Grundriss wieder errichtet. Die Sandsteinsäulen wurden jedoch durch Konglomeratsäulen ersetzt und die Sandsteinkapitelle durch Kapitelle aus Kalkstein. Im südlichen Teil wurden zwei weitere Säulen als Dachstütze errichtet. Eine erhaltene Basis sowie das zugehörige Kapitell belegen, dass der Aufbau der ionischen Ordnung folgt. Möglicherweise besaß das Gebäude steinerne Sitzreihen. Die Datierung der ersten Bauphase in den Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. erfolgte anhand epigraphischer Funde – vor allem Münzen und Kleinfunde – sowie der Verwendung von Baumaterialien aus Sandstein. Die Deutung des Gebäudes ist aufgrund epigraphischer Funde politischen Inhalts umstritten, die sich an Sockeln befanden, welche vor der Westseite des Gebäudes aufgestellt waren. Im Inneren des Gebäudes befand sich zudem ein Altar aus der Zeit um 200 v. Chr., der unter anderem dem Zeus Boulaios (dem ratgebenden Zeus) geweiht war. Es ist anzunehmen, dass das Gebäude als zentrales Versammlungsgebäude in Epirus Verwendung fand. Dafür sprechen auch gefundene Stimmsteine aus Ton, die politische Aktivitäten erkennbar machen. Prytaneion Das Prytaneion war das Wohnhaus der Priester von Dodona und der epirotischen Beamtenschaft. Erste Grabungen gab es hier schon im 19. Jahrhundert, aufgrund derer das Gebäude als Prytaneion erkannt wurde. In den 1980er Jahren erfolgten intensive Ausgrabungen, die noch bis heute andauern. Schon Jahre vor der Entdeckung des Gebäudes wurde eine Inschrift gefunden, in der angefragt wurde, ob die Bediensteten des Zeus Naios und der Dione von einem bestimmten Geldbetrag ein Prytaneion errichten dürfen. Da eine Ortsangabe bei der Anfrage fehlt und Zeus Naios genannt wurde, kann die Errichtung eines solchen Gebäudes als gesichert gelten. Kleinfunde, die für eine Archivfunktion des Gebäudes sprechen – als Archiv zu dienen war eine der Funktionen eines solchen Gebäudes –, untermauern die Annahme. Der Bau wird etwa auf dieselbe Zeit wie die des Bouleuterions datiert. Im westlichen Teil des Gebäudes befindet sich ein 12 × 12 m großer Raum, in dem Fundamente von sieben steinernen Sitzreihen gefunden wurden. Über einen Durchgang war östlich ein 17,10 × 12,50 m großes Peristyl dorischen Stils zu erreichen. Hier fand sich ein Altar aus römischer Zeit. Nach den Zerstörungen 219 v. Chr. behielt das Gebäude seinen Grundriss. Im Norden des Gebäudes kam ein Anbau mit fünf weiteren, kleineren, Räumen hinzu. Dieser Anbau war 33,30 × 7,70 m groß. Drei der Räume hatten identische Abmessungen von 5,20 × 5,50 m. Sie waren zunächst als Schlafräume mit jeweils neun Klinen konzipiert. Vor dem Neubau wurde eine Stoa errichtet. Zum Neubau und zur Erweiterung wurde viel Material wieder verwendet, das von vor der Zerstörung stammte. Theater Mit einem Fassungsvermögen von etwa 18.000 Zuschauern war das Theater Dodonas eines der größten des griechischen Mutterlandes. Der Bau wurde in einer Mulde am westlichen Ende des Talhanges errichtet. In den 1950er Jahren fanden umfangreiche Ausgrabungen statt, Orchestra und Skenengebäude wurden komplett frei gelegt. Die erste Bauphase wird auf den Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. datiert. Das Koilon mit seinen Sitzreihen hat einen maximalen Durchmesser von 129 Metern. Es gab 56 oder 57 Sitzreihen in drei Rängen. Der untere Rang bestand aus 21 Sitzreihen, der mittlere aus 16 und der obere, weniger gut erhaltene, aus 19 oder 20 Sitzreihen. Durch zehn sternförmig angelegte Erschließungstreppen werden der untere und der mittlere Rang in je neun Keile unterteilt. Zum oberen Rang führen 19 Treppen, die ihn in 18 Keile teilen. Die Orchestra hat einen Durchmesser von 18,70 m, die Skene ist 31,30 × 9,10 m groß. Von den Zerstörungen durch die Aitoler war vor allem die Skene betroffen, so dass sie beim Wiederaufbau umgebaut bzw. ergänzt wurde. In augusteischer Zeit wurde das Theater zu einer Arena umgewandelt. Peribolosmauer Von der Mauer, die das Heiligtum umgab und es von der Akropolis trennte, ist heute nur noch ein Teil im Osten sichtbar. Der Verlauf kann nur ungefähr rekonstruiert werden. Von der Süd-Ost-Ecke der Akropolis kommend verlief sie in südlicher Richtung. Nach etwa 65 Metern wird sie vom Osttor unterbrochen. Nach etwa 180 weiteren Metern wendet sie sich nach Westen, wo sie auf das Eingangstor trifft. Der südliche Teil der Mauer wurde bis heute nicht untersucht. Sie wurde in zwei Phasen errichtet. Die erste Phase wird ins späte 4. Jahrhundert, die zweite Phase, in der die Mauer weiter nach Osten verschoben wurde, in die Zeit des Pyrrhos datiert. Akropolis Der Akropolisbezirk war von einer Mauer umgeben, die heute noch zum Teil bis in drei Meter Höhe erhalten ist. Die Mauer hat etwa eine Länge von 750 Metern und eine Breite von 3,60 Metern. Zu ihr gehörten drei Tore und elf Türme. Die Akropolis umfasst etwa 3,5 Hektar. Sie wurde zweischalig aus großen Kalksteinquadern errichtet, der Innenraum mit Bruchsteinen verfüllt. Die Mauer entstand entweder während der ersten Bauphase der Peribolosmauer oder schon etwas früher. Im Bereich der Akropolis fanden bis heute keine richtigen Ausgrabungen statt. Bei früheren Untersuchungen sollen Fundamente mehrerer Gebäude und eine Zisterne gefunden worden sein. Stadion Wie anderenorts, etwa in Olympia, Delphi, Nemea oder Epidauros, war mit dem Heiligtum von Dodona ein Stadion verbunden, hier aber in unmittelbarer Nähe zum Theater. An der künstlich aufgeschütteten Stützmauer des Theaters wurden 21 oder 22 steinerne Sitzreihen angelegt. Das Stadion wird auf das Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. datiert und wurde somit erst nach der Zerstörung von 219 v. Chr. errichtet. Diese Datierung passt zur Bedeutung der Naia-Festspiele, die zu dieser Zeit ihren Höhepunkt erreichten. Kleinfunde Vor allem für die vorarchitektonische Zeit Dodonas sind Kleinfunde in Form von Votivgaben, Orakeltäfelchen und anderen Gegenständen von besonderer Bedeutung. Diese Funde, meist aus dem Zeitraum zwischen dem 8. und dem 4. Jahrhundert v. Chr., bestehen vor allem aus bronzenen Dreifüßen und Teilen von Dreifüßen wie Greifenprotomen, die jedoch im Allgemeinen nur noch fragmentarisch erhalten sind, kleinen Bronzestatuetten von Zeus und anderen Gottheiten, kleinen Votivgaben wie Tierfiguren, Kessel- und Kraterfiguren, Kannen, Votivteller, Schutzwaffen sowie Accessoires zur Schönheitspflege. Als einzelnes Artefakt von besonderer Bedeutung ist das so genannte „dodonäische Erzgefäß“, zu dem Informationen im Lexikon des byzantinischen Gelehrten Stephanos von Byzanz überliefert wurden. Er schildert auf der Grundlage antiker Autoren zwei unterschiedliche Überlieferungen zu diesem Gefäß, das vor allem wegen seines lang anhaltenden Klanges berühmt war. Vor allem Funde aus den ersten Grabungen finden sich in mehreren großen musealen Sammlungen, so in der Antikensammlung Berlin, dem Pariser Louvre und dem British Museum in London. Der Großteil der Funde befindet sich heute jedoch im Museum von Ioannina und im sogenannten Karapanos-Saal im Athener Nationalmuseum. Erforschung und Rezeption Schon aus antiken literarischen Quellen sind fast 100 Belegstellen zu Dodona überliefert. Die Identifizierung Dodonas war ein vorrangiges Probleme der Altertumswissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Als erster konnte Christopher Lincoln es am 12. September 1832 korrekt identifizieren. Erst in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bewiesen Inschriftenfunde die Zuschreibung Dodonas und tilgten Zweifel an der Entdeckung von Lincoln. Zu Problemen trug nicht zuletzt die eingangs erwähnte Diskussion um ein zweites, thessalisches Dodona bei. In der neueren Forschung geht man allerdings davon aus, dass ein zweites Dodona eher unwahrscheinlich ist. Pionier der Dodonaforschung waren der Politiker und Bankier Konstantinos Karapanos sowie der polnische Ingenieur Zygmunt Mineyko, die ab 1875 in Dodona gruben. Drei Jahre später veröffentlichte Karapanos in einem zweibändigen Werk Dodone et ses ruines in Paris die Ergebnisse, verschwieg dabei aber Mineykos Anteil am Ergebnis. Die Funde dieser Ausgrabungen werden heute in verschiedenen Museen der Welt aufbewahrt, darunter auch über 200 Stücke aus Mineykos Privatsammlung in Berlin, wobei Münzen und Orakeltäfelchen noch nicht mitgerechnet sind, sowie weitere Bestände in Paris, Wien, London, Oxford, Boston und St. Petersburg vorhanden sind. Karapanos’ Grabungsmethoden entsprachen denen der damaligen Zeit – somit fehlen beispielsweise Stratigraphien und es wurde nicht versucht, Gesamtzusammenhänge herzustellen. Ebenso sind die damaligen Gebäudezuweisungen heute als veraltet anzusehen. Schon kurz nach den Ausgrabungen wurden die Mauern wieder durch Ablagerungen des Tomarosgebirges verschüttet, um 1900 waren kaum noch architektonische Reste auffindbar. Erst 1920 wurden durch Georgios Soteriades neue Untersuchungen durchgeführt, die jedoch vom türkisch-griechischen Krieg wieder unterbrochen wurden. 1929 bis 1959 war Demetrios Evangelides Leiter mehrerer Grabungskampagnen. Evangelides erkannte die wichtigsten Strukturen der Ansiedlung und ordnete die früheren Ergebnisse auf der Grundlage seiner Erkenntnisse neu. Einen zusammenfassenden Überblick und eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gefundenen bot jedoch auch er nicht. Besonders ausführlich wurden die Untersuchungen, als 1960 der vorherige Assistent von Evangelis, Sotiris Dakaris, Leiter der Ausgrabungen wurde. Er veröffentlichte regelmäßig Grabungsergebnisse und unternahm es, historische Zusammenhänge zu ergründen und die archäologischen und schriftlichen Erkenntnisse in Einklang zu bringen. Zudem versuchte er die Ergebnisse aus Dodona mit anderen Erkenntnissen, die in Epirus gewonnen wurden, zu verbinden. Dennoch beruhten viele seiner Aussagen auf Spekulationen, zudem änderte sich seine Sicht auf Einzelprobleme zum Teil aus nicht immer nachvollziehbaren Gründen mehrfach. Viele seiner Behauptungen sind auch deshalb nicht nachvollziehbar, weil die den Erkenntnissen zu Grunde liegenden Artefakte nicht oder nur unzureichend publiziert wurden. Bis zu seinem Tod 1996 führte er in unregelmäßigen Abständen Grabungskampagnen durch. Seit 1996 sind Konstantina Gravani-Latsiki, Chriseis Tzouvara-Souli und Amalia Vlachopoulou-Oikonomou Leiterinnen der Ausgrabungen, über die nun regelmäßig publiziert wird. Obwohl sich die Publikationslage seit den 1960er Jahren gebessert hat, krankt die Forschung zu Dodona bis heute an mangelnden Bezügen auf die Erkenntnisse der archäologischen Ausgrabungen, zumal bei den Kleinfunden, sowie auf die Inschriften- und Orakeltexte. Eine Forschungsreihe wie zu anderen Ausgrabungsstätten, in denen umfassende Berichte veröffentlicht und alte Ausgrabungsergebnisse aufgearbeitet wurden, fehlt für Dodona bis heute. Literatur Herbert W. Parke: The Oracles of Zeus. Dodona, Olympia, Ammon. Blackwell, Oxford 1967 (Sammlung der Orakelinschriften). Werner Ekschmitt: Antike Orakelstätten I: Das Orakel von Dodona. In: Antike Welt. Band 29, 1998, S. 13–18. Heinz-Günther Nesselrath: Dodona, Siwa und Herodot – ein Testfall für den Vater der Geschichte. In: Museum Helveticum. Band 56, 1999, S. 1–14 . Veit Rosenberger: Griechische Orakel. Eine Kulturgeschichte. Theiss, Stuttgart 2001, ISBN 3-8062-1562-6. Éric Lhôte: Les lamelles oraculaires de Dodone / Éric Lhôte. Droz, Genf 2006, ISBN 978-2-600-01077-1. Martina Dieterle: Dodona. Religionsgeschichtliche und historische Untersuchungen zur Entstehung und Entwicklung des Zeus-Heiligtums (= Spudasmata. Band 116). Olms, Hildesheim 2007, ISBN 978-3-487-13510-6 (Onlineversion der Dissertation). Tomoko Elisabeth Emmerling: Studien zu Datierung, Gestalt und Funktion der ‚Kultbauten‘ im Zeus-Heiligtum von Dodona. Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2012. ISBN 978-3-8300-6310-0. Diego Chapinal-Geras: Experiencing Dodona. The Development of the Epirote Sanctuary from Archaic to Hellenistic Times. De Gruyter, Berlin 2021, ISBN 978-3-11-072751-7. Weblinks Einzelnachweise Griechische Orakelstätte Archäologischer Fundplatz in Griechenland Archäologischer Fundplatz in Europa Kultort des Zeus Kultort des Herakles Dodoni Ort als Namensgeber für einen Asteroiden
3422343
https://de.wikipedia.org/wiki/Philadelphia%2030th%20Street%20Station
Philadelphia 30th Street Station
Philadelphia 30th Street Station (), eigentlich William H. Gray III 30th Street Station, ist der Zentralbahnhof von Philadelphia im US-Bundesstaat Pennsylvania. Der Personen- und Betriebsbahnhof im Westen der Stadt gehört zum Nordost-Korridor und zählt zu den wichtigen Netzknoten im Personennah- und -fernverkehr an der Ostküste der USA. Sein Empfangsgebäude im Stil des Neoklassizismus gilt als einer der letzten prestigeträchtigen Bahnhofsbauten einer privaten Eisenbahngesellschaft in den Vereinigten Staaten. Der Bahnhof wurde 1929 und 1933 in zwei Etappen eröffnet und war über mehrere Jahrzehnte hinweg der zentrale Knotenbahnhof der Pennsylvania Railroad (PRR) in der Region. Seit Stilllegung der innerstädtischen Zentralbahnhöfe ihrer einstigen Konkurrenten wie der Baltimore and Ohio Railroad Passenger Station fungiert 30th Street als alleinige Drehscheibe für den Eisenbahn-Fernverkehr in Philadelphia. Derzeit (2009) bedienen die Amtrak, die Southeastern Pennsylvania Transportation Authority (SEPTA) und die New Jersey Transit den Bahnhof im Schienenverkehr. Eigentümerin ist die Amtrak. Namensgebung Mehrere verschiedene Namen sind für den Bahnhof in Gebrauch. Dies liegt zum einen an der Vielzahl zeitlich vorangehender Bahnstationen an jenem Ort, zum anderen an mehreren Eigentümerwechseln im Laufe der Jahrzehnte. Außerdem nutzen die am Bahnhof verkehrenden Gesellschaften unterschiedliche Namen. Bei der Amtrak heißt der Bahnhof Philadelphia oder auch Philadelphia – 30th Street Station; auf den Stationsschildern steht Philadelphia. Auch New Jersey Transit benutzt diesen Namen. Die SEPTA nennt ihn – wie auch die örtliche Bevölkerung – 30th Street Station, wie auf den Schildern der zugehörigen Bahnsteige zu lesen ist. In historischem Kontext ist der Bahnhof noch unter folgenden Namen bekannt: West Philadelphia Station Pennsylvania Railroad Station Pennsylvania Station 30th Street Penn Central Station Penn Central 30th Street Station Lage und Verkehrsanbindung Die 30th Street Station liegt etwa 1,5 Kilometer westlich des Stadtzentrums (City Hall) am Westufer des Schuylkill zwischen dem Schuylkill Expressway und der 32nd Street. Die Bahnanlagen erstrecken sich dabei zwischen der Spring Garden Street im Norden und der Chestnut Street im Süden auf eine Länge von etwa 1,2 Kilometern in Nord-Süd-Richtung sowie auf etwa 600 Metern in der Breite. Das Empfangsgebäude mit den Personenbahnsteigen befindet sich in der südöstlichen Ecke des Areals unmittelbar nördlich der Market Street. Es besitzt zwei Bahnsteigebenen, die sich in rechtem Winkel kreuzen. Die Gleise der unteren Ebene verlaufen in Nord-Süd-Richtung. Sie liegen im Bereich des Empfangsgebäudes unter Straßenniveau und führen unter besagtem Gebäude hindurch. Die obere Ebene verläuft unmittelbar nördlich des Empfangsgebäudes in West-Ost-Richtung und liegt über Straßenniveau, so dass insgesamt drei Verkehrsebenen entstehen. Das südliche Gleisfeld der unteren Ebene ist größtenteils eingehaust und überbaut. Die Gleisanlagen sind nahezu vollständig mittels Oberleitung elektrifiziert. Schiene Die untere Ebene gehört zum Northeast Corridor. Seine Gleise führen in nördlicher Richtung nach New York City und in südlicher Richtung nach Washington D. C. Über die nördliche Ausfahrt gelangt man außerdem auf die Philadelphia to Harrisburg Main Line nach Harrisburg sowie zur Delair Bridge, die am Nordrand der Stadt über den Delaware hinüber nach Camden führt. Darüber hinaus sind in beiden Richtungen noch einige Nebenstrecken zu erreichen. Die östliche Ausfahrt der oberen Ebene führt unmittelbar auf eine Brücke über den Schuylkill und weiter Richtung Center City Commuter Connection, der unterirdischen Stammstrecke der Regionalbahnen der SEPTA durch die Innenstadt. Auf der anderen Seite gabelt sich die Ausfahrt unmittelbar westlich des Empfangsgebäudes in zwei halbdirekte Verbindungskurven. Diese führen in entgegengesetzte Richtungen zum Northeast Corridor hinunter. Die südliche Rampe verläuft dabei in einem Tunnel unterhalb der 32nd Street. In Höhe der 31st Street überspannt die West Philadelphia Elevated die Gleisanlagen in Süd-Nord-Richtung. Das Eisenbahnviadukt mit 8140 Fuß (2481 Metern) Länge und geschätzten zehn Metern Höhe führt von der Nord- zur Südausfahrt des Bahnhofs. Es verbindet dabei einige „einmündende“ Güterbahnen miteinander, besitzt aber seit einigen Jahren keine Gleisverbindungen zum Northeast Corridor mehr. Straße Der Bahnhof liegt an der Kreuzung zweier wichtiger innerstädtischer Verkehrsachsen, des Schuylkill Expressway alias Interstate 76 mit der Market Street, die hier die Pennsylvania State Route 3 bildet. Die Autobahn verläuft dabei auf der unteren Ebene in Nord-Süd-Richtung und östlich parallel zu den Gleisen direkt am Schuylkill entlang. Sie ist im Bereich des Empfangsgebäudes mit einer Galerie eingehaust und mit einer Uferstraße überbaut. An den Enden der Einhausung befinden sich Ausfahrten in Form von Parallelrampen, die von der Autobahn auf die Straßenebene hinaufführen. Die Market Street verläuft südlich des Empfangsgebäudes in Ost-West-Richtung und überquert in ihrem Verlauf den Schuylkill auf einer Brücke. Zwischen dieser Brücke und der Eisenbahnbrücke der oberen Gleisebene auf der Nordseite gibt es noch eine dritte Brücke. Sie gehört zum John F. Kennedy Boulevard und ist auf die Symmetrieachse des Empfangsgebäudes ausgerichtet. Das Empfangsgebäude wird von der Arch Street im Norden, der 30th Street im Westen, der Market Street im Süden und der Uferstraße oberhalb der Autobahn, der Schuylkill Avenue, umrahmt. Die Straßen um das Gebäude herum sind mit Ausnahme der Market Street als Einbahnstraßen eingerichtet, so dass ein Kreisverkehr im Gegenuhrzeigersinn entsteht. Nördlich des Empfangsgebäudes befindet sich ein großes Parkhaus der Amtrak. Daneben existieren eine Parkgarage mit Bedienung (valet parking) im Empfangsgebäude selbst sowie eine Reihe weiterer Parkplätze direkt am Gebäude entlang jener Einbahnstraßen. Der Taxistand befindet sich auf der Ostseite. Innerstädtischer Nahverkehr Bahn Der Bahnhof ist über die Station 30th Street der Market–Frankford Line und der Subway–Surface Lines an das innerstädtische Schnellbahnnetz angeschlossen. Die Station befindet sich südwestlich des Empfangsgebäudes unterhalb der Market Street. Sie besitzt vier Bahnsteiggleise in West-Ost-Richtung, wobei die inneren beiden von der Market–Frankford Line und die äußeren von den Subway–Surface Lines befahren werden. Die U-Bahn-Züge halten an einem langen Hochbahnsteig in Mittellage, die Subway–Surface Lines an zwei kürzeren, außen liegenden, niedrigen Seitenbahnsteigen. Der Haupteingang befindet sich in einem länglichen Flachbau Market Ecke 30th Street. Ein Verbindungstunnel von der Verteilerebene zur Schalterhalle des Empfangsgebäudes wurde aus Sicherheitsgründen verschlossen. Der U-Bahnhof bietet von der Innenstadt aus gesehen die letzte von insgesamt drei Umsteigemöglichkeiten zwischen der Market–Frankford Line und den Subway–Surface Lines. Bus Neben der U-Bahn verkehren an der 30th Street Station mehrere innerstädtische Buslinien sowie zwei Regionalbuslinien nach Chesterbrook, King of Prussia und Valley Forge. Die Linienwege folgen im Bereich des Bahnhofs den umgebenden Einbahnstraßen und führen dementsprechend im Gegenuhrzeigersinn um das Gebäude herum. Die Haltestellen befinden sich auf der West- und Ostseite, jeweils an den dem Empfangsgebäude gegenüberliegenden Gehsteigen. Architektur Empfangsgebäude Das Empfangsgebäude ist ein Monumentalbau im Stil des Neoklassizismus unter Verwendung von Art-déco-Elementen. Es wurde von Graham, Anderson, Probst & White entworfen und in den Jahren 1929 bis 1933 erbaut. Es besitzt einen kreuzförmigen Grundriss, wobei der Längsbau in Nord-Süd-Richtung verläuft und 637 Fuß (194,2 Meter) misst. Dieser wird von einem mittig angeordneten, ihn in Breite und Höhe überragenden Querbau unterbrochen. Dieser wiederum misst 327 Fuß (99,7 Meter) und besitzt an beiden Enden korinthische Säulenvorhallen mit je sechs Säulen und zwei Eckpfeilern, die zusammen die beiden Haupteingänge markieren. Die Fassade ist zur Gänze mit Alabama-Kalkstein verkleidet, die Fenster rundherum sind in vertikal verlaufenden Nischen angeordnet. Die Dachkante ringsum ist dem Gebälk antiker Tempelbauten nachempfunden. Sowohl Längs- als auch Querbau haben Flachdächer. Der Längsbau verfügt über insgesamt fünf Etagen, wobei nur das Erdgeschoss durchgezogen ist. Darüber liegen auf beiden Seiten vier u-förmige Büroetagen, die jeweils einen großen, von außen unsichtbaren Lichthof zum Querbau hin einrahmen. Das Dach des Querbaus ist durchgezogen und war ursprünglich als Landebahn für Kleinflugzeuge gedacht. Der Querbau beherbergt den Wartesaal und damit nur einen einzigen, großen Raum. Dieser misst 290 auf 135 Fuß (88,4 auf 41,1 Meter). Die Wände sind 95 Fuß (29 Meter) hoch und mit Marmor und Travertin verkleidet. Oben ist eine Kassettendecke angebracht. Der Raum verfügt wegen der Lichthöfe auf allen vier Seiten über annähernd raumhohe Fenster. Die Eingangstüren an den Stirnseiten werden von je sechs raumhohen Säulen eingerahmt, die mit den außen stehenden fluchten. Über den Türen befinden sich in Höhe der ersten Etage Laufstege, die die beiden Teile des Längsbaus miteinander verbinden. Von der Decke hängen in zwei Reihen je fünf große, schlanke bronzene Leuchter herab. Am östlichen Ende des Wartesaals steht die Skulptur „Angel of the Resurrection“ (deutsch: „Engel der Wiederauferstehung“) von Walker Hancock zur Erinnerung an die Gefallenen der Pennsylvania Railroad aus dem Zweiten Weltkrieg. In einem Nebenraum zeigt das Terrakotta-Relief „Spirit of Transportation“ (deutsch in etwa: „Der Geist des Verkehrswesens“) von Karl Bitter Motive aus der Entwicklungsgeschichte des Verkehrswesens. Die beiden Flügel des Längsbaus werden gewerblich genutzt. Das Erdgeschoss ist auf beiden Seiten vom Wartesaal her direkt zugänglich und beherbergt im südlichen Teil Einzelhandelsgeschäfte und gastronomische Einrichtungen. Im nördlichen Teil befindet sich ein abgetrennter Warteraum, Toiletten, eine Wache der Bahnpolizei (Amtrak Police) und die Parkgarage mit Bedienung. Die oberen vier Geschosse beherbergen Büros der Amtrak. Das ganze Gebäude ruht auf einem 80 Fuß (24,4 Meter) tiefen Senkkastenfundament, das gegen Erschütterungen mit Schwingungstilgern ausgerüstet ist. Bahnsteigebenen Die untere Bahnsteigebene liegt größtenteils unterhalb des Längsbaus. Sie besitzt fünf Mittelbahnsteige mit zehn Gleisen sowie ein zusätzliches Überholgleis auf der Westseite. Die Bahnsteige sind jeweils knapp 24 Fuß (7,3 Meter) breit und 1.500 Fuß (457,2 Meter) lang und sind vom Wartesaal aus über Fest- und Rolltreppen direkt erreichbar. Die Gleise sind von Ost nach West aufsteigend durchnummeriert. Der Bahnsteigbereich läuft an beiden Enden über den Längsbau hinaus, ist jedoch vollständig eingehaust. Oberhalb der unteren Bahnsteigebene befindet sich im Norden ein Parkdeck und im Süden die Market Street. Die obere Bahnsteigebene schließt am nördlichen Ende des Längsbaus an und besitzt drei Mittelbahnsteige mit sechs Gleisen. Das Erdgeschoss des Empfangsgebäudes ist dabei auf der Längsachse so weit nach Norden hin verlängert, dass die nördliche Außenwand des Gebäudes mit dem hintersten Gleis abschließt. Die Bahnsteige und Gleise sind im Bereich des Längsbaus vollständig eingehaust, so dass die Züge praktisch in der ersten Etage durch das Gebäude hindurchfahren. Die Treppen von den Bahnsteigen münden in einen Seitengang des Wartesaals; die Gleise sind von der Gebäudeseite her in der Reihenfolge 1,2,5,6,3,4 durchnummeriert. Das Hallendach geht Richtung Westen etwa 100 Meter über das Gebäude hinaus. Die Bahnsteige reichten ursprünglich noch gut 50 weitere Meter zu beiden Enden über die Überdachung hinaus. Weil die Regionalzüge der SEPTA aber allesamt im Bereich der Überdachung Platz haben, wurden an den Stirnseiten Absperrgitter eingezogen und die Bahnsteige jenseits davon teilweise zurückgebaut. Städtebauliches Umfeld Die 30th Street Station liegt an der Market Street und damit an dem Straßenzug, der die Hauptachse der Innenstadt Richtung Westen bildet. Dabei bildet die Gegend um den Bahnhof unmittelbar westlich des Schuylkill einen Brückenkopf des Central Business District. Dementsprechend ist die Bebauung in der Umgebung relativ zur Entfernung vom Stadtkern vergleichsweise dicht und von meist niedrigeren Bürogebäuden geprägt. Viele davon gehören zur Drexel University, deren Campus sich westlich des Bahnhofs zu beiden Seiten der Market Street erstreckt. Nördlich des Empfangsgebäudes, oberhalb des Parkdecks wurde 2004–05 das Cira Centre errichtet. Das 29-stöckige und 133 Meter hohe Gebäude ist das erste Bürohochhaus in Philadelphia westlich des Schuylkill. Es ist über einen Skyway mit dem Empfangsgebäude verbunden. Direkt gegenüber dem Empfangsgebäude an der Market Street befindet sich das ehemalige Postverteilzentrum des United States Postal Service. Es steht oberhalb des südlichen Gleisfeldes und wurde bis 1930 in ähnlichem Stil wie das Empfangsgebäude errichtet. Es soll ab 2010 als Bürogebäude genutzt werden. Einen Häuserblock weiter südlich, ebenfalls oberhalb der Gleise, entsteht bis 2012 das Cira Centre South. Die beiden 25- und 42-stöckigen Hochhäuser sollen Büros, Wohnungen, ein Hotel und ein großes Parkhaus beherbergen. Der 765 Millionen US-Dollar teure Komplex soll sich architektonisch stark an das bestehende Cira Centre anlehnen. Zwischen der nördlichen Verbindungskurve und dem Gleisstrang des Nord-Ost-Korridors erstreckt sich ein Betriebsgelände der Amtrak. Dort befinden sich Lagerplätze und verschiedene niedrige Baukörper. Markantestes Gebäude ist hier das ehemalige Bahnkraftwerk der Pennsylvania Railroad mit seinem achteckigen Kamin. Betrieb Der Bahnhof wird vom Amtrak-Fernverkehr bedient und ist neben der North Philadelphia Station der einzige Amtrak-Halt in der Stadt. Er ist auch Zwischenhalt für den Acela Express Boston–Washington. Daneben hat die Atlantic City Line der New Jersey Transit nach Atlantic City in New Jersey hier ihren Ausgangspunkt. Weiterhin bildet die 30th Street Station den westlichen Endpunkt der innerstädtischen Stammstrecke der SEPTA-Regionalbahnen, die Philadelphia mit ihrem Umland im Schienenpersonennahverkehr verbindet. Untere Ebene – Amtrak und New Jersey Transit Auf der unteren Ebene des Bahnhofs verkehren die Amtrak-Fernzüge und die Züge der Atlantic City Line. Die Amtrak bietet folgende Fernverkehrsverbindungen über Philadelphia an: Die Atlantic City Line der New Jersey Transit führt von der unteren Ebene aus auf dem Northeast Corridor Richtung Norden und dann über die Delair Bridge hinüber nach New Jersey. Sie existiert in dieser Form seit 1989 und bietet 14 Zugpaare täglich an. Obwohl die Atlantic City Line im Grunde eine Vorortbahn darstellt, gibt es keine Tarifgemeinschaft mit der SEPTA. Obere Ebene – SEPTA Die obere Ebene wird ausschließlich von den sieben Regionalbahnlinien der SEPTA bedient. Die Züge fahren von den Strecken der einstigen Pennsylvania Railroad (PRR) aus über die beiden Verbindungskurven von Westen her in den Bahnhof ein und dann weiter Richtung Osten über die Center City Commuter Connection durch die Innenstadt. Auf der anderen Seite des Innenstadttunnels schließen dann diejenigen Bahnlinien an, die einst zum Streckennetz der PRR-Konkurrentin Reading gehörten. Fahrgastzahlen Zu den Fahrgastzahlen gibt es keine einheitlichen Angaben. Während die Bahnhofsbetreiber 20.000 Reisende pro Tag vermelden, zählte Amtrak für das Geschäftsjahr 2007/08 knapp vier Millionen Reisende und die SEPTA 2007 rund 9.300 Einsteiger täglich. Von der Atlantic City Line und den innerstädtischen Verkehrsmitteln wiederum liegen keine Daten vor. Laut Amtrak ist die 30th Street Station hinter Grand Central Terminal in New York und der Union Station in Washington D.C. der am drittstärksten frequentierte Fernbahnhof der Vereinigten Staaten. Bezogen auf den Nahverkehr der SEPTA liegt er ebenfalls an dritter Stelle hinter den beiden Innenstadtbahnhöfen Suburban Station mit rund 23.300 und Jefferson Station mit rund 12.700 Einsteigern am Tag. Entstehung Die heutige 30th Street Station ist nicht der erste Bahnhof, der an dieser Stelle errichtet wurde. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden an der strategisch günstigen Stelle an der Market Street Bridge die Bahnstationen mehrerer Eisenbahngesellschaften, die nach und nach durch die Pennsylvania Railroad aufgekauft und konsolidiert wurden. Der dadurch entstandene Bahnknoten wurde mehrmals ausgebaut. Dies geschah letztmals um 1930, als der heutige Bahnhof errichtet wurde. Die ersten Bahnstrecken Die erste Bahnstation mit dem Namen 30th Street Station entstand 1850 als Durchgangsbahnhof im Zusammenhang mit der Neutrassierung der Pennsylvania and Columbia Railroad von Philadelphia über Ardmore nach Harrisburg, der heutigen Philadelphia to Harrisburg Main Line. Die Bahnstrecke führte von der Station 11th & Market Street im Stadtzentrum aus nach Westen, dann auf der Market Street Bridge über den Schuylkill und von dort über die heutige Trasse zunächst weiter Richtung Nordwesten. Der Bahnhof befand sich nordwestlich der Ecke 30th und Market Street und wurde am 14. Oktober 1850 eröffnet. 1857 wurden die Columbia Railroad und damit der Bahnhof von der Pennsylvania Railroad (PRR) übernommen und in die Harrisburg Main Line integriert. Bis 1864 wurde die Strecke entlang der Market Street aufgegeben und die Station an der 30th Street vergrößert und zum neuen Endbahnhof ausgebaut. Gegenüber, auf der südlichen Straßenseite, bestand seit dem 15. November 1853 der östliche Endbahnhof der West Chester and Philadelphia Railroad, deren Gleise nach Südwesten Richtung Media, Elwyn und West Chester führten. Etwa eineinhalb Kilometer weiter südlich verliefen schon seit 1838 die Gleise der Philadelphia, Wilmington and Baltimore Railroad (PW&B) von Philadelphia nach Baltimore. Die Strecke begann zu dieser Zeit südlich der Innenstadt, Ecke Broad Street und Washington Avenue, führte in westlicher Richtung auf der Washington Avenue entlang, überquerte den Schuylkill, berührte kurz die Trasse der West Chester und führte schließlich weiter entlang des Delaware nach Südwesten. Der letztgenannte Abschnitt südlich der Brücke über den Schuylkill gehört heute zum Nordost-Korridor. Verbindungsbahnen und Konsolidierung In den 1860er Jahren wurden mit der Junction Railroad und der Connecting Railroad zwei weitere Eisenbahngesellschaften gegründet mit dem Ziel, die bestehenden Strecken auf möglichst direktem Wege miteinander zu verknüpfen. Die Junction Railroad verband dabei seit dem 1. Juli 1866 die Gleise der PRR über einen Tunnel unter der Market Street mit den Strecken der PW&B und der West Chester. Die Connecting Railroad wiederum verband seit dem 2. Juni 1867 die Harrisburg Main Line der PRR über ein Gleisdreieck mit der Philadelphia and Trenton Railroad, deren Gleise vom nördlichen Ende der Stadt bis nach Jersey City führten. Somit konnten Züge, die aus Richtung New York kamen, erstmals ohne Rangieren und Kopfmachen auf die Strecken nach Harrisburg und Baltimore auffahren. Die Gleise der Junction Railroad, der Connecting Railroad und der Philadelphia and Trenton Railroad gehören heute allesamt zum Nordost-Korridor. In den frühen 1860er Jahren hatte die Pennsylvania Railroad damit begonnen, Eisenbahngesellschaften in ihrem Einflussbereich zu übernehmen und betrieblich in ihr stetig anwachsendes Netz zu integrieren. Dies geschah mit der Zeit auch mit den genannten Strecken, die alle an der 30th Street zusammenliefen. In der Umgebung entstand im Laufe der Zeit ein ausgedehntes Industriegebiet. Die Centennial Station Im Zuge der Vorbereitungen auf die Centennial Exhibition wurden die bestehenden Anlagen 1876 durch einen neuen, größeren und etwas weiter westlich gelegenen Bahnhof Ecke 32nd und Market Street ersetzt. Die Centennial Station (deutsch: Jahrhundertbahnhof) wurde als Durchgangsbahnhof in Nord-Süd-Richtung angelegt. Die Baukosten beliefen sich auf 240.000 Dollar. Die Rolle der Broad Street Station Im Jahre 1881 eröffnete die PRR die Broad Street Station, ihren neuen, prestigeträchtigen innerstädtischen Zentralbahnhof, der sich auf der anderen Seite des Schuylkill, unmittelbar nordwestlich des Rathauses der Stadt befand. Er war als Kopfbahnhof angelegt und ausschließlich über ein Gleisdreieck auf dem Gelände der bestehenden Bahnanlagen an der 30th Street erreichbar. Als fortan sämtliche Reisezüge der PRR von und nach Philadelphia über diesen neuen Kopfbahnhof geleitet wurden, ging die Bedeutung der Centennial Station spürbar zurück. Als der Bahnhof 1896 abbrannte, wurde er zunächst nicht wieder aufgebaut. Nachdem sich das ständige Kopfmachen für durchgehende Züge auf der Relation Jersey City–Washington D. C. als unpraktisch erwiesen hatte, entstand 1903 mit der West Philadelphia Station (deutsch: „Westbahnhof“) an der 32nd Street ein neuer Durchgangsbahnhof in Nord-Süd-Richtung für den Fernverkehr. Die Anbindung an die Innenstadt übernahm die 1907 eröffnete Hochbahn Market–Frankford Line mit der Station 32nd Street unmittelbar neben dem Bahnhof. Neubau im Zuge der Philadelphia Improvements Neben dem umständlichen Kopfmachen bereitete die Broad Street Station noch zwei weitere Probleme: Einerseits befand sich der Bahnhof schon seit längerem an der Kapazitätsgrenze, und in der Innenstadt fehlte der Platz für die dringend benötigten Erweiterungen. Andererseits verliefen die Gleise auf einem breiten Viadukt in die Stadt hinein, der die Innenstadt in zwei Hälften zerschnitt und die Erschließung wertvollen Baulandes blockierte. Diese Probleme gaben in den 1920er Jahren Anstoß zu den Philadelphia Improvements. Dieses eisenbahntechnische und städtebauliche Großprojekt sah vor, die Broad Street Station aufzugeben und durch zwei neue Bahnhöfe zu ersetzen. Dabei sollte an der 30th Street für den Fernverkehr ein neuer, teilweise unterirdischer Durchgangsbahnhof in Nord-Süd-Richtung, die heutige 30th Street Station, entstehen. Für den Nahverkehr sollte ein unterirdischer Kopfbahnhof in unmittelbarer Nähe der alten Broad Street Station errichtet werden, die Suburban Station (deutsch: „Vorortbahnhof“). Sämtliche Nahverkehrszüge sollten praktisch wie bisher über ein Gleisdreieck an der 30th Street Station von der Hauptstrecke abbiegen und dann über einen Tunnel die neue Suburban Station in der Innenstadt anfahren. Die Projektentwürfe wurden maßgeblich davon beeinflusst, dass viele Bahnstrecken der PRR Richtung Philadelphia zu dieser Zeit bereits elektrifiziert waren oder kurz vor der Umstellung auf elektrischen Betrieb standen. Dies ermöglichte den Bau unterirdischer Personenbahnhöfe, was im Zeitalter der Dampflokomotiven wegen der Rauchentwicklung so nicht möglich gewesen wäre. Die Bauarbeiten an der 30th Street Station begannen 1929. Die obere Bahnsteigebene für den Nahverkehr wurde zusammen mit der Suburban Station binnen eines Jahres fertiggestellt und am 28. September 1930 eröffnet. Weil sich die Arbeiten durch die Große Depression und später durch den Zweiten Weltkrieg verzögerten, gingen bei der endgültigen Eröffnung am 15. Dezember 1933 zunächst nur zwei Bahnsteiggleise der unteren Ebene in Betrieb. Die restlichen Gleise folgten erst 1951 und 1953. Somit erhielt die 30th Street Station ihre Rolle als Drehscheibe für den Fernverkehr effektiv erst nach dem Krieg. Einhergehend mit dem Bau der 30th Street Station wurde das städtebauliche Umfeld stark verändert. Die Industrieanlagen und Schlachthöfe in der Umgebung wurden ausgesiedelt, die Brücken über den Schuylkill erneuert, und oberhalb des südlichen Gleisfelds entstand das Paketpostamt des United States Postal Service. Weiterhin wurde die Hochbahn im Bereich des neuen Bahnhofs zusammen mit den Subway–Surface Lines in einen Tunnel verlegt. Auch hier zogen sich die Arbeiten bis zur Eröffnung 1955 über zwei Jahrzehnte in die Länge. Nach dem Bankrott der Penn Central, der Rechtsnachfolgerin der PRR, im Jahre 1970 ging der Bahnhof in das Eigentum der Amtrak über. Seit Dezember 1986 ist der Bahnhof als Bauwerk im National Register of Historic Places verzeichnet. Seit der Stilllegung des Reading Terminals auf der anderen Seite der Innenstadt und der Fertigstellung der Center City Commuter Connection im November 1984 sind auch die Vorortstrecken der einst konkurrierenden Reading an die 30th Street Station angeschlossen. Damit sind alle Vorortstrecken um Philadelphia von der 30th Street Station aus direkt erreichbar. Im Dezember 1996 erhielt der Bahnhof den Status eines National Historic Landmarks zuerkannt. Literatur Amtrak (Hrsg.): Amtrak 30th Street Station. Amtrak, Philadelphia, Pennsylvania, 1991. (englisch, nicht eingesehen) Burgess, George H. und Miles C. Kennedy: Centennial History of the Pennsylvania Railroad Co. Pennsylvania Railroad Co., Philadelphia 1929. (englisch, nicht eingesehen) Graham, Anderson, Probst, White; D. H. Burnham & Co.; Graham, Burnham & Co.: The architectural work of Graham, Anderson, Probst & White, Chicago: and their predecessors, D. H. Burnham & co., and Graham, Burnham & co. BT Batsford Ltd, London 1933. (englisch, nicht eingesehen) Meeks, C. L. V.: The railroad station: an architectural history. Yale University Press, New Haven 1956. (englisch, nicht eingesehen) Pennsylvania Railroad Technical & Historical Society (Hrsg.): The Philadelphia improvements. In: The Chapter, Bryn Mawr, Pennsylvania 1978. (englisch, nicht eingesehen) Weblinks United States Department of the Interior: National Park Service (Hrsg.): (PDF; 770 KiB), 1978. Kyriakodis, Harry: (PDF; 689 KiB). The Pennsylvania Railroad Technical and Historical Society, 2007. Einzelnachweise Pennsylvania Railroad Philadelphia30 Verkehrsbauwerk in Philadelphia National Historic Landmark (Pennsylvania) Denkmal im National Register of Historic Places (Pennsylvania) Bauwerk des Neoklassizismus in den Vereinigten Staaten Bauwerk des Art déco in den Vereinigten Staaten Erbaut in den 1930er Jahren Philadelphia 30th Street Station Philadelphia 30th Street Station Philadelphia 30th Street Station
3431814
https://de.wikipedia.org/wiki/Burg%20Ronneburg
Burg Ronneburg
Die Burg Ronneburg bei Altwiedermus, einem Ortsteil der Gemeinde Ronneburg im Main-Kinzig-Kreis in Hessen, ist durch ihre Lage als Höhenburg auf einem steilen Basaltkegel weithin sichtbar und Namensgeberin des Ronneburger Hügellandes. Ursprünglich wohl im 13. Jahrhundert als mainzische Burg zur Sicherung des Territoriums gegründet, gelangte sie 1476 in ysenburgischen Besitz. Ihre größte Bedeutung erlangte sie als Residenz der Nebenlinie Ysenburg-Büdingen-Ronneburg im 16. Jahrhundert. Die Burg weist deshalb eine sehr bedeutsame Architektur der Renaissance auf, darunter den markanten Kuppelhelm des Bergfrieds, den Zinzendorfbau und die Neue Kemenate. Im Dreißigjährigen Krieg brannte die Kernburg zunächst weitgehend aus, einige Jahre später wurde die Ronneburg geplündert. In der Folgezeit verlor sie ihre Funktion als Wehranlage und Adelssitz und diente als Zufluchtsort für gesellschaftliche Randgruppen wie die Herrnhuter Brüdergemeine. Ihre Bedeutung als Denkmal wurde um 1900 erkannt. Die gute Erhaltung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Burggebäude macht sie seitdem zu einem bekannten Ausflugsziel der Region. Lage Die Ronneburg liegt knapp östlich des Zentrums des Naturraumes Ronneburger Hügelland, der nach ihr benannt ist. Charakteristisch ist eine flachwellige Landschaft zwischen Wetterau und Büdinger Wald, die zum nordöstlich gelegenen Vogelsberg leicht ansteigt. Die Burganlage nimmt als Höhenburg den Gipfel eines markanten Basaltkegels (ca. ) oberhalb des Fallbachtales (ca. ) ein. In der Tallage südwestlich der Burg schließt sich fruchtbares Ackerland an, während die östlich gelegene Höhe (Am Steinkopf, ) die Ronneburg überragt und bewaldet ist. Durch das Tal verlaufen bedeutende Altstraßen, besonders die Hohe Straße oder Reffenstraße, zu deren Überwachung die Burg genutzt wurde. Geschichte der Burg Gründung als kurmainzische Burg Als Ersterwähnung der Burg gilt eine Urkunde des Jahres 1231 oder 1258, in der sich ein Burgmann der Familie von Rüdigheim nach der Burg „de Roneburg“ nennt. Die Wehranlage dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit älter sein. Sie wurde möglicherweise durch die Herren von Büdingen (Gerlach I. oder Gerlach II.) zur Sicherung der umliegenden Gerichtsbezirke, des Büdinger Waldes und der vorbeiführenden Handelsstraßen erbaut, möglicherweise in der Zeit des „staufischen Endkampfes“ in der Wetterau vor dem Tod Konrads IV. Der frühere Name „Raneberg“ oder auch „Roneberg“ leitet sich vermutlich von dem althochdeutschen Wort Rone ab, was so viel wie umgefallener Baum bedeutet und auf eine viel ältere mit Palisaden befestigte Anlage hindeutet. Die ältesten bekannten Bauteile der heutigen Kernburg gehören jedoch erst in das zweite Viertel des 14. Jahrhunderts. Vieles spricht dafür, dass es sich ursprünglich um eine Territorialburg des Erzbistums Mainz handelte: Die Ronneburg lag im mainzischen Gericht Langendiebach und sicherte dieses sowie die Waldgebiete unter kurmainzischer Kontrolle an der unteren Kinzig (auch Gelnhausen befand sich bis 1170, die Bulau bis 1277 in Mainzer Besitz). Nach dem Aussterben der Büdinger (vor 1247) fiel die Ronneburg zunächst nicht an deren Haupterben, die Grafen von Ysenburg, sondern sie befand sich bei der Ersterwähnung im Besitz der Familie von Hohenlohe. Gottfried III. von Hohenlohe-Brauneck verkaufte sie 1313 an das Erzbistum Mainz. Das Bistum verpfändete die Burg ab 1327 an die Ritter von Rockenberg, die sie erweiterten. 1339 bis 1356 war die Anlage wieder unter der Verwaltung des Erzbistums. 1356 wurde die stark ausgebaute Burg erneut verpfändet, und zwar an die Herren von Cronberg: Hartmut VI. und Frank VIII. von Cronberg, die dem Erzbischof Gerlach von Nassau auch vorher immer wieder mit Geld ausgeholfen hatten, erhielten die Burg als Pfand für 18 000 kleine Goldgulden. Die Cronberger blieben bis 1407 auf Ronneburg. In dieser Zeit entstanden weitere An- und Umbauten (Kapellenerker des Saalbaus). Ab 1424 war die Burg erneut verpfändet, diesmal an den Grafen von Hanau. Ysenburgische Burg und Residenz 1476 überschrieb der Mainzer Erzbischof Diether von Ysenburg, wohl als Folge der Mainzer Stiftsfehde, die Burg seinem Bruder, dem Grafen Ludwig II. von Ysenburg-Büdingen. Nach dem Tode Ludwigs im Jahre 1511 erschütterte ab 1517 ein Erbfolgekrieg zwischen seinen drei Söhnen das Büdinger Land. 1523 fiel die Burg an Philipp von Ysenburg-Büdingen, der die Linie Ysenburg-Büdingen-Ronneburg begründete. Als Residenz dieser Linie erhielt die Ronneburg ihre endgültige Form. Auf Philipp von Isenburg-Ronneburg folgte sein Sohn Anton, der 15 Kinder hatte. Doch blieben die Ehen seiner Söhne kinderlos. Es regierten nacheinander die Brüder Georg und Heinrich. Nach der Erbauung des Schlosses Kelsterbach durch den dritten Sohn Antons, Wolfgang von Ysenburg-Ronneburg, wurden sie einige Male als Grafen von Isenburg-Büdingen-Kelsterbach erwähnt. Mit den Umgestaltungen durch den Grafen Heinrich hatte die Ronneburg eine letzte Blütezeit. Nach dem Tode Heinrichs von Ysingen-Ronneburg im Jahre 1601 erlosch die Linie bereits wieder. Wolfgang Ernst I. von Ysenburg-Büdingen in Birstein berief sich auf sein Erbrecht und nahm die Burg als heimgefallenes Lehen mit Gewalt in seinen Besitz. Sie diente aber in der Folgezeit weiter als Sitz für die Witwe Heinrichs. Die Ronneburg in der Neuzeit Bei einem durch Unachtsamkeit des Burggrafen verursachten Brand wurden 1621 große Teile der Burg zerstört, darunter die Neue Kemenate und der Obere Torbau. Die Funktion als Witwensitz fand damit ihr Ende. Dreizehn Jahre später fiel die schwer beschädigte, leer stehende Ronneburg im Dreißigjährigen Krieg einer Plünderung durch kroatische Reitertruppen zum Opfer. Eine Wiederherstellung erfolgte erst nach Kriegsende, wobei die Neue Kemenate nicht mehr auf die volle, ursprüngliche Gebäudehöhe aufgebaut wurde. Ihre Funktion als Amtssitz des vormaligen Gerichts Langendiebach (später ysenburgisches Amt Ronneburg) verlor die Ronneburg zum Ende des 17. Jahrhunderts durch einen Verkauf von der Linie Isenburg-Birstein an Isenburg-Büdingen. Das Amt war bereits 1645 um das Gericht Selbold erweitert worden, zu dessen Verwaltungssitz schließlich 1698 Langenselbold erhoben wurde. Den calvinistischen Ysenburg-Büdingern ist es zu verdanken, dass sich ab 1700 protestantische Exilanten auf der Burg niederlassen durften. Sie wurde für lange Zeit Zufluchtsort für religiös Verfolgte, die Schweizer Mystikerin Ursula Meyer hatte unter anderem hier zwischen 1715 und 1719 156 Aussprachen, und „Unbehauste“ (Juden und Zigeuner), die in den Räumen der Burg auch handwerklichen Tätigkeiten nachgingen. So befand sich am Ende des 18. Jahrhunderts in der Hofstube eine Wollwaren-Manufaktur. 1736 zog Graf von Zinzendorf mit seiner Herrnhuter Brüdergemeine ein und machte die Burg zu einem viel besuchten Wallfahrtsort. Schon zwei Jahre später war die Anlage jedoch zu klein für die Glaubensbrüder, sie gründeten auf einen nahe gelegenen Hügel die Siedlung Herrnhaag. Ab 1750 wanderten viele dieser Siedler nach Amerika und in andere Länder aus. Die Ronneburg wurde auch in der Folgezeit unter verschiedenen Pächtern eher von Randgruppen bewohnt. Die große Zahl der Bewohner führte dazu, dass sie 1821 im Zuge einer Verwaltungsreform zur selbständigen Gemeinde, jedoch ohne Gemarkung, wurde. Bereits 1829 wurde dies wieder rückgängig gemacht. Als die Gebäude nach Sturmschäden zunehmend verfielen, nahm auch die Zahl der Bewohner in der Mitte des 19. Jahrhunderts ab. 1838 wurden die Gebäude der Vorburg abgebrochen, was von der Verwaltung offensichtlich aufgrund der unliebsamen Bewohner gefördert wurde. Der Verkauf des Abbruchmaterials sollte offenbar teilweise die sinkenden Mieteinnahmen ausgleichen. 1870 erfolgten weitere Verkäufe auf Abbruch, doch verließ erst im Jahre 1885 der letzte Bewohner die Burg. Die in Hessen zu dieser Zeit entstehende Denkmalpflege wurde auf die Anlage besonders durch den 1890 von Heinrich Wagner verfassten Band über die Kunstdenkmäler des Kreises Büdingen aufmerksam. Die Bekanntheit wurde in der folgenden Zeit gesteigert durch Besuche der Jugendbewegung und von Wandervereinen aus den umliegenden Städten. Erstmals 1905 wurde die Ronneburg unter Denkmalschutz gestellt. Um den Erhalt und die Erforschung der Baugeschichte hat sich besonders der Büdinger Architekt und Historiker Peter Nieß (1895–1965) verdient gemacht, der 1936 eine gründliche Baugeschichte vorlegte. Gefördert wurde dies vom Ysenburger Fürstenhaus durch Friedrich Wilhelm zu Ysenburg und Büdingen und seinen Nachfolger Otto Friedrich zu Ysenburg und Büdingen. Im Jahr 1952 konnte das Burgmuseum eröffnet werden, 1967 wurde im Marstall ein Restaurant eröffnet. Die bauliche und museale Betreuung wurde 1988 in einem Patenschaftsvertrag zwischen dem Besitzer und dem Förderkreis Freunde der Ronneburg e. V. geregelt. Im Juni 2004 verkaufte Wolfgang Ernst zu Ysenburg und Büdingen die Ronneburg an die Forfin GmbH, deren Geschäftsführer und alleiniger Gesellschafter, Joachim Benedikt Freiherr von Herman auf Wain, ein Vetter seiner Frau ist. Anlage Die rechteckige Kernburg mit ihrer kräftigen Wehrmauer hebt sich im Grundriss der Ronneburg deutlich hervor. Sie ist mit dem Bergfried und dem Saalbau der älteste Bauteil aus dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts. Die ausgedehnte Vorburg im Süden und Osten der Anlage entstammt einer späteren Bauphase aus den Jahren 1538–1550. Kernburg Die Kernburg der Ronneburg enthält die ältesten Gebäude der Burg. Die Wehrmauer der Kernburg aus Bruchsteinen enthält keine romanischen Elemente. Sie gehört wohl in das zweite Viertel des 14. Jahrhunderts. Die Ringmauer umschloss die rechteckige Kernburg. Im Westen war sie in der frühesten Bauphase durch den Saalbau, im Osten durch den Bergfried und das oberste Tor verstärkt, die alle dieser ersten Bauphase angehören. Im späten 14. Jahrhundert wurde der Saalbau durch Hinzufügung eines Kapellenerkers umgebaut. In der gleichen Zeit umgab man diesen mit einem Zwinger und es entstand das Tor am späteren Brunnenhaus. In einer weiteren Bauphase im 15. Jahrhundert wurde die Kernburg nach Norden erweitert, sodass die Gebäude des Nordflügels (Backhaus, Alter Bau und Neue Kemenate) im ehemaligen Burggraben stehen. Zur Errichtung des später sogenannten „Alten Baues“ wurde die nördliche Wehrmauer als Hoffassade integriert und das Gebäude nach außen angefügt. Die bedeutendsten Umbauten in der Kernburg fallen in die Zeit der Nutzung als Residenz und damit in die Renaissance, hauptsächlich in die Jahre um 1540. Erneuter Umbau um 1570 (Neuer Wohnbau, Zinzendorfbau) und ab 1576 (Helm des Bergfriedes). Bergfried Der 32 Meter hohe Bergfried hat einen runden Grundriss mit einem Durchmesser von etwas mehr als acht Metern. Sein bis zum Helm einheitliches Mauerwerk gehört wahrscheinlich der frühesten Bauphase an. Im dünneren Mauerwerk des geräumigen Saales im vierten Stock zeigen die Reste einer in die Mauer eingelassenen Treppe, dass dieser bereits zum Renaissancehelm gehört. Der ursprüngliche Eingang ist an der Hofseite im dritten Stock auf etwa zehn Metern Höhe als spitzbogige Pforte zu erkennen. Die beiden darunterliegenden Geschosse dienten als Verlies und waren nur von oben über ein Angstloch im Gewölbe zugänglich. Die heutigen Fenster wurden 1581 eingebaut. Man durchbrach die Wand zu deren Einbau, als man auch diese Geschosse zu Wohnzwecken nutzen wollte. Ein neuer seitlicher Zugang war bereits im 15. Jahrhundert durch einen angebauten Treppenturm mit Wendeltreppe entstanden. Die 57-stufige Wendeltreppe innerhalb des Bergfriedes beginnt deshalb erst im dritten Stock und setzt über einem dreiarmigen Bogen an, da man das ehemalige Loch zum Verlies anscheinend noch nicht zubauen wollte. Der markante Renaissancehelm der Burg entstand zwischen 1576 und 1581 und wurde vom Baumeister Joris Robin aus Ypern gestaltet. Über dem geschlossenen fünften Geschoss folgt ein Umgang auf 25 Meter Höhe mit Balustrade. Der Umgang ist in den vier Hauptrichtungen durch einen Vorbau mit kleinen Giebeln unterbrochen, durch den er hindurchgeführt wird. Die beiden obersten Geschosse sind heute über eine Holztreppe erreichbar. Die aus Quadern gemauerte Kuppel darüber schließt in einer Laterne ab. Der Renaissancehelm des Ronneburger Bergfriedes orientiert sich an italienischen Kuppellaternen dieser Zeit und gehört damit zu den bemerkenswertesten Renaissancearchitekturen in Hessen. Saalbau Der sogenannte Saalbau (auch Palas genannt) befindet sich an der Westseite der Kernburg und gehört im Kern zu den ursprünglichen Gebäuden der Burg. Das heutige Gebäude besitzt eine Grundfläche von 25 × 11,5 m und nimmt die volle Breite der westlichen Kernburg ein. An seiner Südseite schließt sich der Wehrgang zum oberen Torbau nahtlos an. Der mittig vor dem Gebäude über dem Kellerhals angesetzte Treppenturm ist eine Ergänzung des 15. Jahrhunderts. Die Überdachung des Kellerzugangs mit Fachwerkstube stammt aus dem Jahr 1555. An der hofseitigen Fassade fällt links des Treppenturms im Obergeschoss ein polygonaler Erker aus Sandsteinquadern mit Kreuzstockfenstern auf. Er entstand im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts, als man dort eine gotische Kapelle einrichtete, deren Apsis er bildete. Neben einem Gewölbekeller, sowie größeren Wohn- und Hofstuben enthält das Gebäude eine Burgküche, die aber erst in der Renaissance dort eingerichtet wurde. Zuvor enthielt das Erdgeschoss einen größeren Saal, der zu einem kleineren Saal mit Küche umgebaut wurde. Im Mittelgeschoss sind Fachwerkwände des 15. Jahrhunderts erhalten. Das Obergeschoss musste nach dem Brandschaden von 1621 in größerem Umfang erneuert werden, weshalb nur an den steinernen Architekturteilen noch mittelalterliche Substanz vorhanden ist. Burgkapelle im Saalbau Backhaus Unmittelbar nördlich des Saalbaus im Winkel zwischen diesem und dem Alten Bau befindet sich das Backhaus. Es weist an der Außenseite einen stattlichen Renaissancegiebel auf und stammt aus dem 16. Jahrhundert. Der unmittelbar an das äußere Eck anstoßende Schalenturm des spätmittelalterlichen Zwingers wurde beim Ausbau des Gebäudes als Treppenturm erweitert. Alter Bau Der Alte Bau nimmt den Bereich zwischen dem Erker der östlich gelegenen Neuen Kemenate, dem Saalbau und dem Backhaus ein. Im Kern stammt das Gebäude wohl aus dem 15. Jahrhundert. Ein Portal an der Hofseite trägt die Jahreszahl 1572. Auf der Hofseite befinden sich nur drei renaissancezeitliche Fenster, die wohl nachträglich eingefügt wurden. An der Feldseite mit dem vermutlich älteren Mauerwerk sind eine überdachte Schießscharte aus der Mitte des 16. Jahrhunderts sowie eine zugemauerte Lichtnische für einen Abort erkennbar. Neue Kemenate Mit der Hochzeit des Grafen Heinrich von Ysenburg-Ronneburg und der Gräfin Elisabeth von Gleichen-Tonna im Jahr 1572 entsprach die Ronneburg nicht mehr dem Repräsentations- und Wohnbedürfnis einer gräflichen Residenz. Das Paar ließ deshalb ab 1573 die Neue Kemenate (seltener: Neuer Wohnbau) an der Nordostseite der Kernburg errichten. Das Gebäude enthält an der Hofseite die Wehrmauer des 14. Jahrhunderts mit erkennbar sehr dickem Mauerwerk und unter dem linken Erker ein Portal von 1537, das in die Apotheke führt. Der stattliche viergeschossige Bau ist 32,5 Meter lang und nicht ganz neun Meter breit. Die hofseitige Fassade wird durch zwei hohe Erker gegliedert, von denen einer als Standerker ausgeführt ist. Am linken Erker sind in den beiden Hauptgeschossen das Blendmaßwerk und im Untergeschoss die Wappen der Bauherren auffällig. Am rechten Erker befinden sich Spiegelquader, die sorgfältig mit schachbrettartigem Muster verziert sind. Sie stellen ein herausragendes Beispiel renaissancezeitlicher Steinmetzkunst dar. Aufgrund des Brandes von 1621 ist das oberste Geschoss des Erkers, das heute eine Sonnenuhr trägt, nicht original. Zwischen beiden Erkern befindet sich das Portal mit dem Wappen von Ysenburg und von Gleichen, daneben der Grundstein mit Inschrift aus dem Jahr 1573. Die Neue Kemenate enthält im Erdgeschoss eine bereits in älteren Inventaren genannte Apotheke. Die darüberliegenden Geschosse mit den Erkern enthalten größere Wohngemächer, die im ersten Stock vom hofseitigen Erker bis zum äußeren Erker reichen. Der Raum wird von zwei Kreuzrippengewölben mit floralen Motiven überspannt. Der Raum im zweiten Obergeschoss hat die gleichen Dimensionen, ist jedoch mit aufwendigen figürlichen Wandmalereien versehen (Christophorus, David und Goliath, Salomonisches Urteil, Kain und Abel). Zwischen diesen vorwiegend alttestamentarischen Szenen befindet sich eine renaissancezeitliche Burgenlandschaft, die auf gedruckte Vorlagenblätter des 15. Jahrhunderts zurückgeht. Bemerkenswert ist außerdem die Wandinschrift „FRID IST BESSER DENN KRIEG DIWEIL UNGEWIS IST DER SIG“. Die Nutzung der einzelnen Geschosse ist aus Inventaren weitgehend bekannt: Im ersten Obergeschoss befand sich die Wohnung des Grafen Heinrich, im zweiten Obergeschoss die seiner Gemahlin sowie weiterer Angehöriger. Weitere Wohngemächer befanden sich im dritten Obergeschoss, das aber durch den Brand von 1621 nicht original erhalten ist. Jedes Geschoss besaß am Übergang zum Alten Bau einen Abort. Jede Wohnung bestand aus einem beheizbaren Gemach und einer Schlafkammer. Innenansichten der Neuen Kemenate Zinzendorfbau (Viertes Torhaus) Am Zinzendorfbau und dem integrierten innersten Torhaus sind alle Bauepochen der Burg anzutreffen. Der äußere Torbogen aus dem Jahr 1570 sitzt auf Eckquadern des 14. Jahrhunderts. Die Durchfahrt wird von einem Kreuzgratgewölbe überspannt, das Reste der renaissancezeitlichen Bemalung aufweist. Der innere Torbogen zum Burghof ist auf das Jahr 1541 datiert, weist jedoch ebenfalls spätmittelalterliche Seitenwände auf, deren Kämpfer möglicherweise zu den ältesten Bauteilen der Burg gehören. Der heutige Zinzendorfbau wurde 1570 an Stelle eines älteren Torhauses errichtet und erhielt seinen Namen erst im 20. Jahrhundert. Vielleicht trug das Gewölbe über der Tordurchfahrt ursprünglich eine söllerartige Wehrplattform. Das Gebäude besitzt an der Hofseite einen reich verzierten Erker mit Blendmaßwerk, für den sich ganz ähnliche Beispiele in Büdingen befinden. In das Maßwerk der Fensterbrüstung ist das Wappen des Grafen Heinrich von Ysenburg-Ronneburg und seiner ersten Gemahlin Maria von Rappoltstein eingefasst. Am benachbarten Treppenbau befindet sich ein Grundstein mit der Jahreszahl „1570“. Das Obergeschoss des Gebäudes über dem Torhaus wird komplett von einem Saal eingenommen, der als Neue Kirche seit dem 18. Jahrhundert von der ansässigen Glaubensgemeinschaft genutzt wurde (benannt nach Nikolaus Ludwig von Zinzendorf als Zinzendorfsaal). Ursprünglich war es wohl ein größerer Wohnraum aus der Bauzeit von 1570. Er weist zum Hof und an der Außenseite jeweils einen rechteckigen, gotisierend überwölbten Erker mit Rippengewölbe auf. Brunnenhaus (Drittes Torhaus) Der Kern des dritten Torbaus dürfte aus dem 14. Jahrhundert stammen, als der Kernburg ein weiteres Tor vorgelagert wurde. Die Kontur des ursprünglichen Tores lässt sich im ehemaligen Graben an der Nordseite noch erkennen. Der einfach profilierte Spitzbogen des Tores stammt aus dem späten 15. Jahrhundert. Der Wappenstein über dem Tor wurde nachträglich 1523 eingesetzt, wobei ein älteres Fenster aufgegeben wurde. Ursprünglich muss sich über dem Tor die Zugvorrichtung für eine Zugbrücke befunden haben. Das heute über der Tordurchfahrt befindliche Gewölbe wurde nachträglich eingefügt. Auf eine Zugbrücke weist auch die Beschaffenheit der auf das Tor zuführenden Rampe (erneuert 1565) hin. Das kräftige Mauerwerk reicht bis etwa zweieinhalb Meter vor das Tor, eine gemauerte Verbindung wurde erkennbar später eingesetzt. Südwestlich des Tores wird die Durchfahrt von einem starken runden Turm flankiert. Für die Errichtung des Tores wurde ein Teil seines Mauerwerks abgearbeitet, was darauf hinweist, dass der Turm ebenfalls älter als die heutige Toranlage sein muss und beim Neubau des Tores daran angepasst wurde. Als im 16. Jahrhundert das nördlich gelegene Torhaus zum Brunnenhaus umgebaut wurde, verlegte man die Wachstube ins Erdgeschoss dieses Turmes. Am nördlich der Tordurchfahrt gelegenen Brunnenhaus wurden ebenfalls zahlreiche Umbauten durchgeführt. Zunächst als Wachstube für das Tor konzipiert, baute man 1529 nördlich des Tores einen dreieckigen Erker an. Die Jahreszahl befindet sich auch am Zugang zur Wachstube. 1550 wurde der dreieckige Vorbau nördlich des Tores für den Anschluss eines Wehrganges abgearbeitet. Ebenfalls in der Mitte des 16. Jahrhunderts, als der Fortschritt der Bergbautechnik die Anlage solcher Brunnen ermöglichte, wurde in das Wachhaus des Tores der Burgbrunnen nachträglich eingefügt. Man betritt die Brunnenstube von der Tordurchfahrt aus. Die oberen Lagen des 96 Meter tiefen Brunnens bestehen aus Quadern, auf denen Zangenlöcher und Steinmetzzeichen erkennbar sind. Die Wasseroberfläche befindet sich in 84 m Tiefe, wobei der Brunnen ursprünglich eine Tiefe von 125 m hatte. Hinter dem Brunnen befindet sich das hölzerne Drehrad aus dem 16. Jahrhundert, das von Menschen bedient wurde. Ein Teil des Mauerwerks und die gesamte Zwischendecke zum ehemaligen Obergeschoss der Wachstube mussten bei seinem Einbau entfernt werden. Zweites Torhaus Das äußerste Tor der Kernburg besteht aus einem spitzbogigen Tor mit einem kleinen, eingeschossigen Torhaus und wird heute als Museumskasse genutzt. Über dem Tor befindet sich ein Wappenstein des Grafen Philipp von Ysenburg-Büdingen und seiner Gemahlin Amalie von Rieneck mit der Jahreszahl 1527. Zwinger Im späten 14. oder frühen 15. Jahrhundert umgab man den Saalbau im Süden und Westen mit einem Zwinger. Er wies ursprünglich drei halbrunde Schalentürme auf, von denen man später den nördlichen aufstockte, um einen Treppenturm für das Backhaus zu erhalten. Gleichzeitig mit dem Zwinger entstand wohl das ursprüngliche dritte Torhaus. Vorburg Die ausgedehnte Vorburg ist der Kernburg im Osten und Süden vorgelagert. Sie entstand während der Nutzung der Ronneburg als Residenz in der Zeit zwischen 1538 und 1555. Der nördliche Teil der Vorburg stellt die Hauptangriffsseite dar. Die hohe Bruchsteinmauer weist stellenweise einen gut erhaltenen Wehrgang mit abwechselnd gedeckter und offener Schießscharte auf, von denen erstere es erlaubte, Feinde unten am Mauersockel zu bekämpfen. Sehenswert sind ferner ein spitzdreieckiger Erker nahe dem Tor, eine spitzbogige Ausfallpforte (datiert 1540) rechts des Zyngels, ein Aborterker und der nachträgliche Anschluss der Vorburg an die Kernburg. Ein Fußweg um die Burg ermöglicht es, diese baulichen Merkmale von außen zu besichtigen. Marstall Der langgestreckte Marstall wirkt durch seine Größe und Lage wie das Hauptgebäude der Vorburg. Zwei spitzbogige Portale mit Inschriften von 1549 und 1551 weisen auf die ursprüngliche Bauzeit des Gebäudes hin. Das ursprüngliche Obergeschoss wurde aber nach 1838 (Verkauf auf Abbruch) abgetragen und erst 1964 ergänzt. Entsprechend ergibt sich ein historischer Eindruck der Bausubstanz nur im Erdgeschoss, wo noch Putzreste erhalten sind. Heute enthält der Marstall die Burggastronomie. Bandhaus Das Bandhaus befindet sich mittig in der Vorburg. Es besitzt heute nur noch ein Geschoss, enthält aber einen größeren Gewölbekeller. Das Gebäude diente als Weinlager. Den Grundstein legte Barbara von Wertheim 1554, ein weiterer Stein am Kellerhals trägt die Jahreszahl „1555“. Das ursprüngliche Obergeschoss fiel dem Brand von 1621 zum Opfer, wurde 1654 wiederhergestellt und 1870 auf Abbruch verkauft. Das heutige, recht flache Dach stammt von 1905. Ein Denkmal neben dem Gebäude erinnert an Peter Nieß, der wesentlich zur Erforschung und zum Erhalt der Ronneburg beigetragen hat. Erstes Torhaus Das äußere Burgtor überragte früher durch zwei Obergeschosse die Mauer der Vorburg deutlich. Die Obergeschosse mit Renaissancegiebel wurden 1870 abgebrochen, ein Treppenaufgang ist noch am Übergang zum Marstall erkennbar. Das außen spitzbogige Tor (Wappenstein mit Jahreszahl „1538“) besaß keine Zugbrücke. An der Außenseite sind Putzreste über dem Bruchsteinmauerwerk aus Basalt erhalten. Nur einzelne Gewände waren aus Sandstein gefertigt, darunter zwei Schießscharten links und rechts des Tores. Bemerkenswert ist das Tor (linker Torflügel mit Datierung 1539) mit hölzernen Drehflügeln, Schlupfpforte, Eisenbeschlägen und dekorativem Schloss. Hofseitig befindet sich ein breiterer Bogen mit der Jahreszahl „1539“. Von der Tordurchfahrt aus sind die anschließenden Räume erschlossen, darunter die südöstlich gelegene Wächterstube. Eine Wendeltreppe führte von dort in die ehemals vorhandenen Obergeschosse. Die Durchgänge besitzen korbbogige Portale, am Durchgang zur Wachstube ist die Jahreszahl „1542“ eingemeißelt. Ungewöhnlich für das 16. Jahrhundert sind die korbbogigen Fenstergewände. Befestigungstürme der Vorburg: Zyngel, Hexenturm, Südwestturm Der nördliche Bereich der Vorburg ist besonders gesichert. Ursprünglich dürfte sich dort – auf Höhe des heutigen Parkplatzes – der Zufahrtsweg zur Burg befunden haben. Die Spitze der Wehrmauer nimmt ein nach außen runder Turm ein, der heute Zyngel genannt wird. Ursprünglich bezog sich dieser Name wohl auf die gesamte Ringmauer. Der Turm besitzt Maulscharten für Hakenbüchsen und kleinere Geschütze, mit denen auch die Flanken bestrichen werden konnten. Die Jahreszahl „1540“ auf der Ausfallpforte neben dem Turm legt nahe, dass der ganze Mauerabschnitt mit dem Turm in dieser Zeit errichtet wurde. Für den südwestlich an den Marstall anschließenden Turmstumpf der hohen Umwehrung der Vorburg ist seit 1599 der Name „Hexenturm“ belegt, weil in diesem Jahr eine der Hexerei bezichtigte Frau dort eingesperrt wurde. Jahreszahlen auf einem spitzbogigen Portal im Untergeschoss und einer Schießscharte außen datieren die Bauzeit auf die Jahre 1550 bzw. 1549. Nur das Untergeschoss des außen halbrunden Turmes diente als Gefängnis. Oben trägt er eine Wehrplattform, auf der man recht gut die eigentliche Höhe der Vorburgmauer und die verschiedenen Typen von Schießscharten erkennen kann. Zum Schutz der südwestlichen Ecke der Vorburg wurde zwischen 1546 und 1549 ein Rundturm errichtet. Ein spitzbogiges Portal datiert auf das Jahr 1548, 1549 wurde auch das anschließende Mauerstück (Westmauer der Vorburg) vollendet. Im oberen Geschoss wurde nachträglich der Grundstein von 1546 eingelassen. Er trägt die Inschrift „Do disz Mauer angefangen war, Graf Jorg den ersten Stein legt dar, des Augusts achtzehenden behalt, funffzehen hundert sechs vitzih zalt – 1546“. Die Wendeltreppe außen am Turm wurde erst 1905 mit den wiederverwendeten Stufen einer Treppe aus dem Backhaus hinzugefügt. Heutige Nutzung Die Burg beherbergt heute ein Burgmuseum, ein Restaurant und eine Falknerei. Die Vorburg mit der Gastronomie ist tagsüber frei zugänglich. Museal genutzt wird vorwiegend die Kernburg (Kassenhaus und Museumsshop im zweiten Torbau). Der 32 Meter hohe Bergfried der Burg kann bestiegen werden und bietet von der umlaufenden Aussichtsplattform, auf der zwei Fernrohre angebracht sind, einen Ausblick von einigen Kilometern, bei schönem Wetter sogar bis nach Frankfurt. Sehenswertes und Aktivitäten rund um die Burg Der Förderkreis „Freunde der Ronneburg“ organisiert zahlreiche Ritterspiele und Mittelaltermärkte. Es finden regelmäßig Bogenbauseminare statt, in denen historische und prähistorische Bögen nachgebaut und Grundkenntnisse des instinktiven Bogenschießens vermittelt werden. Die steilen Seitenhänge des Basaltkegels bieten ein ausgezeichnetes Übungsgelände für Gleitschirmflieger. Um die Burg besteht ein dichtes Netz von markierten Wanderwegen. Eine Jugendbildungsstätte gleichen Namens (Jugendzentrum Ronneburg) befindet sich in der unmittelbaren Nähe. Für die Bewohner der Ronneburg gab es zwei Friedhöfe. Die jüdischen Verstorbenen wurden auf dem Jüdischen Friedhof Altwiedermus im Tal bestattet. Ein Friedhof für die christlichen Bewohner wurde in der Neuzeit an der Zufahrtsstraße angelegt. Südöstlich der Burg befindet sich am Steinkopf ein größerer Basaltsteinbruch, aus dem wahrscheinlich ein Großteil des Baumaterials für die Ronneburg stammt. Literatur Elmar Brohl: Festungen in Hessen. Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Festungsforschung e.V., Wesel, Schnell und Steiner, Regensburg 2013 (= Deutsche Festungen 2), ISBN 978-3-7954-2534-0, S. 153–158. Klaus-Peter Decker, Georg Ulrich Großmann: Die Ronneburg (= Burgen, Schlösser und Wehrbauten in Mitteleuropa. Band 6). 3. Auflage. Schnell und Steiner, Regensburg 2014, ISBN 978-3-7954-1879-3. Stefan Grathoff: Mainzer Erzbischofsburgen: Erwerb und Funktion von Burgherrschaft am Beispiel der Mainzer Erzbischöfe im Hoch- und Spätmittelalter. Steiner, Stuttgart 2005, ISBN 3-515-08240-9, insbesondere S. 86. Rolf Müller (Hrsg.): Schlösser, Burgen, alte Mauern. Herausgegeben vom Hessendienst der Staatskanzlei, Wiesbaden 1990, ISBN 3-89214-017-0, S. 298–300. Burkhard Kling: Die Ronneburg (= Große Baudenkmäler. Heft 471). München/ Berlin 1993. Rudolf Knappe: Mittelalterliche Burgen in Hessen. 800 Burgen, Burgruinen und Burgstätten. 3. Auflage. Wartberg-Verlag, Gudensberg-Gleichen 2000, ISBN 3-86134-228-6, S. 359f. Uta Löwenstein: Grafschaft Hanau. In: Ritter, Grafen und Fürsten – weltliche Herrschaften im hessischen Raum ca. 900–1806. (= Handbuch der hessischen Geschichte. Band 3; = Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen. Band 63). Historische Kommission für Hessen, Marburg 2014, ISBN 978-3-942225-17-5, S. 197–230. Hans Philippi: Territorialgeschichte der Grafschaft Büdingen. (= Schriften des Hessischen Amts für geschichtliche Landeskunde. Band 23). Elwert, Marburg 1954, bes. S. 69–72 und 148–151. Rupert Reiter: Die „schönste“ Zeit der Ronneburg. In: Denkmalpflege und Kulturgeschichte. 1/2006, S. 32f. Weblinks Burg & Museum auf burg-ronneburg.de Renaissanceschlösser in Hessen. (Projekt am Germanischen Nationalmuseum von Georg Ulrich Großmann) Luftbild der Ronneburg Ronneburg auf burgenwelt.org Burgenlexikon (Stefan Grathoff) Einzelnachweise Kulturdenkmal im Main-Kinzig-Kreis Nach der Haager Konvention geschütztes Kulturgut in Hessen Ronneburg Museum im Main-Kinzig-Kreis Aussichtspunkt in Hessen Ronneburg (Hessen) Bauwerk des Adelsgeschlechts Isenburg Ronneburg Ronneburg
3811977
https://de.wikipedia.org/wiki/Schildhorn
Schildhorn
Schildhorn ist eine Landzunge im Landschaftsschutzgebiet Grunewald im gleichnamigen Berliner Ortsteil Grunewald des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf. Die rund 110 Meter breite Halbinsel ragt rund 400 Meter in die Havel hinein und bildet eine kleine Bucht, die Jürgenlanke. Das Schildhorn, die Jürgenlanke und das denkmalgeschützte Ensemble Wirtshaus Schildhorn galten in den 1880er Jahren als Lieblingsziel der Berliner Sonntagsausflügler. Der Rückgang der Ausflugsgastronomie nach dem Zweiten Weltkrieg führte zu einem Funktions- und Attraktivitätsverlust des Gebietes, den der Berliner Senat trotz gezielter Gegenmaßnahmen nur zum Teil auffangen konnte. Anziehungspunkt der Besucher ist neben der Havellandschaft und der Gastronomie das Schildhorndenkmal, das Friedrich August Stüler nach Bleistiftskizzen Friedrich Wilhelms IV. von Preußen 1845 entworfen hatte. Das Denkmal gehörte zu einer bildhauerischen Dreiergruppe, mit denen der König in den „oft todten uninteressanten Gegenden“ der Mark Brandenburg Wendepunkte der Landesgeschichte markieren wollte. Es besteht noch, ist aber weitgehend in Vergessenheit geraten. Die auch „Schildhornkreuz“ genannte Säule symbolisiert die Schildhornsage aus dem 19. Jahrhundert um den Slawenfürsten Jacza von Köpenick, der hier 1157 im Gründungsjahr der Mark Brandenburg vor Albrecht dem Bären durch die Havel geflohen sein soll. Aus Dankbarkeit für seine Rettung habe sich Jacza zum Christentum bekannt und seinen Schild und sein Horn an einen Baum gehängt. Seither heiße die Landzunge Schildhorn. Geografie und Geologie Lage und Verkehrsanbindung Schildhorn und Jürgenlanke liegen im Berliner Grunewald am östlichen Havelufer zwischen dem südlichen Kuhhorn und der nördlichen DLRG-Wasserrettungsstation Postfenn. Die Halbinsel ragt in nördlicher Richtung in die Havel, die sich hier zu einer Seenkette erweitert, hinein und läuft auf die rund 800 Meter entfernte Halbinsel Pichelswerder zu. Das gegenüberliegende westliche Havelufer mit den Spandauer Ortsteilen Gatow und Wilhelmstadt (Ortslage Weinmeisterhöhe) ist rund 600 Meter entfernt. Landeinwärts in östlicher Richtung befindet sich die Revierförsterei Saubucht und nach weiteren rund 400 Metern folgt am Schildhornweg der Friedhof der Namenlosen, der Friedhof Grunewald-Forst. Nach weiteren rund 1,5 Kilometern schließt sich das Naturschutzgebiet Teufelsfenn mit dem Teufelssee an. Mehrere Wanderwege, darunter der Schildhornweg, führen aus dem Grunewald zur Landzunge. An das Straßennetz sind die Halbinsel und die Bucht ausschließlich über die Havelchaussee angebunden, die etwas oberhalb am Hang verläuft. Von der Chaussee führen zwei Stichstraßen hinunter. Eine führt zum Yachtclub Schildhorn und die zweite, die Straße Am Schildhorn, an dem kleinen Restaurantbetrieb Schildhornbaude vorbei zu einem öffentlichen Parkplatz, der kurz vor der Halbinsel am historischen Wirtshaus Schildhorn liegt. Dessen hauseigene Anlegestelle steuern nur gelegentlich kleinere Schiffe im Ausflugsverkehr an. Teil des Teltow Geologisch und auch kulturräumlich gehört Schildhorn zum Teltow, der nach Westen in der Havelniederung ausläuft. Die Havel trennt die weichseleiszeitliche Teltowhochfläche von der nordwestlich gelegenen Nauener Platte mit Gatow und Teilen von Wilhelmstadt. Während die Grundmoränenplatte des Teltow in weiten Teilen flachwellig ausgebildet und von Geschiebemergel bestimmt ist, dominieren im Grunewald außergewöhnlich mächtige (20 Meter und mehr) Schmelzwassersande aus der Vorstoßphase des Inlandeises. Im Bereich um Schildhorn hat das vorstoßende Eis die Sande zudem kräftig gestaucht (gestört), sodass hier ein bewegtes Relief einer Stauch-/Endmoräne das Landschaftsbild bestimmt. Insbesondere der Nordrand des – der Schildhorn-Halbinsel benachbarten – 61 Meter hohen Dachsberges weist eine mächtige Stauchung auf. Schildhorn folgt unmittelbar auf die westlichen Ausläufer des Dachsbergs, getrennt lediglich durch eine schmale Senke am Fuß der Landzunge. Gleich nach dem dort gelegenen Spielplatz steigen die Sande wieder an und bilden den für Schildhorn bestimmenden Höhenzug, der rund zehn Meter über der Wasseroberfläche der Havel liegt. Umgeben ist der Höhenzug der Halbinsel von einem flachen, zumeist nur wenige Meter breiten, Uferstreifen. Noch zum Ende des 19. Jahrhunderts überflutete Hochwasser gelegentlich die kleine vorgelagerte Senke und trennte Schildhorn vollständig vom Festland ab. Hydrologie und Klima Die Jürgenlanke hat eine Wasseroberfläche von rund sechs Hektar, das Volumen liegt bei rund 120.000 m³. Die geringe Wassertiefe von durchschnittlich zwei Metern und die Funktion der Bucht als Natürlicher Vorfluter der Havel bedingt eine starke Eutrophierung. Aufgrund des fehlenden Durchflusses findet ein stark eingeschränkter Wasseraustausch statt, der bis zur Stagnation des Wassers führen kann. Den Gewässergrund bildet eine im Vergleich zu anderen Havelbereichen mächtige (zwei bis sechs Meter) Faulschlammschicht. Aufgrund ihrer geringen Tiefe, mangelnder Strömung und Sonneneinstrahlung friert die Jürgenlanke im Winter schnell zu. Das Schildhorn und die Jürgenlanke liegen in einer gemäßigten Klimazone im Übergangsbereich vom atlantisch geprägten Klima Nord-/Westeuropas zum kontinentalen Klima Osteuropas. Das Klima entspricht dem der Berliner Stadtrandlagen. Dabei gehört das Schildhorn als Bestandteil des Grunewalds zu einer der innerstädtischen „Kälteinseln“. Siehe Abschnitt Klima im Hauptartikel: Berlin Schutzgebiete, Flora und Fauna, Freizeit Landschafts- und Wasserschutzgebiet Der erste amtliche Naturschützer Berlins, Max Hilzheimer, beantragte in den 1920er Jahren Schutzverordnungen für verschiedene Gebiete in der 1920 gegründeten Stadt Groß-Berlin, darunter das Naturschutzgebiet Schildhorn. Den Antrag für das Schildhorn setzte die Stadt nicht um. Seit 1963 ist die Halbinsel Bestandteil des 3063 Hektar umfassenden Landschaftsschutzgebietes Grunewald, das mit Verordnung vom 12. Juni 1963 gebildet wurde. Mit dem Flächennutzungsplan von 1978 ordnete die Stadt Berlin dem Gesamtbereich Schildhorn/Jürgenlanke den Status Öffentliche Grünfläche zu, mit der Folge, dass mit Ausnahme gastronomischer Einrichtungen Neubauten grundsätzlich nicht mehr möglich sind. Zu den seit den 1990er-Jahren innerhalb des LSG Grunewald ausgewiesenen Natura-2000-Gebieten (FFH und SPA) zählt das Schildhorn nicht. Die Landzunge liegt im Wasserschutzgebiet des Wasserwerks Tiefwerder. Der engere Kreis um die Brunnengalerie Schildhorn ist als Wasserschutzzone I unzugänglich. Flora und Fauna Ein dichter und geschützter Röhrichtgürtel umgibt den Uferstreifen der Landzunge. Die Böschungen und den Höhenzug prägt zu großen Teilen ein Mischwald, dessen Baumbestand vor allem aus Waldkiefern, Eichen und, nach den Kahlschlägen im Mittelalter und nach dem Zweiten Weltkrieg, aus Pioniergehölzen wie Sandbirken, Ebereschen und Robinien besteht. In den Strauchbereichen und Ufergebüschen wachsen Wildrosen und vereinzelte Späte Traubenkirschen. Ruderalpflanzen wie Große Brennnessel, die Nachtkerzenart Oenothera speciosa oder Kahles Bruchkraut dominiert in der Krautschicht. Die Trittrasenflächen haben hohe Anteile an Weidelgras und einjährigem Rispengras. Zahlreich vertreten ist stehendes und liegendes Totholz, das einer Vielzahl von Organismen Lebensraum bietet und große Bedeutung für den Artenschutz der zahlreichen Käfer hat. Einige abgestorbene und absterbende Bäume sind von Hopfen bewachsen. Unmittelbar nördlich schließt sich an das Schildhorn eine Auenlandschaft an, in der sich Restbestände des einst ausgedehnten Fahlweiden-Schwarzerlen-Auenwaldes und dichte Uferweidengebüsche finden. Die Jürgenlanke weist vereinzelte See- und Teichrosenbestände auf. Aufgrund der starken Eutrophierung der oft faulig riechenden Bucht treten gelegentlich Algenblüten auf. In den Röhrichten brüten zahlreiche Entenvögel und Rohrsänger, darunter der gefährdete Drosselrohrsänger. Das relativ feine, meist sandige Substrat bietet einen idealen Lebensraum für die Larven der Gemeinen Keiljungfer, einer Libelle aus der Familie der Flussjungfern. Im Wald dominieren Singvögel und gelegentlich ist das Klopfen eines Buntspechts zu hören. Aus der Klasse der Reptilien sind die Blindschleiche und die Zauneidechse vertreten. Kleinsäuger sind auf dem Schildhorn heimisch, während die im Grunewald zahlreichen Wildschweine sowie Rehe und Dachse selten auf die Halbinsel gelangen. Strand und Wege An der Spitze der Landzunge weitet sich der ansonsten schmale Uferstreifen und Schildhorn läuft mit einem rund 100 Meter langen Strandabschnitt aus. Der vielbesuchte Strand verfügt über die historische Wasserrettungsstation Schildhorn, die von der DLRG betrieben wird und deren Steg weit in die Havel hineinführt. Die Station ist nach dem Rettungsdienst aus dem Jahr 1908, der unterhalb des Grunewaldturms rund 1,6 Kilometer südlich liegt, die zweitälteste Berliner Wasserrettungsstation. Schildhorn ist als Abstecher und „Wissenspunkt 07“ Bestandteil des gut ausgeschilderten und mit Informationstafeln versehenen Havelhöhenwegs (Abschnitt 1). Der Wanderweg führt oberhalb der Jürgenlanke vorbei und dann hinunter in die schmale Senke am Fuß von Schildhorn. Vor dem in der Senke gelegenen Spielplatz teilt sich der Weg und umrundet die Halbinsel auf dem schmalen Uferstreifen in beide Richtungen. In der Mitte des hinteren Spielplatzbereichs führt eine Steintreppe auf den Höhenrückenweg, an dessen Ende das Schildhorndenkmal steht. Die Spielgeräte auf dem weitläufigen Waldspielplatz sind weitgehend aus Holz geformt. Neben einigen der üblichen Spielgeräte wie Schaukel, Rutsche oder Kletternetz gibt es Holzfiguren wie ein kleines Pferd mit Pferdewagen. Mit dem Konzept des Platzes und einer kindgerechten Informationstafel unter dem Titel „Spielplatz Schildhorn – Fürst Jaczo auf der Spur“ will die Berliner Senatsverwaltung die Kinder animieren, „in die Welt des Jaczo ein[zu]tauchen“. Allerdings enthält die Tafel die verbreitete Fehlinformation zur Namensgebung: „Fürst Jaczo hängte hier sein Schild und sein Horn an einen Baum, und gab so dem Schildhorn seinen heutigen Namen“. Geschichte Etymologie Die Schildhornsage legt zwar nahe, dass der Name Schildhorn auf sie zurückgeht, und einige Darstellungen und Gedichte betonen diese Namensgebung ausdrücklich (siehe unten). Dennoch ist die Ableitung nicht belegt. Vielmehr beruht der Name etymologisch sehr wahrscheinlich auf der Übersetzung eines slawischen Wortes als Schild und auf dem mittelniederdeutschen geografischen Begriff Horn für Landzunge, Landvorsprung; fast alle Namen größerer Ufervorsprünge an den Havelseen enden auf –horn, beispielsweise Kuhhorn, Breitehorn oder Weinmeisterhorn. Nach Gerhard Schlimpert leitet sich möglicherweise auch das Bestimmungswort Schild aus der Form der Landzunge ab, deren Höhenzug von der Havel aus gesehen der Form eines Schildes ähnelt. Wahrscheinlicher sei jedoch, dass Schild die Übersetzung des slawischen Gewässerflurnamens Styte sei, deren polabische Grundform Ščit dem urslawischen ščitž = Schild zugrunde liege. Die Styte habe in unmittelbarer Nähe des Schildhorns gelegen und ist 1590 und 1704 im Erbregister Spandau als Die Styte belegt. Im Slawischen sei der Flurname noch in den 1930er-Jahren lebendig gewesen. Siedlungsgeschichte bis 1860 Mit einiger Sicherheit gab es seit dem 12. Jahrhundert eine jungslawische Siedlung am Schildhorn, die bis in die frühdeutsche Zeit hinein Bestand hatte. Die erste schriftliche Erwähnung der Halbinsel unter dem Namen „Schildhorn“ findet sich im Spandauer Erbregister 1590 („[…] wo ein Garnzug der Havelfischer ‚der Schildhorn‘ heißt.“). Eine Urkunde von 1608 im Staatsarchiv Potsdam enthält die Schreibweise „Schilthorn“ und 1704 heißt es, wieder im Erbregister, „Schildthorn“. Als erste Landkarte verzeichnet die Oesfeldsche Karte der Gegend um Berlin aus dem Jahr 1786 die Halbinsel unter dem Namen Schildhorn. Die Statistisch-topographische Beschreibung der gesammten Mark Brandenburg aus dem Jahr 1805 von Friedrich Wilhelm August Bratring hat im Band 2 die Angabe „Schildhorn, Etablissement einiger Büdner, nahe bei Spandau“. 1845 ließ Friedrich Wilhelm IV. auf der Spitze der Landzunge das Schildhorndenkmal errichten. Daneben bestanden Schildhorn und Jürgenlanke bis zum Ende der 1850er-Jahre „[…] nur aus einigen wenigen strohgedeckten Fischerhäusern und einer Holzwärterbude der Königlichen Forst-Ablage, von der das im Grunewald geschlagene Holz über die Havel geflößt wurde.“ Eine Statistik von Richard Boeckh verzeichnet das Schildhorn 1861 erstmals mit zwei Wohnhäusern und ein Verzeichnis von 1897 nennt erstmals ein Gasthaus. Dabei liegen sämtliche, auch später entstandenen Gebäude und Einrichtungen nicht auf dem Schildhorn selbst, sondern kurz vor der Halbinsel im Uferbereich der Jürgenlanke. Lieblingsziel der Berliner in den 1880er Jahren Der Bau der Havelchaussee zwischen 1879 und 1885 verband Schildhorn, das rund dreizehn Kilometer Luftlinie von der damaligen Berliner Stadtgrenze entfernt lag, mit dem Berliner Wegenetz. Nach der Eröffnung der Wannseebahn im Jahr 1874 und insbesondere nach der Eröffnung des Bahnhofs Grunewald 1879, der eigens für den Ausflugsverkehr gebaut wurde, entwickelte sich Schildhorn zum Lieblingsziel der Berliner Sonntagsausflügler. Mehrere zehntausend Sonntagsausflügler sollen in den 1880er-Jahren am Bahnhof Grunewald angekommen und den Forst und insbesondere das Schildhorn besucht haben. Der Bau der ersten Restauranthalle des Wirtshauses am Schildhorn im Jahr 1881 trug dem Besucherandrang Rechnung. Da zu dieser Zeit das Picknick besonders beliebt war, durften die Gäste – bis in die 1950er-Jahre – auch im Wirtshaus ihre mitgebrachte Verpflegung verzehren. Das denkmalgeschützte Ensemble Wirtshaus Schildhorn Die Gebäude des Wirtshauses stehen seit 1985 als „ortsgeschichtlich wichtiges und seltenes Ensemble, […] das ein interessantes Kapitel der historistischen Wohnhaus- und Gastronomiearchitektur widerspiegelt“, als Baudenkmal unter Schutz. Das Gesamtensemble entstand ab 1865 in mehreren Baustufen auf einem halben Büdnergut an der Jürgenlanke. Die ersten Gebäude der 1860er und 1870er Jahre waren drei spätklassizistische Wohnhäuser zur Straßenseite. Das Haus Am Schildhorn Nr. 3 ließ 1870 ein Wegewärter errichten und mit vier Reliefmedaillons mit symbolischen Darstellungen der Jahreszeiten ausstatten. Nach Entwürfen von C. Jacob folgte 1881 ein hallenartiger eingeschossiger Restaurantsaal aus einer leichten Fachwerkkonstruktion mit getünchten Backsteinen im Gefache, der als Veranstaltungs- und Tagungsraum für bis zu 250 Personen diente. Den Bau schließt ein flaches Satteldach, dessen offener Dachstuhl zu den signifikanten Merkmalen des Innern gehört. Eine zweite Halle mit verglasten Arkaden aus dem Jahr 1894 geht wahrscheinlich auf Entwürfe von A. Merker zurück. Der im Stil der Neorenaissance gehaltene Putzbau weist in der Fassade große Rundbogenfenster mit zwischenliegenden Pilastern und einem breiten dominierenden Gesims mit hoher Attika auf. Der Veranstaltungsraum für 80 bis 100 Personen verfügt über eine Galerie-Bar. Angeschlossen ist ein Wintergarten mit einer Terrasse zum Wasser, der von hoch ragenden Gummibäumen gesäumt ist. Ein flaches Satteldach schließt auch diese Halle nach oben ab. Diese Bauwerke sind im Äußeren weitgehend erhalten. Rückgang der Ausflugsgastronomie und weitere Einrichtungen Bis 1900 hatten sich drei große Ausflugslokale etabliert: Schröder, Richter und Ritzhaupt. Mit dem Rückgang der Ausflugsgastronomie nach dem Zweiten Weltkrieg verloren Schildhorn und Jürgenlanke an Attraktivität. 1965 baute die IG Bau für ihr Gemeinnütziges Erholungswerk (GEW) auf dem südlich gelegenen Gelände des ehemaligen und abgerissenen Hauses Ritzhaupt das Hotel Haus Schildhorn, dessen Grundstück kurz vor der Halbinsel endet. Das Gartenlokal ist öffentlich zugänglich. Das nördliche Lokal brannte zum Teil ab, sodass als historische Gaststätte lediglich das mittlere Gelände des ehemaligen Hauses Richter verblieb. Zahlreiche Pächterwechsel begleiteten die weitere Geschichte des letzten Wirtshauses. In den 1970er-Jahren bestand hier eine Wienerwaldfiliale. Als auch diese Filiale aufgegeben hatte, verhinderte ein städtebaulich-landschaftsplanerisches Gutachten aus dem Jahr 1980 den geplanten Abriss der historischen Hallen. Unter einem neuen Pächter erfolgte 2003 nach vorübergehender Schließung eine Zwangsversteigerung, nachdem die Besucherzahlen im Grunewald infolge der Deutschen Wiedervereinigung und Öffnung der Berliner Mauer erneut zurückgegangen waren. Im Jahr 2008 verfügt das Ausflugslokal neben den beschriebenen Gebäuden über einen großen Sommergarten für bis zu 1000 Gäste direkt an der Havel/Jürgenlanke, eine 50 Meter lange Bootsanlegestelle, Beachbar und Strandkörbe. Während sich an das Wirtshausgelände nach Süden das Gewerkschaftshotel anschließt, folgt im Norden der Yachthafen Schildhorn mit einer langen Steganlage aus rund 65 Liegeplatzboxen und einem Restaurant. Funktions- und Attraktivitätsverlust Das im Auftrag des Berliner Senats erstellte Gutachten zu einer städtebaulich-landschaftsplanerischen Gesamtkonzeption Schildhorn/Jürgenlanke aus dem Jahr 1980 stellte einen Funktions- und Attraktivitätsverlust des Bereichs fest mit der Folge, dass das Schildhorn „mehr und mehr sein Gesicht zu verlieren drohte und den Eindruck des Ungeordneten aufkommen ließ.“ Die vorgeschlagenen Gegenmaßnahmen ließen sich aufgrund von Interessenkonflikten zwischen Landschaftsschutz, Wasserschutz, Denkmalschutz, Ausflugsgastronomie, Wassersport (Yachthafen) sowie Wander- und Badetourismus nur zum Teil umsetzen. Insbesondere der Ausbau zum neuen Erholungsschwerpunkt und zum Schwerpunkt für Wassersport ließ sich nicht realisieren. Mit Teilmaßnahmen wie der Anlage neuer Wege, dem Aufstellen von Informationstafeln und dem Abbau eines wilden, nicht genehmigten Campingplatzes trug der Berliner Senat dem Gutachten Rechnung. Kommunale Zugehörigkeit Schildhorn gehörte lange zum Einflussbereich der bis 1920 selbstständigen Stadt Spandau, die deutlich älter als die Berliner Gründungsteile Cölln und Berlin ist. Bereits die jungslawische Siedlung am Schildhorn war Bestandteil der Siedelkammer im Einzugsbereich der slawischen Burg Spandau. Auch unter deutscher Herrschaft war die Teltower Heide, der spätere Forst Grunewald, laut Landbuch Karls IV. von 1375 der Burg Spandau abgabe- und dienstpflichtig. Die Teltower Heide erhielt später die Namen Spandower Heide und ab 1792 Spandauer Forst, nicht zu verwechseln mit dem heutigen Spandauer Forst. Zu dieser Zeit war Schildhorn Teil des Amtes Spandau. Gemäß einer Karte des Teltowischen Creises gehörten dann 1788 sämtliche Gebiete außerhalb Berlins südlich der heutigen Heerstraße und damit auch die südliche Spandower Heide mit Schildhorn zum Landkreis Teltow. Das nördlich angrenzende Pichelswerder blieb im Landkreis Osthavelland. Schildhorn wurde Teil des Gutsbezirks Grunewald-Forst. Erst mit der Gründung Groß-Berlins im Jahr 1920 kamen der Gutsbezirk und Schildhorn im neugegründeten 9. Bezirk Wilmersdorf zu Berlin. Postalisch und telefonisch blieb Schildhorn Spandau noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbunden. So findet sich als Ortsangabe aus dieser Zeit in der Regel Schildhorn bei Spandau und die Telefon-Nummern waren dem Teleph.-Amt Spandau zugeordnet. Seit 2001 gehört Schildhorn zum durch die Fusion der bisherigen Bezirke Charlottenburg und Wilmersdorf gegründeten Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Die Schildhornsage Die Schildhornsage, oft auch als Schildhorn-Legende bezeichnet, bildet den Hintergrund für das Schildhorndenkmal und wurde in zahlreichen Erzählungen, Gedichten und Gemälden dargestellt. Historischer Hintergrund der Volkssage sind die letzten Kämpfe zwischen Slawen und Deutschen, nach denen der Askanier Albrecht der Bär 1157 die Mark Brandenburg gegründet hatte. Die Sage ging auf mündliche Überlieferungen zurück und existierte in den verschiedensten Ausschmückungen und Variationen hinsichtlich Zeit, Ort und Person. Nach Wilhelm Schwartz soll die Sage insbesondere in Pichelsdorf und weiteren Dörfern entlang der Havel sowie in Lietzow als „sich zum Theil widersprechende Volkstradition“ erzählt worden sein. Die älteste, noch sehr kurze Niederschrift stammt von Jacob Paul von Gundling aus dem Jahr 1730. Gundling stellte statt Jacza von Köpenick noch den Slawenfürsten Pribislaw in den Mittelpunkt des Geschehens, der 1157 bereits verstorben war. Als bekannteste Variante setzte sich seit den 1830er-Jahren schrittweise die Schildhorn- oder Jacza-Version durch, die sehr wahrscheinlich auf Forschungen des Archivars und Historikers Adolph Friedrich Johann Riedel beruht, der 1831 Pribislaw durch Jacza ersetzte. Kurz zusammengefasst hat die bekannteste Version der Sage folgenden Inhalt: Auf seiner Flucht vor Albrecht dem Bären soll Jacza auf seinem Pferd die Havel durchschwommen haben. Als er zu ertrinken drohte und der Slawengott Triglaw sein Flehen um Rettung nicht erhörte, habe er in seiner Not den bislang verhassten Christengott angerufen. Mit Hilfe des Christengottes habe er das rettende Ufer bei Schildhorn erreicht, sich aus Dankbarkeit zum Christentum bekehrt und seinen Schild und sein Horn an einem Baum zurückgelassen. Daher trage die Halbinsel den Namen Schildhorn. Das Schildhorndenkmal Die bedeutendste künstlerische Darstellung der Jacza-Sage bildet das Schildhorndenkmal, das der Architekt Friedrich August Stüler nach Bleistiftskizzen Friedrich Wilhelms IV. von Preußen 1845 entwarf. Hintergrund und Entwürfe Drei Monumente für die „todten uninteressanten“ Sandschellen der Mark Im Zuge der Romantik setzte um 1830 im Vormärz eine märkische Historienmalerei ein, die sich beispielsweise in den Werken des Landschaftsmalers Carl Blechen ausdrückte. Die „vaterländischen Romane“ von Willibald Alexis gelten als ihre populärste Spielart in der märkischen Literatur. Inspiriert durch seine Reisen durch Italien und Süddeutschland fasste der musisch begabte „Romantiker auf dem Thron“, Friedrich Wilhelm IV., den Entschluss, „mit der Errichtung von […] sinnvollen Monumenten die oft todten uninteressanten Gegenden“ der Mark zu beleben. Drei Wendepunkte der Landesgeschichte sollten den abgelegenen „Sandschellen“ Geschichte einhauchen und den Reisenden Anreize bieten; für alle drei Wendepunkte fertigte Friedrich Wilhelm IV. eigenhändig Bleistiftskizzen an: Denkmal (Grabkapelle) für Joachim Friedrich im Grünauer Forst, zum Gedenken an den dort 1608 verstorbenen Kurfürsten (nicht erhalten, wich wahrscheinlich 1942 der Erweiterung des Bahngeländes am Bahnhof Grünau). Kreuz am Kremmer Damm, zur Erinnerung an die Schlachten von 1332 und 1412. Erneuerung des bereits vorhandenen Kreuzes, darunter eine Sockelinschrift zum Gedenken an den Grafen von Hohenlohe, der an dieser Stelle gefallen war. Kreuz zu Schildhorn (Schildhorndenkmal), zur Gründung und Christianisierung der Mark 1157. Königliche Schildhornskizze für Stüler Das Lieblingsobjekt des Königs war das Schildhornkreuz, dessen Sage „die königliche Phantasie in ihrem urchristlichen Gehalt am stärksten angeregt und zur eigenwilligsten Denkmallösung der Dreiergruppe geführt“ hat. Schildhorn kannte Friedrich Wilhelm IV. wahrscheinlich gut. Die Landzunge lag am Havelufer des alten Jagdreviers der Hohenzollern. Gemeinsam mit seinen Brüdern, insbesondere mit Prinz Carl, hatte der König die Jagdtradition im Grunewald, beziehungsweise im damaligen Spandauer Forst, und im Jagdschloss Grunewald wiederbelebt. 1841 bestellte der König beim Schinkel-Schüler Stüler Entwurfszeichnungen für ein zu errichtendes Monument auf dem Schildhorn bei Spandau. Der preußische Hofbaurat Stüler überreichte seine Entwürfe 1843 und im April 1844 dem königlichen Kabinettsrat Karl Albrecht Alexander von Uhden. Die Entwürfe fanden nicht den Beifall des Königs. Stüler sah für die Spitze des Denkmals einen Greifen, das Pommersche Wappentier, vor, während sich der König nach Mitteilung Uhdens „auf der Säule nicht den Greif […], sondern entweder ein einfaches Kreuz oder gar nichts“ wünschte. Seine Vorstellungen skizzierte Friedrich Wilhelm IV. 1844 wie nebenstehend abgebildet eigenhändig. Mit der Kabinettsorder vom 26. Juni 1844 beauftragte er dann den zwei Jahre zuvor zum Architekten des Königs ernannten Stüler offiziell mit der Ausführung. Die Vorgaben des Königs variierte Stüler nur noch leicht und entwarf ein gleicharmiges Kreuz für die Spitze. Baugeschichte Errichtung 1845 und Inschrift 1893 Im Sommer 1845 stellte der Baurat Christian Gottlieb Cantian die aus Sandstein geformte Gedenksäule auf der Spitze des Höhenrückens von Schildhorn fertig. Die strenge achteckige Säule stilisiert einen Baumstumpf mit angedeuteten Ästen und ähnelt nach Feststellung der Kunsthistorikerin Eva Börsch-Supan einer romanischen Säule mit Astansätzen an der sächsischen Stiftskirche Wechselburg. Auf halber Höhe ist ein Rundschild aus Metall befestigt. Das krönende gleicharmige Kreuz symbolisiert Jaczas Hinwendung zum Christentum. Seine Kreisform geht auf das Trierer Marktkreuz von 958 zurück, das Erzbischof Heinrich I. als Hoheitszeichen gestiftet hatte. Es knüpft zudem an Schinkels zweiten Entwurf zum Ottobrunnen in Pyritz an. Das Denkmal fiel höher als zunächst geplant aus, statt 16 lag die Gesamthöhe bei 24 Fuß (knapp neun Meter). Die Säule ruhte ursprünglich auf einer achtkantigen Plinthe, die auf einem viereckigen Sockel eingezogen war. Um dem Sockel in dem weichen Teltowboden Halt zu geben, ließ Cantian ihn auf einem weiteren, flacheren und quadratischen Sockel verankern, der aus Feldsteinen gemauert war. Der vom König bereitgestellte Etat in Höhe von 420 Reichstalern wurde aufgrund der höheren Ausführung überschritten. 1893 wurde an dem wuchtigen Denkmalsockel folgende Inschrift in märkisch-plattdeutscher Mundart angebracht: „Grot Wendenfürst, dorch Dine Mut Es hier dat Denkmal obgebut, doch hite geft kin Fersten mehr, De drever swemmt mit Schild und Speer.“ Ehemalige Inschrift Denkmalsockel „Großer Wendenfürst, durch Deinen Mut ist hier dies Denkmal aufgebaut, doch heute gibt’s keinen Fürsten mehr, der darüber schwimmt mit Schild und Speer.“ Übersetzung Die Inschrift war mit F.v.B. gezeichnet, wurde 1910 erneuert und war spätestens 1935 nicht mehr vorhanden. Wiederaufbau 1954 und Denkmalpflege Nach seiner Zerstörung im Jahr 1945 rekonstruierten Lehrlinge der senatseigenen Dahlemer Steinmetzwerkstatt unter der Leitung von Karl Wenk das Denkmal 1954 mit Hilfe von Fotografien und vier Trümmerstücken. Der Wiederaufbau erfolgte auf einem im Vergleich zum Original erhöhten Sockel, der das Denkmal auf der inzwischen mit Bäumen bewachsenen Schildhornkuppe besser zur Geltung bringen sollte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht das Denkmal versteckt hinter Bäumen, während es zu seiner Bauzeit von allen Seiten und auch von der Havel sehr gut sichtbar war. Mit dem im Gutachten des Berliner Senats aus dem Jahr 1980 für den Bereich Schildhorn/Jürgenlanke festgestellten Funktions- und Attraktivitätsverlust geriet auch das Denkmal, hinter hohen Bäumen und Sträuchern verborgen, zunehmend in Vergessenheit. Ein gartendenkmalpflegerisches Gutachten aus dem Jahr 1989 stufte das vernachlässigte Denkmal aufgrund seiner Geschichte und seines Symbolgehalts als erhaltenswert ein. Die vorgeschlagenen Maßnahmen, wie eine bessere Einbindung in die Landschaft, das Aufstellen von Bänken und die Installation von Informationstafeln, die Reinigung des Denkmals und die Ausbesserung von Rissen und Abbrüchen, setzte die Verwaltung kaum um. Lediglich am Spielplatz und am Fuß der Halbinsel weisen neuere Informationstafeln des Havelhöhenwegs auf das Denkmal und seine Geschichte hin. Das Denkmalumfeld und das Denkmal selbst, dessen Sockel bröckelt, erscheinen auch im Jahr 2008 ungepflegt. Das Denkmal in der Malerei Zahlreiche Fotografien und Gemälde hielten das Schildhorndenkmal im Bild fest. Die bekannteste Darstellung ist das oben als Eingangsbild wiedergegebene Gemälde von Eduard Gaertner aus dem Jahr 1848. Das Bild zeigt die Säule drei Jahre nach ihrer Fertigstellung, als sie auf der damals unbewaldeten Landzunge wie eine Landmarke noch aus allen Richtungen weithin sichtbar war. Gaertner, dessen Stil sich nach dem Tod seines Förderers Friedrich Wilhelms III. von der klassizistischen Architekturmalerei zum eher romantischen Blick auf Natur und Geschichte gewandelt hatte, hielt auch die beiden anderen Monumente der Dreiergruppe für die „todten uninteressanten“ Sandschellen der Mark im Bild fest. Der Zyklus war für die königliche Aquarellsammlung bestimmt. Rezeption Kunstkritik Die Ausführung des Denkmals wurde heftig kritisiert. Der Schauspieler, Theaterdichter und Publizist Louis Schneider, Mitglied im Tunnel über der Spree und dem 1861 verstorbenen Friedrich Wilhelm IV. als offizieller Vorleser treu ergeben, monierte 1869 unter anderem die Form des Kreuzes. Der Architekt und Redakteur K.E.O. Fritsch führte das Schildhorndenkmal auf seiner Gedenkrede vom 29. Januar 1900 zum hundertsten Geburtstag Stülers als Beispiel für die weniger gelungenen Arbeiten des Baumeisters an. Namentlich unter den von Friedrich Wilhelm IV. errichteten Denkmälern fänden sich bezeichnende Beispiele einer kleinlichen und künstlerisch unreifen Lösung: „Es sei nur an das Denkmal auf dem Schildhorn erinnert.“ Theodor Fontane hatte bereits 1860 geschrieben: Gregor Geismeier hingegen kritisierte 1999 wiederum Fontanes Ausführungen, da dem Schriftsteller der Mark unter anderem die historischen Bezüge zum Trierer Marktkreuz und zur Stiftskirche Wechselburg entgangen seien. Verglichen mit der späteren Monumentalbildhauerei, die ihren Höhepunkt in der Siegesallee Kaiser Wilhelms II. erreichte, sei das Schildhorndenkmal von eigenwilliger und schöpferischer Phantasie geprägt und „ein originelles Seitenstück zur regen Diskussion um die vaterländische Frühgeschichte“ in der damaligen Zeit. Die Kunstkritikerin Eva Börsch-Supan wiederum vermisst die Geschmeidigkeit und den Trotz Stülers, dem „geistreichen königlichen Dilettanten“ entschieden entgegenzutreten. Dann wäre manches königliche Monument ein Projekt geblieben. In der Zeit des Nationalsozialismus Während das Dritte Reich den Gründer der Mark und Gegenspieler Jaczas, Albrecht den Bären, zumindest gelegentlich für seine Ideologie vereinnahmt hatte, liegen für eine Instrumentalisierung Schildhorns durch nationalsozialistische Propaganda keine Belege vor. Zwar markierte Schildhorn Friedrich Wilhelms IV. „Wendepunkt der Landesgeschichte“, doch stand im Schildhornkreuz die Christianisierung der Mark im Vordergrund. Der Beitrag Pappenheims in der Spandauer Zeitung vom 13. Juli 1935 zum 90-jährigen Denkmaljubiläum enthält keine nationalistischen Inhalte und auch keine vaterländischen Glorifizierungen, während Loblieder auf den Deutschen Frauenarbeitsdienst oder die Jugend im neuen Reich das redaktionelle Umfeld des Artikels füllen. Eberhard Faden wies 1937 in der Festschrift zur 700-Jahrfeier Berlins darauf hin, dass polnische Chroniken zum Zug Jaczas nach Brandenburg schweigen, und dass die Schildhornsage von der Taufe Jaczas, die Friedrich Wilhelm IV. den Anlass gab, die Schildhornsäule zu errichten, erst im 19. Jahrhundert aufkam. Um Schildhorn blieb es in dieser Zeit so ruhig, dass sich hier noch 1943 Juden verstecken konnten. Die Autorin Inge Deutschkron beschrieb 2007 in einem Festvortrag der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, wie sie sich in das Bootshaus in Schildhorn rettete. Das Bootshaus hatten Freunde der Autorin 1933 erworben, um „in ihrem Ruderboot auf der Havel zu fahren, ohne dass ihre politischen Gespräche belauscht werden konnten.“ Literatur Ausführliche Literaturangaben zur Sage im Hauptartikel Schildhornsage Natur, Etymologie, Geschichte, Architektur Eberhard Bohm: Die letzten 150 Jahre des hevellischen Alt-Spandau. In: Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Slawenburg, Landesfestung, Industriezentrum. Untersuchungen zur Geschichte von Stadt und Bezirk Spandau. Colloquium-Verlag, Berlin 1983, ISBN 3-7678-0593-6, S. 36–55. Karl Ludwig, Falk Trillitzsch u. a.: Schildhorn / Jürgenlanke. Städtebaulich-landschaftsplanerisches Gutachten zur Erlangung von Nutzungskonzeptionen für den Bereich Schildhorn / Jürgenlanke in Berlin (West). Auftraggeber: Der Senator für Bau- und Wohnungswesen, Berlin 1980 Kurt Pomplun: Schildhorn – „Lieblingsziel der Berliner Sonntagsausflügler“. In: Kurt Pomplun: Von Häusern und Menschen. Berliner Geschichten. 2. Auflage. Verlag Bruno Hessling, Berlin 1976, S. 55–59 Carola Sailer: Gartendenkmalpflegerisches Gutachten Schildhorndenkmal, Berlin-Wilmersdorf. Auftraggeber: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz, Abt. III – Gartendenkmalpflege. Auftragnehmer: HORTEC – Garten- und Landschaftsplanung GbR, Berlin 1989. Gerhard Schlimpert: Brandenburgisches Namenbuch, Teil 3, Die Ortsnamen des Teltow . Hermann Böhlaus Nachf., Weimar 1972, S. 244f. Denkmal Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Teil 1. Die Grafschaft Ruppin, Anhang Das Schildhorn bei Spandau. Zahlreiche Ausgaben. Gregor Geismeier: Stülers „sinnvolle Monumente“ in der Mark. In: Die Mark Brandenburg. Marika Großer Verlag, Berlin 1999, Heft 35 (Der Architekt des Königs Friedrich August Stüler), S. 8–14 Hans Eugen Pappenheim: 90 Jahre Säule auf dem Schildhorn. In: Spandauer Zeitung, 13. Juli 1935. 1. Beilage Louis Schneider: Das Schildhorn-Denkmal. In: Louis Schneider (Hrsg.): Mittheilungen des Vereins für die Geschichte Potsdams 4 (IV. Theil). Gropius’sche Buch- und Kunsthandlung (A. Krausnick), Potsdam 1869, S. 275–281 Felix Adalbert K. Kuhn: Jaczo von Köpenick. (literaturport.de) In: Märkische Sagen und Märchen, Berlin 1843; Darstellung der Sage Weblinks Halbinsel Schildhorn bei Berlin.de Schildhorn – der vergessene Ort. Schildhorn-Initiative Schildhorndenkmal bei Stadt- und Kulturführer Berlin Schildhorn und Schildhorndenkmal. Der Grunewald im Spiegel der Zeit Einzelnachweise und Anmerkungen Berlin-Grunewald Bauwerk von Friedrich August Stüler Denkmal in Berlin Kulturdenkmal (Berlin) Halbinsel (Berlin) Halbinsel (Europa) Binnenhalbinsel Christentumsgeschichte (Mittelalter) Christentumsgeschichte (Berlin) Sage, Legende Friedrich Wilhelm IV.
3953367
https://de.wikipedia.org/wiki/Heiratsurkunde%20der%20Kaiserin%20Theophanu
Heiratsurkunde der Kaiserin Theophanu
Die sogenannte Heiratsurkunde der Kaiserin Theophanu (Staatsarchiv Wolfenbüttel 6 Urk 11) ist eine frühmittelalterliche Dotationsurkunde für die byzantinische Prinzessin Theophanu, die aus Anlass ihrer Vermählung mit Kaiser Otto II. im Jahre 972 zur Kaiserin des ostfränkisch-deutschen Reiches gesalbt wurde und später das Reich regierte. Das von Otto II. ausgestellte Rechtsdokument ist ein Beispiel für die politischen und kulturellen Kontakte zwischen dem abendländischen Kaiserreich und dem byzantinisch-orthodoxen Kulturkreis im 10. Jahrhundert. Als Zeugnis ottonischer Kunst unter Einfluss byzantinischer Vorbilder gilt die in einer kalligrafischen Abschrift überlieferte Urkunde als eines der schönsten Kunstwerke der frühmittelalterlichen Diplomatik. Historischer Hintergrund Nach dem Untergang Westroms im Jahr 476 war das Byzantinische Reich der einzige Nachfolgestaat des Imperium Romanum. Die Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahre 800, aus byzantinischer Sicht eine Usurpation, bedeutete eine Herausforderung für den in Konstantinopel residierenden Kaiser. Die Übernahme des karolingischen Kaisertitels durch Otto I. im Februar 962 erneuerte das Zweikaiserproblem. 967 verschärften sich die Konflikte zwischen Otto I. und dem byzantinischen Kaiser Nikephoros II. Phokas um die Vorherrschaft in Italien. Am 25. Dezember 967 erhob Papst Johannes XIII. in Rom Otto II. im Beisein seines Vaters Otto I. zum Mitkaiser. Im Herbst 968 kam es in Capua und Benevent sowie in Apulien zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien, die bis 970 andauerten. Gleichzeitig versuchten Gesandtschaften beider Seiten eine diplomatische Lösung des Konflikts zu finden. Das Ziel Ottos I. war die Anerkennung seiner Kaiserwürde durch Byzanz und die Klärung der Grenzfragen im Süden Italiens. Die Einigung sollte durch die Heirat seines Sohnes, des jungen Otto II., mit einer byzantinischen Kaisertochter bekräftigt werden. Für diese politisch bedeutsame Hochzeit war eine echte Porphyrogenneta, Anna, die Tochter des vorherigen byzantinischen Kaisers Romanos II. vorgesehen. Nikephoros weigerte sich jedoch, eine Purpurgeborene außerhalb des eigenen Landes zu verheiraten. Der Gesandte Ottos, Erzbischof Gero von Köln, akzeptierte nach zähen Verhandlungen mit dem Nachfolger Nikephoros’, Johannes I. Tzimiskes, schließlich eine Verwandte, wahrscheinlich eine Nichte des neuen Kaisers, die nicht „unter dem Purpur geboren“ worden war, Theophanu. Die „Heiratsurkunde der Kaiserin Theophanu“ dokumentiert die Vermählung des siebzehnjährigen Mitkaisers des Heiligen Römischen Reiches Otto II. mit der zwölfjährigen Prinzessin Theophanu. Am 14. April 972 vollzog Papst Johannes XIII. die Trauung in der Peterskirche zu Rom. Die Heirat bedeutete politisch die Anerkennung des ottonischen Kaisertums durch das Byzantinische Reich. Aus Anlass der Hochzeit übertrug Otto II. Theophanu eine umfangreiche materielle Ausstattung (legitima dos) auf Lebenszeit zur Nutzung. Die Prachtentfaltung, mit der das Herrscherhaus der Ottonen die byzantinische Prinzessin in Italien empfing, diente dazu, seine Gleichrangigkeit mit dem Kaiserhof von Konstantinopel zu demonstrieren. Mit der Urkunde wies Otto seiner Braut nicht nur umfangreiche Dotalgüter zu, sondern versprach ihr auch die Aufnahme in das consortium imperii, die Teilhabe an der kaiserlichen Herrschaft über das Reich. Theophanu brachte 980 den Thronerben Otto III. zur Welt und regierte nach dem frühen Tod Ottos II. im Jahre 983 das Kaiserreich. Theophanu verwahrte das Dokument wahrscheinlich im Oktober 989 vor dem Aufbruch zu ihrem Rom- und Italienzug im ottonischen Familienstift in Gandersheim. Dort wurde es um 1700 von Johann Georg Leuckfeld wiederentdeckt und veröffentlicht. Gottfried Wilhelm Leibniz erkannte als einer der ersten die geschichtliche Bedeutung der Urkunde und nahm sie in seine „Welfengeschichte“ auf. Nach der Säkularisation des Stiftes Gandersheim 1810 kam die Urkunde mit weiteren Archivalien in das Staatsarchiv Wolfenbüttel, heute Abteilung des Niedersächsischen Landesarchivs, wo sie bis heute aufbewahrt wird. Innere Merkmale der Urkunde Zu den inneren Merkmalen einer Urkunde gehört neben der sprachlichen Gestaltung und dem Aufbau des Textes der Rechtsinhalt des Schriftstücks. Die Spannungen zwischen byzantinischem und abendländischem Kaisertum finden auch im Kontext der Heiratsurkunde von Theophanu und Otto II. ihren Ausdruck. Kaiser Otto der Große und sein Sohn und Mitkaiser Otto II. betonen gegenüber dem byzantinischen Kaiser ausdrücklich ihre Stellung als einzige rechtmäßige Nachfolger der römischen Imperatoren. Sie verweigern Kaiser Johannes I. Tzimiskes den ihm zustehenden Titel basileus ton Romaion (Kaiser der Römer) und nennen ihn Constantinopolitanus imperator (Kaiser von Konstantinopel). Der Führungsanspruch des Papstes, der die Trauung vollzog, über den Patriarchen von Konstantinopel in der Gesamtkirche wird in feierlichen und anspruchsvollen Formulierungen deutlich, so wird Papst Johannes XIII. als der „hochheilige und universale Papst“ (Iohannis sanctissimi et universalis papae) bezeichnet. Die Heiratsurkunde hielt fest, welche Einkünfte und Pfründen die zukünftige Kaiserin haben sollte. Die Urkunde beginnt mit einer Arenga, einer allgemein gehaltenen, theologisch anspruchsvollen, rhetorischen Einleitung in der Art von Predigten, wie sie bei Trauungen gehalten wurden. Im dispositiven Teil der Urkunde, der Beschreibung des eigentlichen rechtlichen Vorgangs, übertrugen die Kaiser – Otto I. und Otto II. – der neuen Gemahlin die kaiserlichen Rechte und Einkünfte aus der Provinz Istrien mit der Grafschaft Pescara in Italien, den Provinzen Walcheren in den Niederlanden und Wichelen in Belgien mit der Abtei Nivelles, insgesamt 14.000 Hufen umfassend, sowie Pfalzen (curtes) und Wirtschaftshöfe in Boppard, Tiel, Herford, Tilleda und Nordhausen mit allem Zubehör. Beschreibung Bei der 144,5 cm langen und 39,5 cm breiten Urkunde handelt es sich um einen Rotulus, der aus drei aneinandergeklebten Pergamentstücken besteht und zusammengerollt wurde. Eine Entstehung in der Reichsabtei Fulda wird vermutet, die Malerei schreibt Hartmut Hoffmann dem sogenannten Gregormeister zu. Eine wissenschaftliche Untersuchung des Purpurpergaments in München ergab 1966, dass für die Färbung Mennige und Färberkrapp (Rubia tinctorum) verwendet wurden, ein Hinweis darauf, dass der Beschreibstoff eher im Westen als im Byzantinischen Reich bearbeitet wurde. Das Dokument ist einer der wenigen Belege für die Verwendung von Krapplack im Frühmittelalter. Der Purpurgrund ist in der Art kostbarer byzantinischer Seidenstoffe gestaltet: 14 ganze und zwei halbe kreisrunde Medaillons hinterblenden das Schriftfeld. Die Flächen außerhalb der Medaillons sind indigofarben und mit pflanzlichen und ornamentalen Motiven gefüllt. Die Medaillons enthalten zoomorphe (tierische) Darstellungen. Jeweils zwei gegenständig angeordnete Paare kämpfender Tiere erscheinen nebeneinander. Abwechselnd sind greifenartige Mischwesen mit Hirschkühen in den Fängen und Löwen, die Pferde oder Rinder schlagen, dargestellt. Die Motive lassen sich bis in die altorientalische Kunst zurückverfolgen. Das Schriftfeld ist von schmalen goldenen Randleisten mit Akanthusblattmotiven in Blau und Weiß eingefasst. Die obere Leiste enthält neben pflanzlichem und zoomorphem Dekor auch Medaillons mit Halbfiguren: In der Mitte Christus flankiert von Maria und Johannes dem Täufer sowie den vier Evangelisten. Zwischen den Medaillons befinden sich sechs Tierpaare: jeweils abwechselnd Pfauen, die aus einem Kantharos trinken, und Löwen, die von einem Rebstock Trauben fressen. Die Hochzeitsurkunde ist das älteste Beispiel einer illuminierten, das heißt mit Buchschmuck versehenen Urkunde. Auf dem durch malerische Mittel hervorgehobenen Purpurgrund steht der Text mit Goldschrift in kalligrafischer Minuskel. Die Goldtinte wurde aus einer Legierung von Silber und pulverisiertem Blattgold hergestellt. Einige Zeilen und Worte im Text wurden durch Majuskeln in Capitalis rustica hervorgehoben, zum Beispiel die Invocatio, die Anrufung der heiligen und unteilbaren Dreieinigkeit, und die Intitulatio, der Name und die Titulatur des Ausstellers, die zusammen die Einleitung der Urkunde, das eröffnende Protokoll bilden, sowie die Signumzeilen mit den Monogrammen der Kaiser Otto I. und Otto II. Der Erhaltungszustand der Theophanu-Urkunde ist gut. Das Pergament hat sich im Laufe der Zeit etwas verzogen und in der Mitte des Dokuments befindet sich eine 15 Zentimeter lange Falte. Es wird in der ständigen Ausstellung des Niedersächsischen Staatsarchivs in einem abgedunkelten Raum in einer klimatisierten Vitrine unter Einhaltung der erforderlichen Temperatur und Luftfeuchtigkeit aufbewahrt und ist der Öffentlichkeit zugänglich. Kanzleioriginal oder Prunkabschrift In der Geschichtswissenschaft und in der Kunstgeschichte ist umstritten, ob die Purpururkunde das rechtlich relevante Original oder eine gleichzeitige bzw. etwas spätere Prunkabschrift ist. Obwohl in der Corroboratio die Beglaubigung durch ein Siegel und durch den Vollziehungsstrich, das Handzeichen des Herrschers in seinem Monogramm, angekündigt wird, ist an der Urkunde weder ein Siegel angebracht noch zeigt sie Spuren einer Besiegelung. Hans K. Schulze und Hans Goetting halten es für möglich, dass die Urkunde anlässlich der Hochzeitsfeierlichkeiten verlesen und der Braut überreicht wurde. Otto I. soll mit dem feierlichen und rechtserheblichen Akt der Verlesung und Übergabe der Purpururkunde das Ziel verfolgt haben, den Rang Theophanus, die keine purpurgeborene Kaisertochter war, zu steigern. Walter Deeters deutete die im Text als Gliederung vorhandenen Trennpunkte als Lesehilfen, die zeigen, dass die Urkunde zur Verlesung bestimmt war. Die Schriftrolle könnte in diesem Fall nach Art der kaiserlichen byzantinischen Auslandsschreiben mit einer um die Rolle gelegten Schnur verschlossen gewesen sein, deren Enden durch ein Goldsiegel plombiert war. Bekannte Diplomatiker wie Theodor von Sickel und Carlrichard Brühl und Byzantinisten wie Werner Ohnsorge vertreten die Auffassung, dass die Theophanu-Urkunde in Wolfenbüttel kein Original im Sinne der Diplomatik ist, und dass neben dieser Prachtausfertigung auch eine eigentliche Kanzleiausfertigung vorhanden gewesen sein muss, die nicht erhalten ist. Darauf deuten nicht nur das fehlende Siegel der Purpururkunde, sondern auch das untypische Erscheinungsbild der Rekognitionszeile, die mit der Nennung des Namens des Kanzlers eingeleitet und mit dem Wort recognovi abgeschlossen wurde, sowie ein Schreibfehler im Namen des Kanzlers Willigis hin. Einordnung und Nominierung zum Weltdokumentenerbe Im Römischen und Byzantinischen Reich war die Farbe Purpur dem Kaiserhaus vorbehalten. Kaiserurkunden, bei denen der Text mit Goldtinte auf purpurgefärbtem Pergament eingetragen wurde, waren dort Originale mit Besiegelung. Im Westen waren Purpururkunden meist Empfängerausfertigungen von Kanzleioriginalen in normaler Schrift- und Pergamentausstattung. Purpurgetränktes Pergament wurde nur in seltenen Fällen als Beschreibstoff für Urkunden verwendet. Die Theophanu-Urkunde ist eine der prächtigsten und künstlerisch hochwertigsten unter den wenigen erhaltenen Purpururkunden, die auch die zweite ottonische Prunkurkunde, das Privilegium Ottonianum, in der künstlerischen Ausführung übertrifft. Die Heiratsurkunde wurde im Jahre 2005 zur Aufnahme in das Weltkulturerbe (Weltdokumentenerbe) vorgeschlagen. Die Entscheidung des Internationalen Beraterkomitees (International Advisory Committee) der UNESCO fiel jedoch zu Gunsten des Handexemplars der Brüder Grimm der Erstausgabe der Kinder- und Hausmärchen von 1812/1815 und der Weltkarte Martin Waldseemüllers. Quellen und Regesten Thietmar von Merseburg, Chronicon (= MGH SS rer. Germ. Nova Series. Band 9). Herausgegeben von Robert Holtzmann. Berlin 1935. (Digitalisat). Thietmar von Merseburg, Chronik. Neu übertragen und erläutert von Werner Trillmich. Mit einem Nachtrag von Steffen Patzold. (= Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe. Band 9). 9., bibliographisch aktualisierte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2011, ISBN 978-3-534-24669-4. [Urkunde Nr. 21, beginnend auf S. 28]. Johann Friedrich Böhmer: Regesta imperii. Band: 2,2, Sächsisches Haus: 919–1024; 2, Die Regesten des Kaiserreiches unter Otto II. 955 (973) - 983, nach Johann Friedrich Böhmer neubearbeitet von Hanns Leo Mikoletzky, Wien 1950, Nr. 598 (online). Literatur Carlrichard Brühl: Purpururkunden, in: Kurt-Ulrich Jäschke, Reinhard Wenskus (Hrsg.), Festschrift für Helmut Beumann zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1977, S. 3–21 = Carlrichard Brühl: Aus Mittelalter und Diplomatik, Gesammelte Aufsätze. München/Zürich 1989, Bd. 2, S. 601–619. Walter Deeters, Dieter Matthes: Die Heiratsurkunde der Kaiserin Theophanu, 972 April 14 Rom. Eine Ausstellung des Niedersächsischen Staatsarchivs in Wolfenbüttel (= Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung. Beiheft. Band 16). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1972, ISBN 3-525-85586-9. Anton von Euw: Ikonologie der Heiratsurkunde der Kaiserin Theophanu. In: Anton von Euw, Peter Schreiner (Hrsg.): Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin. Köln 1991, Band 2, S. 175–191. Wolfgang Georgi: Ottonianum und Heiratsurkunde 962/972, in: Anton von Euw, Peter Schreiner (Hrsg.): Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin. Köln 1991, Band 2, S. 135–160. Hans Goetting, Hermann Kühn: Die sogenannte Heiratsurkunde der Kaiserin Theophanu, (MGH DO. II. 21), ihre Untersuchung und Konservierung. In: Archivalische Zeitschrift 64, 1968, S. 11–24. Rudolf Grieser: G. W. Leibniz und die sogenannte Heiratsurkunde der Kaiserin Theophanu. In: Braunschweigisches Jahrbuch 51, 1970, S. 84–90 (online). Hartmut Hoffmann: Heiratsurkunde der Theophanu. In: Michael Brandt, Arne Eggebrecht (Hrsg.): Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen. Katalog der Ausstellung, Hildesheim 1993. Mainz 1993, Band 2, S. 62–65. Dieter Matthes: Die Heiratsurkunde der Kaiserin Theophanu 972 April 14. Faksimile Ausgabe nach dem Original im Niedersächsischen Staatsarchiv in Wolfenbüttel (6 Urk 11). Kommentar, Transkription und Übersetzung von Dieter Matthes, Stuttgart, Müller und Schindler 1980. Dieter Matthes (Hrsg.): Die Heiratsurkunde der Theophanu – 972 April 14, Sonderveröffentlichung der Niedersächsischen Archivverwaltung anlässlich des X. Internationalen Archivkongresses in Bonn, Niedersächsisches Staatsarchiv Wolfenbüttel, Wolfenbüttel 1984. Hans K. Schulze: Die Heiratsurkunde der Kaiserin Theophanu. Die griechische Kaiserin und das römisch-deutsche Reich 972-991. Veröffentlichungen der niedersächsischen Archivverwaltung, Sonderband, Hannover, Hahnsche Buchhandlung 2007, ISBN 978-3-7752-6124-1. Theodor von Sickel: Das Privilegium Otto I. für die römische Kirche vom Jahre 962. Wagner, Innsbruck 1883. Vera Trost: Chrysographie und Argyrographie in Handschriften und Urkunden. In: Anton von Euw, Peter Schreiner (Hrsg.): Kaiserin Theophanu. Begegnung des Ostens und Westens um die Wende des ersten Jahrtausends. Gedenkschrift des Kölner Schnütgen-Museums zum 1000. Todesjahr der Kaiserin. Köln 1991, Band 2, S. 337–339. Gunther Wolf (Hrsg.): Kaiserin Theophanu. Prinzessin aus der Fremde – des Westreichs Große Kaiserin. Böhlau, Köln u. a. 1991, ISBN 3-412-05491-7. Weblinks Die Hochzeitsurkunde der Theophanu (lateinisch, deutsch) Einzelnachweise Kunst des Mittelalters Deutsche Geschichte (10. Jahrhundert) Theophanu (HRR) Liudolfinger Historisches Dokument (Mittelalter) 972 Recht (Heiliges Römisches Reich) Diplomatik Handschrift im Niedersächsischen Landesarchiv (Abteilung Wolfenbüttel)
4106956
https://de.wikipedia.org/wiki/Maria%20und%20Joseph
Maria und Joseph
Maria und Joseph („Je vous salue, Marie“) ist ein schweizerisch-französischer Spielfilm des Filmemachers Jean-Luc Godard aus dem Jahre 1984. Godard paraphrasiert die biblische Geschichte von Maria und Josef von Nazaret und der Jungfrauengeburt Jesu in die Gegenwart und in die Umgebung von Genf, wo der Filmemacher als Protestant aufgewachsen ist. In einem zweiten Handlungsstrang verwirft ein Professor die Evolution, die naturwissenschaftliche Erklärung für die Entstehung des Menschen. Weil der Film an ein katholisches Dogma rührt und die Protagonistin nackt zeigt, rief er bei konservativen Katholiken teils heftige Proteste hervor. Papst Johannes Paul II. sah die Jungfrau Maria herabgewürdigt, es gab in katholischen Kreisen jedoch auch Zuspruch zum Werk. Die Filmliteratur versteht diesen Film weniger als Beitrag zu einem religiösen Thema, denn vielmehr als eine Erkundung der Möglichkeiten, mit dem Medium Film das nicht Darstellbare auszudrücken. Dabei bedient sich Godard unkonventioneller Stilmittel wie einer mäandernden Erzählweise oder einer zerhackten und den Bildern entgegenstehenden Musik, um Zuschauer aus gewohnten Muster der Rezeption zu zwingen, sowie einfacher Naturbilder, des Humors und der Ironie. Das Werk hat Autoren verschiedener Disziplinen zu zahlreichen Deutungen angeregt. Godards Hauptfilm vorangestellt ist ein Kurzfilm seiner Gefährtin Anne-Marie Miéville zum Thema mütterlicher Liebe. Anne-Marie Miévilles Das Buch der Maria Jean-Luc Godards langjährige Mitarbeiterin und Lebensgefährtin Anne-Marie Miéville hat parallel zu Maria und Joseph den Kurzfilm Das Buch der Maria (Le livre de Marie) von 27 Minuten Länge gedreht. Sie griff auf beinahe denselben Stab zurück wie Godard. Die Kinos zeigten den Kurzfilm und danach den 76 Minuten langen Hauptfilm als ein nahtloses Programm, auch in DVD-Ausgaben sind beide Teile am Stück zu sehen. Aurore Clément und Bruno Cremer spielen die Eltern der elfjährigen Marie – die Familie bewohnt ein Haus am Genfersee. Die Eltern zanken sich über ihre Aufgaben innerhalb der Familie, bis sie entscheiden, dass der Vater aus dem Haus auszieht. Das Mädchen weigert sich trotzig, das zur Kenntnis zu nehmen und flüchtet sich ins Rezitieren von Versen aus Baudelaires Gedichtband Die Blumen des Bösen über existenzielle Themen sowie ins Hören der Musik von Chopin und Mahler. Es drückt ihre Angst in einer erregten Tanzdarbietung aus. Die Mutter erklärt dem Kind, es heiße Marie, weil der Name ein Anagramm von aimer (französisch für lieben) ist. Einige Filmkritiker halten Das Buch der Maria für eine Art Prolog zu Godards Hauptfilm. Wolfram Schütte spricht in diesem Kontext von einem Präludium, von einer Ouvertüre. Andere Kritiker meinen dagegen, diese Klassierung würde den Kurzfilm unterschätzen. Er bereitet das Publikum motivisch, emotional und formal auf den Hauptfilm vor. Die Ehe der Eltern löst sich auf, weil keine Verständigung gelingt. Durch die Trennung ihrer Eltern erfährt Marie die erste Erschütterung in ihrem Leben. Die Dichtung und Musik, mit der sie sich befasst, traut man einem elfjährigen Kind kaum zu. Die Filmzeitschrift epd Film deutete den Zustand des Mädchens so, dass sie bereits das Geheimnis mütterlicher Liebe in sich trage, ohne davon geahnt zu haben; die Trennung der Eltern mache ihr die Existenz dieser Liebe bewusst. Zuletzt köpft Miévilles Marie am Esstisch ein Ei und an diese Einstellung schließt Godards Hauptfilm an. Die Jungfrau Maria gebar den Gott, der ihr Vater ist, bemerkte Cynthia Erb: „In diesem letzten Moment gebärt Miéville den Godart, der ihr künstlerischer Vater ist, dessen unermeßlicher Status sie immer in den Schatten stellt und ihr Werk an den Rand drängt.“ Handlung Ausgangslage Rolle, ein kleiner Ort unweit von Genf. Die junge Marie ist Tochter eines Tankstellenpächters und spielt in der Korbballmannschaft. Sie hat einen Verlobten, den Taxifahrer Joseph, mit dem sie bisher keinen Geschlechtsverkehr gehabt hat. Joseph, ein Schulabbrecher, modisch angezogen, mit Pomade im Haar und mit Sonnenbrille, unterhält eine zweite Beziehung mit Juliette. Diese möchte die Beziehung vertiefen, aber Joseph zeigt immer weniger Interesse für sie. Eines Tages kommen mit dem Flugzeug zwei geheimnisvolle Fremde an, die sich rüpelhaft benehmen: Der Erzengel Gabriel und seine kleine Begleiterin. Sie verkündigen Marie, dass sie ein Kind bekommen wird … Weiterer Verlauf Außer der Geschichte um Marie und Joseph hat der Film eine Nebenhandlung, die mit der Haupthandlung kaum verknüpft ist. Ein Professor findet wissenschaftliche Erklärungen für die Herkunft des Lebens nicht überzeugend: „Wir sind nicht plötzlich in einer aminosauren Suppe geboren. […] Das Leben ist von einer dazu entschlossenen Intelligenz gewollt, gewünscht, geplant, und programmiert worden.“ Er hält die evolutionäre, zufällige Entwicklung mangels der dazu nötigen Zeit für nicht möglich. Zur Verdeutlichung lässt er einen Studenten mit verschlossenen Augen einen Zauberwürfel drehen. Die Studentin Eva gibt ihm für jede Bewegung an, ob sie richtig oder falsch ist. Innerhalb von Minuten bringt er den Würfel in die Zielstellung, was ohne ihre Eingaben nicht möglich gewesen wäre. Später besucht der Professor Eva bei ihr zuhause in der „Villa Paradis“. Sie sinnieren über Philosophie und lassen sich miteinander ein. Marie nimmt das Wunder an, auch wenn sie es weder versteht noch erklären kann. Der Gynäkologe staunt, als er bei Marie zugleich Jungfräulichkeit und Schwangerschaft feststellt. Hingegen glaubt Joseph, dass sie mit anderen Kerlen schläft: „Ich hoffe, sie haben wenigstens große Schwänze!“ Er hadert damit, als gehörnter Idiot dazustehen. Marie besteht darauf, mit niemandem geschlafen zu haben, und entzieht sich seinem Verlangen nach körperlicher Nähe. Der Engel versucht, Joseph mit Maulschellen Vertrauen und Liebe einzubläuen. Nach der Trennung von Juliette erklärt Joseph Marie seine Liebe; sie wirft ihm vor, noch immer nicht an das Wunder zu glauben. Als das Paar sich anschickt zu heiraten, bettelt er, sie wenigstens einmal ganz nackt sehen zu dürfen. Sie gestattet es ihm. Doch sein Versuch, sie anzufassen, wird vom plötzlich auftauchenden Gabriel unterbunden, der Maria auch als Schutzengel beisteht. Erst als Joseph sein Verlangen nach Maries Körper bändigt und seine Hand zwei Zentimeter vor ihrem Bauch hält, erklärt sie ihm, das sei Liebe. Noch immer nicht ganz verstehend fügt er sich allmählich in die ihm zugewiesene Rolle. Er verspricht Marie, bei ihr zu bleiben und sie nicht zu berühren. Inzwischen trennt sich der Professor von Eva, um zu seiner Familie zurückzukehren. Marie muss mit dem Schmerz zurechtkommen, dass ihr Enthaltsamkeit auferlegt ist. Nach Wintereinbruch bringt Marie das Kind zur Welt. Jahre später ist der Junge namens Jesus trotzig und frech, und Joseph führt ein freudloses Eheleben. Eines Tages ruft das Kind aus: „Ich muss mich um die Geschäfte meines Vaters kümmern!“ und verlässt Marie und Joseph. Sie nimmt es hin. Mit einem „Gegrüßet seist du, Maria!“ gibt ihr Gabriel einen Wink, dass ihre Mission beendet ist. Im Auto zündet sie sich eine Zigarette an und trägt roten Lippenstift auf; der Film endet mit einer Einstellung auf ihren weit geöffneten, runden Mund. Formale Konzeption Bilder der Natur und von Maries Körper Zwischen die Szenen mit den Protagonisten fügt Godard zahlreiche Naturbilder ein: Ein Baum in der Landschaft; Steine, die ins Wasser geworfen werden und Wellen auslösen; ein Flugzeug, das Wipfel und Stromleitungen überfliegt; Sonnenuntergänge; wiegende Halme im Feld; Igel im Gras. Es sind einfache, stark stilisierte Bilder, die Alltägliches zu Himmlischem erheben. Mit dem Bild der untergehenden Sonne, vor der ein Flugzeug durchfliegt, fand er eine Metapher von Maries Befruchtung. Zitierte er in seinen Filmen der 1960er-Jahre Symbole aus der Popkultur und der Werbung, so verwendete er in Maria und Joseph sehr ursprüngliche Zeichen. Er baute die Kamera auf und verbrachte lange Zeit mit Warten, bis sich in den einfachen Szenerien etwas Außergewöhnliches zeigte. Er hielt Ausschau nach unbefleckten, erst im Entstehen begriffenen Zeichen, die noch keine Bedeutung tragen. In Sonne, Mond, Korbball und Maries Bauch wiederholt sich das Motiv des Kreises und des Runden. Für Gertrud Koch von epd Film hat die Darstellerin Myriem Roussel den idealen Marien-Körper, „geschwungene Hüften, volle Brüste, eine fast kindliche Taille und langer schmaler Hals, dessen Rückenansicht eine elegante Nackenlinie bietet, ein wenig eckige, noch mädchenhafte Knie.“ Ihre Schönheit ist für Antoine De Baecque das erste Wunder dieses Films. Godard führte aus, dass er nicht eine entblößte Frau, sondern menschliches Fleisch habe zeigen wollen. Einige Einstellungen seien als anatomische Zeichnungen gedacht. Den Gedanken, auch Joseph nackt zu zeigen, verwarf er, weil es das Publikum zur Fehlannahme verleitet hätte, dass Joseph und Maria miteinander Geschlechtsverkehr hätten. „Außerdem bin ich ein Mann und betrachte gerne nackte Frauen!“ Bach und Dvořák mit Aussetzern Mehr als andere Regisseure betrachtet Godard Bilder, Dialoge, Musik und Geräusche als einzelweis manipulierbar. Die Schnitte des Bildes und der Geräusche auf der Tonspur sind oft asynchron; auf den ersten Eindruck erscheinen Bilder und Musik willkürlich zusammengestellt. Eingesetzt werden die klassischen Musikstücke in Form abrupter Einblendungen mitten in diese Stücke hinein. Oftmals werden sie nicht über eine längere Dauer ausgespielt, sondern zerstückelt, indem sie mehrere Male hintereinander aus- und wieder einsetzen. Die fragmentierten Bilder und die Hüst-und-hott-Tonspur zielen darauf ab, das Publikum aus gewohnheitsmäßigen, bequemen Wahrnehmungsmustern zu werfen. Die Musik besteht großteils aus instrumentalen, im ersten Drittel auch choralen Stücken von Johann Sebastian Bach, die mit Marie verbunden sind. Godard begründete seine Wahl der Musik Bachs damit, dass „historisch Bach die Musik von Martin Luther war“, der die katholische Kirche unter anderem wegen ihrer Bilderpolitik angegriffen hätte – verkennend, dass Luther rund zwei Jahrhunderte vor Bach gelebt hatte. Von Antonín Dvořák verwendet Godard ein einziges Werk, das Cellokonzert in h-moll (op. 104). Das „romantische“ Musikstück ist in Passagen zu hören, die von Josephs Lernprozess handeln. Sie ist laut Jürg Stenzl deshalb „seine“ Musik, „die sich vom stürmischen Vorwärtsdrängen im ersten Satz zur völligen Verinnerlichung, dem reinen, singenden Hörnerklang gewandelt hat.“ Der musikalische Gesamteindruck des Films sei „durch die Polarität von Bachs kontrapunktischer, primär instrumentaler Expressivität auf der einen und Dvořáks eruptivem, unmittelbar »romantischem« Ausdruck auf der anderen Seite bestimmt.“ Bei seinem Abend mit Eva legt der Professor Jazz von John Coltrane auf. Bibelbezug, Collagenstil und Komik Die Bibel liefert nur wenige Einzelheiten zu Marias und vor allem zu Josefs Leben, so dass ein abendfüllender Film zwangsläufig hinzuerfinden muss. In der Handlung bleibt offen, in welcher genauen Art von Beziehung Marie und Joseph tatsächlich zueinander stehen, wie wörtlich oder symbolisch die Begriffe „Jungfräulichkeit“ und „berühren“ zu verstehen sind oder wie die Schwangerschaft wirklich zustande kommt. So kann man Maria und Joseph einerseits als eine moderne Erzählung begreifen, als die Geschichte einer Frau namens Marie, die der biblischen Maria ähnlich, jedoch nicht mit ihr identisch ist. Die Handlung ist nicht im Heiligen Land angesiedelt, sondern in der Schweiz, in der Gegenwart, im Alltag und im Profanen. Für diese Deutung spricht auch, dass das „Gegrüßet seist Du, Maria“ des Originaltitels in Anführungszeichen gesetzt ist. Zugleich lässt der Film die Möglichkeit offen, dass sich hier tatsächlich eine biblische, göttliche Geschichte abspielt. Die Protagonisten sind einfache, gewöhnliche Menschen wie die Eltern Jesu vor zweitausend Jahren. Bestärkt wird dies durch den zehn Mal an diversen Stellen des Films eingeblendeten Zwischentitel En ce temps là („zu jener Zeit“). Es ist keine konventionelle, geradlinige Erzählung, sondern eine „Szenencollage“, die häufig und heftig ihre Richtung ändert zwischen den Handlungssträngen um Marie/Joseph, um den Professor/Eva und den Naturbildern wechselt, über längere Zeitabschnitte hinweg springt und sich Auslassungen und Abschweifungen zu scheinbaren Nebensächlichkeiten leistet. Der Film birgt eine Fülle von Andeutungen. Gelegentlich lässt Godard unaufdringlichen Humor aufblitzen. Als der Professor behauptet, die menschliche Herkunft sei kosmisch, wir seien alle Außerirdische, sehen wir den Hinterkopf eines Studenten mit einer blonden Ananasfrisur. Älter geworden, griff Godard öfter auf Versatzstücke der Komödie zurück, einem Genre, das männliche Figuren verweichlicht, manchmal gar verweiblicht. Die Wortwechsel zwischen Joseph und Gabriel haben oft absurden Charakter. Beide Männer haben eine Begleitfigur: Joseph einen Hund, dem er vorliest, Gabriel das engelhafte Mädchen, das ihn ermahnt, wenn ihm Verwechslungen unterlaufen und das für ihn die Akten führt. Diese Begleiter lassen Joseph und Gabriel oft albern und kindisch erscheinen. Cynthia Erb verwies auf die Gemeinsamkeit von Männer-Komödie und „Kunstporno“. Beide Genres setzten Körper in spektakulärer Weise ein und stellten einen Gegensatz her zwischen der Körperbeherrschung und deren Verlust. In Maria und Joseph bestünden Spannungen zwischen Josephs unerfülltem Begehren, Maries Körper zu sehen, und den Kunstporno-Einschüben, „die dem Zuschauer erlauben, alles von Marie zu sehen, wieder und wieder.“ Genese Schon in Godards beiden vorherigen Spielfilmen – Passion (1982) und Vorname Carmen (1983) – hatte die junge, als klassische Tänzerin ausgebildete Myriem Roussel Auftritte, erst als Statistin, dann in einer Nebenrolle. Der Regisseur hatte sich in sie verliebt, schrieb ihr und telefonierte viel. Sie war ihm Muse, er ihr ein väterlicher Freund. Er involvierte sie in die Entwicklung eines Filmprojekts über das inzestuöse Begehren eines Vaters nach seiner Tochter. Bei regelmäßigen Probeaufnahmen spielte er den Vater und sie die Tochter. Sich auf eine sexuelle Beziehung mit Godard einlassen wollte Roussel nicht. Nach einigen Monaten erkannte Godard, dass das Projekt gescheitert war. Roussel sieht hier den Ursprung von Maria und Joseph: „Er bleibt der Vater, Gott, hat aber kein Verlangen, mit ihr den Inzest zu vollziehen, denn sie gebärt jungfräulich.“ Nach dieser Wendung im beruflichen Bereich nahm ihre Beziehung einen anderen Charakter an. Roussel verliebte sich in den Regisseur, sie wurden ein Liebespaar. Godard offerierte seiner langjährigen Gefährtin Anne-Marie Miéville, die seiner Beziehung zu Roussel feindselig gegenüberstand, einen eigenen Kurzfilm zu drehen. Einen Teil der Vorbereitungen, etwa Recherchen zum Thema Jungfrauengeburt, besorgten sie gemeinsam. Als Hauptdarstellerin war Roussel gesetzt. Godard gab ihr wissenschaftliche, vor allem medizinische und theologische, sowie literarische Texte zum lauten Vorlesen. Bei der Besetzung der Joseph-Rolle dachte Godard erst an einen älteren Mann wie ihn selbst und bot sie dem 70-jährigen Jean Marais an. Dessen Erstaunen über den Vorschlag bewog den Regisseur, jemanden jüngeren ins Auge zu fassen. Der 35-jährige Philosoph Bernard-Henri Lévy lehnte ab, weil ihm um seinen Ruf bange war. Godard probte mit dem Schauspieler Jacques Dutronc, verzichtete aber auf ihn, weil Dutronc dem Joseph zu viel Charisma verliehen hätte. Roussel vermittelte schließlich den Anfänger Thierry Rode, den sie aus dem Theaterunterricht kannte. Die Dreharbeiten gerieten zu den längsten in Godards Karriere und zogen sich von Januar bis Juni 1984 hin. Weil er Paris und seine Straßen schon so oft abgefilmt hatte, entschloss er sich, Maria und Joseph in der Schweiz zu drehen, wo er aufgewachsen ist. Die meisten Aufnahmen entstanden in und um Rolle und Nyon. Tatsächlich gedreht wurde nur an zwei bis drei Tagen pro Woche. In der übrigen Zeit war der Regisseur mit anderem beschäftigt oder hatte keine Lust zu drehen und probte mit Roussel. Sie fühlte sich ungerecht behandelt und war frustriert, weil sie ihn schauspielerisch nicht zufriedenstellen konnte, und deshalb gefiel ihr ihre eigene Leistung nicht. Dass er in Miéville volles Vertrauen hatte, machte sie eifersüchtig. Sie verheimlichte die bei ihr aufkeimende Abneigung gegen das Projekt nicht, wofür ihr Godard böse war. „Wir schnauzten uns an.“ Ihr war klar, dass es ihre letzte gemeinsame Arbeit sein würde, „ein Trennungsgeschenk, die letzten Liebesworte“. Anfang Mai 1984 lernte sie ihren zukünftigen Mann kennen, den sie ein Jahr später ehelichen sollte. Die Mittel für die Herstellung des Films brachte Godard als sein eigener Produzent selbst auf; er sah Kosten von 200.000 US-Dollar vor. Durch die langwierigen Dreharbeiten und das Lauern auf Bilder in der Natur überzog er das Budget und musste die Arbeit unterbrechen. Um Geld für die Fertigstellung zu verdienen, willigte er gegen seine Überzeugung in den Vorschlag des Produzenten Alain Sarde ein, beim kommerziellen Film Détéctive die Regie zu übernehmen. Dieser Dreh fand im August und September 1984 statt. Anschließend konnte er die Arbeit an Maria und Joseph wieder aufnehmen; am Ende kam er auf Gesamtkosten von 600.000 Dollar. „Ich habe 90.000 Meter Film verbraucht – normalerweise reicht das für vier Filme. Ich bin nicht religiös, aber ich bin gläubig. Ich glaube an Bilder. Ich habe keine Kinder, nur Filme.“ Reaktionen von Kirche und Kritik Proteste aufgebrachter Katholiken Während Jesus schon in zahlreichen Filmen, vor allem in den 1950er-Jahren, als Figur behandelt und dargestellt worden war, schuf Godard mit Maria und Joseph den ersten je gedrehten Film über Marias Jungfrauengeburt und ihr Verhältnis zu Joseph. Der Film wurde Ende 1984 einige Male für die Presse aufgeführt und lief in Frankreich am 23. Januar 1985 in den Kinos an. Das Werk entfachte Proteste von konservativen katholischen Kreisen, die ihm Gotteslästerung, Obszönität und Verhöhnung des christlichen Glaubens vorwarfen. In Versailles sorgten erboste Katholiken für eine Unterbrechung einer Vorstellung, warfen Stinkbomben und zettelten Handgreiflichkeiten an. Durch das französische Gemeindegesetz war es Bürgermeistern möglich, eine Filmaufführung zu untersagen, wenn diese die öffentliche Ordnung stört. Der Bürgermeister von Versailles war gerade auf Asienreise; sein erster Stellvertreter verhängte in der Gemeinde ein vorübergehendes Aufführungsverbot. Die Organisationen „Confédération nationale des associations familiales catholiques“ und „Alliance générale contre le racisme et pour le respect de l’identité française et chrétienne“, die den Integralisten und dem rechtsextremen Front National nahestanden, versuchten in Paris, per einstweiliger Verfügung ein landesweites Aufführungsverbot zu erwirken. Nachdem es den Film angesehen hatte, lehnte das Pariser Obergericht ihr Begehren ab, weil keine einzige Szene pornografisch oder obszön sei. Eine Reihe katholischer Verbände wandte sich gemeinsam an die Bischöfe, gegen den Film vorzugehen, wegen „Szenen, die für Christen unerträglich sind“ und einer „unglaublich groben Sprache“. Der höhere Klerus unterstützte das Ersuchen nicht und sprach sich gegen Gewaltanwendung aus. Dennoch störten Katholiken zahlreiche Aufführungen – in Frankreich lief das Werk in rund hundert Sälen – mit Gesang, Gebeten, Stinkbomben und Bombendrohungen oder auf die Leinwand geschleuderten Farbbeuteln; in Tours legten sie Feuer. Godard deutete die in den Medien aufgekommene Debatte als ein Lebenszeichen des Kinos und versicherte, er respektiere aufrichtig den Glauben der Katholiken. In den ersten zehn Wochen sahen sich allein in Paris 260.000 Besucher den Film an. In der Bundesrepublik versuchten katholische Bürgerinitiativen, ein Verbot des Films zu erwirken. Ein Fuldaer Kinoinhaber nahm ihn nach Protesten aus dem Programm. Vor einem Freiburger Kino verharrten einige Katholiken vier Wochen lang jeweils während der Aufführungen betend mit einem Sühnekreuz. Proteste gab es auch in Spanien, Italien und Griechenland, wobei es den Gegnern nur vereinzelt gelang, Aufführungen abzuwenden; in Rom verprügelten sie den Geschäftsleiter eines Kinos. In Brasilien verhängte der Staatspräsident ein Aufführungsverbot. Papst Johannes Paul II. ließ sich den Film vorführen. Ende April 1985 gab er auf der Titelseite des L’Osservatore Romano kund: „Der Film beleidigt und entstellt die fundamentalen Lehrsätze des christlichen Glaubens und entweiht seine geistliche Bedeutung und seinen geschichtlichen Wert und verletzt zutiefst die religiösen Gefühle von Gläubigen und den Respekt für das Heilige und die Jungfrau Maria, die von Katholiken mit so viel Liebe verehrt wird und Christen so lieb ist.“ Der Papst erklärte seine geistige Verbundenheit mit den Protestierenden und erteilte ihnen den apostolischen Segen. Wenige Tage später hielt er ein öffentliches Gebet ab, um die Entweihung Marias durch den Film zu beheben. Es war das erste Mal, dass sich ein Papst gegen einen einzelnen Film wandte. Der Vatikan störte sich an der Nacktheit Maries und ihrer Reaktion auf die Verkündigung; er hielt fest, dass die Jungfrau Maria gottesverbunden und für ihre Aufgabe vorbereitet war. Dem Godard-Biografen De Baecque zufolge war der Regisseur geschmeichelt: „Er konnte sich damit brüsten, eine Art Dialog unter Gleichen hergestellt zu haben […] zwischen dem Papst der Katholiken und dem Papst der Künstler.“ Godard anerkannte die Stadt Rom als „Haus der Kirche“ und stellte fest: „Der Papst hat eine besondere Beziehung zu Maria, die er mindestens als seine Tochter betrachtet.“ Nachdem 200.000 Italiener den Film besucht hatten, stellte der dortige Verleih nach einer Abmachung mit Godard die Vorführungen ein. Bejahende kirchliche Stimmen An der Berlinale 1985 erhielt Maria und Joseph den Otto-Dibelius-Filmpreis der Internationalen Evangelischen Filmjury. Die Jury der Internationalen Katholischen Filmorganisation (Organisation Catholique Internationale du Cinéma, OCIC) vergab keinen Preis, äußerte sich jedoch in einer Mitteilung so: „Im vollen Bewusstsein der Schwierigkeiten, die sich sowohl von der formalen Originalität wie von der Thematik für viele Zuschauer ergeben können, legt die Jury übereinstimmend Wert darauf, ihr Interesse an diesem Werk zum Ausdruck zu bringen und eine unvoreingenommene und kritische Auseinandersetzung damit zu empfehlen. Denn der Regisseur versucht mit großer Behutsamkeit und aufrichtigem Respekt, menschlichen Grunderfahrungen, insbesondere dem Geheimnis der Liebe und des Lebens näherzukommen, indem er sich bekannter biblischer Gestalten und Glaubensaussagen bedient. Dabei gelingt es ihm, brüchig gewordene Bezüge zwischen Sinnlichkeit und Unberührtheit, naturwissenschaftlichem Denken und metaphysischen Wahrnehmungen, modernem Alltag und spirituellen Dimensionen überzeugend miteinander in Verbindung zu bringen.“ Der Filmbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hans Werner Dannowski, wies darauf hin, dass man die Jungfrauengeburt nur in ihrem vollen Kontext verstehen könne, dass die Besonderheit Jesu in seiner besonderen Herkunft, von Gott her, wurzele. „Die Geschichte von der Jungfrauengeburt verweist ‚als solche‘ auf Gott“, der in diesem Moment ins Leben der Menschen trete. Dieser Kontext sei dem aufgeklärten Menschen kaum mehr bekannt, ihm „ist die Lehre von der Jungfrauengeburt eher ein Anlass zum Zweifel als eine Hilfe zum Glauben.“ Und weil die Geschichte von der Jungfrauengeburt nicht mehr aus sich selbst redet, ihre Selbstevidenz verloren hat, werde sie in der römisch-katholischen Kirche zunehmend dogmatisiert. Hier setze Godard an: Die Jungfrauengeburt hat im Film keinen erkennbaren Zweck und stellt Marie ebenso wie Joseph vor ein Rätsel. Der Film zeigt jeweils Folgen, aber nicht die auslösenden Ursachen, nach denen man als Zuschauer dann fragt. „Das Dahinterstehende ist da, man spürt es, aber es bleibt ein Rätsel. (…) Die Wirklichkeitserfahrung bleibt ein Fragment.“ Fragmentarisch blieben auch die Anspielungen auf die Bibel, nie bösartig oder aggressiv, oft ironisch, eher heiter. Die Gotteserfahrung bestehe aus Stücken, die nicht zueinander passen wollen, kein Sinnganzes mehr ergeben. Darin sah der Filmbeauftragte den Grund, dass Gläubige, die sich an der klaren biblischen Version orientieren, über den Film verärgert waren. Doch Godard habe die religiöse Lage der Gegenwart präzise erfasst. Urteile der Filmkritik Der film-dienst, Organ der katholischen Filmpublizistik, sah in Godards Filmhandlung und der biblischen Heilsgeschichte zwei verschiedene Erzählungen, deren Parallelen zu Missverständnissen verleiten könnten. Nicht um eine Parodie gehe es, sondern um „die heilsame Zertrümmerung platter Realitätsbegriffe“, um das Wunderbare im Alltag wieder zu entdecken. „Godard lehrt uns, nicht allzu naiv unseren Augen und Ohren zu trauen, stets andere Ebenen und Deutungen ‚mitzudenken‘.“ Dass er an Dogmen rühre, seien „letztlich aufs Ganze gesehen periphere Lesbarkeiten“. Der film-dienst bescheinigte dem Regisseur, der eine „christlich orientierte Mythologie der Schöpfung und der Mutterschaft“ entwerfe, dass er „die Frau sehr intim mit unbegehrlicher Zärtlichkeit beschreibt: ein unverhüllter aber souverän anti-pornographischer Blick auf das Mysterium des Weiblichen. Das ist ebenso poetisch wie ‚provozierend‘; und was ist ‚provozierender‘ als das Geheimnis, die Unschuld und das Wunderbare?“ In einer Filmbesprechung ohne deutliches Urteil hielt die evangelische epd Film fest, dass der Streifen weder voyeuristisch sei, noch blasphemische Absichten erkennen lasse. „Zwar verkneift sich Godard nicht diese oder jene naheliegende Ironisierung, aber die bezieht sich fast ausschließlich auf die Erzähltechniken der Legende, auf die Diskrepanz zwischen einer konkretistischen Geschichte und einem irrealen Inhalt.“ Mit dieser Ironie stelle Godard den Mythos erst recht wieder her. Die überkonfessionelle Zoom nannte den „vielschichtigen“ Film „eine außerordentliche Leistung“. Er finde mitunter Bilder für das nicht Darstellbare, mache die Herkunft und das Geheimnis des Lebens sichtbar wie auch die Fleischwerdung des Geistigen im Menschen. Weniger günstig urteilten die französischen Filmzeitschriften. Laut Positif entgehe Godard nicht immer der Gefahr des Manierierten, des Falschen und der Plattitüden. Einige Bilderspiele zeugten zwar von Erfindungsgabe, doch insgesamt sei der Film mittelprächtig langweilig. In den Cahiers du cinéma, bei denen Godard einst als Kritiker selbst tätig gewesen war, erkannte man seine hohen Ambitionen. Doch Godard erzeuge hier Einzelbilder von Marie, die kein Ganzes ergäben und sich gegenseitig aufhöben. Er wolle sie mal stürmisch, dann wieder passiv sehen; mal solle sie seine Kreation sein und bald die göttliche Schöpfung vertreten. „Er verlangt von der Darstellerin, gleichzeitig (ihm) alles zu geben und dabei ihr Mysterium zu bewahren.“ Filmpublizistische Deutungen Thematische Beständigkeit in Godards Schaffen Bereits über ein Vierteljahrhundert war Jean-Luc Godard als Filmemacher tätig, als er Maria und Joseph schuf. Er hatte in den 1960er Jahren filmische Konventionen angegriffen und die Filmsprache revolutioniert; ab etwa 1967 vertrat er einen radikalen Marxismus. Nach einer Phase mit Experimentalfilmen in den 1970ern kehrte er 1980 zu Kinofilmen zurück. Anstelle soziologischer oder politischer Themen traten vorrangig ästhetische, die Malerei (in Passion) und die Musik (in Vorname Carmen). Obwohl Godard diese zwei Filme und Maria und Joseph nicht als Trilogie konzipiert hat, hat sie Marc Cersisuelo als „Trilogie des Sublimen“ bezeichnet, weil den Regisseur die Frage der Schönheit und ihrer Darstellung umtreibe. Maria und Joseph ist kein christlicher Film, noch weniger katholisch oder theologisch, doch ebenso wenig blasphemisch oder atheistisch. Godard behandelt das Dogma der Jungfrauengeburt, ohne darüber zu urteilen. Er war als calvinistischer Protestant erzogen worden, bezeichnete sich aber als nicht praktizierend. Die Bibel sei ein großartiges Buch, das auf starke Weise von heutigen Ereignissen spreche. „Vielleicht brauchte ich eine Geschichte, die größer war als ich.“ Das Fehlen eines religionskritischen Ansatzes ließ Religionsskeptiker an Godard zweifeln. Man war verwundert, dass ausgerechnet ein Bilderstürmer und filmsprachlicher Ketzer wie er sich diesen Stoff vorgenommen hatte. Zum Teil entstand der Eindruck, er hätte den Marxismus gegen die Mystik und den Glauben ans Göttliche getauscht. Die Proteste erzkatholischer Kreise können umso mehr erstaunen, als er mit einigen Aussagen des Professors kreationistische Positionen in den Hörsaal trägt. Mit Maria und Joseph setzt Godard seine Versuche fort, statt gefällige Filme herzustellen die Aufmerksamkeit seines Publikums auf die Filmproduktion und Filmsprache zu lenken. In diesem Sinne ist sein Werk ein aufklärerisches Projekt. Mit dem katholischen Mythos der Maria bot sich ihm ein neues Vehikel, künstlerischen Ausdruck zu ergründen und den Paradigmen der konventionellen Kultur zu entgehen. Er ging der Frage nach, wie sich das jenseits des Materiellen Bestehende, nicht visuell Zeigbare durch das Medium Film darstellen lässt. Dass der Film als eine Abkehr Godards von seinen Prinzipien missverstanden wurde, sei, so räsonierte Kevin Moore, ein Beweis für seine ungebrochene Originalität und seine Fähigkeit, gewohnte Interpretationsmuster in Frage zu stellen. Der Filmkritiker Wolfram Schütte kam nach der Aufführung anlässlich der Berlinale von 1985 zu dem Ergebnis, Godard habe sich mit Maria und Joseph zur spiritualistischen Filmkunst der Regisseure Dreyer und Tarkowski bekannt. Aber keineswegs betreibe Godard mit seinem Film eine affirmative Wende, noch sei er gar ein Renegat oder Konvertit. Filmkunst als Kampf um Unschuld Das Leben der Figuren liegt von Beginn weg in der Hand von jemandem, der es ordnet und darüber verfügt, eines Gotts oder eines Regisseurs. Die komponierten Naturbilder geben der schöpferischen Kraft einer Gottheit und eines Filmemachers Augenscheinlichkeit. Godard scheint seine gottähnliche Stellung als Regisseur zu genießen. In einer Aufsicht zeigt er Marie nackt in der Badewanne, während sie auf der Tonspur vorträgt: „Unterdessen empfand ich eine Art von Freude dabei, meinen Körper dem Blick dessen darzubieten, der für immer mein Herr geworden war. Und ich sah zu diesem wunderbaren Wesen auf, denn wahrlich das war er von hier bis in alle Ewigkeit.“ Gleichzeitig taugt die schwangere Marie als Symbol für den Künstler, der leidenschaftlich aus sich selbst Neuartiges hervorzubringen sinnt. Man kann die Mariengeschichte als Metapher fürs Filmemachen lesen. Auf Französisch heißt unbelichtetes Filmmaterial pellicule vierge, wörtlich „jungfräulicher Film“. Ein Anknüpfungspunkt zu Godards Werken aus der ersten Hälfte der 1960er-Jahre bietet sich etwa in der Szene, in der die schwangere Marie in einem Laden Lippenstifte mustert, ohne welche zu kaufen. Damit verwirft sie eine Handelsware, die mit konsumistischem Materialismus und durch äußerliche Maskeraden definierter Weiblichkeit in Verbindung gebracht wird. Godard hatte die Prostitution mehrfach thematisiert (Die Geschichte der Nana S., 1962 und Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, 1966) und trat für ein Kino ein, das sich nicht als kommerzielle Unterhaltung „prostituiere“. So meinte Hervé Le Roux, im Kampf gegen die Bilderflut der Werbung könne das Kino nur mit einer Unschuld und Jungfräulichkeit siegen, die es nicht etwa ständig zu verlieren drohe, sondern die es immer wieder neu gewinnen könne. Godard finde mit den Bildern der Sonne, des Mondes und des Himmels Einstellungen von großartiger Reinheit, und zeige eine nackte Frau, ohne ein Herrenmagazin zu fabrizieren. Demgegenüber fand Alain Bergala, Godard scheitere mit seinem Anspruch, ein unverbrauchtes Bild von Marie zu schaffen und der Belagerung durch die kommerziellen Bilder, auch im Gegenwartskino, zu entgehen. In den 1960er-Jahren sei ihm das etwa mit Anna Karina gelungen, doch inzwischen sei es fast unmöglich geworden, Schönheit oder Geheimnis einer jungen Frau festzuhalten. Miéville und Godard hätten beide, so David Sterritt, in ihren Filmteilen das Echo einer nicht-physischen und nicht-psychologischen Realität einfangen wollen. „Weil die Ausdrucksmittel des Kinos auf Stofflichkeit und körperlicher Erscheinung beruhen, zieht es dieses Vorhaben zwingend nach sich, normale filmische Mechanismen und Methoden zu verneinen oder auszulöschen.“ Durch ihre Keuschheit bleibe Marie offen für alle Möglichkeiten der Liebe. Diese Liebe sei keine negative Tat, sondern eine höchst positive und mutige, wie Godards und Miévilles Filmstil. Diesen zeichne sich durch Offenheit für Mehrdeutigkeit und die Bereitwilligkeit aus, die formalen Reduktionismen zu vermeiden, auf die sich der Großteil des Erzählkinos stützt. Beide Filmteile seien „keine Darstellung, sondern eine Erforschung“. Frauen, Männer und Bestimmung Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern legt Godard als binäre Gegensatzpaare fest, männlich/weiblich steht unter anderem für aktiv/passiv, Kultur/Natur, Geist/Körper und Logik/Intuition. Godard: „Frauen […] akzeptieren mehr. Während Männer immer das Gefühl haben, dass sie die Dinge im Griff haben und verstehen müssen.“ Während Marie ihre Bestimmung ohne langes Zögern und mit Offenheit hinnimmt, braucht der begriffsstutzige Joseph länger, um das Unglaubliche zu akzeptieren. „Es muss von mir sein!“ ruft er, obwohl er es besser wissen müsste. Wie schon die gleichnamige Figur in Vorname Carmen hat er nicht die Mittel und die Intelligenz, um die Frau zu besitzen, die er verzweifelt liebt, und ist sexuell frustriert. Seine Wandlung vom eifersüchtigen Verlobten zum platonischen Helfer, sein Verzicht auf Sex mit Marie ist im Film ein Akt des Glaubens. Eine weitere Dichotomie, zwischen Wissen und Nichtwissen, besteht unter den männlichen Figuren. Dem Joseph entgegengesetzt ist der Professor, der sowohl über rationales Wissen verfügt wie auch über den Körper einer begehrten Frau. Diese Frau, Eva, verführt ihn ihrerseits, weil sie auf Wissenserwerb aus ist. Sie ist neugierig, und Neugierde untergräbt ein Glaubenssystem. Doch der Professor nennt unablässig Eva falsch Eve und verheimlicht ihr, dass er Familie hat. Somit schildert Godard Eva als eine „letztlich falsch genannte, falsch verstandene und über den Tisch gezogene Frau.“ Auf diese Weise durchkreuzt und verkehrt er katholische Schemata, denn in seinem Film wirkt Maria auf Joseph wie eine Femme fatale, während die Verführerin Eva zum Opfer wird. Für Cynthia Erb ist Godards Marie nicht ganz so aktiv wie die Marie Miévilles: „Miéville fokussiert auf Maria als ein denkendes, wahrnehmendes Wesen, während Godard eher an Marias Körper interessiert scheint. […] Doch die Stärken der beiden Filme stammen aus der gemeinsamen Tendenz der Filmemacher, den Marien-Mythos in einer Weise zu aktivieren, die ihn weder lächerlich macht noch auf simple Art umstürzt. Miévilles Film ist die bemerkenswertere Leistung, denn sie stellt sich der schwierigen Aufgabe, eine kluge und zähe Vertreterin innerhalb eines der widerspenstigsten Mythen des Christentums zu entdecken […] und seine faszinierenden Aspekte feministischen Zwecken zuzuführen.“ In Vorname Carmen litt ein Mann an seinem Begehren nach einer selbstbestimmten Frau. Godard: „Carmen ist eher die Vorstellung, die sich Männer von der Frau machen. Und bei Marie geht es eher darum, dass sich Männer nicht vorstellen können, wie die Frau ist.“ Laut Laura Mulvey repräsentieren Carmen und Marie das Geheimnis des Weiblichen. „Die zwei Frauen, so gegensätzlich sie als Femme fatale und asketische Heilige auch sind, werden von einem Mann bitterlich begehrt und sind ihm unverständlich. Beide stehen für das Rätsel des Weiblichen und die Schwierigkeit, durch den Körper die Seele zu sehen.“ Obwohl Godard in seinem Frühwerk gezeigt hatte, dass das Kino nur eine Oberfläche ist, und die Mechanismen offenlegte, wie es seine Illusionen erzeugt, war „immer etwas störrisches in Godards Darstellung von Frauen, ein ‚etwas mehr‘, das sich politischem Vernunftsdenken entzieht. Es ist, als ob er eine Frau nur dann auf die Leinwand bringen kann, wenn er sie faszinierend und verführerisch findet.“ Die Godardsche Frau täusche dabei immer, spiele etwas vor und verstecke hinter ihrem Äußeren ihr Geheimnis. Mit Marie habe Godard eine weitere Verkörperung seines Ideals weiblicher Schönheit konstruiert. Doch kennzeichne seine Strenge und Ehrlichkeit, dass er am Ende des Films durch Maries Wandlung zu einer gewöhnlichen Frau die Unmöglichkeit dieser Konstruktion zugebe. Hingegen gefiel Ellen Drapper der Film nicht. Sie fand sich in die ungemütliche Lage versetzt, Marie körperlich und emotional ausgestellt zu sehen, während Schnitte und Blickwinkel die Zuschauerin auf Distanz zu ihr hielten. Maries Geheimnis möge für die Grenzen des männlichen Wissens stehen, „aber braucht es für das Kino-Cogito der Frau zu stehen?“ Dem Film fehle es an Tiefe; „seine Widersprüche und Gegensätze sind alle an der Oberfläche, und sein philosophisches Dilemma ist vorhersehbar, wenn nicht gar ermüdend.“ Eine weitere Lesart eröffnet, dass das Vorwort im Buch L’évangile au risque de la psychanalyse (1977) der Psychoanalytikerin Françoise Dolto Godard als Ausgangspunkt und Steinbruch diente. Einige Textstellen hat er exakt als Filmdialoge übernommen. Von Dolto stammt auch der Gedanke, dass das Evangelium seine Leser (oder ein Regisseur sein Publikum) nicht dadurch bilde, dass es Erklärungen liefert, sondern sie Geheimnisse erfahren lasse. Gemäß Dolto sind Joseph und Maria ein mythisches Modell für jedes Paar. In einer Paarbeziehung ohne Besitz über den anderen und ohne Abhängigkeiten blieben die Bedürfnisse der Partner immer zu einem Teil unerfüllt. Jede schwangere Frau hoffe, ihr Kind möge etwas Besonderes werden. Da Maria kein Besitzdenken bezüglich Jesus entwickelt, sei Jesus beispielhaft für die Entwicklung des Kindes zu einem erwachsenen Wesen, das eines Tages von den Eltern weggehe. Das Kind ist kein Besitz seiner Mutter oder seines Vaters. Jeder Mann ist zudem nie sicher, ob er der Erzeuger ist; er müsse den Worten der Frau vertrauen und das Kind annehmen, gleichsam adoptieren. Der biblische mythische Geschichte und der Film führen vor, dass Mutterschaft und Vaterschaft gewöhnlicher Menschen etwas Außergewöhnliches ist. Die kleine Begleiterin Gabriels hat Marie angewiesen: „Sois dure, sois pure !“, sie solle hart sein und rein bleiben. Annie Goldmann meinte dazu: „Doch Marie ist von menschlichem Fleische; sie hat das Verlangen einer Frau, so dass die Keuschheit, die sie sich auferlegt, sie belastet.“ Wenn sie sich im Bett verkrampfe und in den Laken winde, kämpfte sie bis zur Erschöpfung gegen die Versuchung der Masturbation. Daran nehme ihre Spiritualität keinen Schaden, im Gegenteil, Marie gelange durch den Kampf gegen sich selbst „zum Geheimnis des Geistes und erhebt sich in Bezug auf andere. Wenn ihr alles gegeben worden, wenn alles einfach gewesen wäre, wäre ihr Verdienst geringer.“ Indem er sie nicht als bloße Empfängerin der Verkündigung wiedergebe, überwinde Godard das traditionell passive Bild der Marien-Figur. Ihre Krämpfe ähneln dem Tanz von Miévilles Marie; beide Filmteile verwerfen die kirchliche Darlegung Marias als glückseliges Aufnahmegefäß für den Willen Gottes. Nach Jesus’ Weggang scheint Marie wieder im Irdischen angekommen. Ihre Aufgabe als heiliges Wesen ist beendet. Sie trägt eine neue Lockenfrisur, elegante Kleidung und bemalt ihre Lippen. Für den weit geöffneten Mund der Schlusseinstellung ist eine naheliegende Interpretation die freudianische, dass der Lippenstift ein phallisches Symbol ist und der Mund ihre Bereitschaft zu sexuellen Erfahrungen signalisiert. Mit seiner schwarzen Leere kann der Mund aber auch Schrecken evozieren. Nicht zuletzt darf man ihn als Zeichen lesen, dass die Bedeutung des Films offenbleibt. Literatur Antoine de Baecque: Godard. Biographie. Bernard Grasset, Paris 2010, ISBN 978-2-246-64781-2, S. 623–633 (französisch; über den Entstehungshintergrund des Films und die Beziehung zwischen Roussel und Godard) Anne-Marie Pecoraro: Les démêlés judicaires de « Je vous salue, Marie » : un Pater et deux Ave pour Godard. In: CinémAction Nr. 52: Le cinéma selon Godard, S. 39–45 (französisch; zu den Protesten und zum rechtlichen Hintergrund in Frankreich) Maryel Locke und Charles Warren (Hrsg.): Jean-Luc Godard’s Hail Mary. Women in the sacred film. Southern Illinois University Press, Carbondale 1993, ISBN 0-8093-1824-5 (englisch; Aufsatzsammlung zum Film) Hans Werner Dannowski: Der Glaube als Fragment. In: epd Film Juni 1985, S. 21–22 (erläutert den theologischen Hintergrund der Jungfrauengeburt und dessen Spuren in Godards Film) Medium DVD: Jean-Luc Godard collection, Nr. 2. Universum Film, München 2006. Französischer und deutscher Ton, deutsche Untertitel. Weblinks Einzelnachweise Filmtitel 1984 Schweizer Film Französischer Film Jean-Luc Godard
4108971
https://de.wikipedia.org/wiki/Haus%20zum%20Walfisch
Haus zum Walfisch
Das Haus zum Walfisch ist ein spätgotisches Bürgerhaus in der Altstadt von Freiburg im Breisgau (Baden-Württemberg). Es steht unter Denkmalschutz und ist Teil eines Ensembles aus ehemals 17 Einzelgebäuden, das von der Sparkasse Freiburg-Nördlicher Breisgau genutzt wird. Die Frontseite des Hauses befindet sich an der Franziskanerstraße, die Rückseite an der Gauchstraße mit dem gegenüberliegenden Platz, dem Kartoffelmarkt. Geschichte Am Ort des heutigen Hauses zum Walfisch gab es drei Hofstätten der Größe 100×50 Fuß (ca. 30×15 m), die mit den Häusern Zum Blattfuß, Zum Sampson und Zum Ofenhaus bebaut waren. Hier in der Barfüßergasse (heute Franziskanerstraße) besaß Jakob Villinger von Schönenberg (um 1480–1529) seit 1506 ein Haus. Jakob Villinger stammte aus Schlettstadt im Elsass oder aus Freiburg selbst und bekleidete seit 1510 das Amt des Generalschatzmeisters Maximilians I. Nachdem Jakob Villinger 1511 das Freiburger Bürgerrecht erworben hatte, richtete er ein Gesuch an den Stadtrat, aus seinem . Nachdem Ludwig Villinger, womöglich ein Bruder Jakobs, die Nachbargebäude 1514 erworben und sie im Hinblick auf die Errichtung des „namhaften Baus“ hatte abreißen lassen, erteilte der Stadtrat erst 1516 die Baugehmigung: . Erst 1517 konnte das an Stelle der ursprünglichen Häuser errichtete Haus zum Walfisch bezogen werden. Bestehende Mauerzüge waren in den Neubau einbezogen worden. Im selben Jahr erlaubte der Stadtrat Villinger, weil er einen , seinen Grundbesitz um weitere Hofstätten in der Gauchstraße an der Rückseite des Hauses zum Walfisch zu erweitern mit der Auflage, gegenüber der Schiffstraße wieder zu bauen. Auf dem übrigen Grund dürfe er einen errichten. Der Name „Zum Walfisch“ ist seit 1565 im Herrschaftsrechtsbuch belegt, während Hausnummern in Freiburg erst 1806 eingeführt wurden. Der Freiburger Historiker Peter Kalchthaler vermutet beim Hausnamen eine Verbindung zur biblischen Geschichte von Jona und dem Wal. Wie auf einer in der Fassade eingelassenen Steintafel zu lesen ist, lebte der Humanist Erasmus von Rotterdam nach seiner Flucht aus Basel im Hause Villingers, das bei seinem Einzug zu Weihnachten 1529 noch „unvollendet“ war. Erasmus berichtete in einem Brief an Johann Coler († vor 1538) im Frühjahr 1531, dass der Rat der Stadt ihm das Haus überlassen hatte, nachdem er dem Rat durch den damaligen römisch-deutschen König und späteren Kaiser Ferdinand I. empfohlen worden war. Zur selben Zeit wie Erasmus wohnten dort auch die Humanisten und Münsterprediger Otmar Nachtgall und Augustin Marius (1485–1543). Beide zogen bald aus, Nachtgall blockierte jedoch das Erdgeschoss des Hauses, für das er den Schlüssel besaß. Die Situation verkomplizierte sich, als der Stadtrat durch Heinrich Glarean mit Erasmus Mietverhandlungen begann. Erasmus hatte bis dahin angenommen, die Stadt habe ihn mietfrei wohnen lassen, ihr jedoch aus Höflichkeit fünf Kronen für sich und weitere vier für Marius bezahlt. Einen Mietvertrag mit Ursula, der Witwe Villingers, wollte er jedoch nur abschließen, wenn er das komplette Haus allein bewohnen hätte dürfen und nicht nur das Obergeschoss. Ursulas zweiter Ehemann war seit 1530 Johann Loeble von Greinburg († um 1544), der Hofpfennigmeister Ferdinands. Das Paar residierte im Castellschen Palais in Augsburg, das zuvor Ursulas Vater Philipp Adler (1461–1532) gehört hatte. Daher wollten sie das Haus im fernen Freiburg verkaufen. Nachdem Ferdinand sich zwar für Erasmus als Käufer eingesetzt hatte, dieser jedoch nicht auf das Kaufangebot eingegangen war, wurde ihm im März zum 24. Juni 1531 gekündigt. Der Stadtrat forderte von Erasmus nachträglich 30 Gulden als Miete für die komplette Zeit, obwohl Nachtgall sich Erasmus gegenüber als Eigentümer ausgegeben hatte. Erasmus bezog schließlich das von ihm erworbene Haus zum Kind Jesu in der nahe gelegenen Schiffstraße, in dem er bis 1535 wohnte. Dort wurde später die Brauerei Ganter gegründet. Das Haus zum Walfisch sollte indes für ein Jahr an Jakob Stürtzel, einen Neffen des Kanzlers Konrad Stürtzel, vermietet werden, der es anschließend zu kaufen beabsichtigte. Der Schwendische Hof Im Jahre 1536 verkaufte Ursula jedoch im Einvernehmen mit ihrem zweiten Gemahl und ihrem minderjährigen Sohn Karl die geerbten elsässischen Ortschaften Heiligkreuz, Nambsheim und Logelheim zusammen mit Villingers Besitz in Colmar und dem Haus zum Walfisch an die Stadt Colmar. Colmar überließ das Haus zum Walfisch 1542 dem Magdeburger Dompropst Wilhelm Böcklin von Böcklinsau († 1585), der es mit dem Weinzehnten von Pfaffenheim bezahlte. Böcklin hatte das Haus bereits einige Jahre zuvor unentgeltlich oder auch zur Miete bewohnt. Anlässlich eines Landtages, den der Kaiser nach Freiburg einberufen hatte, wohnte Ferdinand I. vom 23. Dezember 1562 bis 7. Januar 1563 als Gast Böcklins im Haus zum Walfisch. Man ließ dem Kaiser einen gedeckten Gang vom zweiten Stock des Hauses zur nahe gelegenen Klosterkirche St. Martin errichten, damit er während der Weihnachtsfeiertage die Gottesdienste ungestört besuchen konnte. Im Jahr 1571 kaufte Böcklin das Haus zur weißen Lilie dazu. Am 20. Mai 1573 nahm Ferdinands Sohn, Erzherzog Ferdinand II., ebenfalls in Böcklins Haus Quartier. Böcklins Tochter Anna war ungefähr ab 1552 in erster Ehe mit dem kaiserlichen Feldoberst Lazarus von Schwendi (1522–1583) verheiratet. Wilhelm Böcklin von Böcklinsau überlebte beide, hatte das Eigentum am Haus aber vermutlich an seine Tochter († 1571) abgetreten. Nach dem Tod seiner Eltern erbte es ihr Sohn Hans-Wilhelm von Schwendi. Dessen Tochter Helene Eleonore heiratete in erster Ehe Jakob Ludwig von Fürstenberg (1592–1627; Sohn von Friedrich V. von Fürstenberg-Heiligenberg) und brachte das Anwesen damit in den Besitz der Grafen von Fürstenberg. Am 19. Juli 1682 endete mit dem Tod von deren Sohn Franz Karl in Donaueschingen die dortige Linie von Fürstenberg, da er unverheiratet und kinderlos geblieben war. Helene Eleonore hatte in zweiter Ehe mit Philipp Nikolaus von Leyen († 1656) ihren Sohn Ignaz Wilhelm Kasimir von Leyen geboren. Dieser verstarb 1695 und hinterließ zwei unmündige Töchter, geboren in den Jahren 1691 und 1692. Jakob Dischinger, der Breisacher Bürgermeister und Vormund der beiden Töchter, verkaufte das damals als Schwendischer Hof bezeichnete Anwesen am 30. Juni 1702 für 15.905 Gulden an den Freiherrn Heinrich von Garnier. Garnier, damals vorderösterreichischer Regimentsrat, flüchtete Anfang des Spanischen Erbfolgekriegs (1701–1714) aus Furcht vor den Franzosen auf seine Besitztümer in Schlesien und kehrte vermutlich vor Kriegsende nicht nach Freiburg zurück. 1703 hatte er in zweiter Ehe Lucia Katharina Berchtold von Sachsengang geheiratet; die Ehe blieb kinderlos. Nach seinem Tod am 5. April 1721 im Fürstentum Sagan setzte Lucia am 4. August den Oberstjägermeister Graf Hannibal Maximilian Rudolf von Schauenburg als Universalerben ein und schenkte ihm am 3. Oktober auf Schloss Ebnet das Haus sowie weitere Besitztümer. Lucia verstarb 1743 vermutlich in Schlesien, von Schauenburg bereits am 3. März 1741. Am 10. April desselben Jahres fiel von Schauenburgs älterer Sohn Philipp, den er wiederum als Universalerben eingesetzt hatte, in der Schlacht bei Mollwitz. Seine Mutter war wegen Ehebruchs mit dem späteren polnischen Generalmajor Baron Carl Friedrich von Schönbach in Hannibals Testament nur in Erfüllung des Ehevertrags bedacht worden. Sie übertrug Hannibals Vermächtnis von 7000 rheinischen Gulden auf ihre uneheliche Tochter. Ihren Anteil am Nachlass Philipps überließ sie dessen Bruder Christoph Anton von Schauenburg (1717–1787), dem Kreishauptmann der vorderösterreichischen Regierung in Freiburg. Im Gegenzug musste er seiner Mutter jährliche Unterhaltszahlungen in Höhe von 1000 Gulden leisten sowie eine Wohnung im Haus zum Walfisch zur Verfügung stellen oder weitere 150 Gulden pro Jahr bezahlen. Während des Österreichischen Erbfolgekriegs übernachtete am Abend des 27. November 1744 Generalfeldmarschalllieutenant Damnitz bei Schauenburg. An diesem Tag hatte er sich in Sankt Georgen mit Coigny, dem Oberbefehlshaber der französischen Belagerungstruppen, getroffen, denen sich die Stadt Freiburg zwei Tage zuvor ergeben hatte. Das Regiment von Damnitz zog zwei Tage später nach Straßburg in die Kriegsgefangenschaft ab. Von Schauenburg wurde infolge von Streitigkeiten mit dem Adelsstand und Unregelmäßigkeiten beim Verkauf von Biesheim seiner Ämter enthoben. Nachdem man ihn am 18. August 1760 in Riegel festgenommen hatte, wurde er in seinem Haus zum Walfisch unter Hausarrest gestellt. Später wurde er zu Festungshaft in Kufstein verurteilt, die sich in den Klöstern zu Waldhausen und Lambach fortsetzen sollte. Er starb 1787 verarmt in Ottakring bei Wien. Der Falkensteinerhof und der große Umbau Gräfin Elisabeth von Schauenburg (geborene Freiin von Hennin), der Ehefrau von Christoph Anton, war es jedoch gelungen, einige Besitztümer aus der Konkursmasse ihres Gatten zu befreien. Darunter fiel neben Neuershausen auch das Haus zum Walfisch, das ab dem 26. April 1768 auf Lebenszeit in ihrem Besitz verblieb. Mit ihrem Tod am 20. Oktober 1796 gelangte das Haus an ihre einzige Tochter Francisca Antonia und deren Ehemann Freiherr Franz Anton von Falkenstein (1744–1800), einen Nachkommen der Schramberger Herren von Falkenstein. Nach dem Aussterben der Breisgauer Linie dieses Geschlechts im Jahr 1872 oder 1873 ging das Gebäude 1874 an den Kaufmann Severin Melchior Klein. Emil Pyhrr, Gastwirt und Weinhändler, erwarb es im Jahr 1886. Er nutzte die Kellergewölbe mit ihren alten Fässern zur Weinlagerung, während die restlichen Etagen als Wohnungen und Büros Verwendung fanden. Unter diesen Nutzern befand sich 1895 beispielsweise das Verlagshaus Stoll & Bader. Das Gebäude wurde zu dieser Zeit noch immer das Falkensteinsche Haus oder auch Falkeinsteinerhof genannt, obwohl dies eigentlich ein anderer Name des Hauses gewesen war, das Erasmus von Rotterdam viele Jahre zuvor erworben hatte. Im Jahr 1905 kaufte die Stadt Freiburg das Haus zum Walfisch zum Preis von 310.000 Goldmark. Grund für den Erwerb waren Überlegungen zum Denkmalschutz, die im selben Jahr auch zum Erwerb des Wentzingerhauses führten. Die Stadt plante, das Gebäude in der Nähe des Alten und Neuen Rathauses zwar weiterhin zu vermieten, es jedoch bei Bedarf für städtische Diensträume zu nutzen. Wegen einer Erweiterung ihres Geschäftsbetriebs benötigte die bis dahin in der Schusterstraße untergebrachte Städtische Sparkasse dringend neue Räume. Dafür wurden mehrere Gebäude geprüft: das Rotteck’sche Anwesen (Eisenbahnstraße), das bisherige Ordinariatsgebäude (Salzstraße), das alte Theater (Oberlinden – Direktionsbüro bis Theaterschulgebäude – Theaterplatz), das Leger’sche Anwesen (Ecke Eisenbahnstraße/Rotteckstraße Nr. 52), das Anwesen Kaufmann Bär (Rotteckstraße 4), das Gasthaus zum Wilden Mann (Ecke Salzstraße/Theaterplatz, Salzstraße 30), das Fuchs’sche Anwesen (Eisenbahnstraße 30), das Anwesen Dr. J. Lanker (Rempartstraße 13) sowie das Schwer’sche Anwesen (Fahnenbergplatz 4) Ferner wurde Max Meckel, der ehemalige Baudirektor des Freiburger Erzbistums, im Jahr 1907 beauftragt, ein Gutachten anzufertigen, um hinsichtlich des Hauses zum Walfisch „die pietätvolle Schonung althistorischer Kunstbauten mit der Gewinnung moderner Betriebsräume zu verbinden“. Meckel betrieb zu dieser Zeit mit seinem Sohn Carl Anton in Freiburg ein Planungsbüro. Er hatte sich durch seinen Umgang mit gotischen Bauten wie dem Frankfurter Römer einen Namen gemacht, was den Stadtrat bewog, ihn als „den zur Planaufstellung berufenen Baumeister“ zu betrachten. So entwarfen Max und Carl Anton Meckel in Zusammenarbeit mit dem städtischen Hochbauamt unter Stadtbaumeister Rudolf Thoma bis zum 23. September 1908 einen Plan mit Kostenvoranschlag. Er sah vor, das Erdgeschoss im Haus zum Walfisch fast unverändert zu nutzen, jedoch im Laufe der Jahrhunderte vorgenommene architektonischen Veränderungen rückgängig zu machen. Zudem sollten jüngere Anbauten an der Franziskanerstraße einem Neubau weichen und zusätzliche Betriebsräume an der Gauchstraße errichtet werden. Am 15. Januar 1909 stimmten der Bürgerausschuss und die Sparkassenkommission den Plänen ohne größere Änderungswünsche zu. In der Sitzung wurden dennoch die veranschlagten Kosten und der Umfang der geplanten Veränderungen am Bau von einigen Abgeordneten kritisiert. Zudem wurde befürchtet, dass durch den Wegzug der Sparkasse und dem damit verbundenen Rückgang des Durchgangsverkehrs, das Geschäftsleben der Oberstadt notleiden würde. Die Stadt verkaufte das Anwesen am 28. April 1909 für erneut 310.000 Goldmark an die Sparkasse, behielt sich jedoch ein Rückkaufsrecht zum gleichen Preis vor. Im Sommer 1909 begannen die Bauarbeiten, die mit der Eröffnung am 9. Oktober 1911 beendet waren. Laut einer Kostenaufstellung in den Akten des Stadtarchivs entfiel auf den Gebäudeteil Falkensteiner Hof/Haus zum Walfisch mit 71.000 Goldmark der zweithöchste Einzelposten des gesamten Umbaus. Als größter Einzelposten lassen sich der Kassensaal und der zweistöckige Flügelbau an der Franziskanergasse mit 177.000 Goldmark ausmachen. Die restlichen Nebengebäude kosteten 17.000 Goldmark. Für Beleuchtung und Kanalisation wurden 10.000 Goldmark verwendet. Auf die Heizungsanlage entfielen 15.000 Goldmark. Das Architektenhonorar belief sich auf 20.774 Goldmark. Vergleichbare Bauprojekte von Freiburger Banken waren durchaus teurer, so die benachbarte Freiburger Gewerbebank mit 557.000, sowie die Süddeutsche Discontbank mit 600.000 und die Rheinische Creditbank mit 630.000 Goldmark. Dennoch war der Umbau wegen seiner Kosten von 350.000 Goldmark unter der Bevölkerung und im Bürgerausschuss umstritten. Der Stadtverordnete Heppeler sprach gar von einem Luxusbau, um einen Kunstbau allerersten Ranges... Das Wesen der Sparkasse vertrage sich nicht mit einem solchen Bau. Dennoch wurde das Projekt von Oberbürgermeister Otto Winterer verteidigt: „Wo bliebe unser heimisches Kunstgewerbe, wenn alle so dächten wie die Kritiker“. Im Besitz der Sparkasse Freiburg In den 1930er Jahren vollzog die Sparkasse den Lückenschluss zur Kaiser-Joseph-Straße. Sie erwarb 1938 das angrenzende Haus Zum Gauch und das 1909 ebenfalls von Meckel umgebaute Wohnhaus des Kommerzienrates Rau (bis 1886: Zur Rosen/zum Silberberg). 1939 folgte der Kauf des Hauses Zum roten Kopf aus dem enteigneten Vermögen des jüdischen Warenhauses S. Knopf. Dieses hieß zwischenzeitlich Kaufhaus Richter, nach dem damaligen Geschäftsführer, dem ehemaligen Syndikus des Kaufhauses Fritz Richter. Im Zweiten Weltkrieg brannte das Haus zum Walfisch beim britischen Bombenangriff Operation Tigerfish vom 27. November 1944 vollständig aus. Die kostbare Innenausstattung ging verloren, lediglich die Fassade blieb erhalten. Der Erker wurde durch eine schnelle Sicherung und Abstützung gerettet. Das Gebäude wurde von 1947 bis 1948 neu aufgebaut konnte dem Landesdenkmalamt in der Denkmalliste vom 9. August 1951 als „völlig wiederhergestellt“ gemeldet werden. Heute wird das Erdgeschoss als Schalterhalle genutzt, während sich in den oberen Stockwerken Büros befinden. Das Hauptportal unter dem Erker ist meist verschlossen; dahinter findet sich ebenfalls ein Büro. Architektur Das, was noch heute als Haus zum Walfisch zu erkennen ist, besteht aus mehreren Bauten: dem an der Franziskanerstraße liegenden, großen Haupthaus und dem zur Gauchstraße hin gelegenen zweigeschossigen Nebengebäude mit einem runden Treppenturm, das über einen niedrigen Zwischenbau mit dem Haupthaus verbunden ist. Daneben steht separat im Hof an der Gauchstraße noch ein kleines eingeschossiges Gebäude. Der Hof ist durch eine Mauer mit Torbogen zur Gauchstraße abgeschlossen. Das etwa 22 Meter hohe traufständige Hauptgebäude erhebt sich auf einem etwas verzogenen rechteckigen Grundriss. Es wurde aus verputztem Bruchsteinmauerwerk errichtet und hat drei Vollgeschosse. Sockel, Portale sowie Gewände an Türen und Fenstern bestehen aus rotem Sandstein. Die Eckquader bestanden ursprünglich ebenfalls aus Sandstein, wurden jedoch während des Umbaus aus Zement rekonstruiert. Das Satteldach ist mit Biberschwanzziegeln gedeckt. Die Giebelwände sind als Staffelgiebel ausgebildet. Die Fassade zur Franziskanerstraße wird von einem spätgotischen Erker aus gelbem Pfaffenweiler Sandstein dominiert, den im zweiten Stock ein Balkon abschließt. Die Fassade ist nicht völlig symmetrisch gestaltet: Der Erker sitzt etwas links von der Mitte, die beiden rechten Fensterachsen sind etwas verschoben. Hier finden sich statt der am Bau sonst auftretenden Kreuzstockfenster zwei gestaffelte dreibahnige Fenster im ersten Obergeschoss. Zwei Gesimse teilen die Stockwerke ab. Das Hauptgesims wurde aus Holz mit steinernem Unterglied hergestellt. Die beim Umbau eingebauten Dachgauben, auf der Vorderseite zehn, auf der Rückseite sechs, sind nicht mehr vollständig erhalten. Heute befinden sich jeweils vier große und zwei kleine Schleppgauben auf den Dachflächen. Der sechseckige Treppenturm trägt eine kupferne Dachhaube. Rinnen, Abfallrohre und Dachspitzen wurden ebenfalls aus diesem Material gefertigt. Die beiden Kellergeschosse haben vier steinerne Stützen mit Gurtbögen, die Obergeschosse vier aus Holz. Die Halle ist zentraler Teil des Hauses und füllt das Erdgeschoss vollständig aus. Die Balken der Decke im ersten Obergeschoss sind mit Hohlkehlen versehen. Die Decke wurde beim Umbau durch die Architekten Meckel mit zusätzlichen X-Stützen als Unterzüge verstärkt. Ein Treppenturm mit einer Wendeltreppe wurde im 18. Jahrhundert abgerissen und als Ersatz eine Eichen-Treppe in die Halle eingebaut. Dabei wurden Teile des gotischen Portals vom ersten Obergeschoss zur Wendeltreppe abgeschlagen. Im Rahmen des Umbaus von 1909 bis 1911 wurde jedoch der Ursprungszustand wiederhergestellt, wobei die Wendeltreppe eine veränderte Drehrichtung erhielt und die Eichentreppe in den westlichen Flügelbau versetzt wurde. An der Vorderseite des Gebäudes wurden die vier großen, bis auf Sockelhöhe reichenden Schaufenster wieder durch sechs normale Fenster ersetzt. Der Ausbruch der Ladenschaufenster war unter der Familie Pyhrr geschehen. Bereits im 18. Jahrhundert wurden Fenstermittelsprossen und Zwischenstürze ausgebrochen und zwei dreiteilige Fenstergruppen verändert, die sich auf der Hofseite im Erdgeschoss sowie auf der Straßenseite im ersten Obergeschoss befunden hatten. Zur gleichen Zeit wurden Holzdecken und Pfosten verputzt sowie die gotischen Staffelgiebel abgebrochen. Sie wurden zusammen mit den Fenstern ebenfalls im Rahmen des Umbaus in den ursprünglichen Zustand versetzt. Im Erdgeschoss befand sich nach dem Umbau hinter dem Portal ein Windfang, von dem aus man rechts in ein Sitzungszimmer gelangte, während sich zur Linken die Büros des Verwalters und weiterer Sparkassen-Angestellter befanden. Über einen offenen Kassentisch konnte der Verwalter zudem den Publikumsverkehr in Beurbarungsangelegenheiten sowie das Hypothekengeschäft abwickeln. Hinter dem Windfang lag eine große Wartehalle. Ein Lesezimmer verband sie mit dem benachbarten Kassensaal, der nach seinen Erbauern noch heute als Meckelhalle bezeichnet wird. Die Wartehalle diente zudem als Zugang zur Hauptkasse der Wertpapierabteilung. Die Obergeschosse wurden für Büros der Stadtverwaltung genutzt: Über den Hof und die Wendeltreppe erreichte man daher das Statistische Amt und das Rektorat der Volksschule. Vermutete man beim Einzug noch, dass die Sparkasse über Jahrzehnte mit dem unteren Stockwerk auskommen würde, wurde dieses bereits im Ersten Weltkrieg vollständig genutzt. Während der Inflationszeit nahm die Sparkasse sogar einen Teil des Obergeschosses in Anspruch und verdrängte später die Stadtverwaltung komplett aus dem Gebäude. Der Verputz wurde mehrmals im Stil der Zeit erneuert: Als die Stadt das Haus erwarb, war es weiß und grün gestrichen. Während der Umbauarbeiten 1911 wurden Reste einer früheren roten Fassadenfarbe entdeckt, die die Architekten Meckel wieder für den Anstrich verwendeten. Das rot grundierte Gebäude war bis 1946 ebenso mit einem weißen Quadermuster versehen, wie die neu errichtete Kassenhalle. Nach dem Wiederaufbau 1947 wurde das Gebäude nur zinnoberrot gestrichen, was dem ursprünglichen Aussehen des Falkensteinischen Hauses entsprach. Im Jahr 2006 wurden die Gebäude des Ensembles mit neuen Farben versehen, die sich an den Epochen ihrer Entstehung orientieren. Teile der Fassade des Hauses zum Walfisch wurden in einem helleren Rotton gestrichen, der Rest behielt seinen Rotbraun-Ton. Das in der Franziskanerstraße zur Linken angrenzende Stadtpalais wurde im Hellgelb der Maria-Theresia-Zeit gestrichen, während der rechts angrenzende Seitenflügel zum roten Vorderhaus an der Kaiser-Joseph-Straße eine hellblaue Farbgebung erhielt. Dies soll den skandinavischen Stil des Wiederaufbaus der 1950er Jahre symbolisieren, in dem dieser Gebäudeteil entstand. Künstlerische Ausstattung Außen Durch das Portal hat man den Eindruck, der Erker beginne bereits am Boden. Auf dem von der Fassade ein wenig abgesetzten Sockel bauen sich Säulen aus mehrfach durchkreuztem Stabwerk auf. Ungefähr auf Kämpferhöhe des stichbogigen Eingangsportals beginnt die gesimsartige, stark profilierte Überführung zum Erker hin, die im Grundriss und Aufriss jeweils einen kämpferlosen Bogen mit dem gleichen Radius darstellt. Die Überschneidung zwischen Bogen und Hauswand wird rechts durch einen Wappenschild mit einem Pferd, links durch ein nacktes Männchen verdeckt. Die dadurch gebildete halbrunde Kappe ist verputzt und von Gewölberippen mit Nasen durchzogen. Für die rechteckige Grundfläche des Erkers wird die Überführung abermals von Gesimsen durchquert. Sie bilden seitlich Eselsrücken und vorn umgestellte Halbkreisbögen, beide mit Krabben besetzt, und lösen sich schließlich in gezeichnete Kreuzblumen auf. Am Erker selbst füllen auf der Vorderseite Maßwerkbögen die Brüstung des zweiten Stocks, während die Seitenflächen mit Wappenschildern des Hauses Habsburg und der Stadt Freiburg geschmückt sind. Darüber überragt ein gemeinsamer Wimperg, der in einer schlanken Kreuzblume endet, ein dreiteiliges Fenster. Der abschließende Balkon besitzt eine reich durchbrochene Maßwerkbrüstung. Nach Ansicht Carl Anton Meckels wurde der Erker von den Münsterbaumeistern Hans von Hall und Hermann Neuhauser angefertigt. Der für den Erker eingesetzte gelbe Pfaffenweiler Sandstein wurde um dieselbe Zeit auch für Steinmetzarbeiten im Chor des Freiburger Münsters benutzt, da er besonders gut zu verarbeiten ist. Auf der Quaderfläche des Erkers befinden sich zur Ableitung des Regenwassers vom Balkon zwei Wasserspeier: ein Löwe, der eine menschliche Figur in den Klauen hält, sowie eine nackte Greisin mit einem Kropf, einem kleinen Hund zu ihren Füßen und einem Schriftband mit der Jahreszahl 1516 in den Händen. Diese Wasserspeier sind Kopien, die Originale werden im Augustinermuseum aufbewahrt; Abgüsse von beiden Figuren befinden sich im Kleinen Stuck-Museum. Die Kopie des Wasserspeiers mit der alten Frau aus dem Jahr 1930 war bis 2006 derart gealtert, dass der Buchholzer Steinbildhauer Joachim Stöhr mit der Fertigung einer neuen Replik betraut wurde. An der Fassade des benachbarten Gebäudes zum Kartoffelmarkt ist ein Marmorportrait Maximilians I. eingelassen. Der Bildhauer Waldemar Fenn hat das Werk nach einem Holzschnitt Albrecht Dürers in Carrara aus dem dortigen Marmor geschaffen. Es zeigt den Herrscher mit einem Hermelinmantel bekleidet im Dreiviertelprofil. In seinen Händen hält Maximilian einen Granatapfel als Herrschaftssymbol. Ursprünglich befand sich das Relief über dem Kamin in der Wartehalle. Das 1911 nach einem Entwurf Meckels von dem Stuttgarter Künstler Robert Nachbaur stuckierte Bildnis der Stadtpatrone Lambert und Georg an der Fassade des Treppenturms ist nicht erhalten. Dies gilt auch für die als kleine Häuschen ausgeführten Schornsteinköpfe. Das Portal, das von der Rückseite des Gebäudes auf den Hof führt, bekrönt ein bemaltes Relief mit Wappen und Siegel der Stadt Freiburg. Das Eingangsportal zur Franziskanerstraße sowie die Fenster im Erdgeschoss des kleineren, zweigeschossigen Gebäudeteils sind mit künstlerisch verzierten Gittern geschmückt. Eines der Gitter trägt das Steinmetzzeichen Carl Anton Meckels. Auf dem Türbogen des Ausgangs zum Hof in Richtung Franziskanerstraße befand sich ebenfalls das Steinmetzzeichen C. A. Meckels. Des Weiteren befindet es sich auf den Wetterfahnen an den Turmhelmen der Meckelhalle, auf einem Rüstungsschild an der Fassadenseite zur Gauchstraße sowie auf einer Metalltafel an der Vorderseite des Gebäudes. Deren Inschrift lautet: Innen Aus der ursprünglichen Innenausstattung blieben lediglich zwei gotisch verzierte Portale vom ersten und zweiten Obergeschoss zur Wendeltreppe erhalten, da um die Zeit des Rokoko das Gebäude innen völlig umgestaltet wurde: Damals entstanden Stuckarbeiten, die im Rocaille- und Louis-seize-Stil Ofennischen und Deckenbereiche schmückten. Während des Umbaus wurden einige Stuckdecken erneuert, ebenso ein gotischer Kamin. Die Innenausstattung (Möbel, Leuchten, Gardinen etc.) war nach Entwürfen Meckels gestaltet worden. Die Tapeten des Obergeschosses kamen von Franz Naager aus Venedig, die Fenster wurden Scheiben-Gardinen an den Fenstern bestanden aus einheitlichem grünen Linon. Die Türen besaßen gravierte Messingbeschläge, die Beleuchtungskörper bestanden ebenfalls aus Messing sowie aus Schmiedeeisen. Rezeption Der Humanist Beatus Rhenanus behauptete im Jahre 1540, das Gebäude sei als Alterssitz für Maximilian erbaut worden. Ohne weitere Belege übernahm der Freiburger Stadtarchivar Peter Paul Albert in einer seiner Veröffentlichungen zur Stadtgeschichte diese These, die der frühere Direktor des Freiburger Stadtarchivs, Hans Schadek, jedoch stark bezweifelt, ohne allerdings den Beweis für die Unrichtigkeit der Behauptung erbringen zu können. Dennoch sieht Walter Vetter (1933–1991) „den wohl schönsten Portalerker der späten Gotik nördlich der Alpen“ als direkte Verbindung zu Maximilian und seiner Vorliebe für Erker an. Dabei verweist er auf die für Maximilian errichteten Erker, das Innsbrucker Goldene Dachl sowie den an der Burg Wels. Weiterhin betrachtet er das Haus zum Walfisch als „den wohl schönsten und ornamentfreudigsten Adelshof in Freiburg“. Peter Paul Albert ist der Meinung, das Haus könne beispielsweise mit dem Erfurter Haus zum Stockfisch konkurrieren, „einem der wertvollsten Profanbauten aus der Renaissance“, das ebenfalls Anfang des 18. Jahrhunderts von der Stadt aufgekauft wurde. Zudem lobt er das Portal vom ersten Stockwerk zur Wendeltreppe wegen seiner krausen Formen und Überschneidungen bei klarem Gesamtaufbau als „üppigste Spätgotik“ und bezeichnet es im Nachgang als ein Teil des Phantastischsten, was dieser Kunststil am Oberrhein hervorgebracht habe. Am 9. Oktober 1911, dem Tag der Eröffnung des Sparkassengebäudes, erschien ein langer Artikel in der Freiburger Zeitung. Darin wurden die „etwas übertriebene Bemalung des Erkers sowie die blutrote Fassadenfarbe“ kritisiert. Der Autor räumte jedoch ein, dass die ursprüngliche Farbe, die während der Arbeiten am Haus entdeckt wurde, die architektonische Gliederung des Gebäudes schärfer und klarer in Erscheinung treten lässt. Zudem lobte er das Innere des Gebäudes und seine stimmige Gestaltung. Seiner Meinung nach würde dieses „restlos befriedigen und nach jeder Richtung, auch der rein ästhetischen, nur aufrichtige Freude an dem hier Geschaffenen empfinden lassen“. Im Jahr 1913 lobte die Deutsche Bauzeitung die Arbeit der Meckels mit folgenden Worten: Aus heutiger Sicht bezeichnet der Architekt und Bauhistoriker Werner Wolf-Holzäpfel den Umbau als „eine bedeutende künstlerische Leistung“ und betrachtet die Arbeit als „eines der Hauptwerke Max Meckels in seiner späten Schaffensperiode“. Wegen ihres schonenden Umgangs mit der Bausubstanz des Hauses zum Walfisch, des beinahe wissenschaftlichen Vorgehens und ihrer sensiblen Ergänzungen an das Bürgerhaus attestiert Wolf-Holzäpfel Vater und Sohn Meckel zudem eine „respektable denkmalpflegerische Tat“. 1976 bezeichnete Josef Wysocki in seinem Band 150 Jahre Sparkasse das Gebäude als zu „den kunsthistorisch bemerkenswertesten Profanbauten der Stadt [gehörend] … und eines der schönsten deutschen Sparkassengebäude...“ Im Jahr 1977 wurde das Haus zum Walfisch für den italienischen Horrorfilm Suspiria zur Vorlage für einen als Ballettschule getarnten Hexenkonvent. Regisseur Dario Argento ließ den Film in Freiburg spielen, drehte jedoch viele Szenen in München, so beispielsweise im Flughafen München-Riem und im Müllerschen Volksbad. Durch den Einsatz von blauem und rotem Licht sowie der Verwendung des IB-Technicolor-Verfahrens von Kodak verstärkte er die Wirkung der roten Fassade des Hauses zum Walfisch. Außen- und Innenaufnahmen der vermeintlichen Ballettschule wurden in einem Studio in Italien gedreht. Literatur Badischer Architekten- und Ingenieur-Verband: Freiburg im Breisgau. Die Stadt und ihre Bauten. Freiburg 1898, S. 213–217. Das Verwaltungsgebäude der Sparkasse. In: Freiburger Zeitung. 9. Oktober 1911, Nr. 277, 128. Jahrgang, 1. Abendausgabe (Digitalisat). Die Städtische Sparkasse zu Freiburg im Breisgau. In: Deutsche Bauzeitung. XLVII. Jg., No. 1–2, Berlin 4. Januar 1913. Die Städtische Sparkasse zu Freiburg im Breisgau. In: Deutsche Bauzeitung. XLVII. Jg., No. 6, Berlin 18. Januar 1913. Peter Paul Albert, Max Wingenroth: Freiburger Bürgerhäuser aus vier Jahrhunderten. Filser, Augsburg 1923. Josef Wysocki: 150 Jahre Sparkasse Freiburg. Waisch, wo der Weg zuem Gulden isch? Jubiläumsschrift zum 150-jährigen Bestehen der Öffentlichen Sparkasse Freiburg. Graphische Betriebe, Freiburg 1976. Hans Schadek: Wurde das Haus „Zum Walfisch“ in Freiburg als Stadtresidenz und Alterssitz Kaiser Maximilians I. erbaut? In: Schau-ins-Land. 98, 1979, S. 129–134 (Digitalisat). Leo Schmidt: Max und Carl Anton Meckel und der Umbau des Hauses „Zum Walfisch“ zur Sparkasse in den Jahren 1909–1911. In: Schau-ins-Land 104, 1985, S. 269–280 (Digitalisat). Peter Kalchthaler: Freiburg und seine Bauten. Ein kunsthistorischer Stadtrundgang. Freiburg 1991, S. 116–119. Werner Wolf-Holzäpfel: Der Architekt Max Meckel (1847–1910). Studien zur Architektur und zum Kirchenbau des Historismus in Deutschland. Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg 2000, ISBN 3-933784-62-X, S. 282 f., S. 382. Weblinks Einzelnachweise Kulturdenkmal in Freiburg im Breisgau Gotisches Bauwerk in Freiburg im Breisgau Erbaut in den 1510er Jahren
4274494
https://de.wikipedia.org/wiki/U-Boot%20mit%20ballistischen%20Raketen
U-Boot mit ballistischen Raketen
U-Boote mit ballistischen Raketen oder strategische Unterseeboote sind U-Boote, die dafür ausgelegt sind, ballistische Raketen, speziell Submarine-launched ballistic missiles (SLBM), mitführen und abschießen zu können. Von Anfang an waren dafür in erster Linie Atom-U-Boote (in diesem Fall oder kurz SSBN, oder kurz SNLE genannt) vorgesehen. Herkömmlich angetriebene Raketen-U-Boote ( (SSB), ) bilden die Ausnahme zu den Raketen-U-Booten mit Nuklearantrieb. 1944 experimentierte die deutsche Kriegsmarine mit U-Boot-gestützten ballistischen Raketen. 1955 stellte die sowjetische Marine ihr erstes U-Boot mit ballistischen Raketen in Dienst. Um 1960 begann in der Sowjetunion und den USA die Serienfertigung strategischer U-Boote. Im Kalten Krieg entwickelten sie sich zu einem wichtigen Bestandteil der nuklearen Abschreckung, denn bei einem Erstschlag der jeweiligen Feindseite wären U-Boote nur schwer auszumachen und zu zerstören und daher – soweit ein reaktionsfähiges Führungssystem (C³) noch vorhanden ist – in der Lage, Vergeltungsschläge auszuführen. Diese U-Boote sind in der Lage, Raketen dicht an die feindliche Küste heranzutragen und so die Abwehr- und Reaktionsmöglichkeiten des Gegners zu reduzieren. Alle Staaten, die während des Kalten Krieges Atom-U-Boote mit ballistischen Interkontinentalraketen in Dienst stellten, verfügen bis heute über diese Waffensysteme. Das sind neben den USA und Russland als Nachfolgemacht der Sowjetunion Großbritannien, Frankreich und China. Indien stellte 2016 sein erstes SSBN in Dienst, China und Russland bauen weitere SSBN, Großbritannien plant den Bau neuer Boote in den 2020er Jahren. Nordkorea soll zwischen 2012 und 2015 ein SSB in Dienst gestellt haben. Derzeit stehen weltweit mehr als 30 U-Boote mit ballistischen Raketen in Dienst, die alle nuklear getrieben sind. Sie sind bis zu 170 Meter lang und verdrängen regelmäßig über 15.000 Tonnen. Jedes dieser U-Boote trägt bis zu 24 ballistische Raketen, von denen jede wiederum bis zu zwölf unabhängig zielbare nukleare Sprengköpfe befördern kann. Dabei handelt es sich um Wasserstoffbomben. Die Sprengkraft jedes einzelnen Gefechtskopfes liegt heute in der Regel bei über 100 Kilotonnen TNT-Äquivalent, die 1945 über Hiroshima abgeworfenen Bombe Little Boy hatte im Vergleich dazu rund 13 kT. 1987, während des Kalten Krieges, waren rund 130 Raketen-U-Boote aktiv, darunter auf sowjetischer Seite rund 15 konventionell angetriebene Einheiten. Geschichte Entwicklung Während des Zweiten Weltkrieges entwickelten deutsche Forscher mit der A4 (V2) die erste ballistische Rakete. Gegen Ende des Krieges wurde in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde eine V2-Version entwickelt, die in einem Startcontainer hinter einem U-Boot geschleppt werden sollte. Jedes U-Boot sollte bis zu drei dieser 36 Meter langen, mit zehn Soldaten bemannten Container durch die Nordsee ziehen. Vor England wäre der Container an die Oberfläche gebracht und die Raketen wären abgefeuert worden. Prototypen testete man bereits an der Ostseeküste, bevor das Projekt 1945 mit der Evakuierung von Peenemünde aufgegeben werden musste. Drei Container waren zu diesem Zeitpunkt bereits im Bau. Der Kommandeur der Heeresversuchsanstalt Walter Dornberger beschrieb das Projekt als „nicht unverheißend“. Erste Raketen-U-Boote Bereits kurz nach dem Krieg starteten Ost und West Entwicklungsarbeiten mit dem Ziel, U-Boote mit ballistischen Raketen ausrüsten zu können. Der Kalte Krieg beschleunigte die Entwicklung. Erste Tests machte die sowjetische Marine. Nach erbeuteten deutschen Unterlagen aus Peenemünde baute man dort fünf U-Boote der Zulu-Klasse zu Raketenträgern um. 1955 feuerte ein U-Boot dieser Klasse erstmals eine ballistische Rakete ab. Ab 1959 vollendeten dann sowohl die United States Navy als auch die sowjetische Marine die ersten als Raketen-U-Boote geplanten Schiffe. Die Vereinigten Staaten stellten Ende 1959 die USS George Washington (SSBN-598) und bis 1961 weitere vier Einheiten der George-Washington-Klasse in Dienst. Die Rümpfe dieser Boote waren eigentlich für Jagd-U-Boote der Skipjack-Klasse vorgesehen gewesen. Durch das Hinzufügen von Startrohren für die Raketen wurden daraus aber die ersten SSBN gefertigt. Die Sowjetunion stellte nur Wochen später das erste Boot ihrer Golf-Klasse in Dienst, die wie die Zulus einen dieselelektrischen Antrieb in einem Raketen-U-Boot implementierte. Diese blieben die einzigen konventionell betriebenen Raketen-U-Boote. 1961 stellte auch die Sowjetunion schließlich ein atomgetriebenes U-Boot mit ballistischen Raketen in Dienst; es gehörte der Hotel-Klasse an. Die sowjetischen Boote mussten zum Abschießen der Raketen auftauchen und dann an der Oberfläche stabilisiert werden, was insgesamt rund 90 Minuten dauerte. Die US Navy hingegen konnte ihre Raketen von getauchten U-Booten aus starten lassen. Am 20. Juli 1960 schoss die George Washington erstmals getaucht eine ballistische Rakete ab. Im Oktober 1961 feuerte die Sowjetmarine erstmals eine U-Boot-gestützte Rakete mit thermonuklearem Sprengkopf ab, ein halbes Jahr später dann auch die US-Navy. Ab Mitte der 1960er Jahre rüstete auch die sowjetische Marine ihre Unterseeflotte auf Raketen zum Unterwasserstart um. Diese ersten Raketen hatten noch sehr begrenzte Reichweiten. Auf amerikanischer Seite kamen die verschiedenen Versionen der UGM-27 Polaris mit Reichweiten zwischen 1000 und 2500 Seemeilen zum Einsatz, die Sowjetunion setzte die R-11 und R-13 ein, die Ziele in Entfernungen bis zu 370 Seemeilen erreichen konnten. Die R-21, ab 1963 eingesetzt, flog 750 Meilen weit. Serienfertigung Die Sowjetmarine fertigte in den folgenden Jahren Raketen-U-Boote in großen Stückzahlen. Bis 1964 hatte sie rund 30 Golfs und Hotels in Dienst. Das gelang, da die konventionell getriebenen Boote der Golf-Klasse viel schneller produziert werden konnten als die größeren, komplexeren Atom-U-Boote. So besaß die US Navy 1964 nur 15 Boote, neben denen der Washington-Klasse auch fünf Boote der Ethan-Allen-Klasse und erste Boote der Lafayette-Klasse. China erwarb die Golf-Pläne und fertigte ein Boot der Klasse. Bereits um 1960 hatte die Sowjetmarine jedoch die Entwicklung neuer SSBN zurückgestellt und ihren Fokus auf landgestützte Raketen gelegt, von den Klassen Golf und Hotel wurden nur noch die bereits georderten Einheiten fertiggestellt. Chruschtschow schuf Ende 1959 die Strategischen Raketentruppen als eigenständige Teilstreitkraft und konzentrierte die strategischen Atomraketen innerhalb dieser. Strategische U-Boote wurden von ihm als unnötig angesehen. Bei der US Navy hingegen nahm die Baugeschwindigkeit in den folgenden Jahren mit steigender Erfahrung zu, bis 1967 hatte sie 41 SSBN in Dienst. Diese Flotte wurde, mit Gedanken an die gewollte Funktion der nuklearen Abschreckung, 41 for Freedom, also 41 für die Freiheit, genannt. Mitte der 1960er Jahre revidierte die sowjetische Führung ihre Haltung bezüglich der Raketenboote, 1967 wurde die erste Einheit des Projekt 667A in Dienst gestellt, die sich technisch erstmals an westliche Entwürfe annäherte. Zu den frühen Booten kamen in den folgenden Jahren 33 weitere Boote dieser Klasse hinzu. 1971 trat als Resultat der Strategic Arms Limitation Talks eine Begrenzung der SSBN in Kraft. Die Sowjetmarine mit 740 Startrohren auf atomgetriebenen Raketen-U-Booten durfte zwar auf 950 Starter auf 62 Booten aufstocken, aber nur bei gleichzeitiger Außerdienststellung älterer Boote oder landgestützter Interkontinentalraketen. Der US Navy waren, unter gleichen Bedingungen, 44 Boote mit 710 Startrohren erlaubt. Ab 1972 ergänzte die Sowjetmarine ihre Flotte zusätzlich mit den Booten des Typs Projekt 667B (Delta I), die in den Ausbaustufen 667BD (II) und 667BDR (III) bis 1982 36 Einheiten erhielt. Da sie dafür nur wenige U-Boote der Hotel- und Golf-Klasse und später Yankee-Klasse deaktivierte oder zu Jagd-U-Booten umrüstete, übertraf sie die US Navy, die weiterhin lediglich ihre 41 for Freedom einsetzte, bezüglich der Raketenboote zahlenmäßig recht bald bei Weitem. Auch in Europa wurde Anfang der 1960er Jahre mit dem Bau von U-Booten mit ballistischen Raketen begonnen. 1967 stellte die Royal Navy ihr erstes SSBN der Resolution-Klasse in Dienst, dem bis 1969 drei weitere folgten. Die französische Marine fertigte mit der Gymnote erst ein konventionell getriebenes U-Boot mit vier Raketen, das als Testschiff für die nachfolgende SSBN-Klasse diente, und stellte ab 1971 die atomgetriebene Redoutable-Klasse in Dienst, die bis 1980 fünf Boote erhielt. Ab Anfang der 1980er Jahre kamen die ersten SSBN zu den Flotten, die auch bis weit ins 21. Jahrhundert hinein in Dienst stehen werden. Auf Sowjetseite betrifft das die sechs Boote des Projekt 941 und die sieben Einheiten des Typs Projekt 667BDRM (Delta IV). Die US Navy vollendete ab 1981 die 18 SSBN der Ohio-Klasse, die die 41 for Freedom ersetzten. Gleichzeitig ließ auch die Volksrepublik China ihr erstes SSBN der Xia-Klasse vom Stapel. Die auf diesen Booten eingesetzten Raketen erreichten erstmals interkontinentale Reichweite. Die amerikanische UGM-96 Trident I hatte eine Reichweite von fast 5000 Seemeilen, die verbesserte UGM-133 Trident II ab 1990 dann 7000 Meilen. Diese werden auch von der Royal Navy eingesetzt. Auch die sowjetische R-29 flog in ihren Varianten bis zu 5000 Meilen, die R-39 lag etwas darunter. Frankreich besaß mit der M 4 eine SLBM mit einer Reichweite von 2700 Seemeilen, Chinas erste Rakete, die JL-1, flog gerade 1100 Seemeilen. Nach dem Kalten Krieg Die Royal Navy stellte Anfang der 1990er Jahre mit der Vanguard-Klasse die erste SSBN-Klasse nach dem Kalten Krieg in Dienst, die jedoch noch während dieser Phase entwickelt wurde. Ähnlich verhielt es sich mit der französischen Triomphant-Klasse, die ab 1997 in Dienst gestellt wurde. Für diese wurde die M 45 mit einer Reichweite von 3300 Meilen entwickelt. Die nunmehr russische Marine übernahm die SSBN-Flotte der Sowjetunion, 1987 bestehend aus über 60 atomar und 15 konventionell getriebenen Raketen-U-Booten, konnte den Betrieb aber finanziell kaum aufrechterhalten. Die noch aktiven Golf, Yankees sowie Delta I und II wurden bis 1995 außer Dienst gestellt, später dann erste Typhoon sowie Delta III. Auch die US Navy überlegte, vier ihrer Ohios zu deaktivieren, konvertierte sie dann aber zu U-Booten mit Marschflugkörpern (SSGN). Russland und China fertigten im 21. Jahrhundert die ersten neuen SSBN. Russland belebte die Borei-Klasse wieder, deren Planung bereits um 1990 begonnen hatte. Im Januar 2013 wurde mit der "Juri Dolgoruki" deren erste Einheit in Dienst gestellt. China baut die Jin-Klasse, der Fortschritt ist unbekannt. Dazu unterhält China eine konventionell betriebene Einheit der Golf-Klasse als Testplattform. Der Status der atomar betriebenen Xia-Klasse ist unbekannt. Mit der Bulawa (Reichweite bis zu 5600 mi) respektive der JL-2 (5000 mi) entwickelten beide Nationen auch neue Raketen. 2012 betrieb die US Navy 14 SSBN der Ohio-Klasse, die Royal Navy vier Vanguards und die französische Marine vier Boote der Triomphant-Klasse. Nur ungenau bekannt ist die Situation in Russland und China. Russland hatte etwa 10 Boote. Drei davon gehörten der Delta-III-Klasse, sechs der Delta-IV-Klasse an. Die Boote der Delta-III-Klasse werden sukzessive deaktiviert. Hinzu kommen ein oder zwei aktive Boote der Typhoon-Klasse, welche jedoch nur mit einem enormen wirtschaftlichen Aufwand einsatzbereit gehalten werden können. Wie viele SSBN China betreibt, ist unbekannt. 2011 soll das erste Boot der Jin-Klasse einsatzbereit sein, weitere befinden sich in Entwicklung. Zukunft Russland und China bauen derzeit die Borei- respektive Jin-Klasse, deren Einheiten entsprechend bis Mitte des 21. Jahrhunderts in Dienst bleiben können. Auch Frankreichs SSBN-Flotte ist recht neu, die Indienststellungen fanden zwischen 1997 und 2010 statt, so dass keine Planungen für neue Boote bekannt sind. Die US Navy geht bei ihrer Ohio-Klasse inzwischen von einer Dienstzeit von 42 statt 30 Jahren aus, nachdem festgestellt wurde, dass die Abnutzung der Boote geringer ist als vorher gedacht. Demnach würde um 2026 mit der Deaktivierung begonnen, das letzte Boot würde 2039 außer Dienst gehen. Nach dem Schiffbauplan der US Navy von 2003 soll die Beschaffung der als SSBN(X) firmierenden Klasse zwischen Haushaltsjahr 2019 und 2023 beginnen. Ersetzt werden sollen die Einheiten der Ohio-Klasse durch die Columbia-Klasse. Die Royal Navy hingegen hat bereits 2006 bekanntgegeben, dass die Vanguard-Klasse ab circa 2022 ersetzt werden muss, die Lebenszeit wird somit mit 25 Jahren angenommen. Die Planungen für den Ersatz laufen bereits. Für den Bau von vier Booten will das Vereinigte Königreich 15 bis 20 Milliarden britische Pfund auf Geldwertkurs von 2006/2007 ausgeben. Diese werden aber statt 16, wie auf den Vorgängern, nur mehr 12 Raketensilos erhalten. Indien legte 2009 sein erstes SSBN, die INS Arihant, auf Kiel. Das Boot wurde im Dezember 2014 fertiggestellt und im August 2016 in Dienst gestellt. Es ist mit ballistischen Raketen vom Typ Sagarika ausgestattet, die jedoch nur eine Reichweite von rund 400 Meilen aufweisen. 2016 wurde die INS Aridhaman fertig gestellt. Sie soll 2018 in Dienst gestellt werden. Zwei weitere Einheiten der Klasse befinden sich im Bau. Nordkorea soll zwischen 2012 und 2014 die Sinpo-Klasse entwickelt haben. Sie soll die Mittelstrecke-Rakete Pukguksong-1 tragen und eine Weiterentwicklung der dieselelektrischen Golf-Klasse sein. Anzahl SSBN und SSB 2017 USA: 18 SSBN Ohio-Klasse, davon 4 zu Cruise-Missile Trägern umgebaut. Russland: 5 SSBN Projekt 955, 3 weitere in Bau. 3 SSBN Projekt 667BDR. 6 SSBN Projekt 667BDRM. 1 SSBN Projekt 941, 2 weitere in Reserve. China: 4 SSBN Jin-Klasse, 8 geplant. 1 SSBN Xia-Klasse. 1 SSB Golf-Klasse Frankreich: 4 SSBN Triomphant-Klasse Vereinigtes Königreich: 4 SSBN Vanguard-Klasse Indien: 1 SSBN Arihant Klasse, weitere Einheit in Erprobung, 2 weitere im Bau. Nordkorea: 1 SSB der Golf-Klasse, bis zu 5 in Bau. Einsatz Mission Die Hauptaufgabe von U-Booten mit ballistischen Raketen ist es, im Falle eines gegnerischen Angriffes die Fähigkeit einer Nation zu einem vernichtenden Gegenschlag ("assured destruction") sicherzustellen, da die U-Boote auf See als der überlebensfähigste Teil des strategischen Kernwaffenarsenals angesehen werden. Die Fähigkeit für einen Erstschlag war bei amerikanischen Raketen-U-Boot-Systemen (offizielle Bezeichnung FBM – "Fleet Ballistic Missile Program": Programm für ballistische Raketen der Flotte) bis zur Einführung der Trident II D5 im Jahr 1990 nicht möglich bzw. nicht gewollt. Die technischen Gründe liegen im Bereich der schwierigen Kommunikation mit den U-Booten auf hoher See, sowie der geringen Treffgenauigkeit der Raketen (bedingt durch die Schwierigkeiten bei der genauen Positions- und Geschwindigkeitsbestimmungen des U-Bootes beim Abschuss der Rakete, Erdschwerefeldschwankungen sowie limitierenden Faktoren bei den Steuerungssystems an Bord der Raketen). Bei der Poseidon C3 wurde erstmals eine Rolle gegen gehärtete Ziele erwogen (eine sogenannte "counterforce" Option, d. h. die Möglichkeit stark geschützte militärische Einrichtungen zu zerstören), und somit eine prinzipielle Erstschlagfähigkeit herzustellen. Das traf aber auf großen Widerstand bei Teilen der US Navy, die sich durch die reine Zweitschlagfähigkeit klar in ihrer Rolle vom SAC der US Air Force abgrenzen wollte, sowie im US-Kongress, in dem viele Abgeordnete ein solches Waffensystem als destabilisierendes Element in Krisenzeiten ansahen. Man befürchtete, dass seegestützte Raketen mit der Möglichkeit, sowjetische Raketensilos zu bekämpfen, die Sowjetunion zu einer "use them or lose them" (benutze oder verliere sie) Reaktion im Falle schwerer Spannungen mit der NATO bewegen könnte. Somit wurde bei der Poseidon auf die Einführung von Sternensensoren zur Verbesserung der Treffgenauigkeit und stärkeren Sprengköpfen verzichtet. Allerdings führte die evolutionäre Entwicklung der vorhandenen Technologien bei der Entwicklung der Poseidon trotzdem zu einer beträchtlich verbesserten Treffgenauigkeit gegenüber der Vorgängersysteme, wodurch sie durchaus gegen "mittelharte" militärische Ziele eingesetzt werden konnte, wie auch das Nachfolgesystem Trident I C4. Da es von dieser Zielkategorie allerdings nicht zu viele Ziele gab, hatte das bei der militärischen Planung im Rahmen des SIOP kaum Bedeutung und die U-Boote blieben reine Zweitschlagswaffen gegen urbane-industrielle (d. h. „weiche“) Ziele. Das änderte sich grundlegend mit der Entwicklung der Trident II D5. Erstmals wurde eine hohe Treffgenauigkeit und "counterforce"-Kapazität als Anforderung bei der Entwicklung festgeschrieben, während bei den vorangegangenen Raketen die Treffgenauigkeit nur ein Entwicklungsziel war, bei dem im Bedarf zugunsten anderer Anforderungen und des Waffensystems Abstriche gemacht wurden. Anders als bei der Entwicklung der Poseidon, gab es bei der Trident II D5 kaum politischen Widerstand, da sich die skeptischen Abgeordneten bereits auf das Entwicklungsprogramm für die landgestützte MX Peacekeeper eingeschossen hatten, und durch das politische Klima in den USA Anfang der 1980er Jahre es sich nicht leisten konnten, sich gegen beide Projekte auszusprechen. Für die counterforce-Rolle wurde der W88-Sprengkopf für die Trident II D5 entwickelt. Dabei wurde die US Navy bei der Zuteilung von hochangereichertem Uran für den Sprengkopf sogar bevorzugt, da dieses nicht für die Produktion für beide Sprengköpfe, den W88 und den W87 der MX, reichte. So bekam die US Navy erstmals in ihrer Geschichte einen stärkeren strategischen Sprengkopf mit 475 kt als ihr landgestütztes Gegenstück bei der Air Force, die sich mit "nur" 300 kt begnügen musste. Da jedoch die Kernwaffenanlage Rocky Flats 1989 die Produktion durch Sicherheitsbedenken einstellen musste, konnte nur eine begrenzte Anzahl von W88-Sprengköpfen produziert werden. So konnten nach Einführung der Trident II D5 im Jahr 1990 nur 4 der 18 U-Boote mit Raketen in See stechen, die diesen Sprengkopf trugen und damit eine counterforce- bzw. Erstschlagfähigkeit besaßen. Die restlichen Trident-Raketen auf den weiteren Booten der Ohio-Klasse wurden mit dem schwächeren W76-Sprengkopf mit Mk.4-Wiedereintrittskörpern wie auf der Trident I C4 ausgerüstet, welcher nur gegen „weiche“ Ziele eingesetzt werden konnte. Derzeit werden diese Sprengköpfe jedoch auf den W76-1 / Mk4A-Standard modernisiert, die dadurch auch Fähigkeiten gegen harte Ziele erlangen. Somit hat die US Navy ihre strategische „counterforce“ Kapazität erst nach dem Ende des Kalten Krieges erhalten. Das schließt auch die britischen U-Boote der Vanguard-Klasse mit ein, welche die amerikanischen Trident II D5-Raketen tragen und deren Sprengköpfe ebenfalls auf den W76-1 / Mk.4A-Standard gebracht werden. Die Aufgabe der sowjetischen U-Boote mit ballistischen Raketen ist prinzipiell die gleiche wie jene der US-Boote, die Sicherstellung der Zweitschlagfähigkeit im Falle eines amerikanischen Erstschlages gegen die landgestützten strategischen Truppen. Anders als in den USA, blieb die Leistungsfähigkeit der sowjetischen U-Boot-gestützten strategischen Waffen bis Ende der 1960er Jahre bescheiden. Die sowjetische Militärführung stand diesem Waffensystem anfangs sehr skeptisch gegenüber. Das lag zum einen an den beschränkten Fähigkeiten der ersten sowjetischen Raketen-U-Boote und ihrer Bewaffnung mit sehr geringer Reichweite und Treffgenauigkeit. Ein ebenso großes Problem war aber die fehlende Kommunikation mit den Booten im Einsatz. Die Sowjetunion hatte damals keine Möglichkeiten, mit getauchten U-Booten auf hoher See zu kommunizieren, was ihren militärischen Nutzen sehr einschränkte. Zum anderen sah es die sowjetische Führung sehr kritisch, U-Boote mit Kernwaffen an Bord ohne jedwede Form der negativen Kontrolle außerhalb ihres Einflussbereiches zu schicken. Den strategischen U-Booten wurde erst ab Ende der 1960er Jahre höhere Bedeutung zugeschrieben. Die Sowjetunion führte Anfang der 1970er Jahre Raketen mit hoher Reichweite auf ihren U-Booten ab der 667B-Klasse (Delta I) ein. Mit diesen Waffensystemen entwickelten sie die sogenannte Bastionsstrategie, wobei die Boote in stark gesicherten Gewässern nahe der sowjetischen Küste (Barents See, Weißes Meer, See von Ochotsk) oder unter dem arktischen Packeis patrouillierten, wo sie durch andere Einheiten des sowjetischen Marine geschützt wurden. Ebenso blieben sie im Hafen auf Raketenbereitschaft, wodurch der Beitrag der Marine zum gesamten strategischen Potential der Sowjetunion erheblich gesteigert werden konnte. Wie auch die amerikanischen strategischen U-Boote, behielten sie bis zum Ende des Kalten Krieges ihre Rolle als Zweitschlagswaffe bei und wurden nicht als "counterforce"-Waffen gesehen. Die neuesten Versionen russischer U-Boot gestützter Raketen der R-29RM-Familie für die Projekt 667BDRM-Klasse (Delta IV) sowie die R-30 für die Borej-Klasse haben möglicherweise eine solche Kapazität. Einsatzprofil Hauptziel eines U-Bootes mit ballistischen Raketen ist es, während seiner Patrouille unentdeckt zu bleiben, damit es seine Rolle der nuklearen Abschreckung erfüllen kann. Mit seinen Atomraketen wird es in die Weiten der Ozeane auf Patrouille geschickt. An geheimen Orten zieht das Boot so in Schleichfahrt seine Bahnen und wartet auf den Befehl, seine Atomraketen abzuschießen. Eine Fahrt dauert zwei bis drei Monate, während deren das U-Boot im Normalfall kein einziges Mal auftaucht. Eine Patrouillenfahrt kann im Wesentlichen in 4 Abschnitte gegliedert werden: das Auslaufen aus dem Heimathafen, die Passage zur Patrouillenzone, die eigentliche Patrouille im vorgegebenen Einsatzgebiet und die Rückkehr zum Heimathafen. Das Auslaufen aus dem Heimhafen ist ein wichtiger Teil einer erfolgreichen Patrouillenfahrt. Normalerweise sind die Heimathäfen der U-Boote unter Satellitenüberwachung eines gegnerischen Staates. Da Überwachungssatelliten abhängig von der Flugbahn nur alle ein bis drei Tage einen Hafen aufnehmen können, werden diese Überfluglücken zum Verlassen eines Hafens genutzt. Des Weiteren wird das Auslaufen durch einen starken Einsatz von Anti-U-Boot Einheiten begleitet, um gegnerische U-Boote in Hafennähe zu detektieren. Die USA überwachten während des Kalten Krieges die sowjetischen Häfen mit Angriffs-U-Booten, um sowjetische strategische Raketen-U-Boote schon beim Auslaufen zu detektieren. Um das zu erschweren, fand der Prozess daher meist bei schlechtem Wetter und nachts statt. Die zweite Phase der Mission ist die Passage zum eigentlichen Patrouillengebiet. Für die ersten Generationen von U-Booten mit Raketen kurzer Reichweite dauerte die Passage bis zu mehreren Wochen. So hatte ein Projekt 667A-U-Boot eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 12 bis 14 Knoten und brauchte 11 bis 13 Tage, um sein Einsatzgebiet zu erreichen. Durch die geographische Position war die Sowjetunion im klaren Nachteil im Vergleich zu den Möglichkeiten der amerikanischen Marine. Die US Navy konnte ihre SSBN in vorgeschobenen Stützpunkten stationieren, um die Anfahrtszeit zu verkürzen. Genutzt wurden Rota in Spanien und Holy Loch in Schottland sowie Pearl Harbor auf Hawaii und Apra Harbor auf Guam. Diese Häfen wurden speziell ausgerüstet, damit dort auch mit Atomwaffen umgegangen werden konnte. Unter anderem wurden dort permanent U-Boot-Tender stationiert. Die Sowjetmarine hingegen musste im Pazifik von ihren Häfen auf Kamtschatka aus den gesamten Ozean durchlaufen. Noch schlechter war die Situation im Atlantik, den die Boote von ihren Häfen auf der Halbinsel Kola nur durch Passage der GIUK-Lücke erreichen konnten. Entsprechend stark hatte die NATO diesen Bereich mit Jagd-U-Booten, Schiffen und Flugzeugen für U-Jagd sowie mit dem SOSUS-Netzwerk abgesichert. So konnten viele sowjetische SSBN verfolgt werden und hätten gegebenenfalls torpediert werden können, bevor sie ihre Raketen hätten abschießen können. Beispielsweise konnte das Jagd-U-Boot USS Batfish (SSN-681) ein Projekt 667A-Boot (Yankee-Klasse) 1978 über 44 Tage und fast 9000 Meilen verfolgen. Mit der steigenden Reichweite der jüngeren Raketengenerationen konnten die Patrouillenzonen näher an die Heimathäfen verlegt und so die Passagezeit deutlich verringert werden. Die dritte Phase der Mission ist die eigentliche Kampfpatrouille. In dieser Phase ist das Boot in ständiger Bereitschaft, seine Raketen nach Erhalt eines gültigen Einsatzbefehles einzusetzen. Um diesen Teil des Einsatzes erfolgreich zu gestalten, sind drei Dinge wichtig: der Schutz vor der Entdeckung des Bootes durch die gegnerische Anti-U-Boot-Aufklärung, die zuverlässige Kommunikation des U-Bootes mit dem betreffenden Oberkommando des jeweiligen Staates sowie die genaue Positionsbestimmung, damit im Falle eines Einsatzbefehles die Raketen mit den entsprechenden Daten programmiert werden können. Um der Entdeckung zu entgehen, wurden von allen Staaten, die diese Boote betreiben, große Ressourcen in die Senkung des Geräuschpegels der U-Boote gesteckt. Die USA waren darin lange Zeit führend, während die sowjetischen U-Boote bis in die 1970er Jahre für ihren hohen Geräuschpegel bekannt waren. Die neueste Generation von strategischen U-Booten soll sich sowohl auf amerikanischer als auch auf russischer Seite kaum noch von den Hintergrundgeräuschen des Ozeans unterscheiden lassen. In ihren Patrouillengebieten bewegen sich die Boote auch nur mit Manövriergeschwindigkeit von 4 bis 5 Knoten, um die Geräuschentwicklung weiter zu senken. Die Kommunikation mit den U-Booten war besonders bei den ersten Generationen von strategischen Raketen-U-Booten für die Sowjetunion ein Problem, weshalb die sowjetische Führung zunächst den landgestützten strategischen Raketentruppen den Vorzug gab. Auch in den USA begründete die US Navy ihren Rückzug auf die reine Zweitschlagrolle bis zur Einführung der Trident II D5 damit, dass man die für eine Erstschlagwaffe nötige Kommunikation mit den Booten nicht sicherstellen könne. Das Hauptproblem ist, auf den getauchten U-Booten in großer Entfernung zur Heimat Befehle zu empfangen oder Mitteilungen zu senden. Ein Boot kann das von der Wasseroberfläche tun, würde dabei aber seine Position preisgeben, wodurch der Zweck der Boote hinfällig würde. Die USA errichteten ab dem Ende der 1950er Jahre ein weltumspannendes Netzwerk von Längstwellen (VLF – Very Low Frequency) und Langwellen (LF – Low Frequency) Radiosendern, um mit ihren U-Booten zu kommunizieren. Die amerikanischen U-Boote wurden dazu mit Schleppantennen bzw. Bojen-antennen ausgestattet. Diese schränkten aber die Tauchtiefe, Manövrierfähigkeit und Geschwindigkeit ein und machten sie leichter detektierbar. Die US Navy entwickelte dazu auch das TACAMO-System in den 1960er Jahren, EC-130-Flugzeuge mit VLF-Schleppantennen, welche über den Ozeanen kreisten. Die VLF-Systeme erwiesen sich teilweise als unzuverlässig und es passierte öfters, dass die U-Boote für sie bestimmte Nachrichten nie erhielten. Die U-Boot-Kommunikation wurde später durch Kurz- und Ultrakurzwellen (HF und UHF) ergänzt. Um diese zu empfangen, muss ein U-Boot jedoch auf Sehrohrtiefe eine Antenne ausfahren, und ist so leicht auszumachen. Die amerikanischen Boote suchen daher im Regelbetrieb nach Meldungen im VLF-Band, und nur bei Ausbleiben von Nachrichten nutzen sie höhere Frequenzen. Seit den 1950er Jahren forschte die US Navy auch im Bereich der Extremen Langwellen (ELF – Extremely Low Frequency), ein Band das höhere Reichweite, größere Eindringtiefen in Meerwasser und geringere Anfälligkeit gegen Störsender versprach. Allerdings ist die Datenübertragungsrate sehr gering, die benötigten Sender sind sehr groß und benötigen große Mengen an Energie (der erste Projektvorschlag Ende der 1960er Jahre sah eine Antennenlänge von 10.000 km vor bei einer Sendeleistung von 800 MW). Durch die letzten beiden Punkte zusammen mit den verbundenen Kosten wurden solche Systeme in den USA zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen und der erste Sender wurde in den USA erst 1989 in Betrieb genommen. Ebenso wie die USA, nutzt Russland heute ein breites Spektrum von Frequenzen und spezialisierten Sendern, um mit seinen U-Booten zu kommunizieren. Das reicht von UHF bis zu VLF von land-, luft- und satellitengestützten Sendern. Die Mitteilungen an die Boote werden auf mehreren Frequenzen gleichzeitig übertragen, um den Empfang sicherzustellen. 1985 führte die russische Marine die Tu-142MR ein, welche in ihrer Funktion vergleichbar mit den amerikanischen TACAMO-Flugzeugen ist. Ebenso verfügt Russland über ELF-Sender. Da die Datenübertragungsrate über das ELF-Band sehr niedrig ist, werden darüber nur kurze codierte Nachrichten gesendet, die zum Beispiel "Auftauchen, um Befehle für Waffeneinsatz zu erhalten" bedeuten. Eine der größten Herausforderungen bei der Entwicklung einer seegestützten Abschreckungsmacht bereitete die Entwicklung genauer Navigationssysteme. Damit der Bordcomputer einer Rakete die Flugbahn zum Ziel berechnen kann, muss die genaue Position und Geschwindigkeit der Startplattform sowie das Erdschwerefeld bekannt sein. Bei einem fest installierten landgestützten System ist das relativ einfach einzumessen, bei einem sich bewegenden und getauchten System stellte es die Entwickler vor große Probleme. Dazu wurden für die U-Boote Trägheitsnavigationssysteme entwickelt, die ständig verbessert wurden. Diese Navigationssysteme brauchen jedoch regelmäßige Updates (bei der ersten Generation einmal täglich), um Abweichungen auszugleichen. Die US Navy baute von Anfang der 1960er Jahre ein eigenes satellitengestütztes Navigationssystem Transit auf, durch welche die amerikanischen U-Boote ihre Position bestimmen konnten. Heute benutzt die US Navy GPS, während Russland die Parus und GLONASS Satellitensysteme nutzt. Für die Bestimmung des Erdschwerefeldes wurden aufwendige schiffs- und satellitenbasierte Ozeanbodenkartographieprogramme und Schwerefeldmessungen unternommen. Zur Geschwindigkeitsbestimmung der U-Boote werden bei der Ohio-Klasse Doppler-Sonare eingesetzt. Bei den ersten U-Booten der sowjetischen Marine bis zur Projekt 667A-Klasse wäre nach Erhalt eines Startbefehls ein Paket mit den genauen Angaben zum Startgebiet geöffnet worden. Das Boot hätte sich anschließend in dieses Gebiet begeben und der kommandierende Offizier ein zweites Paket aus seinem persönlichen Safe geöffnet, das die Codes für das Feuerleit- und Zielsystem enthielt, um die Raketen zu starten. Vor der Eingabe der Codes musste die Echtheit des Befehls vom Kommandanten des U-Bootes und seinem Ersten Offizier unabhängig voneinander festgestellt werden. In den 1970er Jahren wurde die Prozedur geändert und die nötigen Codes für den Raketenabschuss wurden zusammen mit dem Einsatzbefehl übertragen, befanden sich also nicht mehr an Bord. Nachdem das Boot am Startgebiet ankam, ging es auf Feuertiefe, die Position des Bootes wurde feinjustiert, das Raketensystem wurde getestet und die Zieleingabe erfolgte. Diese Prozedur dauerte bei der ersten Generation sowjetischer U-Boote etwa eine Stunde. Bei den modernen russischen Booten dauert es durch weitgehende Automatisierung nur noch etwa 15 Minuten. Die erste Generation sowjetischer U-Boote konnte ihre Raketen im Abstand von 15 bis 30 Minuten abfeuern. Die Projekt 667A-Klasse konnte jeweils 4 Raketen in einer Salve abfeuern, mit einem Start alle drei Sekunden. Zwischen der ersten und zweiten Salve lagen unter 3 Minuten. Nach der zweiten Salve wurden etwa 30 Minuten benötigt, um die letzten beiden Salven abfeuern zu können, da man die Position des Bootes wieder neu bestimmen und es neu ausrichten musste. Die späteren russischen U-Boote können ihren gesamten Raketenbestand in einer einzigen Salve abfeuern. Nach einem Raketenschlag sollten die sowjetischen U-Boote entweder auf ihren Basen oder durch spezielle Schiffe auf See mit neuen Raketen beladen werden und wieder auf See gehen, um einen ausgedehnten Atomkrieg führen zu können. Auf amerikanischen U-Booten müssen zwei Offiziere nach Erhalt eines Einsatzbefehles (Emergency Action Message, EAM) diesen auf seine Echtheit prüfen. Nachdem das geschehen ist, öffnen zwei weitere Offiziere einen Safe mit Doppeltür. Zu jeder dieser Türen hat jeweils nur ein Offizier (und ein Ersatzmann) den Code. Der Safe enthält den Schlüssel zur Aktivierung der Feuersequenz und wird von den beiden Offizieren dem Kapitän des Bootes übergeben. Weiterhin muss der Waffenoffizier einen weiteren Safe öffnen, der den zum Abschuss der Raketen benötigten Auslöser enthält. Nach erfolgter Aktivierung des Feuerleitsystems startet dieses die inertialen Steuerungssysteme an Bord der Raketen. Anders als bei landgestützten Interkontinentalraketen, werden diese bei den seegestützten Interkontinentalraketen nicht permanent aktiv gehalten, sondern die Trägheitskreisel der Steuerungssysteme müssen erst auf Touren gebracht werden. Daraufhin bekommt das Steuerungssystem an Bord der Rakete vom Feuerleitsystem die nötigen Daten übermittelt, um die korrekte Flugbahn zum Ziel auszuführen. Nachfolgend wird das Steuerungssystem der Rakete auf selbstständigen Betrieb und die Rakete auf interne Energieversorgung geschaltet und kann abgefeuert werden. Seit der Einführung der strategischen U-Boote bei der US Navy operieren diese in sogenannten „Chains“ (Ketten) von jeweils drei U-Booten. Jeder Kette werden jeweils zwei Sätze von Zielen zugeordnet. Nach etwa einer halben Patrouille des ersten Bootes der Kette übernimmt das zweite Boot der Kette dessen alten Zielsatz. Schließt das erste Boot seine Patrouille ab, so rückt das dritte Boot in der Kette nach, welches vom Versorgungsschiff oder Heimathafen kommt. Diese Vorgehen erlaubte es bei den ersten Booten mit Raketen geringer Reichweite, permanent zwei Sätze von Zielen unter Bedrohung zu halten, wurde aber auch für die jüngeren Generationen von U-Booten mit Raketen größerer Reichweite beibehalten. Das macht es aber auch notwendig, dass die U-Boote hinsichtlich Bewaffnung standardisiert sind (Typ der Raketen, Anzahl der Sprengköpfe pro Rakete, deren Sprengkraft). Frankreich und Großbritannien schicken ihre Boote aus Île Longue beziehungsweise Faslane-on-Clyde zu Patrouillen in den Nordatlantik. Über das Einsatzprofil der chinesischen Marine ist nichts bekannt. Die neuen Boote der Jin-Klasse werden im Marinestützpunkt Sanya auf Hainan stationiert, möglicherweise unterhält die chinesische Marine im Golf von Bohai eine ähnliche Bastion, wie sie die Sowjetmarine eingerichtet hat. Patrouillenhäufigkeit Nach dem Ende des Kalten Krieges sank die Zahl an aktiven strategischen U-Booten sowohl in den USA als auch in Russland. Während die US Navy jedoch ihre Einsatzfrequenz pro Boot aufrechterhalten konnte, sanken die Verlegungszahlen bei der russischen Marine stark. Ende der 1960er Jahre führte die US Navy 130 Fahrten jährlich durch, in den folgenden drei Jahrzehnten im Schnitt rund 100. Im 21. Jahrhundert sank die Zahl von circa 60 auf noch 31 im Jahr 2008. Von rund 100 Patrouillen der Sowjetmarine jährlich 1984 sank die Zahl über noch 20 Fahrten 1994 auf keine mehr Anfang des 21. Jahrhunderts. 2008 absolvierten die Boote wieder zehn Patrouillen, womit Russland rechnerisch erstmals seit 1998 wieder kontinuierliche seegestützte Abschreckung auf See erreicht haben könnte. Frankreich und Großbritannien erreichen mit jeweils 6 Patrouillen pro Jahr eine solche permanente Präsenz von Nuklearraketen unter der Wasseroberfläche. Die chinesische Xia wurde nie auf Patrouille geschickt, bis 2009 auch keines der Boote der Jin-Klasse. Damit führte die US Navy 2008 mehr Einsatzfahrten mit SSBN durch als alle anderen Staaten zusammengenommen. Die insgesamt 59 Raketen-U-Boote der US Navy absolvierten zwischen der ersten Patrouille der George Washington vom 15. November 1960 und 2009 aggregiert fast 3900 Patrouillenfahrten, davon 1000 mit Tridents an Bord. Besatzung Für die Besatzungen unterscheidet sich der Dienst auf Raketen-U-Booten wesentlich von denen auf anderen Kriegsschiffen. Die westlichen Marinen teilen jedem SSBN zwei komplette Besatzungen zu, die Sowjetunion übernahm dieses Konzept später auch. So kann die Hafenliegezeit bedeutend reduziert werden. Jedes US-Boot geht für 70 bis 90 Tage auf Patrouille, kommt dann in den Hafen und wechselt die Besatzung, die bereits nach kurzer Zeit wieder auf Patrouille gehen kann. Die Ohio-Klasse verbringt so 74 bis 77 Tage auf See, gefolgt von einer 35- bis 38-tägigen Phase zum Bunkern. Damit sind sie rund 70 % der Zeit im Einsatz. Im Gegensatz dazu hielt die Sowjetmarine mit dem Aufkommen der Interkontinentalraketen den Großteil ihrer Raketen-U-Boote mit hohem Bereitschaftsgrad im Hafen und ließ nur einen kleinen Teil patrouillieren. So sparte sie Personalkosten und reduzierte die Abnutzung. Während des Kalten Krieges konnten zumindest auf amerikanischen Raketen-U-Booten die Atomraketen gestartet werden, ohne dass das von außen hätte autorisiert werden müssen. Wenn der Funker den Befehl erhalten hatte, die Raketen zu starten, mussten zwei Offiziere das bestätigen und den übermittelten Code verifizieren. Danach gab der Commanding Officer den Befehl, die Raketen scharfzumachen, und konnte sie sodann abfeuern. Frank Barnaby zeichnete 1984 auf dieser Basis ein Szenario, bei dem nur der Funker und der Kapitän eines SSBN sich hätten verschwören müssen, um einen Atomkrieg auszulösen. Erst 1997 wurde mit dem Trident Coded Control Device ein System eingeführt, das den Abschuss fest daran bindet, dass ein Code vorliegt, der von den Joint Chiefs of Staff gesendet wurde. Alle anderen Staaten mit SLBM auf See mit Ausnahme von Großbritannien haben ein ähnliches System implementiert. Auf den Booten der Royal Navy hingegen ist die Besatzung weiterhin in der Lage, Atomraketen aus eigenem Antrieb abzuschießen. Auch psychisch ist der Einsatz auf SSBN belastend. So können Seeleute auf diesen Booten davon ausgehen, einen Nuklearkrieg zu überleben, müssen aber Städte und Militäreinrichtungen mit Atomwaffen angreifen. Zudem sind die Heimatstützpunkte, in denen Familie und Freunde leben, Primärziele der Gegenseite. Anteil an den Raketenstreitkräften Sowohl die USA als auch Russland und China besitzen neben SLBM auch landgestützte ballistische Interkontinentalraketen (ICBM). Die US Navy unterhält dabei mehr als die Hälfte aller amerikanischen strategischen Sprengköpfe. Im Gegensatz dazu bilden Russlands landgestützte Raketen, wie auch schon in der Sowjetunion, den größeren Teil der strategischen Abschreckungskräfte. Der Anteil der Sprengköpfe auf SLBM in der Marine der chinesischen Volksbefreiungsarmee ist unbekannt. Die Xia wurden eher als Prototyp denn als Teil der strategischen Abschreckungskräfte gesehen, mit dem Aufkommen der Jin dürfte sich das aber ändern. Frankreich baute in den 1970er Jahren 18 Silos für ballistische Mittelstreckenraketen im Département Alpes-de-Haute-Provence und besaß mobile Kurzstreckenraketen. Beide Typen wurden Mitte der 1990er Jahre jedoch abgerüstet. Großbritannien setzte nie landgestützte ballistische Atomraketen ein. Frankreich stützt seine nukleare Abschreckung zusätzlich auch auf die Luftwaffe. Technik Rumpf und Antrieb Technisch entsprechen U-Boote mit ballistischen Raketen im Wesentlichen normalen (Atom-)U-Booten. Bedeutendste Änderung ist die zusätzliche Sektion zur Aufnahme der Raketen. So wurde für das erste SSBN der US Navy der Rumpf eines sich im Bau befindlichen Jagd-U-Bootes aufgetrennt und an dieser Stelle eine rund 40 Meter lange Sektion eingesetzt. Auf den ersten sowjetischen Raketen-U-Booten der Hotel- und Golf-Klasse waren drei ballistische Raketen hintereinander im Turm untergebracht. Das U-Boot war bei einer solchen Konfiguration nicht wesentlich größer, lediglich der Turm wurde etwas nach achtern gestreckt. Alle nachfolgenden U-Boote sämtlicher Marinen sind jedoch anders gestaltet und tragen wesentlich mehr Raketen, zwischen 12 (Xia-Klasse) und 24 (Ohio-Klasse). Diese können im getauchten Zustand abgefeuert werden. Die ballistischen Raketen sind in einer Sektion untergebracht, die sich mittschiffs, meist hinter dem Turm, befindet. Das ist sinnvoll, da das U-Boot so bei Raketenstarts recht stabil bleibt. Je nach Durchmesser des Rumpfes und Länge der Raketen ist bei vielen U-Booten ein deutlicher Buckel zu sehen, unter dem sich die Raketen vertikal stehend in jeweils einzelnen Startrohren befinden. Auf Grund dieser zusätzlichen Sektion sind die SSBN allerdings auch wesentlich länger und schwerer als Jagd-U-Boote. Die größten Vertreter der Raketen-U-Boote sind über 170 Meter lang, während Jagd-U-Boote nur um 100 Meter messen. Sie verdrängen getaucht regelmäßig mehr als 15.000 Tonnen, weshalb die Bezeichnung „Boot“ teilweise als unpassend empfunden wird. Einige Autoren verwenden stattdessen etwa „U-Schiff“. Auf Grund ihrer Ausmaße verlieren SSBN wesentlich an Wendigkeit und Geschwindigkeit, weshalb sie, wenn sie von Jagd-U-Booten aufgespürt werden, diesen kaum etwas entgegenzusetzen haben. Auf Grund ihres Einsatzprofils ist für Raketen-U-Boote Geschwindigkeit aber ohnehin kein entscheidendes Kriterium, sie weisen eine wesentlich langsamere Endgeschwindigkeit auf als etwa Jagd-U-Boote. Stattdessen ist es zur Erfüllung ihrer Aufgabe essentiell, dass sie in langsamen und mittleren Geschwindigkeiten möglichst wenig Lärm entwickeln, den der Feind über passives Sonar auffassen und somit das Boot orten könnte. Moderne Reaktoren implementieren daher das Prinzip der natürlichen Konvektion, bei dem während der Schleichfahrt keine Pumpen benötigt werden, um Kühlmittel durch den Reaktor zu pumpen, wodurch eine wesentliche Lärmquelle von Atom-U-Booten ausgeschaltet wird. Durch die Größe der Boote ist eine optimale Hydrodynamik bedeutend für die Leistung der Boote. So sind alle amerikanischen Boote in einer Tropfenform nach dem Vorbild des Versuchsbootes USS Albacore (AGSS-569) gefertigt, die Raketenbuckel sind weit weniger deutlich sichtbar als bei einzelnen Sowjet-Entwürfen. Das liegt auch daran, dass die Trident II zwischen einem und eineinhalb Meter kürzer sind als etwa ihre östlichen Pendants R-29 in der Delta-Klasse, die für ihre Raketen eine deutliche Erhöhung des Decksbereichs hinter dem Turm benötigt. Auch auf Grund dieser Struktur und ihres Strömungswiderstandes benötigen alle sowjetischen Boote von der Hotel- bis zur Typhoon-Klasse gleich zwei Reaktoren. Das bedeutet mehr Reaktorgeräusche, durch die unregelmäßige Rumpfstruktur werden Strömungsgeräusche erzeugt. Mit der Typhoon-Klasse stieß die Sowjetmarine in neue Dimensionen vor. Sie ist zwar ähnlich lang wie vorherige Entwürfe aller Nationen, aber rund doppelt so breit, die Verdrängung liegt bei dem Doppelten etwa der Delta-IV- oder Ohio-Klasse. Das wurde durch zwei separate Druckhüllen erreicht, die von dem äußeren Rumpf eingefasst werden. Mittschiffs existiert eine weitere kleine Druckhülle für die Kommandozentrale unter dem Turm. Die R-39-Raketen sind mehr als zweieinhalb Meter länger als die Trident, ihre Startrohre liegen zwischen den Druckhüllen und vor dem Turm. Der Entwurf wurde für den Einsatz unter dem Packeis optimiert. Bewaffnung Raketen sind bestimmungsgemäß die Hauptbewaffnung der U-Boote dieses Typs. Zur Selbstverteidigung sind sie allerdings ebenfalls mit Torpedorohren ausgestattet. Da Raketenstarts optisch, akustisch und per Radar leicht zu orten sind, verrät ein U-Boot mit dem Start auch seine Position und ist daher unter Umständen darauf angewiesen, sich verteidigen zu können. Während die ersten sowjetischen strategischen U-Boote zum Raketenstart noch an die Wasseroberfläche mussten, können modernere Boote aller Staaten die Raketen getaucht in Periskoptiefe von etwa 20 Metern abfeuern. Dafür wenden sie ein cold launch genanntes Verfahren an: In einen Freiraum unter der Rakete wird ein Gas gepumpt, zum Start durchbricht die Rakete eine Schutzkappe und steigt, durch das Gas vor dem Wasserdruck geschützt, an die Wasseroberfläche. Erst dort zündet das Raketentriebwerk. Die ersten SLBM hingegen funktionierten nach dem Prinzip des hot launch, bei dem das Boot auftauchen musste, die Rakete etwas aus dem Silo angehoben wurde und dann direkt aus dem Silo heraus ihr Triebwerk startete. Nach dem Abschuss einer Rakete füllt sich das nun leere Rohr mit Wasser, um den Gewichtsverlust auszugleichen und das U-Boot so im Trimm zu halten. Die heutigen SLBM können jeweils mehrere Gefechtsköpfe befördern. Diese einzelnen Sprengköpfe eines Multiple independently targetable reentry vehicle (MIRV) können auf jeweils eigene Ziele programmiert werden. Nachdem sich die Sprengköpfe aus dem MIRV gelöst haben, steuern sie unterschiedliche, voreingestellte Koordinaten an. Die russische Bulawa setzt als erste SLBM die Maneuverable reentry vehicles (MARV) ein. Hier sind die Waffen auch nach der Abtrennung von der Trägerraketen in der Lage, Lenkmanöver durchzuführen und gehorchen nicht allein der vorhersagbaren Ballistik. Damit sind sie wesentlich schwerer abzufangen. Mehrfachsprengköpfe verleihen jedem SSBN ein sehr großes Vernichtungspotential. Jede Trident II an Bord der Ohio- und Vanguard-Klasse kann zwölf Sprengköpfe tragen, der erste Strategic Arms Reduction Treaty (START I) erlaubt für die USA acht Gefechtsköpfe, so dass jedes U-Boot bis zu 192 Ziele angreifen kann. Der Strategic Offensive Reductions Treaty verlangt bis 2012 eine weitere Reduzierung der Sprengköpfe, weswegen die US Navy sich seit 2005 auf sechs Sprengköpfe pro Rakete beschränkt, weitere Reduzierungen sollen folgen. Selbst mit sechs W88-Sprengköpfen erreicht jede Rakete aber noch eine Sprengkraft von fast 3 Megatonnen TNT-Äquivalent. Damit liegt die Sprengkraft einer so bestückten Rakete beim 200-fachen der über Hiroshima abgeworfenen Bombe Little Boy. Ausgerüstet mit sechs W76 liegt die Sprengkraft bei noch 600 Kilotonnen. Tatsächlich befindet sich eine Mischung beider Typen an Bord jedes US-U-Bootes. Im Kalten Krieg fuhr jedes US-Raketen-U-Boot mit genug Zerstörungskraft, um alle sowjetischen Städte mit mehr als 200.000 Einwohnern zu vernichten. Während des Kalten Krieges stieg die Anzahl der auf SSBN stationierten Sprengköpfe steil an. Gab es 1970 rund 650 amerikanische und 300 sowjetische Sprengköpfe für SLBM, so war deren Zahl um 1988 auf etwa 5600 (USA) bzw. knapp 3000 (UdSSR) angestiegen. Ermöglicht wurde diese Steigerung vor allem durch die Einführung der Mehrfachsprengköpfe in den 1970er Jahren. So konnte die US Navy ohne signifikante Steigerung der Abschussrohre die Sprengkopfzahl erhöhen, und auch die Verzehnfachung sowjetischer Sprengköpfe basiert nicht allein auf Flottenvergrößerungen. Mit dem Ende des Wettrüstens sanken diese Zahlen wieder, so hatten die USA 2009 noch rund 1150 und Russland etwa 600 einsatzbereite Sprengköpfe auf ihren SSBN stationiert. Frankreich und Russland setzen Sprengköpfe mit ähnlicher Leistung wie der W76 ein, so dass die Zerstörungskraft einer Rakete mit mehreren Sprengköpfen um 500 Kilotonnen TNT-Äquivalent liegt. Die Royal Navy bestückt jede Trident mit drei Sprengköpfen zu je 100 Kilotonnen. Auf den chinesischen Raketen werden keine MIRV eingesetzt, die Sprengkraft liegt bei 200 bis 300 Kilotonnen pro Rakete. Die indische Marine will ihre SLBM mit einem Sprengkopf von rund 500 Kilotonnen ausrüsten. 2006 schlug das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten auf Anraten des National Research Councils vor, eine Version der Trident II mit konventionellen Sprengköpfen zu entwickeln und auf den Booten der Ohio-Klasse einzusetzen, um in der veränderten Gefahrenlage nach dem Ende des Kalten Krieges auch mit nicht-nuklearen Langstreckenraketen etwa Terroristen angreifen zu können. Der Kongress verweigerte jedoch die Finanzierung des Projekts, unter anderem aus der Sorge, dass Russland und China den Start einer solchen konventionellen Trident für einen Atomschlag halten könnten. Die teilweise Abrüstung nuklearer Sprengköpfe würde so die Gefahr eines Atomkrieges ansteigen lassen. Kosten Für die erste Generation des amerikanischen Fleet Ballistic Missile Programmes schätzte das US-Verteidigungsministerium unter Robert McNamara im Jahr 1961, dass jede Polaris A1 auf Station (also inklusive der umgelegten Kosten für die U-Boote) 9,7 Millionen USD kostet, im Vergleich zu 5 Millionen USD pro geplanter landgestützter mobiler Minuteman und 3,2 Millionen USD pro fest stationierter Minuteman. Trotz der höheren Kosten pro Rakete wurde das Programm sehr wohlwollend und als kosteneffektiv innerhalb des Ministeriums betrachtet, da das Polaris Waffensystem als unverwundbar betrachtet wurde. Für die Sowjetunion lagen die Kosten Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre bei 150 Millionen Rubel je Projekt 667BDR Boot (Delta III), ein Projekt 941 Boot (Typhoon) kostete das Land etwa das Dreifache, womit es die teuersten je von der Sowjetmarine in Dienst gestellte U-Boote waren. Der Bau eines U-Bootes der Ohio-Klasse kostete 1985, also für die letzten Boote, 1,8 Milliarden US-Dollar. Die erste Einheit wurde noch mit 740 Millionen Dollar taxiert, die achte 1980 mit 1,12 Milliarden Dollar. Für das Trident-II-Programm hat das Congressional Budget Office der US-Regierung inklusive Entwicklung und Bau der Raketen sowie Bau, Betrieb und Unterhaltung der U-Boote, zwischen 1987 und 2030 Kosten von über 100 Milliarden Dollar nach Preisen von 1987 vorgesehen. Die wesentlich kleinere Trident-Flotte der Royal Navy soll über ihre Lebensdauer rund 15 Milliarden Pfund nach Preisen von 2007 kosten. Der Ersatz für die Vanguard-Klasse könnte über ihre Lebenszeit bis zu 76 Milliarden Pfund verschlingen. Eine einzelne Atomrakete vom Typ Trident II kostet in der Anschaffung rund 30 Millionen US-Dollar. Die jährlichen Kosten für die französische SSBN Flotte liegen bei etwa 1,5 Milliarden Euro. Der Produktionsauftrag für die jüngste Generation an französischen U-Boot gestützten Raketen M51 an EADS hatte 2006 einen Wert von etwa 3 Milliarden Euro. Unfälle Die Reaktoren der ersten SSBN der sowjetischen Hotel-Klasse waren im Vergleich zu westlichen Standards nur äußerst unzureichend abgeschirmt und weit fehleranfälliger. Entsprechend gab es von Beginn an Probleme. Die K-19 erlitt bereits 1961, kurz nach ihrer Indienststellung, ein Leck im Kühlwasserkreislauf des Reaktors, als sie bei Grönland fuhr. Eine Kernschmelze konnte nur dadurch verhindert werden, dass acht Seeleute direkt in die kontaminierte Reaktorkammer gingen und ein improvisiertes Notkühlsystem installierten. Sowohl diese acht als auch 13 weitere Seeleute wurden so stark verstrahlt, dass sie an den Folgen der Strahlung starben. 1968 sank mit der K-129 ein dieselelektrisches Raketen-U-Boot der Golf-Klasse aus ungeklärten Gründen im Pazifik. Die sowjetische Marine bemerkte nur die ausbleibenden Funksprüche des Bootes, das Wrack konnte sie aber nicht finden. Die US Navy hingegen hatte über SOSUS eine Explosion detektiert und den Untergangsort lokalisiert. Die CIA ließ daraufhin unter höchster Geheimhaltung die Hughes Glomar Explorer bauen und versuchte 1974 im Azorian-Projekt, das Wrack aus 5000 Metern Tiefe zu bergen, was teilweise auch gelang. 1985 soll nach Berichten ein chinesisches SSBN der Xia-Klasse gesunken sein, offiziell bestätigt wurde das jedoch nie. 1986 explodierte auf dem sowjetischen U-Boot K-219 nach einem Seewasserleck in einem Silo eine der ballistischen Raketen. Nachdem in der Folge auch hier Reaktorprobleme auftraten, musste der Matrose Sergei Anatoljewitsch Preminin in die Reaktorkammer, um den Reaktor manuell abzuschalten, und so eine Kernschmelze zu verhindern. Das gelang ihm, aber auch er starb an der Verstrahlung. Nachdem die K-219 drei Tage an der Wasseroberfläche getrieben hatte, sank sie schließlich. Auf westlicher Seite gab es weit weniger schlimme Unfälle. Die USS George Washington (SSBN-598) rammte am 9. April 1981 bei einer Notauftauchübung im Ostchinesischen Meer den japanischen Frachter Nissho Maru. Das U-Boot tauchte nach der Kollision wieder ab, der Kapitän gab an, das Schiff sei offenbar nicht in Seenot gewesen. Durch das Loch, das das U-Boot in den Rumpf geschlagen hatte, strömte Wasser in den Maschinenraum, das Schiff sank. Zwei Besatzungsmitglieder starben, dreizehn weitere wurden nach 18 Stunden in einem Rettungsboot gerettet. Der Zwischenfall erzürnte die japanische Öffentlichkeit, Präsident Ronald Reagan musste sich offiziell für das Verhalten der US Navy entschuldigen, die USA zahlten später Entschädigungen. Auf Grund der angewandten Strategie, U-Boote mit ballistischen Raketen wann immer möglich zu verfolgen, waren besonders im Kalten Krieg Kollisionen zwischen Jagd- und Raketen-U-Booten keine Seltenheit. Bekanntgewordene Beispiele sind die Zusammenstöße zwischen der USS Augusta (SSN-710) und der K-279 (Delta-I-Klasse) 1986 oder der USS Grayling (SSN-646) und der K-407 (Delta-IV-Klasse) 1993. Eine absolute Ausnahme bildet die Kollision zwischen zwei Raketen-U-Booten, da diese selten in Verbänden operieren. Bekannt wurde ein Zusammenstoß zwischen der britischen Vanguard und der französischen Le Triomphant im Februar 2009 im Atlantik. Nach Darstellung der Royal Navy fuhren beide Boote in Schleichfahrt, die bekanntgewordenen Schäden lassen vermuten, dass die Triomphant die Vanguard mittschiffs gerammt hat. Der Unfall ist ein Beleg dafür, wie leise moderne SSBN geworden sind, da beide Boote trotz der geringen Entfernung einander offenbar nicht per Sonar orten konnten. Literatur Norman Friedman: U.S. Submarines since 1945. Naval Institute Press, Annapolis 1994, ISBN 1-55750-260-9 (englisch) David Miller, John Jordan: Moderne Unterseeboote. 2. Auflage. Stocker Schmid, Zürich 1987, 1999, ISBN 3-7276-7088-6. Norman Polmar, Jurrien Noot: Submarines of the Russian and Soviet Navies, 1718–1990. Naval Institute Press, Annapolis, 1991, ISBN 0-87021-570-1 (englisch) Norman Polmar, K. J. Moore: Cold War Submarines: The Design and Construction of U.S. and Soviet Submarines, 1945–2001. Potomac Books, Dulles VA 2003, ISBN 1-57488-594-4 (englisch) Weblinks Einzelnachweise U-Boot-Typ
4538037
https://de.wikipedia.org/wiki/Sprachgesetzgebung%20in%20Belgien
Sprachgesetzgebung in Belgien
Die Sprachgesetzgebung in Belgien regelt den Gebrauch der drei offiziellen Landessprachen Niederländisch, Französisch und Deutsch im belgischen öffentlichen Leben. Während Artikel 30 der Verfassung des Königreichs Belgien für Privatpersonen einen freien Gebrauch der Sprachen vorsieht, müssen die öffentlichen Dienste des Staates eine Reihe von Regeln beachten, die sowohl den Sprachengebrauch innerhalb der Dienste als auch zwischen den verschiedenen Diensten und gegenüber dem Bürger betreffen. Insbesondere richten sich Sprachgesetze an die Gesetzgeber, die Verwaltungen, die Gerichte, die Streitkräfte und das Personal des Unterrichtswesens in Belgien. Die belgische Sprachgesetzgebung ist eine der Folgen des flämisch-wallonischen Konflikts, der seit den Anfängen der Flämischen Bewegung Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen den niederländischsprachigen Flamen im Norden Belgiens und den französischsprachigen Wallonen im Süden entstanden ist. Das Ziel dieser Gesetze war eine allmähliche Gleichberechtigung der niederländischen und der französischen Sprache. Der Sprachengebrauch bleibt auch heute noch ein sensibles Thema in Belgien und führt regelmäßig zu heftigen politischen Auseinandersetzungen. Dies gilt vor allem für den Sprachengebrauch im zweisprachigen Gebiet Brüssel, in den Brüsseler Randgemeinden und den „Fazilitäten-Gemeinden“ im Grenzgebiet zwischen Flandern und der Wallonischen Region und insbesondere für die dort bestehenden Spracherleichterungen (Fazilitäten) für die Bevölkerung. Geschichte Die heutige Gesetzgebung zum Sprachengebrauch ist historisch aus dem Sprachenstreit und der Flämischen Bewegung heraus entstanden und zu verstehen. Sprachfreiheit nach der Belgischen Revolution Als sich Belgien 1830 bei der Belgischen Revolution vom Vereinigten Königreich der Niederlande lossagte, wurde unter anderem die Sprachpolitik des niederländischen Königs Wilhelm I., der eine Vorherrschaft der niederländischen gegenüber der französischen Sprache in den flämischen Provinzen (Antwerpen, Limburg, Ostflandern und Westflandern) und ab 1823 im zweisprachigen Brabant befestigen wollte, von der frankophonen Bourgeoisie in Brüssel und den anderen großen Städten Flanderns abgelehnt. Als Reaktion auf die niederländische Sprachpolitik wurde schon 1831, nach der Unabhängigkeit Belgiens, in Artikel 23 der belgischen Verfassung die Sprachenfreiheit festgehalten (heute Art. 30, siehe weiter unten). Jedoch wurde recht schnell ersichtlich, dass diese Freiheit vor allem für das Französische galt, zum Nachteil des Niederländischen. Für die öffentlichen Behörden kam nur Französisch als Amtssprache in Frage. So entschied die Vorläufige Regierung bereits am 16. November 1830 noch vor der Verabschiedung der Verfassung, dass das Französische die einzige Sprache in den Streitkräften und Veröffentlichungen von Gesetzes- und Verordnungstexten im belgischen Staatsblatt sein werde. Auch in den frühen Außenbeziehungen des jungen Staates benutzten die Diplomaten ausschließlich die französische Sprache. Somit stand der „Französisierung“ der belgischen Bürgergesellschaft vermeintlich nichts mehr im Wege – zumal zu dieser Zeit noch das Zensuswahlrecht galt, und somit faktisch nur männliche Vertreter des oberen Bürgertums und der Aristokratie an den Staatsgeschäften teilhatten. Charles Rogier, mehrmals Minister und Premierminister Belgiens und eine der führenden politischen Persönlichkeiten des Landes im 19. Jahrhundert, ließ 1837 keinen Zweifel daran: La Belgique sera latine ou ne sera pas („Belgien wird lateinisch oder wird gar nicht sein“). Anfänge der Flämischen Bewegung In den flämischen Provinzen bediente sich im 19. Jahrhundert ein Großteil der unteren Bevölkerungsschicht fast ausschließlich der niederländischen Sprache in Form von verschiedenen flämischen Dialekten. Unter dem Begriff Flämisch werden in diesem Kontext gemeinhin alle niederländischen Mundarten Belgiens zusammengefasst, auch wenn genau genommen die Provinzen Flanderns nur den westlichen Teil dieses Sprachraums bilden und östlich vor allem Brabantisch und Limburgisch gesprochen wurde. Da die niederländischsprachige Bevölkerung nicht wahlberechtigt war, hatte die niederländische Sprache kaum Einfluss auf das öffentliche Leben. In den Jahren nach der Revolution bildete sich unter einigen flämischen Intellektuellen, die einen romantischen Bezug zur niederländischen Sprache entwickelten, die sogenannte Flämische Bewegung, die nach und nach eine größere Benutzung der niederländischen Sprache in Flandern durchsetzen wollte. Zu ihnen gehört besonders Hendrik Conscience, der 1838 sein Werk De Leeuw van Vlaenderen veröffentlichte. Angetrieben wurde diese Bewegung unter anderem durch die Hinrichtung zweier fälschlich wegen Mordes angeklagter Flamen, die im Jahr 1860 bei einem in Französisch geführten Geschworenenprozess verurteilt wurden, obwohl sie kein Französisch sprachen und sich somit nicht verteidigen konnten (die „Coucke-und-Goethals“-Affäre). Konkrete Forderungen nach einer besseren Anerkennung der niederländischen Sprache im öffentlichen Leben wurden 1840 anlässlich eines „Pétitionnement en faveur de la langue flamande“ gestellt. Im Jahr 1856 wurde die „Grievencommissie“ eingerichtet, ein Organ, das Lösungen für das Sprachproblem suchen sollte. Dieses Organ schlug die offizielle Zweisprachigkeit für Flandern vor, doch wurde dieser Plan von der Regierung ignoriert. Erste Sprachgesetze Die ersten Sprachgesetze Belgiens wurden erst 20 Jahre später verabschiedet. Als erstes Sprachgesetz überhaupt gilt das „Coremans-Gesetz“ vom 17. August 1873, benannt nach dem flämischen Politiker Edward Coremans, das – als Reaktion auf die Coucke-und-Goethals-Affäre – die prinzipielle Benutzung des Niederländischen bei Strafprozessen in den flämischen Provinzen vorschrieb. Dieses Gesetz wird als ein erster Sieg der Flämischen Bewegung im Kampf um Gleichberechtigung betrachtet. Darauf folgten das Gesetz vom 22. Mai 1878 („Delaet-Gesetz“) über die Benutzung des Niederländischen in Flandern bei Kontakten zwischen dem Bürger und der Verwaltung sowie das Gesetz vom 15. Juni 1883 („Coremans-De Vigne-Gesetz“), das den Gebrauch der niederländischen Sprache im staatlichen mittleren Unterrichtswesen in den flämischen Provinzen gestattete. Diese Gesetze sahen jedoch immer weitreichende Ausnahmeklauseln vor, falls einer der Beteiligten es vorzöge, sich der französischen Sprache zu bedienen. Mit weiteren Gesetzen wurde schrittweise die Zweisprachigkeit im öffentlichen Leben vorangetrieben. Mit dem „Gleichheitsgesetz“ (auch„Coremans-De-Vriendt-Gesetz“ genannt) vom 18. April 1898 wurde Niederländisch gegenüber Französisch offiziell gleichberechtigt, da von nun an alle Gesetze auf Französisch und Niederländisch verabschiedet und veröffentlicht werden mussten. Dies erfolgte jedoch erst, nachdem mit einer Reform des Wahlgesetzes 1893 alle männlichen Staatsbürger über 25 Jahre mindestens eine Stimme erhielten und das Zensuswahlrecht abgemildert wurde – ein Teil der Bürger behielt mehrere Wahlstimmen, je nach versteuerbarem Einkommen, Ausbildung, Stand etc.; das flämische Proletariat erhielt somit erstmals politisches Gewicht. Trotzdem blieb Französisch weiterhin die Sprache der Regierenden in Brüssel. So wurde beispielsweise erst am 3. Mai 1967 eine offizielle niederländische Version der belgischen Verfassung veröffentlicht. Zudem befeuerte das Gesetz die Entwicklung der „Wallonische Bewegung“, die in Wallonien als Reaktion auf das immer größer werdende flämische Bewusstsein entstand. Nach weiteren Schritten zur Anerkennung des Niederländischen im öffentlichen Leben (1910: niederländische Sprache im katholischen Unterrichtswesen; 1913 und 1928: erste Schritte für die niederländische Sprache in den belgischen Streitkräften; siehe weiter unten) erreichten die Flamen die vollständige „Vernederlandsing“ der Universität Gent im Jahr 1930. Zwar war bereits 1916 eine erste niederländischsprachige Universität in Gent gegründet worden, doch geschah dies auf Anweisung der deutschen Besatzer im Ersten Weltkrieg, die bezüglich Belgiens weitergehende Annexionspläne hatten und den flämisch-wallonischen Gegensatz für ihre Zwecke nutzen wollten. Die Universität erhielt in französischsprachigen Kreisen den Namen „Université von Bissing“ und ihr Besuch galt vielen als ziviler Ungehorsam gegenüber dem belgischen Staat. Nach seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg musste Deutschland gemäß Versailler Vertrag (1919) die Landkreise Eupen und Malmedy, heute als Ostbelgien bezeichnet, an Belgien abtreten. Für diese neuen belgischen Gebiete galten allerdings keine besonderen Sprachgesetze. Während in den sogenannten „Malmedyer Gemeinden“ (Malmedy und Weismes) die Mehrheit der Bevölkerung wallonisch und somit französischsprachig war, lebte in den Gebieten um Eupen und Sankt Vith eine mehrheitlich deutschsprachige Bevölkerung. In den örtlichen Verwaltungen wurde nach der endgültigen Einverleibung der Gebiete ins belgische Staatsgebiet Französisch gesprochen. Auch die deutsch- bzw. luxemburgischsprachige Minderheit in der Gegend von Arlon erhielt keinen sprachlichen Sonderstatus, obwohl das Gebiet seit der Staatsgründung zu Belgien gehörte. Festlegung der Sprachgrenze Die Ursprünge der belgischen Sprachgrenze gehen auf ein Gesetz vom 31. Juli 1921 zurück, wonach auch die lokalen Behörden, d. h. vor allem die Gemeinden, in den flämischen Provinzen sich der niederländischen Sprache zu bedienen hatten. Die Gemeinden in der Brüsseler Agglomeration und die Provinz Brabant konnten selbst ihre Sprache bestimmen. Somit war faktisch die erste Einteilung Belgiens in Sprachgebiete entstanden, und das Prinzip „streektaal is bestuurstaal“ (Gebietssprache ist Verwaltungssprache), auch bekannt als „Territorialitätsprinzip“, wurde gesetzlich verankert. Andererseits sah das Gesetz auch die Zweisprachigkeit für alle Dienste der Brüsseler Zentralverwaltung vor, es wurde dennoch nur mangelhaft angewendet. Diese erste Sprachgrenze hatte keinen definitiven Charakter: Durch eine zehnjährliche Sprachzählung (ndl. taaltelling, frz. recensement linguistique) konnte eine Gemeinde entlang der Sprachgrenze in ein anderes Sprachgebiet fallen, wenn die Mehrheitsverhältnisse beim Sprachengebrauch sich veränderten. Auch gab es immer noch zahlreiche Ausnahmeregelungen für Frankophone, wie beispielsweise die Möglichkeit Spracherleichterungen für die Minderheit zu bekommen, wenn 20 % der Wähler einer Gemeinde dies verlangten. Das Gesetz von 1921 war für die Flamen, die die zu großen verbleibenden Erleichterungen für Frankophone bemängelten und eine Französisierung Brüssels befürchteten, genauso unbefriedigend wie für die Wallonen, die wegen der Zweisprachigkeit in den Zentraldiensten gezwungen waren, Niederländisch zu lernen. So änderte man die bestehende Regelung durch ein neues Gesetz vom 14. Juli 1932. Das Territorialitätsprinzip wurde gefestigt: In Flandern und in der Wallonie galt für alle Behörden die Einsprachigkeit, in Brüssel die Zweisprachigkeit. Die Zweisprachigkeit in den zentralen Diensten wurde wieder abgeschafft. Die Sprachgrenze war jedoch immer noch nicht definitiv und konnte sich aufgrund der Resultate der zehnjährigen Sprachzählung verlagern. Doch brauchte es jetzt für Anträge auf Spracherleichterungen 30 % der Bürger einer Minderheit. Im gleichen Atemzug wurden auch zwei weitere Sprachgesetze verabschiedet: das eine im Gerichtswesen (1935) und das andere in den Streitkräften (1938). Diese beiden letzten Gesetze sind heute noch, in abgeänderter Form, anwendbar (siehe weiter unten). Die Resultate der Sprachzählung von 1947 waren so enttäuschend für die Flämische Bewegung, dass sie erst 1954 veröffentlicht wurden. Diesen Resultaten zufolge wurde die Brüsseler Agglomeration nun auf die Gemeinden Ganshoren, Evere und Berchem-Sainte-Agathe/Sint-Agatha-Berchem erweitert und die Gemeinden Drogenbos, Wemmel, Kraainem und Linkebeek erhielten Spracherleichterungen für die Frankophonen. Heftige Proteste der Flamen in Brüssel waren die Folge, und eine Abänderung des Gesetzes von 1932 wurde gefordert. Zu Beginn der 1960er Jahre nahm der Innenminister Arthur Gilson das Sprachenproblem wieder in Angriff. Auf Druck der Flamen einigte man sich darauf, eine definitive Sprachgrenze festzulegen und die Sprachzählung abzuschaffen. Dies geschah durch ein Gesetz vom 24. Juli 1961. Die Sprachgrenze in ihrer heutigen Form legte schließlich ein Gesetz vom 8. November 1962 fest („Gilson-Gesetze“). Ein Gesetz vom 5. Juli 1963 betraf den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten und teilte Belgien in vier Sprachgebiete auf, während zwei weitere Gesetze vom 30. Juli bzw. 9. August 1963 den Sprachengebrauch im Unterrichts- und im Gerichtswesen bis heute regeln (siehe weiter unten). Als Grundlage für die Gesetze von 1962/63 galt ein Bericht aus dem Jahr 1958 des Harmel-Zentrums, benannt nach Pierre Harmel. Mit den neuen Gesetzen wechselten 43 Gemeinden die Seite der Sprachgrenze. Da die Gemeinde Comines-Warneton ins französische Sprachgebiet wechselte, verlangten die Flamen im Gegenzug, dass die Gemeinde Voeren von der Provinz Lüttich getrennt und in die Provinz Limburg einverleibt würde (obwohl der Bericht des Harmel-Zentrums dies nicht vorsah). Das Gebiet von Brüssel mit seinen 19 Gemeinden (die heutige Region Brüssel-Hauptstadt) wurde in diesem Gesetz als zweisprachig festgelegt, davon abgesehen waren somit alle Gemeinden Belgiens definitiv einsprachig. Eine weitere Innovation der Gilson-Gesetzes war die Schaffung eines dritten einsprachigen Gebietes, nämlich des deutschen Sprachgebiets, mit dem Kanton Eupen und dem Kanton Sankt Vith. Die Malmedyer Gemeinden dagegen kamen ins französische Sprachgebiet, mussten aber Spracherleichterungen für die deutschsprachige Minderheit einrichten. Obwohl sie äußerst unbeliebt bei den Flamen waren, wurden die Spracherleichterungen auch für Frankophone in gewissen Gemeinden beibehalten. Diese sogenannten „(Sprach-)Fazilitäten“ konnten jedoch nicht mehr auf Anfrage der Bürger eingerichtet werden; eine erschöpfende Liste von sechs „Fazilitäten-Gemeinden“ in den Brüsseler Randgemeinden, einschließlich Sint-Genesius-Rode und Wezembeek-Oppem, wurde festgelegt. Die Verhandlungen zwischen Flamen und Wallonen waren äußerst gespannt, sodass 1963 die Regierung fast an der Sprachproblematik gescheitert wäre. Auswirkungen auf die heutige Situation Die Gesetzgebung 1962–63 ist heute noch – in leicht abgeänderter Form – in Belgien anwendbar. Um der Realität der Sprachengrenze nachzukommen, wurde 1995 die damals zweisprachige Provinz Brabant in zwei einsprachige Provinzen Flämisch-Brabant und Wallonisch-Brabant geteilt. Die definitive Festlegung der Sprachengrenze kann vor allem als ein Sieg für die Flämische Bewegung betrachtet werden; weniger als zehn Jahre später dienten die Sprachgebiete bei der ersten großen Staatsreform (1970) zur Festlegung der Grenzen der Kulturgemeinschaften. Bei den darauf folgenden Staatsreformen, die die Gemeinschaften und Regionen ins Leben riefen und Belgien allmählich in einen Bundesstaat verwandelten, wurde die Sprachgrenze nicht mehr abgeändert und diente zur Festlegung der Zuständigkeitsgebiete dieser neuen Gebietskörperschaften. Auch wurde das Selbstbewusstsein Flanderns durch die Identifizierung mit einem bestimmten Gebiet gestärkt. So demonstrierten beispielsweise anfangs der 1960er Jahre, nachdem die Universitätsstadt Löwen definitiv zu Flandern gehörte, zahlreiche niederländischsprachige Studenten in den Straßen der Stadt und schockierten mit den Slogans „Walen buiten!“ (Wallonen raus!) und „Leuven Vlaams“ (Flämisches Löwen) die französischsprachigen Studenten. Die Spaltung der Katholischen Universität Löwen im Jahre 1968 in die Katholieke Universiteit Leuven (KUL, niederländischsprachig) und die Université Catholique de Louvain (UCL, französischsprachig) sowie der Umzug dieser letzten in die wallonische Planstadt Louvain-la-Neuve (Neu-Löwen) waren die Folge. Wenig später, im Jahr 1969, erfolgte auch in Brüssel die Spaltung zwischen der Université Libre de Bruxelles (ULB) und der Vrije Universiteit Brussel (VUB). Dem Zeitgeist entsprechend gingen auch die bis zu diesem Zeitpunkt bestehenden großen nationalen Parteien Belgiens auseinander und konzentrierten sich nunmehr vor allem auf „ihre“ Seite der Sprachengrenze (Spaltung der katholischen Partei in CPV und PSC und der liberalen Partei in PVV und PLP im Jahr 1972 und die der sozialistischen Partei in SP und PS im Jahr 1978). Doch die damaligen Kompromisse trugen bereits den Keim für weitaus heftigere Auseinandersetzungen zwischen Flamen und Wallonen in sich, die erst später ausgetragen wurden und heute noch immer werden: Als man Voeren von Lüttich trennte, protestierten wallonische Bewohner dieser Gemeinden. Bei der Bürgermeisterwahl 1982 erhielt José Happart die Stimmenmehrheit, durfte sein Amt aber nicht antreten, weil er kein Niederländisch verstand. Dies führte zu Massenschlägereien zwischen Flamen und Wallonen und einer Regierungskrise. Es wurde zu der Zeit beschlossen, den Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde („BHV“), der gleichzeitig das zweisprachige Gebiet Brüssel-Hauptstadt und einen Teil des niederländischen Sprachgebietes umfasste, beizubehalten. Lange war eine Teilung von „BHV“ eine wiederholte Forderung Flanderns; einen entsprechenden Gesetzentwurf brachten die flämischen Parteien 2007 in der Abgeordnetenkammer ein. Dies führte zu einer politischen Krise, die eine Regierungsbildung unter Yves Leterme unmöglich machte und eine Übergangsregierung unter Guy Verhofstadt erforderte. Erst im September 2011 gelangten acht Parteien unter Federführung von Elio Di Rupo zu einer Einigung über die Neuaufteilung des umstrittenen Wahlkreises. Die genaue politische Tragweite der Spracherleichterungen wurde damals nicht klar definiert, sodass sich heute die flämischen und die französischsprachigen Parteien mit zwei radikal entgegengesetzten Ansichten gegenüberstehen. In den Augen der Flamen waren diese Spracherleichterungen damals als vorläufige Maßnahmen gedacht. Die Frankophonen in den flämischen Fazilitäten-Gemeinden sollten nach und nach die niederländische Sprache erlernen. Nach einer gewissen Zeit würden die Erleichterungen abgeschafft werden und die Gemeinden würden vollständig ins flämische Sprachgebiet einverleibt. Dagegen sehen die Frankophonen die Spracherleichterungen als definitiv an (frz. droit acquis) und wollen keine Verletzung oder Abschwächung hinnehmen. Der Streit um die Spracherleichterungen wird bis heute in Bezug auf das „Peeters-Rundschreiben“ in den Brüsseler Randgemeinden ausgetragen (siehe weiter unten). Grundsatz: Die Sprachenfreiheit Artikel 30 der belgischen Verfassung besagt: „Der Gebrauch der in Belgien gesprochenen Sprachen ist frei; er darf nur durch Gesetz und allein für Handlungen der öffentlichen Gewalt und für Gerichtsangelegenheiten geregelt werden“. Dieser Artikel stammt noch aus der ursprünglichen Verfassung aus dem Jahr 1831. Daraus ist zu schließen, dass im Prinzip der Sprachengebrauch zwischen Privatpersonen in Belgien keinen Regeln unterliegt. Es ist zu bemerken, dass von den „in Belgien gesprochenen Sprachen“ die Rede ist. Gemeint sind die „drei offiziellen Landessprachen“, d. h. Niederländisch, Französisch und Deutsch (vgl. Art. 4 der Verfassung). Auch die Europäische Menschenrechtskonvention, die in Belgien uneingeschränkt wirksam ist, sieht in ihren Artikeln 5, § 2 und 6, § 3, a. die Sprachenfreiheit (bei strafrechtlichen Angelegenheiten) vor. Zuletzt verbieten die Artikel 10 und 11 der Verfassung jegliche Diskriminierung, Diskriminierungen aufgrund der Sprache inbegriffen. Außer bei gerichtlichen Prozessen (siehe unten) gibt es keinen besonderen rechtlichen Schutz für die anderen in Belgien gesprochenen Sprachen und Dialekte. Im gleichen Atemzug sieht der Artikel 30 aber auch eine Eingrenzung dieser Freiheit für gewisse Aspekte des Sprachengebrauchs vor. Diese Einschränkungen bilden Ausnahmen zum Prinzip und müssen deshalb restriktiv ausgelegt werden. Der Artikel 30 muss auch zusammen mit dem Artikel 129 der Verfassung gelesen werden. Dieser letzte gibt der Flämischen und der Französischen Gemeinschaft einige eigene Zuständigkeiten in Sachen Sprachgebrauch, nämlich den Gebrauch der Sprachen für „die Verwaltungsangelegenheiten […] [,] den Unterricht in den von den öffentlichen Behörden geschaffenen, bezuschußten oder anerkannten Einrichtungen [und für] die sozialen Beziehungen zwischen den Arbeitgebern und ihrem Personal sowie die durch Gesetz und Verordnungen vorgeschriebenen Handlungen und Dokumente der Unternehmen“. Die Deutschsprachige Gemeinschaft verfügt laut Artikel 130, § 1, Nr. 5 für den Sprachengebrauch nur über eine eigene Zuständigkeit im Unterrichtswesen. Diese Zuständigkeiten stellen eine weitere Einschränkung der allgemeinen Sprachfreiheit dar. Die Zuständigkeit der Gemeinschaften selbst wird einerseits durch die Sprachgrenze (Art. 4 der Verfassung) und das „Territorialitätsprinzip“ begrenzt: Die Regeln der Gemeinschaften gelten nur auf ihrem Hoheitsgebiet. Andererseits schließt Artikel 129, § 2 gewisse Gebiete von der Zuständigkeit der Gemeinschaften aus und behält sie dem föderalen Gesetzgeber vor. Im Nachfolgenden werden einige der belgischen Sprachengesetze vorgestellt. Sprachengebrauch in Gesetzgebungsangelegenheiten Föderalstaat Das Gesetz vom 31. Mai 1961 über den Sprachengebrauch in Gesetzgebungsangelegenheiten, die Gestaltung, die Veröffentlichung und das Inkrafttreten von Gesetzes- und Verordnungstexten legt den Gebrauch der Sprache für die Regeltexte der föderalen Ebene fest. Ausgangspunkt ist die absolute Gleichberechtigung des Niederländischen und des Französischen ohne Vorrang einer Sprache gegenüber der anderen bei der Verabschiedung, Sanktion, Ausfertigung und Veröffentlichung von föderalen Gesetzen im Belgischen Staatsblatt (Art. 1 und 7). Wird ein Gesetzesentwurf von der Regierung in der Abgeordnetenkammer oder im Senat hinterlegt, muss dieser Entwurf auch in beiden Sprachen verfasst sein (Art. 2). Bei ihrer Veröffentlichung im Belgischen Staatsblatt werden die Regeltexte in beiden Sprachen einander gegenüberstehend angezeigt (Art. 4). Obwohl die deutsche Sprache eine offizielle Landessprache Belgiens ist, hat sie nicht denselben Status wie die zwei anderen Sprachen. Es können zwar auch deutsche Übersetzungen der föderalen Gesetze veröffentlicht werden, doch geschieht dies in sehr unregelmäßigen Zeitabständen. Übersetzt werden die Texte von der Zentralen Dienststelle für deutsche Übersetzungen in Malmedy. Am 21. April 2007 wurde eine Reihe Gesetze verabschiedet (die „Collas-Gesetze“, benannt nach dem ehemaligen deutschsprachigen Senator Berni Collas), die eine zügigere Übersetzung ins Deutsche beabsichtigen. Gemeinschaften und Regionen Der Sprachengebrauch in den legislativen Rechtstexten der Gemeinschaften und Regionen (sogenannte „Dekrete“ bzw. – wenn es um Texte der Region Brüssel-Hauptstadt geht – „Ordonnanzen“) wird im Sondergesetz vom 8. August 1980 zur Reform der Institutionen, im Gesetz vom 31. Dezember 1983 über institutionelle Reformen für die Deutschsprachige Gemeinschaft und im Sondergesetz vom 12. Januar 1989 über die Brüsseler Institutionen festgehalten: Die Dekrete des Flämischen Parlamentes werden in niederländischer Sprache verabschiedet, aber sie werden bei ihrer Veröffentlichung von einer französischen Übersetzung begleitet. Die Dekrete des Parlamentes der Französischen Gemeinschaft werden in französischer Sprache verabschiedet und mit einer niederländischen Übersetzung im Staatsblatt veröffentlicht. Die Dekrete des Parlaments der Wallonischen Region werden in französischer Sprache verabschiedet, aber systematisch mit einer deutschen und einer niederländischen Übersetzung bei der Veröffentlichung versehen (Art. 55 des Sondergesetzes vom 8. August 1980). Die Dekrete der Deutschsprachigen Gemeinschaft werden in deutscher Sprache verabschiedet, aber auch in das Französische und Niederländische übersetzt (Art. 47 des Gesetzes vom 31. Dezember 1983). Die Ordonnanzen der Region Brüssel-Hauptstadt werden – wie auch für den Föderalstaat – in französischer und niederländischer Sprache verabschiedet und auch so veröffentlicht (Art. 33 des Sondergesetzes vom 12. Januar 1989). Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten Die koordinierte Gesetzgebung vom 18. Juli 1966 über den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten legt fest, in welcher Sprache die Verwaltung mit ihren Bürgern kommuniziert. Obwohl die Flämische und die Französische Gemeinschaft aufgrund von Artikel 129, § 1, Nr. 1 der Verfassung für den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten zuständig sind, hat es in dieser Materie nur wenige „Anfüllungen“ der erwähnten föderalen Gesetzgebung gegeben. Der Sprachengebrauch der Verwaltung ist in Belgien seit jeher eine äußerst sensible Angelegenheit und erzeugt auch heute noch erhebliche Spannungen zwischen Flamen und Wallonen. Der Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten ist unterschiedlich, je nachdem wo man sich in Belgien befindet. Es werden verschiedene Regeln für folgende Gebiete vorgesehen: das homogene niederländische Sprachgebiet, d. h. ohne Brüsseler Randgemeinden oder Gemeinden entlang der Sprachgrenze; das homogene französische Sprachgebiet, d. h. ohne Gemeinden entlang der Sprachgrenze oder Malmedyer Gemeinden; das deutsche Sprachgebiet (Nrn. 19–27 auf der Karte anbei), d. h. das Gebiet, das mit dem der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens deckungsgleich ist; das zweisprachige Gebiet Brüssel-Hauptstadt, d. h. das Gebiet, das mit dem der Region Brüssel-Hauptstadt deckungsgleich ist; die Brüsseler Randgemeinden mit Spracherleichterungen, d. h. das Gebiet der Gemeinden Drogenbos (9), Linkebeek (10), Sint-Genesius-Rode (frz. Rhode-Saint-Genèse) (11), Wemmel (12), Kraainem (frz. Crainhem) (13) und Wezembeek-Oppem (14); die Gemeinden entlang der Sprachgrenze, die besondere Spracherleichterungen besitzen, d. h. die Gemeinden Mesen (frz. Messines) (2), Spiere-Helkijn, (frz. Espierres-Helchin) (4), Ronse (frz. Renaix) (5), Bever (frz. Biévène) (7), Herstappe (15), Voeren (frz. Fourons) (16) (flämische Gemeinden mit Erleichterungen für die frankophone Bevölkerung) und die Gemeinden Comines-Warneton (ndl. Komen-Waasten) (1), Mouscron (ndl. Moeskroen) (3), Flobecq (ndl. Vloesberg) (6), Enghien (ndl. Edingen) (8) (wallonische Gemeinden mit Erleichterungen für die niederländischsprachige Bevölkerung); die sogenannten Malmedyer Gemeinden, d. h. das Gebiet der Gemeinden Malmedy (17) und Waimes (dt. Weismes) (18) mit Spracherleichterungen für die deutschsprachige Minderheit. Innerhalb eines jeden Sprachgebietes sieht das Gesetz verschiedene Regeln je nach Verwaltungsebene vor. Die Verwaltung wird in drei Ebenen eingeteilt, eine lokale, eine regionale und eine, die sich auf das ganze Land erstreckt. Die Gemeinschaften und Regionen werden nicht in der koordinierten Gesetzgebung von 1966 behandelt. Die Regeln über den Sprachengebrauch werden in den sie betreffenden Sonder- und einfachen Gesetzen behandelt. Lokale Dienststellen Die koordinierte Gesetzgebung versteht unter lokalen Dienststellen „die Dienststellen, deren Tätigkeitsbereich sich nicht auf mehr als eine Gemeinde erstreckt“ (Art. 9). Dazu zählen also die Verwaltung, der Bürgermeister und das Öffentliche Sozialhilfezentrum (ÖSHZ) einer Gemeinde. In der Gesetzgebung wird der Sprachengebrauch der lokalen Dienststellen mit anderen Verwaltungen (Art. 10) und mit Privatpersonen (einschließlich Gesellschaften) (Art. 11 bis 14) geregelt. Auch die Sprachkompetenz der Beamten wird geregelt (Art. 15). Für das zweisprachige Gebiet Brüssel-Hauptstadt und die Brüsseler Randgemeinden werden ganz besondere Regeln vorgesehen (Art. 17 bis 31). Abweichungen von diesen Regeln sind theoretisch auch für die Gemeinden Baelen (einschließlich Membach), Plombières (früher nur für Gemmenich, Hombourg, Montzen, Moresnet und Sippenaeken) und Welkenraedt (einschließlich Henri-Chapelle) möglich (besonders zum Schutz der dortigen deutschsprachigen Minderheit). Diese Abweichungen müssen durch einen Königlichen Erlass vorgesehen werden, der durch Gesetz bestätigt werden muss (Art. 16); dies ist jedoch noch nie geschehen. Niederländisches und französisches Sprachgebiet Der Sprachengebrauch gegenüber Privatpersonen in lokalen Dienststellen des homogenen niederländischen und des französischen Sprachgebiets ist im Prinzip der gleiche. Er kann wie folgt zusammengefasst werden: Beziehungen mit Privatpersonen: Niederländisch bzw. Französisch, mit der Möglichkeit eine andere offizielle Landessprache zu gebrauchen, wenn einem Bewohner eines anderen Sprachgebietes geantwortet wird; für die Öffentlichkeit bestimmte Bekanntmachungen und Mitteilungen: Niederländisch bzw. Französisch, aber in Gemeinden mit Tourismuszentren kann der Gemeinderat beschließen, diese Bekanntmachungen und Mitteilungen in mindestens drei Sprachen abzufassen; für die Öffentlichkeit bestimmte Formulare: Niederländisch bzw. Französisch; Urkunden, die sich auf Privatpersonen beziehen: Niederländisch bzw. Französisch, mit der Möglichkeit, sich kostenlos eine Übersetzung in eine der anderen Landessprachen aushändigen zu lassen, falls die Notwendigkeit nachgewiesen werden kann; Bescheinigungen, Erklärungen und Genehmigungen für Privatpersonen: Niederländisch bzw. Französisch, mit der Möglichkeit, sich kostenlos eine Übersetzung in eine der anderen Landessprachen aushändigen zu lassen, falls die Notwendigkeit nachgewiesen werden kann. Lokale Dienststellen im niederländischen oder im französischen Sprachgebiet bedienen sich in ihren Innendiensten, in ihren Beziehungen mit Dienststellen, denen sie unterstehen, und in ihren Beziehungen mit anderen Dienststellen des gleichen Sprachgebietes und von Brüssel-Hauptstadt ausschließlich der Sprache ihres Gebietes. Zudem bedienen sich lokale Dienststellen im niederländischen Sprachgebiet in ihren Beziehungen mit Dienststellen in den Randgemeinden der niederländischen Sprache. Bezüglich Sprachenkenntnis der Beamten darf niemand in ein Amt oder eine Stelle ernannt oder befördert werden, wenn er die Sprache des Gebietes nicht beherrscht. Die Kenntnis der Sprache wird durch die Sprache der erforderten Diplome ermittelt. Es ist aber auch möglich, seine Sprachkompetenz bei einer externen Prüfung zu beweisen. Deutsches Sprachgebiet Für das deutsche Sprachgebiet gelten folgende Regelungen: Beziehungen mit Privatpersonen: Deutsch oder Französisch, je nachdem in welcher Sprache sich die Person an die Verwaltung richtet; für die Öffentlichkeit bestimmte Bekanntmachungen und Mitteilungen: Deutsch und Französisch mit Vorrang fürs Deutsche, aber in Gemeinden mit Tourismuszentren kann der Gemeinderat beschließen, diese Bekanntmachungen und Mitteilungen in mindestens drei Sprachen abzufassen; Bekanntmachungen der Standesämter: Deutsch oder gegebenenfalls in der Sprache der Übersetzung, falls die betroffene Person sich kostenlos eine Übersetzung in eine der anderen Landessprachen aushändigen lassen will und die Notwendigkeit nachgewiesen werden kann; für die Öffentlichkeit bestimmte Formulare: Deutsch und Französisch; Urkunden, die sich auf Privatpersonen beziehen: Deutsch, mit der Möglichkeit, sich kostenlos ohne Begründung oder Rechtfertigung eine französische Übersetzung aushändigen zu lassen; Bescheinigungen, Erklärungen und Genehmigungen für Privatpersonen: Deutsch oder Französisch. Lokale Dienststellen im deutschen Sprachgebiet bedienen sich in ihren Innendiensten, in ihren Beziehungen mit Dienststellen, denen sie unterstehen, und in ihren Beziehungen mit anderen Dienststellen des gleichen Sprachgebietes und von Brüssel-Hauptstadt ausschließlich der Sprache ihres Gebietes. Sie können jedoch den Unterlagen, die sie an Dienststellen, denen sie unterstehen, und an Dienststellen von Brüssel-Hauptstadt senden, eine Übersetzung beifügen, wenn sie dies für notwendig erachten. Auch hier gilt bezüglich Sprachenkenntnis der Beamten, dass niemand in ein Amt oder eine Stelle ernannt oder befördert werden darf, wenn er die deutsche Sprache nicht beherrscht. Die Kenntnis der Sprache wird durch die Sprache der erforderten Diplome ermittelt. Es ist aber auch möglich, seine Sprachkompetenz bei einer externen Prüfung zu beweisen. Zudem ist erforderlich, dass „die Dienststellen so organisiert [werden], dass die Öffentlichkeit sich ohne die geringste Schwierigkeit der französischen oder der deutschen Sprache bedienen kann“. Zweisprachiges Gebiet Brüssel-Hauptstadt Für das zweisprachige Gebiet Brüssel-Hauptstadt gelten folgende Regelungen: Beziehungen mit Privatpersonen: Niederländisch oder Französisch, je nachdem in welcher Sprache sich die Person an die Verwaltung richtet; für die Öffentlichkeit bestimmte Bekanntmachungen und Mitteilungen: Niederländisch und Französisch gleichberechtigt; Bekanntmachungen der Standesämter: die Sprache der Urkunde, auf die sich die Bekanntmachung bezieht; für die Öffentlichkeit bestimmte Formulare: Niederländisch und Französisch gleichberechtigt; Urkunden, die sich auf Privatpersonen beziehen: Niederländisch und Französisch, je nach Wunsch der Interessenten; Bescheinigungen, Erklärungen und Genehmigungen für Privatpersonen: Niederländisch und Französisch, je nach Wunsch der Interessenten. Lokale Dienststellen in Brüssel-Hauptstadt bedienen sich in ihren Innendiensten, in ihren Beziehungen mit Dienststellen, denen sie unterstehen, und in ihren Beziehungen mit anderen Dienststellen von Brüssel-Hauptstadt ohne Inanspruchnahme von Übersetzern je nach folgenden Unterscheidungen der französischen oder der niederländischen Sprache: A. Wenn die Angelegenheit begrenzt oder begrenzbar ist: ausschließlich auf das französische oder niederländische Sprachgebiet: der Sprache dieses Gebietes, gleichzeitig auf Brüssel-Hauptstadt und auf das französische oder niederländische Sprachgebiet: der Sprache dieses Gebietes, gleichzeitig auf das französische und niederländische Sprachgebiet: der Sprache des Gebietes, in dem die Angelegenheit ihren Ursprung hat, gleichzeitig auf das französische und niederländische Sprachgebiet und auf Brüssel-Hauptstadt, wenn die Angelegenheit ihren Ursprung in einem der zwei ersten Gebiete hat: der Sprache dieses Gebietes, gleichzeitig auf das französische und niederländische Sprachgebiet und auf Brüssel-Hauptstadt, wenn die Angelegenheit ihren Ursprung in letzterer hat: der nachstehend unter Buchstabe B) vorgeschriebenen Sprache, ausschließlich auf Brüssel-Hauptstadt: der nachstehend unter Buchstabe B) vorgeschriebenen Sprache, B. Wenn die Angelegenheit örtlich weder begrenzt noch begrenzbar ist: wenn sie sich auf einen Bediensteten einer Dienststelle bezieht: der Sprache, in der dieser seine Zulassungsprüfung abgelegt hat oder, in Ermangelung einer solchen Prüfung, der Sprache der Gruppe, der der Betreffende aufgrund seiner Hauptsprache angehört, wenn sie von einer Privatperson eingeleitet wurde: der Sprache, der diese Person sich bedient hat, in allen anderen Fällen: der Sprache, in der der Bedienstete, dem die Angelegenheit anvertraut wird, seine Zulassungsprüfung abgelegt hat. Wenn dieser Bedienstete keine Zulassungsprüfung abgelegt hat, bedient er sich seiner Hauptsprache. Lokale Dienststellen von Brüssel-Hauptstadt bedienen sich in ihren Beziehungen mit Dienststellen des französischen oder des niederländischen Sprachgebietes der Sprache dieses Gebietes. Dienstanweisungen und andere Anweisungen, die an das Personal gerichtet sind, und Formulare, die für den Innendienst bestimmt sind, werden in französisch und in niederländisch aufgesetzt. Für die Sprachkompetenz der Beamten sieht die koordinierte Gesetzgebung Folgendes vor: Bewerber um ein Amt oder eine Stelle in lokalen Dienststellen in Brüssel-Hauptstadt müssen eine Zulassungsprüfung in der „anderen Sprache“ ablegen, in der Grundkenntnisse der Sprache beweisen muss (Ausgangssprache ist die des erforderlichen Diploms). Ferner heißt es jedoch, dass „niemand in eine Stelle oder ein Amt ernannt oder befördert werden [darf], in der beziehungsweise dem der Inhaber mit der Öffentlichkeit in Kontakt steht, wenn er nicht durch eine zusätzliche Teilprüfung oder eine Sonderprüfung mündlich nachweist, dass er ausreichende Kenntnisse oder Grundkenntnisse besitzt, die dem von ihm zu bekleidenden Amt entsprechen“. Es gibt Abweichungen für das „Fach- und Arbeiterpersonal“ (keine Sprachenprüfung) und für das „höhere Personal“ (strengere Prüfung) Laut der koordinierten Gesetzgebung müssen die Verwaltungen der Gemeinden und der öffentlich-rechtlichen Personen, die den Gemeinden unterstehen, bei der Anwerbung des Personals mindestens fünfzig Prozent der zu vergebenden Stellen in gleichem Maße auf die beiden Sprachgruppen verteilen. Sonderfall: Brüsseler Randgemeinden Der Sprachengebrauch gegenüber Privatpersonen in lokalen Dienststellen der Brüsseler Randgemeinden, die gewisse Fazilitäten besitzen, kann wie folgt zusammengefasst werden: Beziehungen mit Privatpersonen: Niederländisch oder Französisch, je nachdem in welcher Sprache sich die Person an die Verwaltung richtet; Beziehungen mit Privatunternehmen aus Gemeinden, die aus einem homogenen Sprachgebiet stammen: die Sprache des Gebietes, in der sich die Herkunftsgemeinde befindet; für die Öffentlichkeit bestimmte Bekanntmachungen und Mitteilungen: Niederländisch und Französisch mit Vorrang fürs Niederländische; Bekanntmachungen der Standesämter: die Sprache der Urkunde, auf die sich die Bekanntmachung bezieht; für die Öffentlichkeit bestimmte Formulare: Niederländisch und Französisch; Urkunden, die sich auf Privatpersonen beziehen: für Drogenbos, Kraainem, Linkebeek und Wemmel: Niederländisch oder Französisch, je nach Wunsch der Interessehabenden; für Sint-Genesius-Rode und Wezembeek-Oppem: Niederländisch, mit der Möglichkeit, sich kostenlos ohne Begründung oder Rechtfertigung eine französische Übersetzung aushändigen zu lassen; Bescheinigungen, Erklärungen und Genehmigungen für Privatpersonen: Niederländisch oder Französisch, je nach Wunsch der Interessenten. Lokale Dienststellen in den Brüsseler Randgemeinden bedienen sich in ihren Innendiensten, in ihren Beziehungen mit Dienststellen, denen sie unterstehen, und in ihren Beziehungen mit Dienststellen des niederländischen Sprachgebietes und von Brüssel-Hauptstadt ausschließlich der niederländischen Sprache. In lokalen Dienststellen der Randgemeinden darf niemand in ein Amt ernannt oder befördert werden, wenn er die niederländische Sprache nicht beherrscht. Bewerber werden nur zur Prüfung zugelassen, wenn aus den erforderlichen Diplomen hervorgeht, dass sie in der niederländischen Sprache unterrichtet wurden. In Ermangelung eines solchen Diploms muss die Kenntnis der Sprache vorher durch eine Prüfung nachgewiesen werden. Der Sprachengebrauch in den Brüsseler Randgemeinden, mag er auch völlig unproblematisch scheinen, ist einer der größten Konfliktherde im flämisch-wallonischen Konflikt. Ein Rundschreiben des ehemaligen flämischen Ministers Leo Peeters aus dem Jahr 1997, in Belgien als das „Peeters-Rundschreiben“ bekannt, schreibt in der Tat vor, dass wenn in den Randgemeinden ein französischsprachiger Bürger Informationen in französischer Sprache von der Gemeindeverwaltung erhalten will, er jedes Mal eine neue ausdrückliche Anfrage einreichen muss. Die allgemeine Interpretation der französischsprachigen Seite, insbesondere seitens der Partei FDF (Front démocratique des francophones), lautet jedoch, dass ein Bürger nur ein einziges Mal zu beantragen braucht, dass er in französischer Sprache mit der Gemeindeverwaltung in Kontakt treten möchte und dass diese Bitte so lange gilt, bis dass der Bürger sie zurückzieht. Die flämische Kammer des Staatsrates hat im Jahre 2004 in einer Reihe von vier Urteilen entgegen dem Gutachten des (flämischen) Auditors die flämische Interpretation des Gesetzes bekräftigt, doch werden diese Urteile von den meisten Frankophonen als parteiisch und rein politisch abgetan und deshalb auch als unrechtmäßig betrachtet. Die Rechtsprechung wurde jedoch im Jahre 2008 vom Staatsrat bestätigt. Eine direkte Folge der verschiedenen Interpretationen der Gesetzgebung war, dass drei Bürgermeister des FDF (aus den Gemeinden Kraainem, Wezembeek-Oppem und Linkebeek), die – gemäß der frankophonen Interpretation – Wahlvorladungen, die an frankophone Wähler ihrer Gemeinden gerichtet waren, direkt in französischer Sprache verschickt hatten, wegen der Verletzung der Sprachengesetzgebung vom flämischen Innenminister Marino Keulen nicht ernannt wurden, obwohl sie bei den Gemeinderatswahlen von 2006 die Mehrheit in ihrer Gemeinde erlangt hatten. Diese französischsprachigen Wahlvorladungen durften in der Tat – laut der flämischen Interpretation – allein verschickt werden, nachdem zuerst eine niederländische Wahlvorladung an alle Bürger der Gemeinde verschickt wurde und nachdem, in einem weiteren Schritt, eine offizielle Anfrage für eine französischsprachige Wahlvorladung der Gemeinde vorlag. Diese drei Bürgermeister wurden von der flämischen Seite aufs Schärfste kritisiert, während sie von frankophoner Seite vollste Unterstützung genießen konnten. Somit erlangte die Angelegenheit einen symbolischen Wert, sowohl auf flämischer als auch auf wallonischer Seite, was eine eventuelle Kompromisslösung erschwert. Besonders dieses Dossier verhinderte auch die Erarbeitung einer neuen Staatsreform nach den Föderalwahlen von 2007 und führten dazu, dass der Regierungsbildner Yves Leterme sich zurückziehen musste und unter Guy Verhofstadt eine Übergangsregierung gebildet wurde. Bis heute sind die drei Bürgermeister immer noch nicht ernannt und müssen seit 2006 den Titel „scheidender Bürgermeister“ tragen. Sonderfall: Sprachgrenzgemeinden Der Sprachengebrauch gegenüber Privatpersonen in lokalen Dienststellen in den Gemeinden entlang der Sprachgrenze, die über Spracherleichterungen verfügen, kann wie folgt zusammengefasst werden: Beziehungen mit Privatpersonen: Niederländisch oder Französisch, je nachdem in welcher Sprache sich die Person an die Verwaltung richtet; für die Öffentlichkeit bestimmte Bekanntmachungen und Mitteilungen: Niederländisch und Französisch mit Vorrang für die Sprache des Sprachgebietes, in dem sich die Gemeinde befindet, aber in Gemeinden mit Tourismuszentren kann der Gemeinderat beschließen, diese Bekanntmachungen und Mitteilungen in mindestens drei Sprachen abzufassen; Bekanntmachungen der Standesämter: die Sprache der Urkunde, auf die sich bezogen wird, oder gegebenenfalls in der Sprache der Übersetzung, falls die betroffene Person sich kostenlos ohne Begründung oder Rechtfertigung eine Übersetzung in eine der anderen Landessprachen aushändigen lassen will; für die Öffentlichkeit bestimmte Formulare: ausschließlich die Sprache des Sprachgebietes, in dem sich die Gemeinde befindet; Urkunden, die sich auf Privatpersonen beziehen: die Sprache des Sprachgebietes, in dem sich die Gemeinde befindet, mit der Möglichkeit einer kostenlosen Übersetzung, falls die betroffene Person sich ohne Begründung oder Rechtfertigung eine solche aushändigen lassen will; Bescheinigungen für Privatpersonen: Niederländisch oder Französisch, je nach Wunsch der Interessenten. Genehmigungen und Erklärungen für Privatpersonen: Die Sprache des Sprachgebietes, in dem sich die Gemeinde befindet, eine kostenlose Übersetzung kann ausgehändigt werden, wenn der Interessent die Notwendigkeit nachweisen kann. Was die Sprachkompetenz der Beamten betrifft, so sind die Regeln des niederländischen bzw. französischen Sprachgebiets anwendbar (siehe oben). Sie unterscheidet sich jedoch grundsätzlich vom homogenen Sprachgebiet, indem: die Ämter als Gemeindesekretär, Gemeindeeinnehmer, Polizeikommissar und Sekretär oder Einnehmer der Öffentlichen Sozialhilfezentren (ÖSHZ) nur Bewerbern zugänglich sind, die über ausreichende Kenntnisse der „zweiten Sprache“ verfügen; in Gemeindeverwaltungen und in Verwaltungen öffentlich-rechtlicher Personen, die den Gemeinden unterstellt sind, niemand eine Stelle bekleiden darf, in der er mit der Öffentlichkeit in Kontakt kommt, wenn er nicht über Grundkenntnisse der zweiten Sprache verfügt. Für die restlichen Aspekte des Sprachengebrauchs sind die Regeln anwendbar, die auch für das betroffene Sprachgebiet gelten. Sonderfall: Malmedyer Gemeinden Der Sprachengebrauch gegenüber Privatpersonen in lokalen Dienststellen in den sogenannten „Malmedyer Gemeinden“ (Gemeinden Malmedy und Weismes) kann wie folgt zusammengefasst werden: Beziehungen mit Privatpersonen: Französisch oder Deutsch, je nachdem in welcher Sprache sich die Person an die Verwaltung richtet; für die Öffentlichkeit bestimmte Bekanntmachungen und Mitteilungen: Französisch oder, falls der Gemeinderat es beschließt, Französisch und Deutsch mit Vorrang für das Französische, aber in Gemeinden mit Tourismuszentren kann der Gemeinderat beschließen, diese Bekanntmachungen und Mitteilungen in mindestens drei Sprachen abzufassen; Bekanntmachungen der Standesämter: die Sprache der Urkunde, auf die sich bezogen wird, oder gegebenenfalls in der Sprache der Übersetzung, falls die betroffene Person sich kostenlos ohne Begründung oder Rechtfertigung eine Übersetzung in eine der anderen Landessprachen aushändigen lassen will; für die Öffentlichkeit bestimmte Formulare: Französisch oder, falls der Gemeinderat es beschließt, Französisch und Deutsch mit Vorrang für das Französische; Urkunden, die sich auf Privatpersonen beziehen: Französisch mit der Möglichkeit einer nicht zu begründenden oder zu rechtfertigenden kostenlosen Übersetzung, falls die betroffene Person sich eine solche aushändigen lassen will; Bescheinigungen, Erklärungen und Genehmigungen für Privatpersonen: Französisch oder Deutsch, je nach Wunsch der Interessenten. Die Gesetzgebung geht nicht auf die Sprachkompetenz der Beamten ein. Es wird lediglich gefordert, dass „die Dienststellen so organisiert [werden], dass die Öffentlichkeit sich ohne die geringste Schwierigkeit der französischen oder der deutschen Sprache bedienen kann“. Für die restlichen Aspekte des Sprachengebrauchs sind die Regeln anwendbar, die auch für das französische Sprachgebiet gelten. Regionale Dienststellen Unter regionalen Dienststellen versteht man jene Dienststellen, die sich auf mehr als eine Gemeinde aber nicht auf das ganze Land erstrecken (Art. 32 der koordinierten Gesetzgebung vom 18. Juli 1966). Dazu gehören unter anderem die Provinzräte und -kollegien, die Organe der Interkommunalen etc. Auch hier hängt der Sprachengebrauch dieser Dienststellen von ihrem geografischen Zuständigkeitsgebiet ab. Die oben erwähnte Einteilung in homogenes niederländisches bzw. französisches Sprachgebiet, deutsches Sprachgebiet, zweisprachiges Gebiet Brüssel-Hauptstadt, sowie die Sonderfälle der Brüsseler Randgemeinden, der Sprachgrenzgemeinden und der Malmedyer Gemeinden hat ebenfalls für regionale Dienststellen Bestand. Der Sprachengebrauch in regionalen Dienststellen und den lokalen Dienststellen ist in vielen Aspekten ähnlich (siehe oben). Folgende Punkte können jedoch hervorgehoben werden: Regionale Dienststellen, deren Sitz sich in Brüssel befindet, deren Zuständigkeitsbereich sich aber nur auf ein homogen einsprachiges Gebiet erstreckt, brauchen nur diese eine Sprache zu benutzen. Regionale Dienststellen, deren Zuständigkeitsbereich sich auf Sprachgrenzgemeinden oder Gemeinden des deutschen Sprachgebiets erstreckt und deren Sitz sich auch dort befinden, sind mutatis mutandis denselben Regeln unterworfen. Regionale Dienststellen bedienen sich in ihren Beziehungen mit lokalen Dienststellen, die in den Brüsseler Randgemeinden angesiedelt sind und die ihnen unterstehen, der niederländischen Sprache; gleiches gilt für regionale Dienststellen, die im niederländischen Sprachgebiet angesiedelt sind. Dienststellen auf Landesebene Die letzte Kategorie von Dienststellen, die in der koordinierten Gesetzgebung über den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten erwähnt werden, sind die „Dienststellen, deren Tätigkeitsbereich sich auf das ganze Land erstreckt“ (Art. 39 ff. der koordinierten Gesetzgebung). Diese Dienststellen werden unterteilt in einerseits zentrale Dienststellen, wozu vor allem die Föderalen öffentlichen Dienste (FÖD) (früher „Ministerien“) zählen, und anderseits Ausführungsdienststellen, zu denen unter anderem das Nationalarchiv, das Königliche Meteorologische Institut oder der Flughafen Brüssel-Zaventem gehören. Besonders in den Beziehungen zu den Innendiensten unterliegen die letzteren weniger strengen sprachlichen Auflagen. Der Sprachengebrauch gegenüber Privatpersonen in Dienststellen auf Landesebene kann wie folgt zusammengefasst werden: Beziehungen mit Privatpersonen: Niederländisch, Französisch oder Deutsch, je nachdem in welcher Sprache sich die Person an die Verwaltung richtet; Beziehungen mit privaten Unternehmen im homogenen niederländischen bzw. französischen Sprachgebiet: ausschließlich die Sprache des Sprachgebiets; für die Öffentlichkeit bestimmte Bekanntmachungen und Mitteilungen: Niederländisch und Französisch, gegebenenfalls auch Deutsch; für die Öffentlichkeit bestimmte Formulare: Niederländisch und Französisch, gegebenenfalls auch Deutsch; Urkunden, Bescheinigungen, Erklärungen und Genehmigungen für Privatpersonen: Niederländisch, Französisch oder Deutsch, je nach Wunsch der Interessenten. In den Innendiensten der zentralen Dienststellen wird der Sprachengebrauch genauso geregelt wie in den lokalen Dienststellen der Region Brüssel-Hauptstadt (siehe oben). In ihren Beziehungen zu anderen Dienststellen benutzen diese Innendienste die Sprache des Sprachgebiets, auf dem die andere Dienststelle angesiedelt ist. Die interne Organisation der zentralen Dienststelle, die auch die Sprachkompetenz der Beamten regelt, geschieht mittels sogenannter Sprachkader, die im Jahre 2002 anlässlich der sogenannten „Kopernikusreform“ des föderalen öffentlichen Dienstes neu gestaltet wurden. Es gibt demnach zwei Sprachkader: der niederländische und der französische. Daneben werden alle Beamten in eine Sprachrolle (niederländisch oder französisch) sortiert, je nachdem in welcher Sprache das erforderte Diplom erlangt wurde. Diese Einteilung in eine Sprachrolle ist im Prinzip unwiderruflich; je nach Sprachrolle können die Beamten nur in einen dementsprechenden Kader aufgenommen werden. Das Prinzip ist somit die Einsprachigkeit der Beamten. Es gibt keine separate deutschsprachige Sprachrolle. Es gibt jedoch Ausnahmen zu diesem Prinzip: Für alle höheren Positionen, Management- oder Führungspositionen gibt es drei Sprachkader, nämlich einen niederländischen, einen französischen und einen zweisprachigen. Die Prozentsätze der jeweiligen Kader werden in regelmäßigen Abständen durch Königlichen Erlass festgelegt. Dienste der Gemeinschaften und Regionen Die Regeln in Bezug auf den Sprachengebrauch in den Diensten der Gemeinschaften und Regionen werden nicht in der koordinierten Gesetzgebung von 1966 festgehalten, sondern für Flandern, die Wallonische Region und die Französische Gemeinschaft im ordentlichen Gesetz vom 9. August 1980 zur Reform der Institutionen (Art. 35–44). Die Regeln für die Deutschsprachige Gemeinschaft befinden sich im Gesetz vom 31. Dezember 1983 über institutionelle Reformen für die Deutschsprachige Gemeinschaft (Art. 68–71) und die für die Region Brüssel-Hauptstadt geltenden Regeln im Gesetz vom 16. Juni 1989 über gewisse institutionelle Reformen (Art. 32–37). Flandern, Wallonische Region, Französische Gemeinschaft In ihren jeweiligen homogenen Zuständigkeitsgebieten verwenden die Dienste der Flämischen Region bzw. Gemeinschaft (kurz: Flandern) die niederländische Sprache und die Dienste der Wallonischen Region und der Französischen Gemeinschaft die französische Sprache. In den Gebieten mit Sonderstatus (Sprachgrenzgemeinden, Brüsseler Randgemeinden, Malmedyer Gemeinden, aber auch ggf. zweisprachiges Gebiet Brüssel-Hauptstadt oder deutsches Sprachgebiet) wenden sie die Regeln der koordinierten Gesetzgebung von 1966 an (siehe oben). Die Wallonische Region muss mit Diensten, die im deutschen Sprachgebiet angesiedelt sind, die deutsche Sprache benutzen. Es sind ebenfalls besondere Bestimmungen vorgesehen für Dienststellen der erwähnten Gebietskörperschaften, die sich nur über einen Teil des gesamten Zuständigkeitsgebietes erstrecken. Deutschsprachige Gemeinschaft Die Dienststellen der Deutschsprachigen Gemeinschaft sind den gleichen Regeln unterworfen wie die lokalen Dienststellen des deutschen Sprachgebietes (siehe oben), nur werden Bekanntmachungen und Formulare zuerst in deutscher Sprache veröffentlicht. Auf Anfrage kann eine französische Übersetzung ausgehändigt werden. Region Brüssel-Hauptstadt Die Verwaltungssprachen in der Region Brüssel-Hauptstadt und für die Gemeinsame Gemeinschaftskommission sind Niederländisch und Französisch. Somit sind die Bestimmungen der koordinierten Gesetzgebung von 1966, was die lokalen Dienststellen im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt betrifft, auch auf die Dienststellen der Region Brüssel-Hauptstadt anwendbar. Sanktionen Die Sanktionen bei Nichtbeachtung der Sprachengesetzgebung werden in den Artikeln 57 bis 59 der koordinierten Gesetzgebung vom 18. Juli 1966 über den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten festgehalten. Die Beamten, die das Gesetz verletzen, werden disziplinarrechtlich bestraft. Für untergeordnete Behörden (bes. Gemeinden) kann bei Ausbleiben von Disziplinarstrafen die Aufsichtsbehörde (Regionalregierung oder Provinzgouverneur) diese Strafe selbst erteilen. Die Verwaltungsakte und -verordnungen, die hinsichtlich der Form oder des Inhalts gegen die Bestimmungen der Sprachengesetzgebung verstoßen, sind nichtig. Bei Formfehlern muss die Akte oder die Verordnung von der gleichen Behörde vorschriftsmäßig ersetzt werden. Bei inhaltlichen Fehlern wird die Verjährungsfrist für Streit- bzw. Verwaltungsverfahren unterbrochen. Die allgemeine Verjährungsfrist für Verstöße gegen die Sprachengesetzgebung beträgt fünf Jahre. Besonderheiten Die Regeln zur Sprachkompetenz der Beamten wird in der koordinierten Gesetzgebung über den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten genau festgehalten. Doch auch die Frage der Sprachkompetenz der gewählten Mandatare und Volksvertreter, besonders auf Ebene der Gemeinden, war der Auslöser heftiger Auseinandersetzungen im flämisch-wallonischen Konflikt. Insbesondere in den achtziger Jahren entstand eine große Polemik um den Bürgermeister der Gemeinde Voeren (frz. Fourons), José Happart, der, obwohl seine Gemeinde sich im niederländischen Sprachgebiet befand, beinahe kein Wort Niederländisch sprach und sich weigerte, die Sprache zu lernen. Mit seiner Partei „Retour à Liège“ (Zurück nach Lüttich) war er in der Tat der Auffassung, dass die 1963 geschehene Übertragung der Gemeinde Voeren von der französischsprachigen Provinz Lüttich zur niederländischsprachigen Provinz Limburg rückgängig gemacht werden sollte. Die niederländischsprachige Kammer des Staatsrates hatte somit die Ernennung Happarts für nichtig erklärt. Der daraus folgende Streit, der nicht selten gewaltsam ausgetragen wurde, sollte sogar das Scheitern der belgischen Regierung unter Wilfried Martens zur Folge haben. Die Krise in Voeren wurde nach den Neuwahlen von 1987 gelöst, indem durch ein Gesetz vom 9. August 1988 das Gemeindewahlgesetz vom 4. August 1932 abgeändert wurde. Der heutige Artikel 68bis sieht seitdem vor, dass jedes Gemeinderatsmitglied, jeder Schöffe und jeder Bürgermeister der Gemeinden mit Sonderstatut die Sprache des Sprachgebiets kennen muss. Diese Kenntnis wird vorausgesetzt. Nur für direkt gewählte Mandatare (sprich Gemeinderatsmitglieder) gilt durch ihre Wahl eine unwiderlegbare Vermutung der Sprachenkenntnis. Für die Schöffen und Bürgermeister jedoch kann diese Vermutung auf Anfrage eines Gemeinderatsmitgliedes widerlegt werden, wenn das Mitglied schwerwiegende Beweise vorbringen kann. In diesem Fall wird die Sache an den Staatsrat weitergeleitet, der die Sachlage überprüft. Stellt sich heraus, dass die Sprache des Sprachgebietes tatsächlich nicht beherrscht wird, wird die Ernennung des Bürgermeisters für nichtig erklärt. Sprachengebrauch im Gerichtswesen Der Sprachengebrauch für die ordentlichen Gerichte wird durch ein Gesetz vom 15. Juni 1935 geregelt. Daneben gibt es besondere Regeln für den Gebrauch der Sprachen vor dem Staatsrat oder dem Verfassungsgerichtshof, die in den jeweiligen Grundlagengesetzen festgehalten werden, d. h. in der koordinierten Gesetzgebung über den Staatsrat vom 12. Januar 1973 und im Sondergesetz vom 6. Januar 1989 über den Schiedshof. Ordentliche Gerichte Innerhalb der ordentlichen Gerichte (oder der „Judikativen“) hängt die Sprachenregelung zum einen vom Rechtsgebiet ab (Zivil-, Handels- und Arbeitsrecht einerseits, Strafrecht andererseits), und zum anderen von der Hierarchie der Gerichte (Gericht Erster Instanz, Appellationshof, Kassationshof). Zivil-, Handels- und Arbeitsgerichte Das Prinzip für die Zivil-, Handels- und Arbeitsgerichte in Erster Instanz (einschließlich des Friedensrichters) ist die Einsprachigkeit in den einsprachigen Gerichtsbezirken, die mit Ausnahme der Provinzen Flämisch-Brabant und Lüttich sowie der Hauptstadtregion deckungsgleich mit den Provinzen sind. So kann vereinfacht gesagt werden, dass die Gerichte Erster Instanz des niederländischen Sprachgebietes niederländischsprachig sind, die des französischen Sprachgebiets französischsprachig, und die des deutschen Sprachgebietes deutschsprachig (Art. 1, 2 u. 2bis). Der Sprachengebrauch dieser Gerichte im Gerichtsbezirk Brüssel unterliegt anderen Regeln. Dieser Gerichtsbezirk erstreckt sich über das zweisprachige Gebiet Brüssel-Hauptstadt und den Verwaltungsbezirk Halle-Vilvoorde und ist somit der einzige zweisprachige Gerichtsbezirk des Landes. Somit ist die gesamte Sprachenregelung ein wenig komplizierter in diesem Bezirk (Art. 3, 4, 5 u. 7bis): Der Rechtsakt zur Verfahrenseinleitung muss in niederländischer bzw. französischer Sprache aufgesetzt sein, wenn der Beklagte im niederländischen bzw. französischen Sprachgebiet wohnhaft ist; wohnt der Beklagte im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt, hat der Kläger die Wahl zwischen Niederländisch und Französisch. Der Beklagte kann, bevor der eigentliche Prozess anfängt („in limine litis“), beantragen, dass der Prozess in der anderen Sprache geführt soll. Der Richter muss sofort über diese Anfrage befinden. Wohnt der Beklagte in einer der Brüsseler Randgemeinden mit Spracherleichterungen (d. h. in den Gemeinden Kraainem, Drogenbos, Linkebeek, Sint-Genesius-Rode, Wemmel oder Wezembeek-Oppem), kann er ebenfalls beantragen, dass der Prozess in der anderen Sprache geführt wird: vor den Friedensgerichten von Kraainem, Sint-Genesius-Rode und Meise; vor den Polizeigerichten Halle und Vilvoorde, für Gerichtssachen in Zusammenhang mit den zivilrechtlichen Folgen von Autounfällen; in diesem Fall wird die Sache an das Polizeigericht von Brüssel weitergeleitet. Wohnt der Beklagte in einer anderen Gemeinde auf dem flämischen Teil des Gerichtsbezirks Brüssel, gilt Folgendes: Die Friedensgerichte und – bei Gerichtssachen in Zusammenhang mit den zivilrechtlichen Folgen von Autounfällen, deren Wert 1860 Euro nicht überschreitet – die Polizeigerichte benutzen die niederländische Sprache. Die gleiche Regel gilt auch für die Gerichte Erster Instanz, die Handelsgerichte und Arbeitsgerichte, wenn diese Gerichte aufgrund einer territorialen Zuständigkeit in diesen flämischen Gemeinden befasst wurden. Handelt es sich um eine Sache in Zusammenhang mit den zivilrechtlichen Folgen eines Autounfalls, die aber den Wert von 1860 Euro überschreitet, kann vor den Polizeigerichten von Halle und Vilvoorde der Prozess in der anderen Sprache beantragt werden. In diesem Fall verweisen diese Gerichte die Sache an das Polizeigericht von Brüssel. Neben der Teilung des Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde (BHV) ist die Teilung des Gerichtsbezirks Brüssel, der sich faktisch über dasselbe Gebiet wie BHV erstreckt, um ihn auf die Realität der Sprachgrenze anzupassen, eine der großen Forderungen Flanderns. Die Frankophonen befürchten dagegen, dass die Rechte der französischsprachigen Minderheit im Verwaltungsbezirk Halle-Vilvoorde dadurch eingeschränkt werden könnten. Genauso wie für den Wahlkreis BHV ist für den Gerichtsbezirk Brüssel bis zum heutigen Tag noch keine Lösung gefunden worden. Die Parteien können jedoch auch im Einvernehmen entscheiden, dass der Prozess in einer anderen Landessprache geführt werden soll. Bei einer solchen Anfrage wird die Sache an das nächstgelegene Gericht des betreffenden Sprachgebietes verwiesen, außer wenn die Anfrage auf die Benutzung der französischen Sprache in einem deutschsprachigen Gericht des Bezirks Eupen betrifft. In diesem Fall wird der Prozess von den Gerichten des Bezirks Eupen in französischer Sprache geführt (Art. 7). Der Sprachengebrauch der Parteien während des Prozesses selbst ist dagegen frei. Wenn der Richter die Parteien, die persönlich erschienen sind, nicht versteht, muss er einen Simultanübersetzer anfordern (Art. 30). Strafgerichte Der Sprachengebrauch vor Strafgerichten ist anders organisiert. Belgien ist durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) gebunden, auf die Rechte des Angeklagten in Strafprozessen zu achten, wie: das Recht, innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihm verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden (Art. 6 Abs. 3 lit. a der EMRK); das Recht, einen Dolmetscher zu erhalten, wenn er die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht oder spricht (Art. 6 Abs. 3 lit. e der EMRK). Jeder festgenommenen Person muss des Weiteren unverzüglich in einer ihr verständlichen Sprache mitgeteilt werden, welches die Gründe für ihre Festnahme sind und welche Beschuldigungen gegen sie erhoben werden. (Art. 5 Abs. 2 der EMRK) Diese Garantie wird auch im Gesetz vom 15. Juni 1935 festgehalten. Dieses besagt, dass bei allen Verhören während einer Ermittlung oder einer Untersuchung, vor dem Untersuchungsrichter und vor den Gerichten und Gerichtshöfen, die Partei, die persönlich erscheinen, frei im Sprachengebrauch sind. Ob es sich hierbei um eine offizielle Landessprache handelt (siehe oben) oder nicht, hat keine Auswirkungen. Gegebenenfalls wird auf die Dienste eines Simultanübersetzers zurückgegriffen (Art. 31). Dasselbe gilt für Zeugen (Art. 32). Der Sprachengebrauch bei Verfahren vor den Polizeigerichten und den Strafgerichten ist wie folgt organisiert: Je nachdem wo sich der Sitz des Gerichtes befindet (niederländisches, französisches oder deutsches Sprachgebiet), wird die niederländische, französische oder deutsche Sprache benutzt (Art. 14). Nur für die Gemeinden Voeren und Comines-Warneton gibt es gewisse Ausnahmeregelungen. Für den Gerichtsbezirk Brüssel sind wiederum besondere Regeln vorgesehen (Art. 15 u. 16): Vor den Strafgerichten am Gericht Erster Instanz ist – genau wie bei Zivil-, Handel- oder Arbeitsgerichten – der Wohnort des Angeklagten ausschlaggebend: das Verfahren muss in niederländischer bzw. französischer Sprache eingeleitet werden, wenn der Angeklagte im niederländischen bzw. französischen Sprachgebiet wohnhaft ist; wenn er im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt wohnhaft ist, wird die Sprache bevorzugt, in der der Angeklagte seine Aussagen bei der Ermittlung oder Untersuchung formuliert hat, oder – in allen anderen Fällen – Französisch oder Niederländisch, „je nachdem was notwendig ist“. Der Angeklagte kann eine Anfrage einreichen, um die Sprache des Verfahrens ändern zu lassen. Vor den Polizeigerichten gilt Folgendes: Das Polizeigericht in Brüssel unterliegt denselben Regeln über den Sprachengebrauch wie das Strafgericht. Die Polizeigerichte, deren territoriale Kompetenz sich nur auf flämische Gemeinden erstreckt, benutzen die niederländische Sprache. Wenn der Angeklagte in einer der Brüsseler Randgemeinden mit Spracherleichterungen (d. h. in den Gemeinden Kraainem, Drogenbos, Linkebeek, Sint-Genesius-Rode, Wemmel oder Wezembeek-Oppem) wohnhaft ist, kann er beantragen, dass der Prozess in der anderen Sprache geführt wird. Die Assisenhöfe (Geschworenengerichte) sind pro Provinz vorgesehen und unterliegen somit folgenden Sprachregeln (Art. 19): In den Provinzen Hennegau, Luxemburg, Namur und Wallonisch-Brabant findet das Verfahren in französischer Sprache statt. In den Provinzen Antwerpen, Ostflandern, Westflandern, Flämisch-Brabant und Limburg ist die Verfahrenssprache Niederländisch. In der Provinz Lüttich wird Französisch oder Deutsch benutzt, je nachdem, in welcher Sprache sich der Angeklagte bei der Untersuchung ausgedrückt hat. Im Verwaltungsbezirk Brüssel-Hauptstadt wird Französisch oder Niederländisch benutzt, je nachdem in welcher Sprache sich der Angeklagte bei der Untersuchung ausgedrückt hat. Drückt sich der Angeklagte jedoch besser in einer anderen Landessprache aus als die, die in der Provinz gesprochen wird, kann er beantragen, dass der Assisenprozess in seiner Sprache in einer anderen Provinz abgehalten wird (Art. 20). In Kriegszeiten kann der Angeklagte selbst entscheiden, in welcher Sprache (Niederländisch, Französisch oder Deutsch) das Verfahren vor dem Militärgericht geführt wird (Art. 18). Wenn ein Angeklagter die Sprache des Verfahrens nicht beherrscht, kann er kostenlose Übersetzungen der Protokolle, Zeugenaussagen oder Expertengutachten beantragen (Art. 22). Es gibt für die Polizei- und Strafgerichte ebenfalls gewisse Flexibilitäten, wenn der Angeklagte die Sprache des Verfahrens nur schlecht beherrscht (Art. 23). Appellationshöfe und Kassationshof Der Sprachgebrauch vor den Appellationshöfen und vor dem Kassationshof wird hauptsächlich durch die Sprache des Urteils, welches zur Berufung oder zur Kassation vorliegt, bestimmt. Appellationshöfe Die Sprache vor allen Berufungsgerichten, und besonders vor den fünf Appellationshöfen (Brüssel, Antwerpen, Gent, Lüttich und Mons), ist die Sprache in der das Urteil, welches Gegenstand der Berufung ist, aufgesetzt wurde (Art. 24). Wenn aber die Appellationshöfe in Strafsachen in erster und letzter Instanz befinden (d. h. vor allem wenn gemäß Art. 479 ff. des Strafprozessgesetzbuches ein Richter angeklagt wird), dann wird das Verfahren in der Sprache geführt, die dem Sprachgebiet entspricht, in dem der Richter seine Funktionen ausübt oder in dem er seinen offiziellen Wohnsitz hat (Art. 25, Abs. 1). Wenn dieses Sprachgebiet der Gerichtsbezirk Brüssel ist, benutzt der Appellationshof von Brüssel die niederländische oder französische Sprache, je nachdem in welcher Sprache der Richter seine Aussagen während der Ermittlung gemacht hat. Das Gleiche gilt mutatis mutandis für die Gerichtsbezirke Verviers und Eupen in Zusammenhang mit der französischen und der deutschen Sprache (Art. 25, Abs. 2 u. 3). Ähnliches ist für Berufungen gegen Schiedsentscheidungen anwendbar (Art. 26). Kassationshof Wenn das Urteil, das dem Kassationshof vorgelegt wird, in französischer oder niederländischer Sprache ausgesprochen wurde, dann wird die entsprechende Sprache auch vor dem Kassationshof benutzt (Art. 27). Für deutschsprachige Urteile ist ein besonderes Verfahren vorgesehen (Art. 27bis). Alle Urteile des Kassationshofes werden mit einer Übersetzung in der anderen Sprache ausgesprochen; wenn ein deutschsprachiges Urteil betroffen war, wird ebenfalls eine deutsche Übersetzung veröffentlicht (Art. 28). Staatsrat Der Gebrauch der Sprachen vor dem Staatsrat als höchste Verwaltungsgerichtsbarkeit ist in Titel VI der koordinierten Gesetzgebung über den Staatsrat vom 12. Januar 1973 geregelt. Die koordinierten Gesetze unterscheiden innerhalb des Staatsrates die Abteilung „Gesetzgebung“, die ein Beratungsorgan für alle Parlamente und Regierungen des Landes ist, und die Abteilung „Verwaltungsstreitsachen“, die das eigentliche oberste Verwaltungsgericht darstellt. In der Gesetzgebungsabteilung gilt das Prinzip, dass die Sprache verwendet wird, in der der untersuchte Text (wie beispielsweise ein Gesetzesvorentwurf) aufgestellt wurde (Art. 47). Wenn der Text in Niederländisch und Französisch aufgestellt wurde, wie dies bei den Vorentwürfen des Föderalstaats und der Region Brüssel-Hauptstadt üblich ist, überprüft der Staatsrat beide Versionen und hebt die eventuellen Unvereinbarkeiten zwischen den beiden Texten hervor (Art. 48). Wird ein Text in deutscher Sprache vorgelegt (weil er von der Deutschsprachigen Gemeinschaft stammt), dann wird dieser entweder von einer französischen oder einer niederländischen Kammer begutachtet und das Gutachten wird übersetzt (Art. 50bis). In der Abteilung Verwaltungsstreitsachen ist der Sprachengebrauch ein wenig komplizierter. Wenn der Staatsrat sich über die Legalität eines Verwaltungsdokumentes aussprechen soll, dann geschieht dies in der Sprache, in der dieses Dokument aufgesetzt wurde, außer wenn gerade bemängelt wird, dass die Gesetzgebung über den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten (siehe oben) nicht eingehalten wurde; in diesem Fall wird die Sache vor einer zweisprachigen Kammer behandelt (Art. 52). Der Sprachengebrauch vor dem Staatsrat bei Klagen gegen Verwaltungsakte mit Einzelentscheidungen (wie beispielsweise eine Beförderung oder eine Disziplinarstrafe) ist maßgeblich durch das Statut des Klägers geprägt: Ist der Kläger ein Beamter, gilt es – gemäß der koordinierten Gesetzgebung vom 18. Juli 1966 – folgende Hinweise zu ermitteln, um den Sprachengebrauch festzulegen (in dieser Reihenfolge): 1. das homogen einsprachige Gebiet, in dem der Beamte seine Tätigkeiten ausübt; 2. die „Sprachrolle“ (siehe oben), der er angehört; 3. die Sprache, in der er seine Aufnahmeprüfung abgelegt hat; 4. die Sprache des Diploms, das er für die Stelle vorweisen musste; 5. die Sprache, in der die Streitsache eingeleitet wurde (Art. 54). Ist der Kläger ein Richter, dann wird das Verfahren in der Sprache des Sprachstatuts des Magistraten, so wie es im Gesetz vom 15. Juni 1935 über den Sprachengebrauch im Gerichtswesen definiert wurde, geführt (Art. 55). Ist der Kläger Teil der belgischen Streitkräfte, bestimmt seine in Anwendung de Gesetzes vom 30. Juli 1938 (siehe weiter unten) ermittelte Sprachzugehörigkeit, in welcher Sprache das Verfahren vor dem Staatsrat stattfindet (Art. 56 bis 59). In gewissen Fällen, wie beispielsweise wenn die Parteien verschiedenen Sprachregelungen unterworfen sind, wird eine zweisprachige Kammer (Niederländisch/Französisch) mit der Sache betraut. In diesem Fall erfolgt auch das Urteil des Staatsrates in zwei Sprachen (Art. 61 u. 62). Aber auch für die Parteien selbst sind gewisse Regeln im Zusammenhang mit der Sprache vorgesehen. So dürfen sie, wenn sie selbst der Gesetzgebung über den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten unterworfen sind, nur die Sprache benutzen, die aufgrund dieses Gesetzes vorgesehen ist. Alle Anträge und Schriftsätze, die dem Staatsrat in der falschen Sprache übermittelt wurden, sind nichtig (Art. 65). Personen, die nicht dieser Gesetzgebung unterliegen, dürfen Akten und Aussagen vorlegen, die in der Sprache aufgesetzt wurden, die sie selbst ausgewählt haben (Art. 66). Verfassungsgerichtshof Der Verfassungsgerichtshof als „Hüter der belgischen Verfassung“ untersteht seinerseits ebenfalls einer eigenen Sprachenregelung, die in Titel IV des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Schiedshof festgehalten werden. Ähnlich wie beim Staatsrat bestimmt die Eigenschaft des Klägers, ob das Verfahren in Niederländisch, Französisch oder Deutsch geführt wird (Art. 62): Die föderale Regierung („der Ministerrat“) benutzt die niederländische oder die französische Sprache gemäß den Vorgaben der koordinierten Gesetzgebung vom 18. Juli 1966 über den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten (siehe oben). Die Präsidenten des Föderalen Parlamentes benutzen die niederländische und die französische Sprache. Die Regierungen der Französischen Gemeinschaft, der Deutschsprachigen Gemeinschaft, der Wallonischen Region, der Region Brüssel-Hauptstadt und die Flämische Regierung benutzen ihre Verwaltungssprache (Niederländisch, Deutsch oder Französisch). Für die Präsidenten der Parlamente dieser Gemeinschaften und Regionen gilt dasselbe, außer für die Präsidenten des Parlamentes der Region Brüssel-Hauptstadt und der „Gemeinsamen Gemeinschaftskommission“, die die französische und die niederländische Sprache benutzen. Die Gerichte benutzen die Sprache oder die Sprachen, in denen sie ihre Entscheidung verfassen müssen (siehe oben). Die Personen (privat oder öffentlich, natürlich oder juristisch), die ein Interesse nachweisen, benutzen die Sprache ihrer Wahl, außer wenn sie den Rechtsvorschriften über den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten unterworfen sind. Wenn diese Regeln nicht einbehalten werden, wird von Amts wegen die Nichtigkeit der Schriftsätze und Erklärungen vom Verfassungsgerichtshof festgestellt (Art. 62, Abs. 3). Die Untersuchung der Sache selbst wird in der Sprache des Schriftsatzes geführt (Art. 63). Wenn die Sache in Deutsch (was sehr selten vorkommt) oder gleichzeitig in Französisch und in Niederländisch anhängig gemacht wird, beschließt der Verfassungsgerichtshof, ob die Untersuchung in Französisch oder in Niederländisch geführt wird. Die mündlichen Erklärungen in den Sitzungen erfolgen in Deutsch, Französisch oder Niederländisch mit Simultanübersetzung (Art. 64). Der Verfassungsgerichtshof unterscheidet sich jedoch grundlegend von allen anderen Gerichtshöfen Belgiens, indem er all seine Urteile, die auf eine Nichtigkeitsklage hin erlassen worden sind, systematisch in Niederländisch, Französisch und Deutsch veröffentlichen muss (Art. 65). Dasselbe gilt für Verfahren, die in deutscher Sprache geführt wurden. In den anderen Fällen (beispielsweise bei Antworten auf präjudizielle Fragen) werden die Urteile in niederländischer und französischer Sprache veröffentlicht. Sprachengebrauch in den belgischen Streitkräften Der Sprachengebrauch in den belgischen Streitkräften wird durch ein Gesetz vom 30. Juli 1938 geregelt. Besonders die Verabschiedung dieser Gesetzgebung war einer der wichtigsten Motoren der Flämischen Bewegung während des Ersten Weltkriegs (1914–1918). Zu dieser Zeit entstand während der Flandernschlacht an der Yser die sogenannte „Frontbeweging“, die sich gegen die Sprachenpolitik der belgischen Armee wehrte. Das einfache Soldatenkorps der Armee soll nämlich zu der Zeit zu etwa 80 % aus Flamen bestanden haben, wobei die Offiziere in der übergroßen Mehrheit aus der französischsprachigen Bourgeoisie stammten. Dies soll sogar zur Folge gehabt haben, dass in den Gräben die flämischen Soldaten die Befehle der französischsprachigen Offiziere nicht verstanden und dass die daraus entstehenden Missverständnisse in einigen Fällen sogar direkt zum Tod flämischer Soldaten geführt haben sollen. Die Wahrheit dieser Thesen ist jedoch heutzutage äußerst umstritten. Nachdem die Frontbeweging 1917 verboten wurde, radikalisierte sie sich; aus ihr entstand 1919 die rechtsradikale „Frontpartij“. Das Gesetz vom 30. Juli 1938, das die vorigen Sprachgesetze der Armee aufhebt, hat das Sprachenproblem innerhalb der belgischen Streitkräfte gelöst, indem die Armee in niederländischsprachige, französischsprachige und zweisprachige Einheiten aufgeteilt wurde. Konkret sieht das Gesetz vor: „Die vollständige Ausbildung der Soldaten erfolgt in ihrer Muttersprache“ (Art. 19, Abs. 1). Um die Muttersprache zu ermitteln wird zwar von der Gemeinde, in der der Soldat wohnhaft ist, ausgegangen, doch kann er immer beweisen, dass seine Muttersprache eine andere ist. Für deutschsprachige Soldaten wurde ebenfalls die Möglichkeit vorgesehen, eine eigene Einheit zu bilden. „Verwaltungskompanien“ sind zweisprachig, aber in einsprachige Sektionen unterteilt (Art. 19, Abs. 5). Offiziere müssen neben ihrer niederländischen oder französischen Muttersprache auch „eine effektive Kenntnis der anderen Sprache“ besitzen. Ein Sprachtest ist vorgesehen für Offizierskandidaten (Art. 1), für die Ernennung zum Leutnant (Art. 3) und für die Ernennung zum Major (Art. 5). Für die deutsche Sprache ist eine besondere Regelung vorgesehen (Art. 2bis). Die Sprachbedingungen für Unteroffiziers-Kandidaten sind weniger streng (Art. 8). Was den Sprachengebrauch selbst betrifft, so wird „in jeder einsprachigen Einheit für Ausbildung, Befehle auf allen Stufen, Verwaltung, Führung und alle anderen dienstlichen Kontakte zwischen Kommando und Offizieren, Gradierten oder Soldaten, zwischen Offizieren, zwischen Offizieren und Gradierten, zwischen Gradierten und zwischen Offizieren oder Gradierten und Soldaten die Sprache dieser Einheit benutzt“ (Art. 22). Besondere Vorschriften sind für zweisprachige Einheiten, für den Sprachengebrauch in Militärkrankenhäusern und anderen Diensten (Depots, Arsenale etc.) und für die Kontakte mit dem Verteidigungsministerium vorgesehen. Bekanntmachungen und Mitteilungen, die Behörden an die Öffentlichkeit richten, werden gemäß der koordinierten Gesetzgebung über den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten aufgesetzt (siehe oben). Das einzige rein deutschsprachiges Infanteriebataillon wurde inzwischen aufgelöst. Sprachengebrauch im Unterrichtswesen Der Sprachengebrauch in den belgischen Schulen des Primar- und Sekundarunterrichtswesens wird, außer für die Deutschsprachige Gemeinschaft, durch das Gesetz vom 30. Juli 1963 über den Sprachengebrauch im Unterrichtswesen geregelt. In der Deutschsprachigen Gemeinschaft wurde das Gesetz ersetzt durch das Dekret vom 19. April 2004 über die Vermittlung und den Gebrauch der Sprachen im Unterrichtswesen; dies geschah in Anwendung von Artikel 129, § 1, Nr. 2 (bzw. Art. 130, § 1, Nr. 5 für die DG) der Verfassung, der den Gemeinschaften diese Zuständigkeit zuspricht. Die Gesetzgebung über den Sprachengebrauch im Unterrichtswesen betrifft nur die Schulen, die dem Gemeinschaftsunterrichtswesen (staatliches Unterrichtswesen) angehören oder von den Gemeinschaften bezuschusst oder anerkannt werden. Andere freie Schulen wie nicht anerkannte Privatschulen unterliegen nicht dem Gesetz. Die Schüler oder ihre Eltern als Privatpersonen sind ebenfalls nicht betroffen, da laut Artikel 30 der Verfassung der Sprachengebrauch von Personen frei ist. Die belgischen Hochschulen und Universitäten unterliegen nicht dem Gesetz von 1963. Der Gebrauch der Sprachen dort wird von den Gemeinschaften frei organisiert. Der Sprachengebrauch in den Schulen ist wie alle anderen Aspekte der Sprachengesetzgebung in Belgien ein äußerst sensibles Thema im flämisch-wallonischen Konflikt (siehe auch weiter unten). So sorgte beispielsweise der Bürgermeister der niederländischsprachigen Gemeinde Merchtem für Aufsehen, als er den Schulkindern den Gebrauch der französischen Sprache auf dem Schulhof verbieten wollte. Niederländisches, französisches und deutsches Sprachgebiet Im homogenen niederländischen und französischen Sprachgebiet wird in Niederländisch bzw. in Französisch Unterricht gegeben. Ausnahmen hierzu sind gestattet, z. B. für das Erlernen von Fremdsprachen. Im deutschen Sprachgebiet ist im Prinzip die Unterrichtssprache Deutsch. Aufgrund der Spracherleichterungen für Frankophone und den bereits existierenden französischsprachigen Schulen im deutschen Sprachgebiet stand die Deutschsprachige Gemeinschaft, die mit dem Unterrichtswesen betraut ist, lange Zeit unter der „Aufsicht“ des Föderalstaates für den Sprachengebrauch im Unterrichtswesen. Durch eine Verfassungsabänderung vom 20. Mai 1997 wurde schließlich der Deutschsprachigen Gemeinschaft die Autonomie für den Sprachengebrauch im Unterrichtswesen zuerkannt. Das Dekret vom 19. April 2004 sieht seitdem vor, dass die Gemeinden des deutschen Sprachgebiets die Verpflichtung haben, eine französisch- oder niederländischsprachige Abteilung in den bestehenden Schulen einzurichten, wenn die Erziehungsberechtigten von mindestens 15 Kindergartenschülern bzw. 30 Primarschülern erklären, dass Französisch oder Niederländisch ihre Muttersprache ist (Art. 3). Zweisprachiges Gebiet Brüssel-Hauptstadt Dadurch, dass auf dem zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt sowohl die Flämische als auch die Französische Gemeinschaft befugt sind, mussten besondere Regeln für den Sprachengebrauch im Unterrichtswesen erstellt werden. Auch im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt ist das Unterrichtswesen entweder niederländisch- oder französischsprachig. Es gibt keine offiziell zweisprachigen Schulen. Je nachdem in welcher Sprache unterrichtet wird, gehören die Schulen Brüssels, was die übrigen Aspekte des Unterrichtswesens betrifft, zum Zuständigkeitsbereich der Flämischen oder der Französischen Gemeinschaft (Art. 127, § 2 der Verfassung). Ob ein Schüler eine niederländisch- oder eine französischsprachige Schule besucht, wird vom „Familienoberhaupt“ entschieden, falls dieses im zweisprachigen Bezirk Brüssel-Hauptstadt wohnt (Art. 5 des Gesetzes vom 30. Juli 1963). Wenn der Schüler nicht in Brüssel wohnt, muss er automatisch dem Unterricht in der Sprache seines Sprachgebietes folgen, auch wenn er sich in eine Schule Brüssels einschreibt (z. B. müsste ein frankophoner Schüler aus den Brüsseler Randgemeinden im niederländischen Sprachgebiet eine niederländischsprachige Brüsseler Schule aufsuchen). Das Familienoberhaupt kann jedoch eine Erklärung unterschreiben, mit der er bezeugt, dass der Schüler in der anderen Sprache unterrichtet werden soll (Art. 17, Abs. 5 und Königlicher Erlass vom 30. November 1966). In der zweisprachigen Region Brüssel-Hauptstadt muss die zweite Sprache zwingend unterrichtet werden (Art. 10). Gemeinden mit Spracherleichterungen In den Gemeinden mit Spracherleichterungen (diese werden im Sinne der Gesetzgebung über den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten auch „Sprachgrenzgemeinden“ genannt), in den Brüsseler Randgemeinden und den Malmedyer Gemeinden, aber auch in den Plattdeutschen Gemeinden, für die es potenziell Spracherleichterungen geben kann (heute Baelen, Plombières und Welkenraedt), sind ebenfalls besondere Regeln anwendbar. Wenn eine Mindestanzahl von Erziehungsberechtigten dies fordert, müssen diese Gemeinden für die entsprechenden Schüler einen anderssprachigen Unterricht gewährleisten. Dies gilt jedoch nur für Kindergärten und den Primarschulunterricht. Der Sekundarschulunterricht muss in der Sprache des Sprachgebietes stattfinden (Art. 6 des Gesetzes vom 30. Juli 1963). Um am Unterricht in einer anderen Sprache als der des Sprachgebietes teilnehmen zu dürfen, muss (Art. 17, Abs. 2 und Königlicher Erlass vom 30. November 1966): entweder ein Zertifikat des Leiters einer vorherigen Schule des Schülers vorliegen oder das Familienoberhaupt eine Erklärung ausfüllen, mit der die Muttersprache des Schülers festgelegt wird, und der Spracheninspektion vorlegen oder eine unabhängige Jury die Muttersprache des Schüler feststellen. Auch in den Gemeinden mit Spracherleichterungen ist das Erlernen einer zweiten Landessprache Pflicht (Art. 10). Besonders in den Brüsseler Randgemeinden stellt sich jedoch der Sprachengebrauch im Unterrichtswesen erneut als Konfliktherd zwischen Flamen und Wallonen heraus. In diesen sechs Gemeinden gibt es in der Tat zahlreiche Schulen, die nur auf Französisch unterrichten und dem Lehrplan der Französischen Gemeinschaft folgen. Da sich die Schulen auf dem niederländischen Sprachgebiet befinden, erhalten sie Zuschüsse von der Flämischen Gemeinschaft, ohne dass sie die Lehrpläne dieser letzten einhalten müssen oder der flämischen Schulinspektion unterworfen wären. Der Grund hierfür ist ein Kompromiss, der während der ersten Staatsreform anfangs der 1970er Jahre geschlossen wurden. So besagt der Artikel 5 des Gesetzes vom 21. Juli 1971 bezüglich der Zuständigkeiten und der Funktionsweise der Kulturräte der Niederländischen Kulturgemeinschaft und der Französischen Kulturgemeinschaft (durch Artikel 93 des Sondergesetzes vom 8. August 1980 zur Reform der Institutionen heute noch in Kraft), dass die Situation der anderssprachigen Schulen in den Rand- und Fazilitätengemeinden am 31. Dezember 1970 angehalten wird und dass Vorschläge für Änderungen an dieser Situation zuerst dem Kooperationskomitee vorgelegt werden müssen; es handelt sich um eine sogenannte „Stillhalteklausel“. Ein aktuelles Beispiel für diese äußerst delikate Situation – obgleich nicht der Sprachengebrauch selbst betroffen ist – ist ein flämischer Dekretvorschlag aus dem Jahr 2007, der eine breite Auslegung des flämischen Dekretes zur Organisation des Grundschulwesen anstrebt und die französischsprachigen Schulen der Randgemeinden den flämischen Regeln unterordnen will. Die Begründung hierfür war zu sagen, dass wenn die Flämische Gemeinschaft Zuschüsse bezahlt, sie auch den Lehrplan bestimmen darf. Der französischsprachige Landesteil sah hierin jedoch einen Versuch, die französische Sprache in den Randgemeinden zu unterdrücken. Deshalb wurde zuerst am 13. Dezember 2007 seitens der Französischen Gemeinschaft, am 17. Juni 2008 seitens der Französischen Gemeinschaftskommission der Region Brüssel-Hauptstadt (abgekürzt „COCOF“) und anschließend am 14. Januar 2009 seitens der Wallonischen Region die parlamentarische Prozedur des „Interessenkonfliktes“ (Artikel 134 der Verfassung und Art. 32 des Gesetzes vom 9. August 1980) eingeleitet, mit der das flämische Vorhaben für eine gewisse Frist ausgesetzt werden konnte. Nachdem diese Frist seit dem 6. Juni 2009 abgelaufen war, verabschiedete das Flämische Parlament im Oktober 2009 den Dekretvorschlag. Dieses Vorgehen wurde scharf von den frankophonen Parteien kritisiert, die eine Klage beim Verfassungsgerichtshof einreichten. Nachdem er das flämische Dekret am 29. Juli 2010 vorerst ausgesetzt hatte, urteilte der Verfassungsgerichtshof am 28. Oktober 2010 zugunsten der Französischsprachigen und erklärte das flämische Dekret teilweise für nichtig. Sprachengebrauch in privaten Unternehmen Der Gebrauch der Sprachen in privaten Unternehmen im Industrie-, Handels- oder Finanzbereich unterliegt ebenfalls einer besonderen Gesetzgebung. Der Ausgangspunkt ist die koordinierte Gesetzgebung vom 18. Juli 1966 über den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten. Der Artikel 129, § 1, Nr. 3 der Verfassung überträgt der Flämischen und der Französischen Gemeinschaft jedoch die Zuständigkeit für den Gebrauch der Sprachen für „[…] die sozialen Beziehungen zwischen den Arbeitgebern und ihrem Personal sowie die durch Gesetz und Verordnungen vorgeschriebenen Handlungen und Dokumente der Unternehmen“. Im homogenen niederländischen bzw. französischen Sprachgebiet gelten seitdem das Dekret der niederländischen Kulturgemeinschaft vom 19. Juli 1973 (das „Septemberdekret“ genannt) bzw. das Dekret der französischen Kulturgemeinschaft vom 30. Juni 1982 (das „Augustdekret“ genannt). Die gemeinnützigen Einrichtungen (in Belgien „Vereinigungen ohne Gewinnerzielungsabsicht“ (VoG); in Deutschland als gemeinnützig anerkannte „Vereine“) sind nicht von diesen Regeln betroffen. Niederländisches Sprachgebiet In Unternehmen, die ihren Sitz im homogenen niederländischen Sprachgebiet haben, müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in ihren Beziehungen ausschließlich die niederländische Sprache benutzen. Die Urkunden, Papiere und Unterlagen, die von den Unternehmen ausgehändigt werden, sind ebenfalls auf Niederländisch aufzustellen. Falls es jedoch die Zusammensetzung der Belegschaft rechtfertigt und bei einstimmiger Entscheidung der Arbeitnehmervertreter können anderssprachige Übersetzungen beigelegt werden (Art. 5 des Dekretes vom 19. Juli 1973). Bei Zuwiderhandlungen sind die Dokumente von Rechts wegen nichtig. Auch Verwaltungssanktionen und selbst strafrechtliche Sanktionen sind vorgesehen. Ein flämisches Dekret vom 1. Juni 1994, das das Septemberdekret abändern sollte, wurde vom Verfassungsgerichtshof (damals noch „Schiedshof“) teilweise nichtig erklärt. Das Dekret sah vor, dass alle Arbeitsplatzangebote in Anzeigen in niederländischer Sprache aufgesetzt werden mussten. Da es sich zu diesem Zeitpunkt nur um einseitige Angebote handelt, besteht noch kein Arbeitsverhältnis und die Sprachenfreiheit gemäß Artikel 30 der Verfassung hat Bestand. Die Flämische Gemeinschaft hatte somit ihre Zuständigkeiten überschritten. Französisches Sprachgebiet Für Unternehmen, die im homogenen französischen Sprachgebiet angesiedelt sind, gelten ähnliche Vorschriften: Die Sprache für Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und die Sprache für Urkunden, Papiere und Unterlagen ist Französisch (Art. 2 des Dekretes vom 30. Juni 1982). Die Parteien können sich jedoch auch auf andere Sprachen einigen. Bei Zuwiderhandlungen sind die Dokumente von Rechts wegen nichtig. Es gibt jedoch keine anderen Sanktionen. Andere Sprachgebiete Das deutsche Sprachgebiet, das zweisprachige Gebiet Brüssel-Hauptstadt sowie das Gebiet der Gemeinden mit Spracherleichterungen verfügen über keine spezifischen Regeln, was den Gebrauch der Sprachen bei den Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer betrifft (Art. 129, § 2 der Verfassung). Für den Sprachengebrauch beim Aushändigen von Urkunden, Papieren und Unterlagen bleibt die koordinierte Gesetzgebung vom 18. Juli 1966 anwendbar. Somit gilt Folgendes für Urkunden, Papiere und Unterlagen (Art. 52 der koordinierten Gesetzgebung vom 18. Juli 1966): im deutschen Sprachgebiet wird Deutsch benutzt; im zweisprachigen Gebiet Brüssel-Hauptstadt werden die für das französischsprachige Personal bestimmten Unterlagen in französisch und die für das niederländischsprachige Personal bestimmten Unterlagen in niederländisch aufgesetzt; in den Gemeinden mit Spracherleichterungen wird die Sprache des Sprachgebietes benutzt, d. h. beispielsweise in den Brüsseler Randgemeinden Niederländisch und in den Malmedyer Gemeinden Französisch. Doch auch hier können diese Betriebe den für ihr Personal bestimmten Bekanntmachungen, Mitteilungen, Urkunden, Bescheinigungen und Formularen eine Übersetzung in eine oder mehrere Sprachen beifügen, wenn dies durch die Zusammensetzung des Personals gerechtfertigt ist. In den vorliegenden Fällen gibt es bei Zuwiderhandlungen keine wirklichen Sanktionen. Das fehlerhafte Dokument muss nur ersetzt werden (siehe oben). Siehe auch Politisches System Belgiens Flämisch-wallonischer Konflikt Flämische Bewegung Literatur Geschichte A. Alen, R. De Groof, H. Dumont, P. Vandernoot, E. Witte: De Brusselse negentien gemeenten en het Brussels model – Les dix-neuf communes bruxelloises et le modèle bruxellois. Larcier, Brussel-Bruxelles 2003, ISBN 978-2-8044-1216-6. D. Blampain, J.-M. Klinkenberg, M. Wilmet, A. Goosse (dir.): Le Français en Belgique. Une langue, une communauté. Duculot, Bruxelles 1996, ISBN 978-2-8011-1126-0. R. De Schrijver, B. De Wever, G. Durnez, L. Gevers, P. van Hees, M. De Metsenaere (red.): Nieuwe Encyclopedie van de Vlaamse Beweging, 3 Bd. und CD-ROM. Lannoo, Tielt 1998, ISBN 978-90-209-3042-9. J. Koll (Hrsg.): Nationale Bewegungen in Belgien. Ein historischer Überblick. Niederlande Studien, Bd. 37, Waxmann, Münster 2005, ISBN 978-3-8309-1465-5. E. Witte, E. Gubin, J.-P. Nandrin, G. Deneckere: Nouvelle histoire de Belgique, Volume 1 1830–1905. Complexe, Bruxelles 2005, ISBN 978-2-8048-0066-6. Sprachgesetzgebung P. Berckx: De toepassing van de taalregeling in de faciliteitengemeenten. T.B.P., 1998, blz. 332 en v. F. Delpérée: Les politiques linguistiques de la Belgique. Rev. gén. dr., 1988, S. 255 f. F. Delpérée: El uso de las linguas en la justicia en Bélgica. In: La administración de la justicia en los Estados plurilingües. Generalidad de Cataluna, Barcelona 1997, S. 11 f. T. De Pelsmaker, L. Deridder, F. Judo, J. Proot, F. Vandendriessche: Administratieve Rechtsbibliotheek: 15. Taalgebruik in bestuurszaken. Die Keure, Brugge 2004. L. Domenichelli: Constitution et régime linguistique en Belgique et au Canada, Bruylant, Bruxelles 1999. F. Gosselin: L’emploi des langues en matière administrative: les lois coordonnées du 18 juillet 1966. Kluwer, Deurne 2003. C. Horevoets: L’emploi des langues en matière sociale: un problème ancien, une solution classique. Note sous C.A., n° 72/95, 9 novembre 1995, R.B.D.C., 1996, S. 186 f. L. Lindemans: Taalgebruik in gerechtszaken. Story-Scientia, Gent 1973. P. Maroy: Des lois et des décrets sur l’emploi des langues dans les entreprises. J.T., 1978, S. 269 f. R. Renard: Talen in bestuurszaken, in de bedrijven en in de sociale betrekkingen. Story-Scientia, Gent 1983. P. Vandernoot: La législation linguistique applicable à Bruxelles. In: Het statuut van Brussel – Le statut de Bruxelles. De Boeck & Larcier, Bruxelles 1999. R. Vandezande: Het taalgebruik in het onderwijs. In: L. Lindemans et al.: De taalwetgeving in België. Davidsfonds, Leuven 1981, blz. 178 en v. H. van Goethem, J. Velaers: Erasmus in Brussel. Taalperikelen in het universitair onderwijs. T.O.R.B., 1990–91, blz. 23 en v. J. Velaers: Deel 12. Het gebruik van de talen. In: G. van Hagendoren, B. Seutin (eds.): De Bevoegdheidsverdeling in het federale België. Die Keure, Brugge 2001. Weblinks Koordinierte Verfassung Belgiens – Webseite des belgischen Senats (deutsch) Taalwetwijzer.be – Website des Ministeriums der Flämischen Gemeinschaft (niederländisch) Als goede buren. Vlaanderen en de taalwetgeving auf der Website des Documentatiecentrum Vlaamse Rand (pdf, niederländisch) Onlineversion der Nieuwe Encyclopedie van de Vlaamse Beweging (NEVB) – private Webseite (niederländisch) Einzelnachweise Belgische Geschichte Politik (Belgien) Recht (Belgien) Belgien Transkulturation Sprache und Recht
4706628
https://de.wikipedia.org/wiki/Wannseekonferenz
Wannseekonferenz
Die Wannseekonferenz war eine geheime Besprechung am 20. Januar 1942 in einer Villa am Großen Wannsee in Berlin. Fünfzehn hochrangige Vertreter der nationalsozialistischen Reichsregierung und der SS-Behörden kamen zusammen, um unter dem Vorsitz des SS-Obergruppenführers Reinhard Heydrich in seiner Funktion als Chef der Sicherheitspolizei (SiPo) und des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD) den begonnenen Holocaust an den Juden im Detail zu organisieren und die Zusammenarbeit der beteiligten Instanzen zu koordinieren. Entgegen verbreiteter Meinung war es nicht Hauptzweck der Konferenz, den Holocaust zu beschließen – diese Entscheidung war mit den seit dem Angriff auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) stattfindenden Massenmorden in vom Deutschen Reich besetzten Gebieten faktisch schon gefallen –, sondern die Deportation der gesamten jüdischen Bevölkerung Europas zur Vernichtung in den Osten zu organisieren und die erforderliche Koordination sicherzustellen. Die Teilnehmer legten den zeitlichen Ablauf für die weiteren Massentötungen fest, erweiterten die dafür vorgesehenen Opfergruppen zunehmend und einigten sich auf eine Zusammenarbeit unter der Leitung des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), das Heydrich führte. Heydrich war von Hermann Göring am 31. Juli 1941 mit der Gesamtorganisation der „Endlösung der Judenfrage“ beauftragt worden. Im Dezember 1941 lud Heydrich zu der Konferenz ein, an der Staatssekretäre aus verschiedenen Reichsministerien und dem Generalgouvernement, ein Ministerialdirektor der Reichskanzlei sowie leitende Beamte des Hauptamtes Sicherheitspolizei, des Sicherheitsdienstes und der Parteikanzlei teilnahmen. Protokollant war der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, Heydrichs Referent für „Judenangelegenheiten“. Der erst nach dem Zweiten Weltkrieg geprägte Begriff „Wannseekonferenz“ ergab sich aus dem Tagungsort, dem Gästehaus der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, Am Großen Wannsee 56/58. Die ehemalige Villa Marlier in Berlin-Wannsee war 1914/1915 nach Plänen von Paul Otto August Baumgarten erbaut worden. Heute ist das Haus eine Gedenkstätte für den Holocaust. Vorgeschichte Nationalsozialistische „Judenpolitik“ Der Antisemitismus war einer der zentralen Bestandteile der nationalsozialistischen Ideologie, der die NS-Politik bestimmte. Schon in seinem Werk Mein Kampf propagierte Adolf Hitler Ideen, die auf die Ausrottung der Juden abzielten. Am 30. Januar 1939 hatte Hitler in einer Reichstagsrede erstmals „die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ für den Kriegsfall angekündigt. Darauf bezog sich Propagandaminister Joseph Goebbels in einem Artikel für Das Reich vom 16. Dezember 1941: 1942 kam Hitler öffentlich fünfmal auf seine Drohung und ihre Verwirklichung zu sprechen, zuletzt am 8. November 1942: Die beabsichtigten Ziele und Ergebnisse der nationalsozialistischen Politik gegenüber den Juden waren somit offensichtlich. Gleichwohl sind Einzelheiten des Entscheidungsprozesses, der letztlich zum Holocaust führte, nur unzureichend dokumentiert. Der genaue Ablauf dieses Prozesses innerhalb des NS-Regimes ist in vielen Details immer noch unklar und wird in der Holocaustforschung weiterhin intensiv diskutiert. Die Entscheidung zum Holocaust Zu den erhaltenen Dokumenten gehört der Auftrag Görings an Heydrich, einen „Gesamtentwurf“ bezüglich Kosten, Organisation und Durchführung für die „Endlösung der Judenfrage“ auszuarbeiten. Er erging am 31. Juli 1941, also fünf Wochen nach dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni, der Millionen von Juden erst in die Reichweite des nationalsozialistischen Regimes brachte. In den ersten Monaten des Deutsch-Sowjetischen Krieges äußerten sich führende Funktionäre des NS-Regimes mehrmals in einer Weise, die auf den geplanten Völkermord schließen lässt. Dies gilt als Hinweis darauf, dass die endgültigen Entscheidungen, die zum Holocaust führten, im Herbst 1941 gefallen sein müssen. So versammelte Hitler am 12. Dezember 1941 die Reichs- und Gauleiter der NSDAP in seinen Privaträumen in der Reichskanzlei. Goebbels notierte darüber in seinem Tagebuch: Vier Tage später, am 16. Dezember 1941 veröffentlichte Goebbels den oben zitierten Artikel in Das Reich. Manche Historiker sehen die Gauleitertagung bei Hitler am 12. Dezember als spätesten Termin an, an dem die Entscheidung zur systematischen Judenvernichtung gefallen ist. Andere bezweifeln, dass es überhaupt einen bestimmten Zeitpunkt gab, an dem ein solcher Beschluss getroffen und ein entsprechender Führerbefehl dazu ausgegeben wurde. Dazu führen sie u. a. ein Zitat aus dem Protokoll der Wannseekonferenz an: An die Stelle der Nötigung zur Auswanderung sei „nach vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten“ als Lösungsmöglichkeit getreten. Ein förmlicher Beschluss zum Völkermord, der Ermordung aller Juden, sei damit nicht gegeben worden; Hitler habe sich ungern festgelegt und sei nur „Legitimierungsinstanz“ in einem noch stufenweise weiter fortschreitenden Radikalisierungsprozess gewesen, der durch lokale Initiativen, selbstverursachte vermeintliche Sachzwänge und eliminatorischen Antisemitismus kumulierte. Die meisten Historiker folgern jedoch aus den Quellen, dass im Spätherbst 1941 ein entscheidender Schritt im Entscheidungsprozess zum Völkermord getan worden sei. Damals zeichnete sich das Scheitern des Krieges gegen die Sowjetunion ab, der als Blitzkrieg begonnen worden war. Damit zerschlugen sich die letzten unausgereiften Pläne, die Juden weit in den Osten abschieben zu können, nachdem vorher schon die Umsiedlungsprojekte nach Nisko und Madagaskar als undurchführbar zu den Akten gelegt worden waren. Ein eindeutiger schriftlicher Befehl Hitlers zur Ermordung aller Juden im deutschen Einflussbereich wurde bisher nicht gefunden. Wahrscheinlich gab es keine derartige förmliche Anordnung. Auf mündliche Führerbefehle zur Judenvernichtung nehmen jedoch Briefe und Anordnungen hoher NS-Führer mehrfach Bezug. Diese Befehle waren offenbar meist stark verklausuliert; ebenso wie Heydrichs Befehle zu konkreten Massenmordaktionen. Was tatsächlich befohlen wurde, zeigte sich erst bei Umsetzung der Maßnahmen. Diese konnten aber nur mit Hitlers ausdrücklichem Einverständnis eingeleitet und vollzogen werden. In diesem Punkt stimmen alle Fachhistoriker bei allen sonst unterschiedlichen Deutungen überein. Aufgrund der öffentlichen Äußerungen von Hitler, Goebbels, Himmler und anderen hochrangigen NS-Funktionären konnte jeder Befehlshaber – etwa der SD-Einsatzkommandos – dieses Einverständnis bei Mordaktionen gegen Juden voraussetzen. Deportationen und Massenmorde bis Ende 1941 Das nationalsozialistische Vorgehen gegen die Juden radikalisierte sich seit 1933 über Ausgrenzung, Entrechtung, erzwungene Auswanderung, physische Verfolgung und Enteignung. Seit Kriegsbeginn kamen Ghettoisierung, Deportationen und Massenmorde in militärisch besetzten Gebieten Ost- und Südosteuropas hinzu. Diese Schritte erfolgten jedoch nicht überall chronologisch und geplant nacheinander, sondern teilweise in ständigem Wechsel und manchmal chaotisch nebeneinander. Mit dem Überfall auf Polen 1939 begannen Massenmorde an Zivilisten in Polen. Eine „zur besonderen Verfügung“ gebildete Einsatzgruppe unter Udo von Woyrsch erschoss bis Jahresende etwa 7000 Juden, erfuhr dafür aber starke Kritik einiger Armeebefehlshaber, wie z. B. des Oberbefehlshabers im Generalgouvernement, Johannes Blaskowitz. Der Historiker Hans Mommsen deutete diese Morde im Jahr 2002 als noch planlose Einzelinitiativen. Seit dem 22. Juni 1941 erschossen vier im Mai aufgestellte Einsatzgruppen systematisch und in großem Umfang Staatsfunktionäre, Partisanen und – bevorzugt jüdische – „Geiseln“ hinter der gesamten Ostfront der deutschen Wehrmacht. Teils mit ihnen, teils ohne sie ermordeten im selben Gebiet Einheiten der Ordnungspolizei und der Waffen-SS unter Hans-Adolf Prützmann, Erich von dem Bach-Zelewski und Friedrich Jeckeln Juden in großer Zahl. Mit dem Massaker von Kamenez-Podolsk an ungarischen und ukrainischen Juden Ende August 1941 betrafen Massenerschießungen erstmals Zehntausende und erreichten damit eine neue Dimension. Das Massaker von Babyn Jar im September/Anfang Oktober 1941, bei dem mehr als 33.000 jüdische Bewohner Kiews ermordet wurden, ist die bekannteste derartige Massenerschießung. Die Massenmorde liefen immer stärker auf eine unterschiedslose Ermordung aller Juden zu. In den von den Nationalsozialisten eingerichteten, überfüllten Ghettos starben täglich Juden an Unterernährung, Infektionskrankheiten und willkürlicher Gewalt ihrer Bewacher. Auch die „Vernichtung durch Zwangsarbeit“, die das Konferenzprotokoll als Methode der „Endlösung“ nannte, fand schon statt: etwa beim Bau einer wichtigen „Durchgangsstraße IV“ von Lemberg in die Ukraine. Im Oktober begannen Massendeportationen deutscher Juden aus dem Reichsgebiet. Auf Befehl Himmlers vom 18. September, unterzeichnet von Kurt Daluege, wurden bis zum 4. November 20.000 Juden und 5000 „Zigeuner“ nach Łódź deportiert. Am 23. Oktober 1941 verbot Himmler allen Juden im deutschen Einflussbereich die Auswanderung. „Auf Wunsch des Führers“ sollte bei Riga ein weiteres großes Konzentrationslager errichtet werden. Am 8. November 1941 erfuhr Hinrich Lohse, Reichskommissar für das besetzte Baltikum, dass je 25.000 „Reichs- und Protektoratsjuden“ nach Minsk und Riga deportiert werden sollten. Um letztere unterzubringen, ließ Jeckeln auf persönlichen Befehl Himmlers vom 29. November bis 1. Dezember sowie am 8. und 9. Dezember 1941 insgesamt 27.800 Bewohner des Rigaer Ghettos erschießen. Unter den Opfern waren auch der erste Transport von 1053 Berliner Juden, die am 30. November sofort nach ihrer Ankunft erschossen wurden. Himmlers Veto dagegen vom selben Tag kam zu spät. Der Historiker Raul Hilberg vermutet, dass es ohnehin nur zu erwartende Proteste Lohses beschwichtigen sollte. Nach Deutung von Dieter Pohl fürchtete Himmler, ausbleibende Nachrichten der Deportierten würden in Deutschland rasch zu Gerüchten über ihre Liquidierung führen. Am 25. und 29. November wurden bei Kaunas 5000 eigentlich für Riga bestimmte Juden aus dem Reich und dem Protektorat erschossen. Das Vernichtungslager Belzec war seit November 1941 im Bau; dessen erste Gaskammern von geringer Kapazität waren zur Ermordung arbeitsunfähiger Juden vorgesehen. Auch für das Vernichtungslager Sobibor und das KZ Majdanek im Distrikt Lublin begannen die Bauvorbereitungen. Seit Anfang Dezember 1941 wurden in Kulmhof (Chelmno) Gaswagen zur Tötung von Juden eingesetzt. Darüber verfügten mittlerweile alle vier Einsatzgruppen. Bis zur Einberufung der Wannseekonferenz hatten die Mörder mit Hitlers Zustimmung rund 900.000 Juden aus Deutschland, Polen und der Sowjetunion in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten umgebracht. Nun sollte als letzte Eskalationsstufe die systematische Ermordung aller Juden im deutschen Einflussbereich organisiert werden. Konferenzvorbereitungen Die Wannseekonferenz war ursprünglich für den 9. Dezember 1941 um 12 Uhr in der Dienststelle der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission (IKPK), Am Kleinen Wannsee Nr. 16, anberaumt worden. Seit August 1940 fungierte Heydrich als Vorsitzender der IKPK. Einige Tage später korrigierte Heydrichs Büro den Besprechungsort zum Gästehaus der Sicherheitspolizei und des SD, Am Großen Wannsee 56–58. Heydrichs Einladung zu einer „Besprechung mit anschließendem Frühstück“ verschickte Adolf Eichmann am 29. November. Er hob die „außerordentliche Bedeutung“ einer Gesamtlösung der Judenfrage hervor und legte das Ermächtigungsschreiben Görings an Heydrich vom 31. Juli bei. Zudem bestätigte er, dass Juden aus dem Reichsgebiet, Böhmen und Mähren seit 15. Oktober 1941 „evakuiert“ würden, also die Deportationen längst liefen. Eichmann war als Leiter des Gestaporeferats IV B 4 unter anderem für „Juden- und Räumungsangelegenheiten“ zuständig und organisierte später die meisten Deportationen von Juden aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Ungarn und anderen besetzten Gebieten in die Arbeits- und Vernichtungslager. Er lieferte Heydrich auch Vorlagen und Zahlenmaterial für sein Einleitungsreferat und fertigte das Protokoll über die Konferenz an. Auch andere NS-Ministerien bereiteten die Zusammenkunft vor. Am 8. Dezember erhielt Unterstaatssekretär Martin Luther eine Zusammenstellung der „Wünsche und Ideen des Auswärtigen Amtes zu der vorgesehenen Gesamtlösung der Judenfrage in Europa“. Diese empfahl die Abschiebung aller im Deutschen Reich ansässigen Juden deutscher Staatsangehörigkeit sowie die der serbischen, staatenlosen und von Ungarn übergebenen Juden. Den Regierungen in Rumänien, Kroatien, Bulgarien, Ungarn und der Slowakei solle die Abschiebung der in ihren Ländern ansässigen Juden nach dem Osten angeboten werden. Ferner solle auf alle Regierungen Europas Druck ausgeübt werden, Judengesetze nach dem Vorbild der Nürnberger Gesetze zu erlassen. Nach Japans Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 lud Hitler den Reichstag für den 9. Dezember ein, um dort die Kriegserklärung gegen die USA zu verkünden. Einige der zur Wannseekonferenz Eingeladenen und auch Heydrich selbst waren Reichstagsmitglieder; daher ließ Heydrich die Konferenz kurzfristig absagen. Ein Gesprächsvermerk, der von einer Verschiebung „wegen der Reichstagssitzung“ sprach, bestätigt seinen Absagegrund. Am 8. Januar 1942 ließ er neue Einladungen zum 20. Januar 1942 verschicken. Bis dahin wurden bereits wichtige Vorentscheidungen über einzelne auf der Konferenz besprochene Punkte getroffen. Hinrich Lohse hatte Georg Leibbrandt in einem Schreiben an das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete (RMfdbO) „Betreff: Judenexekutionen“ am 15. November 1941 angefragt: Otto Bräutigam vom RMfdbO antwortete am 18. Dezember 1941: Hans Frank sprach am 16. Dezember 1941 bei einer Regierungssitzung von der Absicht, das Generalgouvernement „judenfrei“ zu machen, und wies dabei auf die anstehende „große Besprechung in Berlin“ bei Heydrich hin. Ungeklärt ist, warum die Konferenz um ganze sechs Wochen verschoben wurde. Der Historiker Christian Gerlach deutet Hitlers Erklärung vom 12. Dezember 1941, die Judenvernichtung müsse notwendige Folge des nun eingetretenen Weltkriegs sein, als Entscheidung zum Holocaust. Damit habe sich eine neue Lage ergeben, die grundlegende Änderungen der von Heydrich vorzuschlagenden Pläne erfordert habe. Diese Deutung wird nur von wenigen Fachhistorikern geteilt. Die Konferenz Teilnehmer Auf Einladung Heydrichs nahmen 15 Personen an der Konferenz teil: Angehörige der SS, die den Massenmord organisatorisch und praktisch bereits begonnen hatten, sowie hochrangige Vertreter der NSDAP, der Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion und einiger Reichsministerien: Reinhard Heydrich (SS-Obergruppenführer, Hauptredner und Vorsitz) Adolf Eichmann (SS-Obersturmbannführer, Protokollführer) Josef Bühler (Staatssekretär im Amt des Generalgouverneurs in Krakau) Roland Freisler (Staatssekretär im Reichsjustizministerium, später Präsident des Volksgerichtshofs) Otto Hofmann (SS-Gruppenführer, Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS) Gerhard Klopfer (Ministerialdirektor in der Parteikanzlei der NSDAP, Leiter der Staatsrechtlichen Abteilung III) Friedrich Wilhelm Kritzinger (Ministerialdirektor in der Reichskanzlei) Rudolf Lange (SS-Sturmbannführer, Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD für Lettland in Vertretung seines Befehlshabers Walter Stahlecker) Georg Leibbrandt (Reichsamtsleiter, Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete) Martin Luther (Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt) Alfred Meyer (Staatssekretär im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, Gauleiter Westfalen-Nord) Heinrich Müller (SS-Gruppenführer, Chef des Amtes IV (Gestapo) des Reichssicherheitshauptamtes) Erich Neumann (Staatssekretär im Amt des Beauftragten für den Vierjahresplan) Karl Eberhard Schöngarth (SS-Oberführer, Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD im Generalgouvernement) Wilhelm Stuckart (Staatssekretär im Reichsministerium des Innern) Darüber hinaus waren weitere Vertreter von Ministerien und Behörden eingeladen, die ihre Teilnahme jedoch absagten. Leopold Gutterer beispielsweise, Staatssekretär im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, gab terminliche Gründe an, bat aber darum, über alle Folgetermine unterrichtet zu werden. Als einzige Frau war die Stenografin und Sekretärin Eichmanns, Ingeburg Werlemann, bei allen Besprechungen anwesend, ihr Name wird im Protokoll aber nicht erwähnt. Wegen ihrer Mitverantwortung für den Holocaust wurden nach dem Krieg nur sechs dieser Personen juristisch belangt: Schöngarth wurde 1946 in der britischen Besatzungszone, Bühler 1948 in Polen und Eichmann 1962 nach seinem Prozess in Israel hingerichtet. Kritzinger und Stuckart kamen für kurze Zeit, Hofmann für mehrere Jahre in Haft, aus der er aber schon 1954 vorzeitig entlassen wurde. Fünf weitere Teilnehmer kamen noch vor Kriegsende ums Leben: Heydrich bereits wenige Monate nach der Konferenz durch ein Attentat in Prag, Freisler und Müller durch Kriegseinwirkung, Lange und Meyer durch Suizid. Luther starb unmittelbar nach Kriegsende. Klopfer, Leibbrandt und Neumann blieben weitgehend unbehelligt. Mit Klopfer verstarb der letzte lebende aktive Teilnehmer im Jahr 1987, die Sekretärin Werlemann verstarb 2010. Inhalte Auf der Konferenz sollten die Zuständigkeiten für die bereits angelaufenen Deportations- und Vernichtungsaktionen geklärt, die Maßnahmen zu ihrer Umsetzung koordiniert und ihr räumlicher und zeitlicher Ablauf festgelegt werden. Schließlich wurden hier die Gruppen derjenigen Juden definiert, die zur Deportation und damit zur Vernichtung bestimmt waren. Dazu war die Mitarbeit vieler Institutionen notwendig, die bisher nicht über die „Endlösung“ informiert waren. Im Protokoll der Wannseekonferenz ließ Heydrich festhalten, dass er von Göring zum „Beauftragten für die Vorbereitung der Endlösung der europäischen Judenfrage“ bestellt worden sei und die Federführung beim „Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei“, also Himmler, liege. Auf dieser Sitzung wollte er sich mit den unmittelbar beteiligten Zentralinstanzen abstimmen. Heydrich berichtete über die erfolgte Auswanderung von rund 537.000 Juden aus dem „Altreich“, Österreich sowie Böhmen und Mähren, an deren Stelle nach „vorheriger Genehmigung durch den Führer die Evakuierung der Juden nach dem Osten“ treten solle. Für die „Endlösung der europäischen Judenfrage“ kämen rund elf Millionen Juden in Betracht. In dieser Zahl waren auch „Glaubensjuden“ aus dem unbesetzten Teil Frankreichs, aus England, Spanien, Schweden, der Schweiz, der Türkei und weiteren neutralen oder gegnerischen Staaten außerhalb des deutschen Machtbereichs enthalten. Weiter hieß es im Protokoll: Bei der Durchführung würde „Europa vom Westen nach Osten“ durchkämmt werden; dabei sollte wegen „sozial-politischer Notwendigkeiten“ und zum Freisetzen von Wohnraum im Reichsgebiet begonnen werden. Zunächst sollten die deutschen Juden in Durchgangsghettos und von dort aus weiter in den Osten transportiert werden. Juden im Alter von über 65 Jahren und Juden mit Kriegsversehrung oder Träger des Eisernen Kreuzes I würden in das Ghetto Theresienstadt kommen. Damit wären „mit einem Schlag die vielen Interventionen ausgeschaltet“. Nach der Erwähnung möglicher Schwierigkeiten bei der „Evakuierungsaktion“ in den „besetzten oder beeinflussten europäischen Gebieten“ wendete man sich der Frage zu, wie mit „jüdischen Mischlingen“ und „Mischehen“ zu verfahren sei. Gemäß dem Protokoll sollten die Nürnberger Gesetze „gewissermaßen“ die Grundlage bilden. Doch tatsächlich gingen die von Heydrich eingebrachten Vorschläge weit darüber hinaus: Im Regelfall sollten „Mischlinge 1. Grades“ („Halbjuden“) ungeachtet ihrer Glaubenszugehörigkeit wie „Volljuden“ behandelt werden. Ausnahmen waren nur für solche „Mischlinge“ vorgesehen, die mit einem „deutschblütigen“ Partner verheiratet und nicht kinderlos geblieben waren. Andere Ausnahmebewilligungen seien nur von höchsten Parteiinstanzen zu erteilen. Jeder „Mischling 1. Grades“, der im Deutschen Reich verbleiben durfte, sollte sterilisiert werden. „Mischlinge 2. Grades“ („Vierteljuden“) sollten im Regelfall den „Deutschblütigen“ gleichgestellt werden, sofern sie nicht durch auffälliges jüdisches Aussehen oder schlechte polizeiliche und politische Beurteilung als Juden einzustufen waren. Bei bestehenden „Mischehen“ zwischen „Volljuden“ und „Deutschblütigen“ sollte der jüdische Teil entweder „evakuiert“ oder auch nach Theresienstadt geschickt werden, falls Widerstand durch die deutschen Verwandten zu erwarten sei. Weitere Regelungen wurden für „Mischehen“ angesprochen, bei denen ein oder beide Ehepartner „Mischlinge“ waren. Diese detaillierten Vorschläge wurden vom Staatssekretär Stuckart, der 1935 mit der Ausarbeitung der Nürnberger Gesetze befasst gewesen war, als unpraktikabel zurückgewiesen. Er schlug vor, die Zwangsscheidung von „Mischehen“ gesetzlich vorzuschreiben und alle „Mischlinge ersten Grades“ zu sterilisieren. Da in diesen Punkten keine Einigung herbeigeführt werden konnte, vertagte man diese Detailfragen auf Folgekonferenzen. Josef Bühler, Hans Franks Staatssekretär im Amt des Generalgouverneurs, drängte Heydrich auf der Konferenz, die Maßnahmen auf polnischem Gebiet im „Generalgouvernement“ zu beginnen, weil er hier keine Transportprobleme sähe und „die Judenfrage in diesem Gebiete so schnell wie möglich zu lösen“ wünschte. Ohnehin sei die Mehrzahl dieser Juden nicht arbeitsfähig und „als Seuchenträger eine eminente Gefahr“. Folgekonferenzen Bereits am 29. Januar 1942, neun Tage nach der Wannseekonferenz, fand die erste Folgekonferenz statt. Zu diesem Treffen kamen 16 Teilnehmer in die Räume des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete (RMfdbO) in der Berliner Rauchstraße. Das RMfdbO selbst war mit insgesamt 8 Teilnehmern vertreten, darunter Otto Bräutigam, Erhard Wetzel, Hermann Weitnauer und Gerhard von Mende. Zudem nahmen nachgeordnete Vertreter von Ministerien (RSHA, Justizministerium), der Parteikanzlei sowie des OKW teil, darunter Friedrich Suhr (RSHA), Bernhard Lösener (Justizministerium), Albert Frey (OKW) und Herbert Reischauer (Parteikanzlei). Geleitet wurde die Sitzung von Otto Bräutigam. Ziel dieses Treffens war es, die auf der Wannseekonferenz gefassten Beschlüsse inhaltlich zu füllen und rechtlich zu präzisieren. Zentrales Thema dieser Konferenz war, wer fortan als „Jude“ zu gelten habe, und somit genau festzulegen, wer auszurotten sei. Das RMfdbO wollte den Juden-Begriff keinesfalls „zu eng“ definiert haben und betonte, die bislang geltenden Regelungen in den besetzten Gebieten würden ohnehin nicht ausreichen und müssten insofern „verschärft“ werden, als in Zukunft auch „Mischlinge“ als „Volljuden“ zu gelten haben. Diese Vorschläge wurden am Ende der Sitzung durchgesetzt. Die Konferenzteilnehmer einigten sich darauf, dass in sämtlichen besetzten Gebieten als „Jude“ zukünftig alle Angehörigen der jüdischen Religion zu gelten hätten, zudem eheliche und uneheliche Kinder aus Verbindungen, in denen ein Teil Jude war (also Kinder aus so genannten Mischehen), sowie auch nichtjüdische Ehefrauen von Juden. Die erforderlichen Entscheidungen vor Ort sollten, so der Beschluss, die „politisch-polizeilichen Organe und deren Sachverständige in Rassenfragen“ treffen. Diese Konferenz fand statt, als die ersten Deportationen zum KZ Theresienstadt einsetzten; und einen Tag, bevor Hitler in seiner Rede im Berliner Sportpalast verkündete: „Wir sind uns dabei im Klaren darüber, daß der Krieg nur damit enden kann, daß entweder die arischen Völker ausgerottet werden oder daß das Judentum aus Europa verschwindet.“ Zwei weitere Folgekonferenzen fanden am 6. März und 27. Oktober 1942 im Referat IV B 4 von Adolf Eichmann in der Berliner Kurfürstenstraße 115/116 statt. Nach einer Aufzeichnung des „Judenreferenten“ im Reichsaußenministerium, Franz Rademacher, wurde am 6. März über den Vorschlag Stuckarts gesprochen. Dieser hatte für die Zwangssterilisation aller „jüdischen Mischlinge ersten Grades“ sowie für die Zwangsscheidung aller „Mischehen“ plädiert. Da die Sterilisation in den Krankenhäusern momentan nicht durchführbar sei, sollte diese Maßnahme bis zum Kriegsende aufgeschoben werden. Gegen eine zwangsweise Ehescheidung wurden allgemeine rechtliche Einwände sowie „propagandistische“ Gründe ins Feld geführt. Damit waren absehbare Widerstände insbesondere von Seiten der katholischen Kirche und eine Intervention des Vatikan gemeint. Auch konnte man die Reaktionen der „jüdisch versippten“ Ehepartner schwer einschätzen. Wie sich 1943 anlässlich der Fabrikaktion beim Rosenstraße-Protest herausstellte, führte die vermeintlich drohende Deportation von jüdischen Ehepartnern tatsächlich zu öffentlichen Solidaritätsbekundungen der „deutschblütigen“ Angehörigen. Am 27. Oktober 1942 wurde die Forderung nach Zwangsscheidung von „Mischehen“ erneut behandelt. Offenbar gab es jedoch Hinweise aus der Reichskanzlei, dass der „Führer“ während des Krieges keine Entscheidung treffen wolle. Im Oktober 1943 vereinbarte Otto Thierack vom Justizministerium mit Himmler, „jüdische Mischlinge“ vorerst nicht zu deportieren. Derartige Rücksichten auf die Stimmung der Bevölkerung wurden der SS in den besetzten Ostgebieten nicht abverlangt: Jüdische Ehepartner aus „Mischehen“ und die „jüdischen Mischlinge ersten Grades“ wurden dort in den Völkermord einbezogen. Strittig ist die Beurteilung der Rolle geblieben, die Stuckart mit seinen Vorschlägen einnahm. Nach Angaben seiner Untergebenen Bernhard Lösener und Hans Globke hat Stuckart den Kompromissvorschlag zur Massensterilisierung mit dem Hintergrundwissen gemacht, dass dies zumindest während des Krieges nicht realisierbar sei. Damit habe er die Deportation und Ermordung der deutschen „Mischlinge ersten Grades“ verhindert. Andererseits wäre sein Vorschlag einer Zwangsscheidung für „Mischehen“, die den Tod des jüdischen Partners zur Folge gehabt hätte, rasch realisierbar gewesen. Die im Protokoll angesprochene Absicht Heydrichs, einen „Entwurf über die organisatorischen, sachlichen und materiellen Belange im Hinblick auf die Endlösung der europäischen Judenfrage“ anzufertigen und diesen Göring zuzuleiten, wurde nicht verwirklicht. Historische Verarbeitung Fundgeschichte Das von Eichmann nach einer Stenografie erstellte Besprechungsprotokoll wurde von Müller und Heydrich mehrfach überarbeitet. Von der Endfassung wurden insgesamt 30 Exemplare ausgestellt, die als „Geheime Reichssache“ gestempelt und dann an die Teilnehmer bzw. ihre Dienststellen versandt wurden. Davon wurde bis heute nur das 16. Exemplar, das des Konferenzteilnehmers Martin Luther, aufgefunden. Offenbar entging es nur deshalb der Aktenvernichtung, weil Luther wegen einer Intrige gegen Außenminister Joachim von Ribbentrop im KZ Sachsenhausen inhaftiert worden war, weshalb seine Abteilung aufgelöst und die Akten ausgelagert worden waren. Teile des Archivs wurden von US-Amerikanern zunächst ins Marburger Schloss geschafft, im Februar 1946 im Telefunken-Werk in Berlin-Lichterfelde weiter gesichtet und dabei auch die Wannsee-Dokumente erstmals mikroverfilmt. Im Sommer 1948 wurde der gesamte Bestand nach Whaddon Hall / Buckinghamshire in Sicherheit gebracht, dort erneut verfilmt und Ende der 1950er-Jahre an das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn zurückgegeben; das Dokument befindet sich seit dem Umzug des Politischen Archivs nunmehr in Berlin. Es ist im Internet barrierefrei verfügbar. Robert Kempner (Stellvertreter des amerikanischen Chefanklägers Robert H. Jackson) stellt dar, der Fund des Protokolls der Wannseekonferenz sei ihm im März 1947 während der Vorbereitungen für den „Wilhelmstraßen-Prozess“ von einem Mitarbeiter gemeldet worden. Bereits im August 1945 hatte man das Einladungsschreiben für Otto Hofmann gefunden und wusste daher, dass eine Konferenz zur „Endlösung der Judenfrage“ geplant war. Das Protokoll als Quelle Das Besprechungsprotokoll der Wannseekonferenz wurde im Eröffnungsplädoyer im Prozess gegen das Rasse- und Siedlungshauptamt verwendet und wenige Wochen später in der Anklageschrift zum Wilhelmstraßen-Prozess zitiert. Obwohl hier noch kein umsetzungsfähiger Gesamtplan für die „Endlösung“ vorlag, gilt das Protokoll als Schlüsseldokument für die Organisation des Völkermordes. Holocaustleugner behaupten darum, es sei gefälscht. Dazu greifen sie oft auf ein Buch Robert Kempners zurück, in dem dieser in angreifbarer Weise Faksimiles mit Abschriften vermischt, gleichwohl aber den Text selbst korrekt wiedergegeben hat. Die Historiker Norbert Kampe und Christian Mentel haben diese Fälschungsvorwürfe entkräftet. Eichmann ließ am 7. und 13. August 1941 die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland auffordern, statistische Angaben über die Juden in Europa zu liefern. Sein Referat IV B 4 glich diese Zahlen mit Angaben der Besatzungsbehörden ab und subtrahierte bereits die Opfer des Holocaust in Litauen, Lettland und Estland, das als „judenfrei“ bezeichnet wird. Die offensichtlich überhöhte Zahl für den unbesetzten Teil Frankreichs, die zu Spekulationen über die Einbeziehung der Juden Nordafrikas in die Vernichtungspläne führte, wird von Dan Michman als Schreibfehler erklärt; Ahlrich Meyer führt sie auf einen Schätzwert Theodor Danneckers zurück. Das Konferenzprotokoll ist nach Eichmanns Aussagen in seinem Prozess in Jerusalem 1961 eine „inhaltlich genaue Wiedergabe der Konferenz“. Heydrich habe Wert darauf gelegt, dass alle wesentlichen Details festgehalten worden seien, um die Teilnehmer später darauf behaften zu können. Nur die ebenfalls stenografierte Aussprache nach Konferenzabschluss sei nicht protokolliert worden. Eichmann widersprach dem Protokoll damals in manchen Punkten, besonders in Bezug auf die Bedeutung seiner eigenen Person bei der Konferenz. Die von ihm angegebene Gesamtdauer dieser im Protokoll festgehaltenen Konferenz von etwa anderthalb Stunden gilt jedoch als unstrittig. Einordnung Der erhaltene Protokolltext dokumentiert die Absicht zur Ermordung aller europäischen Juden, das prinzipielle Einverständnis und die effektive Beteiligung des nationalsozialistischen Staatsapparates am Völkermord. Die Formulierung „entsprechend behandelt“ in Eichmanns Wiedergabe des Einleitungsreferats von Heydrich wird von einigen Historikern als typische Tarnfloskel für die Ermordung der die Zwangsarbeit überlebenden Juden gesehen, da der Kontext keinen anderen Schluss zulasse (vgl. Sonderbehandlung). Dem widerspricht Hans Mommsen: Es sei durchaus keine Tarnfloskel gewesen; Heydrich habe vielmehr tatsächlich geplant, einen Großteil der Juden durch Arbeit zu vernichten, die endgültige Lösung der Judenfrage sei aber nur ein Fernziel gewesen, vor dessen Erreichen die überlebenden Juden immer noch weiter in den Osten transportiert werden würden. Hier habe sich die Ansiedlungs- oder Reservatslösung erneuert, wie sie sich in den Jahren 1939 bis 1941 unter anderem im Nisko- und im Madagaskarplan gezeigt habe, die „jedoch schwerlich als humanere Alternative“ anzusehen sei. Nach Aussage Eichmanns in seinem Prozess war die tatsächliche Sprache unmissverständlich: „Es wurde vom Töten und Eliminieren und Vernichten gesprochen.“ Über welche Tötungsvarianten gesprochen wurde, ist unter Fachhistorikern umstritten. Aus den zuvor angelaufenen Vernichtungsaktionen und dem Konferenzprotokoll selbst leiten die meisten ab, dass zuvor von höchster Stelle entschieden worden war, die Mordaktionen nunmehr zu einem systematischen Völkermord auszuweiten, dem unterschiedslos alle europäischen Juden zum Opfer fallen sollten. Im Zahlenmaterial für die Gesamtplanung waren die Juden aus England und Spanien aufgeführt: Deren Einbeziehung war angesichts der damaligen für die Nationalsozialisten ungünstigen Kriegsentwicklung unrealistisch. Der Historiker Peter Longerich kommt zu dem Ergebnis, es habe auch nach der Konferenz keinen festen Plan gegeben, in welchen Zeiträumen und mit welchen Mitteln der Völkermord durchgeführt werden sollte. Jedoch lasse sich nachweisen, dass danach „die Deportationen auf den gesamten deutschen Raum ausgedehnt wurden“ und ein „umfassendes Zwangsarbeitsprogramm“ zu greifen begann. Thomas Sandkühler stellt als entscheidende Auswirkung heraus, dass bis zur Konferenz in Ostgalizien als „arbeitsunfähig“ eingestufte Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Erst danach habe der Mordbefehl für alle Juden außer den ganz wenigen in der Erdölindustrie als unentbehrlich deklarierten Juden gegolten. Die Wannseekonferenz war eine bürokratische Klärung der Zuständigkeiten beteiligter Stellen und des zu ermordenden Personenkreises: Dies setzte eine irgendwie geartete Beschlussfassung zur „Endlösung der Judenfrage“ bereits voraus. Ein derartiger Beschluss konnte auf keinen Fall durch untergeordnete Personen, sondern nur auf allerhöchster Ebene gefasst werden. Erst daraufhin sollte nun die Federführung des Reichssicherheitshauptamts festgeschrieben sowie Kooperation und Koordinierung der beteiligten Stellen sichergestellt werden. Nach dem britischen Historiker Mark Roseman war die Wannseekonferenz für den tatsächlichen Ablauf des Holocaust nicht sehr wichtig. Von herausragender Bedeutung war sie im Rückblick vielmehr erst dadurch, dass ihr Protokoll erhalten blieb. Sein Text gewähre Einblick in einen Augenblick, „in dem sich der kontinentweite Mord als politisches Ziel bereits herauskristalliert hatte, die Möglichkeit einer weltweiten Ausrottung zumindest angedacht war und das genaue Gleichgewicht zwischen direkter Ausrottung und kurzfristiger Ausbeutung durch Zwangsarbeit noch nicht etabliert worden war“. Die Gedenk- und Bildungsstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ bezeichnet die verbreitete Annahme, hier sei der europaweite Völkermord beschlossen worden, als „fast nicht mehr revidierbaren Irrtum der Geschichtsschreibung und der Publizistik“. Dennoch ist die Konferenz von großer historischer Bedeutung: Hier wurde der laufende Völkermord koordiniert und den höchsten Beamten aller wichtigen Ministerien zur Kenntnis gebracht, in denen anschließend zahlreiche Personen als „Schreibtischtäter“ organisatorische Unterstützung leisteten. Strafverfolgung nach 1945 Ein Drittel der Konferenzteilnehmer überlebte den Krieg nicht. Heydrich starb am 4. Juni 1942 an den Folgen eines Attentats in Prag, Roland Freisler kam bei einem Bombenangriff ums Leben, Rudolf Lange und Alfred Meyer verübten Suizid. Martin Luther verstarb im Frühjahr 1945 an den Folgen seiner Haft im KZ Sachsenhausen. Heinrich Müller galt als verschollen. Noch vor Entdeckung des Protokolls der Wannseekonferenz wurden zwei Teilnehmer wegen verübter Kriegsverbrechen hingerichtet. Eberhard Schöngarth wurde 1946 vom britischen Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet, weil er persönlich die Erschießung eines Kriegsgefangenen angeordnet hatte. Josef Bühler wurde 1946 in Krakau zum Tode verurteilt. Wilhelm Kritzinger verstarb 1947 vor Eröffnung des Wilhelmstraßen-Prozesses, 1948 starb Erich Neumann. Falls es überhaupt zu Verurteilungen kam, dann wurden andere Tatbestände als die Konferenzteilnahme im Urteil angeführt. Zur Einstellung der Verfahren kam es bei Georg Leibbrandt (1950) und Gerhard Klopfer (1962). Beide waren 1949 aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Otto Hofmann war 1948 im Nürnberger Folgeprozess gegen das SS-Rasse- und Siedlungshauptamt zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt worden, wurde aber 1954 aus der Justizvollzugsanstalt Landsberg entlassen. Wilhelm Stuckart wurde im Wilhelmstraßen-Prozess zu einer Strafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt, kam aber schon 1949 frei, da die Internierungshaft angerechnet wurde. Adolf Eichmann floh nach dem Krieg nach Argentinien, wurde dort aber von einem Kommando des israelischen Geheimdienstes Mossad entführt, nach Israel gebracht und 1962 nach einem aufsehenerregenden Prozess in Jerusalem hingerichtet. Das Konferenzgebäude als Gedenkstätte Der Berliner Architekt Paul Baumgarten plante und baute die großbürgerliche Villa, damals Große Seestraße 19a, 1914–1915 für den Fabrikanten Ernst Marlier. Das Gebäude galt als sein luxuriösester Bau und gehörte damals zur Gemeinde Wannsee, heute ein Ortsteil des Bezirks Steglitz-Zehlendorf. 1921 verkaufte Marlier das Anwesen an Friedrich Minoux, damals Generaldirektor im Stinnes-Konzern (daher auch der Name „Minoux-Villa“). 1929 erhielt es im Zuge der Umnummerierung der Straße die Hausnummer 56/58. Seit dem 8. April 1933 heißt die Straße Am Großen Wannsee. Wegen Betrugs wurde Minoux im Mai 1940 verhaftet. Aus der Haft heraus verkaufte er Villa und Grundstück zum damals marktüblichen Preis von 1,95 Millionen Reichsmark an die Nordhav-Stiftung, die für den SS-Sicherheitsdienst (SD) Grundstücksgeschäfte abwickelte. Ab 1940 ließ die SS die Außenanlage der Villa durch Zwangsarbeiter im „geschlossenen jüdischen Arbeitseinsatz“ beziehungsweise später durch osteuropäische Zwangsarbeiter pflegen. Das Haus wurde als Gästehaus der Sicherheitspolizei genutzt; hier übernachteten hohe SS-Offiziere, Führer von Einsatzkommandos oder befreundete ausländische Geheimdienstchefs. Anfang Februar 1943 verkaufte die Stiftung Nordhav das Grundstück an das Deutsche Reich (Sicherheitspolizeiverwaltung) mit der vertraglichen Regelung (§4) zur „Weiterführung als Kameradschafts- und Führerheim der Sicherheitspolizei“. Im Oktober 1944 verlegte der Inlands-SD unter Otto Ohlendorf und gegen Kriegsende auch Gestapo-Chef Heinrich Müller sein Hauptquartier in die Villa. Nach Kriegsende nutzte nach unbestätigten Berichten zunächst die Rote Armee und später die US-Armee vorübergehend das Anwesen. Zeitweise stand es leer, sodass die Einrichtung nicht erhalten ist. 1946 ging das Grundstück dann in den Besitz des Magistrats von Groß-Berlin über. Dieser vermietete es im Dezember 1946 an die Berliner SPD, die dort eine Bildungs- und Erholungsstätte sowie eine Bibliothek der im März 1947 von fünf sozialdemokratischen Verlagen gegründeten Stiftung „August-Bebel-Institut“ beherbergte. Nachdem im Herbst 1951 der Beschluss gefasst worden war, das Haus aus finanziellen Gründen wieder aufzugeben, wurde das Grundstück im Januar 1952 an den Bezirk Neukölln verpachtet, der die Villa als Schullandheim nutzte. 1966 gründete der Historiker Joseph Wulf, der das KZ Auschwitz überlebt hatte, den Verein „Internationales Dokumentationszentrum zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen“. Das Gebäude sollte als Dokumentationszentrum umgewidmet und vom Verein genutzt werden. Wulf konnte Geldgeber sowie prominente Unterstützung aus dem Ausland, etwa durch Nahum Goldman, gewinnen. Zunächst sprach sich auch der Regierende Bürgermeister Willi Brandt für das Projekt aus, nach dessen Weggang nach Bonn verlor dieses aber das Wohlwollen des Berliner Senats. Brandts Nachfolger Klaus Schütz (SPD) stand der Einrichtung einer Gedenkstätte ablehnend gegenüber und begründete dies mit der Sorge, dass sie Antisemitismus fördern könne. Generell fehlte der bundesdeutschen Gesellschaft in den 1960er Jahren ein Bewusstsein für die Schuld, die sie im Nationalsozialismus auf sich geladen hatte. Entsprechend wurde Wulfs Vorstoß vor allem als innerjüdisches Projekt rezipiert. Eine Verhinderung der Gedenkstätte ermöglichte so die Verdrängung eigener Schuld. Nachdem der Senat am 20. Dezember 1967 zwar die Gründung einer Gedenkstätte genehmigte, eine Nutzung der Villa am Wannsee zu diesem Zweck aber ablehnte, zogen sich zahlreiche Geldgeber zurück. Der Verein löste sich schließlich 1973 auf. Erst 1988 wurden Villa und Garten nach denkmalpflegerischen Gesichtspunkten und für die Nutzung als Gedenkstätte rekonstruiert. 1992 wurde die Gedenk- und Bildungsstätte – Haus der Wannsee-Konferenz in den Räumen der Villa eröffnet; sie trägt den Namen Joseph Wulfs. Im Erdgeschoss des Hauses informiert die Dauerausstellung „Die Wannsee-Konferenz und der Völkermord an den europäischen Juden“ über den Prozess der Ausgrenzung, Verfolgung, Vertreibung, Ghettoisierung und Vernichtung der Juden im deutschen Einflussbereich zwischen 1933 und 1945. Nach Umbau und Überarbeitung wurde im Januar 2006 eine neue Dauerausstellung eröffnet. 2020 wurde die Dauerausstellung erneut überarbeitet. Sie trägt nun die Überschrift „Die Besprechung am Wannsee und der Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden“. Künstlerische Verarbeitung Romane Leslie Kaplan beschreibt in Fever die Bedeutung der Konferenz für Eichmanns Aufstieg in fiktiver Form. Demnach habe Eichmann sich eingebildet, dass das Zusammensitzen mit Heydrich für ihn ein Karrieresprung sei. Im Roman ist der erhoffte berufliche Aufstieg ein wichtiger Grund, dass Eichmann an den Massenverbrechen des Holocaust mitwirkte. Es habe sich dabei also um Morde ohne eigentliches Motiv gehandelt. Robert Harris zeichnet in seinem Roman Vaterland die Vision, dass Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat und über ganz Europa herrscht. Die Juden sind aus dem gesamten Einflussgebiet verschwunden und ihre Existenz ist in der Bevölkerung eine verblassende, unausgesprochene Erinnerung. Wenige Tage vor dem 75. „Führergeburtstag“ Hitlers beginnt eine Mordserie an ehemaligen Nazigrößen. Nach und nach deckt der ermittelnde Kriminalpolizist auf, dass die Mordopfer die überlebenden Mitwisser des totgeschwiegenen Verschwindens der Juden sind. Der Roman beleuchtet dabei besonders die Heimlichkeit der Konferenz und die wenigen verbliebenen Belege. Schauspiel Paul Mommertz schrieb 1984 das Bühnenstück Die Wannseekonferenz. Er verwendete das Eichmannprotokoll, Aussagen Eichmanns in seinem Prozess und briefliche Dokumente für möglichst realistische Dialoge. Das Stück dauert – wie die Konferenz – 90 Minuten und bezieht seine Wirkung aus der technokratischen Kälte, mit der die Beteiligten den geplanten Massenmord an 11 Millionen Menschen als rein logistisches Problem verhandeln. Das Stück wurde im Volkstheater Wien uraufgeführt; weitere Aufführungen z. B. unter der Regie von Peter Sodann in Halle (Saale). Im September und Oktober 2003 wurde das Stück im Rahmen der Landesausstellung „Wert des Lebens“ von Isolde Christine Wabra inszeniert und im Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim zehnmal aufgeführt. Das Stück diente auch als Drehbuch für den gleichnamigen Film. Spielfilme Die Wannseekonferenz ist Thema mehrerer Spielfilme. 1984 erschien zunächst eine Fernsehversion des Schauspiels von Paul Mommertz unter der Regie von Heinz Schirk: Die Wannseekonferenz. Dietrich Mattausch spielte darin Heydrich, Gerd Böckmann spielte Eichmann. Der Film wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Adolf-Grimme-Preis. 1987 folgte die Kinoversion. Frank Pierson war Regisseur des englischsprachigen Films Conspiracy (USA/GB, 2001, auf Deutsch als Die Wannseekonferenz). Auch dieser Spielfilm dauert wie die historische Zusammenkunft 85 Minuten und basiert auf deren Protokoll. Da dieses jedoch keine wörtliche Rede wiedergibt, sind die Dialoge rekonstruiert und deshalb historisch nicht belegt. Der von Piersons Produktion ursprünglich angestrebte dokumentarische Charakter wurde nicht erreicht, da die Umsetzung dramaturgisch überarbeitet wurde. Hinweise der Gedenkstätte, der das Drehbuch vor Drehbeginn vorlag, auf unbelegte Details wurden nicht verarbeitet. So ist in der Verfilmung, die am Ort der Konferenz gedreht wurde, Kritzinger als Zweifler dargestellt: Dies deckt sich nicht mit den überlieferten historischen Fakten. Neben diesen Verfilmungen war die Wannseekonferenz in einer Szene der vierteiligen TV-Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß dargestellt, allerdings nur mit den Teilnehmern Heydrich und Eichmann. Am 24. Januar 2022 strahlte das ZDF den vielfach national und international preisgekrönten 105-minütigen Film Die Wannseekonferenz des Regisseurs Matti Geschonneck mit Philipp Hochmair als Heydrich aus. Dokumentarfilme Phoenix strahlte am 27. Januar 2018, 20:15–21:00 Uhr unter dem Titel Geheimnisvolle Orte – Am Wannsee einen Film zur Geschichte der Villen am Wannsee aus. Auf das Haus der Wannseekonferenz wird in diesem Film eingegangen. Der Dokumentarfilm Die Wannseekonferenz. Die Dokumentation. wurde im ZDF am 24. Januar 2022 im Anschluss an den Spielfilm Die Wannseekonferenz gezeigt; unter anderem war die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer zu sehen. Literatur Hans-Christian Jasch, Christoph Kreutzmüller (Hrsg.): Die Teilnehmer. Die Männer der Wannseekonferenz. Metropol-Verlag, Berlin 2017, ISBN 978-3-86331-306-7. Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz (Hrsg.): Die Wannsee-Konferenz und der Völkermord an den europäischen Juden. Katalog der ständigen Ausstellung. Berlin 2006, ISBN 3-9808517-4-5; (Faksimile aller Exponate sowie Kommentare). Englische Version, ebd. The Wannsee Conference and the Genocide of the European Jews. ISBN 3-9808517-5-3. Christian Gerlach: Die Wannsee-Konferenz, das Schicksal der deutschen Juden und Hitlers politische Grundsatzentscheidung, alle Juden Europas zu ermorden. In: derselbe: Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg. Pendo, Zürich / München 2001, ISBN 3-85842-404-8, S. 79–152 (zuerst in Werkstatt Geschichte H. 18, 6. Jg., November 1997), Rezension von Götz Aly. Michael Haupt: Das Haus der Wannsee-Konferenz. Von der Industriellenvilla zur Gedenkstätte. Bonifatius, Paderborn 2009, ISBN 978-3-9813119-1-4, 200 S. mit 131 – teilweise farbigen – Fotos/Dokumenten. Wolf Kaiser: Die Wannsee-Konferenz. SS-Führer und Ministerialbeamte im Einvernehmen über die Ermordung der europäischen Juden. In: Heiner Lichtenstein, Otto R. Romberg (Hrsg.): Täter – Opfer – Folgen. Der Holocaust in Geschichte und Gegenwart. 2. Auflage, Bonn 1997, ISBN 3-89331-257-9, S. 24–37. Norbert Kampe, Peter Klein (beide als Hrsg.): Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Dokumente, Forschungsstand, Kontroversen. Böhlau Verlag, Köln 2013, ISBN 978-3-412-21070-0, 481 S. (Sammelband, Inhaltsangabe (PDF; 24 kB) beim Verlag). Gerd Kühling: Schullandheim oder Forschungsstätte? Die Auseinandersetzung um ein Dokumentationszentrum im Haus der Wannsee-Konferenz (1966/67), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 5 (2008), S. 211–235. Peter Longerich: Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942. Planung und Beginn des Genozids an den europäischen Juden. Edition Hentrich, Berlin 1998, ISBN 3-89468-250-7. Peter Longerich: Wannseekonferenz. Der Weg zur „Endlösung“. Pantheon-Verlag, München 2016, ISBN 978-3-570-55344-2. Kurt Pätzold, Erika Schwarz: Tagesordnung Judenmord. Die Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942. Metropol, Berlin 1998, ISBN 3-926893-12-5. Mark Roseman: Die Wannsee-Konferenz. Wie die NS-Bürokratie den Holocaust organisierte. Ullstein, München 2002, ISBN 3-548-36403-9. Johannes Tuchel: Am Großen Wannsee 56–58. Von der Villa Minoux zum Haus der Wannsee-Konferenz (Reihe: Publikationen der Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“ Bd. 1), Edition Hentrich, Berlin 1992, ISBN 3-89468-026-1. Peter Klein: Die Wannseekonferenz bei Zeitgeschichte-online. Weblinks Gedenk- und Bildungsstätte – Haus der Wannsee-Konferenz Dokumente Protokoll und Dokumente zur Wannsee-Konferenz mit Faksimiles des Originals: Gesamtprotokoll (in Farbe, PDF; 2,9 MB) Axel Frohn, Klaus Wiegrefe: Das Dokument des Terrors – zu Herkunft und Bedeutung des Konferenzprotokolls. (PDF; 24 kB) Der Spiegel, 9. Februar 2002. Historische Darstellungen Deutsches Haus der Geschichte: Wannseekonferenz Zur Mitwirkung von Juristen bei der WK Jan Erik Schulte: Die Wannsee-Konferenz im Kontext von SS-Arbeitskräfteplanung und Völkermord 1941/42 (PDF; 212 kB) Holocaustreferenz: zu Eichmanns Protokollredaktion Peter Longerich: Die Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942. Planung und Beginn des Genozids an den europäischen Juden (Vortrag zum 21. Januar 1994 im Haus der Wannsee-Konferenz) Filme Rundfunkbeitrag Eins blieb übrig – Radio-Feature von Thomas Fitzel auf rbb-online.de Bildungsmaterial Terra X plus Schule und Unterrichtsmaterialien zur Wannseekonferenz auf zdf.de Bildungsmaterial zum Thema Wannseekonferenz auf Lernen aus der Geschichte Christian Mentel: Zwischen „Jahrhundertfälschung“ und nationalsozialistischer Vision eines „Jewish revival“ – Das Protokoll der Wannsee-Konferenz in der revisionistischen Publizistik auf Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz Einzelnachweise Reinhard Heydrich Holocaust Berlin-Wannsee Politische Veranstaltung 1942 Veranstaltung in Berlin
4721258
https://de.wikipedia.org/wiki/Arbeiter%20verlassen%20die%20Lumi%C3%A8re-Werke
Arbeiter verlassen die Lumière-Werke
Arbeiter verlassen die Lumière-Werke (Originaltitel: La Sortie de l’Usine Lumière à Lyon, auch bekannt als: La Sortie des usines Lumière) ist ein französischer Kurzfilm aus dem Jahr 1895. Er gilt als der älteste Film der Brüder Lumière, wurde bei der ersten öffentlichen Präsentation des Cinématographe vorgeführt und zählt zu den Filmen, die am 28. Dezember 1895 im Pariser Salon Indien du Grand Café erstmals einem zahlenden Publikum gezeigt wurden. Von dem rund 50 Sekunden dauernden Streifen existieren mehrere Versionen, die vermutlich alle im Frühjahr oder Sommer 1895 hergestellt wurden. Gezeigt werden die zahlreichen Mitarbeiter der fotografischen Fabrik der Familie Lumière, die zur Mittagspause das Werksgelände verlassen. Auch wenn diese einzige Einstellung des Films inszeniert wurde, gilt Arbeiter verlassen die Lumière-Werke als stilbildend für die dokumentarischen Ansichten der frühen Filmgeschichte. Der Film wurde ein internationaler Erfolg, fand zahlreiche Nachahmer und gilt heute als eines der bekanntesten Beispiele des frühen Kinos. Handlung Der Film besteht aus einer einzigen Einstellung. Die Fabriktore der Lumière-Werke in Montplaisir, einem Vorort Lyons, werden zur Mittagspause geöffnet. Die größtenteils weiblichen Mitarbeiter verlassen das Werk und treten nach links oder rechts aus dem Bild. Einzelne Arbeiter sind auf dem Fahrrad unterwegs, in einigen Versionen des Films sind auch ein Pferdefuhrwerk sowie ein Hund zu sehen. Nachdem alle Mitarbeiter das Firmengelände verlassen haben, werden die Tore wieder geschlossen. Entstehungsgeschichte Die Entstehung von Arbeiter verlassen die Lumière-Werke ist eng mit der Erfindung des Cinématographen verbunden und stellt den Abschluss der ersten Entwicklungsstufe der neuen Filmkamera dar. Den Anstoß zur Erfindung gab Antoine Lumière, der Vater von Louis und Auguste, als er im Sommer 1894 von einem Besuch aus Paris ein Muster eines Zelluloidfilmstreifens mitbrachte, der in den von Thomas Alva Edison erfolgreich vertriebenen Kinetoskopen verwendet wurde. Die Lumières, die sich in ihrer Firma Société Anonyme des Plaques et Papiers Photographiques Antoine Lumière et ses Fils (kurz: Société Lumière) auf die Produktion fotografischer Platten spezialisiert hatten, erkannten sofort das kommerzielle Potenzial dieser Filmstreifen und begannen mit der Entwicklung einer eigenen Apparatur zur Aufnahme bewegter Bilder. Sie sahen eine sinnvollere Nutzung des neuen Mediums Film in der Projektion der aufgenommenen Bilder anstelle der von Edison favorisierten Betrachtung durch ein Vergrößerungsglas in einem Guckkasten. Ende 1894 gelang Louis Lumière mit der Entwicklung eines intermittierenden Filmantriebs der entscheidende Schritt in der Bildprojektion. Das Ergebnis der Verbesserungen war der am 13. Februar 1895 patentierte Cinématographe (französisches Patent No. 245.032), der nicht nur als Filmkamera, sondern auch als Kopiermaschine und Filmprojektor eingesetzt werden konnte. Anders als die sperrige Kamera Edisons, die fast ausschließlich nur in einem eigens errichteten Filmstudio – der Black Maria – eingesetzt werden konnte, war der Cinématographe ein tragbares, handbetriebenes Gerät, das den Lumières als passionierten Fotografen die Arbeit im Freien ermöglichte. Arbeiter verlassen die Lumière-Werke ist der älteste bekannte Film, der mit dem Cinématographen produziert wurde. Auch wenn Louis Lumière 1948 in dem letzten Interview vor seinem Tod angab, dass der Film bereits im Sommer 1894, also lange vor dem entscheidenden Entwicklungsschritt bei der Erfindung des Cinématographen, entstanden sei, nimmt man heute den 19. März 1895 als das Entstehungsdatum des erhaltenen Films an. Für die Dreharbeiten wurde der Cinématographe vor dem Eingangstor der Lumière-Werke an der Rue Saint-Victor, der heutigen Rue du Premier Film, aufgestellt. Bedient wurde die Kamera von Louis Lumière, sein Bruder Auguste dirigierte die Angestellten, die sich auf sein Zeichen hin in Bewegung setzten. Es sind mehrere verschiedene Fassungen des Films bekannt, die vermutlich alle im Frühjahr oder Sommer 1895 gedreht wurden. Die Fassungen entstanden in nachfolgenden Entwicklungsstufen des Cinématographen; darüber hinaus versuchten Louis und Auguste Lumière den Bildaufbau weiter zu verbessern, indem die Kamera jeweils neu positioniert wurde. So wird in der jüngsten bekannten Version von Arbeiter verlassen die Lumière-Werke die „Handlung“ des Films durch das Öffnen und Schließen der Fabriktore eingerahmt. Neben den drei ursprünglichen Fassungen, die von Filmhistorikern anhand einzelner Elemente wie dem ausfahrenden Fuhrwerk (das entweder von einem oder zwei Pferden gezogen wird, beziehungsweise nicht im Film auftritt) unterschieden werden, wurde der Film 1896 oder 1897 aufgrund der hohen Nachfrage nach Kopien des verschlissenen Originalnegativs neu aufgenommen. Aufführungsgeschichte Präsentation in wissenschaftlichen Zirkeln Drei Tage nach der Produktion der ersten Fassung von Arbeiter verlassen die Lumière-Werke stellten Louis und Auguste Lumière ihre Erfindung am 22. März 1895 vor der Société d’encouragement pour l’industrie nationale („Gesellschaft für die Förderung der nationalen Industrie“) in Paris vor. Im Rahmen eines Vortrags über die Leistungen und Produkte seines Unternehmens zeigte Louis Lumière zuerst Fotografien der Werkstätten, bevor er dann dem überraschten Auditorium in bewegten Bildern zeigte, wie die Angestellten die Fabrik verlassen. Der hier erstmals gezeigte Streifen diente also nicht nur dazu, den neu erfundenen Cinématographen vorzustellen, sondern war auch ein „Werbefilm“, in dem die Größe des Unternehmens anhand der vielen Menschen, die in Arbeiter verlassen die Lumière-Werke zu sehen sind, vermittelt wurde. Die Mitglieder der Gesellschaft, die mit Edisons Kinetoskop vertraut waren, waren von der Projektion des Films gefesselt und verlangten von Lumière die Wiederholung der Vorführung. Nach der ersten erfolgreichen Präsentation von Arbeiter verlassen die Lumière-Werke nahmen Louis und Auguste Lumière im Frühjahr und Sommer 1895 zahlreiche Filme in Lyon sowie an ihrem Sommersitz in der südfranzösischen Hafenstadt La Ciotat auf. Mit ihren gerade einmal 50 Sekunden dauernden Aufnahmen dokumentierten sie ähnlich wie in ihrem Erstlingswerk Szenen aus der Arbeitswelt, aber auch Alltägliches wie das Füttern eines Kleinkinds (Babys Frühstück). Am 10. Juni 1895 stellten Louis und Auguste Lumière während eines mehrtägigen Kongresses der französischen Fotografenvereinigung in Lyon erstmals eine Auswahl ihrer Filme in einem größeren Rahmen vor. Zuvor hatten sie die Ankunft der Konferenzteilnehmer gefilmt. Diese Aufnahmen wurden zusammen mit Arbeiter verlassen die Lumière-Werke und sechs anderen Filmen vorgeführt. Die Projektionen lösten beim Fachpublikum Begeisterung aus; der Astronom Jules Janssen beschrieb die Vorführung als „das große Ereignis der Session“. In den folgenden Monaten fanden weitere private Vorführungen der Lumière-Filme für Mitglieder fotografischer und wissenschaftlicher Gesellschaften statt, unter anderem im November 1895 auch erstmals in Belgien. Arbeiter verlassen die Lumière-Werke zählte bei allen Aufführungen zu den vorgestellten Filmen. Berichte über diese Veranstaltungen in den Fachzeitschriften erweckten ein großes Interesse an dem Cinématographen. Angesichts der zahlreichen Anfragen nach weiteren Filmvorführungen entschlossen sich die Lumières, eine erste kommerzielle Vorführung ihrer Filme vorzubereiten. Parallel dazu baute der Ingenieur Jules Carpentier 200 Exemplare des Cinématographen für die weitere Vermarktung der Erfindung. Kommerzielle Vorführungen Antoine Lumière mietete einen Kellerraum im Grand Café am Pariser Place de l’Opéra an und bereitete dort eine erste Präsentation vor. Die erste Vorführung fand am 28. Dezember 1895 vor Theaterbetreibern und Pressevertretern, aber ohne die Erfinder des Cinématographen statt. Innerhalb einer Viertelstunde wurden zehn Filme gezeigt, gemäß dem überlieferten Programm wurde die Vorstellung mit Arbeiter verlassen die Lumière-Werke eröffnet. Insgesamt fanden sich am 28. Dezember nur 33 zahlende Kunden ein. In den folgenden Tagen stieg die Zahl der Interessenten aber kontinuierlich an, so dass im Januar 1896 bis zu 2500 Zuschauer täglich die Vorführungen besuchten. Auch wenn heute vielfach der 28. Dezember 1895 als die Geburtsstunde des Kinos betrachtet wird, waren Louis und Auguste Lumière nicht die Ersten, die Filme projizierten und einem zahlenden Publikum vorführten. Unabhängig von ihnen wurden in den Vereinigten Staaten (durch die Latham-Brüder), in Großbritannien (durch Birt Acres und Robert W. Paul) und in Deutschland (durch Max und Emil Skladanowsky sowie durch Oskar Messter) Filmprojektoren entwickelt. Die anfängliche technische Überlegenheit und vor allem die professionelle Vermarktung des Cinématographen führten aber dazu, dass die Lumières innerhalb weniger Monate zu den führenden Filmproduzenten wurden. Durch die Lizenzierung ihrer Erfindung an ausgebildete Kameraoperateure kontrollierten die Brüder Lumière vollständig die Vermarktung des Cinématographen. Die früheren Aufnahmen von Louis Lumière fanden so in kurzer Zeit eine weltweite Verbreitung. Innerhalb eines Jahres wurde der Cinématographe in zahlreichen europäischen Staaten, in Nordamerika, Mexiko, Nordafrika, Indien, Japan und Australien präsentiert. Ende Januar 1896 stellten die Lumières ihre Filme der breiten Öffentlichkeit in ihrer Heimatstadt Lyon vor, am 20. Februar 1896 folgte die erste Vorführung des Cinématographen in London. Am 20. März 1896 wurde der Cinématographe erstmals in Wien vor geladenen Gästen in der K. K. Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt vorgeführt. In Deutschland fand die erste öffentliche Vorführung am 20. April in Köln auf Einladung des filmbegeisterten Unternehmers Ludwig Stollwerck statt. Am 29. Juni 1896 begann schließlich ein Gastspiel der Société Lumière am New Yorker Union Square Theater, wo der Cinématographe schnell Edisons Vitascope-System an Popularität übertraf. An allen Orten zählte Arbeiter verlassen die Lumière-Werke zum Premierenprogramm. Im Frühjahr 1897 lösten die Lumières ihr Monopol auf und verkauften ihre produzierten Filme und Geräte auch an unabhängige Filmvorführer. Louis und Auguste Lumière beschäftigten sich wieder hauptsächlich mit der Fotografie und verkauften die Patentrechte am Cinématographen an den Unternehmer Charles Pathé. Der letzte Katalog der Société Lumière erschien 1905 und umfasste 1422 Titel, darunter auch La Sortie des usines Lumière als Film No. 91. Rezeption Zeitgenössische Rezeption Reaktionen des Publikums Während die Vorführungen der Brüder Lumière vor wissenschaftlichen und fotografischen Gesellschaften im Laufe des Jahres 1895 ein ausführliches Echo in der Fachpresse gefunden hatten, blieb die kommerzielle Premiere des Cinématographe Lumière am 28. Dezember mangels rechtzeitiger Werbung von der Presse weitgehend unbeachtet. Die anwesenden Theaterbetreiber, unter ihnen der spätere Filmpionier Georges Méliès, erkannten sofort die Möglichkeiten der Vermarktung, mussten aber einsehen, dass die Lumières ihre Erfindung nicht verkaufen wollten. Die einzigen Pressevertreter, Reporter der weniger bekannten Zeitungen Le Radical und La Poste, berichteten von Bildern, die in ihrem Detailreichtum nicht nur eine „perfekte Illusion des wahren Lebens“ lieferten, sondern dieses Leben auch konservieren und reproduzieren konnten. Der Tod habe dadurch aufgehört, endgültig zu sein. Als sich durch Mundpropaganda innerhalb weniger Tage der kommerzielle Erfolg in Paris einstellte, stand das Erlebnis, „bewegte Fotografien“ in bisher unbekannter Qualität zu sehen, im Vordergrund der öffentlichen Rezeption der Lumière-Filme. Auf die Inhalte der einzelnen Kurzfilme wurde weniger eingegangen, die Schauwerte waren dem Publikum des frühen Kinos wichtiger. Die Filmhistoriker Tom Gunning und André Gaundreault prägten für diese frühe Rezeption des Mediums Film den Begriff Kino der Attraktionen. Auch wenn Arbeiter verlassen die Lumière-Werke nicht so spektakulär wie die Einfahrt eines Zuges in den Bahnhof von La Ciotat war, wurden die dargestellten Menschenmassen des Films in mehreren Zeitungsberichten des Jahres 1896 ausführlich beschrieben. Eine frühe Pariser Kritik gab den Eindruck wieder, den Arbeiter verlassen die Lumière-Werke hinterlassen hatte, als sich die Projektion des fotografischen Bildes plötzlich in Bewegung setzte: „Das Tor einer Fabrik öffnet sich und hunderte von Arbeitern und Arbeiterinnen strömen heraus, Fahrräder, rennende Hunde, Wagen – alles bewegt und verströmt sich.“ Daneben wurde auch die realistische Darstellung der Arbeiterschaft in diesem Film gelobt; der britische Kritiker O. Winter sah sogar eine Parallele zu dem literarischen Naturalismus eines Émile Zola. Ein Rezensent des New York Dramatic Mirror meinte anlässlich der New Yorker Premiere von Arbeiter verlassen die Lumière-Werke, dass die Darstellung so präzise war, dass der für die Vorführung angestellte Erklärer, der die Bedeutung der Bilder erläutern sollte, gar nicht nötig gewesen war – „Die Bilder […] sprechen für sich.“ Vorbild für andere Aktualitätenfilme Die einfache Darstellung der Alltagswelt in Arbeiter verlassen die Lumière-Werke wurde stilbildend für andere Filme, mit denen die Lumières, aber auch nachfolgende Filmemacher, ihre Umwelt porträtierten. Dokumentarische Aufnahmen von Passanten an markanten Plätzen, während der Arbeit oder bei besonderen Anlässen finden sich in vielen Filmen, die als Vorläufer der Wochenschauen gelten. In den Katalogen der Société Lumière nahmen diese Actualités genannten Streifen den größten Anteil ein. Als eines der am häufigsten imitierten Motive der frühen Lumière-Filme gilt das Sujet der Arbeiter am Feierabend. Es wurde in dem ersten Jahrzehnt der Filmgeschichte vielfach kopiert. Der im Herbst 1896 von Edison veröffentlichte Film Clark’s Thread Mill ahmte Louis Lumières Film genauso nach wie der von Ludwig Stollwerck in Auftrag gegebene Film Feierabend einer Kölner Fabrik, der am 23. Mai 1896 erstmals aufgeführt wurde. Die Beliebtheit dieser Remakes beruhte einerseits darauf, dass ein großer Teil des Publikums aus der Arbeiterschaft kam und sich in den gezeigten Filmen selbst erkannte. Andererseits sprach das Publikum der lokale Bezug an, wenn bekannte Bauwerke oder Fabriken aus der eigenen Stadt zu erkennen waren. Noch im Jahr 1901 empfahl das Filmunternehmen Hepworth and Co. in dem britischen Branchenblatt The Showmen den reisenden Filmvorführern, unbedingt einen lokalen Film in ihr Programm aufzunehmen. Die größte Zugkraft habe immer ein Film, der vor Ort an einem Fabriktor aufgenommen werde, da dann die Fabrikarbeiter in Hunderten mit ihren Angehörigen zu den Vorführungen kommen würden, um sich selbst auf der Leinwand zu erleben. Aus den zahlreichen Imitationen von Arbeiter verlassen die Lumière-Werke entwickelte sich in Großbritannien das kurzlebige Genre der factory gate films („Fabriktorfilme“), zu deren bedeutendsten Produzenten der Filmvertreiber Mitchell and Kenyon zählte. Das Unternehmen beschäftigte mehrere Kameraoperateure, die durch die britische Provinz zogen und dabei nicht nur Aufnahmen an Fabriktoren, sondern auch vom sonstigen Alltag der Bevölkerung anfertigten. Mitchell and Kenyons Aktualitätenfilme gelten heute als die bedeutendsten filmischen Dokumente der Edwardianischen Epoche (1901 bis 1914). Moderne Reverenzen Das in die Filmgeschichte eingegangene Sujet von Arbeitern, die die Fabrik verlassen, wurde auch in der Tonfilmära von verschiedenen Regisseuren aufgegriffen. Auch wenn nicht jede Szene, die vor einem Fabriktor spielt, als Reverenz an Louis Lumières Film aufgefasst werden kann, gibt es einige Filme, in denen die Inszenierung eindeutig an das historische Vorbild angelehnt ist. So ruft nach Ansicht des Godard-Biografen Douglas Morrey die Schlussszene des 1970 von der Groupe Dziga Vertov veröffentlichten Films Pravda unweigerlich Arbeiter verlassen die Lumière-Werke ins Gedächtnis. Eine Variation der Szene vor dem Fabriktor des Lumière-Werkes ist Bestandteil der Eröffnungssequenz von Michelangelo Antonionis Spielfilm Blow Up. Trotz einer völlig anderen Bildgestaltung enthält auch der in Ägypten angesiedelte Film Zu früh / Zu spät von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet eine Reverenz an Arbeiter verlassen die Lumière-Werke. Deutlich erkennbarer sind die Bezüge zu den Brüdern Lumière in einigen Dokumentarfilmen und Experimentalfilmen. In Harun Farockis Arbeiter verlassen die Fabrik von 1995 ist der Lumière-Film Ausgangspunkt des Essayfilms; in Hartmut Bitomskys Dokumentarfilm Der VW-Komplex von 1989 orientiert sich die Schlusseinstellung bewusst an das historische Vorbild. Die österreichischen Experimentalfilmer Peter Tscherkassky und Siegfried A. Fruhauf nutzten das Originalmaterial von Arbeiter verlassen die Lumière-Werke auf sehr unterschiedliche Weise. Fruhauf gestaltete 1998 mit La Sortie ein Remake, in dem der Bewegungsablauf der Arbeiter mehrfach wiederholt wird, sich zur Raserei beschleunigt und schließlich in einem sogenannten „Freeze Frame“ erstarrt. Peter Tscherkasskys Kurzfilm Motion Picture (La sortie des Ouvrier de l'Usine Lumiére á Lyon) von 1984 zählt zu den Found-Footage-Filmen: Er projiziert den Lumière-Film auf eine Reihe von Filmstreifen, wodurch das Bild in einzelne Spalten zerlegt wurde. Damit interpretiert Tscherkassky die Künstlichkeit der Inszenierung Lumières, die bereits von den Avantgardefilmern der 1920er Jahre bei der ersten „Wiederentdeckung“ der frühen Lumière-Filme als künstlerische Werke erkannt wurde. Filmhistorische Bewertung Die geschichtliche Bedeutung von Arbeiter verlassen die Lumière-Werke als dem ersten veröffentlichten Film der Brüder Lumière ist unter Filmhistorikern unbestritten. Trotz der kommerziellen Erfolge von Edisons Kinetoskop brachte erst der Cinématographe den Durchbruch für die neue Technik Film, er markierte den „Höhepunkt der Vorgeschichte des Kinos“. Die Produktionen der Société Lumière spielten allerdings, so der Medienwissenschaftler Werner Faulstich, „für die Ausbildung des Film als Medium, als komplexes System rasch keine Rolle mehr“. Die ästhetische Bewertung von Arbeiter verlassen die Lumière-Werke hat dagegen seit den 1970er Jahren einen Wandel durchlaufen; der dokumentarische und narrative Charakter des Films wurde teilweise neu bewertet. Der Film galt lange Zeit als „erstes Exponat jener Traditionslinie, die dem kinematographischen Status des Protokollmediums exemplarisch zu entsprechen schien und in Opposition zum Spielfilm stand“. Der Filmhistoriker Tom Gunning siedelt die Lumièreschen Actualitès aber vor dem Dokumentarfilm an. Er bezeichnet diese Filmform als „Ansicht“, die den Zeigegestus des frühen nicht-fiktionalen Films vom argumentativen Gestus des späteren Dokumentarfilms terminologisch abgrenzt. Gerade der Vergleich der verschiedenen bekannten Versionen des Films zeigt, dass Arbeiter verlassen die Lumière-Werke wie ein Spielfilm inszeniert wurde. Die Mise-en-scène, der Bildaufbau, ist eher von ästhetischen Gesichtspunkten als von den realen Begebenheiten bestimmt. Mit dem Öffnen der Fabriktore zu Beginn des Films und dem Wiederverschließen am Ende stellte Lumière eine Symmetrie her, um „der dargestellten Handlung eine einzigartig gültige Form zu geben“. Dadurch ist Arbeiter verlassen die Lumière-Werke nach Ansicht von Karin Bruns ein frühes Beispiel dafür, dass „Wirklichkeiten zugleich abgebildet – also ‚dokumentiert‘ – und konstruiert, also im Verfahren des Reenactment nachgestellt“ wurden. Louis Lumière platzierte seine Kamera bewusst so, dass eine logische Erzählstruktur vermittelt werden konnte. André Gaudreault bezeichnet Arbeiter verlassen die Lumière-Werke aufgrund dieser Erzählstruktur als einen narrativen Film und widerspricht damit Semiotikern wie Algirdas Julien Greimas oder Tzvetan Todorov, die generell bei narrativen Filmen eine minimale narrative Entwicklung voraussetzen. Die traditionelle Unterscheidung, nach der die Lumières nicht-narrative Filme produzierten, Georges Méliès aber als Vater des narrativen Films galt, sei somit nicht mehr gültig. Zusätzlich zur Mise-en-scène ist laut Thomas Elsaesser eine Mise en abyme im Film zu beobachten, da innerhalb des Bildrahmens die Handlungen am Fabriktor an der daneben liegenden kleineren Seitentür wiederholt werden. Neben der Symmetrie der Handlung zeichnet sich Arbeiter verlassen die Lumière-Werke durch eine zuvor unbekannte Ausnutzung der Raumtiefe aus. Die Bewegung der Arbeiter vor der Kamera setzt sich offensichtlich außerhalb des Bildrahmens (off frame) fort, wodurch der Eindruck der Bildtiefe, den die offene Fabrik freigibt, weiter gesteigert wird. Der Filmhistoriker Charles Musser sieht zusätzlich zu den räumlichen Ebenen auch verschiedene inhaltliche Ebenen. Die gezeigte Szene bildet örtlich und zeitlich einen Übergang zwischen der Arbeitswelt innerhalb der Fabrik und der Freizeitwelt außerhalb des Fabriktors. Des Weiteren dokumentiert der Film den Paternalismus der Société Lumière. Für den Lumière-Biografen Georges Sadoul wurde Arbeiter verlassen die Lumière-Werke schließlich zu einem unbeabsichtigten Dokumentarbericht über eine reiche französische Familie gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Literatur Richard Abel: The Ciné Goes to Town. French Cinema 1896–1914. Updated and expanded edition. University of California Press, Berkeley CA u. a. 1998, ISBN 0-520-07936-1. Thomas Elsaesser: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels. edition text + kritik, München 2002, ISBN 3-88377-696-3. Simon Popple, Joe Kember: Early Cinema. From Factory Gate to Dream Factory (= Short cuts. Bd. 20). Wallflower, London u. a. 2004, ISBN 1-903364-58-2. Georges Sadoul: Louis Lumière. Choix de textes et propos de Louis Lumier̀e brevets. Témoignages sur les débuts du cinéma chronologies. Filmographie. Bibliographie. Documents iconographiques. Seghers, Paris 1964. Alan Williams: Republic of Images. A History of French Filmmaking. Harvard University Press, Cambridge MA u. a. 1992, ISBN 0-674-76267-3. Weblinks Webseiten des Institut Lumière (französisch/englisch) Anmerkungen und Einzelnachweise Filmtitel 1895 Französischer Film Schwarzweißfilm Stummfilm Kurzfilm Dokumentarfilm Brüder Lumière Wikipedia:Artikel mit Video
4965793
https://de.wikipedia.org/wiki/Psychopathographie%20Adolf%20Hitlers
Psychopathographie Adolf Hitlers
Die Psychopathographie Adolf Hitlers vereint diejenige psychiatrische (pathographische) Fachliteratur, in der die These behandelt wird, dass Adolf Hitler (1889–1945) eine psychische Erkrankung gehabt habe. Bereits zu seinen Lebzeiten, aber auch weit über seinen Tod hinaus wurde Hitler immer wieder mit klinisch relevanten Störungsbildern wie Hysterie, Psychopathie oder megalomaner und paranoider Schizophrenie in Verbindung gebracht. Unter den Psychiatern und Psychoanalytikern, die bei Hitler eine psychische Störung diagnostiziert haben, befinden sich namhafte Persönlichkeiten wie Walter C. Langer und Erich Fromm. Andere Forscher, wie Fritz Redlich, haben in ihren Untersuchungen im Gegenteil den Eindruck gewonnen, dass Hitler nicht psychisch gestört war. Problematik der Psychopathographie und der Hitler-Psychopathographie Dem öffentlichen Interesse entsprechend, das der Privatperson Hitler bis heute entgegengebracht wird, erzielen Hitler-Psychopathographien Medienwirksamkeit. Die Pathographie ist in der Psychiatrie jedoch nicht nur schlecht beleumundet, sondern gilt auch als unethisch. Auf die Problematik einer Diagnostik ex post, bei der das wichtigste Mittel der Befunderhebung – die psychiatrische Exploration – nicht möglich ist, wurde schon oft hingewiesen; Hans Bürger-Prinz urteilte sogar, dass jegliche Ferndiagnostik außergewöhnlicher Persönlichkeiten einen „verhängnisvollen Missbrauch der Psychiatrie“ darstelle. Wie fehleranfällig die Methode ist, lässt sich bereits angesichts der erheblichen Bandbreite von psychiatrisch relevanten Störungen erahnen, die Hitler nach und nach zugeschrieben worden sind. Kennzeichnend für die Problematik vieler der im Folgenden aufgeführten Pathographien ist auch eine fehlende oder grob verkürzte Auseinandersetzung mit der Fülle von Publikationen, die andere Autoren zu diesem Thema bereits vorgelegt haben. Im Falle von Hitler birgt die Psychopathographie besondere Probleme. Erstens müssen Autoren, die über Hitlers persönlichste Angelegenheiten schreiben, mit der Gefahr umgehen, dass ein voyeuristisches Lesepublikum ihnen unkritisch jede noch so dünn belegte Spekulation abnimmt – so wie dies etwa im Falle von Lothar Machtans Buch Hitlers Geheimnis (2001) geschehen ist. Noch schwerer wiegt zweitens die von einigen Autoren vorgebrachte Warnung, dass eine Pathologisierung Hitlers dazu führen könne, ihn wenigstens zum Teil von seiner Verantwortung zu entbinden. Andere haben befürchtet, dass sich durch eine Pathologisierung beziehungsweise Dämonisierung Hitlers umgekehrt leicht alle Schuld auf den wahnsinnigen Diktator verlagern lasse, während die irregeleiteten „Massen“ und die Machteliten, die ihm zugearbeitet hatten, entlastet würden. Berühmt geworden ist Hannah Arendts Wort von der „Banalität des Bösen“; im Hinblick auf Adolf Eichmann hat sie 1963 geurteilt, dass psychische Normalität und die Fähigkeit zum Massenmord bei einem nationalsozialistischen Täter überhaupt kein Widerspruch seien. In einer 2015 erschienenen Biografie hat zuletzt Peter Longerich herausgearbeitet, wie Hitler seine politischen Ziele als starker Diktator, also mit Durchsetzungskraft, hoher Risikobereitschaft und unumschränkter Gewalt umgesetzt hat. Einige Autoren haben grundsätzlich den Sinn von Versuchen in Frage gestellt, Hitler – zum Beispiel mit psychologischen Mitteln – zu erklären. Am weitesten ging dabei Claude Lanzmann, der solche Versuche als „obszön“ bezeichnete, sie als der Holocaustleugnung benachbart empfand und nach der Fertigstellung seines Films Shoah (1985) immer wieder scharf angriff; besonders kritisierte er Rudolph Binion, in dessen Schrift er den Versuch sah, Hitler nicht nur zu erklären, sondern geradezu zu entlasten. Wie etwa Jan Ehrenwald (1978) aufgezeigt hat, ist in der Psychiatrie häufig die Frage vernachlässigt worden, wie ein möglicherweise psychisch gestörter Hitler diejenige große und begeisterte Anhängerschaft habe gewinnen können, die seine Politik bis 1945 mitgetragen hat. Hans-Ulrich Wehler hat wiederholt kritisiert, dass psychohistorische Untersuchungen, die historische Aspekte vernachlässigen, generell wenig Wert besitzen können. Manche Autoren haben darauf hingewiesen, dass es selbst im Falle einer so schwerwiegenden Krankheit wie der Schizophrenie Beispiele von Betroffenen gebe, die eine Anhängerschaft gefunden und außerordentlich stark beeinflusst haben (Charles Manson, Jim Jones). Bereits früh wurde auch die Position vertreten, dass Hitler seine Psychopathologie durchaus im Griff gehabt und seine Symptome sogar bewusst eingesetzt habe, um die Gefühle seines Publikums wirkungsvoll zu nutzen. Wieder andere Autoren haben vermutet, dass Hitlers Anhängerschaft selbst psychisch gestört gewesen sei; Nachweise für diese These fehlen bisher. Eine Annäherung an die Frage, wie Hitlers individuelle Psychopathologie mit dem Enthusiasmus seiner Gefolgschaft verzahnt gewesen sein könnte, wurde erstmals 2000 von dem interdisziplinären Autorenteam Matussek/Matussek/Marbach versucht. Hysterie Hitler im Reservelazarett Pasewalk (1918) Es ist bislang nicht nachgewiesen, ob Hitler jemals von einem Psychiater untersucht wurde. Oswald Bumke, Psychiater und Zeitgenosse Hitlers, geht davon aus, dass dies niemals der Fall war. Der einzige Psychiater, dem Hitler nachweislich persönlich begegnet ist, war der Münchner Professor Kurt Schneider – er war jedoch nicht Hitlers Arzt. Während ärztliche Dokumente erhalten sind, die Rückschlüsse auf Hitlers körperlichen Gesundheitszustand erlauben, fehlen psychiatrische Unterlagen vollständig, die eine Beurteilung seines psychischen Zustandes ermöglichen würden. Im Mittelpunkt der Spekulationen um eine mögliche psychiatrische Bewertung Hitlers zu seinen Lebzeiten steht sein Aufenthalt im Schützenhaus Pasewalk Ende 1918. Hitler gelangte nach einer Senfgasvergiftung, die er sich in einer Abwehrschlacht in Flandern zuzog, in dieses Lazarett. In Mein Kampf erwähnt er diesen Lazarettaufenthalt im Zusammenhang mit seiner schmerzhaften vorübergehenden Erblindung und mit dem „Unglück“ und „Wahnsinn“ von Novemberrevolution und Kriegsniederlage, wovon er während seiner Genesung Kenntnis erhalten und was eine erneute Erblindung ausgelöst habe. Hitler und seine frühen Biographen verschafften diesem Erblindungs-Rückfall große Aufmerksamkeit, da er auf publikumswirksame Weise den Wendepunkt benennt, an dem sich Hitler berufen gefühlt habe, Politiker zu werden. Jedoch urteilten bereits unter den zeitgenössischen Psychiatern manche, dass ein solcher Rückfall, der organisch nicht zu erklären gewesen wäre, als hysterisches Symptom beschrieben werden müsse. Die Hysteriediagnose hatte ihre größte Popularität mit Sigmund Freuds Psychoanalyse, war in den 1930er und 1940er Jahren aber immer noch gebräuchlich. Ausfälle der Sinnesorgane zählten, neben einem egozentrischen und theatralischen Verhalten, zu den typischen Symptomen. So soll der bedeutende Psychiater Karl Wilmanns in einer Vorlesung geäußert haben: „Hitler hat im Anschluß an seine im Feld erlittene Verschüttung eine hysterische Reaktion gehabt.“ Wilmanns verlor daraufhin 1933 seine Stellung. Wegen ähnlicher Äußerungen erlitt auch Hans Walter Gruhle berufliche Nachteile. In der modernen Psychiatrie ist der Ausdruck „Hysterie“ nicht mehr gebräuchlich; entsprechende Störungsbilder werden heute zumeist einer dissoziativen Störung oder einer histrionischen Persönlichkeitsstörung zugeschrieben. Über Hitlers Lazarettaufenthalt ist wenig bekannt. Strittig ist bereits, welche Beschwerden bei ihm in Pasewalk festgestellt wurden. Hitlers Krankenblatt, das eine Diagnose bestätigen oder widerlegen könnte, galt bereits Ende der 1920er Jahre als verschollen und ist auch später nie wieder aufgetaucht. Dennoch nahmen sich zum Beispiel die Autoren der 1992 erschienenen jüngsten Auflage des Sammelwerkes Genie, Irrsinn und Ruhm die Freiheit anzugeben, dass bei Hitler neben körperlichen Erkrankungen (Parkinson, Enzephalitis beziehungsweise Syphilis mit Erblindung) auch eine ganze Reihe psychiatrischer Befunde festgehalten worden sei, darunter eine paranoide Persönlichkeitsakzentuierung mit Verfolgungs- und Größenwahn, narzisstischer und „hysterischer“ Psychopathie mit hysterischer Blindheit beziehungsweise hysterischer Parese, Schizoidie bis hin zu paranoider Schizophrenie mit Leichengifthalluzinationen, Zönästhesien, Bazillophobie, Verfolgungs- und Begnadungswahn. Nachweise werden indes nicht aufgeführt. A Psychiatric Study of Hitler (1943) Der Geheimdienst des US-Kriegsministeriums (OSS) sammelte während des Zweiten Weltkrieges Informationen über die Persönlichkeit Hitlers und beauftragte 1943 ein Forscherteam unter der Leitung von Walter C. Langer, psychologische Berichte zu erarbeiten. In einem dieser Berichte, der den Titel „A Psychiatric Study of Hitler“ trug, wurde die These entwickelt, dass Hitler in Pasewalk von dem Psychiater Edmund Forster behandelt worden sei, der 1933 aus Angst vor Repressionen Suizid begangen habe. Ausgangspunkt des Berichtes waren Auskünfte des Psychiaters Karl Kroner, der ebenfalls 1918 in dem Lazarett tätig war. Kroner bestätigte insbesondere, dass Forster Hitler untersucht und ihm die Diagnose „Hysterie“ gestellt habe. Wiederentdeckt wurde der bis dahin unter Verschluss gehaltene Bericht Anfang der 1970er Jahre von dem amerikanischen Hitler-Biographen John Toland. Ich, der Augenzeuge (1963) Der österreichische Arzt und Schriftsteller Ernst Weiß schrieb 1939 im französischen Exil den Roman Ich, der Augenzeuge, der in Form einer erdachten ärztlichen Autobiographie von der „Heilung“ eines „hysterischen“ Kriegsblinden A. H. aus Braunau in einem Armeelazarett Ende 1918 berichtet. Weil die Kenntnisse des Arztes den Nazis gefährlich werden könnten, wird er 1933 in ein KZ gebracht und erst freigelassen, nachdem er die Krankenunterlagen herausgibt. Der Autor Weiß musste wegen seines jüdischen Glaubens befürchten, deportiert zu werden, und beging nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris Suizid; sein Roman wurde erst 1963 veröffentlicht. Seine Kenntnisse über Hitlers Lazarettaufenthalt verdankte Weiß der zeitgenössischen biographischen Literatur. Möglicherweise war er in Paris auch dem ebenfalls exilierten Hitler-Biographen Konrad Heiden begegnet. Für die später formulierte These, dass die im Roman vorgenommene Darstellung von Hitlers psychischer Störung und Heilung keine Fantasie sei, sondern auf Insiderkenntnissen beruhe, konnten bis heute keine Nachweise beigebracht werden. Thesenbildung Zahlreiche Forscher und Autoren haben – dem Roman folgend – die in dem Geheimdienstbericht formulierten Vermutungen bis zu einer vermeintlich gesicherten Hypnosetherapie Hitlers durch Forster fortentwickelt. Diese Rekonstruktionsversuche sind nicht nur deshalb fragwürdig, weil sie alternative Deutungen von vornherein ausschließen. Sie gehen auch nur flüchtig auf den historischen Zusammenhang ein und übersehen sogar, dass Forster ein Hysteriekonzept vertrat, das ihn andere Behandlungsmethoden als die Hypnose hätte vorziehen lassen. Rudolph Binion, Historiker an der Brandeis University, hält die vermeintliche Hysteriediagnose für einen Fehlschluss, entwickelte die in der Geheimdienstakte formulierten Thesen in seinem 1976 erschienenen Buch Hitler among the Germans jedoch fort. Binion vermutet, dass Weiß Forster persönlich getroffen und von ihm eine Abschrift des Krankenblattes erhalten hatte, die er seinem Roman dann zugrunde legte. Dem Roman folgend, nimmt Binion dann an, dass Forster den erblindeten, fanatischen Hitler einer Suggestionsbehandlung unterzogen und sich später, nach seiner Suspendierung vom Staatsdienst und aus Angst vor Verfolgung durch die Gestapo, selbst getötet habe. Binions Vermutungen liegen jedoch kaum andere „Beweise“ zugrunde als die Überlieferungen Forsters, wobei nicht einmal sicher nachgewiesen wurde, in welcher Form Forster Kontakt zu Hitler hatte. David E. Post, forensischer Psychiater an der Louisiana State University, veröffentlichte 1998 einen Aufsatz, in dem er ohne nachvollziehbare eigene Recherchen die These, dass Forster Hitlers vermeintliche Hysterie mit Hypnose behandelt habe, als erwiesen ansah. Teilweise von Binion angeregt, veröffentlichte der britische Neuropsychologe David Lewis 2003 sein Buch The Man Who Invented Hitler, in dem er Forsters Hypnosebehandlung nicht nur als historische Tatsache, sondern auch als Ursache dafür darstellte, dass Hitler sich aus einem gehorsamen Weltkriegssoldaten in einen willensstarken, charismatischen Politiker verwandelt habe. Lewis stilisiert Forster in seinem Buch zum „Schöpfer“ Hitlers. Von Binion angeregt ist auch das 2003 erschienene Buch des deutschen Politikpsychologen und emeritierten Professors der Universität Koblenz, Manfred Koch-Hillebrecht, Hitler. Ein Sohn des Krieges. Koch-Hillebrecht versucht Hitler darin eine posttraumatische Belastungsstörung nachzuweisen und beschreibt, wie Forster seinen angeblichen Patienten durch eine Schocktherapie wieder zum einsatzfähigen Soldaten gemacht habe. Ebenfalls in Deutschland veröffentlichte 2004 der Jurist und Schriftsteller Bernhard Horstmann sein Sachbuch Hitler in Pasewalk, in dem er schildert, wie Forster Hitler mit einer „genial“ angewandten Hypnose nicht nur von dessen hysterischer Erblindung geheilt, sondern auch mit demjenigen Omnipotenzgefühl und Sendungsbewusstsein erfüllt habe, das Hitler später als Politiker kennzeichnete. Auch in diesem Buch werden keine anderen Beweise vorgebracht als die Handlung von Weiß' Roman. Franziska Lamott, Professorin für Forensische Psychotherapie an der Universität Ulm, schrieb in einem 2006 veröffentlichten Aufsatz: „[…] die in der Krankenakte verbriefte Behandlung des Gefreiten Adolf Hitler durch den Psychiater Prof. Edmund Forster belegt, dass dieser ihn mittels Hypnose von seiner hysterischen Blindheit befreit hatte“. Kritik Kritische Stellungnahmen zu diesen Thesen erschienen bereits früh, waren, wie der Psychiatriehistoriker Jan Armbruster (Universität Greifswald) urteilt, jedoch nicht stichhaltig genug begründet, wie zum Beispiel im Falle des Journalisten Ottmar Katz, der in seiner Biographie von Hitlers Leibarzt Theo Morell 1982 vermutete, dass Karl Kroner Anlass gehabt haben könnte, dem amerikanischen Geheimdienst einige Unwahrheiten zu berichten. Eine umfassende Plausibilitätsprüfung wurde erstmals 2008 von dem Berliner Psychiater und Psychotherapeuten Peter Theiss-Abendroth vorgenommen. Armbruster demontierte die Thesen von Hitlers Hysteriediagnose und Hypnosetherapie weiter, als er 2009 detailliert aufwies, wie die Geschichte der nicht nachweisbaren Behandlung Hitlers durch Forster von 1943 bis 2006 immer neue Details erhielt, doch nicht durch Auswertung historischer Dokumente immer genauer rekonstruiert, sondern durch Kolportage immer weiter ausgeschmückt wurde. Armbrusters Arbeit bietet damit auch die bis heute umfangreichste Kritik an den methodischen Schwächen vieler Hitler-Pathographien. Walter C. Langer (1943) Einer der wenigen Autoren, die Hitler eine Hysterie-Diagnose stellten, ohne die Pasewalk-Episode und Hitlers angebliche Behandlung durch Forster als Hauptbeweis heranzuziehen, war der amerikanische Psychoanalytiker Walter C. Langer. Langer erarbeitete seine Studie 1943 im Auftrag des US-amerikanischen Militärnachrichtendienstes Office of Strategic Services, OSS. Er und sein Team führten Interviews mit zahlreichen Personen durch, die den amerikanischen Nachrichtendiensten zur Verfügung standen und die Hitler persönlich kannten, und werteten zusätzlich Schriften und Reden Hitlers aus. Sie kamen zu dem abschließenden Urteil, dass Hitler „ein Hysteriker am Rande der Schizophrenie“ sei. Die lange unter Verschluss gehaltene Arbeit wurde 1972 unter dem Titel The Mind of Adolf Hitler publiziert. Zutreffend war jedenfalls Langers 1943 getroffene Voraussage, Hitler würde sich im Angesicht einer sich deutlich abzeichnenden Niederlage suizidieren. Nur zwei Jahre später trat genau dieser Fall ein (siehe hierzu: Adolf Hitler, Abschnitt: Ende im Bunker.) Schizophrenie Viele Momente in Hitlers persönlichen Überzeugungen und in seinem Verhalten – etwa sein Glaube, er sei vom Schicksal auserwählt worden, das deutsche Volk von dessen vermeintlich gefährlichster Bedrohung, welche in seinen Augen die Juden waren, zu befreien – sind von Psychiatern bereits zu Hitlers Lebzeiten als Anzeichen einer Psychose bzw. Schizophrenie eingestuft worden. W. H. D. Vernon (1942) und Henry Murray (1943) Zu den Ersten, die Hitler mit den klassischen Symptomen der Schizophrenie in Verbindung brachten, zählt der kanadische Psychiater W. H. D. Vernon, der dem deutschen Reichskanzler in einem 1942 veröffentlichten Aufsatz Halluzinationen, Stimmenhören, Verfolgungs- und Größenwahn bescheinigte. Vernon schrieb, Hitlers Persönlichkeitsstruktur dürfe, obwohl sie insgesamt in den Bereich des Normalen falle, als dem paranoiden Typ zugehörig beschrieben werden. Vernons Fallstudie fand ein Jahr später Aufnahme in eine noch weitaus schärfer formulierte Analyse der Persönlichkeit Hitlers, die Henry Murray erstellte, Psychologe an der Harvard University und wie Walter C. Langer im Auftrag des Nachrichtendienstes des US-Kriegsministeriums tätig. Er gelangte darin zu der Einschätzung, dass Hitler neben hysterischen Anzeichen alle klassischen Symptome einer Schizophrenie aufweise: Hypersensibilität, Panikattacken, irrationale Eifersucht, Verfolgungswahn, Allmachtphantasien, Größenwahn, Glauben an ein messianisches Berufensein und extreme Paranoia. Er verortete ihn im Grenzbereich zwischen Hysterie und Schizophrenie, betonte jedoch, dass Hitler über seine pathologischen Tendenzen beträchtliche Kontrolle besitze und sie bewusst einsetze, um die nationalistischen Gefühle der Deutschen und ihren Hass gegen vermeintliche Verfolger anzufachen. Ebenso wie Walter C. Langer hielt Murray es für wahrscheinlich, dass Hitler nach einem Verlust des Glaubens an sich selbst und an seine „Bestimmung“ Suizid begehen werde. Wolfgang Treher (1966) Pathographien, in denen der Versuch unternommen wird, Hitler eine voll entwickelte Psychose im klinischen Sinne nachzuweisen, bilden in der psychiatrischen Literatur die Ausnahme. Ein Beispiel ist das 1966 erschienene Buch Hitler, Steiner, Schreber des Freiburger Psychiaters Wolfgang Treher. Treher erklärt in diesem Buch, sowohl Rudolf Steiner, dessen Anthroposophie er auf die schizophrene Erkrankung zurückführt, als auch Hitler hätten an Schizophrenie gelitten. Da es beiden gelungen sei, durch eigene Organisationen (Anthroposophische Gesellschaft bei Steiner – bei Hitler die NSDAP und ihre Gliederungen) mit der „Realität“ in Verbindung zu bleiben, und diese im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten im Sinne ihrer Wahnideen zu beeinflussen, blieb der eigentlich zu erwartende „schizophrene Rückzug“ bei ihnen aus. Nach Treher sind Hitlers Größen- und der damit gekoppelte Verfolgungswahn unübersehbar. Um seine Diagnose zu belegen, analysiert Treher insbesondere Hitlers Buch „Mein Kampf“, als auch seine vielen Reden und Proklamationen. Treher präsentiert vor allem „normalpsychologisch“ vollkommen unverständliche Äußerungen von Hitler wie z. B. folgende: „Unsere Toten sind alle wieder lebend geworden. Sie marschieren nicht nur im Geiste, sondern lebendig mit uns mit.“ Edleff Schwaab (1992) Der klinische Psychologe Edleff Schwaab veröffentlichte 1992 seine Psychobiographie Hitler’s Mind, in dem er die Vorstellungswelt Hitlers – besonders dessen Obsession mit der vermeintlichen Bedrohung durch die Juden – als Resultat einer Paranoia beschreibt. Als Ursache für diese Störung vermutet Schwaab eine traumatische Kindheit, die im Schatten einer depressiven Mutter und eines tyrannischen Vaters gestanden habe. Paul Matussek, Peter Matussek, Jan Marbach (2000) Das 2000 erschienene Buch Hitler – Karriere eines Wahns ist eine gemeinsame Arbeit des Psychiaters Paul Matussek, des Medienwissenschaftlers Peter Matussek und des Soziologen Jan Marbach, in der sie mit der Tradition einer eindimensional psychiatrischen Pathographie zu brechen versuchen und sich um einen interdisziplinären Zugang bemühen, bei dem auch sozialgeschichtliche Dimensionen berücksichtigt werden sollen. Im Zentrum ihrer Untersuchung steht darum nicht so sehr eine Rekonstruktion von Hitlers persönlicher Psychopathologie, sondern vielmehr eine Beschreibung der Wechselwirkungen zwischen den individuellen und kollektiven Anteilen an der Dynamik des Hitlerwahns, also des Resonanzverhältnisses zwischen Hitlers – mit psychotischen Symptomen aufgeladener – Führerrolle einerseits und der Faszination andererseits, die diese Rolle bei seinen Anhängern ausgeübt hat. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die nationalsozialistischen Verbrechen zwar Ausdruck von Wahnsinn gewesen seien, jedoch eines Wahnsinns, der so stark öffentlich akzeptiert worden sei, dass der Psychotiker Hitler und seine Anhänger sich in ihrer „wahnsinnigen“ Weltsicht gegenseitig stabilisiert hätten. Frederic L. Coolidge, Felicia L. Davis, Daniel L. Segal (2007) Die methodisch aufwändigste psychologische Bewertung Hitlers nahm 2007 ein Forscherteam der University of Colorado vor. Diese Untersuchung unterscheidet sich von allen früheren nicht nur durch eine offene, explorative Fragestellung, bei der systematisch geprüft wurde, auf welche psychischen Störungen Hitlers Verhalten möglicherweise hingewiesen hat und auf welche nicht; es war auch die erste Hitler-Pathographie, die konsequent empirisch angelegt war. Die beteiligten Psychologen und Historiker sammelten überlieferte Berichte von Personen, die Hitler gekannt hatten, und werteten diese nach Maßgabe eines selbst entwickelten diagnostischen Instrumentariums aus, mit dem ein breites Spektrum von Persönlichkeits-, klinischen und neuropsychologischen Störungen gemessen werden kann. Hitler wies laut dieser Studie starke Züge von paranoider Schizophrenie, aber auch von antisozialen, sadistischen und narzisstischen Persönlichkeitsstörungen und einer ausgeprägten posttraumatischen Belastungsstörung auf. Mögliche organische Auslöser psychotischer Symptome Wiederholt haben Wissenschaftler nach möglichen organischen Ursachen für die in der Literatur beschriebenen psychotischen Symptome Hitlers gesucht, so zum Beispiel der Psychiater Günter Hesse, der davon überzeugt ist, dass Hitler auch an Spätfolgen der im Ersten Weltkrieg erlittenen Gasvergiftung gelitten habe. Parkinson-Krankheit Nach Ernst Günther Schenck stellte unter anderen auch die Kölner Neurologin und Psychiaterin Ellen Gibbels im Rahmen ihrer Beschäftigung mit der Parkinson-Krankheit Überlegungen an, ob Hitler an dieser Krankheit gelitten haben könnte. 1994 veröffentlichte sie zudem einen Aufsatz, in dem sie der Frage nachging, ob seine Nervenkrankheit Hitler auch psychisch beeinträchtigt habe. Syphilis Hitlers Gliederzittern in den letzten Lebensjahren, das Gibbels in den späten 1980er Jahren unter weiter Anerkennung der Forschungsgemeinschaft auf eine Parkinson-Erkrankung zurückführte, ist wiederholt auch als Symptom einer fortgeschrittenen Syphiliserkrankung gedeutet worden, zuletzt von der amerikanischen Historikerin Deborah Hayden. Hayden bringt die progressive syphilitische Paralyse, an der Hitler nach ihrer Auffassung seit 1942 gelitten habe, mit seinem geistigen Niedergang in diesen letzten Lebensjahren in Zusammenhang, insbesondere mit seinen „paranoiden Zornausbrüchen“. Der Mediziner Fritz Redlich berichtet hingegen, es lägen keinerlei Hinweise dafür vor, dass Hitler Syphilis gehabt habe. Bereits 1936 wurde Dr. Morell von Hitler als Leibarzt gewählt, Morell war Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Amphetamin-Missbrauch Der Psychiater Leonard L. Heston von der University of Minnesota und die Krankenschwester Renate Heston berichten in ihrem 1980 erschienenen Buch The Medical Case Book of Adolf Hitler, für das sie eine Fülle von Krankenberichten sichteten, dass Hitler in seinen letzten Lebensjahren regelmäßig Amphetamine (insbesondere Pervitin) eingenommen und gespritzt bekommen habe, stimulierende Drogen, zu deren möglichen Nebenwirkungen psychotische Symptome wie zum Beispiel paranoide Wahnvorstellungen gehören. Einen Versuch, Hitlers Verhalten als Folge von Drogen zu erklären, hat auch Norman Ohler in seinem 2015 erschienenen Werk Der totale Rausch unternommen, das – wie Helena Barop in der Zeit rezensiert hat – durch eine „Vermischung von sensationshungrigem Hitler-Voyeurismus und wissenschaftlicher Sachbuchpose“ gekennzeichnet sei. Psychopathie/Antisoziale Persönlichkeitsstörung Angesichts der Unmenschlichkeit seiner Verbrechen wurde Hitler bereits früh auch mit der „Psychopathie“ in Verbindung gebracht, einer schweren Persönlichkeitsstörung, deren wichtigste Symptome ein weitgehendes oder vollständiges Fehlen von Empathie, sozialer Verantwortung und Gewissen sind. Der biologisch determinierte Begriff spielt in der psychiatrischen Forensik heute immer noch eine Rolle, in den modernen medizinischen Klassifikationssystemen (DSM-IV und ICD-10) kommt er jedoch nicht mehr vor; bei entsprechenden Störungsbildern spricht man dort von einer antisozialen Persönlichkeitsstörung. Die Symptomatik ist allerdings selten, und anders als im populären Diskurs, wo die Einstufung von Hitler als „Psychopath“ bis heute zu den Gemeinplätzen gehört, haben Psychiater ihm die Diagnose „Psychopathie“ beziehungsweise „antisoziale Persönlichkeitsstörung“ nur gelegentlich gestellt. Gustav Bychowski (1948) Eine der frühesten Hitler-Pathographien, in der nicht nur psychologische, sondern auch historische und soziologische Aspekte berücksichtigt werden, ist in dem 1948 veröffentlichten Sammelband Dictators and Disciples des polnisch-amerikanischen Psychiaters Gustav Bychowski enthalten. Bychowski fragt darin nach den Gemeinsamkeiten historischer Persönlichkeiten, die erfolgreich einen Staatsstreich durchgeführt haben. Er vergleicht Hitler mit Julius Caesar, Oliver Cromwell, Robespierre und Josef Stalin und kommt zu dem Ergebnis, dass diese Männer eine Fülle von Zügen aufweisen, die als „psychopathisch“ einzustufen seien, wie zum Beispiel die Tendenz, Impulse auszuagieren oder eigene feindselige Impulse auf andere Personen oder Gruppen zu projizieren. Diesen sozialpsychologischen Denkansatz hatte ab 1928 der Psychiater Wilhelm Lange-Eichbaum bekanntgemacht. Desmond Henry, Dick Geary, Peter Tyrer (1993) Das interdisziplinäre britische Autorenteam Desmond Henry, Dick Geary und Peter Tyrer veröffentlichte 1993 einen Aufsatz, in dem sie ihre gemeinsame Auffassung darlegten, Hitler habe an einer antisozialen Persönlichkeitsstörung im Sinne der ICD-10 gelitten. Der Psychiater Tyrer war davon überzeugt, dass bei Hitler darüber hinaus auch Merkmale von Paranoia und einer histrionischen Persönlichkeitsstörung vorlagen. Tiefenpsychologische Perspektiven Einige Autoren, die einer tiefenpsychologischen Lehre wie zum Beispiel der psychoanalytischen Schule Sigmund Freuds angehören, waren weniger als ihre psychiatrisch orientierten Kollegen daran interessiert, bei Hitler eine bestimmte klinische Störung zu diagnostizieren, als vielmehr daran, sein ungeheuerlich destruktives Verhalten zu erklären, wobei als Motoren, die menschliches Verhalten und die Entwicklung eines Charakters antreiben, bei den tiefenpsychologischen Konzepten vor allem unbewusste Prozesse vermutet werden. Da diese in der frühen Jugend wurzeln, steht im Mittelpunkt dieser Arbeiten meist der Versuch, das Szenario von Hitlers Kindheit und Jugend bzw. der Familie Hitler zu rekonstruieren. Manche Autoren, wie etwa Gerhard Vinnai, gehen dabei über eine rein tiefenpsychologische Analyse weit hinaus. Erich Fromm (1973) Eine der bekanntesten Hitler-Pathographien präsentierte der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erich Fromm in seinem 1973 veröffentlichten Buch Anatomie der menschlichen Destruktivität. Fromm versucht darin, die Ursachen menschlicher Gewalttätigkeit zu bestimmen. Seine Kenntnisse über die Person Hitlers entnimmt er dem Erlebnisbericht von Hitlers Jugendfreund August Kubizek (1953), der Hitler-Biographie von Werner Maser (1971) und vor allem einer Arbeit von Bradley F. Smith über Hitlers Kindheit und Jugend. Im Zentrum dieser Pathographie Hitlers, die weitgehend Sigmund Freuds Konzept der Psychoanalyse folgt, steht die These, dass Hitler ein unreifer, selbstbezogener Träumer gewesen sei, der nicht seinen kindlichen Narzissmus überwunden und die Erniedrigungen, denen er infolge seiner mangelnden Realitätsanpassung ausgesetzt gewesen sei, mit Zerstörungslust („Nekrophilie“) zu bewältigen versucht habe. Die Zeugnisse dieser Lust – unter anderem der sogenannte Nerobefehl – seien so ungeheuerlich, dass man davon ausgehen müsse, dass Hitler nicht nur destruktiv gehandelt habe, sondern von einem destruktiven Charakter getrieben gewesen sei. Helm Stierlin (1975) Der deutsche Psychoanalytiker und Familientherapeut Helm Stierlin publizierte 1975 sein Buch Adolf Hitler. Familienperspektiven, in dem er ähnlich wie Fromm die Frage nach den psychischen und motivationalen Grundlagen für Hitlers Aggressivität und Zerstörungsleidenschaft stellt. Im Mittelpunkt seiner Untersuchung steht die Beziehung Hitlers zu seiner Mutter Klara Hitler, die ihren Sohn nach Stierlins Auffassung delegiert hat, Ansprüche zu erfüllen, die ihren eigenen frustrierten Hoffnungen entsprachen, aber auch für den Sohn unmöglich zu befriedigen waren. Alice Miller (1980) Die schweizerische Kindheitsforscherin Alice Miller hat Adolf Hitler einen Abschnitt in ihrem 1980 veröffentlichten Buch Am Anfang war Erziehung gewidmet, wobei sie ihre Kenntnisse über die Person Hitlers vor allem biographischen und pathographischen Arbeiten wie denen von Rudolf Olden (1935), Konrad Heiden (1936/37), Franz Jetzinger (1958), Joachim Fest (1973), Helm Stierlin (1975) und John Toland (1976) entnimmt. Miller ist davon überzeugt, dass Hitlers von einem autoritären und oft brutalen Vater, Alois Hitler, dominiertes Elternhaus als „Prototyp eines totalitären Regimes“ charakterisiert werden könne und dass es die demütigende und erniedrigende Behandlung und die Prügel waren, die Hitler als Kind von seinem Vater erlitten hat, die aus ihm die hassvolle und zerstörerische Persönlichkeit gemacht haben, unter der später Millionen von Menschen leiden mussten. Auch die Mutter Klara sei kaum in der Lage gewesen, sich ihrem Sohn liebevoll zuzuwenden. Hitler habe sich mit dem tyrannischen Vater bereits früh identifiziert und das Trauma seines Elternhauses auf Deutschland übertragen, wobei die Zeitgenossen ihm deshalb willig gefolgt seien, weil ihre Kindheiten ähnlich verlaufen seien. Miller wies auch auf eine mögliche psychische Störung von Johanna Pölzl, der eigensinnigen Schwester von Klara Hitler, hin, die mit der Familie während Hitlers gesamter Kindheit zusammenlebte. Nach Aussagen von Zeitzeugen war die „Hanni-Tante“, die bereits 1911 verstarb, entweder schizophren oder debil. Norbert Bromberg, Verna Volz Small (1983) Eine weitere Psychopathographie haben 1983 der New Yorker Psychoanalytiker Norbert Bromberg (Albert Einstein College of Medicine) und die Schriftstellerin Verna Volz Small vorgelegt. In diesem Buch, das den Titel Hitler’s Psychopathology trägt, begründen Bromberg und Small ihre Überzeugung, dass viele von Hitlers Selbstzeugnissen und Taten als Ausdruck einer ernsthaften Persönlichkeitsstörung zu werten seien. Bei der Untersuchung seiner familiären Herkunft, seiner Kindheit und Jugend und seines Verhaltens als Erwachsener, Politiker und Machthaber finden sie zahlreiche Hinweise, dass Hitler sowohl dem Störungsbild einer narzisstischen Persönlichkeit als auch dem einer Borderline-Persönlichkeit entsprochen habe (siehe auch Abschnitt unten). Brombergs und Smalls Arbeit ist vorgeworfen worden, sie basiere auf unzuverlässigen Quellen und behandle darum unter anderem auch die Frage nach Hitlers vermuteter Homosexualität allzu spekulativ. Die Auffassung, dass Hitler eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hatte, war nicht neu; z. B. hatte Alfred Sleigh sie schon 1966 vertreten. George Victor (1999) Der Psychotherapeut George Victor, dessen Interesse besonders dem Antisemiten Hitler gilt, vermutet in seinem 1999 veröffentlichten Buch Hitler: The Pathology of Evil, Hitlers schwerwiegende Persönlichkeitsstörung – sein Selbsthass und insbesondere sein Hass auf die Juden – habe ihren Ursprung in den Misshandlungen, die er als Kind durch seinen Vater erlitten habe, von dem Hitler geglaubt habe, dass er von Juden abstamme. Béla Grunberger, Pierre Dessuant (2000) Die französischen Psychoanalytiker Béla Grunberger und Pierre Dessuant haben Hitler einen Abschnitt in ihrem 2000 erschienenen Buch Narzißmus, Christentum, Antisemitismus gewidmet. Ebenso wie Fromm, Bromberg und Small interessieren sie sich besonders für Hitlers Narzissmus, dem sie durch eine detaillierte Ausdeutung von Hitlers Sexualpraktiken und Verstopfungsproblemen auf die Spur zu kommen versuchen. Posttraumatische Belastungsstörung Theodore Dorpat (2003) Theodore Dorpat, niedergelassener Psychiater in Seattle, schrieb Hitler eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung zu. In seinem 2003 veröffentlichten Buch Wounded Monster schreibt Dorpat, dass die Störung bei Hitler bereits im Alter von 11 Jahren manifest gewesen sei, und nennt als Ursachen Hitlers chronisches Kindheitstrauma (die körperliche und seelische Misshandlung durch den Vater und das erzieherische Versagen der depressiven Mutter) und ein im Ersten Weltkrieg über Jahre hinweg erlittenes Fronttrauma. Beides erkläre, dass Hitler anschließend weder für soziale noch für intellektuelle oder berufliche Bestrebungen vorbereitet gewesen sei. Dorpat arbeitet auch den Zusammenhang zwischen der Traumatisierung und den Persönlichkeitszügen heraus, die für Hitler später so kennzeichnend waren, wie seine Sprunghaftigkeit, seine Böswilligkeit, der sadomasochistische Charakter seiner menschlichen Beziehungen, seine menschliche Gleichgültigkeit und sein Vermeiden von Scham. Gerhard Vinnai (2004) Einen psychoanalytischen Ausgangspunkt hat auch die 2004 veröffentlichte Arbeit Hitler – Scheitern und Vernichtungswut des Sozialpsychologen Gerhard Vinnai. Vinnai unterzieht darin Hitlers Buch Mein Kampf einer tiefenpsychologischen Deutung und versucht zu rekonstruieren, wie Hitler vor dem Hintergrund seiner Kindheit und Jugend seine Erfahrungen im Ersten Weltkrieg verarbeitet habe. Ähnlich wie Theodore Dorpat, dessen Buch ein Jahr zuvor erschienen war (siehe weiter unten), führt Vinnai das zerstörerische Potential in Hitlers Psyche nicht so sehr auf frühkindliche Erlebnisse, sondern vor allem auf eine Traumatisierung zurück, die Hitler als Soldat im Ersten Weltkrieg erlitten habe (siehe auch Kriegstrauma). Davon war ein erheblicher Teil der deutschen Bevölkerung betroffen (nicht allein Adolf Hitler); Vinnai verlässt den psychoanalytischen Diskurs und äußert sich zu sozialpsychologischen Fragen, etwa dazu, wie Hitlers Traumatisierung in sein politisches Weltbild eingegangen ist und warum er damit Menschenmassen faszinieren konnte. Isolierte Positionen Thesen wie die, dass Hitlers Persönlichkeit und sein Verhalten Züge einer histrionischen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung oder von Schizophrenie aufgewiesen hätten, sind in der Gemeinschaft der Psychohistoriker nicht unumstritten, finden dort aber auch viel Übereinstimmung. Dies gilt nicht für die nachfolgend genannten Autoren, die mit ihren Diagnosen weitgehend allein dastehen. Neuropsychologische Diagnose: Colin Martindale, Nancy Hasenfus, Dwight Hines (1976) Die Psychiater Colin Martindale, Nancy Hasenfus und Dwight Hines (University of Maine) vermuteten in einem 1976 veröffentlichten Aufsatz, dass Hitler an einer Unterfunktion der linken Hirnhemisphäre gelitten habe, und berufen sich dabei auf das Zittern seiner linken Gliedmaßen, seine Tendenz zu nach links gewandten Augenbewegungen und das Fehlen des linken Hoden (siehe dazu auch: Adolf Hitlers Monorchie). Als Hinweise darauf, dass Hitlers Verhalten von der rechten Hirnhemisphäre dominiert gewesen sei, werten sie etwa seine Neigung zum Irrationalen, seine akustischen Halluzinationen, seine Hypochondrie und seine unkontrollierten Wutausbrüche. Auch die beiden grundlegenden Elemente seiner politischen Weltanschauung – die Lebensraum-Ideologie und der Antisemitismus – können nach Überzeugung der Autoren als Folge einer Dominanz der rechten Hirnhälfte beschrieben werden. Schizotypische Persönlichkeitsstörung: Robert G. L. Waite (1977) Der amerikanische Historiker Robert G. L. Waite (Williams College), der sich bereits seit 1949 um eine interdisziplinäre Erforschung des Nationalsozialismus bemühte, bei der sowohl geschichtswissenschaftliche als auch psychoanalytische Methoden herangezogen werden, veröffentlichte 1977 seine Studie The Psychopathic God: Adolf Hitler, in der er davon ausging, dass Hitlers Karriere ohne eine Berücksichtigung seiner pathologischen Persönlichkeit nicht verstanden werden könne. Waite trug darin die These vor, dass Hitler an einer sogenannten „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ gelitten habe und verweist dabei unter anderem auf Hitlers Ödipuskomplex, sein infantiles Phantasieren, seine sprunghafte Widersprüchlichkeit und seine angebliche Koprophilie und Urophilie. Der Terminus „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ entsprach bis zum Ende der 1970er Jahre noch nicht seiner heutigen Bedeutung, sondern bezeichnete eine Störung im Grenzbereich von Neurose und Schizophrenie; Gregory Zilboorg hat dafür den Ausdruck „ambulante Schizophrenie“ geprägt. Waites Auffassung entspricht zum Teil der des Wiener Psychiaters und Buchenwald-Überlebenden Ernest A. Rappaport, der Hitler bereits 1975 als „ambulanten Schizophrenen“ bezeichnet hatte. Dangerous Leader Disorder: John D. Mayer (1993) Der amerikanische Persönlichkeitspsychologe John D. Mayer (University of New Hampshire) veröffentlichte 1993 einen Aufsatz, in dem er für zerstörerische Persönlichkeiten wie Hitler eine eigene psychiatrische Kategorie anregte: ein Dangerous Leader Disorder (DLD; deutsch etwa: „Störung gefährlicher Führer“). Mayer nannte drei Gruppen von symptomatischen Verhaltenseigentümlichkeiten: 1. Gleichgültigkeit (zeigt sich etwa als Mord an Gegnern, Familienangehörigen, Staatsbürgern oder als Völkermord); 2. Intoleranz (zeigt sich etwa als Betreiben von Pressezensur, einer Geheimpolizei oder als Duldung von Folter); 3. Selbstüberhöhung (zeigt sich etwa als Selbsteinschätzung als „Einiger“ eines Volkes, als Aufrüstung oder Überschätzung der eigenen militärischen Macht, als Identifikation mit Religion oder Nationalismus oder als Verkündigung eines „großen Plans“). Mayer verglich Hitler mit Stalin und Saddam Hussein, und erklärtes Ziel seines psychiatrischen Kategorisierungsversuches war es, der internationalen Gemeinschaft ein diagnostisches Instrumentarium in die Hand zu geben, das es ihr erleichtern würde, gefährliche Führerpersönlichkeiten in gegenseitigem Konsens als solche zu erkennen und gegen sie vorzugehen. Bipolare Störung: Jablow Hershman, Julian Lieb (1994) Die Schriftstellerin Jablow Hershman und der Psychiater Julian Lieb veröffentlichten 1994 ihr gemeinsames Buch A Brotherhood of Tyrants, in dem sie auf der Grundlage bekannter biografischer Literatur die These entwickelten, dass Hitler – ebenso wie Napoleon Bonaparte und Stalin – nicht nur manisch-depressiv gewesen sei, sondern dass es gerade diese Störung gewesen sei, die ihn erst in die Politik getrieben und dann zum Diktator gemacht habe. Während viele manisch Depressive in der Psychiatrie enden, treibe dieselbe Störung andere Menschen an, politische Macht zu suchen. Sobald dies gelinge, zeigen die Betroffenen Merkmale psychotischer Tyrannei, wie übertriebenes Selbstbewusstsein und Größenwahn. Asperger-Syndrom: Michael Fitzgerald (2004) Der irische Professor für Kinderpsychiatrie, Michael Fitzgerald, der im Rahmen seiner Autismusstudien seit 1991 eine Fülle von Pathographien herausragender historischer Persönlichkeiten veröffentlicht hat, stuft Adolf Hitler in seinem 2004 veröffentlichten Sammelwerk Autism and creativity als „autistischen Psychopathen“ ein. Als „autistische Psychopathie“ bezeichnete der österreichische Arzt Hans Asperger 1944 das später nach ihm benannte, dem frühkindlichen Autismus verwandte Asperger-Syndrom; mit „Psychopathie“ im Sinne einer antisozialen Persönlichkeitsstörung hat dieses nichts zu tun. Fitzgerald hält viele von Hitlers überlieferten Zügen für ausgesprochen autistisch, besonders seine vielfältigen Obsessionen, seinen starrenden, leblosen Blick, seine soziale Unbeholfenheit, sein geringes Interesse an Frauen, seinen Mangel an persönlichen Freundschaften und seine Neigung zum monologischen Reden, die mit einer Unfähigkeit zu echten Gesprächen verbunden gewesen sei. Gegenpositionen Einige Autoren haben Hitler als zynischen Manipulator oder als Fanatiker beschrieben, aber bestritten, dass er ernsthaft geistig gestört gewesen sei; darunter die britischen Historiker Alan Bullock, Hugh Trevor-Roper und Alan J. P. Taylor, und in jüngerer Zeit auch der Psychiater Manfred Lütz. Der amerikanische Psychologe Glenn D. Walters schrieb 2000: „Vieles in der Debatte über Hitlers langfristigen geistigen Gesundheitszustand ist wahrscheinlich fraglich, denn selbst wenn er an erheblichen psychiatrischen Problemen gelitten hätte, so erlangte er die höchste Macht in Deutschland eher trotz dieser Schwierigkeiten als durch sie.“ Erik H. Erikson (1950) Der Psychoanalytiker und Entwicklungspsychologe Erik H. Erikson hat Adolf Hitler ein Kapitel in seinem Buch Kindheit und Gesellschaft gewidmet. Obwohl er in Hitlers Selbstzeugnissen Hinweise auf einen nicht befriedigend gelösten Ödipuskonflikt entdeckt und Hitler als „histrionischen und hysterischen Abenteurer“ bezeichnet, hebt er hervor, dass Hitler ein solcher Schauspieler gewesen sei, dass seine Selbstdarstellung mit gewöhnlichen diagnostischen Mitteln nicht erfasst werden könne. Zwar habe Hitler möglicherweise eine gewisse Psychopathologie aufgewiesen, er sei mit dieser aber äußerst kontrolliert umgegangen und habe sie gezielt eingesetzt. Terry L. Brink (1974) Der Adler-Schüler Terry L. Brink veröffentlichte 1975 einen Aufsatz The case of Hitler, in dem er ebenfalls zu dem Ergebnis gelangte, dass nach einer gewissenhaften Auswertung aller Zeitzeugnisse für eine psychische Störung Hitlers keine ausreichende Beweisgrundlage bestehe. Zwar seien viele von Hitlers Verhaltensweisen als Versuche zu verstehen, eine schwierige Kindheit zu überwinden. Dennoch seien viele der Dokumente und Aussagen, aus denen Schlussfolgerungen auf eine geistige Störung Hitlers gezogen worden sind, unglaubwürdig. Zu stark berücksichtigt worden sei zum Beispiel die alliierte Propaganda sowie Erfindungen von Personen, die sich von Hitler aus persönlichen Motiven heraus zu distanzieren versucht haben. Fritz Redlich (1998) Eine der umfassendsten Hitler-Pathographien stammt von dem Neurologen und Psychiater Fritz Redlich. Redlich, der 1938 aus Österreich in die USA emigrierte, gilt als einer der Begründer der amerikanischen Sozialpsychiatrie. In seinem 1998 veröffentlichten Alterswerk Hitler: Diagnosis of a Destructive Prophet, an dem er 13 Jahre lang arbeitete, gelangt Redlich zu der Überzeugung, dass Hitler zwar genug Paranoia und Abwehrmechanismen gezeigt habe, um „ein psychiatrisches Lehrbuch damit zu füllen“, dass er wahrscheinlich aber nicht psychisch gestört gewesen sei. Seine paranoiden Wahnvorstellungen „könnten als Symptome einer geistigen Störung gesehen werden, der größte Teil der Persönlichkeit funktionierte aber normal“. Hitler habe „gewusst, was er tat, und er tat es mit Stolz und Begeisterung“. Hans-Joachim Neumann, Henrik Eberle (2009) Nach zweijährigem Studium u. a. der Tagebücher von Theo Morell veröffentlichten der Mediziner Hans-Joachim Neumann und der Historiker Henrik Eberle 2009 ihr gemeinsames Buch War Hitler krank?, in dem sie zu dem Schluss kommen: „Für eine medizinisch objektivierbare Geisteskrankheit Hitlers gibt es keine Anzeichen“. Literatur Übersichtsliteratur Jan Armbruster: Die Behandlung Adolf Hitlers im Lazarett Pasewalk 1918: Historische Mythenbildung durch einseitige bzw. spekulative Pathographie (PDF-Datei; 776 kB). In: Journal für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie 10, 2009, Heft 4, S. 18–22. José Brunner: Humanizing Hitler – Psychohistory and the Making of a Monster. In: Moshe Zuckermann (Hrsg.): Geschichte und Psychoanalyse, Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte Bd. 32, Göttingen 2004, S. 148–172. Hans W. Gatzke: Hitler and Psychohistory. In: American Historical Review. Bd. 78, 1973, S. 394 ff. (kritisch). Thomas Kornbichler: Adolf-Hitler-Psychogramme. Frankfurt am Main, 1994, ISBN 3-631-47063-0. Wolfgang Michalka: Hitler im Spiegel der Psycho-History. Zu neueren interdisziplinären Deutungsversuchen der Hitler-Forschung , in: Francia, Band 8, 1981, S. 595–611. Ron Rosenbaum: Explaining Hitler: The Search for the Origins of His Evil. Harper Perennial, New York 1999, ISBN 0-06-095339-X. Pasewalk-Episode Gerhard Köpf: Hitlers psychogene Erblindung. Geschichte einer Krankenakte. In: Nervenheilkunde. Bd. 24, 2005, S. 783–790. Christin-Désirée Rudolph: Das Leck der Hitler-Thesen: Eine Psychopathografie. Rudolph, Rheine.2016, ISBN 978-3-00-053332-7. Weitere individuelle psychologische Deutungen Hitlers Anna Lisa Carlotti: Adolf Hitler. Analisi storica della psicobiografie del dittatore. Mailand 1984. Frederic L. Coolidge, Felicia L. Davis, Daniel L. Segal: Understanding Madmen: A SSM-IV Assessment of Adolf Hitler. (PDF-Datei; 206 kB). In: Individual Differences Research. Bd. 5, 2007, S. 30–43. Friedrich W. Doucet: Im Banne des Mythos: Die Psychologie des Dritten Reiches. Bechtle, Esslingen 1979, ISBN 3-7628-0389-7. Marcel Dobberstein: Hitler: Die Anatomie einer destruktiven Seele. Münster 2012. Martin Klüners: Hitler wird Antisemit. Der Versailler Vertrag und die Irrationalität weltanschaulicher Radikalisierung. In: Jahrbuch für psychohistorische Forschung. Bd. 20, 2019, S. 313–334. Anton Neumayr: Hitler: Wahnideen – Krankheiten – Perversionen. Pichler, Wien 2001, ISBN 3-85431-250-4. Johann Recktenwald: Woran hat Adolf Hitler gelitten? Eine neuropsychiatrische Deutung. München 1963. Manfred Koch-Hillebrecht: Homo Hitler. Psychogramm des deutschen Diktators. Goldmann, München 1999, ISBN 3-442-75603-0. Volker Elis Pilgrim: Hitler 1 und Hitler 2 – Doktor Frankensteins Supergau. Osburg, Hamburg 2019, ISBN 978-3-95510-184-8. Einzelnachweise und Anmerkungen Hitler-Rezeption Psychopathologie Geschichte der Psychiatrie Adolf Hitler
5009737
https://de.wikipedia.org/wiki/St%C3%A4dtische%20Stra%C3%9Fenbahn%20C%C3%B6penick
Städtische Straßenbahn Cöpenick
Die Städtische Straßenbahn Cöpenick (SSC) war ein Straßenbahnbetrieb in der damals noch selbstständigen Stadt Cöpenick. 1882 als Cöpenicker Pferde-Eisenbahn (CPfE) gegründet, wurde der Betrieb mit der Elektrifizierung 1903 umbenannt. Dem Ankauf der Friedrichshagener Straßenbahn im Jahr 1906 folgten in den Jahren 1907 bis 1912 Verlängerungen in die Gemeinden Mahlsdorf, Grünau und Adlershof. 1920 ging die SSC im Zuge des Groß-Berlin-Gesetzes in der Berliner Straßenbahn (BSt) auf, die bis 1925 einen Gleisanschluss an das übrige Straßenbahnnetz herstellte. Das ehemals von der Cöpenicker Straßenbahn betriebene Netz bildet zusammen mit der Schmöckwitz–Grünauer Uferbahn sowie der 1993 stillgelegten Straßenbahn Adlershof–Altglienicke das Teilnetz Köpenick innerhalb des Berliner Straßenbahnnetzes. Der Teilnetzcharakter kommt unter anderem durch die Liniennummern im 60er Bereich, bis 1993 vor allem im 80er Bereich, zum Ausdruck. Bis auf wenige kurze Abschnitte werden zudem alle ehemals von der SSC befahrenen Strecken nach wie vor bedient. Geschichte Anfänge als Pferdebahn Cöpenick (ab 30. Dezember 1930 Köpenick geschrieben) erhielt 1842 mit Eröffnung der Strecke Berlin–Frankfurt (Oder) der Berlin-Frankfurter Eisenbahn-Gesellschaft seinen ersten Bahnhof. Der Bahnhof Cöpenick lag fast zwei Kilometer außerhalb der am Zusammenfluss von Spree und Dahme gelegenen Stadt an einem Verbindungsweg nach Mahlsdorf. Entlang des Weges, der späteren Bahnhofstraße, entstand in der Folgezeit die Dammvorstadt. 1866 eröffnete die Berlin-Görlitzer Eisenbahn-Gesellschaft die an Adlershof und Grünau vorbeiführende Strecke Berlin–Cottbus–Görlitz, 1873 wurden die Wäscherei Spindler in die Nähe der Köllnischen Vorstadt und die damit verbundene Siedlung Spindlersfeld angelegt. Zwischen der Stadt und den Bahnhöfen Cöpenick und Adlershof entstand somit ein Verkehrsbedürfnis, das zunächst mit Pferdeomnibussen bedient wurde. Die Abfahrtszeiten der Fuhrwerke richteten sich nach denen der Eisenbahn. Während die Verbindung vom Schloßplatz nach Adlershof als unzuverlässig beschrieben wurde, bildete die Verbindung zum Bahnhof Cöpenick die Grundlage für die spätere Pferdebahn. Der Vorortverkehr auf der Strecke von Berlin nach Cöpenick nahm so sehr zu, dass die Preußischen Staatsbahnen ab 1876 zusätzliche Vorortzüge zwischen beiden Städten verkehren ließen. Unter den ersten Planungen für eine Straßenbahn in Cöpenick befand sich ein Projekt, das eine Pferdebahn bis zum Molkenmarkt in Berlin mit einer Gesamtlänge von rund 18 Kilometern vorsah. Die für Pferdebahnen enorme Länge wie auch die zu erwartenden hohen Kosten führten dazu, dass das Projekt wieder fallengelassen wurde. 1882 entschied sich die Stadt zur Anlage einer Pferdebahn auf der 1,8 Kilometer langen Strecke vom Schloßplatz zum Bahnhof Cöpenick als Ersatz für den bestehenden Omnibus. Den Bau übernahm die Stadt selbst, die benötigten Wagen übernahm die Cöpenicker Pferde-Eisenbahn gebraucht von der Neuen Berliner Pferdebahn (NBPf) und der Großen Berliner Pferde-Eisenbahn (GBPfE); die Gesamtkosten lagen bei 32.187 Mark (umgerechnet und inflationsbereinigt ca. Euro). Den Betrieb auf der Pferdebahn verpachtete die Stadt zunächst an den Fuhrunternehmer Oskar Weber, ab 1884 übernahm der Fuhrunternehmer August Neuendorf gegen eine jährliche Gebühr in Höhe von 1500 Mark den Betrieb. Am 18. Oktober 1882 wurde die Cöpenicker Pferdebahn eröffnet. Für die Strecke vom Bahnhof am heutigen Elcknerplatz über die noch hölzerne Dammbrücke bis zum Schloßplatz benötigte die Bahn 17 Minuten. Die Abfahrtszeiten richteten sich wie schon zuvor beim Omnibus nach denen der Vorortzüge, 16 Fahrten führte die Cöpenicker Pferde-Eisenbahn täglich durch. Der Ersatz der Dammbrücke durch eine steinerne Konstruktion 1892 ermöglichte ein Verdichten des Fahrplanangebots auf 31 Fahrten pro Tag, da die Wartezeiten vor der alten Zugbrücke nun entfielen. 1895 wurde daher die Strecke zweigleisig ausgebaut. Im gleichen Jahr überließ die Stadt die Betriebsführung der Bahn der Firma Vering & Waechter, vermutlich verpachtete sie diese weiter an Neuendorf. Bis 1902 stieg die Anzahl der täglichen Fahrten auf 52 an. Elektrifizierung und erster Netzausbau Der steigende Verkehr auf der Bahn führte die Pferdebahn an ihre Belastungsgrenze, so dass zur Jahrhundertwende Forderungen nach der Elektrifizierung aufkamen. Vor allem die Eröffnung der von den Berliner Ostbahnen betriebenen Linie I vom Bahnhof Niederschöneweide-Johannisthal nach Sadowa (in Höhe der heutigen Alten Försterei) an der Grenze zu Cöpenick am 15. Dezember 1901 soll letztlich zum Elektrifizierungsbeschluss geführt haben. Die vorhandene Strecke wurde um rund zwei Kilometer vom Schloßplatz über die Grünstraße, Kietzer Straße und Müggelheimer Straße bis zur Marienstraße (heute Wendenschloßstraße) verlängert, wo die Stadt einen neuen Betriebshof errichten ließ. Die elektrische Ausrüstung übernahm die Allgemeine Electrizitäts-Gesellschaft (AEG), die die Bahn für den Oberleitungsbetrieb mit Lyrabügeln ausrüstete. Mit der Eröffnung des elektrischen Betriebs am 11. August 1903 erfolgte die Umbenennung in Städtische Straßenbahn Cöpenick. Da die Stadt auch die Betriebsführung übernahm, richtete der Magistrat von Cöpenick hierfür eine Straßenbahnkommission ein. Bis Ende 1903 folgten zwei weitere Streckeneröffnungen. Am 2. Oktober 1903 gingen eine Stichstrecke vom Schloßplatz über Lange Brücke, Köllnischer Platz und Berliner Straße zum Bahnhof Spindlersfeld sowie vom Betriebshof über die Marienstraße zum Ortsrand von Wendenschloß in Höhe der Eichhornstraße (heute Lienhardweg) in Betrieb. Letztere wurde am 28. Dezember 1903 entlang der Rückertstraße (heute Wendenschloßstraße) zur Schillerstraße (heute Ekhofstraße) verlängert. Das Netz der Cöpenicker Straßenbahn vergrößerte sich damit auf eine Streckenlänge von 6,85 Kilometern. Es verkehrten zunächst drei Linien, deren Kennzeichnung mittels farbiger Signaltafeln erfolgte. Treffpunkt aller Linien war der Schloßplatz. Am 4. Dezember 1904 verlängerten die Berliner Ostbahnen ihre Linie I um wenige hundert Meter bis zur Kreuzung Bahnhofstraße Ecke Lindenstraße. Eine Gleisverbindung zur Cöpenicker Straßenbahn bestand nicht. Anschluss nach Friedrichshagen und zweiter Netzausbau 1906 erwarb die Stadt Cöpenick die 1891 eröffnete Pferdebahn der Gemeinde Friedrichshagen. Bis zum Ende des Jahres erfolgte die Elektrifizierung und Umspurung der Bahn auf Normalspur sowie die Verbindung beider Netze. Die neue Verbindungsstrecke begann an der Kreuzung Bahnhofstraße Ecke Kaiser-Wilhelm-Straße (heute Seelenbinderstraße) und lief weiter über Bellevuestraße und Berliner Straße zum Hirschgarten. Dort verzweigte sie sich in einen Nordast zum Bahnhof Friedrichshagen und einen Südast bis zur Haltestelle Fähre am südlichen Ende der Friedrichstraße (heute Bölschestraße). Am 16. Dezember 1906 nahm die elektrische Straßenbahn in Friedrichshagen ihren Betrieb auf, sechs Tage später ging die Verbindung nach Cöpenick in Betrieb. Für den Betrieb entrichtete die Stadt Cöpenick jährlich einen Beitrag in Höhe von 2000 Mark (ab 1912 3000 Mark) an die Gemeinde Friedrichshagen. Mit der Ausdehnung nach Friedrichshagen führte die SSC auf ihren Linien Nummern zur Kennzeichnung ein. Die bestehenden drei Linien behielten parallel dazu noch eine Zeit ihre farbigen Signaltafeln. Neu eingerichtet wurden die Linie 4 in Nachfolge der Friedrichshagener Straßenbahn vom Bahnhof Friedrichshagen zum Wasserwerk, die Einsetzlinie 5 vom Bahnhof Friedrichshagen zum Bahnhof Cöpenick sowie die Linien 6 und 7, die vom Betriebshof beziehungsweise Bahnhof Spindlersfeld aus kommend zum Bahnhof Friedrichshagen führten. Mit Ausnahme der Linie 4 wurden die Linien innerhalb von Friedrichshagen als Schleifenfahrt geführt. Die Linie 5 wurde wegen des Parallelverkehrs zu den Vorortzügen 1907 eingestellt. Am 10. Mai 1907 ging die eingleisige Strecke in Verlängerung der Bahnhofstraße ab Bahnhof Cöpenick über die Mahlsdorfer Straße, Cöpenicker Allee (heute Hultschiner Damm), Cöpenicker Straße und Bahnhofstraße (beide heute Hönower Straße) zum Bahnhof Mahlsdorf an der Ostbahn in Betrieb. Das Cöpenicker Stadtparlament beschloss zwar den Bau der Bahn, viele Cöpenicker Bürger verschmähten diese jedoch als „unrentable Wüstenbahn“. Die SSC bediente die 6,7 Kilometer lange Strecke zunächst nicht durchgehend, die Linie 2 wurde vom Bahnhof Cöpenick bis Mahlsdorf-Süd, Hubertus verlängert, von wo aus die Pendellinie 8 den weiteren Abschnitt bediente. Am 1. Oktober 1907 übernahm die Linie 1 die Aufgaben der Linie 8. Die von der Linie 3 gebotene Verbindung zwischen Wendenschloß und Spindlersfeld wurde zur gleichen Zeit mangels Nachfrage auf einen sonntäglichen Stundentakt ausgedünnt; für die Arbeiter des damals größten deutschen Wäschereibetriebes W. Spindler verkehrte tagsüber ein gesonderter Wagen zwischen Spindlersfeld und dem Depot. Ab dem 11. Juli 1909 beschränkte sich der sonntägliche Einsatz der Linie auf die Nachmittage. Am 4. November 1908 ging der Streckenabschnitt vom Köllnischen Platz über die Grünauer Straße zur Cöpenicker Stadtgrenze in Höhe der Pestalozzistraße in Betrieb. Die Strecke wurde am 11. Juni 1909 über die Cöpenicker Straße (heute Regattastraße) und Wilhelmstraße (heute Wassersportallee) zum Bahnhof Grünau (Mark) verlängert. Die Bedienung übernahm die Linie 2. Am 20. Juni um eine kurze Stichstrecke in der Wilhelmstraße bis zur Fähre nach Wendenschloß verlängert. Sonntags fuhr eine Pendellinie zwischen Bahnhof Grünau und der Fähre, für die bis zur Einstellung im August 1914 gesonderte Fahrscheine ausgegeben wurden. Die Endhaltestelle befand sich zunächst auf der südlichen Straßenseite des Adlergestells am Bahnhofsgebäude und wurde am 20. Dezember 1911 in die Wilhelmstraße zurückverlegt. Die alten Anlagen übernahm die im Bau befindliche Schmöckwitz–Grünauer Uferbahn, eine Gleisverbindung zwischen beiden Strecken bestand nicht. Ab dem 1. Juli 1909 verkehrte zusätzlich zwischen Bahnhof Cöpenick und Grünauer Straße eine Verstärkerlinie 8. Den Abschnitt zwischen Mahlsdorf-Süd und Bahnhof Cöpenick übernahm seit dem 15. Juni 1909 eine neu eingerichtete Linie 5 zum Hirschgarten. Bereits am 1. August 1909 wurden beide Linien zur Linie 5 (Mahlsdorf-Süd – Grünauer Straße) vereint. Ab dem 6. April 1912 übernahm die Linie 2 dann die Bedienung nach Mahlsdorf-Süd, die Linie 5 blieb als werktags verkehrende Pendellinie zwischen Bahnhof Cöpenick und Mahlsdorf-Süd bestehen. Auf der Linie 1, die seit 1908 unverändert im Halbstundentakt verkehrte, kam es ab Sommer 1909 zur Einrichtung einer Verstärkerlinie 10 zwischen Bahnhof Cöpenick und dem Depot beziehungsweise Wendenschloß. Im März 1910 führten die SSC erneut farbige Signaltafeln sowie farbige Richtungsschilder ein. Die letzte Streckenverlängerung unter Regie der SSC ging am 29. September 1912 in Betrieb. 1906 schlossen die Stadt Cöpenick und die Gemeinde Adlershof einen Vertrag über den Bau und Betrieb einer Straßenbahn zwischen beiden Orten ab. Da die Bahn auch forstfiskalisches Gebiet berührte, mussten zusätzliche Verhandlungen geführt werden. Die Eröffnung verzögerte sich abermals, da sich die Auslieferung der Schienen verzögerte. Adlershof war drei Jahre vor dem Anschluss nach Cöpenick seit dem 5. Juni 1909 mit einer Linie der Teltower Kreisbahnen mit Altglienicke verbunden. Am 19. Dezember 1912 wurden beide Strecken miteinander verbunden, so dass die Wagen der Teltower Kreisbahnen im Cöpenicker Depot gewartet werden konnten. Die Bedienung übernahm die Linie 5, die werktags bis Mahlsdorf-Süd und sonntags bis zum Bahnhof Cöpenick fuhr. Die Streckenlänge des Cöpenicker Straßenbahnnetzes betrug somit 27,4 Kilometer. Ab dem 1. Oktober 1913 endete jeder zweite Wagen der Linie 2 im Spätverkehr an der Grünauer Straße, diese Wagen führte die SSC als Linie 8. Zweieinhalb Monate später verschwand die Linie wieder aus dem Schema. Zweckverband und Erster Weltkrieg Am 1. April 1912 nahm der Verband Groß-Berlin seine Arbeit auf, infolgedessen gingen die zwischen der Stadt Cöpenick und den umliegenden Gemeinden abgeschlossenen Verträge auf diesen über. Die zu dieser Zeit laufenden Verhandlungen zur Übernahme der Adlershof-Altglienicker Straßenbahn durch die SSC sowie der Verlängerung der Linie I der Berliner Ostbahnen zum Schloßplatz wurden vorerst vom Verband gestoppt. Weitere Vorhaben wie die Verlängerung der Straßenbahn von Altglienicke über Falkenberg zum Bahnhof Grünau mit Anschluss an das Cöpenicker Netz kamen aber über die Planungen hinaus. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges kam es zu ersten Einschränkungen im Linienbetrieb. Die Verkehrsleistung ging zunächst merklich zurück, gleichzeitig sank die Zahl der Beschäftigten; über die Hälfte des SSC-Personals wurde eingezogen. Mit der Ausweitung der Rüstungsproduktion ab 1915 stieg die Nachfrage erneut an. Um den Personalmangel zu beheben stellte die SSC vermehrt Frauen als Schaffner ein. Die Fahrgastzahlen stiegen bis 1917 auf einen Höchststand von annähernd 10,5 Millionen Fahrgästen an. Für das 1913 eröffnete Städtische Krankenhaus Cöpenick ging 1915 eine Betriebsstrecke entlang der Müggelheimer Straße in Betrieb. Der Abschnitt war vermutlich Bestandteil einer von der Stadt geplanten Kleinbahn von Spindlersfeld über Müggelheim und Neu Zittau nach Storkow. Die Beiwagen 21 bis 23 wurden zu Lazarettwagen umgerüstet. Sie dienten bis Kriegsende zur Beförderung Verwundeter und dem Transport von Gepäck. Verschiedene Behörden drängten die Stadt wegen des Personal- und Kohlemangels zur Einschränkung des Betriebs. Mit Ausnahme der 1914 eingestellten Linie 3 und der Verbindung zur Fähre nach Wendenschloß konnten fast sämtliche Strecken nach wie vor bedient werden. Lediglich die Linie 4 zum Wasserwerk war angesichts ihrer kurzen Länge wiederholt von Einsparungen betroffen. Vom 16. bis zum 19. Januar 1918 kam der Verkehr von und nach Friedrichshagen wegen starker Schneefälle und der Vereisung der Strecke zum Erliegen. Während die Linien 6 und 7 nach Behebung der Schäden wieder fuhren, blieb die Linie 4 bis zum 6. Februar 1918 wegen Kohlemangels eingestellt. Übernahme durch die Berliner Straßenbahn 1918 schlossen der Verband Groß-Berlin und die Stadt Cöpenick einen Vertrag ab, der dem Verband den Erwerb der Straßenbahn zusicherte. Die Stadt ihrerseits verpflichtete sich, die eingleisigen Strecken bei etwaigem Bedarf zweigleisig auszubauen. Am 1. Oktober 1920 trat das am 27. April vom Preußischen Landtag beschlossene Groß-Berlin-Gesetz in Kraft. Die Stadt Cöpenick, die mit den umliegenden Gemeinden nach Berlin eingemeindet wurde, bildete nun den Mittelpunkt des neuen Verwaltungsbezirks Cöpenick. Mahlsdorf kam als Ortsteil zum Bezirk Lichtenberg. Die Städtische Straßenbahn ging damit in den Besitz der Stadt Berlin über und wurde im Dezember 1920 von der Berliner Straßenbahn übernommen. Die Liniennummern wurden bis zum 1. Juli 1921 beibehalten, auf den Fahrscheinen war zur Unterscheidung die Bezeichnung Cöp 1, Cöp 2 etc. angegeben. Anstelle der Linie 1 trat die Linie 183, aus der 2 wurde die 86, die 4 verkehrte weiter als Linie 85 und die Linien 5 bis 7 wurden zur Linie 84 vereint, mit Laufweg von Bahnhof Friedrichshagen über Bahnhof Adlershof nach Altglienicke Kirche, unter Einbeziehung der Linie der ehemaligen Teltower Kreisbahnen. Die zu dieser Zeit voranschreitende Inflation führte zur drastischen Steigerung sowohl der Fahrpreise als auch der Kosten. Die Berliner Straßenbahn erwog daher im Oktober 1922 den Betrieb in Cöpenick sowie in weiteren Vororten komplett einzustellen. Am 1. Dezember 1922 erhielten die Linien 183 und‌184 die Nummern 83 beziehungsweise 84, die Linie 85 wurde am gleichen Tag eingestellt. Der Streckenast zum Wasserwerk Friedrichshagen blieb bis 1923 ohne Verkehr. Weitere Netzentwicklung Bis etwa 1922 wurde der Betrieb auf Oberleitung mit Rollenstromabnehmern umgestellt, um das System dem der früheren Großen Berliner Straßenbahn anzugleichen, deren Strecken den Großteil des Berliner Straßenbahnnetzes ausmachten. Ab dem 5. März 1925 fuhr die Linie‌ 87 ab Bahnhof Cöpenick regulär bis zum Krankenhaus Cöpenick. Am 31. Mai 1925 erfolgte die Verknüpfung mit dem übrigen Berliner Straßenbahnnetz und der Zusammenschluss mit dem ebenfalls als Linie 87 bezeichneten westlichen Linienteil bis zur Kreuzung Behrenstraße Ecke Markgrafenstraße im Bezirk Mitte. Am Bahnhof Grünau entstand im gleichen Jahr eine Gleisverbindung zur Schmöckwitz-Grünauer Uferbahn. Die Berliner Straßenbahn vereinigte die Linie 86 mit der Anschlusslinie 186 nach Schmöckwitz am 15. Mai 1926. Zur Entlastung des eingleisigen Abschnitts in der Grünstraße zwischen Schloßplatz und Kietzer Straße ging etwa zu dieser Zeit eine Umfahrung über die nördliche Kietzer Straße und Kirchstraße zur Schloßstraße (heute Alt-Köpenick) in Betrieb. Die Linien in Richtung Lindenstraße nutzten fortan diesen Streckenabschnitt, die Linien zum Schloßplatz nahmen weiterhin die alte Strecke über die Schloßstraße. Das zweite Gleis in der Schloßstraße blieb zunächst noch bestehen und wurde später ausgebaut. Zum Abschluss der Streckenneubauten entstand die Straßenbahn vom Bahnhof Friedrichshagen nach Rahnsdorf. Weitere Projekte, darunter die Verlängerung vom Wasserwerk Friedrichshagen über Rahnsdorf nach Erkner, vom Krankenhaus nach Müggelheim als auch die Übernahme der seit 1910 bestehenden Straßenbahn Schöneiche–Kalkberge kamen nicht zustande. Die jüngste Erweiterung im Raum Köpenick war die Verlängerung der Straßenbahn vom S-Bahnhof Adlershof in die Wissenschaftsstadt Adlershof (Karl-Ziegler-Straße) am 4. September 2011, die Fortsetzung in Richtung S-Bahnhof Schöneweide ist darüber hinaus bis 2016/17 geplant. Eine weitere Planung sieht die Verlegung der Straßenbahn aus dem Müggelheimer Damm in die Pablo-Neruda-Straße vor, dadurch soll das Salvador-Allende-Viertel als auch das Krankenhaus einen besseren Anschluss an den Öffentlichen Personennahverkehr erhalten. Die Anwohner stehen einer Erweiterung kritisch gegenüber, da sie eine höhere Lärmbelästigung durch die Straßenbahn befürchten. Der Berliner Senat stoppte das Vorhaben im Juli 2001. Die meisten der Köpenicker Linien fahren heute noch auf ihren angestammten Routen, wenngleich unter einer anderen Liniennummer. Seit der Netzreform im Mai 1993 haben die Linien Nummern im 60er Bereich erhalten, die letzte größere Umstellung erfolgte im Dezember 2004. Die Linie 62, ehemals 83 verkehrt so seit 1908 zwischen Wendenschloß und Bahnhof Mahlsdorf, sie ist somit die Berliner Straßenbahnlinie mit dem ältesten unveränderten Linienlauf. Infrastruktur Streckennetz Entsprechend der ländlichen Besiedlung des Straßenbahneinzugsgebietes waren die Strecken vorwiegend eingleisig. Sie verliefen entweder gepflastert im Straßenplanum oder, wo es der Platz erlaubte, in Straßenrandlage. Auf einigen Außenstrecken, etwa nach Mahlsdorf, waren die genutzten Wege noch unbefestigt. Die 1882 eröffnete Pferdebahnstrecke war anfangs eingleisig und erhielt 1895 ihr zweites Gleis. Die 1903 eröffneten Strecken nach Wendenschloß und Spindlersfeld waren mit Ausnahme eines kurzen Abschnittes in der Grünstraße und Kietzer Straße von Beginn an zweigleisig. Gleiches galt für die 1906 eröffneten Verbindungsstrecken nach Friedrichshagen. Die Straßenbahn in der Friedrichshagener Friedrichstraße war bis 1894 eingleisig, die im Folgejahr in Betrieb genommene Verlängerung zum Wasserwerk ist es bis heute. Die Strecke nach Mahlsdorf hatte zur Eröffnung vier Ausweichen, 1912 baute die SSC den Abschnitt bis Hubertus auf zwei Gleise aus. Etwa zu dieser Zeit ging die heute noch bestehende Wendeschleife Mahlsdorf-Süd in Betrieb. Die Grünauer Strecke war ebenso überwiegend eingleisig, ein längerer zweigleisiger Abschnitt befand sich hier in der Wilhelmstraße. 1975 baute die BVB die Strecke durchgehend zweigleisig aus; in der Kurve zwischen Wassersportallee und Regattastraße entstand wegen der ungünstigen Kurvenradien eine Gleisverschlingung, die 1989 beseitigt wurde. Die Strecke nach Adlershof weist einen längeren eingleisigen Abschnitt innerhalb der heutigen Dörpfeldstraße aus, sie ist ansonsten zweigleisig. Die Gleise liegen im Nordostabschnitt der Dörpfeldstraße zwischen Waldstraße und der Grenze zu Köpenick beidseitig der Fahrbahn. Die Straßenbahn zum Krankenhaus war von Beginn an zweigleisig. Die 1929 eröffnete Straßenbahnstrecke nach Rahnsdorf erhielt 1985 das zweite Gleis. Zur Entlastung des eingleisigen Abschnittes in der Grünstraße ging um 1925 die Altstadtschleife in Betrieb, Züge von der Bahnhofstraße zum Schloßplatz nutzen seitdem die alte Führung der Gleise am Rathaus Köpenick vorbei, Züge der Gegenrichtung die neuen Gleise über Kirchstraße. Nördlich der St.-Laurentius-Stadtkirche sind beide Gleise miteinander verbunden, so dass ein Linienbetrieb in allen Richtungen erfolgen könnte. In der Grünstraße ergab sich wegen der beengten Platzverhältnisse eine ungewöhnliche Gleisanordnung, bei der das in Richtung Müggelheimer Straße führende Gleis zunächst links abzweigt und dann rechts abbiegt, das Gleis in Richtung Kirchstraße entsprechend umgekehrt. Am 28. November 2000 ging ein Streckengleis in der Müggelheimer Straße in Betrieb, deren Ausbau in den 1980er Jahren bis zum Schloßplatz erfolgte. Das Streckengleis in der Grünstraße ging am gleichen Tag außer Betrieb. Mittelfristig ist der Einbau eines zweiten Gleises in Gegenrichtung vorgesehen, wodurch ein direkter Verkehr von der Müggelheimer Straße in Richtung Adlershof und Grünau ohne Umweg durch die Köpenicker Altstadt ermöglicht würde. Für die an den Bahnhöfen Köpenick beziehungsweise Spindlersfeld endenden Wagen bestanden Wendeanlagen in der Dahlwitzer Straße (heute Stellingdamm) sowie in der heutigen Ernst-Grube-Straße. Letztere ließ die Berliner Straßenbahn nach 1920 ausbauen, die Kehranlage im Stellingdamm baute die BVG-Ost im September 1960 zu einer Blockumfahrung entlang der Hirtestraße zur Mahlsdorfer Straße aus. Betriebshof Pferdebahn Das erste Depot der Cöpenicker Straßenbahn lag unweit des Schloßplatzes in der Rudower Straße unmittelbar vor der Langen Brücke. Die zweigleisige Halle war in Holzfachwerkbauweise errichtet. Die Cöpenicker Straßenbahn nutzte den Bau bis kurz vor Abschluss der Elektrifizierungsarbeiten 1903, da die Strecke nach Spindlersfeld die Zufahrt blockierte. Die Pferdebahnwagen waren in diesem Zeitraum in der Grünstraße abgestellt. Nach 1903 erwarb das Krankenhaus Cöpenick das Gebäude und veranlasste die Umsetzung des Gebäudes in die Rudower Straße. Nach dem Umzug des Krankenhauses in die Kämmereiheide im Jahr 1913 befand sich auf dem Grundstück eine Mädchenschule. Die Pferde waren beim jeweiligen Pächter untergebracht. Elektrischer Betrieb Für den elektrischen Betrieb entstand 1903 in der Marienstraße ein neuer Straßenbahnhof nach Plänen von Hugo Kinzer. Das Gelände an der Marienstraße 50–52 (heute Wendenschloßstraße 138) befand sich seit 1877 im Besitz der Stadt und gehörte zuvor der Charité. In Betrieb ging zunächst eine viergleisige Wagenhalle für 20 Wagen, darauf folgte 1904 ein Verwaltungsbau und 1906 eine zweigleisige Halle im hinteren Teil des Betriebshofes. 1910 wurde neben dieser eine große zweischiffige Wagenhalle mit zwölf Gleisen für 80 Wagen errichtet und die alte Wagenhalle diente fortan als Montagehalle. Mit der Übernahme durch die BSt wurde das Depot als Hof 26 weitergeführt, ab 1935 führte die BVG das noch heute gültige Kürzel Köp für den Betriebshof ein. In den 1970er Jahren sollte der Hof zusammen mit dem Betriebshof Nalepastraße geschlossen und dafür ein Ersatz in der Straße An der Wuhlheide errichtet werden, da dort genügend Freiflächen für Erweiterungen bestanden. Mit Errichtung der Neubaugebiete in Hohenschönhausen, Hellersdorf und Marzahn Ende der 1970er bzw. Anfang der 1980er Jahre, kam es jedoch zu einer Verlagerung des Verkehrs in diese Gebiete, wodurch die Pläne zu Gunsten eines Betriebshofes in Marzahn aufgegeben wurden. In den 1990er Jahren erfolgte die denkmalgerechte Sanierung des Baus. Im Betriebshof Köpenick sind nach wie vor die meisten der in Köpenick fahrenden Wagen beheimatet. Stromversorgung und -entnahme Die Cöpenicker Straßenbahn war für den Oberleitungsbetrieb mit Bügelstromabnehmern eingerichtet. Die elektrische Ausrüstung hierfür lieferte die AEG, den nötigen Strom bezog die Bahn aus der Zentrale Oberschöneweide der Berliner Elektrizitätswerke. Der Drehstrom wurde an mehrere Unterwerke verteilt, wo die Umwandlung auf 550 Volt Gleichstrom erfolgte. Ein Unterwerk am Platz des 23. April (Bahnhofstraße Ecke Lindenstraße) ist als Baudenkmal erhalten geblieben. In seinem Erdgeschoss befanden sich zusätzlich eine Wartehalle der Straßenbahn und eine Toilettenanlage, die heute nicht mehr genutzt werden. Die Wartehalle diente um 1990 als Räumlichkeit für die Dispatcher der BVB. Um 1922 wurden die Oberleitungsanlagen für den Betrieb mit Rollenstromabnehmern umgestellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg entschieden sich die Berliner Verkehrs-Betriebe zur erneuten Umrüstung auf Bügelbetrieb (Scherenstromabnehmer). Die Umstellung erfolgte in beiden Stadthälften unabhängig voneinander. In Köpenick zog sich dieser Prozess von Oktober 1951 bis Juni 1955 hin. Tarif Für die Pferdebahn galt ab Eröffnung zunächst ein Einheitstarif von 10 Pfennig für die einfache Fahrt, Kinder zahlten die Hälfte. Der Tarif änderte sich mit der Netzausdehnung 1903 nicht, berechtigte aber zum Umsteigen am Schloßplatz an Werktagen. Nach der Übernahme der Friedrichshagener Straßenbahn gab die SSC Fahrscheine zum Preis von 15 Pfennig (Kinder 10 Pfennig) aus, die für die Fahrt zwischen Cöpenick und Friedrichshagen galten. Innerhalb der Orte blieb der alte Preis bestehen. Für die Verlängerungen nach Mahlsdorf und Grünau galten ebenfalls erhöhte Tarife. Für die Linie vom Bahnhof Grünau zur Fähre gab die SSC besondere Fahrscheine zum Preis von 10 Pfennig (Kinder 5 Pfennig), die auch zur Benutzung der Fähre nach Wendenschloß berechtigten. Am 3. Januar 1910 trat eine größere Tarifänderung in Kraft. Die Umsteigeberechtigung wurde neben dem Schloßplatz auf die Haltestellen Bahnhof Cöpenick, Bahnhofstraße Ecke Kaiser-Wilhelm-Straße, Friedrichstraße Ecke Seestraße und Mahlsdorf-Süd ausgedehnt, war fortan aber nur gegen einen Aufpreis von 5 Pfennig und ausschließlich an Werktagen erlaubt. Gleichzeitig führte die SSC Monatskarten zu 5,00 Mark (bei maximal zwei Fahrten pro Tag zu 10 Pfennig), Wochenkarten zu 75 Pfennig (bei maximal zwei Fahrten pro Tag zu 10 Pfennig) und Wochenkarten zu 90 Pfennig (bei maximal zwei Fahrten pro Tag auf den übrigen Strecken) ein. Vermutlich mit Beginn des Ersten Weltkrieges kam ein Einheitstarif von 10 Pfennig zur Anwendung. Er wurde am 1. Juli 1918 auf 15 Pfennig erhöht, ab dem 7. September 1919 lag der Fahrpreis bei 25 Pfennig, ab dem 21. Mai 1920 dann bei 50 Pfennig. Nach der Übernahme durch die Berliner Straßenbahn blieb auf den Cöpenicker Linien ebenso wie auf der vormaligen Städtischen Straßenbahn Spandau und der Straßenbahn der Gemeinde Heiligensee an der Havel ein gesonderter Vororttarif bestehen. Die Berliner Straßenbahn gab ab dem 15. Januar 1921 einen Übergangsfahrschein zum Preis von 1,20 Mark aus, der am 3. März 1921 auf 1,50 Mark erhöht wurde. Der Einheitstarif lag zur selben Zeit bei mittlerweile 80 Pfennig, Umsteiger zahlten innerhalb Cöpenicks 1,00 Mark. Der Umsteigefahrschein kostete ab dem 1. Dezember 1921 1,50 Mark, Fahrkarten für die einfache Fahrt innerhalb Cöpenicks gab die BSt hingegen nicht mehr aus. An ihre Stelle traten Sammelkarten für acht Fahrten zum Gesamtpreis von 10,00 Mark, ab dem 4. Februar 1922 zum Preis von 14,00 Mark, am 13. April 1922 lag der Preis bei 22,00 Mark. Ab dem 22. Juni 1922 gab die BSt wieder Einzelfahrscheine für die Vorortbahnen aus, der Fahrpreis lag bei der Einführung bei 3,00 Mark und stieg bis zum 23. September 1922 auf 8,00 Mark an. Die Erhöhungen fanden ab dieser Zeit in immer kürzer werdenden Abständen statt, so dass die BSt bald darauf verzichtete, die Fahrpreise auf den Fahrkarten anzugeben. Einen Monat nach dem Zusammenbruch der Berliner Straßenbahn am 8. September 1923 führte die neue Berliner Straßenbahn-Betriebs-Gesellschaft einen neuen Einheitstarif ein, der Sondertarif wurde gleichzeitig aufgehoben. Fahrzeuge Allgemeines Der Wagenpark der Cöpenicker Straßenbahn setzte sich ausschließlich aus zweiachsigen Fahrzeugen zusammen. Insgesamt kamen 61 Fahrzeuge zum Einsatz, davon sieben Pferdebahnwagen, 32 Triebwagen, 24 Beiwagen sowie ein Arbeitstriebwagen. Drei Pferdebahnwagen wurden 1903 für den elektrischen Betrieb umgerüstet. Die Wagen verfügten über elektrische Bremse und waren über Rundstangen miteinander gekuppelt. Die Wagen erhielten zunächst eine zweifarbige Lackierung in elfenbein mit tannengrünen Seitenwänden unterhalb der Fenster. Mittig an den Seitenwänden sowie an den Wagenenden war die Wagennummer angeschrieben. Darunter war der Schriftzug Cöpenicker Strassenbahn angeschrieben. Ab Februar 1912 wurden die Wagen komplett in elfenbein lackiert. Anstelle der seitlich angebrachten Wagennummer prangte das Stadtwappen Cöpenicks. Der Schriftzug wurde in Städtische Strassenbahn Cöpenick abgeändert. Entwicklung Die Pferdebahnwagen übernahm die CPfE gebraucht von der Neuen Berliner Pferdebahn (NBPf) sowie von der Großen Berliner Pferde-Eisenbahn (GBPfE). Zwei der NBPf-Wagen waren zuvor als Perambulatorwagen für den gemischten Betrieb auf Schiene und Straße im Einsatz. Bis auf einen zweispännigen Decksitzwagen handelte es sich um einspännige Eindecker. Die Wagen 5 bis 7 wurden nach 1903 unter den neuen Nummern 11 bis 13 weitergenutzt. 1903 bestellte die CPfE/SSC zehn dreifenstrige Trieb- sowie zwei achtfenstrige Beiwagen bei der Waggonfabrik Act. Ges. vorm. P. Herbrand & Cie. in Köln-Ehrenfeld. Die Triebwagen hatten Fahrgestelle des Typs Neu-Berolina und ähnelten somit den zur gleichen Zeit von der Großen Berliner Straßenbahn eingesetzten Berolina-Wagen. Die Beiwagen waren als so genannte Sommer-Winter-Wagen mit herausnehmbaren Fensterscheiben konzipiert. Mit dem stetigen Netzausbau wächst auch der Wagenbestand kontinuierlich an. Lieferant war bevorzugt die Waggonfabrik Herbrand, deren dreifenstrige Trieb- und Beiwagen sich wagenbaulich ähnelten. Die Wagen hatten offene Einstiegsplattformen, 1907 erhielt ein Triebwagen nachträglich eine Verglasung. 1912/13 lieferte Lindner in Halle-Ammendorf nochmals acht Trieb- und zwei sechsfenstrige Beiwagen mit geschlossenen Plattformen. Im gleichen Jahr nahm die SSC einen Sprengtriebwagen zur Reinigung der Rillenschienen in Betrieb, der ab 1914 auch auf den unbefestigten Strecken eingesetzt werden konnte. Ein weiter Einzelgänger war Beiwagen 40. Der Metropol-Wagen war 1899 bei Herbrand gebaut worden und bis 1906 bei der Friedrichshagener Straßenbahn im Einsatz. Er wurde als einziger Wagen von der Cöpenicker Straßenbahn übernommen und 1925 ausgemustert. Sämtliche Wagen gingen 1920 in den Bestand der BSt über und erhielten neue Wagennummern. Die Triebwagen liefen zunächst unter den Nummern 4199 bis 4222 weiter, die Beiwagen mit den Nummern 1554 bis 1577. Ein Großteil der Triebwagen wurde während der 1920er Jahre zu Beiwagen umgebaut, die übrigen gingen in den Arbeitswagenbestand über. Bis Anfang der 1930er Jahre waren die meisten Cöpenicker Wagen ausgemustert. Der Saugwagen A62 (ex SSC 57) wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, möglicherweise wurden noch verwendbare Teile des Wagens für den Aufbau des Saugwagens A29II genutzt. Der Arbeitstriebwagen A165 entstammte der 1913 von Lindner gelieferten Serie und war ab 1952 einer von zwei fahrbaren Büchereiwagen der Berliner Verkehrs-Betriebe. Er wurde 1974 außer Dienst gestellt. Fahrzeugübersicht Die nachfolgende Tabelle gibt eine tabellarische Übersicht über die von der CPfE beziehungsweise SSC eingesetzten Fahrzeuge. Soweit vorhanden werden Baujahr, Hersteller, die Wagennummer, Anzahl der Seitenfenster zwischen den Plattformen, die Achsanzahl sowie die Wagennummer bei der BSt angegeben. In der Spalte Bemerkungen werden weitere Informationen sowie der Verbleib der Fahrzeuge angegeben. In der Tabelle werden zuerst Pferdebahnwagen, dann die elektrischen Trieb- und Beiwagen mit aufsteigender Nummerierung aufgelistet. Historischer Triebwagen Von den Fahrzeugen des SSC ist keines erhalten geblieben. Als historisches Fahrzeug des Denkmalpflege-Verein Nahverkehr Berlin ist ein Nachbau des Triebwagen 10 vorhanden, der zuletzt als Arbeitstriebwagen A277 fuhr. Als Spenderwagen diente der Arbeitstriebwagen A277II, ein ehemaliger U3l-Wagen, der Anfang der 1920er Jahre aus einem Berolina-Triebwagen umgebaut wurde. Er hat somit in etwa die gleichen Maße wie der Cöpenicker Triebwagen. Am 21. Juni 1969 wurde er anlässlich der Festwoche „Köpenicker Sommer“ als erster Traditionswagen vorgestellt. Das völlig abweichende Laufgestell der Originalbauart wurde durch hell lackierte Blenden auf beiden Seiten nachgebildet. Der Triebwagen ist fahrfähig und wird bei diversen Sonderfahrten eingesetzt. Literatur Weblinks Streckennetzplan der SSC um 1912 Einzelnachweise Copenick Ehemaliges Verkehrsunternehmen (Berlin) Straßenbahn Berlin Berlin-Köpenick Berlin-Friedrichshagen Berlin-Mahlsdorf Berlin-Grünau Berlin-Adlershof
6424883
https://de.wikipedia.org/wiki/Deus%20Ex%3A%20Human%20Revolution
Deus Ex: Human Revolution
Deus Ex: Human Revolution ist ein Videospiel für Windows, macOS, Xbox 360, PlayStation 3 sowie Wii U und der dritte Titel der Deus-Ex-Serie. Das Action-Rollenspiel mit Stealth- und Shooter-Elementen wurde vom kanadischen Studio Eidos Montréal entwickelt und am 26. August 2011 durch den japanischen Publisher Square Enix in Europa und Nordamerika veröffentlicht. Es handelt sich um eine Vorgeschichte zu Deus Ex und Deus Ex: Invisible War und spielt in einer dystopischen Zukunftsvision des Jahres 2027. Mithilfe hochentwickelter biotechnischer Prothesen und Implantate, sogenannter Augmentierungen, sind die Menschen in der Lage, ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten weit über das natürliche Maß hinaus zu steigern (Idee des Cyborgs). Damit einhergehende gesellschaftliche Debatten, insbesondere über den zunehmenden Zwang zur Selbstoptimierung, gipfeln in gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern dieser neuen Technologie. Innerhalb dieses Szenarios verkörpert der Spieler Adam Jensen, den Sicherheitschef eines führenden Unternehmens der Augmentierungstechnologie, der im Spielverlauf eine globale Verschwörung in Politik- und Wirtschaftskreisen aufdeckt. Am 23. August 2016 erschien die Fortsetzung, Deus Ex: Mankind Divided. Handlung Szenario Deus Ex: Human Revolution spielt im Jahr 2027 und damit 25 Jahre vor den Ereignissen in Deus Ex. Durch große wissenschaftliche Fortschritte wenige Jahre zuvor befinden sich technische Körpermodifikationen, sogenannte Augmentierungen, auf dem Vormarsch. Während die Technologie ursprünglich zahlreichen Menschen dabei half, ihre körperlichen Behinderungen zu überwinden, entwickeln sich Augmentierungen mehr und mehr zu einem Zwang für die körperlich Gesunden. Durch die über das biologische Maß hinaus gesteigerten Fähigkeiten bildet sich zunehmend eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, was zu sozialen Unruhen führt. Nicht zuletzt dadurch kommt die Frage auf, was das Menschsein auszeichnet und wo die Grenzen des Machbaren zu ziehen sind. Erschwert wird die Auseinandersetzung durch den Umstand, dass augmentierte Menschen zeitlebens von der Einnahme teurer Medikamente abhängig sind, die eine Abstoßung ihrer Prothesen verhindern sollen. Das Resultat ist eine stetig größer werdende Unterschicht von verarmten und medikamentenabhängigen Menschen, die in der gesellschaftlichen Entwicklung zunehmend abgehängt werden. Eine Verbesserung dieser Problematik versprechen die neuesten Forschungsergebnisse des in Detroit ansässigen Unternehmens Sarif Industries, einer führenden Firma auf dem Gebiet der Augmentierungtechologie, die einen entscheidenden Durchbruch auf dem Gebiet der von Medikamenten unabhängigen Augmentierung darstellen. Die Hauptperson Adam Jensen ist Sicherheitschef von Sarif Industries. Zu Beginn der Handlung steht das Unternehmen kurz vor der Präsentation seiner Forschungsergebnisse vor dem National Science Board der US-Regierung, das großen Einfluss auf die zukünftige Bewertung der Augmentierungstechnologie hat. Doch noch bevor es dazu kommen kann, wird die Firma Opfer eines brutalen Überfalls von schwer bewaffneten und mit umfangreichen Augmentierungen versehenen Söldnern. Die Forschungseinrichtungen werden zerstört, führende Wissenschaftler und Sarifs Forschungsleiterin Megan Reed, die zugleich Jensens ehemalige Lebensgefährtin ist, anscheinend getötet. Auch Jensen wird lebensgefährlich verletzt und kann nur mithilfe von Sarifs modernster Augmentierungstechnologie am Leben gehalten werden. Erst nach sechsmonatiger Genesungsphase kehrt er in seinen Job zurück. Sein Vorgesetzter David Sarif beauftragt ihn umgehend mit der Suche nach den Verantwortlichen des Anschlags. Handlungsverlauf In seinem ersten Einsatz soll Jensen die Polizei von Detroit gegen eine Gruppe fanatischer Augmentierungsgegner namens Purity First unterstützen, die eine weitere Produktionsstätte von Sarif Industries überfallen und die dortigen Mitarbeiter als Geiseln genommen haben. Sarif hält Purity First für die möglichen Drahtzieher des Überfalls auf die Unternehmenszentrale, doch Jensen erkennt, dass die Augmentierungsgegner selbst von Unbekannten instrumentalisiert wurden. Ähnlich wie in den vorherigen Titeln gerät die Hauptfigur Jensen im weiteren Verlauf des Spiels immer tiefer in ein globales Geflecht aus Verschwörungen verschiedener politischer und wirtschaftlicher Fraktionen, das es für den Spieler zu entwirren gilt. Erschwerend ist hierbei, dass die Vielzahl der beteiligten Interessengruppen bei ihrem Engagement innerhalb des Komplotts stets eigene, mitunter konträre Ziele verfolgen. Alle Fraktionen sind weiterhin bereit, ihre Ziele mit extremen Mitteln durchzusetzen, wodurch keine Unterscheidung in Gut und Böse möglich ist. Im Verlauf des Spiels erkennt Jensen zudem, dass er unwissentlich seit längerem eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Augmentierungstechnologie spielt. Auf den Spuren der augmentierten Söldner stößt Jensen auf der vor Shanghai gelegenen Insel Heng Sha auf Hinweise, die Beteiligungen des global operierenden Sicherheitsunternehmens Belltower und des Sarif-Mitbewerbers Tai Yong Medical an dem Überfall auf Sarif Industries belegen. Von Tai-Yong-Geschäftsführerin Zhao Yun Ru erhält Jensen weiterhin die Information, dass die angeblich getöteten Sarif-Wissenschaftler entführt wurden und seitdem an einem unbekannten Ort gefangen gehalten werden. In Montreal enthüllt Jensen, dass der Nachrichtenkonzern Picus die öffentliche Meinung mithilfe einer mit einem eigenen Bewusstsein ausgestatteten Künstlichen Intelligenz in Gestalt der Nachrichtensprecherin Eliza Cassan gezielt beeinflusst. Zurück in Detroit erfährt Jensen weiterhin von David Sarif, dass der Geheimbund der Illuminaten hinter dem Komplott gegen Sarif Industries steckt. Ziel der Illuminaten ist es, mithilfe der Augmentierungstechnologie größere Kontrolle über die in ihren Augen unmündige Gesellschaft zu erlangen und sie so im Sinne einer aufgeklärten Führungsschicht aus dem Verborgenen heraus zu lenken. Zu ihren prominentesten Vertretern zählt der Politiker William Taggart, Führer der erklärten Augmentierungsgegner von Humanity Front, der zu diesem Zeitpunkt anlässlich einer Protestkundgebung vor dem Sarif-Firmensitz in Detroit verweilt und für eine starke Reglementierung und Kontrolle der Augmentierungstechnologie eintritt. Über Taggarts Vertrauten Isaias Sandoval stößt Jensen auf einen entscheidenden Hinweis über den Verbleib der entführten Sarif-Wissenschaftler. Über eine Spur in Heng Sha gelingt es Jensen schließlich, eine geheime Forschungseinrichtung in Singapur zu infiltrieren, in der die entführten Wissenschaftler festgehalten werden. Auch Jensens ehemalige Lebensgefährtin Megan Reed befindet sich darunter. Von ihr erfährt Jensen zum einen, dass seine DNA Reed die entscheidenden Hinweise für ihre Forschungsarbeiten lieferte. Zum anderen enthüllt sie ihm, dass die Anlage dem renommierten Wissenschaftler Hugh Darrow gehört, dessen Forschungen einst den Durchbruch für die Augmentierungstechnologie bedeuteten. Doch der erklärte Philanthrop Darrows musste mit zunehmendem Abscheu erkennen, wie seine zur Linderung für Notleidende gedachten Forschungen von den Mächtigen dazu verwendet wurden, die restliche Bevölkerung noch stärker kontrollieren zu können und die Menschen so in eine stärker werdende Abhängigkeit zu führen. Dabei droht seinen Befürchtungen nach der vollständige Verlust sämtlicher moralischen Grundlagen. Sein Ziel ist es daher, die von ihm erschaffene Technologie derartig zu diskreditieren, dass sie durch den zu erwartenden Aufstand der Menschen für immer geächtet wird. Ein Baustein in diesem Plan bildet die von Darrows maßgeblich mitkonzipierte Forschungsstation Panchaea im arktischen Ozean, die ursprünglich zur Bekämpfung der globalen Erwärmung errichtet wurde. Während der Einweihungsfeierlichkeiten der Forschungsstation löst Darrows mithilfe des lokalen Supercomputers ein Signal aus, das augmentierte Menschen weltweit in Raserei verfallen lässt. Jensens Aufgabe ist der Vorstoß in den Anlagenkern und die Deaktivierung des Signals. Dort stellt sich ihm Zhao Yun Ru entgegen, die sich mithilfe ihrer Augmentierung mit dem Supercomputer verbunden hat und die so gewonnene Macht über die augmentierten Menschen für eigene Zwecke nutzen will. Im entscheidenden Kampf gelingt es Jensen sie auszuschalten und er wird zum Abschluss des Spiels vor eine Entscheidung hinsichtlich des weiteren Umgangs mit der Augmentierungstechnologie gestellt: Jensen kann Darrows Geständnis hinsichtlich der Augmentierungen und der Rolle der Illuminaten mithilfe Eliza Cassans ausstrahlen lassen und damit offenlegen. Dadurch wird die Öffentlichkeit vor den Gefahren der Technologie gewarnt, was zu ihrer öffentlichen Ächtung führt. Im Sinne Sarifs kann Jensen die Verantwortung für die Störung der Augmentierungen den Augmentierungsgegnern der Humanity Front zuweisen. Damit sichert er eine Weiterentwicklung der Augmentierungstechnologie ohne strenge staatliche Kontrollen. Die Rolle der Illuminaten wird verschwiegen und Jensen kann somit in deren Sinne die Schuld für den Zwischenfall auf die Medikamente der Augmentierten schieben. Dadurch erhalten die Augmentierungsgegner Auftrieb und können eine starke Reglementierung der Technologie durchsetzen. Im Hintergrund nimmt der Einfluss der Illuminaten auf die Gesellschaft zu. Alternativ kann Jensen auf jegliche Bekanntmachung verzichten und die Anlage mitsamt allen Beweisen vernichten. Er überlässt es der Menschheit, sich ihr eigenes Urteil zu bilden, ohne die Filterung durch eine Interessengruppe. Das Spiel endet mit einer Reflexion Jensens über Augmentierungen und wie sich diese auf das Menschsein auswirken. Seine Schlussfolgerungen über die Fähigkeit der Menschheit, eine Lösung für dieses Grunddilemma zu finden, fallen in Abhängigkeit zur vorhergehenden Entscheidung unterschiedlich aus. Im Anschluss an den Abspann des Spiels wird ein Bogen zur Handlung von Deus Ex geknüpft. Der Spieler wird Zeuge eines Gesprächs von Megan Reed mit dem Illuminaten Bob Page, dem Hauptgegenspieler des ersten Teils. Darin erklärt sich Reed bereit, für Page einen Nanit-Virus zu entwickeln (vergleiche das als „Grauer Tod“ bezeichnete Virus in Deus Ex). Daneben gibt es Andeutungen, dass Jensens DNA Grundlage für das D-Projekt wird, aus dem Deus-Ex-Protagonist JC Denton und sein Bruder Paul hervorgehen. Charaktere Die deutsche Sprachsynchronisation entstand unter der Regie von Stephanie Kirchberger und wurde im Hamburger Tonstudio toneworx aufgenommen. Spielprinzip Das Spiel richtet sich ausschließlich an Einzelspieler und kombiniert wie die ersten beiden Deus-Ex-Spiele Elemente eines levelbasierten Ego-Shooters mit Rollenspielaspekten in einem futuristischen Szenario. Der Spieler betrachtet das Geschehen üblicherweise aus der Egoperspektive. Lediglich wenn er seine Figur mithilfe eines implementierten Deckungssystems hinter Kisten oder ähnlichen Sichtblockaden Position einnehmen lässt, zoomt die Kamera in eine Third-Person-Ansicht. Das Spiel ist linear in mehrere Hauptmissionen aufgeteilt. Ziel ist oftmals die Infiltration von Einrichtungen und Beschaffung von Informationen. Die Spielfigur startet dabei von einem als Hub bezeichneten, größeren Stadtbereich wie Detroit oder Heng Sha. Der Spieler kann sich hier zwar beliebig lange aufhalten, um jedoch im Spiel voranzukommen, muss er der Hauptmission folgen. Zum Erreichen des Missionsziels stehen dem Spieler gewöhnlich mehrere unterschiedliche Lösungswege offen. Dazu zählen das gewaltsame Vorgehen mit dem Einsatz von Waffen, heimliches Umgehen der Gegner durch Schleichen oder die Nutzung verschiedener technischer Geräte und Fähigkeiten wie Hacking und das Umprogrammieren/Deaktivieren von Kameras, Selbstschussanlagen oder Robotern. Durch Umgehen und Betäuben von Gegnern lässt sich das Spiel ohne das Töten eines Gegners absolvieren. Eine Ausnahme stellen lediglich die Kämpfe gegen Zwischen- und Endgegner dar, in denen die sonst üblichen Vorgehensweisen nicht unterstützt werden. Sie können ausschließlich durch Waffengewalt gelöst werden und der Spieler hat keinen Einfluss auf ihren Abschluss. Hat der Spieler das aktuelle Hauptmissionsziel erfüllt, folgt zumeist automatisch die Versetzung in das nächste größere Gebiet. Im Spielverlauf führt die Spielfigur Adam Jensen mehrfach ausführliche, vollvertonte Konversationen, bei denen der Spieler oftmals die Wahl zwischen bis zu vier Antwortmöglichkeiten hat. Die Wahl der Formulierung kann dabei den Ausgang des Gesprächs beeinflussen und bestimmt dadurch oftmals über die Handlungsmöglichkeiten des Spielers, wie den Zugang zu bestimmten Informationen und Bereichen oder die Vermeidung von Auseinandersetzungen. Neben den Hauptmissionen bietet das Spiel in den Stadtbereichen zusätzliche Nebenquests an, die der Spieler für die Beendigung nicht zwangsläufig erfüllen muss. Sie sind jedoch wesentlich mit der Handlung verknüpft und bieten einen besseren Einblick in die Spielwelt. Die Beweggründe einzelner Hauptfiguren werden dadurch herausgearbeitet und Nebenaspekte der Handlung beleuchtet. Daneben kann sich der Spieler zusätzliche Belohnungen in Form von Waffen, Ausrüstungsgegenständen oder Geld verdienen. Nicht benötigte Waffen und Gegenstände können in den Stadtgebieten bei Händlern gegen Krediteinheiten der Spielwährung eingetauscht und im Gegenzug passende Ausrüstungsgegenstände erworben werden. Für die Erfüllung der Missionen werden dem Spieler, ähnlich wie in Rollenspielen, Erfahrungspunkte gutgeschrieben. Für jeweils 5000 Erfahrungspunkte erhält die Spielfigur Adam Jensen einen sogenannten Fertigkeitspunkt, der vom Spieler in den Ausbau des Charakters mit neuen Augmentierungen investiert werden kann. Erfahrungspunkte werden dabei nicht nur für den Abschluss einer Mission vergeben, sondern bereits während des Verlaufs, unter anderem für die gezeigte Vorgehensweise (beispielsweise Töten oder Betäuben von Gegnern) und die Erkundung des Spielgebietes. Augmentierungen Die Augmentierungen sind ein weiterer Teil des Rollenspielaspektes und ermöglichen dem Spieler eine individuelle Ausgestaltung der Spielfigur Adam Jensen. Sie verbessern die Konstitution und erweitern oder verbessern die Handlungsmöglichkeiten des Charakters, beispielsweise in den Bereichen Kampf, Hacking, Erkundung oder Beobachtung. Für die Freischaltung neuer und verbesserter Augmentierungen benötigt der Spieler Fertigkeitspunkte, die durch das Sammeln von Erfahrungspunkten oder durch den Erwerb sogenannter Upgradekits bei sog. Limb-Kliniken verfügbar werden. Die Zahl der im Spiel erhältlichen Upgradekits ist allerdings beschränkt. Hacking Beim Hacken von Computersystemen wird ein eigenständiges Minispiel gestartet. Es unterbricht nicht den üblichen Spielverlauf, der Spielercharakter kann daher unter Umständen von gegnerischen Spielfiguren während des Hackversuchs entdeckt werden. Gezeigt wird eine schematische, zweidimensionale Darstellung des Netzwerks mit mehreren Netzwerkknoten. Verbindungen zwischen den Knoten werden als Linien symbolisiert. Für die erfolgreiche Lösung des Spiels gilt es, ausgehend von einem festen Startpunkt über die Verbindungswege innerhalb des Netzwerks einen bestimmten Zielrechner zu erreichen und zu übernehmen. In der Regel besteht dabei keine direkte Verbindung, sondern der Spieler muss auf dem Weg dorthin erst mehrere Zwischenknoten des Netzwerks übernehmen. Oftmals gibt es dabei mehrere Vorgehensweisen. Bei jeder Übernahme eines Zwischenknotens besteht ein prozentuales Risiko, dass das Eindringen erkannt und Gegenmaßnahmen ausgelöst werden. In diesem Fall bleibt dem Spieler nur noch eine begrenzte Zeit zum Erreichen des Zielrechners. Ausgehend von einem besonders markierten Abwehrknoten kann der Spieler beobachten, wie sich die Abwehrmaßnahmen ebenfalls anhand der Verbindungslinien durch das Netzwerk allmählich auf seinen Startpunkt zubewegen. Erreicht die Abwehr auf diese Weise den Startpunkt des Spielers noch bevor dieser den Zielrechner übernehmen kann, ist der Versuch gescheitert und es wird Alarm ausgelöst, der oftmals bewaffnete Gegner anlockt. Bestimmte Gegenstände und Augmentierungen können das Hacking erleichtern, indem sie etwa das prozentuale Alarmrisiko bei Knotenübernahmen reduzieren, die Aktivierung der Abwehrmaßnahmen unterbinden oder das Vordringen derselbigen behindern. Um eine Entdeckung in letzter Sekunde noch zu verhindern, kann der Spieler den Hackversuch zudem abbrechen und das Spiel vom letzten gespeicherten Spielstand neu starten. Für den Hackversuch stehen dem Spieler allerdings nur eine begrenzte Zahl an Neuversuchen zur Verfügung, bevor der Alarm ausgelöst wird. Deren Anzahl hängt vom Schwierigkeitsgrad des symbolisierten Netzwerks ab. Der Schwierigkeitsgrad beeinflusst zudem das Alarmrisiko bei der Übernahme der Zwischenknoten. Zusätzlich kann der Spieler Viren einsetzen, die ihm entweder erlauben, einen Knoten direkt zu kontrollieren (Nuke-Virus) oder die Abwehrmaßnahmen für kurze Zeit stoppen (Stop-Virus). Die Viren kann man oft in Geheimverstecken finden oder als Bonus für erfolgreich geknackte Datenbanken erhalten. Diese Datenbanken können neben den Bonus-Viren auch Geld oder Erfahrungspunkte enthalten. Alternativ kann zur Lösung der Aufgabe der Abwehrknoten – sofern erreichbar – übernommen werden. Gelingt dies, gilt das Spiel sofort als gelöst und dem Spieler werden zudem sämtliche noch nicht freigeschalteten Boni dieser Netzwerkkarte gutgeschrieben. Das Hacking-Minispiel bezieht seine Einflüsse unter anderem aus dem Rollenspiel Shadowrun und dem Computerspiel Uplink. Jede der über 400 Varianten wurde dabei individuell von Designer Antoine Thisdale entworfen. Entwicklung Patrick Melchior, Direktor von Eidos Frankreich, gab 2007 in einem Interview mit dem kanadischen Fernsehsender MusiquePlus bekannt, dass das neugegründete Studio Eidos Montreal an einem neuen Deus Ex mit dem Untertitel Human Revolution arbeitet. Mit Studioleiter Stephane D’Astous, Produzent David Anfossi, Game Director Jean-François Dugas und Art Director Jonathan Jacques-Belletête wurden ehemalige Mitarbeiter von Ubisoft Montreal angeworben, für das Storydesign wurde Mary DeMarle verpflichtet. Warren Spector und Harvey Smith dagegen, die noch entscheidend für die ersten beiden Deus-Ex-Teile verantwortlich waren, waren an der Entwicklung nicht mehr beteiligt. Die Entscheidung zugunsten eines Prequels fiel aus mehreren Gründen. Zum einen benötigt der Spieler keine Kenntnis der vorherigen Spiele und der Gestaltungsfreiraum für die Entwickler war größer, da der Zeitraum in der Erzählwelt vor den Ereignissen von Deus Ex nur wenig erschlossen war. Zum anderen wurden die durch die verschiedenen Enden von Deus Ex und Deus Ex: Invisible War entstehenden Probleme bei der Weiterführung der Geschichte somit umgangen. Dazu kamen persönliche Vorlieben der Designer, die eine Beschäftigung mit dem Aufkommen von Augmentationen einer weit in der Zukunft liegenden Handlung vorzogen. Nach der Übernahme von Eidos durch Square Enix im Jahr 2009 wurde das Projekt stark vorangetrieben. Unter anderem erhielt Eidos Montreal Unterstützung durch Square Visual Works, dem Animationsstudio des japanischen Publishers (Final Fantasy VII: Advent Children), die sich zusammen mit der Firma Goldtooth Creative für die Erstellung des hochqualitativen CGI-Ankündigungstrailers verantwortlich zeichneten. Die Entwicklung der PC-Version wurde dem niederländischen Entwickler Nixxes Software übertragen, mit der Gestaltung der Zwischengegner-Kämpfe wurde das externe Entwicklungsstudio Grip Entertainment betraut. Der Titel wurde in Europa am 26. August 2011 veröffentlicht. In Deutschland erschien das Spiel wie der erste Teil ohne Jugendfreigabe (USK 18) und ohne Veränderungen im Vergleich zur englischen Version. Die Veröffentlichung wurde von einer umfangreichen viralen Marketingkampagne begleitet. Für die im Spiel vorkommende fiktive Firma Sarif Industries wurde eine mehrsprachige Firmenhomepage angelegt und fiktive Werbefilme des Unternehmens sowie ihrer Gegner der Organisation Purity First veröffentlicht. Die Veröffentlichung in Japan verschob sich auf Oktober 2011, da Publisher Square Enix kurz vor dem anvisierten Veröffentlichungszeitpunkt am 8. September noch die Entfernung eines nicht näher genannten, visuellen Inhaltes anordnete. Im Vergleich zur europäischen Variante wurden in der japanischen Version gemäß den gesetzlichen Vorgaben die offene Darstellung von Organen und ein sexuell anstößiges Objekt an jeweils einer Stelle im Spiel entfernt. Thematik Das Spiel ist eine Reflexion über die Fragestellung, wie weit die Leistungssteigerung des Menschen durch technische Optimierung gehen darf, ab welchem Punkt er seine menschliche Identität verliert und wo demnach die Grenzen zu ziehen sind. Das Spiel greift damit Fragestellungen der philosophischen Denkschule des Transhumanismus auf. Ursprünglich nur als Hilfe für kriegsversehrte Soldaten konzipiert, stehen mittlerweile auch die bislang körperlich unversehrten Bewohner der Spielwelt zunehmend vor der Frage, inwieweit sie sich selbst augmentieren lassen, um dadurch beispielsweise Vorteile auf dem Arbeitsmarkt zu erhalten. Andererseits führt die Angst vor Benachteiligung bei Augmentierungsgegnern zu fanatischer Ablehnung und Hass auf augmentierte Menschen. Trotz der futuristischen Inszenierung greift das Spiel eine bereits in den Grundzügen existierende zeitgenössische Diskussion auf, die beispielsweise in der Diskussion um die Olympiateilnahme des behinderten, mit Beinprothesen versehenen Sportlers Oscar Pistorius sichtbar wurde. Als Beleg für die Aktualität dieser Fragen veröffentlichte Square Enix weiterhin eine Kurzdokumentation mit dem Namen The Eyeborg Documentary. Der selbst mit einem Augenimplantat ausgestattete kanadische Filmemacher Rob Spence demonstriert darin den aktuellen Stand der Prothesenforschung. Dabei streift er auch die Frage, ob Prothesen in Zukunft standardmäßig natürliche Körperbestandteile ersetzen können, ohne jedoch eine endgültige Antwort zu liefern. Ein zentraler Ausdruck dieser Thematik ist das abschließende Zitat des Debüttrailers, das sinngemäß Friedrich Nietzsche zugeschrieben wird: Häufig wiederkehrend ist in diesem Zusammenhang das Bild des Sturzes des Ikarus. Bereits in Deus Ex existierten im Spiel zwei Künstliche Intelligenzen mit dem Namen Daedalus und Ikarus. Im Debüttrailer zu Deus Ex: Human Revolution wurde die Thematik erneut aufgegriffen. In einem kurzen Ausschnitt ist das Bild The Lament for Icarus des englischen Malers Herbert James Draper zu sehen. In einem zweiten, auf der Games Developers Conference 2010 gezeigten Trailer erhebt sich die augmentierte Hauptfigur Adam Jensen mit Ikarus-Schwingen in die Lüfte, um schließlich zu verbrennen. Der Mythos wird im Spiel an zahlreichen Stellen zitiert. So ist beispielsweise in der Eingangssequenz eine Ikarus-Statue zu sehen und historische Ikarus-Gemälde wie Drapers The Lament for Icarus wurden zur Dekoration von Wohnungen der Spielwelt verwendet. Im zentralen Dialog zwischen Jensen und Hugh Darrows, dem „Vater“ der Augmentierungstechnologie, vergleicht dieser sich selbst mit Daedalus, der seinen „Kindern“ ohnmächtig bei der missbräuchlichen Anwendung seiner Erfindung zusehen muss. Eine Augmentierung des Spieles ist das sogenannte Icarus-Landesystem. Icarus ist zudem der Name des Soundtrack-Titelstücks, während der Begleitroman zum Spiel den Titel Der Icarus-Effekt (im englischen Original Icarus Effect) trägt. Künstlerische Gestaltung Ziel des Art Designs war die Erschaffung eines bislang einzigartigen optischen Erscheinungsbildes, um sich deutlich von Konkurrenzprodukten abzuheben und die Neugier des Spielers zu wecken. Pate hierfür war das Art-déco-Erscheinungsbild des Egoshooters Bioshock. Für die Erschaffung der Spielwelt von Deus Ex: Human Revolution und deren grafische Umsetzung orientierte sich das Entwicklungsstudio unter anderem am Renaissance- und dem Barockzeitalter. Die Renaissance zeichnete sich in der Interpretation der Entwickler demnach vor allem durch die wiedergewonnenen Kenntnisse über die Funktionsweise des menschlichen Körpers und die beginnende Technisierung nach dem Mittelalter aus. Eine ähnliche Situation sollte in Deus Ex: Human Revolution beschrieben werden. Durch die Verbindung mit der Cyberpunk-Thematik wurde der Stil des Spiels von den Entwicklern daher als Cyber-Renaissance beschrieben. Bei der Farbgestaltung überwiegen Gelb- und Goldtöne, die in einem starken Kontrast zu den großen dunklen Flächen der Spielwelt stehen. Die Renaissance-/Barockaspekte des Spiels spiegeln sich unter anderem in der Gestaltung der Kleidung wider. Die Figuren tragen beispielsweise Schnürkleider gemäß alten Schnitten, die Gewänder sind verziert mit Stuartkragen oder Puffärmeln. Vorlagen lieferten Werke der Maler Vermeer und Rembrandt und der Film Die Duellisten. Bei dem auf der Game Developers Conference 2010 veröffentlichten Trailer handelt es sich um eine filmische Verarbeitung des Rembrandtbilds Die Anatomie des Dr. Tulp. Im Debüttrailer aus dem Jahr 2007 finden sich weiterhin Zitate von Leonardo da Vincis anatomischen Studien und der Titelseite von Andreas Vesalius’ grundlegendem Werk der neuzeitlichen Anatomie De humani corporis fabrica libri septem. Als Einflüsse für die Cyberpunk-Elemente nannte Art Director Jonathan Jacques-Belletête die Filme Blade Runner, Ghost in the Shell, Akira, das Spionage-Spiel Metal Gear Solid und William Gibsons Neuromancer-Trilogie. Das Designteam orientierte sich jedoch auch an den Arbeiten zahlreicher zeitgenössischer Architekten, Künstler und Designer. Dazu zählten: Quelle Technik Das Spiel verwendet eine modifizierte Version der CDC-Engine (Crystal Dynamics Crystal Engine, kurz: Crystal-Engine) von Crystal Dynamics, die bereits im 2006 veröffentlichten Spiel Tomb Raider: Legend zum Einsatz kam. Eidos Montreal erhoffte sich dadurch Synergieeffekte, um sich primär auf die Erstellung der Spielinhalte konzentrieren zu können. Erschwert wurden die Arbeiten jedoch durch die unterschiedlichen Schwerpunkte der beiden Serien. Das US-Schwesterstudio erwies sich aufgrund eigener Projekte bald ausgelastet und konnte Eidos Montreal keine dauerhafte Hilfestellung bieten. Die Anpassungen der Engine an die eigenen Bedürfnisse mussten daher selbst vorgenommen werden. Während die beiden Konsolenfassungen des Spiels von Eidos Montreal selbst entwickelt wurden und technisch nahezu identisch sind, entstand die PC-Adaption begleitend dazu beim niederländischen Entwicklungsstudio Nixxes Software. Die PC-Fassung bietet im Vergleich zu den Konsolenfassungen eine für Maus- und Tastatursteuerung optimierte Benutzeroberfläche sowie zusätzliche Grafikoptionen und Anpassungsmöglichkeiten. Sie unterstützt DirectX 11 mit Tessellation, Screen Space Ambient Occlusion (SSAO) und Fast Approximate Antialiasing (FXAA). Das Spielgeschehen kann in stereoskopischem 3D ausgegeben werden und unterstützt von Haus aus Interleaving sowie AMDs 3D-Technologie 3DHD. Eine Unterstützung für nVidias 3D-Vision-Technik wurde mit einem Patch nach Veröffentlichung nachgereicht. Mithilfe von AMDs Eyefinity-Technologie kann das Spielgeschehen zudem auf bis zu fünf Monitoren angezeigt und das Sichtfeld des Spielers auf das Spielgeschehen dadurch deutlich vergrößert werden. Eine ursprüngliche geplante Regionensperre der PC-Version, die die Aktivierung einer im Ausland gekauften Version des Spiels in Deutschland verhindern sollte, wurde kurze Zeit nach Bekanntmachung aufgrund massiver Proteste seitens der Kunden und negativer Berichterstattung im Vorfeld teilweise wieder verworfen. Die PC-Fassung verwendet keinen Kopierschutz, setzt zum Spielen jedoch eine Aktivierung und Bindung an einen Steam-Account voraus. Im Gegenzug verwendet das Spiel die Funktionalität der Steam Cloud und Achievements. Soundtrack Der Soundtrack zum Spiel entstammt der Feder des kanadischen Komponisten Michael McCann. Ursprüngliche Zielrichtung war eine düstere elektronische Begleitmusik. Durch die Thematik des Spiels – die Auseinandersetzung des Menschen mit der Technik – entwickelte sich daraus jedoch eine dreigliedrige Vorgehensweise. Spielabschnitte, die deutlich von Technik geprägt waren, wurden mit elektronischen Synthieklängen unterlegt. Bei vom Menschen dominierten Abschnitten kamen vor allem Gesangs- und Streicherpassagen zum Einsatz. Bereiche, bei denen es zur Vermischung dieser beiden Extreme kommt, zeichnen sich durch eine Kombination beider Stilelemente aus, so beispielsweise im Haupttitel Icarus. Die drei unterschiedlichen Musikstile sollen die verschiedenen Grundhaltungen des Spiels widerspiegeln (extreme Augmentierungsgegner, Technikbefürworter und Mittelpositionen). Der religionsähnliche Charakter dieser kontroversen Positionen und die Renaissance-Einflüsse sollen vor allem in den Gesangsstücken zum Ausdruck kommen. Aufgrund des variablen Spielverlaufs während der Missionen basiert die Begleitmusik anders als in linearen Spielen oder Filmen nicht auf einzelnen Leitthemen, sondern besteht aus vielen kleineren Einzelstücken, die sich an der Stimmungssituation und der Umgebung orientieren und passend zum Spielverlauf eingeblendet werden. Rezensenten bezeichneten den Soundtrack als eindringlich und atmosphärisch, mit Reminiszenzen an Vangelis’ Musik zu Blade Runner. Der Soundtrack, der der Limited Edition beiliegt, besteht aus 12 Musikstücken. Die CD (oder der entsprechende Download) enthält 25 Musikstücke. Verkaufsversionen Erstveröffentlichung Für Konsolen und Windows-PC wurde das Spiel zu Verkaufsbeginn neben der Standardausgabe in zwei weiteren Versionen mit Bonusinhalten angeboten. Neben dem Spiel enthielt die Limited Edition (im englischsprachigen Raum als Augmented Edition bezeichnet): Das Explosive Mission-Pack mit der Bonusmission Tongs Rettung Exklusive Bonusgegenstände (automatisches Entriegelungssystem, vier zusätzliche Waffen) 10.000 Krediteinheiten der Spielwährung Eine DVD mit einem 44-minütigen Making-of, dem Spiel-Soundtrack, einem Comic aus der offiziellen DC-Serie und dem E3-Trailer einschließlich eines animierten Storyboards 40-seitiges Artbook Die Collector’s Edition enthielt neben sämtlichen Inhalten der Limited Edition eine von Play Arts Kai, einem Tochterunternehmen von Square Enix, entworfene Actionfigur des Spielercharakters Adam Jensen. Die zusätzlichen Spielinhalte wurden als Download-Erweiterungen bereitgestellt, die durch die Eingabe eines beigelegten Gutscheincodes freigeschaltet und an den Account des Spielers auf der jeweiligen Spieleplattform (Steam, Xbox Live, PlayStation Network) gebunden wurden. Neben den Sondereditionen erhielten auch Vorbesteller einer Standardversion das Explosive Mission Pack, das automatische Entriegelungssystem und zwei der vier Zusatzwaffen. Im September 2011 kündigte Square Enix in Zusammenarbeit mit dem britischen Entwickler Feral Interactive eine Portierung des Spiels für Mac OS X an. Feral gab am 4. April 2012 bekannt, dass die als Deus Ex: Human Revolution – Ultimate Edition bezeichnete Fassung für Mac neben dem Hauptspiel auch die Download-Erweiterungen The Missing Link, Missionspack und Taktisches Optimierungspack beinhalte und am 26. April veröffentlicht werde. Director’s Cut Im März 2013 kündigte Square Enix die Entwicklung des Deus Ex: Human Revolution Director’s Cut exklusiv für die Wii U an. Die Portierung, die vom australischen Studio Straight Right entwickelt wurde, enthält alle Download-Erweiterungen, ausführlich überarbeitete Bosskämpfe, eine bessere KI-Programmierung und eine verbesserte Grafik auf dem Niveau der Erweiterung The Missing Link. Mit dem Modus „New Game+“ bietet das Spiel eine Möglichkeit, das Spiel nach erfolgreicher Absolvierung ein weiteres Mal mit bereits freigeschalteten Augmentierungen zu spielen. Auf der Computerspielmesse Electronic Entertainment Expo (E3) im Juni 2013 gab Square Enix bekannt, dass man aufgrund von Kundenreaktionen den Director’s Cut auch für PlayStation 3, Xbox 360, Windows und Mac OS X veröffentlichen werde. Gleichzeitig wurden die bereits angekündigten und weitere neue Funktionen präsentiert, wie die Integration einer Mitteilungsfunktion, die es Spielern erlaubt, anderen Spielern Nachrichten mit Hinweisen und Tipps in der Spielwelt zu hinterlassen. Die im Spiel enthaltene Levelübersichtskarte besitzt im Director’s Cut zudem eine Notizfunktion und wurde unter Ausnutzung der Hardwareeigenschaften des Wii-U-Controllers auf den integrierten Zweitbildschirm ausgelagert. Um dies auch für die anderen Plattformen zu ermöglichen, wurde für die PS3-Fassung die Unterstützung der Kombination von PlayStation 3 und PlayStation Vita und für Xbox 360 die Nutzung der Smartglass-Funktionen angekündigt. Für Besitzer einer PC-Vollversion über den Online-Anbieter Steam entschied sich Square Enix eine Upgrademöglichkeit für die Standardfassung anzubieten, mit preislichen Abstufungen je nach Besitz der Download-Erweiterung The Missing Link. Als Veröffentlichungstermin wurde schließlich der 25. Oktober 2013 angegeben. Rezeption Rezensionen und Auszeichnungen Deus Ex: Human Revolution erhielt von der Fachpresse sehr gute Bewertungen (Metacritic: 90 von 100 (PC)/89 (Xbox 360)/89 (PS3)). Neben Rezensionen in Spiele-Fachzeitschriften wurde Deus Ex: Human Revolution aber auch in der Tagespresse und nicht-spielebezogenen Medienpublikationen rezipiert, darunter Kultur SPIEGEL, Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Augsburger Allgemeine, n-tv, New York Times und The Guardian. Übergreifend wurde eine im Vergleich zu Deus Ex: Invisible War stärkere Orientierung am ersten Teil der Serie positiv hervorgehoben. Gelobt wurden wie in den Vorgängern die zahlreichen unterschiedlichen Vorgehensweisen, auch wenn das Programm Lösungen auf dem Schleichweg deutlich begünstige. Die Ausgestaltung der Erzählung und die Gestaltung einer tiefgründigen und zumeist überzeugend wirkenden Spielwelt wurde hervorgehoben. Das Hacking-Minispiel wurde positiv aufgenommen und als herausfordernd und motivierend eingestuft. Deutsche Tests hoben außerdem die stimmige deutsche Sprachausgabe hervor, bemängelten jedoch gleichzeitig die fehlende Lippensynchronität. Deutlich kritisiert wurden die kaum vorhandenen Gesichtsanimationen, die langen Ladezeiten, eine generell etwas unzeitgemäß schwache Grafikleistung und eine mangelhafte Künstliche Intelligenz. Einen Hauptkritikpunkt bildeten die Kämpfe gegen verschiedene Bossgegner, die nicht von Eidos Montreal entwickelt wurden, sondern als Auftragsarbeit bei Grip Entertainment, einem externen Dienstleister, entstanden. Die eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten des Spielers würden mit dem sonst sehr freizügigen Spielprinzip brechen, was in einigen Fällen außerdem zu einem Schwierigkeitsanstieg führe. Dieser Kritikpunkt wurde in einem Interview einen Monat nach Spielveröffentlichung von Game Director Jean-François Dugas eingeräumt. Auch im Bezug auf die KI räumte Dugas Schwächen ein, bezeichnete die Qualität aber als ausreichend. Serienschöpfer Warren Spector äußerte sich nach Veröffentlichung zufrieden mit dem Spiel und bescheinigte dem Team, die Essenz der ersten Spiele exakt eingefangen zu haben. Das britische Magazin PC Gamer zeichnete Deus Ex: Human Revolution als Action-Spiel des Jahres aus. Das Spiel war bei diversen Preisverleihungen in mehreren Kategorien nominiert, konnte jedoch keinen dieser Preise erringen: Interactive Achievement Awards Beste Characterperformance Bestes Rollenspiel/MMO Game Developers Choice Awards Spiel des Jahres Bestes Debüt für Eidos Montreal BAFTA Video Game Awards Bestes Actionspiel Bestes Strategiespiel Beste Originalmusik Beste Handlung Spike Video Game Awards Bestes Rollenspiel Bester Original-Soundtrack Erfolgreich schnitt der Titel hingegen bei den Canadian Videogame Awards im April 2012 ab. Hier errang das Spiel insgesamt fünf Auszeichnungen, als bestes Konsolenspiel, für die beste Musik, das beste Game Design, das beste Drehbuch und den besten neuen Charakter. Ebenfalls erfolgreich war die von Feral Interactive entwickelte Mac-Version der Ultimate Edition bei den Apple Design Awards im Juni 2012. Das Spiel wurde als beste Mac-Anwendung ausgezeichnet. Die Begründung der Jury lautete: Inhaltliche Rezeption In seinem Testbericht für Eurogamer bezeichnete Redakteur Martin Woger Cyberpunk als einen literarisch seit den 1980ern längst abgearbeiteten Themenkomplex, dem Deus Ex: Human Revolution keine neuen Erkenntnisse mehr hinzufügen könne. Das Spiel beschränke sich auf das Kopieren altbekannter Motive, wie die städtebaulich außer Kontrolle geratenen Slums, ohnmächtigen Regierungen und umso mächtigeren, alles beherrschenden Großkonzerne. Zwar gelänge es den Machern dadurch immer noch, eine interessante Geschichte zu erzählen, doch nur in wenigen Punkten, wie etwa dem Transhumanismus, berühre das Spiel noch aktuelle Fragestellungen. Auch die Kernfrage, was es bedeute, Mensch zu sein, und welchen Einfluss die Technik darauf nehme, würde zu knapp gestreift. Insgesamt sei Deus Ex: Human Revolution dennoch „eine solide, mit den Mitteln des Genres sehr kompetent umgesetzte Geschichte“. In einem Beitrag für h+ dem Onlinemagazin des transhumanistischen Verbands Humanity+ (ehemals World Transhumanist Association), beurteilte der Autor John Niman das Spiel anhand der Werbetrailer als Schilderung eines Worst-Case-Szenarios, das zugleich real existente Ängste im Zusammenhang mit transhumanistischen Vorstellungen aufzeige. Er verweist auf Übereinstimmungen zwischen der im Spiel gezeigten Kritik der Augmentierungsgegner von Purity First und der real existierenden Bewegung des Neoluddismus, die sich ebenfalls gegen die genetische und technische Optimierung des Menschen wendet. Achim Fehrenbach schrieb für Die Zeit, das Spiel ziehe „den Spieler mitten hinein in diese Transhumanismus-Debatte, deren Anfang wir derzeit beispielsweise im Sport gerade erst erleben“. Ähnlich kommentierten es Michael Moorstedt für die Süddeutsche Zeitung und Roland Peters für n-tv. 2013 veröffentlichte die britische Tageszeitung The Sun nach fehlerhafter Recherche einen Kurzartikel über kybernetische Augenimplantate, in dem die Zeitung ein entsprechendes Artwork des Spiels abbildete und die Behauptung aufstellte, die Firma Sarif Industries hätte bereits ein entsprechendes Implantat entwickelt. Verkaufszahlen Binnen zwei Wochen nach Release in den USA und Europa konnte Publisher Eidos mehr als zwei Millionen Einheiten des Spiels absetzen. Bis zum 30. September lagen die Verkaufszahlen bei 2,18 Millionen Exemplaren, wobei sich das Spiel in Europa mit 1,38 Millionen Exemplaren deutlich besser verkaufte als in Nordamerika. Laut Finanzbericht des Publishers Square Enix zum dritten Quartal des Geschäftsjahres 2012 war das Spiel zusammen mit dem Titel Final Fantasy XIII-2 wesentlich verantwortlich dafür, dass die eigenen Absatzzahlen bei Konsolenspielen und damit die Unternehmensgewinne im Vergleich zum Vorjahr deutlich gesteigert werden konnten. Erweiterungen Bereits im Vorfeld wurde die Arbeit an kostenpflichtigen Download-Erweiterungen bestätigt. Missions- und Taktisches Optimierungspack Die am 28. September 2011 für Xbox 360 veröffentlichte Erweiterung umfasst die zusätzlichen Spielinhalte der Limited/Augmented Edition (Bonusmission Tongs Rettung, automatisches Entriegelungssystem, vier zusätzliche Waffen, 10.000 Krediteinheiten der Spielwährung). Eine günstigere, inhaltlich reduzierte Fassung wurde unter dem Namen Missionspack veröffentlicht, die neben Bonusmission und Entriegelungssystem lediglich zwei der vier zusätzlichen Waffen enthielt und damit dem generellen Vorbestellerbonus entsprach. Für die PC-Version wurden die Inhalte separat als Missionspack und Taktisches Optimierungspack vertrieben. The Missing Link Die Ankündigung der ersten Zusatzmission wurde in Form einer Schnitzeljagd im Internet inszeniert. Am 2. September gab Eidos Montreal die Erweiterung schließlich unter dem Namen The Missing Link bekannt. In einer neuen Mission wird Adam Jensen im Anschluss an die Ereignisse in Heng Sha auf einen Belltower-Frachter verschleppt und gefoltert. Durch die Abschaltung seiner Augmentierungen in seinen Handlungsmöglichkeiten stark eingeschränkt, muss Adam Jensen dem Gefängnis entkommen und stößt dabei auf neue Verschwörungsdetails. Die Erweiterung wurde am 18. Oktober (PC, Xbox 360) beziehungsweise am 19. Oktober 2011 (PS3) veröffentlicht. Es handelt sich um eine Standalone-Erweiterung, die unabhängig vom Hauptspiel gespielt werden kann, den Besitz des Hauptspiels jedoch weiterhin erfordert. Mit einigen Anpassungen im Gamedesign der Erweiterung reagieren die Entwickler in Teilen auf Kritiken am Hauptspiel, wie beispielsweise den detailarmen Gesichtsanimationen. Als Folge der negativen Beurteilung der Kämpfe mit Zwischengegnern wurde der Endkampf der Erweiterung stärker am restlichen Spielkonzept orientiert und ermöglicht nun das Verschonen des Gegners oder eine Lösung auf dem Schleichweg. Daneben gab es Verbesserungen am Beleuchtungssystem der Engine. Fortsetzung Mit einer Coverstory für die Mai-Ausgabe des US-Spielemagazins Game Informer und der Veröffentlichung eines von Visual Works entworfenen CGI-Trailers am 8. April 2015 kündigte Square Enix 2015 eine Fortsetzung der Erzählung um Adam Jensen an. Der Titel spiel im Jahr 2029, zwei Jahre nach Human Revolution. Die gesellschaftliche Lage ist durch die Ereignisse des Vorgängers angespannt. Augmentierte Menschen werden verfolgt und ausgegrenzt, es kommt zu Unruhen. Adam Jensen bekämpft für die Interpol-Spezialeinheit Taskforce 29 augmentierte Terroristen. Das Spiel entsteht auf Grundlage der Dawn-Engine, einer Weiterentwicklung der Glacier-2-Engine aus Hitman: Absolution, mit Unterstützung für DirectX 12 und TressFX 3.0. Deus Ex: Mankind Divided ist am 23. August 2016 für PlayStation 4, Xbox One und Windows erschienen. Bücher zum Spiel Deus Ex: Der Icarus-Effekt von James Swallow, Panini Verlag, Juli 2011, ISBN 978-3-8332-2323-5 Deus Ex: Human Revolution von Robbie Morrison (Autor), sechsbändige Comicreihe, DC Comics, Februar – Juli 2011. Deus Ex: Human Revolution – Das offizielle Buch, Begleit- und Lösungsbuch, Future-Press 2011, ISBN 978-3-86993-028-2 Weblinks Offizielle Website Einzelnachweise Computer-Rollenspiel Computerspiel 2011 Dystopie Ego-Shooter Mac-OS-Spiel PlayStation-3-Spiel Science-Fiction-Computerspiel Transhumanismus Windows-Spiel Xbox-360-Spiel Wii-U-Spiel
7691243
https://de.wikipedia.org/wiki/Pfeilerwertigkeit
Pfeilerwertigkeit
Unter Pfeilerwertigkeit wird die Verwendbarkeit von Zähnen als Pfeilerzähne für festsitzenden oder herausnehmbaren Zahnersatz verstanden. Pfeilerzähne sind Zähne, die die Belastung von ersetzten Zähnen mittragen müssen. Die Pfeilerwertigkeit ist ein Ausdruck der zahnbezogenen Prognose, vor dem Hintergrund einer geplanten Einbeziehung in verschiedene prothetische Restaurationen. Für die Planung von langfristig haltbarem Zahnersatz sind die vorgesehenen Pfeilerzähne zu bewerten. Die Grenzziehungen zwischen Verwertbarkeit und Nichtverwertbarkeit von Zähnen sind schwierig und oft nicht eindeutig. Im klinischen Alltag ist eine angemessene Risikobewertung bei der Zahnersatzplanung unverzichtbar. Sie gehört zu den wichtigsten zahnärztlichen Kompetenzen und hilft, Misserfolge zu reduzieren. Nomenklatur Neben der Bezeichnung Pfeilerzahn existieren noch weitere Begriffe für Zähne, die in Zahnersatzbehandlungen einbezogen werden. Dazu gehören neben dem Brückenpfeiler der Ankerzahn, der Zahnpfeiler, das Fixierelement (in der Zahntechnik), der Verankerungszahn (eher für Konstruktionselemente in der Kieferorthopädie) beziehungsweise der Stützzahn oder Klammerzahn (bei herausnehmbarem Zahnersatz für einen Zahn, an dem eine Klammer einer Klammerprothese angebracht wird). Grundwertigkeit der Zähne Die Anzahl, die Länge und der Durchmesser der Wurzeln bestimmen zunächst die Grundwertigkeit eines gesunden Pfeilerzahnes. Die Grundwertigkeit wird in drei Klassen eingeteilt: 1 = beste Wertigkeit 2 = mittlere Wertigkeit 3 = eingeschränkte Wertigkeit (Incisivi (Schneidezähne), Canini (Eckzähne), Prämolaren (kleine Backenzähne), Molaren (große Backenzähne)). Beispielsweise sind die Zahnwurzeln der unteren Schneidezähne (32–42) sehr dünn und können deshalb keine so hohen Belastungen tragen wie vergleichsweise die unteren Eckzähne (33, 43), die längere und dickere Wurzeln aufweisen. Belastungswert der Zähne Der Basler Hochschullehrer Gottlieb Vest hat eine eigene Einteilung der Pfeilerwertigkeit vorgenommen und hat diese als Belastungswert bezeichnet. Der niedrigste Wert liegt bei 1 (niedrigste Belastbarkeit), der höchste Wert bei 6 (größte Belastbarkeit). (Zahnschemata werden aus Sicht des Patienten geschrieben.) (Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren). Der Belastungswert der zu ersetzenden Zähne muss nach Vest dem Belastungswert der Pfeilerzähne entsprechen, also mindestens gleich oder größer als dieser sein, um eine ausreichende Langzeitprognose einer anzufertigenden Brücke zu gewährleisten. Fehlen beispielsweise die unteren vier Frontzähne 32–42, die einen Belastungswert von 2 + 1 + 1 + 2 = 6 aufweisen, so genügen die beiden unteren Eckzähne 33 und 43, die einen Belastungswert von 5 + 5 = 10 aufweisen, als Pfeilerzähne zum Ersatz dieser Zähne. Fehlen jedoch die beiden Molaren 26 und 27 (Belastungswert 6 + 6 = 12), so genügen nach Vest die beiden endständigen Zähne 25 und 28 als alleinige Pfeilerzähne nicht (Belastungswert 4 + 4 = 8). Es sollte deshalb der Zahn 24 in einen Brückenzahnersatz mit einbezogen werden (Belastungswert 4 + 4 + 4 = 12). Kriterien für die Pfeilerwertigkeit Im zweiten Schritt werden hinsichtlich der individuellen Verwertbarkeit eines Zahnes zusätzliche Faktoren überprüft. Parodontaler Zustand Der parodontale Zustand eines Zahnes bestimmt in hohem Maße die Pfeilerwertigkeit. Parodontale Erkrankungen machen oft einen Zahn auf Grund des Knochenabbaus der Alveolen nicht verwertbar. Durch Fortschritte in der Parodontologie ist in vielen Fällen eine parodontale Sanierung möglich, die die Verwendbarkeit wiederherstellt. Zahnfleischtaschentiefen von mehr als 6 mm reduzieren die Pfeilerwertigkeit erheblich, weil der Zahn nur noch begrenzt im Kieferknochen verankert ist. Nach Eduard Mühlreiter und Theodore Emile de Jonge-Cohen beträgt die durchschnittliche Wurzellänge zwischen 12 mm (untere Frontzähne) und 16 mm (obere Eckzähne). Oberfläche des Desmodonts Als Desmodont (Wurzelhaut) wird das Bindegewebe des Zahnhalteapparates (Parodontium) bezeichnet. Das Ante’sche Gesetz, aufgestellt 1926 durch den kanadischen Zahnarzt Irwin H. Ante, fordert, dass die Gesamtfläche des Desmodonts der im Knochen verankerten Wurzeln der Pfeilerzähne mindestens der (theoretischen) Gesamtfläche des Desmodonts der Wurzeln der zu ersetzenden Zähne entsprechen müsse. Ist dies nicht der Fall, würden die Pfeilerzähne überlastet und es käme in der Folge zu weiterem Knochenabbau an den Pfeilerzähnen. Antes Aussagen sind jedoch nicht evidenzbasiert und daher nicht unbedingt verlässlich. Es wird heutzutage eher als Empfehlung und nicht als ein ‚Gesetz‘ angesehen. Eine vereinfachte Regel besagt, dass die Anzahl der Pfeilerzähne der Anzahl der zu ersetzenden Zähne entsprechen müsse. Diese vereinfachte Regel berücksichtigt aber einen eventuellen Knochenabbau an den Pfeilerzähnen nicht. Der Bonner Hochschullehrer Søren Jepsen hat die Durchschnittswerte der Wurzeloberflächen der Zähne bei gesundem Parodontium vermessen. Mit diesen Anhaltswerten lässt sich für die nach dem Anteschen Gesetz geforderte Summe der Wurzeloberflächen berechnen, ob sie derjenigen der zu ersetzenden Zähne entspricht. Der individuelle Fall muss anhand von Röntgenaufnahmen der noch vorhandenen Zähne mittels Halbwinkeltechnik beurteilt werden. Durch die vielen Wurzelvarianten der Weisheitszähne 18, 28, 38, 48 sind für sie keine Durchschnittswerte angegeben. (Incisivi, Canini, Prämolaren, Molaren). Kronen-Wurzel-Relation Durch parodontale Erkrankungen oder durch Überlastung einzelner Zähne (okklusales Trauma) kommt es zu einem Abbau des Alveolarknochens, in dem die Zähne verankert sind. Gleichzeitig können die Zahnwurzeln durch den gleichzeitig erfolgenden Zahnfleischrückgang sichtbar werden. Als Faustregel gilt, dass die Länge des sichtbaren Teils des Zahnes die Länge der im Knochen verankerten Wurzel nicht überschreiten darf, weil sonst die Hebelkräfte, die auf die Wurzel wirken, zu groß würden, was zu einer Zahnlockerung führen könnte. Wurzelform Eine günstige Wurzelform weisen Zähne mit gespreizten Wurzeln auf, wie sie in der Abbildung an den Molaren zu sehen sind. Ebenso erhöht sich die Pfeilerwertigkeit durch die Form der einzelnen Wurzel, die im günstigen Fall eine zylindrische Form aufweist (in der Abbildung der zweite Zahn von links – Eckzahn 23). Ungünstig sind konisch zulaufende und kurze Wurzeln. Furkationsgrad Als Bifurkation (bei zweiwurzligen Zähnen) oder Trifurkation (bei dreiwurzligen Zähnen) wird die Aufteilungsstelle der Zahnwurzeln bei mehrwurzeligen Zähnen bezeichnet. Beim parodontal gesunden Zahn liegen sie innerhalb des Kieferknochens und sind weder sicht- noch sondierbar. Bifurkation und Trifurkation werden in vier Furkationsgrade eingeteilt. Eine freiliegende Furkation, die durch parodontalen Knochenabbau entstanden ist, bildet einen potentiellen Entzündungsbereich, der oftmals schwer zu reinigen ist. Je nach Ausprägung kann eine freiliegende Furkation die Pfeilerwertigkeit reduzieren. Hemisezierte oder prämolarisierte Zähne Unter einer Hemisektion versteht man die Durchtrennung eines unteren Molaren mit einer Teilextraktion einer Zahnwurzel. Bei einer Prämolarisierung erfolgt ebenfalls eine Durchtrennung des Molaren, jedoch bleiben beide Wurzeln erhalten. Aus einem Molar werden dadurch zwei Prämolaren. Die Prämolarisierung ist eine Therapiemaßnahme zur Beseitigung einer freiliegenden Bifurkation. Dabei entsteht aus der Bifurkation ein Interdentalraum (Zahnzwischenraum), der einer Reinigung besser zugänglich ist. Ein hemisezierter oder prämolarisierter Zahn hat nur bei vollständiger Wurzellänge und einem hohen Erhaltungsgrad des verbliebenen Kronenrestes eine Pfeilerwertigkeit 3. Die prämolarisierten Zahnanteile sind in diesem Fall für die Versorgung mittels einer beziehungsweise zweier Kronen geeignet, jedoch nur eingeschränkt als Stützpfeiler für eine Brücke oder herausnehmbaren Zahnersatz. Kippungsgrad Gekippte Zähne sind nicht so belastbar wie gerade stehende Zähne. Die Sharpey-Fasern, an denen der Zahn in der Alveole (Zahnfach) aufgehängt ist, werden bei Belastung ungleichmäßig gedehnt und belastet. Durch eine Kippung können Schmutznischen entstehen, die zu Entzündungen führen können. Bei zu starker Kippung ist eine gemeinsame Einschubrichtung für den Zahnersatz schwer zu präparieren. Sie kann durch ein Ausgleichsgeschiebe überwunden werden. Alternativ kann der Zahn durch eine kieferorthopädische Behandlung wieder aufgerichtet werden. Eine Kippung von bis zu 30° ist tolerabel. Eine größere Kippung schränkt die Verwendbarkeit stark ein. Falls keine weiteren wertigkeitsmindernden Faktoren vorliegen, können solche Zähne als endständige Pfeilerzähne Verwendung finden. Zähne mit einem Kippungsgrad von mehr als 40° haben keine Verwertbarkeit als Pfeilerzähne. Optisch kann ein gekippter Zahn durch eine Krone zwar scheinbar aufgerichtet werden, jedoch trifft die Belastung immer auf einen gekippten Zahn. Zahnbeweglichkeit Die Zahnbeweglichkeit wird in vier Lockerungsgraden (auch Mobilitätsgraden) gemessen, wobei es vier verschiedene Klassifikationen gibt. Grad 0 und Grad 1 reduzieren die Pfeilerwertigkeit nicht, Grad 2 setzt eine umfassende Therapie des Zahnes voraus oder lässt nur eine Verwendbarkeit als Übergangsversorgung (Interimsversorgung) zu. Bei Grad 3 ist keine Pfeilerwertigkeit gegeben. Die Messungen selbst können unter Zuhilfenahme einer kalibrierten Parodontalsonde oder elektronisch (Periotest) durchgeführt werden. Klassifikation in der Gesetzlichen Krankenversicherung Die Zahnbeweglichkeit wird im Zahnstatus mit römischen Zahlen abgebildet. Klassifikation nach Carranza und Takei Klassifikation nach Lindhe und Nymann Klopfschall Die Zähne können durch Klopfen, beispielsweise mittels eines Instrumentengriffendes, hinsichtlich ihres Klopfschalls überprüft werden. Ein heller Klopfschall zeugt von einem mitschwingenden Knochen, in dem der Zahn fest verankert ist. Der gesunde Sharpey’sche Faserapparat koppelt den Zahn gut mit dem Kieferknochen, Anzeichen einer reduzierten Primärstabilität des Zahnes ist ein dumpfer Klopfschall. In diesem Fall ist der Periodontalspalt verbreitert, was auf eine reduzierte parodontale Befestigung des Zahnes und damit auf eine reduzierte Pfeilerwertigkeit schließen lässt. Das parodontale Gewebe ist entzündlich infiltriert, die Kopplung zwischen Zahn und Knochen ist nicht oder nur reduziert gegeben. Endodontischer Zustand Eine reizlose Pulpa (umgangssprachlich: „Zahnnerv“) ist Voraussetzung für eine hohe Pfeilerwertigkeit eines Zahnes. Dentin zählt zu den widerstandsfähigsten organischen Materialien. Es besteht aus mineralischen Nanopartikeln und dentalen Tubuli, die in ein dichtes Netz aus Kollagenfasern eingebettet sind. Die inneren Spannungen in der Nanostruktur helfen, die Entstehung und Ausbreitung von Rissen bei Belastung zu begrenzen. Wenn die winzigen Kollagenfasern schrumpfen, werden die eingebetteten Mineralpartikel zunehmend zusammengedrückt. Dabei sorgt die Art und Weise der Kompression dafür, dass die innersten Bereiche des Zahns weitgehend vor Rissen geschützt bleiben, so dass die empfindliche Pulpa nicht beschädigt wird. Ist der Zahn jedoch pulpitisch (entzündet) oder devital (abgestorben), muss er endodontisch behandelt werden, um (auch) eine entsprechende Pfeilerwertigkeit zu erlangen. Ein endodontisch behandelter Zahn ist spröder und damit bruchgefährdeter als ein vitaler Zahn. Das kann die Pfeilerwertigkeit reduzieren. Nach einer Wurzelkanalbehandlung muss die Wurzelkanalfüllung bis zum physiologischen Apex (Wurzelspitze) reichen und randständig sein. Periapikale Entzündungen (im Knochen im Bereich der Wurzelspitze) führen zu einer Nichtverwertbarkeit des Zahnes, solange die Entzündung nicht abgeheilt oder durch eine Wurzelspitzenresektion (Kappung der Wurzelspitze) beseitigt worden ist. Kariöse Zerstörung Das Ausmaß einer kariösen Zerstörung beeinflusst die Verwendbarkeit eines Zahnes als Pfeilerzahn. Ist die klinische Krone fast oder vollständig zerstört, muss sie durch Aufbauten rekonstruiert werden, die wiederum in den Zahnwurzeln fest verankert sein müssen. Die Aufbauten können durch Aufbaufüllungen mit und ohne Retentionsstifte, durch eine adhäsive Befestigung oder durch Stiftaufbauten befestigt werden. Der Durchmesser eines Wurzelstifts muss ein Drittel des Wurzeldurchmessers betragen, die Stiftlänge muss mindestens der Länge der zu ersetzenden Zahnkrone entsprechen. Nur dann ist eine ausreichende Retention des Stifts im Wurzelkanal gewährleistet. Stifte schwächen jedoch die Zahnwurzel, wodurch die Pfeilerwertigkeit reduziert wird. Die Pfeilerwertigkeit hängt dabei von der Art des Aufbaus ab; entscheidend ist hierbei, ob ein aus Gold gegossener Stiftaufbau, ein genormter Parapost-Titanstift mit Compositaufbau, ein Glasfaser- oder Kohlenstofffaserstift mit Compositaufbau oder eine rein adhäsiv befestigte Compositfüllung ohne Wurzelstift zur verwendet wird. Ferrule-Effekt Zähne mit stark aufgeweitetem Kanaleingang des Wurzelkanals und jene ohne Fassreifenpräparation sind als kritisch, ja als nicht hinreichend klinisch belastbar zu bewerten. Der Zerstörungsgrad muss einen ausreichenden Randschluss der künstlichen Zahnkrone zulassen. Es genügt nicht, wenn die künstliche Zahnkrone am Rand messerscharf abschließt. Der Kronenrand muss den Zahn bandförmig, in einer etwa 2 mm großen Breite, fest umfassen (Ferrule-Effekt), sonst ist der Zahn bruchgefährdet. Durch Anthony W. Gargiulo et al. wurde im Jahre 1961 die mittlere biologische Breite auf 2,04 mm bestimmt. Davon nehmen das Desmodont 1,07 mm und das Saumepithel etwa 0,97 mm ein. Ist der Zahn so weit zerstört, dass diese erforderliche Breite nicht erreicht wird, dann kann – eine ausreichende Wurzellänge vorausgesetzt – mittels einer chirurgischen Kronenverlängerung dieser Ferrule-Bereich („Fassreifen“) geschaffen werden. Bei der chirurgischen Kronenverlängerung wird hierzu der Knochensaum um den Zahn herum abgetragen, bis der Zahnrest etwa 3 mm freiliegt, denn der Kronenrand darf nicht unmittelbar an der Knochengrenze enden. Es muss ein Raum zur Ausbildung einer Zahnfleischpapille in biologischer Breite verbleiben. Durch die chirurgische Kronenverlängerung wird jedoch wiederum der im Kieferknochen verankerte Wurzelanteil verkürzt, wodurch wiederum die Pfeilerwertigkeit reduziert wird. Die Prognose verbessert sich, wenn ein Zahn Approximalkontakte (Kontakt zu Nachbarzähnen) aufweist, was bei endständigen Pfeilerzähnen nur nach einer Seite realisiert werden kann. Approximalkontakte dienen unter anderem der gegenseitigen Abstützung von Zähnen. Retentionsform Zur Verwertbarkeit eines Zahnes und zu dessen Pfeilerwertigkeit gehört, eine Retentionsform durch Zuschleifen (Präparation) des Zahnes herzustellen. Der Halt einer Krone an einem Zahn wird nicht allein durch das Befestigungsmaterial erreicht. Zusätzlich muss eine leicht konische Form (5°- bis 8°-Konuswinkel) für eine Retention der Zahnkrone sorgen. Ebenso ist die Größe der Retentionsfläche maßgeblich für den Halt einer Krone. Ist ein Zahn zu stark zerstört oder wurde bereits bei einer früheren Präparation zu konisch gestaltet oder ist der Kronenstumpf zu kurz, dann sinkt die Pfeilerwertigkeit erheblich. Es besteht insbesondere im Bereich der Molaren die Gefahr, dass sich die Krone vom Zahn löst. Die Gefahr ist im Unterkiefer besonders groß, da einerseits der Zahnersatz starr ist, andererseits der Unterkieferkörper sich bei der Mundöffnung und bei Belastung verwindet. Die Befestigung der Krone am Zahn muss dieser Kräftedifferenz dauerhaft widerstehen können. Die kontrahierten Musculi pterygoidei laterales (äußere Flügelmuskeln) stauchen den Unterkieferbogen mit der mandibulären Symphyse als Fixpunkt, wodurch sich der Unterkiefer um 0,1 bis 1,0 mm verformen kann. Implantate Die Pfeilerwertigkeit von Implantaten entspricht bei ausreichendem Knochenangebot zur Verankerung (zirkulär ≥ 2 mm), nach einer vollständigen Osseointegration (Verknöcherung), ausreichender Länge (≥ 10 mm) und ausreichendem Durchmesser (≥ 4 mm), derjenigen eines gesunden, natürlichen Eckzahnes (Grad 1). Je nachdem, welche Abstriche bei den genannten Kriterien gemacht werden müssen, kann die Pfeilerwertigkeit von Implantaten entsprechend sinken. Milchzähne Zum Erhalt eines stark kariösen Milchzahnes kann dieser als Platzhalter (für den noch ausstehenden Durchbruch des bleibenden Zahns) mit einer einfachen, konfektionierten Krone rekonstruiert werden, die nur wenige Monate bis Jahre bis zum Zahnwechsel verbleibt. Milchzähne sind jedoch als Pfeilerzähne grundsätzlich ungeeignet, da sie zu schwach ausgebildete Wurzeln besitzen. Zudem werden die Milchzahnwurzeln während des Zahnwechsels resorbiert. Eine Ausnahme kann ein persistierender Milchzahnmolar bei Nichtanlage des bleibenden Zahnes bilden. Bei entsprechender Indikation kann ein solcher Milchzahn eine künstliche Zahnkrone tragen. Er ist aber auf Grund der kurzen Wurzeln nicht geeignet, als Pfeilerzahn Verwendung zu finden. Weiche Kriterien für die Pfeilerverwendbarkeit Zu den weichen Kriterien gehören solche, die an sich die Pfeilerwertigkeit nicht verändern. Die Pfeilerverwendbarkeit kann aber von solchen zusätzlichen Faktoren beeinflusst werden. Mundhygiene Es kann sein, dass ein Zahn eine gute Pfeilerwertigkeit aufweist, jedoch eine mangelhafte Mundhygiene des Patienten eine Verwendung verhindert, weil die gewählte Versorgungsform dann kaum Aussicht auf langfristigen Erfolg hat. Beispielsweise kann ein parodontal stark vorgeschädigter Zahn aufwändig einer ausreichenden Pfeilerwertigkeit zugeführt werden. Wenn jedoch die kontinuierliche Nachsorge und Pflege nicht gewährleistet sind, dann bildet die hergestellte Pfeilerwertigkeit nur eine Momentaufnahme. Geplanter Zahnersatz Die Pfeilerwertigkeit ist auch dadurch bestimmt, welcher Zahnersatz mit welcher Zielsetzung geplant ist. Ein Zahn kann beispielsweise eine ausreichende Pfeilerwertigkeit für eine Übergangsversorgung (Interimsversorgung) aufweisen. Derselbe Zahn kann aber für eine langfristige Zahnersatzversorgung ungeeignet sein. Ein Zahn kann auch im Rahmen einer Teleskopversorgung eine ausreichende Pfeilerwertigkeit aufweisen, weil diese bei einem Zahnverlust erweiterungsfähig ist. Die Gesamtversorgung mittels Zahnersatz würde durch den Verlust des Zahnes nicht gefährdet. Derselbe Zahn könnte aber für eine festsitzende Brückenversorgung keine ausreichende Pfeilerwertigkeit mehr besitzen. Bei einem Zahnverlust dieses Pfeilerzahns würde die Brückenversorgung zerstört. Bei der Planung einer Brücke oder einer Teilprothese ist die Statik zu ermitteln und welchen Kräften die Pfeilerzähne ausgesetzt sein werden. Die Pfeilerzähne sind dahingehend zu bewerten, ob sie den zu erwartenden Belastungen standhalten können, wobei eine fachgerechte Konstruktion vorausgesetzt wird. Allgemeinerkrankungen Ein generell erhöhtes Risiko von Knochennekrosen im Bereich des Alveolarfortsatzes, beispielsweise bei Zustand nach einer Strahlentherapie, nach einer Chemotherapie oder als Folge einer Bisphosphonatmedikation, kann die Pfeilerwertigkeit erniedrigen. Jugendliche Zähne Bei Jugendlichen ist das Pulpencavum (Zahnhöhle) weit. Es besteht die Gefahr der Pulpaeröffnung bei der Präparation (Beschleifen) der Zähne zur Aufnahme einer Krone, wodurch eine eingeschränkte Verwertbarkeit als Pfeilerzahn gegeben sein kann. Gegebenenfalls kann eine zahnsubstanzschonende Präparation, wie bei der Marylandbrücke (Adhäsivbrücke), einen jugendlichen Zahn für eine Brückenversorgung verwertbar machen. Dabei wird der Zahn nur auf der oralen (inneren) Seite präpariert (beschliffen). Der zu ersetzende Zahn wird mit einem oder zwei Flügeln am Nachbarzahn adhäsiv befestigt. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat hierzu die Richtlinien für die Zahnersatzversorgung 2016 erweitert: „Bei Versicherten, die das 14., aber noch nicht das 21. Lebensjahr vollendet haben, können zum Ersatz von zwei nebeneinander fehlenden Schneidezähnen bei ausreichendem oralen Schmelzangebot der Pfeilerzähne eine einspannige Adhäsivbrücke mit Metallgerüst mit zwei Flügeln oder zwei einspannige Adhäsivbrücken mit Metallgerüst mit je einem Flügel angezeigt sein. Zum Ersatz eines Schneidezahns kann bei ausreichendem oralem Schmelzangebot an einem oder beiden Pfeilerzähnen eine einspannige Adhäsivbrücke mit Metallgerüst mit einem oder zwei Flügeln angezeigt sein. Bei einflügeligen Adhäsivbrücken zum Ersatz eines Schneidezahns sollte der an das Brückenglied der Adhäsivbrücke angrenzende Zahn, der nicht Träger eines Flügels ist, nicht überkronungsbedürftig und nicht mit einer erneuerungsbedürftigen Krone versorgt sein“. Gegenbezahnung Die Belastung, die ein Zahn tragen muss, hängt auch von der Gegenbezahnung ab. Ist beispielsweise in einem Kiefer eine Versorgung mit einer Brücke geplant und im Gegenkiefer befindet sich eine Teil- oder Totalprothese, dann ist die Beißkraft reduziert. Dies bedeutet, dass die Pfeilerzähne der Brücke weniger Belastung auffangen müssen als bei einer Gegenbezahnung durch gesunde Zähne oder Implantate. In diesem Fall können auch Zähne mit einer reduzierten Pfeilerwertigkeit als Brückenpfeiler Verwendung finden. Patientenwünsche Wenn Patienten Zahnersatzkonstruktionen wünschen, bei denen Zähne mit reduzierter Pfeilerwertigkeit verwendet werden sollen, dann ist eine vorherige Aufklärung über die möglichen Konsequenzen unabdingbar, die auf die reduzierte Verweildauer des Zahnersatzes hinweist. Zeitaufwändige und kostspielige Behandlungen sind in diesen Fällen nach kürzerer Zeit erneut zu erwarten. BGB, der durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten 2013 eingeführt wurde, präzisiert die Aufklärungspflicht des Zahnarztes. Der Patient muss über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände aufgeklärt werden, insbesondere über Art, Umfang, Durchführung, zu erwartende Folgen und Risiken der Maßnahme sowie ihre Notwendigkeit, Dringlichkeit, Eignung und Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Diagnose oder die Therapie. Bei der Aufklärung ist auch auf Alternativen zur Maßnahme hinzuweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können. Wirtschaftlichkeitsgebot In Deutschland ist bei der Aufstellung eines Heil- und Kostenplans – unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebots der Gesetzlichen Krankenversicherung gemäß SGB V – die Pfeilerwertigkeit für die geplante Zahnersatzversorgung von entscheidender Bedeutung für die Erlangung eines Festzuschusses. Ist die Prognose des Zahnes fraglich, fällt der Zahn aus der Bezuschussungsfähigkeit heraus. Literatur Peter Pospiech: Pfeilerwertigkeit. In: Peter Pospiech: Die prophylaktisch orientierte Versorgung mit Teilprothesen. Thieme, Stuttgart u. a. 2001, ISBN 3-13-126941-3, S. 146 ff. Eingeschränkte Vorschau (PDF) abgerufen am 8. Februar 2017. Peter Pospiech: Der prothetische Pfeiler. In: Wehrmedizin und Wehrpharmazie, Band 57, Nr. 2/3, 2013, S. 63–66; wehrmed.de Daniel Pagel: Die Prothetik im parodontal geschädigten Gebiss. Risikoeinschätzung und therapeutische Möglichkeiten. Spitta, Balingen 2014, ISBN 978-3-943996-34-0 (Auszug: Online. Abgerufen am 8. Februar 2017). Michael G. Newman, Henry Takei, Perry R. Klokkevold, Fermin A. Carranza: Carranza’s Clinical Periodontology. 12. Auflage. Elsevier, St. Louis MO 2015, ISBN 978-0-323-18824-1. Weblinks S1-Empfehlung: Festsitzender Zahnersatz für zahnbegrenzte Lücken, Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde – dgzmk.de, 1. August 2012; abgerufen am 11. Februar 2017. Einzelnachweise Diagnostisches Verfahren in der Zahnmedizin Implantologie Zahnersatz Parodontologie
7809051
https://de.wikipedia.org/wiki/Lamborghini%20350%20GTV
Lamborghini 350 GTV
Der Lamborghini 350 GTV ist ein zweitüriges Coupé, das 1963 als Unikat entstand. Er ist der erste Sportwagen der Automobili Lamborghini S.p.A. und in technischer und stilistischer Hinsicht der Vorläufer des in kleiner Serie produzierten Lamborghini 350 GT. Das Auto war zunächst ein nicht fahrbereites Ausstellungsstück: Bei seiner Präsentation im Oktober 1963 befand sich anstelle des Motors lediglich eine Kiste mit Bauschutt unter der Fronthaube. Erst 25 Jahre später wurde es in einen fahrbereiten Zustand versetzt. Entstehungsgeschichte Das von Ferruccio Lamborghini gegründete Unternehmen Lamborghini Trattori S.p.A. produzierte ab 1948 Traktoren und Spezialmaschinen. Zehn Jahre nach der Gründung war Lamborghini der erfolgreichste Traktorhersteller Italiens. Seit den frühen 1960er-Jahren dachte Ferruccio Lamborghini über die Ausweitung seines Betriebes auf die Automobilproduktion nach. In der Literatur werden diese Überlegungen vielfach auf ein angebliches Zerwürfnis zwischen Ferruccio Lamborghini und Enzo Ferrari zurückgeführt, der sich – je nach Quelle – geweigert haben soll, seine Kupplungen bzw. die Zylinderköpfe seiner Sportwagen nach Lamborghinis Vorstellungen zu modifizieren oder Ferruccio Lamborghini zu einem Gespräch zu empfangen. Ferruccio Lamborghini beteiligte sich im Laufe der Jahrzehnte wiederholt an der Verbreitung dieser Geschichten. Ihr Wahrheitsgehalt wird allerdings bezweifelt. Andere Darstellungen gehen davon aus, dass sich Ferruccio Lamborghini und Enzo Ferrari nie persönlich kennengelernt haben. Vielmehr habe Lamborghini die Sportwagenproduktion in erster Linie mit dem Ziel aufgenommen, Werbung für seinen Traktorbetrieb zu machen; die angebliche Animosität zu Ferrari sei lediglich ein PR-Instrument gewesen. Eine italienische Quelle schließlich sieht Ferruccio Lamborghinis „Liebe zu allem Mechanischen“ als den entscheidenden Grund an. Ferruccio Lamborghini selbst erklärte im Herbst 1963: Im Dezember 1962 fiel die Entscheidung zugunsten der Produktion eines Lamborghini-Sportwagens. Nach Ferruccio Lamborghinis Vorstellungen sollte das Fahrzeug die stilistischen und technischen Elemente des Jaguar E-Type und die eines Ferrari miteinander verbinden. Als Motor war ein Zwölfzylinder vorgesehen, damit das neue Auto mit den aktuellen Ferrari-Modellen konkurrieren konnte. Einzelheiten Im Laufe des Jahres 1963 entstand in Sant’Agata Bolognese das Automobilwerk der neu gegründeten Automobili Lamborghini S.p.A. Zu dieser Zeit hatte das Unternehmen noch keine eigene Konstruktionsabteilung, die in der Lage war, einen Sportwagen der Oberklasse zu entwickeln. Viele Konstruktionsaufgaben für den 350 GTV wurden daher an selbständige Ingenieure wie Giotto Bizzarrini und Giampaolo Dallara oder an etablierte Betriebe vergeben. Die Einzelteile des Autos und des Motors wurden nach Lamborghinis Vorgaben von diversen selbständigen Betrieben als Auftragsarbeit gefertigt; soweit keine Neuentwicklung nötig war, kaufte Lamborghini technische Komponenten auch bei Zulieferbetrieben wie Girling, Salisbury oder ZF ein. Chassis und Aufhängung Der 350 GTV hatte einen Gitterrohrrahmen, den Dallara entworfen hatte. Der ganz überwiegende Teil der Automobilliteratur geht davon aus, dass er bei Neri e Bonacini in Modena aufgebaut wurde. Eine einzelne Quelle nennt abweichend davon das Modeneser Werk Marchesi als Hersteller des Rahmens. Alle vier Räder waren einzeln aufgehängt. Ferruccio Lamborghini legte besonderen Wert auf dieses Merkmal, mit dem sich sein Auto insbesondere von den Maserati-Modellen absetzte, die auch in den 1960er-Jahren noch eine hintere Starrachse mit Blattfedern hatten und im Hinblick darauf in der Presse gelegentlich spöttisch als „übermotorisierte Lastwagen“ bezeichnet wurden. An allen vier Rädern befanden sich Scheibenbremsen, die von Girling bezogen wurden. Karosserie Für den Karosserieentwurf hatte sich Ferruccio Lamborghini zunächst um die etablierten Designhäuser Bertone, Ghia, Pininfarina, Touring und Zagato bemüht. Sie alle sagten wegen angeblich fehlender Kapazitäten ab. Letztlich beauftragte Lamborghini den selbständigen Designer Franco Scaglione, der bis 1959 Chefdesigner bei Bertone gewesen war. Der alkohol- und kokainabhängige Scaglione galt unter den italienischen Designern als „der Mann fürs Wilde“. Er gestaltete ein zweisitziges Coupé mit langer Frontpartie, knapp geschnittener Fahrgastzelle und einer fließenden Dachlinie, die in ein kurzes Stufenheck mündete. Der Entwurf griff Designmerkmale des Osca 1500 Berlinetta auf, den Scaglione 1959 für Bertone entworfen hatte. Lediglich die Proportionen im vorderen Wagenbereich wurden geändert, und die angedeuteten Heckflossen des Osca entfielen. An der Frontpartie trug das Fahrzeug Klappscheinwerfer. Die Kofferraumklappe gab aufgrund des weit herabreichenden und abgerundeten Heckfensters nur eine schmale Öffnung frei. Wie beim Jaguar E-Type öffnete die gesamte Motorhaube einschließlich der vorderen Kotflügel nach vorn. Scagliones Entwurf wurde und wird unterschiedlich bewertet. Einige Beobachter sprachen von einem „aufregenden Entwurf“, und Giampaolo Dallara, der den 350 GTV zum 350 GT weiterentwickelte, fand die Karosserie gelungener als die des späteren Serienmodells. Andere sahen Scagliones Karosserie als „polarisierend“, „bizarr“ oder „aufgetakelt“ an oder hielten ihn für ein „konfuses Ensemble von Detailansichten etlicher anderer Sportwagen“. Die Karosserie bestand aus Stahlblech und war mit dem Chassis verschraubt. Anders als die Aufbauten der späteren Serienfahrzeuge wurde die Karosserie des 350 GTV bei der Carrozzeria Sargiotto in Nichelino aufgebaut. Ferruccio Lamborghini war mit der Arbeit der Franco Scaglione gehörenden Werkstatt unzufrieden. Er nannte sie später „eine wacklige Hütte, die kaum größer als drei mal vier Meter war“. Das handwerkliche Niveau war nach Darstellungen in der Fachpresse schlecht; das Fahrzeug sei „hastig hingepfuscht“ worden. Nach einer Quelle verhandelte Ferruccio Lamborghini im Zusammenhang mit dem Turiner Automobilsalon mit dem Turiner Unternehmen Carrozzeria Sibona-Basano, das 1963 ebenfalls dort debütierte, über eine Kleinserienfertigung des 350 GTV. Letztlich entschied sich Lamborghini jedoch für die Überarbeitung des ursprünglichen Entwurfs und einen namhafteren Partner. Motor: 100 PS pro Liter Hubraum Mit der Konzeption des Motors beauftragte Ferruccio Lamborghini den ehemaligen Ferrari-Ingenieur Giotto Bizzarrini. In welchem Maße der Motor allerdings tatsächlich von Bizzarrini konstruiert wurde und welche technischen Vorbilder das Triebwerk hat, wird in der Automobilliteratur unterschiedlich gesehen. Giotto Bizzarrini Der überwiegende Teil der Automobilliteratur sieht in der Konstruktion des Lamborghini-Zwölfzylinders eine Arbeit Giotto Bizzarrinis. Neuere Untersuchungen kommen dagegen zu dem Ergebnis, dass Bizzarrini entgegen der gängigen Darstellung den Motor nicht selbst konstruierte. Vielmehr lieferte er lediglich einige Skizzen für einen 1,5 Liter großen Zwölfzylindermotor, die er im Jahr 1959 noch als Ferrari-Angestellter gefertigt hatte. Die Detailkonstruktion des Lamborghini-Motors übernahmen Oliviero Pedrazzi und Achille Bevini als Subunternehmer für Bizzarrini. Hergestellt wurde er schließlich bei Neri e Bonacini. Lamborghinis Triebwerk war nach den Ferrari-Motoren von Gioacchino Colombo und Aurelio Lampredi sowie Giulio Alfieris Maserati der vierte in Italien konstruierte Zwölfzylinder der Nachkriegszeit. Die konzeptionellen Ursprünge des Motors sind nicht vollständig geklärt. Lamborghini erklärte bei der Vorstellung des Modells, es handele sich um ein komplett neu konstruiertes, eigenständiges Triebwerk. Giotto Bizzarrini trat dem in den 1990er-Jahren entgegen und behauptete, er habe im Wesentlichen den Ferrari-Zwölfzylindermotor von Gioacchino Colombo kopiert. Andere Quellen gehen demgegenüber davon aus, dass Maseratis Zwölfzylindermotor (Tipo 9) als Vorbild gedient hatte, der ab 1957 in der Formel 1 zum Einsatz kam: Beide Motoren hätten erhebliche technische Übereinstimmungen. Technische Einzelheiten Der Zwölfzylinder-V-Motor von Lamborghini hatte einen Hubraum von 3465 cm³. Der Zylinderkopf bestand aus Leichtmetall. Die Kurbelwelle war siebenfach gelagert. Jede der beiden Zylinderreihen hatte zwei obenliegende Nockenwellen, die über Rollenketten angetrieben wurden. Für jeden Zylinder waren zwei V-förmig angeordnete Ventile vorgesehen, die über Tassenstößel betätigt wurden. Die Brennräume waren halbkugelförmig ausgeführt und die Kolben, die in Auftragsarbeit bei ATS entstanden, stark nach oben erweitert. Das Gemisch wurde von sechs Doppelvergasern von Weber (Typ 38 IDL) aufbereitet. Die Verdichtung betrug 9,5 : 1. Die Kraft wurde über ein manuell geschaltetes Fünfganggetriebe von ZF auf ein selbstsperrendes Differenzial von Salisbury an der Hinterachse übertragen. Nach Ferruccio Lamborghinis Vorgabe sollte der Zwölfzylindermotor 100 PS für jeden Liter Hubraum produzieren. Lamborghini machte die Vergütung Bizzarrinis davon abhängig, dass dieser Wert erreicht wurde: Für jedes PS weniger war vertraglich ein Abzug von Bizzarrinis Honorar vereinbart. Bizzarrini erfüllte die Vorgabe. Der Prototyp des Motors leistete im August 1963 auf dem Prüfstand 360 SAE-PS bei 8000 Umdrehungen pro Minute. Angesichts dieses hohen Drehzahlniveaus war das Triebwerk allerdings nicht straßen- oder serientauglich. Ferruccio Lamborghini behielt deshalb einen Teil von Bizzarrinis Honorar ein; ein italienisches Gericht verpflichtete Lamborghini später zur Zahlung der vollen Vergütung. Bezeichnung Lamborghinis erstes Auto wurde werksintern Tipo 103 genannt. Die letztlich gewählte Modellbezeichnung 350 GTV bezog sich auf das Volumen des Motors (3,5 Liter Hubraum), nicht dagegen auf seine Leistung. Die Abkürzung GTV steht für Gran Turismo Veloce. Präsentation: Motorisiert oder nicht? Im Oktober 1963 waren der Prototyp des 350 GTV und ein Exemplar des Motors fertiggestellt. Noch im gleichen Monat wurde das Fahrzeug der Öffentlichkeit vorgestellt. Lamborghini zeigte den 350 GTV erstmals am 26. Oktober 1963 vor dem im Entstehen begriffenen Werk in Sant'Agata Bolognese; eine Woche später stand er auf dem Turiner Autosalon. In nahezu allen älteren Publikationen findet sich der Hinweis, der Motor habe nicht ins Auto gepasst und der Wagen sei 1963 ohne gezeigt worden. Recherchen aus dem Jahr 2013 ergeben indes, dass jedenfalls bei der ersten Präsentation am 26. Oktober 1963 der Motor im Vorderwagen eingebaut war. Dies wird durch zeitgenössische Fotografien belegt. Bei der anschließenden Messepräsentation war der 350 GTV allerdings unzweifelhaft nicht mit einem Motor ausgestattet. Stattdessen befand sich aus Gewichtsgründen unter der Motorhaube eine Holzkiste, die mit Bodenfliesen gefüllt war. Der Zwölfzylindermotor, von dem zu dieser Zeit nach wie vor lediglich ein Exemplar existierte, wurde neben dem Coupé auf einem separaten Gestell gezeigt. Fahrbereit war der 350 GTV 1963 zu keiner Zeit. Der Wagen hatte keine Kardanwelle, und die Elektrik fehlte vollständig. Modifikationen für die Serienproduktion Der 350 GTV war weder in technischer noch in stilistischer Sicht geeignet, in Serie produziert zu werden. Nach der Vorstellung des Fahrzeugs wurde daher sowohl die Technik als auch das Äußere umfangreich überarbeitet; einen wesentlichen Teil der Entwicklungsarbeit übernahm der spätere Lamborghini-Testfahrer Bob Wallace. Aus der modifizierten Version des 350 GTV entstanden der 350 GT und später der 400 GT, von denen bis 1968 120 (350 GT) bzw. 247 Exemplare (400 GT) gebaut wurden. Folgende Änderungen ergaben sich gegenüber dem Prototyp: Im Auftrag Lamborghinis überarbeitete die Carrozzeria Touring in Mailand Scagliones Karosserieentwurf im Laufe des Jahres 1964. Verantwortlicher war Giorgio Prevedi. Er behielt Scagliones Linien weitgehend bei, änderte aber zahlreiche Details im Hinblick auf eine rationelle Serienproduktion. So entfielen die Klappscheinwerfer zugunsten stehender Ovalleuchten, die je nach Quelle entweder von Hella bezogen und zur gleichen Zeit auch am NSU Prinz 1000 und am Ford Taunus P3 („Badewanne“) verwendet wurden oder die Cibié für den Citroën Ami 6 produzierte. Die hintere Dachlinie wurde ebenfalls geändert; ihre Rundung wurde so verkürzt, dass ein nutzbarer Kofferraumdeckel installiert werden konnte. Beobachter waren der Ansicht, dass Scagliones Entwurf dadurch nicht verbessert wurde. Touring änderte auch die Karosseriekonstruktion. Anstelle des Stahlblechaufbaus des 350 GTV entstand eine Aluminiumkarosserie, die auf einem Gerüst aus dünnen Stahlrohren ruhte (Superleggera-Prinzip). Für die Serienproduktion wurde auch der Zwölfzylindermotor in zahlreichen Details überarbeitet. Verantwortlicher Ingenieur war Giampaolo Dallara. Er ersetzte die Trockensumpfschmierung durch ein Druckumlaufsystem mit Nasssumpf und änderte die Vergaseranordnung. Zudem reduzierte er die Verdichtung auf 9,0 : 1. Die spätere Serienversion des Motors verlor damit 70 PS auf den Prototyp, wurde aber drehfreudiger und alltagstauglicher. Restaurierung des 350 GTV Der Lamborghini 350 GTV hatte von 1963 bis 1985 in verwahrlostem Zustand im Werk gestanden, bevor ihn der Lamborghini-Händler Romano Bernardoni kaufte. Bernardoni ließ den Wagen in seinem in Bologna ansässigen Betrieb Emilianauto restaurieren. Ziel war es, den Wagen unter Verwendung des ursprünglichen Bizzarrini-Motors erstmals in einen fahrbereiten Zustand zu versetzen. Die Arbeiten dauerten mehr als vier Jahre an. Der Motor war erhalten geblieben und wurde revidiert. Zahlreiche Karosserieteile wie auch der Auspuff, die Kardanwelle und die gesamte Elektrik mussten dagegen neu angefertigt werden. In zahlreichen Details orientierten sich die Restauratoren am Lamborghini 350 GT. Im Frühjahr 1990 fuhr der Lamborghini 350 GTV erstmals auf einer öffentlichen Straße. 2010 wurde das Auto von einem Schweizer Sammler übernommen, der es seitdem wiederholt auf internationalen Ausstellungen gezeigt hat. Technische Daten: Lamborghini 350 GTV und 350 GT im Vergleich Die nachstehende Übersicht gibt vergleichend die technischen Daten des Prototyp 350 GTV und des späteren Serienmodells 350 GT wieder. Literatur Georg Amtmann, Halwart Schrader: Italienische Sportwagen. Motorbuch-Verlag, Stuttgart 1999, ISBN 3-613-01988-4. Dean Bachelor, Chris Poole, Graham Robson: Das große Buch der Sportwagen. Müller, Erlangen 1990 (keine ISBN) Wolfgang Blaube: Grüner Star. 50 Jahre Lamborghini. Vorstellung des 350 GTV in: Oldtimer Markt, Heft 7/2013, S. 246 ff. Matthias Braun, Alexander Franc Storz: Typenkompass Lamborghini: Sportwagen nach 1964. Motorbuch-Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-613-02645-2. Kevin Brazendale: The Encyclopedia of classic cars. Advanced Marketing Services, London 1999, ISBN 1-57145-182-X (englisch). Decio Carugati: Lamborghini. Mondadori Electa, 2010, ISBN 978-88-370-6763-2. David Hodges: Lamborghini. The Legend. Smithmark Publishers, London 1998, ISBN 978-0-7651-0846-3. Hans-Karl Lange: Lamborghini. Alle Sportwagen seit 1963. Verlagsunion Pabel – Moewig, Rastatt 1991, ISBN 3-8118-3063-5. Hans-Karl Lange: Maserati. Der andere italienische Sportwagen. Zsolnay, Wien 1993, ISBN 3-552-05102-3. David Lillywhite, Halwart Schrader: Klassische Automobile. Motorbuch-Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 3-613-02552-3. Reinhard Lintelmann: 1000 Automobile. Geschichte. Klassiker. Technik. Naumann & Göbel Verlagsgesellschaft, Köln (ohne Jahr), ISBN 3-625-10543-8. Frank Oleski, Hartmut Lehbrink: Seriensportwagen. Könemann, Köln 1993, ISBN 3-89508-000-4. Stefano Pasini: Numero Uno. Sportwagengeschichte: Wie der erste Lamborghini 1963 entstand und Ende der 1980er-Jahre restauriert wurde. In: Motor Klassik, Heft 10/1991, S. 34 ff. Anthony Pritchard: Lamborghini. Die Geschichte der Supersportwagen aus Sant'Agata. Heel, Königswinter 2006, ISBN 3-89880-574-3. Weblinks Einzelnachweise 350 GT Sportwagen Coupé
7853251
https://de.wikipedia.org/wiki/L-Gulonolactonoxidase
L-Gulonolactonoxidase
{{SEITENTITEL:L-Gulonolactonoxidase}} L-Gulonolactonoxidase (GULO, Gulo oder GLO), auch als L-Gulono-γ-lacton-Oxidase bezeichnet, ist ein Enzym aus der Gruppe der Oxidasen, das für die Herstellung von Ascorbinsäure (Vitamin C) in höheren Organismen sehr wichtig ist. Es katalysiert mit der selektiven Oxidation von L-Gulonolacton (auch L-Gulono-1,4-lacton oder L-Gulono-γ-lacton genannt) den letzten Schritt der Biosynthese von Ascorbinsäure. Die L-Gulonolactonoxidase findet sich bei nahezu allen Wirbeltieren (Vertebrata) und – nach gegenwärtigem Kenntnisstand (2013) – auch bei sehr vielen Wirbellosen (Invertebrata). Die L-Gulonolactonoxidase wird durch Expression eines Gens, des Gulo-Gens, produziert. Ein durch eine Mutation ausgelöster Gendefekt führt bei dem betroffenen Organismus dazu, dass er keine Ascorbinsäure mehr herstellen kann. Ohne ausreichende Vitamin-C-Zufuhr über die Nahrung erkranken solche Organismen an Hypovitaminose C – beim Menschen Skorbut genannt. Beim Menschen sowie zahlreichen anderen Wirbeltiergruppen, u. a. bei allen Echten Knochenfischen (Teleostei), den meisten Taxa der Fledertiere (Chiroptera) und einigen Taxa der Sperlingsvögel (Passeriformes) sowie allen Meerschweinchen (Caviidae) entspricht die genetisch bedingte Unfähigkeit, Ascorbinsäure herstellen zu können, allerdings einem im Laufe der Evolution erworbenen Normalzustand. Vitamin-C-Mangelerscheinungen treten bei ihnen aufgrund einer allgemein Vitamin-C-reichen Nahrung nur in Ausnahmesituationen auf. Während beim Menschen und den übrigen betroffenen Amnioten Gulo als Pseudogen vorliegt und deshalb auch GULOP oder GuloP (P steht für ‚Pseudo‘) genannt wird, ist es bei Echten Knochenfischen gar nicht mehr nachweisbar. Erst der Funktionsverlust der L-Gulonolactonoxidase macht Ascorbinsäure für die betroffenen Spezies definitionsgemäß zu einem ‚Vitamin‘. Für alle anderen Arten mit funktionsfähiger L-Gulonolactonoxidase ist Ascorbinsäure nur ein Metabolit. Funktion und Beschreibung Ascorbinsäure ist für alle Pflanzen und Tiere lebensnotwendig (essenziell). Als autotrophen Organismen stehen Pflanzen keine exogenen Quellen zur Deckung des Ascorbin­säure­bedarfs zur Verfügung. Sie sind daher alle auf die Eigensynthese von Ascorbinsäure angewiesen. Dagegen können Tiere, die grundsätzlich heterotroph sind, ihren Bedarf an Ascorbinsäure prinzipiell über die Nahrungsaufnahme beispielsweise von Pflanzen decken. Dennoch sind die weitaus meisten Wirbeltiere in der Lage, Ascorbinsäure selbst zu synthetisieren. Bei der sehr großen Anzahl wirbelloser Tiere ist das Wissen darüber, welche Arten in der Lage sind, Ascorbinsäure zu synthetisieren, noch sehr lückenhaft und zum Teil widersprüchlich. Die Biosynthese von Ascorbinsäure in Pflanzen unterscheidet sich grundlegend von der in Tieren. So ist beispielsweise bei höheren Pflanzen im letzten Syntheseschritt L-Galactono-1,4-lacton das Substrat für das Enzym L-Galactono-1,4-γ-lacton-Dehydrogenase (GLDH). L-Gulonolactonoxidase spielt bei der Biosynthese von Ascorbinsäure bei Pflanzen keine Rolle. Bei Tieren beginnt die Biosynthese mit der D-Glucose (Traubenzucker). Sie wird auf enzymatischem Weg in vier Stufen über die Zwischenprodukte D-Glucuronsäure, L-Gulonsäure und L-Gulono-1,4-lacton in Ascorbinsäure umgewandelt. Für den letzten Schritt der Biosynthese in Tieren wird das Enzym L-Gulonolactonoxidase benötigt. Es katalysiert die Oxidation von L-Gulono-1,4-lacton zur Ascorbinsäure. Für diese Reaktion wird zudem Sauerstoff benötigt, der über die Blutgefäße den ascorbinsäure­produzierenden Zellen zugeführt wird. Zusammen mit zwei Wasserstoffatomen, die bei der Reaktion aus dem Ringsystem des L-Gulonolacton in 3,4-Position entfernt werden, bildet sich so als Nebenprodukt der Reaktion Wasserstoffperoxid. Organismen, denen das Enzym L-Gulonolactonoxidase fehlt oder bei denen es durch eine Mutation nicht funktionsfähig ist, können selbst keine Ascorbinsäure produzieren. Diese Organismen sind auf die Aufnahme ausreichender Mengen von Ascorbinsäure über die Nahrung angewiesen. Andernfalls erkranken sie bei einem Vitamin-C-Mangel. L-Gulonolactonoxidase ist ein mikrosomales Enzym. Bei der Ratte und anderen Gulo-positiven Säugern findet es sich in den Mikrosomen der Hepatozyten (Leberzellen). Es ist ein membranständiges Enzym, dessen aktive Seite in das Lumen der Mikrosomen hineinragt. Das oxidierte Substrat – die Ascorbinsäure – wird dagegen extraluminal in Richtung des Endoplasmatischen Retikulums abgegeben. Das bei der Reaktion ebenfalls entstehende Wasserstoffperoxid wird durch äquivalente Mengen von Glutathion reduziert. Das bevorzugte Substrat der L-Gulonolactonoxidase ist L-Gulono-1,4-lacton. Darüber hinaus ist es auch in der Lage die Oxidation von L-Galactonolacton, D-Mannonolacton und D-Altronolacton zu katalysieren. Dagegen wird die Oxidation von anderen γ-Lactonen, wie beispielsweise L-Idonolacton oder D-Gluconolacton, nicht katalysiert. Offensichtlich müssen die geeigneten Substrate eine Hydroxygruppe am zweiten Kohlenstoffatom aufweisen. Die Michaeliskonstante (Km-Wert) von L-Gulonolactonoxidase liegt im Bereich von 0,007 bis 0,15 mM. Prinzipiell ist der Elektronentransfer von der L-Gulonolactonoxidase nicht auf Sauerstoff als Elektronenakzeptor beschränkt. Auch andere Oxidationsmittel, wie beispielsweise Phenazinmethosulfat oder Kaliumhexacyanidoferrat(III) können mittels L-Gulonolactonoxidase L-Gulono-1,4-lacton zu Ascorbinsäure oxidieren. Aus der Rattenleber isolierte L-Gulonolactonoxidase besteht aus 440 Aminosäuren und hat eine molare Masse von 50.605 g/mol. Das für dieses Enzym codierende Gen hat einen offenen Leserahmen von 1320 Nukleotiden. Vorkommen und Nachweis Das für das Enzym L-Gulonolactonoxidase codierende Gulo-Gen findet sich bei fast allen Wirbeltieren. Es wird vor allem von Zellen in der Leber oder in den Nieren exprimiert. Diese beiden Organe sind die Hauptproduzenten für Ascorbinsäure bei Wirbeltieren. Im Laufe der Evolution fand in verschiedenen Entwicklungslinien der Wirbeltiere unabhängig voneinander ein Wechsel der Ascorbinsäuresynthese von den Nieren zur Leber statt. So wird bei Fischen, Amphibien, Reptilien und entwicklungsgeschichtlich älteren Vogel-Ordnungen sowie bei den eierlegenden Säugetieren (Kloakentiere, Monotremata) Ascorbinsäure in den Nieren produziert. Dagegen findet die Ascorbinsäureproduktion bei entwicklungsgeschichtlich jüngeren Vogel-Ordnungen und bei den höheren Säugetieren (Placentalia) in der Leber statt. Beuteltiere (Marsupialia) produzieren Ascorbinsäure sowohl in den Nieren als auch in der Leber. Der Übergang zur größeren Leber ist möglicherweise das Ergebnis eines höheren Selektionsdrucks, um unter Stressbedingungen die Homöostase besser aufrechterhalten zu können. Gulo wird von vielen Organismen erst in einer späteren Phase ihrer Individualentwicklung exprimiert. Rattenföten sind beispielsweise erst ab dem 16. Tag in der Lage Ascorbinsäure zu produzieren. Die Expression von Gulo kann durch verschiedene Stimuli erhöht werden. Dazu gehört beispielsweise die Glykogenolyse (der Abbau von Glykogen). Auch verschiedene Medikamente, wie zum Beispiel Barbiturate, Phenazon oder Aminophenazon, sowie Karzinogene, wie Methylcholanthren oder Benzo[a]pyren, erhöhen die Gulo-Expression bei Versuchstieren. Die Ursache hierfür ist vermutlich der erhöhte Bedarf an Glucuronsäure zur Entgiftung dieser Xenobiotika. Dabei werden offensichtlich alle Enzyme des Glucuronsäure-Wegs hochreguliert. Einige Spezies sind nicht in der Lage, Ascorbinsäure selbst zu synthetisieren. Nach dem gegenwärtigen Stand ist die Ursache hierfür immer ein Defekt des Gulo-Gens oder dessen Deletion. Bis in die 1970er Jahre hinein bestand die klassische Nachweismethode für ein defektes oder fehlendes Gulo-Gen darin, Versuchstiere möglichst ascorbinsäurefrei zu ernähren und dann auf Symptome des Vitamin-C-Mangels hin zu untersuchen. Danach wurden In-vitro-Techniken entwickelt, bei denen man Gewebehomogenisate, beispielsweise aus Leber oder Nieren der zu untersuchenden Spezies, mit L-Gulono-1,4-lacton, – dem Vorläufermolekül der Ascorbinsäure bei der Biosynthese – versetzte und die unter dem katalytischen Einfluss der L-Gulonolactonoxidase gebildete Menge an Ascorbinsäure bestimmte. Beides sind indirekte Nachweismethoden für das Vorhandensein von L-Gulonolactonoxidase. Moderne Verfahren der Genexpressionsanalyse von Gulo basieren beispielsweise auf Gulo-spezifischen Antikörpern und Western Blot, sowie auf der Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung. Wirbellose und basale Wirbeltiere Bei stichprobenartigen Untersuchungen an Wirbellosen („Invertebrata“) und Fischen fand man zunächst keine Hinweise auf eine Aktivität von L-Gulonolactonoxidase oder allgemein auf die Fähigkeit dieser Tiere, Ascorbinsäure synthetisieren zu können. Eine dieser Spezies ist beispielsweise die Wüstenheuschrecke (Schistocerca gregaria). In den 1970er Jahren erwuchs aus diesen Ergebnissen die Ansicht, dass Fische sowie Insekten und andere Wirbellose grundsätzlich nicht in der Lage seien, Ascorbinsäure zu produzieren. Da bekannt war, dass bei den modernen Amphibien L-Gulonolactonoxidase in aktiver Form vorhanden ist, wurde die Hypothese ergänzt durch das Postulat, dass die L-Gulonolactonoxidase ein erst im Zuge des Landgangs der Wirbeltiere, der für den Zeitraum vor ca. 416 bis 359 Millionen Jahren vermutet wird, neu erworbenes Merkmal sei. Der Bedarf an Ascorbinsäure, so die Argumentation, sei durch den mit dem Landgang verbundenen erhöhten oxidativen Stress deutlich höher. Bei der Aufstellung dieser Hypothese sind allerdings ältere Untersuchungen, die in direktem Widerspruch dazu standen, nicht berücksichtigt worden. So wurde bereits 1922 beim „Modellorganismus“ Drosophila melanogaster (Schwarzbäuchige Taufliege) festgestellt, dass dieser ohne Ascorbinsäure in der Nahrung auskommt. Gleiches gilt für den Roten Baumwollkapselwurm (Pectinophora gossypiella) und die Motte Argyrotaenia velutinana. Zudem wurden systematische Fehler begangen. So gehörten die untersuchten Fische alle zu den Echten Knochenfischen (Teleostei), bei denen es sich jedoch um eine relativ stark abgeleitete Gruppe der Strahlenflosser (Actinopterygii) handelt. Nachdem in den folgenden Jahren bei ursprünglicheren Strahlenflossern, Lungenfischen (Dipnoi), Haien (Selachii) und Rochen (Batoidea) die Fähigkeit zur Ascorbinsäuresynthese nachgewiesen werden konnte, war die Annahme, dass diese Fähigkeit bei Wirbeltieren erst durch den Landgang evolutionär erworben wurde, nicht mehr haltbar. Nachdem 1998 auch bei dem Meerneunauge (Petromyzon marinus), einem sehr ursprünglichen Wirbeltier, aktive L-Gulonolactonoxidase nachgewiesen wurde, kann zudem davon ausgegangen werden, dass die Ascorbinsäuresynthese ein ursprüngliches Merkmal aller Wirbeltiere ist, das lediglich in einigen Entwicklungslinien wieder abhandenkam. Bei Wirbellosen ist das Wissen um die Fähigkeit der Ascorbinsäuresynthese jedoch noch zu lückenhaft, als dass sich derzeit (2013) bestimmen ließe, wann diese durch L-Gulonolactonoxidase ermöglichte Fähigkeit im Laufe der Evolution erstmals in Erscheinung trat. „Höhere“ Wirbeltiere ohne L-Gulonolactonoxidase Bei allen Wirbeltieren, die nicht in der Lage sind, Ascorbinsäure selbst zu synthetisieren, ist die Ursache hierfür immer das Gulo-Gen, dessen Genprodukt den letzten Schritt der Biosynthese zur Ascorbinsäure katalysiert. Bei keinem dieser Tiere ist ein Gendefekt in einem der anderen drei in die Ascorbinsäure­biosynthese involvierten Enzyme die Ursache. Die Erklärung hierfür ist, dass ein Defekt bei Gulo nur die Synthese von Ascorbinsäure betrifft, während ein Gendefekt hinsichtlich anderer Enzyme noch die Biosynthese weiterer Substanzen unterbrechen würde. Beispielsweise würde ein Gendefekt, durch den keine Produktion von Glucono-Lactonase erfolgte, nicht nur die Synthese von L-Gulonolacton unterbrechen, sondern unter anderem auch den Pentosephosphatweg und den Abbau von Caprolactam. Das Gulo-Gen unterliegt, im Vergleich zu den anderen Genen der Ascorbinsäure­biosynthese, einem deutlich geringeren Selektionsdruck. Ein Funktionsverlust hat weniger fatale Folgen und ist bei manchen Organismen offensichtlich sogar ohne negative Auswirkungen. Mehrere Entwicklungslinien der Wirbeltiere sind bezüglich L-Gulonolactonoxidase negativ. Dies sind alle Echten Knochenfische (Teleostei), einige Familien der Sperlingsvögel (Passeriformes) und Fledertiere (Chiroptera), alle Arten aus der Familie der Meerschweinchen (Caviidae) und alle zur Unterordnung der Trockennasenprimaten (Haplorhini) gehörenden Arten, einschließlich der des Menschen. Bei den Echten Knochenfischen, Meerschweinchen und Trockennasenprimaten ist der Gendefekt so schwerwiegend, dass er evolutionsgeschichtlich als irreversibel einzustufen ist. Dagegen ist das ursprüngliche Gulo-Pseudogen in einigen Fledertier- und Sperlingsvogelarten im Laufe der Evolution offensichtlich wieder reaktiviert worden. Bei dieser ‚Gen-Reaktivierung‘ spielte nach derzeitigem Kenntnisstand die Nahrung der betroffenen Spezies offensichtlich keine Rolle. Man vermutet daher, dass der Verlust der Fähigkeit, Ascorbinsäure zu synthetisieren, ein neutrales Merkmal ist. Echte Knochenfische (Teleostei) Ursprünglich ging man davon aus, dass Fische generell nicht in der Lage sind, Ascorbinsäure zu synthetisieren, und dass sich diese Fähigkeit im Laufe der Evolution erstmals bei den frühen Landwirbeltieren entwickelte habe. Aufgrund umfangreicher Untersuchungen weiß man heute, dass alle Fische, mit Ausnahme der Echten Knochenfische (Teleostei), Ascorbinsäure in ihrem Körper produzieren. Dies tun sie mit Hilfe der L-Gulonolactonoxidase, die bei allen Gulo-positiven Fischen in den Nieren produziert wird. Die Ascorbinsäuresynthese ist ein angestammtes Merkmal von Wirbeltieren, das bei dem gemeinsamen Vorfahren der Teleostier vor etwa 200 bis 210 Millionen Jahren verloren ging. Der Gen-Verlust, der dieses Merkmal bewirkt, ist offensichtlich vollständig. Mittels BLAST-Algorithmus konnte in keinem der vollständig sequenzierten Genome eines Teleostiers die Gulo-Sequenz, beziehungsweise Reste davon, gefunden werden. Im Vergleich dazu findet man, ausgehend von der Proteinsequenz der L-Gulonolactonoxidase des Haushuhns (Gallus domesticus), eine 74%ige Übereinstimmung zu der des Weißen Störs (Acipenser transmontanus) und selbst zur Schlauchseescheide (Ciona intestinalis) noch eine 48%ige Übereinstimmung. Das Gulo-Gen, das die L-Gulonolactonoxidase codiert, ist somit über viele Taxa hoch konserviert. Die Ursache dafür, dass man keine Reste des Gulo-Gens im Genom der Teleostier findet, ist entweder, dass das Pseudogen über die etwa 200 Millionen Jahre bis zur Unkenntlichkeit mutierte oder dass es zu einer Gendeletion kam. Sperlingsvögel (Passeriformes) Die Ordnung der Sperlingsvögel (Passeriformes) ist evolutionsgeschichtlich betrachtet ein vergleichsweise junges Taxon. Einige Arten sind nicht in der Lage, Ascorbinsäure selbst zu synthetisieren. Andere wiederum synthetisieren die Ascorbinsäure in der Leber und nicht, wie in vielen anderen Vogelarten, in den Nieren. Der Übergang zur Synthese in der Leber, und der Funktionsverlust bei einigen Arten der Sperlingsvögel, wird von einigen Autoren als „evolutionärer Fortschritt“ gewertet. Genauere Untersuchungen der Stammesgeschichte machen deutlich, dass diejenigen Sperlingsvögel, die nicht in der Lage sind, Ascorbinsäure zu synthetisieren, nicht monophyletisch sind. Geht man davon aus, dass die Unfähigkeit zur Ascorbinsäuresynthese der angestammte Zustand der Sperlingsvögel ist, so wurde die Fähigkeit viermal in verschiedenen Linien zurückerlangt, und ging einmal erneut verloren (bei Terpsiphone). Nimmt man dagegen an, dass die Fähigkeit zur Ascorbinsäuresynthese der angestammte Zustand ist, so ging diese Fähigkeit dreimal in verschiedenen Linien verloren und wurde dreimal erneut wiedererlangt. Fledertiere (Chiroptera) Nachdem bei Untersuchungen an der Fledermausart Vesperugo abramus und der Flughunde-Gattung Pteroptus festgestellt wurde, dass diese nicht in der Lage sind Ascorbinsäure zu synthetisieren, wurden 1976 insgesamt 34 Fledertierarten aus 6 unterschiedlichen Familien eingehend auf diese Fähigkeit untersucht. Nachdem man keine Gulo-Aktivität bei diesen Tieren fand, schloss man daraus 1976 voreilig, dass dies bei Fledertieren generell der Fall sei. Diese Annahme musste 2011 revidiert werden: Bei der Flughundart Rousettus leschenaultii und der Fledermausart Himalaja-Rundblattnase (Hipposideros armiger) stellte man zunächst überraschenderweise fest, dass bei diesen Tieren das Gulo-Gen kein Pseudogen ist. Mit einem fledertierspezifischen polyklonalen Gulo-Antikörper konnte dann bei diesen beiden Fledertierarten schließlich auch L-Gulonolactonoxidase nachgewiesen werden – sie sind also in der Lage Ascorbinsäure zu produzieren. Verglichen mit einer Maus ist die Produktion von L-Gulonolactonoxidase etwa um den Faktor sechs beziehungsweise vier reduziert. Basierend auf der heute allgemein akzeptierten Phylogenie der Fledertiere lässt sich folgern, dass bei diesen beiden Spezies das ursprünglich inaktive Gulo-Gen evolutionär wieder reaktiviert wurde. Im Gegensatz zu beispielsweise den Teleostiern ist dies möglich, weil die Sequenz des Gulo-Gens in beiden Arten sehr gut erhalten ist und sich von dem Gulo-positiver Säugetiere nur wenig unterscheidet. Die Reaktivierung des Gens benötigte wahrscheinlich nur Mutationen in Bereichen, die an der Regulierung der Expression des Gens beteiligt sind. Die Tatsache, dass die Aktivität deutlich geringer als bei einer Maus ist, lässt darauf schließen, dass weitere Mutationen zur Erhöhung der Expressionsrate erforderlich wären. Andererseits kann die weitere evolutionäre Entwicklung des Gulo-Gens in diesen beiden Spezies auch in genau die andere Richtung verlaufen, nämlich, dass es auf dem Weg zu einem nicht mehr aktiven Pseudogen ist. Beim Kalong-Flughund (Pteropus vampyrus), der Gulo-negativ ist, wurden im Genom die Exons 3 bis 8 sowie 11 und 12 gefunden. Die Sequenz ist frei von Indels und Stopcodons, sodass die Genstruktur noch weitgehend intakt ist. Allerdings weist die dazugehörige Aminosäuresequenz acht Mutationen an Positionen auf, die bei elf anderen Säugetierarten vollständig konserviert sind. Es wird daher vermutet, dass selbst im Fall einer möglichen Expression dieses Gens das Genprodukt – L-Gulonolactonoxidase – nicht funktionsfähig ist. Der Zustand des Gulo-Gens beim Kalong-Flughund ist möglicherweise ein Beispiel für ein Gen, das im Laufe der Evolution nicht mehr reaktiviert werden kann, da zu viele Rückmutationen notwendig wären. Die Veränderungen im Gulo-Gen der Fledertiere sind evolutionsgeschichtlich vergleichsweise jung. Beispielsweise fand die Loss-of-function-Mutation bei der Gattung Pteropus erst vor etwa 3 Millionen Jahren statt. Meerschweinchen (Caviidae) Meerschweinchen sind Gulo-negativ, wobei mit diesem Merkmal eine besondere medizinhistorische Episode verbunden ist: Bereits 1907 entdeckten die beiden norwegischen Ärzte Axel Holst und Theodor Frølich, dass Meerschweinchen bei einer bestimmten Diät, die ausschließlich aus Getreide oder Brot bestand, ein Krankheitsbild entwickeln, das dem des Skorbuts beim Menschen entspricht. Ihnen gelang es damit erstmals die Vitamin-C-Mangelerkrankung gezielt auf ein Versuchstier zu übertragen. Darüber hinaus konnten sie zeigen, dass bei einer einseitigen Ernährung mit Weißkohl, Karotte oder Löwenzahn die Versuchstiere nicht erkrankten. Ließen sie den verfütterten Hafer oder die Gerste zuvor keimen, erkrankten die Meerschweinchen ebenfalls nicht. Trockneten sie das gekeimte Getreide vor der Verfütterung oder erwärmten sie es auf 37 °C, so gingen die anti-skorbutischen Eigenschaften wieder verloren. Holst und Frølich gelang mit ihren Versuchen der Beweis, dass Skorbut eine Mangelerkrankung ist. 19 Jahre nach den Versuchen von Holst und Frølich wurde von Albert von Szent-Györgyi Nagyrápolt die Ascorbinsäure entdeckt. Durch vergleichende Sequenzanalysen des Gulo-Gens von Ratten, Mäusen und Meerschweinchen wurde, ausgehend von einem Zeitpunkt der Trennung (Divergenzzeit) der Meerschweinchen-Linie (entspricht der Großgruppe der Stachelschweinverwandten) von der Ratte-Maus-Linie (entspricht der Großgruppe aus Biberverwandten, Mäuseverwandten und Gleithörnchen) bei etwa 72 mya, der Zeitpunkt der Loss-of-function-Mutation des Gulo-Gens bei Meerschweinchen auf etwa 14 mya datiert. Das vergleichsweise geringe Alter, sowie die Art der weiteren Mutationen im Gulo-Pseudogen, zeigen eindeutig, dass dieser Funktionsverlust unabhängig von dem bei anderen Säugetieren, beispielsweise der Trockennasenprimaten, entstanden sein muss. So sind im Gulo-Pseudogen der Meerschweinchen die Exons 1 und 5 vollständig und Exon 6 teilweise verloren gegangen, während bei den Trockennasenprimaten von den ursprünglichen zwölf Exons sieben verloren gingen. Die Art der ersten Mutation, die zum Funktionsverlust der L-Gulonolactonoxidase geführt hat, ist jedoch sowohl bei den Meerschweinchen als auch bei den Trockennasenprimaten noch völlig unklar. ODS-Ratten und sfx-Mäuse ODS-Ratten (Osteogenic Disorder Shionogi) sind ein mutierter Stamm von Albino-Ratten (Wistar-Ratten), bei denen durch eine Punktmutation die Funktion von L-Gulonolactonoxidase völlig zum Erliegen gekommen ist. Eine einzige G-A-Mutation (Guanin gegen Adenin) im Nukleotid 182 führt im Genprodukt dazu, dass die Aminosäure Cystein in Position 61 der L-Gulonolactonoxidase durch Tyrosin ersetzt wird, was den vollständigen Funktionsverlust (Loss-of-function-Mutation) der Oxidase zur Folge hat. Im Jahr 2000 wurde erstmals über einen Mäusestamm berichtet, der zu spontanen Knochenbrüchen neigt. Bei diesen als sfx-Mäuse (engl. spontaneous bone fractures) bezeichneten Tieren wurde zunächst ein Gendefekt auf Chromosom 14 als Ursache gefunden. 2005 wurde entdeckt, dass es sich um eine Deletion des Gulo-Gens auf diesem Chromosom handelt. Erhalten sfx-Mäuse in ihrer Nahrung eine ausreichende Menge an Vitamin C, so geht die Neigung zu spontanen Knochenbrüchen verloren. ODS-Ratten und sfx-Mäuse werden – neben Meerschweinchen – als Modellorganismen, vor allem für Versuche zum Vitamin-C-Stoffwechsel, verwendet. Trockennasenprimaten (Haplorhini) Allgemein Derzeit (2013) wird davon ausgegangen, dass der Funktionsverlust von Gulo bei den Trockennasenprimaten (Haplorhini) im Zeitraum vor etwa 74 bis 61 Millionen Jahren stattfand, relativ kurz nach Trennung der Linie der Trockennasenprimaten (Altweltaffen, Neuweltaffen und Koboldmakis) von der Lemuren-Linie (77,5 mya). Da funktionslose Pseudogene keinem Selektionsdruck unterliegen, und Mutationen in diesen Genen für den betroffenen Organismus keinen Evolutionsvorteil oder -nachteil haben, weisen sie typischerweise eine hohe Mutationsrate auf. Deshalb lassen sich durch den Vergleich identischer Genabschnitte Verwandtschafts­beziehungen zwischen einzelnen Entwicklungslinien der Trockennasenprimaten analysieren. Eine japanische Forschergruppe verglich dazu 1999 einen Genabschnitt mit 164 Basenpaaren auf Exon 10 von GuloP bei mehreren Primatenspezies. Je weniger Basenpaare in diesem Abschnitt sich beim Vergleich zweier Arten unterscheiden, desto näher verwandt sind sie miteinander. Bei Schimpansen, den nächsten Verwandten des Menschen, sind tatsächlich auch die Unterschiede zum GuloP-Gen des Menschen am kleinsten. Für den US-amerikanischen Biologen Jerry Coyne ist GuloP eines der wichtigsten Beweisstücke für die Evolution und ein Argument gegen das sogenannte „Intelligent Design“. Der Verlust der Funktion von Gulo und die Mutationsunterschiede zwischen den Primaten, die mit ihrem Verwandtschaftsgrad korrelieren, lassen sich seiner Meinung nach nur durch die Evolution und gemeinsame Vorfahren dieser Spezies erklären. Coyne fragt unter anderem, weshalb ein „Designer“ beim Menschen einen Mechanismus zur Ascorbinsäuresynthese einbauen würde, ihn aber dann durch die Veränderung eines der dafür verantwortlichen Gene wieder abschaltet. Menschen (Homo sapiens) GuloP ist eines von etwa 80 Pseudogenen, die bisher beim Menschen gefunden und charakterisiert werden konnten. Es liegt auf Chromosom 8 Genlocus 21.1. GuloP besteht aus etwa sechs Exons, die aber alle nicht codieren. Das heißt, dass dieses Gen nicht als Vorlage für die Biosynthese eines dem genetischen Code entsprechenden Proteins – dem Enzym L-Gulonolactonoxidase – dient, was wiederum der Grund dafür ist, dass es als Pseudogen bezeichnet wird. Im Vergleich dazu besteht das voll funktionsfähige Gulo-Gen der Ratten aus zwölf Exons. Die Länge des Transkriptes beträgt beim Menschen 748 Basenpaare. Von den zwölf Exons im Gulo-Gen der Ratte finden sich beim Menschen nur die Exons 7, 9, 10 und 12. Für die Exons 8 und 11 liegt wahrscheinlich eine Deletion vor. In den erhaltenen Exons findet sich die für Pseudogene allgemein typische hohe Anzahl an Mutationen. Bis in die 1970er Jahre hinein gab es Spekulationen darüber, dass bestimmte Populationen – speziell die Eskimos – möglicherweise in der Lage sind, Ascorbinsäure in ihrem Körper synthetisieren zu können. Aus der täglichen Nahrung, die seinerzeit fast ausschließlich aus Fisch und Fleisch bestand, schien es, könne der tägliche Bedarf an Vitamin C nicht gedeckt werden. Heute weiß man, dass Eskimos – wie alle anderen Menschen auch – keine L-Gulonolactonoxidase in ihrem Organismus haben und folglich auch keine Ascorbinsäure synthetisieren können. Die Zubereitung von Fleisch, häufig roh, höchstens aber nur mild gekocht, sorgt für einen weitgehenden Erhalt des enthaltenen Vitamin C. Man geht heute davon aus, dass etwa 15 bis 20 mg Vitamin C so über die tägliche Nahrung aufgenommen werden. Eine Menge, die ausreichend hoch ist, um Skorbut zu verhindern. Dazu kommen noch regelrechte Vitamin-C-Schübe durch den Verzehr von roher Robben- oder Rentier-Leber. Der Verzehr von Mengen um 100 Gramm ist ausreichend, um den täglichen Bedarf an Vitamin C zu decken. Von den Eskimos wird Maktaaq (Walhaut) sehr geschätzt und dies lange bevor man durch Analysen einen hohen Gehalt an Vitamin C nachweisen konnte. Maktaaq enthält ca. 35 mg Vitamin C pro 100 Gramm – eine höhere Konzentration an Vitamin C als sie einige Zitrusfrüchte aufweisen. Alles in allem geht man davon aus, dass ein Eskimo bei traditioneller Ernährung etwa 40 mg Vitamin C pro Tag aufnimmt. Ursachen für einen Funktionsverlust Aus evolutionärer Sicht konnten nur solche Arten die Funktion von L-Gulonolactonoxidase verlieren, die über ihre Nahrung dauerhaft ausreichende Mengen an Ascorbinsäure aufnehmen. Andernfalls wäre eine Loss-of-function-Mutation bei Gulo ein signifikanter Selektionsnachteil. Alle Tierarten, die nicht in der Lage sind, Ascorbinsäure selbst zu produzieren, ernähren sich von Natur aus Vitamin-C-reich. Dies zeigen Untersuchungen an verschiedenen Spezies, die Gulo-negativ sind. Während die empfohlene Vitamin-C-Tagesdosis erwachsener Menschen in den Vereinigten Staaten bei 1 mg pro kg Körpergewicht und Tag liegt, nehmen in freier Wildbahn beispielsweise Gorillas 20 bis 30, Mantelbrüllaffen 88 und Geoffroy-Klammeraffen 106 mg Vitamin C pro kg Körpergewicht und Tag auf. Die Jamaika-Fruchtfledermaus (Artibeus jamaicensis) kommt gar auf einen Wert von 258 mg/kg/Tag. Ein weiteres Indiz für den fehlenden Selektionsdruck bei Gulo-negativen Arten ist, dass diese Tiere zwar eine sehr unterschiedliche, aber immer Vitamin-C-reiche Ernährung haben. Umgekehrt wurde bisher noch keine Gulo-negative Spezies gefunden, die sich Vitamin-C-arm ernährt, beispielsweise durch den ausschließlichen Verzehr von Pflanzensamen. Ein Mehr an Ascorbinsäure durch körpereigene Synthese, zusätzlich zur Ascorbinsäure, die über die Nahrung aufgenommen wird, bietet offenbar keinen Selektionsvorteil. Die Nahrungsergänzung mit Vitamin C zu der normalen, Vitamin-C-reichen Nahrung zeigt bei Meerschweinchen keine positiven Effekte. Der Selektionsdruck ist bei vielen Wirbeltieren, sowohl was den Verlust, als auch den Wiedergewinn der Gulo-Aktivität betrifft, offensichtlich sehr klein. Der zweifache Nobelpreisträger Linus Pauling beschäftigte sich intensiv mit der Frage, warum einige Arten die Fähigkeit zur Ascorbinsäure-Synthese verlieren konnten, obwohl diese potenziell doch so lebensnotwendig ist. Er stellte dabei für den Menschen die These auf, dass ein direkter, früher Vorfahre des Menschen vor etwa 25 Millionen Jahren in einem Gebiet lebte, in dem die Nahrung dieser Tierart reich an Ascorbinsäure gewesen sei. Durch eine Mutation sei die Fähigkeit zur körpereigenen Ascorbinsäure-Synthese verlorengegangen. Möglicherweise sei dies durch den Funktionsverlust eines Enzyms geschehen. Da über die Nahrung ausreichend Vitamin C zur Verfügung stand, habe diese Mutation nicht nur keine negativen Auswirkungen, sondern im Gegenteil einen Selektionsvorteil bedeutet. Dieser habe sich dadurch ergeben, dass diese Mutanten keine Ressourcen mehr in Aufbau und Betrieb der Ascorbinsäure-Biosynthese hätten stecken müssen. Die durch den Verlust der Ascorbinsäure-Synthese freigewordene Energie habe den betroffenen Organismen nun für andere Zwecke zu Verfügung gestanden, wodurch sie einen Vorteil gegenüber den Nicht-Mutanten gehabt hätten. Pauling folgte mit diesem Denkansatz weitgehend der Life-history-Theorie und der Less-is-more-Hypothese. Letztere besagt, dass Genverluste eine wichtige Rolle in der Evolution spielen und einen Evolutionsvorteil bedeuten können. Ascorbinsäure regelt in höheren Organismen den Hypoxie-induzierten Faktor 1α (HIF-1α). Bei erhöhten Ascorbinsäurespiegeln wird die Produktion und Aktivität von HIF-1α deutlich reduziert. Im aktivierten Zustand reguliert HIF-1α die Expression von hunderten von Stress-Genen hoch. Aus diesen experimentellen Beobachtungen wurde die Hypothese entwickelt, dass Organismen, die die Fähigkeit zur Ascorbinsäure-Synthese verloren haben, einen evolutionären Vorteil haben, weil sie die HIF-1α-Aktivität über die exogene Aufnahme von Ascorbinsäure regulieren können. Ist die Versorgung mit Ascorbinsäure ausreichend, so ist der Transkriptionsfaktor HIF-1α weniger aktiv, als bei einem Ascorbinsäure-Defizit. Auf diese Weise wird der Organismus offensichtlich in die Lage versetzt, den Versorgungsstatus von Ascorbinsäure zu erkennen. Aus Untersuchungen anderer Pseudogene weiß man, dass diese zwar keine Genprodukte (= Proteine) liefern, aber wichtige epigenetische Funktionen bei der Expression anderer Gene haben. Welche Rolle dabei GuloP spielt, und ob diese einen evolutionären Vorteil bietet, ist bisher noch weitgehend unbekannt. Eine andere Hypothese geht davon aus, dass der Vorteil einer Ascorbinsäure-Autarkie die Nachteile der Ascorbinsäure-Synthese nicht überwiegt. Bei der durch L-Gulonolactonoxidase katalysierten Oxidation von L-Gulonolacton entsteht als Nebenprodukt Wasserstoffperoxid. Für ein erzeugtes Molekül des Antioxidans Ascorbinsäure entsteht ein Molekül des Oxidationsmittels Wasserstoffperoxid. Dies wiederum erhöht den oxidativen Stress und den Bedarf an Glutathion in den Ascorbinsäure produzierenden Zellen. Glutathion ist – neben Ascorbinsäure – das wichtigste intrazelluläre Antioxidans. Dieser Hypothese folgend, war bei ausreichender Versorgung mit exogener Ascorbinsäure der Verlust der L-Gulonolactonoxidase-Aktivität ein evolutionärer Vorteil. Gegen diese Hypothese spricht allerdings der Fakt, dass bei einigen Spezies das Gulo-Gen zurückmutiert ist. Nach dem gegenwärtigen Stand (2013) wird deshalb eher davon ausgegangen, dass der mehrfache Verlust und die Wiedererlangung der Ascorbinsäure-Synthese zufällig ist, wie es für ein neutrales Merkmal zu erwarten ist. Dieses Merkmal ist allerdings nur so lange neutral, wie ausreichend Vitamin C in der Nahrung enthalten ist. Der Funktionsverlust der L-Gulonolactonoxidase führt zu einer Einschränkung der Ernährungsweise. Speziell für die Trockennasenaffen wird angenommen, dass es mit dem Funktionsverlust zur Weiterentwicklung der sensorischen Fähigkeiten, zu Verhaltensänderungen und Veränderungen des Stoffwechsels kam, um sich der notwendigen Ernährungsweise besser anzupassen. Möglicherweise hat dies bei den Affen zur Entwicklung des trichromatischen Sehens geführt, das für die Nahrungssuche, unter anderem zur Farbdifferenzierung von Früchten, einen evolutionären Vorteil bietet. Einzelnachweise Oxidoreduktase Codiert auf Chromosom 8 (Mensch)
7895377
https://de.wikipedia.org/wiki/Waverley%20Line
Waverley Line
|} Die Waverley Line (auch als Waverley Route oder Borders Railway bezeichnet) ist eine Eisenbahnstrecke in Schottland. Sie verläuft von Edinburgh durch die Scottish Borders nach Carlisle im Norden Englands. Erbaut wurde die Strecke zwischen 1849 und 1862 von der North British Railway. Ihren Namen erhielt sie nach dem Roman Waverley von Sir Walter Scott. Ab 1921 wurde sie von der London and North Eastern Railway betrieben, ab 1948 von British Railways. Im Zuge der umfangreichen Streckenstilllegungen während der als Beeching Axe bekannten Umstrukturierung des britischen Eisenbahnnetzes in den 1960er Jahren wurde die Strecke trotz erheblicher öffentlicher Proteste stillgelegt. Das Schottische Parlament beschloss 2006 den Wiederaufbau des nördlichen Abschnitts der Strecke von Edinburgh bis Tweedbank, einem Vorort von Galashiels, für den Personenverkehr. Die Bauarbeiten für die neue Borders Railway begannen im November 2012. Im Februar 2015 verlegten die beteiligten Baufirmen die letzten Gleise. Der Personenverkehr wurde am 6. September 2015 aufgenommen, die offizielle Eröffnung der Strecke durch Königin Elisabeth II. folgte am 9. September. Geschichte Die Edinburgh and Dalkeith Railway Die spätere Waverley Line entstand in mehreren Etappen. Auslöser für den Bau des ersten Abschnitts war die Anbindung Edinburghs an die südlich liegenden Kohlenfelder von Lothian. Vor allem im Winter war die Anlieferung von Kohle für den wachsenden Bedarf der schottischen Hauptstadt durch die schlechten Straßen immer wieder gefährdet. Erste Planungen entstanden bereits 1817. Die Interessenten, unter ihnen der Duke of Buccleuch und der Marquess of Lothian, beides Besitzer großer Kohlenfelder, erreichten 1826 einen Parlamentsbeschluss zum Bau der Edinburgh and Dalkeith Railway. Die Strecke wurde als Pferdebahn von Edinburgh St Leonards bis zur Endstation Dalhousie, südlich des späteren Knotenpunkts Hardengreen Junction, gebaut und in der zu dieser Zeit in Schottland verbreiteten Spurweite von 1372 mm (4 Fuß und 6 Zoll) ausgeführt. Der erste Abschnitt zwischen St Leonards und Craighall wurde am 4. Juli 1831 eröffnet, die gesamte Strecke bis Dalhousie (zunächst als South Esk bezeichnet) im Oktober des gleichen Jahres. Zunächst nur zum Transport der Kohle aus den südlich von Edinburgh liegenden Bergwerken gedacht, wurde bereits ein Jahr später der Personenverkehr aufgenommen. Im gleichen Jahr finanzierte der Marquess of Lothian, dessen Kohlengruben zum Teil weiter südlich lagen, eine Erweiterung der Strecke bis zu seinen Gruben in Arniston, südlich von Gorebridge, einschließlich eines großen gusseisernen Viadukts über den South Esk an der Stelle des heutigen Lothianbridge Viaduct. 1838 eröffnete die Gesellschaft eine Zweigstrecke nach Dalkeith, der Duke of Buccleuch wiederum finanzierte eine Verlängerung von Dalkeith zu seinen Kohlengruben östlich des Ortes. Im gleichen Jahr erhielt die Strecke bei Niddrie eine Zweigstrecke zum Hafen von Leith. Die Bahngesellschaft erhielt im Volksmund den Beinamen The Innocent Railway, weil angeblich während ihres gesamten Betriebs kein Passagier verletzt oder gar getötet worden sein soll. Der Spitzname war allerdings unverdient: Wiederholt passierten auf den vergleichsweise einfach gebauten und ohne nennenswerte Sicherungseinrichtung betriebenen Strecken Unfälle, bei denen es Tote und Verletzte gab. Von Edinburgh bis Hawick Zunächst sah die Regierung in London eine einzige Bahnstrecke zwischen Schottland und England als ausreichend an und fasste 1841 einen entsprechenden Beschluss. Sie genehmigte in Folge die Strecke der heutigen West Coast Main Line, die nördlich von Carlisle aber erst 1847 durch die Caledonian Railway eröffnet wurde. Trotz des Beschlusses von 1841 erhielt die North British Railway (NBR) die Genehmigung zum Bau einer Strecke entlang der Nordseeküste zwischen Edinburgh und der schottischen Grenze bei Berwick-upon-Tweed, bereits 1845 konnte sie mit diesem Abschnitt der heutigen East Coast Main Line die erste Eisenbahnstrecke zwischen Schottland und England eröffnen. John Learmont, der Gründer der NBR, verfolgte aber bereits Pläne zum Aufbau eines Streckennetzes durch die Borders bis nach Carlisle. Um zu große Aufmerksamkeit seitens der Konkurrenz zu vermeiden, gründete er die Edinburgh and Hawick Railway Company, der 1845 durch Parlamentsbeschluss das Recht zum Bau einer Eisenbahn zwischen Edinburgh und Hawick erteilt wurde. Die Gesellschaft trat dieses Recht noch vor Baubeginn an die NBR ab. Diese übernahm zudem die Edinburgh and Dalkeith Railway und baute sie auf Normalspur um. 1849 eröffnete die NBR die Gesamtstrecke zwischen Edinburgh und Hawick. Alle Personenzüge der Waverley Line verkehrten seitdem zum Bahnhof Edinburgh Waverley. Der bisherige Endbahnhof Edinburgh St Leonards wurde danach lediglich noch als Güterbahnhof genutzt. Verlängerung bis Carlisle Bereits 1845 hatte die NBR Trassenerkundungen für eine Verlängerung von Hawick nach Süden durchgeführt, ein entsprechender Antrag auf eine Genehmigung scheiterte 1846 am Einspruch der Caledonian Railway. Diese befürchtete Konkurrenz zu ihrer eigenen Verbindung zwischen Glasgow und Carlisle, zugleich verfolgte sie selber Pläne zum Bau einer Strecke nach Hawick. 1859 konnte die NBR schließlich ihre Pläne durchsetzen, am 21. Juli 1859 erhielt der Border Union (North British) Railway Act den Royal Assent. Drei Jahre später eröffnete die Gesellschaft am 1. Juli 1862 den Streckenabschnitt von Hawick bis Carlisle, womit eine durchgehende Verbindung zwischen Edinburgh und Carlisle entstanden war. Die Verlängerung, zunächst als Border Union Railway bezeichnet, verlief durch dünn besiedeltes Gebiet und erwies sich als baulich aufwändig. Mehrere Viadukte, tiefe Einschnitte und der über einen Kilometer lange Whitrope-Tunnel waren nötig, um das Bergland der Scottish Borders zu durchqueren. In Riccarton Junction legte die Gesellschaft weit abseits aller Ansiedlungen einen Knotenbahnhof an, an dem die Waverley Line eine Zweigstrecke nach Hexham an der Strecke von Carlisle nach Newcastle upon Tyne erhielt. Die NBR nahm diese als Border Counties Railway bezeichnete Strecke, die auch Kohlevorkommen knapp südlich der englisch-schottischen Grenze bei Plashetts für die Textilindustrie der Borders nutzbar machen sollte, mit hohen Erwartungen in Betrieb. Aus diesem Grund hatte sie auch die alternative und baulich einfachere Trassenführung von Hawick nach Carlisle über Langholm als damals einzigen größeren Ort zwischen beiden Städten ausgeschlagen. Die Erwartungen wurden allerdings enttäuscht. Der erwartete Durchgangsverkehr zwischen den Borders und Newcastle blieb mangels Nachfrage weitgehend aus und die Kohle aus dem westlichen Northumberland erwies sich für die Zwecke der Textilindustrie in Hawick und Galashiels nicht geeignet. Durchgangslinie nach Süden Die von Beginn zweigleisig ausgebaute Bahnstrecke wurde von der NBR seit Betriebsaufnahme als Waverley Line oder Waverley Route bezeichnet, verlief sie doch durch das landschaftlich reizvolle Gebiet, in dem Walter Scott seinen Roman Waverley spielen ließ. Die NBR hatte in den ersten Jahren mit erheblichen wirtschaftlichen Problemen auf der Strecke zu kämpfen, da sie keine Durchgangszüge nach Süden anbieten konnte. Die London and North Western Railway, die in Carlisle zu dieser Zeit das Monopol für den Verkehr in Richtung London besaß, arbeitete mit der Caledonian Railway zusammen und lehnte eine Übernahme durchgehender Züge von der NBR ab. Ende der 1860er Jahre wurde daher in den Leitungsgremien der NBR zeitweise sogar über eine Einstellung oder einen Verkauf diskutiert. Erst mit Eröffnung der Bahnstrecke Settle–Carlisle im Jahr 1875 nahm der Durchgangsverkehr auf der Waverley Linie spürbar zu, da nun eine alternative Route zur West Coast Main Line bestand. Durchgehende Züge verkehrten von London St Pancras über die Midland Main Line der Midland Railway und die Settle-Carlisle Line bis nach Edinburgh Waverley. Aufgrund der schwierigen Trassierung konnten die Züge hinsichtlich der Fahrtzeit aber weder mit den Zügen auf der Westküsten- noch der Ostküstenstrecke konkurrieren. NBR und Midland setzten daher beim Marketing für ihre Schottland-Züge auf die reizvolle Landschaft und besonders komfortable Wagen. Über Jahrzehnte führten die Expresszüge über die Waverley Line daher Pullmanwagen. Die Waverley Line erhielt bereits kurz nach ihrer Inbetriebnahme verschiedene Zweigbahnen, so 1851 die sich in Roxburgh verzweigende Strecke nach Jedburgh und Kelso und 1856 die an Abbotsford, dem Wohnsitz von Walter Scott vorbeiführende Strecke nach Selkirk. Schwerpunkt der Strecke war neben den durchgehenden Zügen und dem Vorortverkehr von Edinburgh der Güterverkehr. Profitabel war hier neben Durchgangsverkehren mit Montanprodukten vor allem die Verladung von Rindern und Schafen. Die Textilindustrie in den Borders, vor allem in Galashiels und Hawick, nutzte die Strecke zum Bezug von Rohprodukten und Kohle sowie zum Abtransport ihrer Waren. Sie erlebte seit der Fertigstellung der Strecke einen regelrechten Boom, so existierten in Galashiels 1882 vier Spinnereien und 17 Wollwebereien. Unternehmen wie Pringle of Scotland nutzten die Waverley Line für ihre Transporte. Zudem bediente die Waverley Line das Bergbaugebiet südlich von Edinburgh rund um Dalkeith und Newtongrange, das durch diverse Anschluss- und Zweigbahnen erschlossen wurde. Um 1920 erlebten die Waverley Line und ihre Zweigstrecken den Höhepunkt ihrer Bedeutung. In diesem Jahr wurden in Galashiels 274.442 Fahrscheine verkauft, in Hawick 127.845 Fahrscheine und 268.780 Stück Vieh abgerechnet. Während der beiden Weltkriege wurde die Strecke stark durch militärischen Verkehr genutzt. Die britische Armee besaß bei Longtown ein großes Depot und bei Stobs ein Ausbildungscamp, das zeitweise auch als Kriegsgefangenenlager diente. Südlich von St Boswells entstand während des Zweiten Weltkriegs in Charlesfield eine große Munitionsfabrik, für deren Arbeiterverkehr ein neuer Haltepunkt eingerichtet wurde. Mit dem Grouping Act wurden 1921 die bis dahin bestehenden 120 privaten Eisenbahngesellschaften zu vier großen Unternehmen zusammengeschlossen. Die North British Railway ging in der neugegründeten London and North Eastern Railway (LNER) auf. Die Zeit der Privatbahnen endete in Großbritannien 1948 zunächst. Die vier großen Unternehmen waren mit dem Transport Act 1947 zur neuen staatlichen British Railways (BR) vereint worden. Zwischen den Kriegen legten die „Big Four“ bereits einzelne, schwach nachgefragte oder früher aus Konkurrenzgründen parallel angelegte Strecken still. Entlang der Waverley Line verlor lediglich die kurze, erst 1901 eröffnete Lauder Light Railway 1932 wieder ihren Personenverkehr, der Güterverkehr hielt sich noch bis 1958. Kurz nach der Verstaatlichung erlebte die Waverley Line ihre höchste Belastung. Nach Unwetterschäden musste im Frühjahr 1948 die East Coast Main Line für über drei Monate gesperrt werden, der gesamte Verkehr zwischen London und Edinburgh wurde daher zwischen Berwick-upon-Tweed und Edinburgh über Kelso und ab St Boswells über die Waverley Line umgeleitet, darunter auch der ohne Halt fahrende Flying Scotsman. Die vor diesen Zügen eingesetzten Dampflokomotiven der LNER-Klasse A4 legten damit die längsten jemals auf den britischen Inseln mit Dampflokomotiven bespannten Zugfahrten ohne Zwischenhalt zurück. Den Flutschäden des Jahres 1948 fiel auch die in St Boswells abzweigende Strecke der Berwickshire Railway nach Duns zum Opfer, deren beschädigter Abschnitt zwischen Greenlaw und Duns nicht wieder aufgebaut wurde; die verbliebenen Abschnitte blieben lediglich im Güterverkehr in Betrieb. 1956 beendete BR den Personenverkehr auf der in Riccarton Junction abzweigenden Strecke nach Hexham, zwei Jahre später auch den Güterverkehr. Die Strecke wurde bald abgebaut und auf einem Teilabschnitt später durch den in den 1970ern angelegten Stausee Kielder Water überflutet. Stilllegung Ende der 1950er Jahre geriet British Railways in eine Krise. Hatte BR 1952 noch Gewinn gemacht, so belief sich der jährliche Verlust 1961 auf gut 86,9 Mio. Pfund Sterling. Richard Beeching, der neue BR-Vorsitzende, erhielt den Auftrag, Pläne zur Umstrukturierung des britischen Eisenbahnnetzes aufzustellen. Im März 1963 legte er seinen entsprechenden Bericht vor, der vor allem die Einstellung unrentabler Strecken vorsah. Die Waverley Line stand auf den entsprechenden Listen weit oben, Beeching bezeichnete sie als verlustreichste Strecke des britischen Eisenbahnsystems und schlug ihre komplette Einstellung vor. Dazu beigetragen hatte vor allem die Verlagerung des Verkehrs auf die Straße. So war der einstmals profitable Viehtransport schon 1954 zu 80 % auf die Straße ausgewichen und 1963 völlig verschwunden. Der Beeching Axe fielen zunächst nach 1963 alle bis dahin noch vorhandenen Zweigstrecken der Waverley Line zum Opfer. Die Strecke nach Selkirk war bereits 1951 für den Personenverkehr geschlossen worden und wurde 1964 stillgelegt. Ebenfalls 1964 endete der Personenverkehr auf den Zweigstrecken nach Kelso und Tweedmouth sowie nach Langholm; der Güterverkehr nach Langholm hielt sich noch bis 1967, nach Kelso bis 1968. Zuvor war 1962 die Strecke von Galashiels über Peebles nach Hardengreen Junction eingestellt worden, nachdem die kurzzeitig eingesetzten Dieseltriebwagen nach Beschwerden örtlicher Busunternehmer wieder abgezogen worden waren und die Fahrgastzahlen daraufhin zurückgingen. Auf der Waverley Line stieg dagegen ab 1962 der Durchgangsgüterverkehr kurzzeitig an, nachdem British Railways Ende der 1950er Jahre neue Rangierbahnhöfe in Carlisle und Millerhill bei Edinburgh errichtet hatte. Der Rückgang des Güterverkehrs, vor allem im Bereich der Montanindustrie, führte bald zu Überkapazitäten und einer deutlichen Abnahme des Verkehrs auf der Waverley Line. Die Veröffentlichung von Beechings Bericht führte zu vehementer öffentlicher Kritik. In den Borders beidseits der englisch-schottischen Grenze wurde er zunächst nicht ganz ernst genommen, die lokale Zeitung in Hawick sah darin lediglich eine Empfehlung, die so nicht umsetzbar sei. Dagegen setzte beispielsweise in den Highlands rasch eine intensive, von den lokalen Gebietskörperschaften unterstützte öffentliche Kampagne zum Erhalt der Kyle of Lochalsh Line und der Far North Line ein. Der Erhalt der Waverley Line wurde zunächst lediglich intern zwischen dem Scottish Office und dem Verkehrsministerium in London vehement diskutiert. Vor allem die Planungsabteilung des Scottish Office sah die Strecke als essenziell für die künftige wirtschaftliche Entwicklung der Borders an und setzte sich für den Erhalt ein. Das Verkehrsministerium unter Barbara Castle lehnte dies mit dem Argument der hohen Belastung für den Steuerzahler ab und sah keine gravierenden Nachteile in einer Stilllegung – der Straßenverkehr sei für die Wirtschaft und die Bevölkerung völlig ausreichend. In der Nachwahl zum Unterhaus, die 1965 in den Borders nach dem Tod des bisherigen konservativen Abgeordneten Charles Donaldson nötig geworden war, thematisierte der liberale Kandidat David Steel die drohende Stilllegung und gewann die Wahl. Damit war die Strecke wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Steel setzte sich in den Folgejahren zusammen mit dem konservativen Abgeordneten für Edinburgh, dem Earl of Dalkeith, vehement für den Erhalt der Strecke ein. Die geplante Stilllegung verzögerte sich durch die regierungsinternen Diskussionen. Nach langem Widerstand akzeptierte Schottlandminister Willie Ross schließlich im Mai 1966 die Pläne des Verkehrsministeriums, auch wenn in seinem eigenen Ministerium weiter Pläne zum Erhalt wenigstens der Teilstrecke von Edinburgh bis Hawick diskutiert wurden. Am 17. August 1966 informierte BR mit Aushängen an allen Bahnhöfen die Öffentlichkeit, dass die Waverley Line zum 2. Januar 1967 geschlossen werden sollte. Über 500 Einsprüche wurden dagegen erhoben und die geplante Stilllegung auf öffentlichen Anhörungen vehement kritisiert, zu denen teilweise mehrere hundert Teilnehmer kamen. Allerdings blieb die Zahl der offiziell erhobenen Einsprüche deutlich hinter denen bei anderen bedrohten Strecken zurück. Kritisiert wurde in den Einsprüchen auch, dass BR die Strecke seit Jahren vernachlässigt habe. Die Entscheidung zur Einstellung wurde schließlich wieder dem Verkehrsministerium übertragen und das ursprüngliche Stilllegungsdatum konnte nicht gehalten werden. Erneut wurden alternative Szenarien verglichen, so beispielsweise die alternative Einstellung der Verbindung vom Knotenpunkt Carstairs an der WCML östlich von Glasgow nach Edinburgh und die Führung aller West-Coast-Züge nach Edinburgh über die Waverley Line. Die Verbindung über Carstairs wurde letztlich als günstiger beurteilt. Zwar ist die zurückzulegende Strecke zwischen Carlisle und Edinburgh etwas länger, sie ist aber aufgrund ihrer günstigen Trassierung nicht langsamer und reduziert die zu unterhaltende Streckenlänge, da die Edinburgher Züge so einen wesentlich längeren Abschnitt ihres Laufwegs auf der für die Züge nach Glasgow bis Carstairs so oder so erforderlichen Strecke zurücklegen. Den 158 Kilometern der Waverley Line standen lediglich 60 km der Verbindung von Carstairs nach Edinburgh gegenüber. Das zusätzliche Fahrgastaufkommen der Borders wurde den eingesparten Unterhaltungskosten der Infrastruktur gegenüber als zu wenig ertragreich eingeschätzt. Mit dem von Verkehrsministerin Barbara Castle initiierten Transport Act 1968 bestand erstmals die Möglichkeit, defizitäre Bahnstrecken aufgrund ihrer Bedeutung für die Daseinsvorsorge zu erhalten. Für die Waverley Line kam das Gesetz dennoch zu spät, Castle selber sah die mit £ 700.000 bezifferten jährlichen Verluste als zu groß an. Die maßgebliche regierungsinterne Abstimmung zur Schließung fand schließlich im Ministerial Committee on Environmental Planning statt. Unter Leitung von Peter Shore mit Vertretern aus dem Schottland-, Verkehrs-, Wirtschafts- und Finanzministerium sah das Gremium in seiner Sitzung am 21. Mai 1968 mehrheitlich die Vorteile einer Beibehaltung der Waverley Line für die Entwicklung der Borders als nicht ausreichend gegenüber den dafür aufzuwendenden Kosten an. Premierminister Harold Wilson schloss sich diesem Votum an. Damit scheiterten weitere Versuche von Schottlandminister Ross und der Planungsabteilung des Scottish Office, die Strecke wenigstens bis Hawick zu erhalten. Am 15. Juli 1968 ordnete der neue Verkehrsminister Richard Marsh die Einstellung der Strecke zum 6. Januar 1969 an. Die ursprünglich geplante Zahl von neun zusätzlichen Omnibusverbindungen von Hawick nach Edinburgh wurde auf elf erhöht, was die Einwohner der Borders nicht als adäquaten Ersatz empfanden. Gegen die Schließung der Strecke erhob sich in den Borders ein vehementer Protest, den alle lokalen Unterhausabgeordneten parteiübergreifend unterstützten. Eine von David Steel beauftragte Studie hinterfragte die offiziellen Zahlen zu Fahrgästen und Verlusten und beurteilte eine Verbindung zwischen Edinburgh und Hawick unter bestimmten Rahmenbedingungen als wirtschaftlich tragfähig. Protestierer übergaben kurz vor Weihnachten 1968 über 11.000 gesammelte Unterschriften in 10 Downing Street. Es kam zu erregten Debatten im Parlament, sowohl mehrfach im Unterhaus (dort zuletzt am 18. Dezember 1968) als auch im Oberhaus. Dort wurde am 14. November 1968 über mehrere Stunden der Erhalt der Waverley Line debattiert, verfochten vor allem von der aus Hawick stammenden ersten Life Peeress, Baroness Elliot of Harwood. Demonstranten versuchten, Königin Elisabeth II. in Balmoral Castle eine Petition für den Erhalt der Strecke zu übergeben. Alle Proteste führten aber zu keinem Erfolg. Letzte Gespräche über mögliche Szenarien zum Erhalt wurden noch Anfang Januar 1969 geführt. Am Abend des 5. Januar 1969 verließ der Nachtzug nach London St Pancras als letzter Zug über die Waverley Line den Bahnhof Edinburgh Waverley. Die Proteste der Öffentlichkeit führten dazu, dass BR dem letzten Zug aus Sicherheitsgründen eine einzelne Lokomotive vorausschickte. Mehrere hundert Protestierer hatten sich in Hawick versammelt und luden einen Sarg aus Pappe mit der Aufschrift „Waverley Line – born 1848 killed 1969“ als an den Verkehrsminister adressiertes Expressgut in den Zug. In Newcastleton war die Strecke durch Demonstranten blockiert worden, die an einem Bahnübergang älterer Bauart die quer über den Gleisen stehenden Gatter versperrt hatten, Knallkapseln angebracht und auf den Gleisen ein Sit-in veranstalteten. Die Polizei nahm vorübergehend den örtlichen Pfarrer, der sich seit Jahren vehement für den Erhalt der Strecke eingesetzt hatte, fest. Er kam erst durch Vermittlung des im Zug mitreisenden David Steel wieder auf freien Fuß. Der Zug erreichte Carlisle mit zwei Stunden Verspätung. Abbau der Strecke Zwischen Hawick und Longtown begann unverzüglich der Abbau der Gleise, BR ließ demonstrativ bereits am 8. Januar 1969 ein erstes Gleisjoch bei Riddings ausbauen. Nördlich von Hawick blieb die Strecke zunächst für den Güterverkehr offen, der noch die Steinkohlenzeche Lady Victoria Colliery in Newtongrange und eine Mineralölfirma in St Boswells bediente. Der Abschnitt südlich von Newtongrange wurde bereits am 28. April 1969 geschlossen. 1970 verlor der südliche Restabschnitt von Carlisle bis Longtown seinen Güterverkehr. Auf dem Nordabschnitt wurde im Dezember 1971 der kurze Abschnitt von der Zeche bis zum Bahnhof Newtongrange geschlossen, der restliche Abschnitt von Newtongrange bis zum Rangierbahnhof Millerhill schließlich am 28. Juni 1972. Der wenige Jahre alte Rangierbahnhof Millerhill bei Edinburgh wurde bereits 1969 zur Hälfte wieder geschlossen, der restliche Betrieb 1983 eingestellt. 1969 versuchte ein Konsortium unter dem Namen Border Union Railway Company, die Strecke von BR zu übernehmen. Das Konsortium unter Beteiligung des Eisenbahnjournalisten Bob Symes konnte sich auch die Unterstützung von David Steel sichern. Die Strecke sollte teilweise nur noch eingleisig betrieben werden, im Personenverkehr war ein Taktverkehr mit Dieseltriebwagen zwischen Edinburgh und Hawick vorgesehen. Dafür waren auch zusätzliche Haltepunkte geplant. Im Güterverkehr sollte der von BR in den Jahren vor der Stilllegung kaum mehr betriebene Holztransport aus den südlich von Hawick waldreichen Southern Uplands einen kostendeckenden Betrieb ermöglichen. Die Forestry Commission für Nordengland hatte hierzu ihr Interesse signalisiert. Die Verhandlungen scheiterten schließlich 1970 an den finanziellen Forderungen von BR wie auch dem nicht alle potenziellen Geldgeber überzeugenden Businessplan der Border Union Railway. Die letzten Gleise der Strecke wurden schließlich bis Ende 1972 abgebaut, die meisten größeren Bauwerke blieben ungenutzt stehen. Innerhalb der Orte wurde die Trasse oft in Fuß- und Radwege umgewandelt. Einige Bahnhofsgebäude blieben erhalten, so das inzwischen unter Denkmalschutz stehende Gebäude der Melrose Railway Station. Nördlich von Carlisle wird ein kurzes Stück der Strecke bei Harker vom Rangierbahnhof Kingmoor aus als Anschlussgleis bedient. Unter den Streckenstilllegungen der Beeching-Ära gilt die Waverley Line als eine der folgenreichsten. Sie ließ mit den Borders eine gesamte Region ohne jeden Schienenanschluss. Die Strecke blieb bei der örtlichen Bevölkerung daher vielfach im Bewusstsein und immer wieder wurden Initiativen zum Wiederaufbau der ganzen Strecke oder von Teilstücken gestartet. Auch nach dem begonnenen Wiederaufbau wird an die Stilllegung erinnert, zum 45-jährigen Jubiläum der Proteste versammelten sich ehemalige Teilnehmer im Januar 2014 in Newcastleton zu einem Dinner. Wiederaufbau Bereits kurz nach der vehement kritisierten Stilllegung wurden immer wieder Forderungen nach einem Wiederaufbau erhoben, zumal die als Ersatz angebotenen Busverbindungen deutlich längere Reisezeiten hatten, die sogar hinter den Dampfzügen zur Eröffnungszeit zurück blieben. In den 1990er Jahren versuchte die Firma Borders Transport Futures, den südlichen Abschnitt von Carlisle aus zu reaktivieren, vor allem mit dem Ziel, Holztransporte aus dem Kielder Forest, dem größten englischen Waldgebiet, zu übernehmen. Dies scheiterte an den damals sinkenden Holzpreisen. 1999 gründete sich in den Borders die Campaign for Borders Rail (CBR), die in den Folgejahren eine umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit und Lobbytätigkeit für den Wiederaufbau entfaltete. Im gleichen Jahr gab die neue schottische Regionalregierung eine Machbarkeitsstudie in Auftrag, die ein positives Ergebnis hatte. In den Folgejahren fand die Forderung nach einem Wiederaufbau positive öffentliche Resonanz, nicht zuletzt dank intensiver Pressearbeit der CBR, die die vorsichtigen Schätzungen der offiziellen Studien als zu pessimistisch bezweifelte. Borders Railway Im Juni 2006 beschloss das schottische Parlament schließlich mit überwältigender Mehrheit von 114 zu 1 Stimmen den Wiederaufbau als Borders Railway zwischen Edinburgh und Tweedbank bei Galashiels. Die Kosten für den Neubau der Strecke und die Sanierung der noch vorhandenen Bauwerke wurden auf etwa 155 Mio. Pfund Sterling geschätzt. 2002 war im Rahmen des Projekts Edinburgh Crossrail bereits der Personenverkehr auf dem zuvor lediglich für den Güterverkehr genutzten Abschnitt von Edinburgh bis Newcraighall aufgenommen worden. Zunächst wurde die Eröffnung für 2011 avisiert, der Baubeginn verzögerte sich jedoch aufgrund diverser Probleme. Verschiedene Politiker kritisierten die Planung als teures Prestigeprojekt, das nur einem kleinen Teil der Borders eine echte verkehrstechnische Verbesserung bringe. Schließlich führte der damalige schottische Verkehrsminister Stewart Stevenson im März 2010 in Galashiels den ersten Spatenstich durch. Die schottische Regierung hatte ursprünglich einen rein privaten Bau der Strecke vorgesehen. Im Ausschreibungsverfahren fanden sich nicht genug Interessenten. Das Verfahren wurde daher abgebrochen und Network Rail übernahm 2011 den Auftrag zum Wiederaufbau, unter Beteiligung privater Subunternehmer. Hauptauftragnehmer war die Baufirma BAM Nuttall. Die voraussichtlichen Kosten waren inzwischen erheblich angestiegen und wurden auf etwa 295 Mio. Pfund geschätzt. 2012 wurden zwischenzeitlich Kosten von bis zu 350 Mio. Pfund befürchtet, Network Rail teilte jedoch im Frühjahr 2015 mit, dass ein Kostenrahmen von 294 Mio. Pfund nicht überschritten worden wäre. Neben hohen Anforderungen des Umweltschutzes – im Bowshank Tunnel waren Fledermäuse heimisch geworden – waren zusätzliche Kosten aufgrund von Bergbaufolgeschäden in den ehemaligen Steinkohlerevieren südlich von Edinburgh aufgetreten. Der Kauf und Abriss einiger auf der Trasse erbauter Wohnhäuser, der Aushub einer in einem Einschnitt errichteten Mülldeponie sowie der Bau eines neuen Tunnels unter der zwischenzeitlich errichteten A720 südlich von Edinburgh waren weitere Kostenfaktoren. Aufwändig war zudem der Ersatz aller früher vorhandenen Bahnübergänge durch Brücken oder Unterführungen. Auf eine Elektrifizierung der Strecke wurde aus Kostengründen verzichtet, sie ist allerdings baulich so ausgelegt, dass eine nachträgliche Elektrifizierung ohne zusätzlichen Aufwand, etwa hinsichtlich des Lichtraumprofils, möglich ist. Im November 2012 begann Network Rail mit den ersten Arbeiten zur Vegetationsberäumung. Fünfzig Jahre nach Veröffentlichung des Beeching-Berichts, der zur Stilllegung geführt hatte, starteten im März 2013 die Bauarbeiten für den Wiederaufbau. Mit dem Einsetzen der Brückenträger für die längste neu zu bauende Brücke der Strecke bei Eskbank erreichten die Arbeiten Anfang März 2014 einen ersten wichtigen Meilenstein. Mit 56 km Länge ist die Borders Railway die bislang längste Strecke, die in Großbritannien nach der Beeching Axe wieder aufgebaut und für den regulären Personenverkehr in Betrieb genommen wurde. Es handelt sich um das größte schottische Bahnbauprojekt seit über 100 Jahren. Überwiegend nutzt die Borders Railway die alte Trasse, lediglich bei Shawfair ist die Strecke leicht abweichend neu trassiert. Südlich der bisherigen Endstation Newcraighall wurden Zugangsstellen in Shawfair, Eskbank, Newtongrange, Gorebridge, Stow, Galashiels und Tweedbank eingerichtet. Im Unterschied zur früheren Strecke ist die Borders Railway nur abschnittsweise zweigleisig. Sie besitzt drei jeweils drei bis sechs Kilometer lange Begegnungsabschnitte, einer bei Shawfair und zwei zwischen Gorebridge und Galashiels. Der Verzicht auf längere zweigleisige Abschnitte beziehungsweise den vollständigen zweigleisigen Ausbau wurde mehrfach, vor allem von der CBR, als kurzsichtige Planung kritisiert. Die Kritik entzündete sich vor allem an den eingeschränkten Möglichkeiten für Sonderzüge und die bei großer Nachfrage nur schwer mögliche Ausweitung der fahrplanmäßig angebotenen Leistungen. Insgesamt haben mit der Strecke etwa 200.000 Menschen in Midlothian und den Borders eine Schienenverkehrsanbindung. Neben der schnelleren Erreichbarkeit von Edinburgh werden vielfältige positive Effekte auf die lokale Wirtschaft erwartet, etwa durch Ansiedlung von Firmen oder zunehmenden Tourismus. In der Immobilienbranche wird eine zunehmende Nachfrage nach Wohnungen prognostiziert. Es bestehen allerdings auch Befürchtungen zu steigenden Mieten und Grundstückspreisen. Vom marktliberalen Institute of Economic Affairs wurde der Wiederaufbau vehement als unnütze Geldverschwendung kritisiert, was von Vertretern der Bahnbranche und Verkehrswissenschaftlern mit Verweis auf die positiven Wirkungen früherer Streckenwiedereröffnungen für den Personenverkehr zurückgewiesen wurde. Im April 2014 stellte der schottische Regierungschef Alex Salmond den Wiederaufbau der gesamten Strecke bis Carlisle in Aussicht, eine entsprechende Machbarkeitsstudie sollte nach der erfolgreichen Wiedereröffnung des Abschnitts bis Tweedbank in Auftrag gegeben werden. Die Ankündigung stieß beim Scottish Borders Council auf positive Resonanz. Unterstützer des Wiederaufbaus wiesen allerdings darauf hin, dass die alte Trasse bislang nicht planerisch gesichert und eine Wiederinbetriebnahme teilweise durch vorgesehene Bauprojekte gefährdet sei. Zur Halbzeit der Bauarbeiten im Mai 2014 kündigte der schottische Verkehrsminister Keith Brown die Eröffnung der Strecke für den September 2015 an Ende Oktober 2014 war die Strecke bereits bis Gorebridge wieder mit Schienen versehen. Am 12. Februar 2015 wurden am neuen Streckenendpunkt in Tweedbank im Beisein von Keith Brown die letzten neuen Schienen der Strecke verlegt. Im Juni 2015 begann nach Übergabe der fertigen Strecke durch die Baufirma an Scotrail der Probebetrieb und die Ausbildung der Triebfahrzeugführer. Die Aufnahme des Personenverkehrs fand am 6. September 2015 statt. Offiziell wurde die Strecke am 9. September durch Königin Elisabeth II. eröffnet. Wie der restliche schottische Eisenbahnpersonenverkehr wird auch die Borders Railway von ScotRail betrieben. Das Scotrail-Franchise wurde im April 2015 durch Abellio, eine Tochtergesellschaft der niederländischen Staatsbahn Nederlandse Spoorwegen übernommen. Das Projekt Borders Railway wurde am 6. November 2016 von der Britischen Vereinigung der Reiseschriftsteller (British Guild of Travel Writers) als das beste Tourismusprojekt in Großbritannien ausgezeichnet. Withrope Heritage Center Südlich von Hawick gab es mehrere Ansätze, Teile der Strecke wieder in Betrieb zu nehmen, vor allem für den Holztransport. In der Waverley Route Heritage Association organisierte Eisenbahnfreunde gründeten schließlich die Border Union Railway, die ab 2005 südlich des Withrope Tunnel im Bereich von Withrope Siding mit dem Verlegen von Gleisen begann. Ziel war die Etablierung eines Museumsbahnbetriebs auf einem kurzen Stück der Strecke. 2012 konnte im Withrope Heritage Center schließlich erstmals der Fahrbetrieb aufgenommen werden. Neben einer Ausstellung zur Geschichte der Strecke in alten Eisenbahnwagen ist ein Fahrbetrieb mit Diesellokomotiven auf einem etwa einen Kilometer langen Streckenabschnitt südlich des Withrope Tunnels möglich. Streckenbeschreibung Verlauf Von den ursprünglich drei durchgängig zweigleisig ausgebauten Hauptstrecken über die schottisch-englische Grenze besitzt die Waverley Line die schwierigste Trassierung. Sie führt durch das Hügelland der Scottish Borders, ihre Trassierung ist daher schwieriger als auf der West Coast Main Line (WCML) und der East Coast Main Line (ECML). Die beiden anderen Strecken besitzen zwar auf der WCML bei Beattock und der ECML bei Penmanshiel ebenfalls je einen längeren Steigungsabschnitt pro Richtung, die Waverley Line wies jedoch in jeder Richtung zwei längere Steigungsstrecken und zudem die engsten Kurvenradien auf. Die maximal zulässige Geschwindigkeit betrug 70 mph (ca. 112 km/h), in den vielen Kurven der Strecke waren oft nur deutlich niedrigere Geschwindigkeiten erlaubt. Die Anstiege von Newcastleton bzw. Hawick nach Whitrope Summit sowie von Galashiels und Hardengreen Junction bis Falahill Summit waren zu Zeiten des Dampfbetriebs für das Lokpersonal eine besondere Herausforderung. Auf beiden Abschnitten wurden schwere Express- und Güterzüge jeweils von Schiebelokomotiven unterstützt. Von Edinburgh führt die Waverley Line zusammen mit der ECML nach Osten. Sie trennt sich von ihr nach wenigen Meilen bei Portobello in Richtung Süden und überquert den North Esk und South Esk, die beiden Quellflüsse des Esk (Forth). Südlich von Newtongrange folgt sie zunächst dem nördlichen Ufer des Gore Water, einem Nebenfluss des South Esk, stetig ansteigend bis zur Wasserscheide bei Falahill Summit in einem weitgehend unbewohnten Teil der Southern Uplands. Ab Fountainhall folgt die Strecke wieder abfallend dem deutlich eingeschnittenen Tal des Gala Water, einem Nebenfluss des Tweed bis zu dessen Einmündung in den Tweed bei Galashiels. Sie überquert das Gala Water mehrfach und kürzt eine der engen Flusswindungen durch den Bowshank Tunnel ab. Östlich von Galashiels quert die Strecke den Tweed und folgt ihm auf dem Südufer bis St Boswells in Richtung Osten. Nach Melrose wendet sich die Trasse wieder nach Süden. Durch überwiegend landwirtschaftlich genutztes Gebiet verlaufend erreicht sie nördlich von Hawick das Tal des Teviot. Südlich von Hawick folgt die Strecke dem Tal des Slitrig Water, einem kleinen Nebenfluss des Teviot, wieder mit deutlicher Steigung bis Withrope Summit. Dieser Teil der Borders ist sehr dünn besiedelt und die Strecke bediente zwischen Hawick und Carlisle mit Ausnahme von Newcastleton mit rund 750 Einwohnern und Longtown mit gut 2000 Einwohnern keine größeren Ortschaften. Südlich von Withrope Summit windet sich die Strecke mit großen Kurven durch Liddesdale, das Tal des Liddel Water in der Nähe von Hermitage Castle abwärts bis Newcastleton. Sie folgt, nun mit deutlich geringerem Gefälle dem Liddel Water, das ab Kershopefoot die Grenze zwischen Schottland und England bildet, auf dessen Südufer in südwestlicher Richtung bis zu seiner Einmündung in den Border Esk bei Longtown, um sich ab dort nach Süden in Richtung Carlisle zu wenden. Bahnhöfe und Betriebsstellen Edinburgh Waverley Mit Übernahme und Umspurung der Edinburgh and Dalkeith Railway führte die NBR die Züge der Waverley Line ab 1849 in ihren 1846 für den ersten Abschnitt der ECML bis Berwick eröffneten Bahnhof in Edinburgh. Der Bahnhof mit dem Namen North Bridge lag bereits am heutigen Standort, benachbart waren der Bahnhof der Edinburgh and Glasgow Railway für den Verkehr nach Glasgow sowie der Bahnhof Canal Street für Züge nach Leith. Die NBR legte nach der Übernahme der anderen Gesellschaften alle drei Bahnhöfe 1866 zusammen und gab dem neuen Bahnhof den heutigen Namen. Zwischen 1892 und 1900 wurde der Bahnhof umfassend umgebaut und erweitert, daneben entstand das von der NBR betriebene North British Hotel (heute Balmoral Hotel) mit seinem markanten Uhrenturm, dem Wahrzeichen des Bahnhofs. Portobello Das Seebad Portobello, heute ein Stadtteil von Edinburgh, erhielt 1846 einen Bahnhof, der von den Zügen der ECML und der Waverley Line bedient wurde. Die Waverley Line zweigt südöstlich des Bahnhofs an Portobello East Junction von der ECML ab. Der Bahnhof wurde am 7. September 1964 für den Personenverkehr geschlossen. Brunstane Die Station Brunstane wurde am 3. Juni 2002 eröffnet, als im Zuge des Projekts Edinburgh Crossrail der nördlichste Abschnitt der Waverley Line bis Newcraighall wieder für den Personenverkehr in Betrieb genommen wurde. Sie weist einen Seitenbahnsteig auf, die Strecke ist in diesem Bereich elektrifiziert, da sie auch als Zufahrt zum Rangierbahnhof Millerhill für Züge der ECML genutzt wird. Von 1847 bis 1859 existierte am heutigen Standort bereits eine Station namens Joppa, die dann zugunsten einer günstiger zu diesem Stadtteil gelegenen Haltestelle an der ECML geschlossen wurde. Niddrie Bei Niddrie Junction stößt die heutige Strecke der Waverley Line auf die ursprüngliche, 1831 eröffnete Strecke ab Edinburgh St Leonards, die nach Übernahme durch die NBR nur noch im Güterverkehr genutzt wurde. In diesem Bereich lag der Bahnhof Niddrie, der 1847 geschlossen wurde. 1864 eröffnete die NBR einen neuen Bahnhof für Niddrie, der etwas südlich des alten lag, aber bereits 1869 wieder den Personenverkehr verlor. Bis 1950 wurde er als Güterbahnhof genutzt. Newcraighall Die Station wurde am 3. Juni 2002 etwas südlich des 1950 geschlossenen Bahnhofs von Niddrie eröffnet. Sie besitzt einen Seitenbahnsteig und wurde bis zur Inbetriebnahme der Strecke bis Tweedbank als Endpunkt für die im Halbstundentakt fahrenden Züge von und nach Edinburgh Waverley genutzt. Millerhill British Railways begann 1958 mit dem Bau eines neuen Rangierbahnhofs für Edinburgh. Vollständig in Betrieb genommen wurde der im Zweirichtungsbetrieb mit zwei Ablaufbergen angelegte Rangierbahnhof Millerhill am 20. Mai 1963 und ersetzte mehrere veraltete Rangier- und Güterbahnhöfe. Die Waverley Line führte mittig zwischen den beiden Teilen des Bahnhofs hindurch. Millerhill erhielt zudem ein Betriebswerk für Diesellokomotiven. Mit der ECML wurde der Bahnhof durch eine neue, von seinem Südende nach Osten in Richtung Musselburgh führende Strecke verbunden. Der Rückgang des Montanverkehrs führte bereits 1969 zu ersten Teilschließungen von Gleisanlagen, der nach Süden führende Ablaufberg wurde aufgelassen. 1983 schloss BR auch den nach Norden führenden Teil des Bahnhofs. Lediglich ein Teil der Gleisanlagen östlich der Waverley Line wird noch für lokale Güterzüge genutzt, ebenso das Betriebswerk. Mit der Elektrifizierung der ECML erhielten die Zufahrtstrecken nach Millerhill Anfang der 1990er Jahre ebenfalls Fahrdraht. Südlich des Rangierbahnhofs lag die kleine, 1847 eröffnete Station Millerhill, die bis 1955 dem Personen- und bis 1965 dem örtlichen Güterverkehr diente. Südlich davon zweigte in Millerhill Junction eine kurze Stichstrecke nach Glencorse ab, deren Rest bis vor wenigen Jahren noch als Anschluss zu einem Kohlenbergwerk genutzt wurde. Im nördlichen Bereich des Rangierbahnhofs selbst befand sich bis 1846 die kleine Station Cairney. Shawfair Der Wiederaufbau der Waverley Line als Borders Railway erfolgte im Bereich des Rangierbahnhofs leicht abweichend von der ursprünglichen Trassierung. Südlich des Rangierbahnhofs ist die alte Trasse durch den Autobahnring von Edinburgh blockiert. Die neue Trasse verläuft daher einige hundert Meter westlich der alten Strecke und des Rangierbahnhofs, bis sie bei Sherriffhall wieder auf die ursprüngliche Streckenführung trifft. Sie quert dabei die auf einem alten Zechengelände entstandene neue Wohnsiedlung Shawfair, die eine neue Zugangsstelle mit zwei Seitenbahnsteigen erhielt. Sherriffhall Die Station entstand 1832 mit der Edinburgh and Dalkeith Railway etwas nördlich des Glenesk Viaduct. Sie wurde bereits 1846 geschlossen, ihr genauer Standort in der Nähe der kleinen Ansiedlung Sherriffhall ist nicht mehr bekannt. Glenesk Junction Direkt südlich des Glenesk Railway Viaduct zweigte in Glenesk Junction bis 1964 die 1831 eröffnete kurze Stichstrecke nach Dalkeith ab, die ihren Personenverkehr bereits 1942 verloren hatte. Im Bereich der Abzweigung lag bis 1886 die kleine Station Glenesk, südlich davon bis 1849 eine Zugangsstelle namens Lasswade Road. Zu beiden sind keine Details bekannt. Bis 1923 bestand an der Abzweigung zudem ein Anschluss zur Glenesk Colliery, einem Steinkohlenbergwerk. Eskbank & Dalkeith Die Station wurde 1849 unter dem Namen Gallowshall eröffnet und bereits ein Jahr später in Eskbank umbenannt. Nach der Schließung der Stichstrecke nach Dalkeith für den Personenverkehr erhielt sie 1942 den Namen Eskbank & Dalkeith. Sie besaß zwei Seitenbahnsteige und blieb bis zur Schließung der Waverley Line 1969 in Betrieb. Ein Güterbahnhof war nicht vorhanden, dafür besaß Hardengreen Junction, wenige hundert Meter weiter südlich die entsprechenden Einrichtungen. Die seit September 2015 für den Personenverkehr genutzte neue Station Eskbank liegt einige hundert Meter weiter südlich. Hardengreen Junction Seit 1855 zweigte in Hardengreen Junction nach Süden die Strecke nach Peebles ab. Sie wurde 1962 für den Personenverkehr eingestellt, ein kurzer verbliebener Streckenrest 1967 auch für den Güterverkehr. Nördlich zweigte zwischen 1870 und 1934 eine weitere, nur dem Güterverkehr dienende Strecke nach Osten ab, die sogenannte Macmerry Branch, die die Waverley Line mit den östlich von Dalkeith liegenden Kohlegruben verband. Hardengreen erhielt nie Anlagen für den Personenverkehr, wurde aber bis 1968 als Güterbahnhof genutzt. Bis 1962 waren dort zudem Lokomotiven stationiert, die vor allem dem lokalen Güterverkehr und dem Schubbetrieb auf der Waverley Line bis Falahill dienten. Eskbank Etwas südlich von Hardengreen Junction und fußläufig zu einem nahe gelegenen Krankenhaus liegt die neue Station Eskbank, die an der in diesem Bereich nur eingleisig wiederaufgebauten Strecke einen Seitenbahnsteig erhielt. Zudem wurde ein großer P+R-Platz angelegt. Dalhousie Die Station Dalhousie, benannt nach dem etwa zwei Kilometer südlich liegenden Dalhousie Castle, lag direkt am Westende des Lothianbridge Viaduct und wurde 1832 eröffnet. Als Zugangsstelle im Personenverkehr verlor sie 1908 ihre Funktion zugunsten des neuen, günstiger gelegenen Bahnhofs in Newtongrange, blieb aber bis 1964 für den Güterverkehr in Betrieb. Newtongrange Am 1. August 1908 eröffnete die NBR nördlich der Überführung der A7 den neuen Bahnhof der Bergarbeitersiedlung Newtongrange. Er erhielt keine Güterverkehrsanlagen, dafür blieb der alte Bahnhof Dalhousie in Betrieb. Südlich des Bahnhofs erhielt die Lady Victoria Colliery, die heute als Scottish Mining Museum genutzt wird, einen Gleisanschluss. Mit der Schließung der Waverley Line verlor auch der Bahnhof von Newtongrange, der seit 1960 lediglich ein unbesetzter Haltepunkt gewesen war, seinen Personenverkehr. Südlich der A7-Brücke entstand ein neuer Haltepunkt mit einem Seitenbahnsteig, der seit September 2015 wieder im Personenverkehr bedient wird. Neben einem P+R-Platz entsteht ein Zugang zum Scottish Mining Museum. Gorebridge Der Bahnhof Gorebridge wurde 1847 zusammen mit der Streckenverlängerung nach Hawick eröffnet. Bis 1872 lautete die Schreibweise Gore Bridge. Neben zwei Seitenbahnsteigen für den Personenverkehr besaß der Bahnhof auch Güterverkehrsanlagen, die am 28. Dezember 1964 geschlossen wurden. 1967 wurde der Bahnhof in einen unbesetzten Haltepunkt umgewandelt und 1969 zusammen mit der Strecke geschlossen. Das Bahnhofsgebäude blieb erhalten und steht unter Denkmalschutz. Am alten Standort errichtete Network Rail einen neuen Haltepunkt mit einem Seitenbahnsteig, ergänzt um einen P+R-Platz. Fushiebridge Zunächst bis 1877 Fushie Bridge geschrieben, entstand der Bahnhof der kleinen Ansiedlung zusammen mit der Strecke. Um 1875 entstand ein Gleisanschluss zur Vogrie Colliery, der mit der endgültigen Schließung des Bergwerks 1938 wieder abgebaut wurde. Der Personenverkehr hielt sich bis zum 4. Oktober 1943, für den Arbeiterverkehr zu einer nahegelegenen Textilfabrik blieb der Bahnhof jedoch in Betrieb, ebenso für den schließlich 1959 eingestellten Güterverkehr. Die beiden Seitenbahnsteige waren spätestens 1964 bereits abgebaut. Mangels ausreichenden Fahrgastpotenzials wurde beim Wiederaufbau der Strecke kein neuer Halt eingerichtet. Tynehead Der in einem Einschnitt gelegene Bahnhof Tynehead kam 1848 in Betrieb. Er besaß zwei Seitenbahnsteige und einen Güterschuppen. Für den Güterverkehr wurde der Bahnhof am 28. Dezember 1964 geschlossen und 1967 in einen unbesetzten Haltepunkt umgewandelt. Bis zur Schließung der Strecke blieb der Haltepunkt für den Personenverkehr in Betrieb. Das oberhalb des Einschnitts liegende Bahnhofsgebäude wird inzwischen zu Wohnzwecken genutzt. Wie in Fushiebridge fehlte auch in Tynehead ausreichende Nachfrage für die Wiederinbetriebnahme des Bahnhofs. Falahill Bei Falahill liegt der mit 268 Metern über Meereshöhe höchste Punkt der Waverley Line zwischen Edinburgh und Galashiels. Für die aus beiden Richtungen bei schweren Güterzügen nötigen Schiebelokomotiven besaß Falahill einige Ausweichgleise. Ein Wasserturm stand für die Versorgung der Lokomotiven zur Verfügung. Heriot Die kleine Ortschaft Heriot erhielt 1848 ihren Bahnhof. Die beiden Seitenbahnsteige lagen in einer für die Waverley Line ungewöhnlichen Bauform nördlich (Richtung Edinburgh) und südlich (Richtung Galashiels) eines Bahnübergangs, die Güterverkehrsanlagen und das Bahnhofsgebäude lagen nördlich des Bahnübergangs. Ab 1967 war Heriot ein unbesetzter Haltepunkt und wurde zusammen mit der Waverley Line 1969 geschlossen. Im Zuge des Wiederaufbaus der Strecke wurde trotz entsprechender lokaler Forderungen in Heriot keine Zugangsstelle vorgesehen. Fountainhall Der 1848 unter dem Namen Burn House eröffnete Bahnhof erhielt bereits 1849 den Namen Fountainhall. Ab 1901 zweigte hier die Strecke der Lauder Light Railway nach Lauder ab. Die kurze Stichstrecke verlor bereits 1932 wieder ihren Personenverkehr, blieb aber für den Güterverkehr bis 1958 in Betrieb. Während dieser Zeit trug der Bahnhof den Namen Fountainhall Junction. In den Folgejahren verschwanden die nicht mehr benötigten Gleise und ab 1967 war Fountainhall lediglich ein unbesetzter Haltepunkt. Der 1969 geschlossene Bahnhof wurde beim Wiederaufbau der Strecke nicht berücksichtigt, das Bahnhofsgebäude dient als Wohnhaus. Stow Die etwa 430 Einwohner zählende Ortschaft Stow erhielt 1848 einen Bahnhof mit zwei Seitenbahnsteigen. Er verlor 1964 seinen Güterverkehr und wurde ab 1967 als unbesetzter Haltepunkt betrieben. Entgegen ersten Plänen erhielt Stow 2015 einen Haltepunkt an der Borders Railway, analog zur früheren Ausführung mit zwei Seitenbahnsteigen am alten Standort. Das Bahnhofsgebäude ist erhalten und wird für Wohnzwecke genutzt. Bowland Südlich des Bowshank Tunnel lag der Bahnhof Bowland, der nach Eröffnung am 1. Mai 1848 für kurze Zeit der Streckenendpunkt war, bis der Torwoodlee Tunnel kurz vor Galashiels fertiggestellt war. Von 1849 bis 1862 trug der kleine Bahnhof den Namen Bowland Bridge. Der Personenverkehr endete bereits am 7. Dezember 1953, der Güterverkehr blieb noch bis zum 23. März 1964 erhalten. Ein neuer Haltepunkt im Zuge des Wiederaufbaus wurde nicht vorgesehen. Galashiels Die durch die Textilindustrie, vor allem durch die Produktion von Tweed, geprägte Stadt Galashiels erhielt ihren Bahnhof mit Inbetriebnahme des letzten Stücks der Strecke bis Hawick am 20. Februar 1849. Im gleichen Jahr entstand hier zudem ein erster Lokschuppen. Mit der Fertigstellung der 1856 bzw. 1864 eröffneten Zweigstrecken nach Selkirk und Peebles wurde der Bahnhof weiter ausgebaut. Für den Personenverkehr standen schließlich drei Bahnsteiggleise zur Verfügung, von denen zwei durch eine kleine Bahnhofshalle überdacht waren. Die Halle wurde in den 1940er Jahren abgebaut. Galashiels besaß zudem einen großen Güterbahnhof, über den die ansässigen Textilfabriken Rohstoffe, vor allem Kohle, bezogen und ihre Produkte zum Versand brachten. Der Bahnhof blieb bis zur Schließung der Waverley Line in Betrieb. Das repräsentative viktorianische Bahnhofsgebäude wurde 1971 abgerissen und die Fläche des Bahnhofs durch Gewerbebetriebe genutzt. Durch die seitherige Bebauung ist das alte Bahnhofsareal nicht mehr nutzbar. Die Trasse der Strecke blieb allerdings mit wenigen Ausnahmen von Bebauung frei und konnte für den Wiederaufbau genutzt werden. Lediglich im Bereich der früheren westlichen Bahnhofseinfahrt musste ein seither entstandenes Gebäude wieder abgerissen werden. Eine zwischenzeitlich quer über das Bahnhofsgelände entstandene Straße wurde dagegen bereits vorsorglich über eine neue Brücke geführt. Die neue Station für Galashiels entstand etwa 300 Meter nordwestlich des alten Bahnhofs. Sie erhielt einen Seitenbahnsteig und mehrere Bushaltestellen. Galashiels dient als Knotenpunkt mit dem lokalen und regionalen Busverkehr. Für eine P+R-Anlage fehlte es an Platz. Bei der Planung des Wiederaufbaus entschieden sich die zuständigen Planer daher für die Führung der Strecke bis Tweedbank, etwa zwei Kilometer östlich von Galashiels, wo ausreichend Fläche für einen großen Parkplatz verfügbar war. Tweedbank Tweedbank entstand erst in den 1970er Jahren als Plansiedlung und besaß daher keinen Bahnhof an der alten Strecke. Die neue Borders Railway erhielt hier ihren Endpunkt. Seit dem 12. Februar 2015 liegen die beiden Gleise am neuen Mittelbahnsteig der Station. Der Bahnsteig ist gegenüber den übrigen neuen Stationen deutlich länger gestaltet, um Sonderzüge aufnehmen zu können. Es besteht allerdings keine Umfahrungsmöglichkeit, so dass lediglich Triebwagen, Wendezüge oder an beiden Enden mit Lokomotiven bespannte Züge eingesetzt werden können. Die eingeschränkten Möglichkeiten für Sonderzüge nach Tweedbank wurden von der CBR schon vor der Inbetriebnahme heftig kritisiert. Melrose Melrose erhielt seinen Bahnhof mit der Streckeneröffnung im Februar 1849. Geschlossen wurde er zusammen mit der Strecke am 6. Januar 1969. Das Bahnhofsgebäude blieb erhalten und steht inzwischen unter Denkmalschutz. Die Gleisfläche des Bahnhofs wurde beräumt, auf ihr entstand eine Umgehungsstraße für den Ort. Newstead Nur kurze Zeit bestand in Newstead, knapp zwei Kilometer östlich von Melrose, eine Station. Die 1849 zusammen mit der Strecke eröffnete Station verlor bereits im Oktober 1852 wieder ihren Personenverkehr. Der Güterverkehr blieb noch einige Jahre erhalten und wurde nach 1859 eingestellt. St Boswells Am 20. Februar 1849 als Newtown Junction eröffnet, erhielt der Bahnhof 1863 die Bezeichnung Newtown St Boswells und 1869 schließlich den bis 1969 beibehaltenen Namen St Boswells. Seit 1865 zweigte nördlich davon bei Ravenswood Junction die Strecke der Berwickshire Railway in Richtung Berwick über Duns ab. Südlich von St Boswells mündete bei Kelso Junction die 1851 eröffnete Strecke von Kelso ein, die ab Roxburgh von den Zügen der Stichstrecke nach Jedburgh mitgenutzt wurde. Der Bahnhof wies daher zwei Durchgangsgleise und zwei Kopfbahnsteige für den Personenverkehr auf. Außerdem besaß er Einrichtungen für den Güterverkehr und ein kleines Bahnbetriebswerk, dessen Lokomotivschuppen als einziges Gebäude noch erhalten ist. Charlesfield Halt Während des Zweiten Weltkriegs entstand südlich von St Boswells bei Charlesfield eine große Munitionsfabrik. Das Anschlussgleis der Fabrik führte zur Bahnstrecke zwischen St Boswells und Roxburgh, für die Arbeiter wurde an der Waverley Line am 10. August 1942 ein Haltepunkt eröffnet. Nach dem Krieg wurde die Fabrik geschlossen und das Gelände für Gewerbeansiedlungen genutzt. Der Haltepunkt blieb bis Juni 1961 für den öffentlichen Verkehr in Betrieb. Belses Belses, das lediglich aus zwei Farmen und ein paar Cottages besteht, erhielt mit Streckeneröffnung im Oktober 1849 einen Bahnhof, bis 1862 unter dem Namen New Belses. Bis 1964 wurde er auch im Güterverkehr bedient und im März 1967 in einen unbesetzten Haltepunkt umgewandelt. Er blieb bis zur Schließung der Strecke in Betrieb. Die beiden kleinen Stationshäuschen auf den Seitenbahnsteigen blieben erhalten und wurden in Wochenendhäuschen umgewandelt. Hassendean Ein Jahr nach Streckeneröffnung erhielt das kleine Dorf Hassendean im Jahr 1850 einen Bahnhof, der für den Güterverkehr bis 1964 genutzt wurde. 1967 wurde er in einen unbesetzten Haltepunkt umgewandelt und als solcher bis zur Schließung der Strecke von Personenzügen bedient. Das Bahnhofsgebäude ist mitsamt der Fußgängertreppe restauriert worden und wird als Wochenenddomizil genutzt. Hawick Der Bahnhof von Hawick wurde am 29. Oktober 1849 eröffnet. Bis 1862 lag er nördlich des River Teviot, mit der Verlängerung der Strecke bis Carlisle musste die Station allerdings für den Personenverkehr aufgegeben werden, da die Strecke von dort aus nicht verlängert werden konnte. Das Empfangsgebäude entstand neu etwas südlich des alten Bahnhofs, die beiden Außenbahnsteige für die Strecke nach Carlisle östlich davon, teilweise auf einer Brücke über den Teviot. Die Fläche des bisherigen Bahnhofs blieb als Güterbahnhof in Gebrauch, weitere Güterverkehrsanlagen erstreckten sich östlich entlang der Strecke in Richtung Hassendean. Hawick erhielt ein kleines Bahnbetriebswerk, das 1966 geschlossen wurde. Nach Einstellung des Bahnbetriebs wurden die Anlagen des Bahnhofs einschließlich der Brücke über den Teviot abgerissen und teilweise bebaut. Stobs Camp Die britische Armee eröffnete 1903 bei Stobs ein großes Übungsgelände. Da es vor allem für kurzzeitiges sommerliches Training der Truppen gedacht war, erhielt es zunächst nur wenige feste Gebäude. Zur Versorgung baute die NBR nördlich des Barns Viaduct eine kurze Anschlussbahn mit diversen Rangier- und Abstellgleisen. Zum An- und Abtransport der Soldaten entstanden an den Anschlussgleisen auch Bahnsteige und Verladerampen. Das Stellwerk am Abzweig war das größte der gesamten Strecke. Von den Anschlussgleisen erschloss eine Feldbahn das Campgelände. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs diente Stobs Military Camp nicht nur der Ausbildung, sondern auch als Kriegsgefangenenlager für rund 6000 deutsche Kriegsgefangene. Im Zweiten Weltkrieg waren nur wenige Kriegsgefangene in Stobs untergebracht, dafür nutzte die Armee Stobs umfangreich zur Ausbildung. Während beider Kriege erfolgte die Versorgung vorwiegend über die Waverley Line. Nach Kriegsende wurde das Camp 1959 geschlossen. Im gleichen Jahr schloss British Railways auch die Anschlussbahn. Stobs Südlich an den Barns Viaduct anschließend lag der mit der Streckeneröffnung 1862 in Betrieb gegangene Bahnhof Stobs. Neben den beiden Seitenbahnsteigen an den Streckengleisen besaß er lediglich ein paar Abstellgleise. Wie einige weitere Stationen der Strecke erschloss er lediglich einige Farmen in diesem dünn besiedelten Teil der Borders. 1961 wandelte BR den Bahnhof in einen unbesetzten Haltepunkt um und schloss ihn zugleich für den Güterverkehr. Von Personenzügen wurde der Haltepunkt bis zur Schließung der Strecke bedient. Das Bahnhofsgebäude befindet sich in Privatbesitz, die Fußgängerbrücke des Bahnhofs ist ebenfalls erhalten. Shankend Am Südende des Shankend Viaduct lag der gleichnamige Bahnhof, der ebenfalls keine Ortschaft, sondern lediglich einzelne Farmen und Cottages der Umgebung bediente. Eröffnet wurde der Bahnhof zusammen mit der Strecke im Juli 1862. Er besaß neben den Bahnsteigen an den Streckengleisen ein Umfahrungsgleis und einige Abstell- und Gütergleise. Schiebelokomotiven für die Steigung bis Withrope Summit wurden teils in Hawick, teils in Shankend an die Züge gesetzt. 1961 wurde der Bahnhof in einen unbesetzten Halt umgewandelt, der Güterverkehr hielt sich noch bis 1964. Der Personenverkehr verblieb bis zur Einstellung der Strecke. Whitrope Siding Die NBR errichtete 1914 am südlichen Tunnelportal des Whitrope Tunnel beim höchsten Punkt der Strecke Ausweichgleise für Schiebelokomotiven, die dort den Zeitpunkt ihrer Rückfahrt in Richtung Shankend oder Riccarton abwarten konnten. Für das erforderliche Stellwerkpersonal und deren Familien wurden zwei kleine Wohnhäuser erbaut. Bedingt durch die Lage abseits von Straßen und größeren Ortschaften waren die Eisenbahner und ihre Familien bei Versorgung und Schulbesuch auf die Bahn angewiesen. Whitrope Siding wurde daher bei Bedarf als Halt für Personenzüge genutzt. Ein- und Ausstieg erfolgten über eine zu diesem Zweck in den Gepäckwagen mitgeführte kurze Trittleiter. In veröffentlichten Fahrplänen wurde Withrope Siding nie als Haltepunkt aufgeführt, jedoch in der 1968 veröffentlichten Schließungsankündigung für die Waverley Line. Bereits ab 1967 war Withrope infolge der Sperrung der Ausweichgleise und der Schließung des Stellwerks nicht mehr bedient worden, blieb aber bis zur Schließung 1969 offiziell in Betrieb. Die Waverley Route Heritage Association betreibt seit 2012 auf einem kurzen, wieder mit Gleisen versehenen Abschnitt der Strecke in Whitrope einen Museumsbahnverkehr. Riccarton Junction Eine Besonderheit unter den Bahnhöfen der Waverley Line war der Bahnhof Riccarton Junction. Dieser wurde 1862 weit abseits bestehender Ortschaften am Abzweig der Border Counties Railway nach Hexham angelegt. Um für das Personal Unterkünfte bereitstellen zu können, legte die North British Railway eine Ortschaft an, in der über 100 Menschen wohnten. Bis zum Bau einer provisorischen Forststraße 1963 war der Ort nur über die Schiene erreichbar, die Versorgung mit allen Waren erfolgte ausschließlich per Zug. Bereits 1956 war die Linie nach Hexham für den Personenverkehr geschlossen worden und Riccarton verlor seine Funktion als Umsteigebahnhof, blieb aber bis zur Stilllegung der Waverley Line in Betrieb. Damit verlor der Ort seine Existenzgrundlage und alle noch verbliebenen Bewohner zogen fort. Die leerstehenden Gebäude des Bahnhofs und der Ortschaft wurden in den Folgejahren abgerissen. 2004 verlegten Eisenbahnenthusiasten zur Erinnerung einige Meter Gleise an einer der noch vorhandenen Bahnsteigkanten und stellten ein Schild auf. Steele Road Steele Road wurde als Bahnhof abseits größerer Ansiedlungen angelegt und bediente lediglich diverse Farmen in der Umgebung. Eröffnet wurde die Station 1862. 1964 endete die Bedienung im Güterverkehr und ab März 1967 war Steele Road lediglich ein unbesetzter Haltepunkt. Zwischen 1956 und der Schließung der Strecke bestand in Steele Road Busanschluss in Richtung Bellingham als Ersatz für die stillgelegte Strecke zwischen Riccarton und Hexham. Newcastleton Der Bahnhof von Newcastleton, der größten Ansiedlung am schottischen Abschnitt der Waverley Line südlich von Hawick, wurde am 1. März 1862 eröffnet, als die NBR provisorisch den ersten Abschnitt der Strecke ab Carlisle in Betrieb nahm. Ab Juli 1862 verkehrten die Züge durchgehend über die Gesamtstrecke. Der Bahnhof besaß zwei mit einer Fußgängerbrücke verbundene Seitenbahnsteige nördlich des Bahnübergangs der Straße nach Langholm. Nördlich davon lagen die Güterverkehrsanlagen mit insgesamt fünf Seitengleisen und einigen Abstellgleisen. Für die im Güteraufkommen vorherrschende Holzverladung besaß der Bahnhof auch einen Kran. 1967 stellte BR den Güterverkehr ein, der Personenverkehr endete mit Gesamteinstellung der Strecke 1969. Newcastleton war Schauplatz der heftigsten Proteste gegen die Einstellung der Waverley Line, der letzte Zug konnte erst nach einem Polizeieinsatz und der Vermittlung des Unterhausabgeordneten David Steel seine Fahrt nach Carlisle fortsetzen. Die gesamten Bahnanlagen wurden in den Folgejahren abgerissen und teilweise bebaut. Erhalten ist lediglich das für den Stationsvorsteher vorgesehene Wohnhaus. Kershope Foot Direkt südlich der schottischen Grenze lag der Bahnhof von Kershope Foot, der 1862 in Betrieb genommen wurde. Zunächst wurde er lediglich als Kershope bezeichnet, in späteren Jahren war auch die Schreibweise Kershopefoot in Gebrauch. Größere Siedlungen befanden sich nicht in der Nähe, der Bahnhof bediente lediglich die Farmen der Umgebung sowie einige Wohnhäuser am Bahnhof. Für den Holzverkehr besaß er Güterverkehrsanlagen, die Ende 1964 geschlossen wurden. Dem Personenverkehr dienten zwei Seitenbahnsteige an den Streckengleisen. Zwei Jahre vor der Einstellung wurde der Bahnhof 1967 noch in einen unbesetzten Halt umgewandelt. Nook Pasture Die 1864 eröffnete Station Nook Pasture wurde lediglich durch einen Zug an Samstagen bedient, 1873 war sie letztmals im Fahrplan aufgeführt. In der Nähe befanden sich lediglich ein paar Farmen. Es wird angenommen, dass der Halt für John Foster, den Eigentümer von Nook, eingerichtet wurde, der in dieser Zeit wichtiger Aktionär der NBR war. Penton Der Bahnhof Penton wurde 1862 zusammen mit der Strecke eröffnet; benannt war er nach Penton House, einem Landsitz in der Nähe. Im übrigen bediente der Bahnhof lediglich einige Farmen in der Nähe. Für deren Bedürfnisse existierten bis Oktober 1967 auch Einrichtungen für den Güterverkehr. Der Gesamtverkehr endete mit der Streckeneinstellung 1969. Die Stationsgebäude sind erhalten und werden für Wohnzwecke genutzt. Auch Teile der Bahnsteige und der Viehverladung sind noch vorhanden. Riddings Junction Riddings Junction wurde als Abzweigbahnhof für die Zweigstrecke nach Langholm errichtet, die wenige Monate nach Inbetriebnahme der Waverley Line im Mai 1862 den Betrieb aufnahm. Wie bei vielen anderen Bahnhöfen der Strecke gab es außer ein paar Häusern für die Eisenbahner keine nennenswerten Ansiedlungen in der Nähe. Für den Personenverkehr besaß der Bahnhof neben dem Hausbahnsteig einen Inselbahnsteig, insgesamt also drei Bahnsteiggleise. Nördlich der Bahnsteige befanden sich ein paar Güterverkehrsgleise. Mit Schließung der Zweigstrecke nach Langholm am 15. Juni 1964 wurde Riddings Junction auch für den gesamten Personenverkehr geschlossen. Ein Jahr später wurde der Bahnhof in eine unbesetzte Anschlussstelle umgewandelt, die schließlich am 2. Januar 1967 aufgehoben wurde. Die Bahnsteige wurden danach abgebaut, die Bahnhofsgebäude sind erhalten und werden für Wohnzwecke genutzt. Scotch Dyke Der Name dieser zusammen mit der Strecke eröffneten und zunächst als Scotsdyke bezeichneten Station wird auf eine Verteidigungsanlage aus dem 16. Jahrhundert in diesem als Debatable Lands bezeichneten, zwischen England und Schottland umstrittenen Grenzgebiet zurückgeführt. Außer ein paar Wohnhäusern für Eisenbahner gab es auch in Scotch Dyke keine weitere Ansiedlung. Der mit zwei Seitenbahnsteigen und einem Gütergleis ausgestattete Bahnhof wurde am 2. Mai 1949 für den Gesamtverkehr geschlossen. Lediglich das Stellwerk blieb bis 1954 noch mit der Funktion einer Blockstelle in Betrieb. Das Bahnhofsgebäude wird für Wohnzwecke genutzt, der Schriftzug „Speed and Comfort by Rail“ über dem Vordach blieb erhalten. Longtown Longtown war – abgesehen vom Endpunkt Carlisle – die größte Ortschaft im englischen Abschnitt der Waverley Line. Eröffnet wurde der Bahnhof zusammen mit der Strecke am 29. Oktober 1861. Zwei Tage später nahm die NBR auch den Betrieb auf der Zweigstrecke von Longtown nach Gretna auf. Diese sollte vor allem Durchgangsverkehre von der Waverley Line auf das Netz der Glasgow and South Western Railway ermöglichen. Der Bahnhof erhielt zwei Seitenbahnsteige an den Durchgangsgleisen, dazu einige Gütergleise und einen zweiständigen Lokschuppen für die Züge der Zweigstrecke. Dieser wurde 1924 geschlossen. Während des Ersten Weltkriegs entstand in Gretna eine der wichtigsten Munitionsfabriken und die Zweigstrecke wurde zugunsten des militärischen Bedarfs für den öffentlichen Verkehr geschlossen. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg legte die Armee westlich des Bahnhofs ein großes Munitionsdepot an, das über eine Anschlussbahn erschlossen wurde. 1963 erhielt die Zweigstrecke südlich von Gretna eine Verbindungskurve aus Richtung Süden, die bis zur Schließung der Waverley Line den Güterzügen vom neuen, an der WCML liegenden Rangierbahnhof Kingmoor nach Edinburgh Millerhill diente. Nach der Einstellung des Personenverkehrs blieb die Zweigstrecke für den lokalen Güterverkehr in Betrieb, während der Abschnitt der Hauptstrecke südlich von Longholm mit Ende des Personenverkehrs vollständig stillgelegt wurde. Der Bahnhof von Longtown wurde für den Güterverkehr am 31. August 1970 geschlossen, bis 1973 bediente BR noch einen privaten Anschluss. Die Zweigstrecke dient bis kurz vor Longholm weiter dem Anschlussverkehr zum Munitionsdepot. Lyneside Der bis 1870 als West Linton bezeichnete Bahnhof entstand zusammen mit dem Bau der Strecke. 1870 erhielt er den Namen Lineside, ein Jahr später wurde die heutige Schreibweise eingeführt. Es existierte keine nennenswerte Bebauung in der unmittelbaren Nähe des Bahnhofs, bedient wurden lediglich einige Farmen und Cottages der Umgebung. Aufgrund der schwachen Nachfrage schloss die LNER den Bahnhof am 1. November 1929 für den Personenverkehr. Der Güterverkehr wurde bis zum 5. Oktober 1964 bedient. Das Bahnhofsgebäude dient heute als Wohnhaus. Harker Der Bahnhof von Harker wurde im Personenverkehr mehrfach eröffnet und geschlossen. Ursprünglich mit Streckeneröffnung 1861 in Betrieb gegangen, schloss ihn die LNER aufgrund schwacher Nachfrage am 1. November 1929. Sieben Jahre später ging er wieder in Betrieb, nachdem die Stadt Carlisle in der Nähe ihren kommunalen Flugplatz eröffnet hatte. Mit Kriegsausbruch übernahm die Royal Air Force (RAF) den Flugplatz als Standort Kingstown, verlagerte aber zwei Jahre später aufgrund mangelnder Erweiterungsmöglichkeiten den Einsatz der dort stationierten Bomberstaffel. Dementsprechend endete der vorwiegend den RAF-Angehörigen dienende Personenverkehr im Oktober 1941. Am 1. März 1943 wurde er – nachdem die RAF das Gelände als Lager und Flugschule weiter nutzte – wieder aufgenommen und bis zur Stilllegung der Waverley Line beibehalten, allerdings ohne Nennung in öffentlichen Fahrplänen. Mit der Neueröffnung 1943 wurden auch die Bahnsteige um etwa eine Zuglänge nach Süden verlegt. Dem intensiven, vor allem von der RAF genutzten Güterverkehr diente der Bahnhof bis 1965. Das Bahnhofsgebäude dient Wohnzwecken, das Stellwerk wird als Gartenhaus genutzt. Parkhouse Halt Nur wenige hundert Meter südlich von Harker eröffnete die LNER am 7. Juli 1941 den nichtöffentlichen Parkhouse Halt. Er diente ebenfalls der Anbindung des RAF-Standorts Kingstown und blieb bis zur Schließung der Strecke 1969 in Betrieb. Carlisle Citadel Der Bahnhof Carlisle Citadel, heute von Network Rail lediglich als Carlisle bezeichnet, entstand 1847 als gemeinsame Station von Lancaster and Carlisle Railway und Caledonian Railway an der heutigen WCML. Das Empfangsgebäude im Neu-Tudorstil entwarf der englische Architekt und Politiker Sir William Tite. Die NBR stand zu diesen Gesellschaften in Konkurrenz und führte die Züge der Waverley Line nach deren Eröffnung zunächst zur Station Carlisle Canal, der Endstation der 1854 eröffneten und 1862 von der NBR erworbenen Carlisle and Silloth Bay Railway. Bereits 1864 erzielte die NBR eine Einigung zur Mitnutzung von Carlisle Citadel, seit dem 1. Juli 1864 endeten dort alle Züge der NBR. Der Bahnhof wurde seither von sieben privaten Bahngesellschaften bedient. Nach dem Grouping wurde er von der London, Midland and Scottish Railway betrieben, die LNER-Züge der Waverley Line wechselten hier ihre Lokomotiven. Diese blieben weiterhin im etwas abseits des Bahnhofs gelegenen Depot Carlisle Canal stationiert. Sonstige Bauwerke Die Erbauer der Waverley Line mussten entsprechend der bewegten Topographie an mehreren Stellen aufwändige Brückenbauwerke und Tunnels errichten, die teilweise noch heute erhalten sind. Zu den markantesten Bauwerken gehören der Lothianbridge Viaduct (auch als Newbattle Viaduct bezeichnet) bei Newtongrange und der Shankend Viaduct südlich von Hawick, die beide wie auch einige weitere Brücken und diverse Bahnhofsgebäude unter Denkmalschutz stehen. Einige Brücken wurden bald nach der Stilllegung aus Gründen der Verkehrssicherheit abgerissen. Die verbliebenen Brücken werden regelmäßig geprüft und instand gehalten. Der Shankend Viaduct wurde 2008 bis 2009 renoviert. Die Strecke besitzt zwei längere Tunnels, den Bowshank Tunnel nördlich von Galashiels und den Whitrope Tunnel nördlich von Riccarton Junction. Ein weiterer kurzer Tunnel liegt kurz vor Galashiels. Im Zuge des Wiederaufbaus der Strecke wurden die im alten Streckenverlauf noch vorhandenen Bauwerke wie etwa der Lothianbridge Viaduct, der Bowshank Tunnel und der Redbridge Viaduct saniert. Auf den ursprünglich zweigleisigen Brücken wurde meist nur ein Gleis neu verlegt, um die nach 1969 eingerichteten Fuß- und Radverbindungen beibehalten zu können. Personenverkehr 1832 bis 1969 Auf der Edinburgh and Dalkeith Railway begann der Personenverkehr am 2. Juni 1832. Ein Fuhrunternehmer bot zunächst drei tägliche Fahrtenpaare an. In den ersten Jahren erbrachte die Bahngesellschaft den Verkehr nicht selber, sondern erteilte Lizenzen an selbständige Fuhrunternehmer. Ab 1836 übernahm sie jedoch den Gesamtverkehr in eigene Regie. Neben den fahrplanmäßigen Pferdebahnen konnten rund um die Uhr private Wagen gemietet werden. 1838 standen vierzig Personenwagen in Betrieb, die in diesem Jahr fast 300.000 Fahrgäste beförderten. Mit dem Erwerb der Gesellschaft durch die NBR und die Umspurung endete der Pferdebetrieb. Ab 1849 nahm der Personenverkehr eine wichtige Rolle auf der Strecke nach Hawick ein, befördert durch die Zubringerfunktion der Nebenstrecken nach Selkirk und Kelso. Neben der Verbindung in die Städte der Borders besaß der Vorortverkehr aus den Bergarbeitersiedlungen in Lothian nach Edinburgh eine gewisse Bedeutung. Die Fertigstellung der Gesamtstrecke 1862 führte zwar zu zunehmender Nachfrage auf der Waverley Line, die fehlenden Durchgangszüge über Carlisle hinaus beschränkten sie jedoch auf die lokale Nachfrage. Erst nach Fertigstellung der geeigneten südlichen Anschlussstrecken wurde die Waverley Line ab 1876 eine wichtige Strecke für den Verkehr zwischen Schottland und England, auch wenn ihre Bedeutung immer weit hinter den Strecken an der Ost- und Westküste zurückblieb. Im Winter 1895 verkehrten drei Expresszüge zwischen Carlisle und Edinburgh, von denen einer täglich fuhr und Schlaf- und Salonwagen aus London St Pancras mitführte. Die übrigen fuhren nur werktags, einer davon hatte Kurswagen aus Kelso und Jedburgh nach Edinburgh, die in Galashiels angehängt wurden. Im Nahverkehr gab es neben zwei durchgehenden Zugpaaren weitere lokale Züge auf den nördlichen und südlichen Abschnitten, sechs Zugpaare nach Edinburgh und drei nach Carlisle. Wie in Schottland damals üblich war das Angebot an Sonntagen sehr eingeschränkt, außer dem Expresszug verkehrten lediglich zwei Zugpaare zwischen Hawick und Edinburgh. Im Frühjahr 1910 war das Angebot deutlich ausgeweitet. Insgesamt verkehrten fünf Expresszugpaare, die mit einer Ausnahme Kurswagen von und nach Süden führten, neben London wurde Bristol bedient. Über Edinburgh verkehrten einige Kurswagen nach Norden bis Dundee und Aberdeen. Das Nahverkehrsangebot an Werktagen war ebenfalls ausgebaut worden, wobei weiterhin die meisten Züge nur auf Teilstrecken verkehrten. Lediglich das schwache Sonntagsangebot hatte sich im Vergleich mit 1895 nicht geändert. Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem das Zugangebot für den zivilen Verkehr wie in fast allen am Krieg beteiligten Nationen drastisch reduziert worden war, erholte sich die Nachfrage nur allmählich. 1922 fuhren zwar weiterhin fünf Expresszugpaare, das Nahverkehrsangebot war gegenüber der Vorkriegszeit etwas reduziert worden und an Sonntagen verkehrte ausschließlich ein durchgehender Expresszug zwischen Carlisle und Edinburgh. Neu als Folge des Groupings waren mehr durchgehende Züge von den Zweigstrecken, so etwa direkte Züge zwischen Hawick und Newcastle upon Tyne über die in Riccarton Junction abzweigende Strecke. In den 1930er Jahren war der Zustand aus der Vorkriegszeit wieder erreicht. 1938 gab es zwar nur noch vier Expresszüge, darunter den „Thames-Forth Express“ von London nach Edinburgh, dafür aber deutlich mehr Nahverkehrszüge, auf dem letzten Abschnitt zwischen Gorebridge und Edinburgh 14 Zugpaare. Das Samstagsangebot war deutlich ausgeweitet worden und wieder täglicher Nahverkehr möglich. Nach dem Zweiten Weltkrieg bauten die britischen Bahnen ihr Angebot nur schrittweise wieder aus. Die LNER bot 1947, im letzten Jahr ihrer Unabhängigkeit vor dem Zusammenschluss zu British Railways weiterhin vier Expresszüge zwischen Carlisle und Edinburgh mit Kurswagen von London, Leeds und Sheffield an, davon inzwischen zwei an Sonntagen. Dagegen war der Nahverkehr noch deutlich geringer und vor allem an Samstagen erheblich gegenüber der Vorkriegszeit reduziert worden. BR konzentrierte das Angebot allmählich auf die wichtigeren Hauptstrecken und baute aus den Zeiten der privaten Gesellschaften verbliebene parallele Verkehre ab. Im Frühjahr 1961 gab es daher nur noch zwei Expresszüge zwischen Carlisle und Edinburgh, den „The Waverley“ als Tageszug mit Speisewagen zwischen London St Pancras und Edinburgh sowie einen inoffiziell als „Night Midlander“ bezeichneten Nachtzug der gleichen Relation, der auch Schlafwagen führte. Vier Nahverkehrszugpaare verkehrten durchgehend, weitere auf Teilabschnitten. Nach Edinburgh gab es an Werktagen insgesamt elf Nahverkehrszüge, nach Carlisle acht. An Sonntagen gab es wie seit Jahrzehnten südlich von Hawick außer einem Expresszug keine weiteren Züge. Ihren Fernverkehr behielt die Waverley Line bis zur Einstellung des Personenverkehrs 1969. Den Vorortverkehr vor allem südlich von Edinburgh hatte BR bereits in den 1950er Jahren erheblich reduziert, wenige verbliebene Zugpaare mit teils stundenlangen Zuglücken sorgten dafür, dass der lokale Pendlerverkehr bereits zu Beginn der 1960er Jahre weitgehend auf die Straße zum Busverkehr oder dem privaten Pkw abgewandert war. In den 1960er Jahren wurden die Waverley Line und ihre Zweigstrecken schließlich zunehmend zum Ziel für Sonderfahrten von Eisenbahnfreunden. Der letzte reguläre Zug von Carlisle nach Edinburgh war ein mit einer „Deltic“ der BR-Klasse 55 bespannter Sonderzug. Ab 2015 Das Betriebsprogramm der Borders Railway zwischen Edinburgh und Tweedbank besteht an Werktagen aus einem Halbstundentakt, abends und an Sonntagen verkehren die Züge im Stundentakt. In der Hauptverkehrszeit werden einige Zugpaare in Richtung Fife über die Forth Bridge durchgebunden und bedienen den Bahnhof Edinburgh Haymarket. Die Züge halten mit Ausnahme von Stow jeweils an allen Stationen, Stow wird außerhalb der Hauptverkehrszeit nur mit jedem zweiten Zug bedient. Die Fahrtzeit liegt zwischen 55 Minuten und einer Stunde, der voraussichtliche Preis für eine Rückfahrkarte sollte mit Stand 2014 zwischen 15 und 16 Pfund (ca. 18–20 Euro) liegen. Abellio als neuer Betreiber von ScotRail kündigte nach der Übernahme des Franchises im April 2015 den regelmäßigen Einsatz von dampfbespannten Zügen auf insgesamt acht landschaftlich reizvollen Strecken wie der Kyle of Lochalsh Line und der Far North Line an. Auch die neue Strecke nach Tweedbank sollte nach diesen Plänen regelmäßig mit Dampfzügen bedient werden. Vom 10. September bis zum 18. Oktober 2015 verkehrte zunächst an drei Wochentagen ein mit der Lokomotive 60009 „Union of South Africa“ der LNER-Klasse A4 bespanntes Zugpaar zwischen Edinburgh und Tweedbank. Aufgrund der fehlenden Gleiskapazitäten fielen während der Verkehrszeiten dieses Zuges einzelne reguläre Personenzüge aus. Ursprünglich erwartete ScotRail das erste Jahr rund 650.000 Fahrgäste, diese Prognose wurde mit voraussichtlich deutlich über einer Million Fahrgäste deutlich übertroffen. Im laufenden Betrieb zeigten sich auch diverse Probleme, vor allem die Pünktlichkeit der Linie und ein hoher Anteil an Zugausfällen werden kritisiert. Lediglich etwa 43 % aller Züge erreichten den Zielbahnhof Tweedbank pünktlich. Kritiker benannten vor allem Probleme mit den eingesetzten älteren Triebwagen der Reihe 158, die dem anspruchsvollen Streckenprofil und insbesondere den Steigungen bei Falahill nicht gewachsen seien, weiterhin gebe es immer wieder Trassenkonflikte am Abzweig von der East Coast Main Line sowie Verspätungen aufgrund der zu kurz dimensionierten zweigleisigen Begegnungsabschnitte. Güterverkehr 1831 bis 1972 Die Edinburgh and Dalkeith Railway war als Kohlenbahn geplant und gebaut worden. Zwar gewann der Personenverkehr recht bald an Bedeutung, die Strecke war jedoch von ihrer Eröffnung 1831 bis zur Einstellung des Güterverkehrs auf dem letzten Abschnitt bis Newtongrange 1972 für den Montanverkehr von Bedeutung. Vor allem der Abtransport aus den Zechen in Lothian südlich von Edinburgh blieb zeit des Bestehens der Waverley Line von Bedeutung, auch wenn mit der Schließung der meisten Gruben das Aufkommen in den 1960er Jahren stetig sank. Der übrige Güterverkehr der Waverley Line war zum einen durch das lokale Güteraufkommen in den Borders bestimmt. Die Textilindustrie in Galashiels und Hawick erhielt durch die Anbindung an das Schienennetz ab 1849 einen erheblichen Wachstumsschub. Die auf der Verarbeitung der lokalen Wolle basierende Industrie wuchs ab Mitte der 1850er Jahre erheblich an. In den 1870er Jahren besaßen die Borders über die Hälfte der schottischen Spinnereikapazität und rund 40 % der Webereikapazität. Hawick entwickelte sich vor allem zum Zentrum der Strickwarenindustrie, daneben waren die Borders ein Schwerpunkt der Tweedproduktion. Die Textilindustrie nutzte die Waverley Line zum Bezug von Rohstoffen, vor allem Kohle, und zum Abtransport der Fertigwaren. Ein weiteres Standbein des lokalen Güterverkehrs der Waverley Line war die Landwirtschaft. Neben dem Viehtransport vor allem von Schafen und Rindern – vor allem St Boswells und Hawick besaßen umfangreiche Viehmärkte mit entsprechendem Aufkommen – bekamen die örtlichen Farmer vor allem Düngemittel und Saatgut geliefert. Daneben gab es in kleinerem Umfang Holztransporte. Diese überwiegend im Einzelwagenverkehr bedienten Verkehre wurden – beginnend bereits vor dem Zweiten Weltkrieg – schrittweise auf die Straße verlagert. Der Viehtransport war bereits Anfang der 1950er Jahre weitgehend verschwunden. Die Textilindustrie der Borders verlagerte ebenfalls ihre Transporte zunehmend auf die Straße. In den 1960er Jahren begann zudem ein erheblicher Schrumpfungsprozess in der Industrie, der zusätzlich das Güteraufkommen negativ beeinflusste. BR schloss bereits vor 1965 die meisten kleineren Güterstationen, die ursprünglich mit lokalen Zügen nach Carlisle und Edinburgh bedient worden waren, zumal es der Staatsbahn nicht gelang, neue Transportgüter als Ausgleich für wegfallende Verkehre zu gewinnen. Vor allem der als Ergebnis der bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts begonnenen Aufforstung zunehmende Holztransport in den Borders wurde von der Eisenbahn weitgehend ignoriert, trotz grundsätzlichen Interesses der Holzindustrie. Das andere wesentliche Standbein des Güterverkehrs der Waverley Line war der Durchgangsverkehr. Zwar war die Strecke topographisch anspruchsvoller als die anderen Strecken zwischen Schottland und England, sie bewältigte dennoch einen erheblichen Anteil des Durchgangsgüterverkehrs. Die Anlage der beiden Rangierbahnhöfe Millerhill und Kingmoor bei Edinburgh bzw. Carlisle sorgte Ende der 1950er Jahre für einen kräftigen Anstieg des Güterverkehrs auf der Waverley Line, die Anfang der 1960er Jahre damit für den Durchgangsgüterverkehr eine höhere Bedeutung als für den Personenverkehr besaß. Die Verluste im Einzelwagenverkehr reduzierten diese Verkehre allerdings bald wieder, zudem wies die Waverley Line laut den Berechnungen des Beeching-Berichts die höchsten Betriebskosten je gefahrener Meile eines Güterzugs auf. Der von Richard Beeching forcierte Ausbau des Ganzzugverkehrs kam auf der Waverley Line kaum mehr zum Tragen. Lediglich einzelne Ganzzüge mit Ford-Pkw von einer Fabrik bei Liverpool zu einem Auslieferungslager bei Bathgate verkehrten in den letzten Jahren der Strecke. Nach Einstellung des Personenverkehrs wurden nördlich von Carlisle und südlich von Edinburgh bis 1972 einzelne Industrieanschlüsse bedient, die zusammen mit der Strecke schrittweise geschlossen wurden. Erhalten blieb der Güterverkehr lediglich südlich von Harker, wo ein kurzer Abschnitt der Strecke vom Rangierbahnhof Kingmoor als Anschlussbahn bedient wird. Die Zweigstrecke von Gretna nach Longtown dient bis kurz vor Longtown dem Militärverkehr. Ab 2015 Der wiederaufgebaute Abschnitt der Strecke ist zunächst nicht für planmäßigen Güterverkehr vorgesehen. Die Strecke wurde aber so gebaut, dass in Zukunft Güterverkehr möglich ist. Fahrzeugeinsatz Die Waverley Line wurde bis Beginn der 1960er Jahre ausschließlich durch Dampflokomotiven befahren. British Railways setzte erst ab etwa 1957 in größerem Umfang Dieselfahrzeuge in Schottland ein. Auf der Waverley Line wurden zunächst – als erster planmäßiger Dieseltriebwageneinsatz in Schottland überhaupt – auf der Zweigstrecke über Peebles ab Juli 1956 Dieseltriebwagen eingesetzt, während die Hauptstrecke weiterhin dampfbetrieben war. Erst ab etwa 1962 kamen schrittweise erste Diesellokomotiven vor den Zügen der Waverley Line zum Einsatz, die die letzten Dampflokomotiven bis Anfang 1966 verdrängten. Für die letzten drei Jahre bis zur Einstellung wurden fast ausschließlich Diesellokomotiven eingesetzt, Triebwagen bedienten lediglich zwei Zugpaare zwischen Edinburgh und Hawick bzw. Eskbank. Betriebswerke Zu Zeiten des Dampfbetriebs waren die auf der Waverley Route eingesetzten Lokomotiven vor allem in den Bahnbetriebswerken Carlisle Canal, Hawick und Edinburgh St. Margarets stationiert. In Hardengreen, Galashiels, St Boswells und Riccarton gab es Lokomotivstationen, die diesen Betriebswerken zugeordnet waren. In Carlisle errichtete die NBR 1856 einen eigenen Bahnhof Carlisle Canal mit einem Bahnbetriebswerk. Während die Züge der Waverley Line ab 1864 den als Gemeinschaftsbahnhof genutzten heutigen Bahnhof Carlisle Citadel anfuhren, blieb das Betriebswerk in Canal erhalten und war bis 1948 alleine für die Stellung der Lokomotiven ab dem südlichen Ende der Strecke zuständig. Der Schuppen in Canal wurde 1963 geschlossen. Nach der Verstaatlichung kamen auch Lokomotiven des früheren LMS-Betriebswerks Carlisle Kingmoor zu Einsätzen auf der Waverley Line. Seit Betriebsaufnahme gab es in Hawick ein kleines, aber eigenständiges Betriebswerk. Zusammen mit den zugeordneten Lokomotivstationen waren 1923 rund 30 Lokomotiven dort stationiert. Sie übernahmen neben Zugpaaren zwischen Hawick und Carlisle bzw. Edinburgh vor allem den lokalen Güterverkehr und die verschiedenen Nebenstrecken der Waverley Line. Hawick blieb bis zur Schließung am 3. Januar 1966 ein reines Dampflokomotiv-Betriebswerk. Der Hawick zugeordnete Lokomotivschuppen in Riccarton war bereits 1958 geschlossen worden und der Schuppen in St Boswells verlor 1959 seine Funktion. Er ist als einziger Lokschuppen entlang der Waverley Line erhalten geblieben und wird gewerblich genutzt. Der Nordabschnitt der Waverley Line wurde vorwiegend von den Lokomotiven des großen Edinburgher Betriebswerks St. Margarets bedient. Daneben kamen, vor allem vor Expresszügen, auch Lokomotiven aus dem Betriebswerk Haymarket zum Einsatz. Entlang der Waverley Line waren die Lokomotivstationen in Galashiels und Hardengreen Junction St. Margarets zugeordnet, beide Stationen wurden 1962 geschlossen. St. Margarets wurde am 1. Mai 1967 geschlossen, auf dem Gelände steht heute das Meadowbank Stadium. Die Diesellokomotiven während der letzten Jahre vor Schließung der Strecke waren in Haymarket und im 1962 eröffneten Millerhill Diesel Depot stationiert. Triebfahrzeuge Nach dem Grouping 1923 setzte die LNER zunächst weiter die von der North British Railway übernommenen Lokomotiven ein. Mit der Beschaffung neuer, unter der Ägide von Sir Nigel Gresley, dem Chief Mechanical Engineer entworfener Lokomotiven kamen diese schrittweise auch auf der Waverley Line zum Einsatz. Im Personen- wie auch im Güterverkehr blieben bis zum Zweiten Weltkrieg aber die NBR-Lokomotiven vorherrschend. Der Expresszugverkehr wurde während fast der gesamten Zwischenkriegszeit überwiegend von den Atlantic-Lokomotiven der von William P. Reid, dem Chefingenieur der NBR, entworfenen NBR-Klasse H bestritten, die bei der LNER als Klasse C11 eingeordnet worden waren. Ihr relativ kurzer Radstand machte sie in Verbindung mit einem leistungsfähigen Kessel zu einer für die Waverley Line ideal geeigneten Lokomotive. Daneben verkehrten 2'B-Schlepptenderlokomotiven verschiedener Baureihen, beispielsweise der neueren, von Gresley entworfenen LNER-Klasse D49, aber auch ältere ex-NBR-Baureihen. Im Güterverkehr wurden vorwiegend C-Kuppler der NBR eingesetzt. Nach dem Krieg verloren die älteren NBR-Lokomotiven schrittweise ihre Einsatzgebiete. Den Expresszugverkehr über die Waverley Line übernahmen vorwiegend die neueren Gresley-Pacifics der LNER-Klasse A3, gelegentlich auch die stromlinienverkleidete LNER-Klasse A4. Anfang der 1960er Jahre wurden auch Lokomotiven der BR-Standardklasse 7P („Britannia“) eingesetzt. Für die steigungs- und kurvenreiche Strecke waren die auf hohe Geschwindigkeiten und flache Strecken ausgelegten Pacifics nicht gut geeignet. A3 und die „Britannias“ wurden, ebenso wie die nach dem Zweiten Weltkrieg von der LNER beschafften Pacifics der LNER-Klasse A2, auch vor Güterzügen verwendet, obwohl sie für diesen Verwendungszweck noch weniger gut geeignet waren. Der Einsatz der „Britannias“ auf der Waverley Line endete auch bereits nach wenigen Jahren wieder, da die Lokomotiven vermehrt Schäden an ihren Radreifen aufwiesen. Die übrigen Personenzüge wurden teils von den A3, teils von den Mehrzwecklokomotiven der durch Gresleys Nachfolger Edward Thompson entworfenen LNER-Klasse B1 befördert. Vor den ab Hawick laufenden Zügen nach Edinburgh und Carlisle kam ab Mitte der 1950er Jahre die dort stationierte BR-Standardklasse 4MT zum Einsatz. Sie gehörten bis 1965 zum Depotbestand in Hawick. Im Güterverkehr zwischen Edinburgh und Carlisle kamen neben den Thompson-B1 seit ihrer Beschaffung ab 1936 bis zur Ausmusterung der letzten Exemplare 1966 vor allem die Prairie-Lokomotiven der LNER-Klasse V2 zum Einsatz, daneben auch die etwas kleineren, ebenfalls von Gresley entworfenen 1'C-Lokomotiven der LNER-Klasse K3. Nach Schließung des ehemaligen NBR-Betriebswerks Carlisle Canal wurden ehemalige LMS-Lokomotiven, die noch in Carlisle Kingmoor stationiert waren, ebenfalls auf der Waverley Line eingesetzt, vor Güterzügen beispielsweise die LMS-Klasse 5 „Black Five“. Der lokale Güterverkehr blieb bis in die 1960er Jahre Aufgabe kleiner, teilweise noch von der NBR stammenden Schlepptenderlokomotiven der Achsfolge C, etwa die LNER-Klassen J36 und J37. Ab Ende der 1950er Jahre setzte British Railways auf die rasche Beschaffung von Triebwagen und Diesellokomotiven und beschaffte große Serien, teils ohne vorherige Erprobung. Dies führte zu einer Vielzahl verschiedener Bauarten von unterschiedlichen Herstellern, die sich nur teilweise bewährten. Auf der Waverley Line wurden daher in den wenigen Jahren des Dieselbetriebs rund ein Dutzend verschiedener Typen an Diesellokomotiven und -triebwagen eingesetzt, von den kleinen und durch hohe Ausfallraten gekennzeichneten Lokomotiven der späteren BR-Klasse 17 über die BR-Klasse 24 und die BR-Klasse 37 bis zur eigentlich primär für den Expressverkehr der East Coast Main Line vorgesehenen BR-Klasse 55 („Deltic“), die noch am letzten Tag der Strecke einen Sonderzug von Carlisle nach Edinburgh beförderte. Die Expresszüge wurden vorwiegend von der BR-Klasse 45 und der BR-Klasse 46 („Peak“) befördert. Den Einsatz auf der neuen Borders Railway haben seit September 2015 modernisierte Dieseltriebwagen der Klassen 158 und 170 „Turbostar“ übernommen. Weblinks Borders Railway – 30 miles of new railway in the Scottish Borders offizielle Seite zum Wiederaufbau des Nordabschnitts der Waverley Line Waverley Route Heritage Association: Geschichte der Waverley Line (englisch) Edinburgh and Hawick Railway (englisch) BBC-Bericht über die Schließung der Strecke (englisch) Literatur Roger Darsley, Dennis Lovett: Carlisle to Hawick. The Waverley Route. Middleton Press, Midhurst 2010, ISBN 978-1-906008-85-7 Roger Darsley, Dennis Lovett: Hawick to Galashiels. The Waverley Route. Middleton Press, Midhurst 2012, ISBN 978-1-908174-36-9 Roger Darsley, Dennis Lovett: Galashiels to Edinburgh. The Waverley Route. Middleton Press, Midhurst 2013, ISBN 978-1-908174-52-9 Alexander J. Mullay: Rails across the border: the story of Anglo-Scottish railways. Patrick Stephens Limited, Wellingborough 1990, ISBN 1-85260-186-8 David Spaven: Waverley Route: the life, death and rebirth of the Borders Railway. Argyll Publishing, Glendaruel 2012, ISBN 978-1-908931-00-9 Einzelnachweise Bahnstrecke in England Bahnstrecke in Schottland Verkehrsbauwerk in den Scottish Borders Verkehrsbauwerk in Midlothian Verkehrsbauwerk in Edinburgh Verkehrsbauwerk in Cumberland (Unitary Authority)
8457093
https://de.wikipedia.org/wiki/Der%20Fr%C3%BChling%20%28Manet%29
Der Frühling (Manet)
Der Frühling oder Jeanne ( oder Jeanne) ist ein Gemälde des französischen Malers Édouard Manet. Das 1881 in Öl auf Leinwand gemalte Werk hat eine Höhe von 74 cm und eine Breite von 51,5 cm. Es zeigt die spätere Schauspielerin Jeanne Demarsy in einem eleganten weißen Kleid mit Blütendekor vor einem Pflanzenhintergrund. Das Bild ist Teil einer geplanten Reihe, bei der die vier Jahreszeiten durch Frauen dargestellt werden sollten. Hiervon kamen jedoch nur die Motive Frühling und Herbst zur Ausführung. Manet zeigte Der Frühling 1882 im Salon de Paris, wo es von der Kritik positiv aufgenommen wurde. Nach dem Bild entstanden verschiedene Radierungen und es wurde bereits 1882 farbig reproduziert. Das Gemälde Der Frühling gehört zur Sammlung des J. Paul Getty Museums in Los Angeles. Bildbeschreibung Das Gemälde zeigt eine junge Frau als Halbfigur in Profilansicht vor einem floralen Hintergrund. Dargestellt ist die etwa sechzehnjährige Jeanne Demarsy, die Manet in diesem Bild in der Gestalt des Frühlings porträtierte. Das zum linken Bildrand weisende Gesicht hat einen hellen Teint, der in Teilbereichen eine leichte Roséfärbung aufweist. Die Kontur von der Stirn über die Stupsnase und die üppigen roten Lippen bis zum Kinn ist mit feiner Linie gezeichnet. Ihre braunen Augen blicken geradeaus zum Bildrand oder, wie der Kunsthistoriker Gotthard Jedlicka schreibt, „mit jugendlicher, fast kindlicher Nachdenklichkeit vor sich hin“. Deutlich zu erkennen sind die langen Wimpern und dichten dunklen Augenbrauen. Ihr ebenfalls dunkles Haar schaut in leicht gelockter Form unter einer Capote (Kapotthut) hervor. Die Capote ist nach vorn mit reicher weißer Rüschendekoration versehen. Auf dem bräunlichen Hut sind als Verzierung verschiedene Blüten in Mauve und Gelb-Weiß angebracht. Breite dunkle Bänder reichen vom hinteren Teil der Capote entlang des Halses nach vorn und sind unter dem Kinn zu einer Schleife gebunden. Neben dem Hut gehört das eng anliegende weiße Kleid mit Blumendekor zur modischen Aufmachung der Jeanne Demarsy. Es ist zum Hals hin geschlossen und hat eine Kürasstaille (auch Geigentaille), wie sie für die Pariser Damenmode um 1880 typisch ist. Der im Bild zu sehende halblange Ärmel reicht bis über den Ellenbogen. Während der Stoff am Oberarm ebenfalls eng anliegend ist, fällt er am weit geschnittenen Ärmelende in Falten nach unten. Das weiße Kleid ist mit einem floralen Muster versehen, bei dem im oberen Bereich detailreich einzelne blaue und gelbe Blüten sowie grüne Blätter zu erkennen sind. Zum unteren Bildrand hin hat Manet diese Feinmalerei durch einen impressionistischen Pinseldukuts ersetzt. Hier verschwimmen die Einzelheiten des Stoffmusters und werden durch kurze, vertikale Pinselstriche ersetzt. Der dem Bildbetrachter zugewandte linke Unterarm steckt in einem langen beigefarbenen Handschuh, der bis unter den Ärmel des Kleides reicht, sodass hier keine Haut zu sehen ist. Am Handgelenk trägt Mademoiselle Demarsy einen schmalen Goldreif mit einer kleinen Perle oder einem Edelstein. Die linke Hand umfasst den Stock eines Sonnenschirms, den sie wie ein Soldat sein Gewehr über die Schulter gelegt hat. Der geöffnete Sonnenschirm (auch Parasol) füllt die obere rechte Ecke aus und wird vom rechten Seitenrand abgeschnitten. Er ist – ähnlich wie die Handschuhe – mit einem beigefarbenen Stoff bespannt und am Rand mit einer Spitzenbordüre versehen. Hinter Jeanne Demarsy steht ein üppiger Strauch mit zahlreichen grünen Blättern. Möglicherweise handelt es sich hierbei um Rhododendron, der im Frühjahr seine Blüten hervorbringt. Eine solche Blüte ist außerdem in der linken oberen Ecke zu sehen, wo der blaue Himmel hinter dem Strauch durchscheint. Im Geäst am unteren rechten Bildrand geht der Blick auf eine hinter dem Strauch befindliche Wiese. Möglicherweise ist hier eine Gartenbank skizziert. Bei zwei rechts oberhalb der Schulter platzierten roten Farbtupfern könnte es sich um weitere Blüten, aber auch um das Dach eines Hauses handeln. Das Bild ist am unteren Bildrand links im Pflanzengrün neben dem Kleid mit „Manet 1881“ in Schwarz signiert. Für Gotthard Jedlicka stellt die im Hintergrund zu sehende „Gartenwildnis“ einen Gegensatz zur „städtischen Anmut“ der Porträtierten dar. Er sieht im Gesicht der jungen Frau „eine Frucht“, die wie „der Frühling selber auf seine Entfaltung zu warten scheint“. Die Kunsthistorikerin Juliet Wilson-Bareau betont, im Zusammenspiel von geblümtem Kleid, Sonnenschirm, Blumen auf dem Hütchen, blauem Himmel und Blattwerk „erweckt das Bild von Jeanne die Vorstellung von Frühling unmittelbar“. Der Frühling als Teil eines Jahreszeitenzyklus Das Gemälde Der Frühling gehört zu einem von Manet geplanten Zyklus, bei dem schöne Frauen die vier Jahreszeiten darstellen sollten. Die Idee hierzu kam von Manets Schulfreund Antonin Proust, der das Bild Der Frühling später erwarb. Die Jahreszeiten durch weibliche Figuren personifiziert abzubilden, hat eine lange Tradition und findet sich bereits in der hellenistischen und römischen Kunst. Seit der Renaissance wandten sich Maler diesem Thema immer wieder zu und wählten neben Frauenporträts auch Landschaftsbilder, um die vier Jahreszeiten darzustellen. So malte Manets Zeitgenosse Camille Pissarro 1872 die vier Jahreszeiten als impressionistische Landschaften. Manet hatte aber weder die Absicht, Landschaften zu malen, noch im engeren Sinne die von ihm porträtierten Frauen als Allegorien darzustellen. Für ihn lag der Fokus in der Darstellung auf der „typischen Pariserin“ – attraktive junge Frauen in modischer Kleidung, wie sie der Flaneur bei seinen Spaziergängen in den Straßen von Paris oder im Jardin des Tuileries beobachten konnte. Als erstes Bild von Manets geplanter Reihe entstand das Gemälde Der Frühling. Für die Bildkomposition einer weiblichen Figur im Halbprofil vor einem Hintergrund mit Gartenpflanzen könnte das Porträt einer Prinzessin aus dem Hause Este von Antonio Pisanello Vorbild gewesen sein, das Manet von seinen zahlreichen Besuchen im Louvre sicher kannte. Für die Frau im weißen Kleid mit Blütendekor liegt ein Bezug zur Figur der Flora im Gemälde Primavera von Sandro Botticelli nahe. Manet hatte das Bild während einer Italienreise 1853 in den Uffizien in Florenz gesehen. Eine weitere Inspiration zu diesem Gemälde Manets waren vermutlich auch die japanischen Ukiyo-e-Holzschnitte, die er spätestens seit der Pariser Weltausstellung 1867 kannte. In der von Kitagawa Utamaro geschaffenen Reihe mit Kurtisanenporträts befindet sich beispielsweise die Darstellung der Kurtisane Hanaôgi aus dem Ogiya-Haus, die wie Manets Jeanne Demarsy in Der Frühling im geblümten Kleid als Halbfigur zu sehen ist. Manet malte Der Frühling nicht in freier Natur, wie der blühende Strauch im Hintergrund vermuten lassen könnte. Jacques-Émile Blanche berichtet, dass es in seinem Atelier in der Pariser Rue d’Amsterdam entstand. Als Modell wählte er die junge, sechzehnjährige Jeanne Demarsy, die Jahre später als Schauspielerin auf Pariser Theaterbühnen stand. Manets Biograf Adolphe Tabarant beschrieb sie als bien jolie, mignonne, pimpante, effrontée, un papillon de boulevard („sehr hübsch, reizend, adrett, frech, ein Boulevard-Schmetterling“). Andere Autoren werden zur Rolle von Jeanne Demarsy in der Pariser Gesellschaft deutlicher und bezeichnen sie als „Halbweltlerin“ oder zählen sie zur „Creme der Pariser Kurtisanenszene“. Manet hat sie mehrfach porträtiert, beispielsweise als Brustbildnis Junge Frau mit Pelerine (Musée des Beaux-Arts, Lyon). Im Pastell Auf der Bank (Pola Museum of Art, Hakone) erscheint ihr Kopf wie in Der Frühling im Profil vor einem floralen Hintergrund. Mindestens ebenso wichtig wie die Wahl des Modells war für Manet die Auswahl der richtigen Garderobe. Er folgte hierbei den Ansichten des Schriftstellers Charles Baudelaire, der die Aufgabe des modernen Malers darin sah, „das Poetische der zeitgenössischen Kleidung zu erfassen“. Manet war fasziniert von der aktuellen Damenbekleidung und begleitete oftmals seine weiblichen Bekanntschaften in die Modehäuser von Paris. Für das Gemälde Der Frühling erstand er eigens bei der bekannten Modistin Madame Virot einen blumengeschmückten Hut, und bei Madame Derot suchte er den Stoff für das Kleid aus. Nach den Sitzungen von Jeanne Demarsy im Atelier bat er sie, ihm das Kleid auszuleihen, damit er in ihrer Abwesenheit im Gemälde die Stoffpartien weiterbearbeiten könne. Von Jacques-Émile Blanche ist überliefert, wie sehr Manet bemüht gewesen sei, den seidigen Glanz des Stoffes im Bild festzuhalten. Selbst der blaue Himmel im Hintergrund habe Manet Schwierigkeiten bereitet, da er zu viel Dominanz von der Farbe befürchtete. Nach Fertigstellung des Gemäldes Der Frühling wandte sich Manet in der Jahreszeitenfolge dem Thema Herbst zu. Er bat hierfür, ebenfalls 1881, seine 32 Jahre alte Freundin Méry Laurent Modell zu stehen. Sie ist heute weniger für ihre Bühnenkarriere als Schauspielerin bekannt, sondern als Kurtisane, die von finanziellen Zuwendungen wohlhabender Männer lebte. Auch von ihr hatte Manet bereits zuvor eine Reihe anderer Bildnisse gemalt. Für das Porträt mit dem Titel Herbst (Musée des Beaux-Arts de Nancy) hatte Méry Laurent extra eine mit Pelz besetzte Jacke im Modehaus von Charles Frederick Worth erworben. Wie vorher im Gemälde Der Frühling ist auch der Hintergrund bei Méry Laurent im Herbst mit Blüten geschmückt. Statt in einer Gartenszene steht sie allerdings vor einem als Wandbehang genutzten japanischen Gewand. Die Kunsthistorikerin Manuela B. Mena Marqués hat auf die enge Verbindung zwischen Frauen und Blumen in Manets Werk hingewiesen. Bereits in seinen Gemälden aus den 1860er Jahren gibt es immer wieder Darstellungen von Frauen, denen Blumen als Dekoration beigegeben sind. Beispielsweise ist der weibliche liegende Akt im Bild Olympia mit einer Blume im Haar geschmückt und in Der Balkon gibt es neben einer Frau mit blumenverziertem Hut eine blühende Topfpflanze, die neben der sitzenden weiblichen Hauptfigur platziert ist. Für Manet – so Mena Marqués – seien Blumen die natürlich Ergänzung zu Frauen. Beide zeichneten sich durch ihre flüchtige, zarte und sinnliche Schönheit aus und selbst ihr Duft sei in einer Epoche der schweren Parfums ähnlich. Die Kunsthistorikerin Maryanne Stevens sieht in Manets Werken ebenfalls eine deutliche Beziehung zwischen Frauen und Blumen. In Der Frühling – so Stevens – erscheint Jeanne Demarsy selbst wie eine Blüte, die aus dem grünen Blattwerk des Hintergrunds hervorzuwachsen scheint. Bereits bei der Vorstellung des Gemäldes im Salon de Paris zeigte sich der Journalist Maurice de Seigneur ähnlich begeistert. Er verglich Jeanne Demarsy mit einer lebenden Blume. Sie sei keine Frau, sondern ein Bouquet. Im Salon von 1882 hatte Manet neben dem Bild Der Frühling das großformatige Gemälde Bar in den Folies-Bergère (Courtauld Institute of Art, London) ausgestellt. Beide Werke fanden bei der Kritik positive Resonanz. Für Manet war dies keine Selbstverständlichkeit, denn er hatte mit seinen Bildern in den Jahren zuvor oftmals Ablehnung erfahren. Den Herbst stellte er zu Lebzeiten nicht öffentlich aus, und dennoch war die darin porträtierte Méry Laurent im Salon von 1882 zu sehen. Sie ist, ebenso wie Jeanne Demarsy, in der Zuschauermenge im Hintergrund des Bildes Bar in den Folies-Bergère zu sehen. Nach Der Frühling und Herbst hat Manet die Jahreszeitenfolge nicht mehr vollendet. Die letzten Monate vor seinem Tod 1883 war er zu sehr von Krankheit gezeichnet, um diese Bilder-Reihe abzuschließen. Die Kunsthistorikerin Anne Coffin Hanson hat vermutet, dass Manet das Gemälde Amazone, blauer Grund (Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid) als Sommermotiv vorgesehen hatte. Das Bild, für das Henriette Chabot Modell stand, konnte Manet nicht mehr vollenden. Gegen diese These spricht allerdings eine Äußerung von Manets Patenkind Léon Leenhoff. Demnach habe Manet für den Sommer ebenfalls Jeanne Demarsy und für den Winter Méry Laurent als Modell vorgesehen. Manets Reproduktionen von Der Frühling Die von Manet im Salon de Paris 1882 ausgestellten Gemälde Bar in den Folies Bergère und Der Frühling hatten beide sofort Erfolg beim Publikum. Der Kritiker Gustave Goetschy bat Manet am 29. April 1882 um eine Reproduktion, die am Folgetag einen Artikel mit einer Salonbesprechung in der Zeitung Le Soir illustrieren sollte. Manet antwortete Goetschy, er könne keine Zeichnung von der Bar herstellen, welche die Halbtöne ausschließe. Er werde aber das Bild Jeanne machen. Tatsächlich erschienen ist solch eine Reproduktion aber erst am 1. Juni 1882 in der Gazette des Beaux-Arts. Manet ließ hierzu eine seitenverkehrte Schwarzweißfotografie von dem Gemälde herstellen. Auf der Rückseite des auf Albuminpapier abgezogenen Fotos hat er anschließend die durchscheinenden Umrisse mit Bleistift nachgezeichnet. Die weitere Ausführung der Zeichnung erfolgte mit Tinte. Die Originalfotografie mit der Zeichnung auf der Rückseite befindet sich heute in der Sammlung des Fogg Art Museum in Cambridge (Massachusetts). Die nach dieser Zeichnung ohne Halbtöne entstandene Radierung ist nur als Reproduktion in der Gazette des Beaux-Arts bekannt. Manet scheint mit dem Ergebnis unzufrieden gewesen zu sein und ließ von Henri Guérard eine zweite Radierung stechen, die ihn jedoch auch nicht zufrieden stellte. Diese Radierung wurde erst nach Manets Tod in den Jahren 1890, 1894, 1902 und 1905 reproduziert. Es gibt zahlreiche Drucke von dieser Radierung in öffentlichen und privaten Sammlungen. Die Originalkupferplatte befindet sich in der Bibliothèque nationale de France in Paris. Zudem hatte Manet von Charles Cros eine Farblithografie herstellen lassen. Die Farbreproduktion der Dreifarbenfotografie erschien in einer von Ernest Hoschedé publizierten Broschüre mit dem Titel Impressions de mon voyage au Salon de 1882. Der nach einer Aufnahme des Ölgemäldes gemachte fotografische Farbdruck gibt hierbei das Bild seitenverkehrt wieder. Es war die erste farbige Photogravüre, die nach dem von Charles Cros entwickelten Verfahren gedruckt wurde. Die von dem Drucker Tolmer ausgeführte Reproduktion scheint zumindest Charles Cros zufrieden gestellt zu haben. In einem Brief an Manet schrieb er: „Das Unternehmen hat alle Erwartungen übertroffen. Ich bin sehr froh darüber, meine abschließenden Arbeiten nach einem ihrer Werke vorgenommen zu haben.“ Provenienz Manet verkaufte das Bild am 2. Januar 1883 für 3000 Franc an seinen Freund Antonin Proust. Von ihm erwarb es 1902 der Opernsänger Jean-Baptiste Faure, der eine der umfangreichsten Sammlungen mit Gemälden Manets – darunter zahlreiche seiner Hauptwerke – besaß. Faure verkaufte das Bild am 13. März 1907 an die Pariser Kunsthandlung Durand-Ruel. Diese behielt das Gemälde zwei Jahre in ihrem Bestand, bevor sie es in ihrer New Yorker Filiale am 24. November 1909 an den Sammler Colonel Oliver Hazard Payne (1839–1917) verkaufte. Das Bild blieb mehr als 100 Jahre in der Familie Payne. Nach dem Tod des kinderlosen Oliver Hazard Payne erbte sein Neffe Harry Payne Bingham (1887–1955) das Bild. Dessen Nachkommen stellten das Gemälde von 1993 bis 2014 der National Gallery of Art in Washington, D.C. als Dauerleihgabe zur Verfügung. Am 5. November 2014 kam das Bild in der New Yorker Filiale des Auktionshauses Christie’s zur Versteigerung. Für 65.125.000 US-Dollar erwarb das J. Paul Getty Museum in Los Angeles das Gemälde. Es ist der bisher höchste Preis, der für ein Werk von Manet bei einer Auktion bezahlt wurde. Literatur Françoise Cachin, Charles S. Moffett und Juliet Wilson-Bareau: Manet: 1832–1883. Réunion des Musées Nationaux, Paris, The Metropolitan Museum of Art, New York, deutsche Ausgabe: Frölich und Kaufmann, Berlin 1984, ISBN 3-88725-092-3 (Darin zu Der Frühling besonders S. 486–488). Ina Conzen: Edouard Manet und die Impressionisten. Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 2002, ISBN 3-7757-1201-1 (Darin zu Der Frühling besonders S. 133, 241). George Heard Hamilton: Manet and his critics. Yale University Press, New Haven 1986, ISBN 0-300-03759-7 (Darin zu Der Frühling besonders S. 249). Anne Coffin Hanson: Manet and the modern tradition. Yale University Press, New Haven 1977, ISBN 0-300-01954-8 (Darin zu Der Frühling besonders S. 86). Gotthard Jedlicka: Manet. Rentsch, Erlenbach 1941 (Darin zu Der Frühling besonders S. 385–386). Hans Körner: Edouard Manet, Dandy, Flaneur, Maler. Fink, München 1996, ISBN 3-7705-2931-6 (Darin zu Der Frühling besonders S. 208, 211). Manuela B. Mena Marqués: Manet en el Prado. Museo Nacional del Prado, Madrid 2003, ISBN 84-8480-053-9 (Darin zu Der Frühling besonders S. 338–340, 490). Antonin Proust: Édouard Manet, Souvenirs. Librairie Renouard, Paris 1913 (Darin zu Der Frühling besonders S. 112–113). Denis Rouart, Daniel Wildenstein: Edouard Manet: Catalogue raisonné. Bibliothèque des Arts, Paris und Lausanne 1975 (Darin zu Der Frühling besonders Bd. I, S. 23, 276–277). Maryanne Stevens: Manet, portraying life. Royal Academy of Arts, London 2012, ISBN 978-1-905711-74-1 (Darin zu Der Frühling besonders S. 52–53, 56, 200). Adolphe Tabarant: Manet et ses œuvres. Gallimard, Paris 1947 (Darin zu Der Frühling besonders S. 414, 432–433). Juliet Wilson-Bareau: Edouard Manet, das graphische Werk. Stadtverwaltung Ingelheim, Ingelheim am Rhein 1977 (Darin zu Der Frühling besonders S. 17, 136). Weblinks Informationen zum Gemälde Der Frühling auf der Internetseite des Getty Museums Einzelnachweise Gemälde von Édouard Manet Gemälde (19. Jahrhundert) J. Paul Getty Museum Frauenporträt Werk der Porträtmalerei
8622398
https://de.wikipedia.org/wiki/Orgellandschaft%20Sachsen
Orgellandschaft Sachsen
Die Orgellandschaft Sachsen umfasst den historisch gewachsenen Orgelbestand der Kulturlandschaft Sachsen. Ihre Ursprünge reichen bis in die spätgotische Zeit zurück. Aber erst im 17. Jahrhundert entstand eine eigenständige sächsische Orgellandschaft. Der Kulturraum war in der Geschichte wechselnden Einflüssen benachbarter Orgellandschaften unterworfen, was dadurch begünstigt wurde, dass sich die Gebietsgrenzen im Verlauf der Jahrhunderte mehrfach änderten. Von den insgesamt etwa 2500 Orgeln der sächsischen Kulturregion sind mehr als 130 historische Instrumente vom 17. bis 19. Jahrhundert vollständig oder größtenteils erhalten. Die Region ist nachhaltig durch das Wirken von Gottfried Silbermann und seiner Schule geprägt. In der Moderne zeichnet sich die Orgellandschaft durch zahlreiche Restaurierungen und Rekonstruktionen historischer Instrumente aus, die durch einige überregional bedeutende Neubauten unterschiedlicher Stilrichtungen ergänzt werden. Der Artikel befasst sich mit der Geschichte des Orgelbaus und den erhaltenen Orgeln in Sachsen. Weiterführende Informationen zu einzelnen Instrumenten sind in der Liste von Orgeln in Sachsen und in der Liste der Orgeln in Dresden zu finden. Gotik und Renaissance Bedeutende Orgelbauer und ihre Werke Die älteste Orgel Sachsens ist für das Jahr 1298 in der Görlitzer Peterskirche nachweisbar. Im Meißner Dom ist 1362, im Bautzener Dom St. Petri 1372, in der Zwickauer St.-Marien-Kirche 1383 und in der Leipziger Thomaskirche 1384 ein Orgelwerk erstmals belegt. Das Zeitalter der Gotik wurde von international tätigen Orgelbauern beherrscht, was europaweit zu einem recht einheitlichen Baustil führte. Der Bautzener Dom erhielt im Jahr 1502 eine neue Orgel des Orgelbauers Burkhard Dinstlinger aus Südtirol, der süddeutsch-österreichische Einflüsse auf das sächsische Kurfürstentum vermittelte. Sein Schüler Blasius Lehmann eröffnete eine Werkstatt in Bautzen und schuf Instrumente für die Thomaskirche in Leipzig und die Dresdner Kreuzkirche. Er war zugleich Hoforganist des brandenburgischen Kurfürsten Joachim I. und hielt sich von 1516 bis 1519 an dessen Hof auf. Lehmanns Wirkungsbereich erstreckte sich bis nach Danzig. In vorreformatorischer Zeit verfügten die großen Stadtkirchen in Meißen (1372), Dresden (1389), Zwickau (1445), Leipzig (1489) und Görlitz (1507) bereits über zwei Orgeln, eine große Hauptorgel auf der Westempore oder im südlichen Querschiff und ein kleines Instrument in Altarnähe im Chor. In der Oberlausitz, die bis 1635 zum Königreich Böhmen gehörte, war ein starker Einfluss böhmischer Orgelbauer zu verzeichnen. Albrecht Rudner aus Budweis setzte 1570 die Orgel der Zittauer Johanniskirche instand und erweiterte ihre Disposition. Ähnliche Arbeiten führte er 1577 an der Görlitzer Orgel von Dinstlinger (1503–1505) aus. Im albertinischen Sachsen galt Johann Lange in Kamenz in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als führender Orgelbauer. Der mutmaßliche Schüler von Hans Scherer dem Älteren (Hamburg) verwendete die Schleiflade und führte zahlreiche Neuerungen ein. Ebenso wie der zeitgleich wirkende Niederländer Hermann Raphael Rodensteen, der sich 1559 in Zwickau niedergelassen hatte, brachte Lange die hoch entwickelte brabantische Orgelbaukunst nach Sachsen. Aus der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg sind keine Orgeln erhalten. Der Joachimsthaler Orgelbauer Jacob Schedlich baute im 17. Jahrhundert zahlreiche Orgeln in Böhmen und im Erzgebirge, zeitgleich mit dem deutsch-böhmischen Orgelbauer Matthias Tretzscher. Einer der innovativsten deutschen Orgelbauer des frühen 17. Jahrhunderts war Gottfried Fritzsche (Frietzsch). Er wurde 1578 in Meißen geboren und wirkte dort bis 1612. Um 1614 wurde er kurfürstlich-sächsischer Hoforgelbauer in Dresden, wo er bis 1619 eine Werkstatt führte. Er entwickelte den brabantischen Orgelbau weiter. Beispiele seiner zahlreichen Neuerungen waren neue Zungenregister, ungewöhnliche Fußtonlagen (Tonhöhen) und neue Neben- und Effektregister. Seine berühmte Orgel für die Schlosskapelle Dresden (1610–1614) entstand im Zusammenwirken mit Hans Leo Hassler. Sie verfügte über 33 Register, darunter zwei in Ein-Fuß-Lage (im Brustwerk und Pedal) und zwei zweifache Zimbeln sowie drei Tremulanten, Zimbelstern, „Vogelsang“ und „Heer Trummel“. Die Schlossorgel ist ebenso wie die beiden Frietzsch-Orgeln in Meißen nicht erhalten, soll aber originalgetreu rekonstruiert werden. Die Disposition ist in der Organographia von Michael Praetorius (1619) überliefert. Die ältesten erhaltenen sächsischen Orgeln stammen aus dem 17. Jahrhundert. Sie verfügen über ein Manual und ein kleines, aber selbstständiges Pedalwerk. Die Orgel in der Alten Kirche von Coswig, welche im Jahre 1615 oder 1624 erbaut wurde, stammt von Frietzsch oder vom sächsischen Hoforgelbauer Tobias Weller. In den 1620er Jahren baute ein unbekannter Orgelbauer in der Wehrgangkirche Lauterbach ein kleines Instrument, das 1957 unter Einbeziehung der erhaltenen Teile fast vollständig neu gebaut wurde. Die ältesten Teile der Orgel in der Dorfkirche Rossau wurden um 1660 gefertigt. Die älteste weitgehend erhaltene Orgel Sachsens steht in der Wehrkirche Pomßen. Das Werk von Gottfried Richter (1670–1671) hat ein historisierendes Gehäuse im Stil der Spätrenaissance mit Flügeltüren in Grisaille und drei bossierte Pfeifen im Prospekt mit gedrehten Füßen. Aus der Zeit um 1670 stammt die Orgel eines unbekannten Erbauers in der Dorfkirche Lippersdorf (eventuell ebenfalls von Richter). Kennzeichen und Funktion Im Zeitalter der Gotik war der Orgelbau europaweit weitgehend vereinheitlicht. Erst im 17. Jahrhundert bildeten sich regional unterschiedliche Orgellandschaften heraus. Die gotischen Orgeln waren Blockwerke, deren Register nur im vollen Werk, aber nicht einzeln anzuspielen waren. Mit Hilfe von Sperrventilladen konnten einzelne Teilwerke separat genutzt werden, so um 1500 bei den Orgeln auf Schloss Altenburg und in der Leipziger Paulinerkirche. Erst die Erfindung der Schleiflade und der Springlade ermöglichte es, einzelne Pfeifenreihen getrennt zu bedienen, was die Klangmöglichkeiten multiplizierte. Diese Technik setzte sich in Sachsen im Laufe des 15. Jahrhunderts durch. Über Details der Orgeln vor 1500 ist allerdings nichts bekannt. Ab etwa 1500 kam als erste Zungenstimme das Regal-Register zum Einsatz. Das 16. Jahrhundert brachte technische und klangliche Verbesserungen mit sich. Auf der Grundlage der Schleifladenkonstruktion wurden im Zeitalter der Renaissance zahlreiche neue Register erfunden. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts erfüllte die Orgel liturgische Zwecke, wurde aber nicht zur Begleitung des Gemeindegesangs eingesetzt. Im Rahmen der Alternatimpraxis übernahm sie im Wechsel mit dem Chor, der Gemeinde oder einzelnen Sängern einzelne Teile der Messe und der kirchlichen Tageszeiten. Die Orgeln der Renaissance waren stark am zeitgenössischen Consortstil orientiert, in dem Flöten, Trompeten, Streichinstrumente und verschiedene Holzblasinstrumente imitiert wurden und die Orgel auf diese Weise das gesamte Orchester der damaligen Zeit abbildete. Entsprechend waren die gemischten Stimmen vergleichsweise milde konzipiert. Die Orgel wurde solistisch verwendet (für Kompositionen, Improvisationen und Intabulierungen) und zum Ensemblespiel eingesetzt, entweder als Continuoinstrument oder dass sie selbst die verschiedenen Instrumente nachahmte. Barock Bedeutende Orgelbauer und ihre Werke Die politisch-wirtschaftliche und kulturell-kirchliche Blütezeit Sachsens im Zeitalter der Renaissance und des Barock brachte überregional bedeutende Orgelbauer hervor. Der Prospekt der sogenannten Sonnenorgel in der Görlitzer Peterskirche von Eugenio Casparini ist ein Unikum. Casparini wanderte mit 17 Jahren nach Italien aus und kehrte 1697 mit 74 Jahren in seine Heimat zurück. Zusammen mit seinem Sohn Adam Horatio vollendete er nach sechs Jahren Bauzeit die Orgel im Jahr 1703 und ließ dabei seine reichen Erfahrungen einfließen. Der Görlitzer Bildhauer Johann Conrad Buchau besetzte den 14,40 Meter hohen und 10,30 Meter breiten Prospekt mit 17 Pfeifenkränzen, die wie Strahlen aus den vergoldeten Sonnengesichtern ausgehen. Zwölf dieser Sonnen haben je zwölf klingende Pfeifen und gehören zu einer zwölffachen Pedalmixtur. Außer der Unda maris ist kein weiteres Register von Casparini erhalten. Christoph Donat war Stammvater einer weitverzweigten Orgelbauerfamilie, die zwischen 1625 und 1842 mit Werkstätten in Leipzig, Zwickau, Altenburg und Glauchau nachweisbar ist. Von den Donatis sind einige Werke erhalten, so die in Brandis (1705) und Schlunzig (1724), die zu den ältesten Barockorgeln Sachsens gehören, sowie in Schirgiswalde (1724, Zuschreibung), Beierfeld (1728), Weltewitz (1772), Wettelswalde (1793) und Böhlen (1794), die meisten sind nur einmanualig. Drei Söhne von Tobias Dressel, Orgelbauer im erzgebirgischen Falkenstein/Vogtl. und Buchholz erlernten ebenfalls den väterlichen Beruf. Zacharias Hildebrandt war neben Silbermann der bedeutendste mitteldeutsche Orgelbauer des Barock. Der Schüler Silbermanns trat ab den 1720er Jahren in Konkurrenz zu seinem Lehrmeister und entwickelte eine große Eigenständigkeit. Spätestens 1746 kam es zu einer Aussöhnung, als Silbermann zusammen mit Johann Sebastian Bach die Hildebrandt-Orgel in der Naumburger Stadtkirche St. Wenzel (heute Sachsen-Anhalt) überprüfte und abnahm. Das Werk gehört „zu den bedeutendsten Schöpfungen auf dem Gebiet des spätbarocken Orgelbaus“. Sein Meisterstück steht in Langhennersdorf. Bei seiner Prüfung der Hildebrandt-Orgel in Störmthal (1722–1723) hat Johann Sebastian Bach laut Bericht „vor tüchtig und beständig erkannt und gerühmet“. Als besonders hochwertig gilt die Fassung des Prospektes aus dem Jahr 1726 in Lengefeld, die ein „Kunstmaler Fritzsche“ aus Dresden ausführte. Für St. Jacobi in Sangerhausen schuf er 1728 ein weiteres Werk. Von dem Spätwerk in Goldbach (um 1756) sind nur einige Register erhalten. Eine Besonderheit stellt das zweimanualige Orgelpositiv (um 1730) eines unbekannten Meisters in der Kapelle von Burg Schönfels dar, für das ausschließlich Holzpfeifen Verwendung fanden. Die hölzernen Prospektpfeifen sind versilbert. 288 Pfeifen in sechs Registern unterschiedlicher Fußtonzahl (8′, 4′, 3′, 2′, 1½′, 1′) ergeben ein besonders warmes Klangbild. Andreas Tamitius, seit 1665 „Churfürstlich Sächsischer Hoforgelmacher“ in Dresden, gründete ein Familienunternehmen, das über drei Generationen Orgeln in Böhmen, der Lausitz und Schlesien baute. Er vermittelte italienische Einflüsse auf den sächsischen Orgelbau. Von seinem Sohn Johann Gottlieb Tamitius stammt die Orgel in Waltersdorf (1766), seine einzige, die in Sachsen erhalten ist. Johann Ernst Hähnel war Schwager und Mitarbeiter von Johann Gottlieb Tamitius und schuf von Meißen aus bis 1765 etwa 50 neue Orgeln, die einen eigenständigen Stil neben Silbermann erkennen lassen. Daneben baute er Klaviere und 1736/1737 das Innenwerk eines Porzellanglockenspiels von Johann Joachim Kändler. Er errichtete 1723 bis 1724 in Mittelsaida eine Orgel, eine weitere um 1724 in Steinbach und 1741–1743 eine in der Stadtkirche Bärenstein. Von dem weithin unbekannten Georg Renkewitz (1687–1758), Organist, Orgelbauer und Uhrmacher in Schellenberg (Augustusburg), stammt die handwerklich hochwertige Orgel in der Schlosskirche, die das Vorgängerinstrument von Rodensteen (1572) ersetzte. Renkewitz, der bereits 1714 mit einem Neubau beauftragt wurde, begann um 1740 mit einem Neubau, der erst 1784 von seinem Neffen Carl Gottfried Bellmann vollendet wurde. Der herzförmige Mittelturm wird von geschweiften Spitztürmen mit Blindflügeln flankiert. Eigentümlich ist ein friesartiges Pfeifenband über dem Spieltisch mit 175 kleinen Pfeifen des Kornettregisters, von denen 75 blind sind. Johann Daniel Ranft hatte wie sein Vater wahrscheinlich bei Johann Ernst Hähnel den Orgelbau erlernt. Neben seinen Werken in Geising (1755–1757), Burkhardswalde (1764) und in Dorfkirche Struppen (1785) erhielt er etliche Aufträge in Böhmen. Jacob Oertel baute 1749–1750 ein zweimanualiges Werk in der Dorfkirche Sadisdorf und 1753–1755 eine Orgel mit 35 Registern für die Stadtkirche in Zschopau. und 1760 eine Orgel in Borna. Der Orgelbauer Tobias Heinrich Gottfried Trost war der bedeutendste thüringische Orgelbauer. Seine Orgel im Schloss Altenburg (seit 1920 zu Thüringen, zu DDR-Zeiten zum Bezirk Leipzig gehörig), die in den Jahren 1736 bis 1739 entstand, wurde von Silbermann und Bach geprüft und hochgelobt. Sie zählt zu den repräsentativsten deutschen Orgeln. Die thüringische Prägung wird an den zahlreichen Acht-Fuß-Registern in Äquallage deutlich und ist an ungewöhnlichen Klangfarben und einem sanften Plenum erkennbar. Gottfried Silbermann Mit Gottfried Silbermann, dem Vollender der mitteldeutschen Barockorgel, erreichte der sächsische Orgelbau seinen Höhepunkt. Von seinen 50 Orgelneubauten sind 31 Werke erhalten, davon 17 fast unverändert oder weitgehend original. Er verwendete nur beste Materialien und arbeitete auf höchstem handwerklichen und künstlerischen Niveau. Nach heutigem Kenntnisstand wurden bei keiner einzigen Orgelabnahme Mängel am Instrument nachgewiesen oder Nachbesserungen gefordert. Einige Kirchengemeinden vertrauten Silbermann offenbar so sehr, dass sie auf externe Gutachter verzichteten. Dank seines Organisationstalents und einer manufakturähnlichen Arbeitsteilung in der Werkstatt arbeitete Silbermann effektiv und wirtschaftlich. Johann Friedrich Agricola bewunderte „die vortreffliche Sauberkeit, Güte und Dauerhaftigkeit der Materialien sowohl als der Arbeit; die große Simplicität der innern Anlage; die ungemein prächtige und volle Intonation; und die überaus leicht und bequem zu spielenden Claviere“. In Freiberg machte Silbermann sich 1711 mit einer eigenen Werkstatt selbstständig und wohnte dort bis zu seinem Lebensende. Die große Orgel im Freiberger Dom (1710–1714) war Silbermanns erstes großes Werk in Sachsen. Es begründete seinen Ruhm und ist nahezu unverändert erhalten. Weitere Instrumente in Freiberg entstanden für die Jakobikirche (1716–1717), für den Dom (kleine Orgel, 1718–1719) und für St. Petri (1734–1735). Zwei Schwesterinstrumente entstanden in Rötha, in der Stadtkirche St. Georg (1718–1721) und in der Marienkirche (1721–1722), die beide nahezu unverändert blieben. Weitere nahezu vollständig erhaltene Silbermann-Orgeln befinden sich in Ringethal (um 1725), Ponitz (1737) Großhartmannsdorf (1741), Fraureuth (1742), Schloss Burgk (1743) und Nassau (1748). Die Orgel in Dittersbach (1726) ist die einzige unbemalte Silbermann-Orgel. Die dreimanualige Orgel der Katholischen Hofkirche in Dresden wurde von 1750 bis 1755 maßgeblich von Mitarbeitern erbaut und nach Silbermanns Tod vollendet. Während Gehäuse und Prospekt 1944 zerstört wurden, blieb das ausgelagerte Pfeifenwerk bis auf ein Register erhalten; spätere Änderungen wurden bei den letzten Restaurierungen weitgehend rückgängig gemacht. Seine Orgeln folgten fünf standardisierten Typen mit vereinheitlichten Mensuren und Gehäusebauten, einfacher Mechanik sowie einer eher konventionellen Disposition. Der in der Regel fünfachsige Prospekt ist durch drei flachrunde Pfeifentürme gegliedert. Die verbindenden Flachfelder oder der Mittelturm können zweigeschossig sein. Durch die ungewöhnlich breite Labiierung der Orgelpfeifen erzielte Silbermann einen kräftigen Klang und eine rasche und sichere Tonansprache. Der Meister beschränkte sich strikt auf einen Umkreis von 35 Kilometern in Sachsen und sicherte sich dort durch Privilegien als königlicher „Hoff- und Land-Orgel-Bauer“ eine Monopolstellung. Kaum eine Orgellandschaft ist so nachhaltig durch eine einzelne Person geprägt wie Sachsen durch Gottfried Silbermann. Bis weit ins 19. Jahrhundert wirkte sein Vorbild fort. Der Bewahrung seines klingenden Erbes ist insbesondere die Gottfried-Silbermann-Gesellschaft verpflichtet. Inzwischen erklingen die meisten Silbermann-Instrumente wieder in ihrem ursprünglichen Zustand. Spätere Eingriffe in die Disposition wurden in den vergangenen Jahrzehnten rückgängig gemacht und verlorene Register rekonstruiert. Kennzeichen und Funktion Der Barock gilt als Blütezeit des sächsischen Orgelbaus. Aufgrund der Zerstörungen im Dreißigjährigen Krieg und der neuen Funktionen der Orgel entstanden zahlreiche Neubauten. Mit einer zunehmenden Verschleppung des Tempos und einer abnehmenden Qualität des Gemeindegesangs wurde ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Orgel erstmals zur Begleitung der Gemeinde eingesetzt. Auch wenn die Orgelbegleitung in evangelischen Kirchen zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Regel war, standen noch an dessen Ende in vielen Dorfkirchen nur kleine Orgelpositive oder es blieb beim A-cappella-Gesang. Dies führte zu einem Wandel in der Klangästhetik. So erforderten die neuen liturgischen Aufgaben beim Choralspiel einen stärkeren Orgelklang mit tragenden Bässen und hellen Klangkronen. Mit dem Erstarken des Bürgertums im 18. Jahrhundert diente die Orgel auch zur Unterstützung der Figuralmusik, der gottesdienstlichen Ensemblemusik mit Sängern und Instrumentalisten unter Beteiligung der Rats- und Stadtmusiker. Gegenüber dem norddeutschen Orgelbau ist in der sächsischen Orgellandschaft die Ablehnung eines Rückpositivs und der weitgehende Verzicht auf Pedalregister in hoher Lage kennzeichnend. Im Vergleich mit den fantasiereicheren und kammermusikalischeren Dispositionen thüringischer Orgeln war der sächsische Orgelbau konventioneller, aber mit den gravitätischen Plenumklängen zugleich repräsentativer ausgerichtet. Rokoko und Klassizismus Bedeutende Orgelbauer und ihre Werke Der nachhaltige Einfluss Silbermanns wirkte im Rokoko und Klassizismus fort. Johann Georg Schön, der Silbermanns Werkstatt übernahm, hinterließ eine Orgel in der Kirche Herzogswalde (1763). Adam Gottfried Oehme war der letzte Schüler Gottfried Silbermanns. Erhaltene Werke Oehmes befinden sich in Weigmannsdorf (1768–1771), Brand-Erbisdorf (1770–1774), Kleinwaltersdorf (1774 oder 1776), Cämmerswalde (1776), Tuttendorf (1778–1782) und Zethau (1784–1788). Verschiedene Orgelbauer orientierten sich an Silbermanns Bauweise, ohne seine Schüler gewesen zu sein. So lehnte der Dresdner Stadt- und Hoforgelbauer Tobias Schramm (1701–1771) die Prospektgestaltung der Orgel in der Schlosskapelle Hubertusburg deutlich an Silbermanns Spätwerke in Fraureuth und Zöblitz (1742) an. Im Jahr 1749 wurde die kleine Orgel von der Kurfürstin Maria Josepha für die Kaiserkapelle in Dresden-Neustadt gestiftet und zu einem unbekannten Zeitpunkt nach Hubertusburg umgesetzt. Die reichen Verzierungen im Stil des Rokoko gehen vermutlich auf Johann Benjamin Thomae zurück. Johann Christian Kayser schuf Werke im Stil Silbermanns hinter einem klassizistischen Prospekt in Lohmen (1789), Olbernhau (1790), Glashütte (1794–1797), Lichtenberg/Erzgebirge (1799–1800) und Dorfchemnitz (1801–1803). Auch die Orgelbauerfamilie Trampeli übernahm Silbermanns Bauprinzipien in der Disposition, Intonation, Prospektgestaltung und in der technischen Anlage. Der Vater Johann Paul Trampel italienisierte 1759 seinen Nachnamen in das wohlklingendere Trampeli. Auf ihn gehen 50 Restaurierungen und Neubauten zurück. Von seinen angesehenen Söhnen Johann Gottlob und Christian Wilhelm Trampeli stammen die Werke in Oberlosa (1784–1788), Unterwürschnitz (1791–1792), Gerichshain (1802–1803), Straßberg (1798–1804), Markersbach (1803–1806), Sornzig (1808–1810), Neustädtel (1810–1812), Schönau (Wildenfels)/Rochuskirche (1822–1823), von dem Enkel Friedrich Wilhelm Trampeli in Windischleuba (1819–1822) und Landwüst (1822). Bei der Vox humana der Trampeli-Orgel in Zitzschen (1793–1795) wird ausdrücklich vermerkt: „nach Silbermann’scher Mensur“. Johann Jacob Schramm (1724–1808) lehnte sich ebenfalls an die silbermannsche Bauweise an, verwendete aber engere Mensuren. Er errichtete Orgeln in Wechselburg (1774–1781) und Stangengrün (1766–1769). Auch für die ersten beiden Generationen der Orgelbauerfamilie Jehmlich war Silbermann das große Vorbild. Der 1808 im erzgebirgischen Cämmerswalde gegründete Familienbetrieb siedelte 1826 nach Dresden über und entwickelte sich zu einem der führenden Orgelbauunternehmen in Sachsen. Die älteste sächsische Jehmlich-Orgel in der Stadtkirche Lauenstein baute Gotthelf Friedrich Jehmlich im Jahr 1818. Sie wurde im Jahr 2003 durch Brand zerstört und 2005 nach alten Zeichnungen originalgetreu rekonstruiert. Der Bruder Carl Gottlieb Jehmlich errichtete 1839 eine weitere Werkstatt in Zwickau. Sein Instrument in Auerbach aus dem Jahr 1840 lehnt sich an den Spätstil Silbermanns an. Bei seinem Bruder Johann Gotthold Jehmlich erlernte Karl Traugott Stöckel den Orgelbau. Einzelne Orgelbauer konnten ihre Eigenständigkeit außerhalb der Silbermann-Tradition bewahren. Zu ihnen gehörte Johann Emanuel Schweinefleisch, der bei Trost und Hildebrandt den Orgelbau erlernte. Seine Orgeln in der Auferstehungskirche Leipzig (1766) und in Böhlitz (1770–1771) sind teilweise erhalten. Letztere stand ursprünglich in der alten Reformierten Kirche (Thomaskirchhof) und wurde 1901 umgesetzt. Die Orgelbauerfamilie Flemming hatte ihren Sitz im nordsächsischen Torgau. In zweiter Generation baute Johann Christian Friedrich Flemming in drei Jahrzehnten 24 neue Instrumente, vor allem in den Dorfkirchen der Umgebung. Erhaltene Werke stehen in Radefeld und Klitzschen (beide um 1780), Großwig bei Dreiheide (1787) und Lindenthal (1792). Johann Georg Friedlieb Zöllner war Lehrling und Mitarbeiter von Hähnel und übernahm dessen Werkstatt. Er hinterließ Neubauten in Kleinbardau (1782), Grimma (1803), Königsfeld (1820) und Merkwitz (1819 oder 1825). Christian Gottfried Herbrig schuf ein- und zweimanualige Dorforgeln an der Schwelle vom Klassizismus zur Frühromantik in Schmiedefeld (1821), Großdrebnitz (1828), Dorf Wehlen (1831), Dresden-Eschdorf (1838), Langenwolmsdorf (1843–1844), Papstdorf (1845) und Altstadt (1856). In den fünfachsigen, flächigen Prospekten wird das mittlere Rundbogenfeld stets von schmalen zweigeschossigen Feldern flankiert. Sein Sohn Wilhelm Leberecht Herbrig übernahm diese Prospektgestaltung. Kennzeichen und Funktion Rokoko und Klassizismus waren im sächsischen Orgelbau als eigenständige Kulturepochen wenig ausgeprägt und präsentierten sich als Übergangszeit zwischen Barock und Romantik. Der schon in Silbermanns späten Werken erkennbare Einfluss des Rokoko, die rechteckigen Pfeifenfelder durch geschwungene aufzulockern (Schloss Burgk, 1743; Frankenstein, um 1752), setzte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fort, als viele Dorfkirchen erstmals mit einer Orgel ausgestattet wurden. Die seitlichen, teils als Blindflügel („Orgelohren“) erhaltenen ausladenden Rocaillen wurden wie die reich verzierten Schleierbretter mit durchbrochenem Schnitzwerk gerne vergoldet und hoben sich von der weißen Fassung des Gehäuses ab. In klanglicher Hinsicht wurden verstärkt grundtönige Register eingesetzt und sanftere Stimmen wie Flöten- und Streichregister bevorzugt. Die Mixturen wurden weniger scharf und kräftig als im Barockzeitalter konzipiert. Vielfach folgte der Prospektaufbau dem üblichen Silbermannschen Schema mit drei flachrunden Pfeifentürmen. Ansonsten wurde der schmucklose klassizistische Prospekt von strenger Symmetrie und geometrischen Formen und flachen Dreiecksgiebeln beherrscht. Die im Rokoko reich verzierten Schleierbretter und die beliebten Blindflügel wurden nun wesentlich schlichter gestaltet oder entfielen ganz. Pilaster gliederten den Prospekt, der flachrunde Pfeifentürme aufweisen konnte, im weiteren Verlauf der Zeit aber ganz flach gestaltet wurde. Auf dem Gehäuse standen vielfach antikisierende bekrönende Vasen oder Urnen. Romantik Bedeutende Orgelbauer und ihre Werke In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts baute Christian Gottlob Steinmüller in seiner Grünhainer Werkstatt 26 neue Orgeln für das Erzgebirge und darüber hinaus. Er war Neffe und Schüler von Johann Gottlob Trampeli und vollzog den Schritt vom Klassizismus zur Frühromantik. Erhaltene Werke finden sich in Grünhain (1812), Wolkenstein (1818), Seifersbach (1827), Großrückerswalde (1828), Pausa (1831), Arnoldsgrün (1836), Schwarzbach (1837), Auerbach (1847) und Raschau (1848). Sie zeichnen sich durch ihre „vielseitigen Möglichkeiten der Abstufung hinsichtlich Farbe und Dynamik“ aus. Ein bedeutender Vertreter des frühromantischen Orgelbaus und der letzte Leipziger Universitätsorgelbauer war Johann Gottlob Mende. Von seinen insgesamt 23 Orgelneubauten in Sachsen, deren Bauweise stark an Silbermann orientiert ist, sind sieben weitgehend erhalten. Sein größtes Werk in der Leipziger Paulinerkirche wurde mehrfach umgebaut und 1968 mit der Kirche gesprengt. Christian Friedrich Göthel erwarb sich seine genaue Kenntnis der Silbermannschen Bauweise im Eigenstudium. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm mit der Industrialisierung und dem zunehmenden Warenverkehr der Einfluss auswärtiger Orgelfirmen zu, die große Instrumente überregional auslieferten. Ein Großteil der Aufträge blieb jedoch in der Hand sächsischer Orgelbauer, die zum Teil auf eine lange Familientradition zurückblicken konnten und über mehrere Generationen die Orgellandschaft prägten. Zu ihnen gehörte die Orgelbauerfamilie Kreutzbach. Von Urban Kreutzbach sind Orgeln in Großpostwitz (1857) und Bockau (1860) erhalten, von seinem Sohn und Nachfolger Richard Kreutzbach Orgeln in Jesewitz (1872), Frauenstein (1873) und in der Lindenauer Nathanaelkirche (1884). Johann Gotthilf Bärmig, ein Schüler von Urban Kreutzbach, gehörte zu den wenigen Orgelbauern der Romantik, die die alte Klangpracht von Silbermann wieder aufleben ließen. Von ihm sind zahlreiche sächsische Orgeln erhalten, unter anderem in Oberwiesenthal (1866) und in der Klingenthaler Rundkirche Zum Friedefürsten (1872). Seine Werkstatt in Werdau wurde von dem Kreutzbach-Enkel Georg Emil Müller fortgeführt. Von den mehr als 40 Orgelneubauten des Dresdner Familienunternehmens Julius Jahn & Sohn sind bis auf die Jahn-Orgel im Dresdner Johannisfriedhof (1928) keine Instrumente unverändert erhalten oder in den ursprünglichen Zustand rekonstruiert. Teilweise dem Originalzustand angenähert wurde die Orgel der Versöhnungskirche Dresden in den Jahren 2008–2011. Hingegen sind von der Orgelbauerfamilie Schmeisser aus vier Generationen einige Dutzend Orgeln erhalten. Das 1844 gegründete Unternehmen stellte 1905 auf pneumatische Kegelladen um und schuf Werke in spätromantischem Stil. Das Dresdner Familienunternehmen Jehmlich hat mit weltweit über 1100 Orgeln das umfangreichste Schaffen aller sächsischen Orgelbauer aufzuweisen. Es führte in dritter Generation unter Emil und Bruno Jehmlich ab 1888 die pneumatische Traktur ein. Dreimanualige Jehmlich-Orgeln aus spätromantischer Zeit stehen in der Kirche Niederoderwitz (1874), der Friedenskirche Kötzschenbroda (1885), in Dresden in der Martin-Luther-Kirche (1887), der Christuskirche (1905) und der Herz-Jesu-Kirche (1909), weitere in Lößnitz (1899), in Großenhain (1901) hinter dem veränderten Gehäuse von Johann Gottlieb Mauer (1778) und in der Lindenauer Philippuskirche (1910). Mittelgroße Jehmlich-Orgeln mit einem Prospekt im Jugendstil sind in der Christuskirche, Dresden-Klotzsche, (1907) und in der Friedenskirche (Aue-Zelle), (1914) erhalten. Hermann Eule gründete 1872 ein Unternehmen in Bautzen, das auf die Orgellandschaft nachhaltigen Einfluss hatte. Der Firmengründer verwendete in der Regel mechanische Kegelladen, für seine große Orgel im Bautzener Dom St. Petri (1910) jedoch pneumatische Taschenladen. Heute stehen mehr als 150 Eule-Orgeln in Gebäuden der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen. Die 1869 in Zittau gegründete und 1995 von einem Schuster-Mitarbeiter übernommene Orgelbaufirma A. Schuster & Sohn errichtete über 240 Orgeln (wovon die in der Johanniskirche Zittau die größte und wohl bekannteste ist), vor allem in der Oberlausitz, aber auch in anderen Teilen Sachsens (z. B. Stadtkirche Torgau) und darüber hinaus bis in den Raum Halle/Saale und Magdeburg. Conrad Geißler (Eilenburg) schuf etwa 120 Orgeln, von denen einige, eher kleinere Instrumente ganz oder teilweise erhalten sind. Er setzte – im Gegensatz zum ebenfalls in Eilenburg ansässigen und technischen Neuerungen seiner Zeit wohlgesonnenen Nicolaus Schrickel – auf konservative Bauweisen und Konstruktionsprinzipien (nur mechanische Spieltrakturen), experimentierte wenig und erreichte damit eine hohe Qualität und Solidität seiner Orgeln. Eine nahezu original erhaltene Geißler-Orgel von 1864 (II/22), die im Jahr 2000 nach langem Verfall und einer Restaurierung wieder eingeweiht werden konnte, steht in der Eilenburger Marienkirche. Sein größtes Orgelwerk (III/44, Stadtkirche Torgau) wurde im 2. Weltkrieg vernichtet. Auch die von ihm 1883 umgebaute und großzügig auf 42 Register erweiterte Orgel in der gegenüber seiner Werkstatt stehenden Nikolaikirche ging beim Beschuss der Stadt 1945 verloren und konnte bis heute nicht durch ein aquädates Orgelwerk ersetzt worden. Eine der wenigen erhaltenen Orgeln von Carl Eduard Schubert, ebenfalls einem Nachfolger Silbermanns, in Marienberg, St. Marien, erforderte eine Bauzeit von sieben Jahren (1872–1879). Schuberts akribische Arbeitsweise führte zum wirtschaftlichen Ruin. Er war schließlich auf Almosen angewiesen und beendete sein Leben im Jahr 1900. Auch bedeutende auswärtige Orgelbauer wirkten in Sachsen. Johann Friedrich Schulze aus dem thüringischen Paulinzella, einer der berühmtesten europäischen Orgelbauer seiner Zeit, baute 1848 eine Orgel in Markneukirchen, nachdem 1840 ein Stadtbrand die Kirche samt Einrichtung zerstört hatte. Das Instrument ist seine einzige Orgel in Sachsen und zugleich sein größtes erhaltenes Werk in Deutschland. Zu den zahlreichen technischen Neuerungen, die Schulze einführte, gehörte eine doppelt geschweifte Pedalklaviatur, die in Markneukirchen kurioserweise 1873 durch eine barockisierende Klaviatur in der Bauweise Silbermanns ersetzt wurde. Eine dreimanualige Orgel von Eberhard Friedrich Walcker aus Ludwigsburg steht in der St. Annenkirche in Annaberg-Buchholz (1883–1884) hinter einem neugotischen Prospekt. Friedrich Ladegast baute neben mittelgroßen Werken in Altleisnig (1868) und der Stadtkirche zu Naunhof (1882) für die Leipziger Nikolaikirche (1862) die damals wie heute größte Kirchenorgel Sachsens. Nach zwei Erweiterungen in den Jahren 1902/1903 und 2002/2003 verfügt die Großorgel über 102 Register, die sich auf fünf Manuale und Pedal verteilen. Der Spieltisch wurde von Porsche-Designern entworfen und enthält Anzeigeinstrumente aus der PKW-Produktion. Wilhelm Sauer aus Frankfurt (Oder) schuf dreimanualige Orgeln im Stil der Spätromantik in der Chemnitzer Lutherkirche (1908), in der Leipziger Michaeliskirche (1904) und in der Thomaskirche (1886–1889), die Sauer 1908 von 63 auf 88 Register erweiterte. Kennzeichen und Funktion Im Zeitalter der Romantik wirkte der Einfluss Silbermanns vielfach weiter und es entstanden Orgelneubauten in barocker Tradition. Das 19. Jahrhundert erwies sich zunächst als nachbarocke Periode mit einer nur zögernd abklingenden Silbermann-Nachfolge. Anfangs gab es nur eine geringfügige Anreicherung durch neue Registerformen, die in anderen Orgellandschaften längst verbreitet waren. Der Orgelbautheoretiker Johann Gottlob Töpfer übte im 19. Jahrhundert durch seine Schriften großen Einfluss auf den sächsischen Orgelbau aus. Auf ihn ging die Abschwächung des zweiten Manuals zurück, das als Pianomanual mit sanften Klängen für Choralvorspiele und die Liturgie eingesetzt wurde, während das kräftig disponierte erste Manual zur Begleitung des Gemeindegesangs diente. Ein wirklicher Umschwung erfolgte erst – und dann ziemlich rasch – mit der Einführung neuer Traktur- und Ladensysteme am Ende des 19. Jahrhunderts. In spätromantischer Zeit wurden zum Teil große Orgeln gebaut, die mit den technischen Neuerungen ihrer Zeit wie Jalousieschwellern und Spielhilfen ausgestattet waren. Große Orgeln besaßen Hochdruckregister und ein Fernwerk mit elektrischer Traktur, so die viermanualige Jehmlich-Orgel der Dresdner Kreuzkirche von 1911. Die Kegellade und die pneumatische Traktur hielten Einzug, gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch die elektrische Traktur. Die neuen Trakturen sorgten sogar bei großen Orgeln für eine leichte Spielbarkeit. Ihre Bauteile waren aber nicht so dauerhaft wie die der mechanischen Traktur. In klanglicher Hinsicht änderte sich die Ästhetik grundlegend. An die Stelle des Werkprinzips, das seit der Spätgotik den Orgelbau beherrscht hatte, trat ein gleitendes Registercrescendo als Klangideal, das im symphonischen Orchesterklang seine Entsprechung fand. An die Stelle von Zungen- und Aliquotregister traten überwiegend grundtönige Labialstimmen in der gleichen tiefen Lage (Äquallage), die eine stufenlose Klangdynamik ermöglichten, unterstützt durch Hinter- und Schwellwerke. Dem entsprach äußerlich ein flächiger Verbundprospekt, der im Historismus ab 1880 meist neogotisch, zu Beginn des 20. Jahrhunderts vereinzelt auch im Jugendstil gestaltet war. Neogotisch gestaltete Prospekte haben spitzbogige Pfeifenfelder und sind mit Fialen, Kreuzblumen, Krabben und Drei- oder Vierpass verziert. Zu den sächsischen Familienbetrieben traten überregional liefernde Orgelfabriken, was zu einer deutschlandweiten Angleichung der Stile führte. 20. und 21. Jahrhundert Bedeutende Orgelbauer und ihre Werke Im 20. Jahrhundert verlor der sächsische Orgelbau seinen Charakter als eigenständige Orgellandschaft und ging in der allgemeinen Entwicklung des deutschen Orgelbaus weitgehend auf. Nachdem bereits in den 1900er Jahren die Elektropneumatik eingeführt worden war und sich bewährt hatte, wurden weiterhin für lange Zeit Orgeln mit rein pneumatischer Traktur gebaut, bei Jehmlich bis in die Mitte der 1950er Jahre. Ab etwa 1930 entstanden die ersten Orgeln unter dem Einfluss der Orgelbewegung mit neobarocker Prägung, die sich in größerem Ausmaß in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchsetzen konnten wie bei der Orgel von Hermann Eule im Zwickauer Dom (1966–1969). Der hannoversche Architekt Heinz Wolff entwarf für die mit damals 77 Registern größte, zu DDR-Zeiten neu gebaute Kirchenorgel das Gehäuse, das an eine Taube erinnert. Das Vorgängerinstrument, das 1930 mit 101 Stimmen zur größten Orgel Sachsens erweitert worden war, war nach dem Zweiten Weltkrieg abgängig. Die Zerstörungen vieler Kirchen und Orgeln im Zweiten Weltkrieg führten zu zahlreichen Orgelneubauten. Etliche Dorfkirchen mitsamt Orgel im Großraum Leipzig fielen dem dort extensiv betriebenen Braunkohleabbau zum Opfer. Die klassische Schleiflade wurde erst ab den 1950er Jahren wieder in großem Umfang eingesetzt, als eine Rückbesinnung auf den klassischen Orgelbau einsetzte. Als Opus 800 baute die Firma Jehmlich 1963 eine viermanualige Orgel für die Kreuzkirche Dresden, die nach mehreren klanglichen Überarbeitungen und einer Erweiterung im Jahr 2008 über 80 Stimmen verfügt. Alexander Schuke aus Potsdam baute 1967 als Ergänzung zur romantischen Sauer-Orgel in der Leipziger Thomaskirche eine neobarocke, dreimanualige Orgel für die Wiedergabe von Musik aus der Bach-Zeit. Trotz des schwierigen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche wurden Orgeln als „Bevölkerungsbedarf“ eingeordnet und zur Pflege des Prinzips der Preisstabilität staatlich subventioniert. DDR-Orgelbaufirmen wurden zunehmend als Deviseneinbringer angesehen. Aufträge aus dem NSW erhielten Vorrang, so dass DDR-Kirchgemeinden zuletzt bis zu 14 Jahre auf eine neue Orgel warteten. Die beiden größten in sächsischem Gebiet ansässigen Firmen Jehmlich und Eule mussten 1972 die Umwandlung ihrer Betriebe in einen VEB über sich ergehen lassen, und erlangten nach 1990 ihre vormalige Selbständigkeit zurück. Kleinere Orgelbaubetriebe entgingen der Verstaatlichung. International bekannt wurde die Jehmlich-Orgel von der St.-Wolfgangs-Kirche in Schneeberg, die nach jahrzehntelangen Schwierigkeiten in den Jahren 1995 bis 1998 entstand. 56 Register sind auf drei Manuale und Pedal verteilt. Die Errichtung an der Westseite war eine Herausforderung, da die Denkmalpflege den Einbau einer Orgelbühne untersagte. Für die Auferstehungskirche in Dresden-Plauen baute die Bautzener Firma Eule 1985 eine dreimanualige Orgel mit 44 Registern unter Einbeziehung von neun Registern und des Gehäuses der Vorgängerorgel von Jehmlich (1902). Ab den 1930er Jahren restaurierte Schmeisser historische Orgeln. Die Denkmalpflege bestimmt seit den 1950er Jahren zunehmend den Orgelbau. Die konsequente Rückführung der Renkewitz-Orgel in Augustusburg auf den Originalzustand durch den VEB Orgelbau Dresden (Jehmlich) war eine Pionierleistung im Jahr 1972. Bei Restaurierungen sind als weitere sächsische Orgelbaufirmen Eule (Bautzen), Rühle (Moritzburg), Georg Wünning (Großolbersdorf) und Wegscheider (Dresden) hervorgetreten. Eine besondere Rolle kam der großen Orgel im Freiberger Dom zu, die weitgehend erhalten ist und als eine der wertvollsten Barockorgeln Europas großen Einfluss auf den historisch orientierten Orgelbau ausübte. Zu den aufwändigsten Restaurierungen gehörte die Rekonstruktion der mehrfach umgebauten Sauer-Orgel der Leipziger Thomaskirche auf den spätromantischen Zustand von 1908 durch Christian Scheffler und Matthias Ullmann in den Jahren 1988 bis 1993. Die Restaurierungspraxis brachte wiederum Impulse für den Orgelneubau. So ist die Wegscheider-Orgel in der Wilschdorfer Christophoruskirche von 1995 wahlweise in mitteltöniger und wohltemperierter Stimmung spielbar. Die sächsische Orgellandschaft wurde durch große Orgelneubauten von außerhalb bereichert. Für das Neue Gewandhaus in Leipzig baute Alexander Schuke 1975–1981 ein vielseitiges Konzertinstrument. Die viermanualige Orgel ist der größte Orgelneubau, der zu DDR-Zeiten errichtet wurde, umfasst nach einer Erweiterung 91 Register und fällt durch ihre asymmetrische Aufstellung und die horizontalen Trompetenregister ins Auge. 1987 wurde diese Orgel mit westlicher Technologie (zweiter, mobiler Spieltisch mit Ansteuerung der Orgel über Lichtleiterkabel) ergänzt. Das Schweizer Unternehmen Mathis Orgelbau errichtete 1997 hinter dem alten Prospekt der Görlitzer „Sonnenorgel“ ein neues Werk, das 2006 auf vier Manuale und 88 Register erweitert wurde. Für die Leipziger Thomaskirche baute Gerald Woehl aus Marburg als Ersatz für die aufgegebene Schuke-Orgel von 1967 im Bachjahr 2000 eine sogenannte Bach-Orgel. Sie orientiert sich an der Stertzing-Orgel der Eisenacher Georgenkirche, der Taufkirche Johann Sebastian Bachs, in welcher er als Kind den Bau dieser Orgel miterlebte, und trägt im Zentrum des Prospekts Bachs Wappen mit den Initialen JSB. Im Gegensatz zur Kirche und ihrer Innenausstattung wurde die Orgel der Dresdner Frauenkirche im Zuge des Wiederaufbaus nicht rekonstruiert, da eine Synthese mit einer modernen Universalorgel hinter dem rekonstruierten Silbermann-Prospekt bevorzugt wurde. Ein öffentlich ausgetragener „Orgelstreit“ zog internationale Kreise. Durchsetzen konnte sich Daniel Kern aus Straßburg, der 2005 einen Neubau mit neoklassisch-französischer Prägung und einer gegenüber Silbermann erweiterten Disposition schuf. Kennzeichen und Funktion Auch im 20. und 21. Jahrhundert war und ist der Orgelneubau in Sachsen konservativ ausgerichtet. Freipfeifen- oder unkonventionelle Prospekte bilden die Ausnahme. Ein einheitlicher Trend wie in vorangehenden Epochen ist nicht mehr zu verzeichnen. Neben dem Orgelneubau nehmen der Erhalt und die sachgemäße Restaurierung der historischen Orgeln zunehmend Raum ein. Mehr als in früheren Epochen erfüllt die Orgel nicht nur gottesdienstliche Funktionen, sondern ist zugleich Konzertinstrument und Forschungsgegenstand. Das Bemühen um den Erhalt des historischen Orgelbestands in Sachsen geht Hand in Hand mit der organologischen Erforschung und der Erschließung der Orgeln für die Öffentlichkeit. In der Forschung sind die Orgelwissenschaftler Ulrich Dähnert, Ernst Flade, Felix Friedrich, Frank-Harald Greß und Werner Müller hervorgetreten. Konzerte und Publikationen, Radio- und CD-Aufnahmen, Orgelakademien und Meisterkurse haben die sächsischen Orgeln bekanntgemacht und Organisten und Orgelbauer aus aller Welt angezogen. Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Sachsens und die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden haben umfassende Online-Inventare des Orgelbestands erstellt und einem breiten Interessentenkreis zugänglich gemacht. Siehe auch Liste von Orgeln in Sachsen Liste der Orgeln in Dresden Liste der Orgeln in Leipzig Liste der Orgeln im Landkreis Görlitz Literatur Ulrich Dähnert: Die Orgellandschaft Sachsen und Thüringen. In: Acta Organologica. Bd. 1, 1967, S. 46–62. Frank-Harald Greß: Die Orgellandschaft Sachsen. In: Badisches Landesmuseum Karlsruhe (Hrsg.): Silbermann. Geschichte und Legende einer Orgelbauerfamilie. Badisches Landesmuseum, Karlsruhe 2006, ISBN 978-3-7995-0218-4, S. 81 f. Frank-Harald Greß, Michael Lange: Die Orgeln Gottfried Silbermanns. (= Veröffentlichungen der Gesellschaft der Orgelfreunde 177). 3. Auflage. Sandstein, Dresden 2007, ISBN 978-3-930382-50-7. Walter Hüttel: Orgeln und Orgelbauer im südwestlichen Sachsen. In: Acta Organologica. Bd. 34, 1994, S. 9–36. Weblinks (mit Gastzugang) Orgelverzeichnis Schmidt: Orgeln in Sachsen Jiři Kocourek: Orgelland Sachsen. In: Ars Organi. Heft 48/1, März 2000, S. 2–17 (PDF; 6,41 MB). Jiři Kocourek, Holger Gehring: Orgelland Sachsen – anders (wieder)gesehen. In: Ars Organi. Heft 63/1, März 2015, S. 3–9 (PDF; 0,6 MB) Organ index: Orgeln in Sachsen Einzelnachweise
8624864
https://de.wikipedia.org/wiki/Blu%20%28Streetart-K%C3%BCnstler%29
Blu (Streetart-Künstler)
Blu (* Anfang der 1980er Jahre in Senigallia) ist der Künstlername eines italienischen Graffiti-, Streetart- und Videokünstlers, der seine Identität verbirgt. Bekannt ist, dass er in Bologna lebt. Das Goethe-Institut Madrid bezeichnet Blu als einen der international bedeutendsten und kritischsten Street-Artisten des Muralismus. Blu betreibt Urban-Art seit Mitte der 1990er Jahre. Werke Blus finden sich in mehreren europäischen Ländern, im Westjordanland und in Nord-, Mittel- und Südamerika. Auf einer Amerika-Reise im Jahr 2006 drehte der Regisseur Lorenzo Fonda den Dokumentarfilm MEGUNICA, eine Mischung aus Künstlerportrait und Roadmovie über Blus Arbeit. In Deutschland ist Blu vor allem durch die großflächigen Cuvry-Graffiti in Berlin-Kreuzberg bekannt, die 2014 mit seinem Einverständnis eingeschwärzt wurden. Im Jahr 2006 nahm er in Wuppertal am Outsides-Projekt teil, einem von Red Bull gesponserten Streetart-Projekt. In Österreich war er mit der Bemalung eines Getreidespeichers im Wiener Alberner Hafen vertreten. Zu seinen Werken gehören zahlreiche digitale Animationen und Videos, die unter anderem die Entstehung der Wandbilder als Making-of dokumentieren. Das Animations-Video Muto („Stumm“), das Blu während eines Aufenthaltes in Buenos Aires 2007/2008 aufnahm, wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Auf seiner Homepage, gefasst als Sketch Note-Book und Teil seiner Kunst, veröffentlicht Blu in der Art eines Tagebuchs regelmäßig Teile seiner Skizzenbücher und gibt Einblicke in die Werke und Prozesse seiner Arbeitsweise. Seine sozialkritischen Bilder, als oft episch ausladend charakterisiert, wurden auf verschiedenen Ausstellungen vorgestellt, darunter 2009 Urban-Art – Werke aus der Sammlung Reinking im Bremer Weserburg Museum für moderne Kunst. Eine Gemeinschaftsarbeit Blus mit den brasilianischen Brüdern Os Gêmeos im Rahmen des Lissaboner Crono-Projekts 2010 wählte der Guardian unter die zehn besten Streetart-Werke weltweit. Künstlerischer Werdegang Abgesehen von seinem Geburtsort Senigallia und seinem Wohnort Bologna ist über das Leben Blus kaum etwas bekannt. Nach Angabe des ArtBooom Festivals in Krakau und wie er selbst in einem Interview zu verstehen gab, wurde er Anfang der 1980er Jahre geboren. In den Jahren 2013 und 2014 wohnte und arbeitete er in einem besetzten ehemaligen Militärgebäude in Rom, das er in zweijähriger Arbeit mit seinem bislang größten Wandbild ausstattete. Ansonsten hält sich Blu hinsichtlich seiner Biografie/Person gezielt bedeckt und will sich ausschließlich durch seine Kunst ausdrücken. Anlässlich der Urban-Art Ausstellung 2009 konnte das Weserburg Museum für moderne Kunst im Begleitband zur Biografie Blus lediglich mitteilen: „Antibiografische Anmerkung: Blu ist das Pseudonym eines italienischen Künstlers. Wenn er es nur könnte, würde er auf seinen Namen verzichten. Sein Leben ist nebensächlich.“ Graffiti und Wandbilder Blu begann seine künstlerische Karriere Mitte der 1990er Jahre im Alter von 15 Jahren in der Universitätsstadt Bologna. In einem Interview teilte er mit, dass es zu dieser Zeit in Italien einen großen Graffiti-Boom gab, von dem er sich inspirieren ließ. Seine ersten Arbeiten bestanden aus Graffiti, die er in der Altstadt und den Vororten Bolognas mit Sprühdosen, dem typischen Handwerkszeug der Graffiti-Kultur, sprayte. Ab 2001 wandte er sich großflächigen Wandbildern zu, wobei er die Fassadenfarben mit Rollen, die auf Teleskopstöcken montiert waren, auftrug. Blu hat sich in diesen Jahren sowohl technisch als auch inhaltlich vom Graffiti-Stil entfernt. Eine deutliche Konturierung und das schnelle, spontane Auftragen der Farbe sind Elemente, die noch an Blus Graffiti erinnern. Das Großformat, das Überwiegen des Bildteils und die gesellschaftskritischen Aussagen hingegen sind typische Merkmale der Street Art. Blu hat sich dazu in einem Interview folgendermaßen geäußert: „[...] taking what I had learned from graffiti writing, I have tried to move backwards, removing all the parts that I did not need.“ Sarkastisch und dramatisch dargestellte, surreale Figuren, die an Comics und Arcade-Spiele erinnerten, erschienen auf den Hauswänden Bolognas, aufgetragen in der Regel in weißer Farbe. Die unbunte Farbe Weiß bevorzugt Blu für seine Werke bis heute (Stand 2015), weil helle Wandbilder in der Dunkelheit am besten sichtbar sind. Im Jahr 2004 wurden erste Kunstgalerien auf Blus Bildsprache und Stil aufmerksam und luden ihn zu Ausstellungen ein. Da er weiterhin lieber im Verborgenen arbeiten und sich mit Bildern und nicht mit Worten ausdrücken wollte, nahm er die Einladungen selten an. Etwa zur gleichen Zeit begann Blu eine intensive Zusammenarbeit mit Künstlern wie Dem, Sweza, Run und vor allem Ericailcane, mit dem er sich künstlerisch ergänzte. Während Blu seine charakteristischen menschlichen Figuren kreierte, malte Ericailcane die für ihn typischen Tiere, wie beispielsweise noch auf dem Nuart Festival in Stavanger 2010 (siehe unten). Ab 2005 unternahm Blu ausgedehnte Reisen, insbesondere nach Amerika und in Europa. Die Werke auf seinen oft langjährigen Auslandsaufenthalten entstanden teils in Zusammenarbeit mit international renommierten Street-Art-Künstlern, darunter Banksy, Os Gêmeos und JR. Spätestens als er sich anlässlich seines Werkes Hombre Banano 2005 in Managua mit der Sandinistischen Revolution auseinandersetzte, gewannen seine Bilder deutlich sozialkritische Inhalte. Der Bananenmann thematisierte den Protest der Arbeiter auf den Bananenplantagen Nicaraguas. Blus Maltechnik und Bildaussagen seit dieser Zeit werden mit dem Muralismo, insbesondere mit dem mexikanischen und südamerikanischen Muralismo, verglichen. MEGUNICA-Filmprojekt Ende 2006 bereiste Blu im Rahmen des MEGUNICA-Filmprojekts Süd- und Zentralamerika. MEGUNICA ist ein Dokumentarfilm des italienischen Regisseurs Lorenzo Fonda aus dem Jahr 2008. Der Filmtitel MEGUNICA ist ein Akronym aus den Anfangsbuchstaben der bereisten Länder Mexiko, Guatemala, Nicaragua, Costa Rica und Argentinien. In einer Mischung aus Künstlerportrait und Roadmovie folgt der Film Blus Reise und zeigt ihn bei der Arbeit und bei seinen Begegnungen. Das Ziel des Projekts bestand darin, zu erforschen und zu dokumentieren, ob und inwieweit die unterschiedlichen Umfelder und sozialen Bedingungen der bereisten Länder Blus kreative Prozesse beeinflussen und sich über eine veränderte Wahrnehmung in seinen Wandmalereien, Zeichnungen und Animationen niederschlagen. Blu stimmte dem Projekt nur unter der Bedingung zu, dass sein Gesicht kein einziges Mal gezeigt wird. Der 80-minütige Film wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Animationen, Videos und Sketch Note-Book Zur Kunst Blus gehören neben seinem eigentlichen Medium, der Wandmalerei, zahlreiche Videos und das Sketch Note-Book auf seiner Webseite. Mit der digitalen Animation begann Blu spätestens im Jahr 2001. Von den zehn Animationsfilmen, die Blu bis 2013 produzierte, sind einige Kooperationen mit anderen bildenden Künstlern und Musikern. Die Animation COMBO entstand beispielsweise auf dem Fame-Festival 2009 im italienischen Grottaglie in Zusammenarbeit mit dem in New York lebenden David Ellis. Fünf dieser Filme stehen im Zusammenhang mit den Wandmalereien (wall-painted animations). Darüber hinaus dokumentieren vierzehn Making-of-Videos (bis 2013) die Entstehungsprozesse seiner Wandmalereien. Das Animations-Video Muto („Stille“), das Blu während seines Aufenthaltes in Buenos Aires 2007/2008 aufnahm, wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Seit 2000 dokumentiert Blu seine Animationen und Wandmalereien auf seiner Webseite, dem Sketch Note-Book, das er in der Art eines Tagebuchs regelmäßig ergänzt. Hier veröffentlicht er zudem Teile seiner Skizzenbücher in digitalisierter Form und gibt somit Einblicke in verschiedene Prozesse seiner Arbeitsweise. Einige Werke Blus sind als Siebdruck und in einer zusammenfassenden DVD erschienen. In Buchform liegt unter anderem die Bild-Sammlung Blu. 2004–2007 vor, die außer Danksagungen keinen Text enthält. Blus Animationsvideos haben sich im Laufe der Zeit inhaltlich und technisch weiterentwickelt. Seine ersten Animationsvideos entstanden auf Papier, während Wände im Freien den Hintergrund späterer Videos wie Muto und Big Bang Big Boom bilden. Oft integriert er Gegenstände, die er auf der Straße findet, wie in Big Bang Big Boom. Die Entwicklung verdeutlicht Blu dadurch, dass er seine Videos nun "wall-painted animations" nennt. In den "wall-painted animations" greift er die Architektur der Stadt, ihre Umgebung und Landschaften auf und integriert sie in seine Wandmalereien. Seine späteren Animationsvideos haben außerdem oft eine erkennbare Handlung, so ist Big Bang Big Boom Blus Interpretation der Evolution. Blu stellt seine Videos und Animationen unter freien Lizenzen bei YouTube oder Vimeo ein. Die Werke können somit als freie Inhalte kostenlos genutzt und weiterverbreitet werden. Im Gegensatz zu anderen Künstlern der Urban-Art, die den Kunstmarkt mit Prints und Leinwänden inzwischen „gnadenlos fluten“ würden, stellte der Kunstsammler Rik Reinking 2009 im Interview mit Alain Bieber zu Blu fest: Rezeption und Sozialkritik im Werk Blus Insbesondere bezogen auf den Animationsfilm Muto erinnerte das Weserburg Museum für moderne Kunst 2007 Blus Arbeitsweise und die sinnliche Ausdruckskraft seiner Zeichnungen an Werke von William Kentridge und Robin Rhode. Er selbst spreche allerdings von einer Nähe zu Gordon Matta-Clark, dessen interventionistische und dekonstruktivistische Herangehensweise an Architektur und Skulptur er in seiner Arbeitsweise umzusetzen versuche. Der britische Kunst-Autor Tristan Manco attestierte den Wandbildern Blus, gleichfalls 2007, eine gewisse Zufälligkeit: „[…] sometimes with a visual pun or message in mind, but often his images take on a life their own.“ („[…] mitunter mit einem visuellen Wortspiel oder einer Botschaft im Kopf, aber oft entwickeln seine Bilder ein Eigenleben.“) Christoph Zang sah 2013 Blus Werke auf eine „morbide und verstörende Art durchdacht und sozialkritisch aufgeladen“, die zwischen Subversion und Aleatorik schwankend einen großen Interpretations- und Assoziationsspielraum böten, häufig aber subtil/latente und eindeutige gesellschaftskritische Botschaften enthielten. Karin Cruciata sah bereits in der Tatsache, dass Blu seine Bilder um 2005 vornehmlich an zahlreichen, darunter besetzten autonomen Kulturzentren (Centri Sociali Autogestiti) wie am Crash (siehe unten) in Bologna platzierte, eine klare politische Stellungnahme. Das Managua-Bild (Hombre Banano) von 2005 und das Lissabon-Bild von 2010 seien als scharfe künstlerische Kapitalismuskritik zu deuten. Im Jahr 2010 provozierte Blu in Los Angeles mit einer deutlichen antimilitaristischen Aussage einen Kunsteklat. Im Dezember 2010 war er eingeladen, im Vorfeld der Ausstellung Art in the Streets im Museum of Contemporary Art, Los Angeles (MOCA) die Wand eines Museumsgebäudes zu bemalen. Sein Wandbild mit Särgen gefallener US-Soldaten, die mit Dollarscheinen statt mit US-Flaggen drapiert waren, wurde noch vor der Fertigstellung auf Veranlassung des Museumsdirektors Jeffrey Deitch übertüncht. Die angebotene Schaffung eines Ersatzbildes lehnte Blu ab. Aufgrund der Zensur und des Eingriffs in die Kunstfreiheit produzierten Künstlerkollegen Blus Poster, die den Direktor Deitch als Ajatollah mit einem Farbroller in der Hand darstellten. Genauere Einblicke in die teils subtilen, teils eindeutigen gesellschaftskritischen Botschaften des Künstlers gibt die folgende Werkübersicht. Werke nach Ort (Auswahl) Soweit die Wandbilder mit Namen bezeichnet sind, handelt es sich zumeist um Titel, die die Kunstszene den Bildern später beigelegt hat. Um den Interpretationsspielraum nicht vorzugeben und damit von vornherein einzuschränken, tituliert Blu seine Wandbilder in der Regel nicht. Nord-, Mittel- und Westeuropa Deutschland Berlin: Cuvry-Graffiti (2007/2008) Im Sommer 2007 nahm Blu am Planet Prozess teil, einem Ausstellungsprojekt des Berliner Kunstvereins Artitude zur Street-Art. Im Rahmen des Projekts entstand das erste Wandbild der Cuvry-Graffiti, dem 2008 das zweite Bild, ein Gemeinschaftswerk mit dem französischen Street-Art-Künstler JR, folgte. Die beiden großflächigen Fassadenbilder an der sogenannten Cuvrybrache in Berlin-Kreuzberg gehörten zu den bekanntesten Streetart-Werken in Berlin. Weniger aus Protest gegen die vorgesehene Bebauung des Geländes durch einen neuen Investor, als vielmehr als Zeichen gegen die Stadtentwicklungspolitik und den Umgang Berlins mit der Kunst wurden die Bilder im Dezember 2014 im Einvernehmen mit Blu mit schwarzer Farbe übermalt. Ein Bild thematisierte die deutsche Teilung – die Berliner Mauer verlief wenige Meter entfernt am Spreeufer. Es zeigte zwei maskierte Figuren, eine auf dem Kopf stehend. Beide streckten die Hände aus und rissen sich gegenseitig die Masken von den Köpfen. Mit den Fingern der freien Hände formten die Figuren ein W und ein E – die US-Zeichen für Eastside und Westside, für Ost und West. Das zweite Bild stellte den kopflosen Oberkörper eines Mannes dar, der an den Handgelenken je eine goldene Uhr trug. Die Uhren waren als Handschellen gestaltet und mit einer goldenen Kette verbunden. Mit den gebundenen Händen richtete der Mann seine Krawatte. Berlin: Leviathan, auch: Pink Man, Backjump Mural (2007) Parallel zum Ausstellungsprojekt Planet Prozess war Blu auf dem dritten Berliner Backjumps Festival (Juni bis August 2007) vertreten. Im Rahmen des Kunstprojektes malte der französische Streetart-Künstler Victor Ash das Wandbild Astronaut Cosmonaut, das als Meisterwerk der Graffiti-Kunst gilt. Blus Beitrag zu dem Festival befindet sich am Südwestende der Oberbaumbrücke am Ende der Falckensteinstraße am Club Magnet (von 2006 bis 2008 Club 103). Das großflächige Wandbild wird zumeist in Allegorie zur mythologischen Leviathan-Figur als Leviathan, gelegentlich auch als Pink Man oder nach dem Festival einfach als Blus Backjump Mural bezeichnet. Das Bild zeigt auf graufarbenem Fassadengrund den Oberkörper eines Riesen, der – wie sich erst aus der Nähe offenbart – aus Hunderten kleiner, nackter und pinkfarbener, einander umklammernden Menschen zusammengesetzt ist. Mit weißfarbenen Augen und weit geöffnetem Mund betrachtet der Riese ein kleines Menschlein, das auf einem Finger seiner Hand sitzt, und, neben den Augen, als einziges Bild-Element im Kontrast zur amorphen pinkfarbenen Menschenmasse in weißer Farbe dargestellt ist. Der Riese droht das weiße Menschlein zu verschlingen und den ihn formenden pinkfarbenen Figuren zuzufügen. Berlin: Global Warming/Stundenglas (2010) Im Jahr 2010 gewann der Berliner Kunstverein Artitude Blu für die fünfte Ausgabe des Kunstprojekts Super Reactive Subjects, für das Blu zwei Wandbilder anfertigte. Ein Werk zum Thema Globale Erwärmung mit dem Titel Global Warming entstand wie der Leviathan in der Falckensteinstraße 47. Blu nutzte eine fensterlose Zwischenfassade des mehrstöckigen Wohnsilos als Leinwand für ein Stundenglas. Der obere Glaskolben war zur Hälfte mit Wasser gefüllt, in dem sich ein Eisberg auflöste. Das Wasser tropfte auf eine Stadt im unteren Kolben, die bereits zum Teil im Wasser versunken war. Das Wandbild wurde später von dem Kreativpool Innerfields zugunsten der Ankündigung eines Hollywood-Films übermalt. Auf dem zweiten Bild ließ Blu die Berliner Mauer in der Köpenicker Straße in Form von 100-Euro-Scheinen wieder auferstehen. Köln: Medusa (2011) Im Sommer 2011 schuf Blu anlässlich des Kölner CityLeaks Festivals das Wandbild Medusa. Es befindet sich in der Neustadt-Nord am denkmalgeschützten Haus Hansaring 33/Ecke Am Kümpchenshof. Vom Giebel erstreckt sich ein Arm nach unten und hält in der Hand das Haupt der zähnefletschenden Medusa. Das Schlangenhaar der Medusa verfremdet Blu in Schläuche, an deren Enden zumeist Zapfpistolen hängen. Die Zapfpistolen tragen die Embleme der bekanntesten Mineralölkonzerne, darunter Shell und BP. Aus einigen offenen Schlauchenden sickern letzte Benzintropfen. Hatte in der griechischen Mythologie der Heros Perseus die Medusa enthauptet, erfolgt hier sinnbildlich die „Enthauptung“ des gegenwärtigen Kraftstoff-Oligopols durch einen modernen Helden. Das Wandbild wurde 2013 durch den Neubau eines Hotels (Motel One) auf der davorliegenden Brachfläche vollständig verdeckt beziehungsweise zugemauert. Wuppertal: Outsides-Projekt, corporate streetart attack (2006) Im August 2006 trafen sich in der Wuppertaler Villa Herberts im Rahmen des von Red Bull gesponserten Outsides-Projekts rund zwanzig Streetart-Künstler aus aller Welt, darunter Blu, JR und Os Gêmeos & Nina. Das Streetart-Projekt hatte zum Ziel, Kunstwerke im Stadtgebiet zu platzieren und einer erstaunten Wuppertaler Bevölkerung zu präsentieren. Zu der rund einwöchigen „corporate streetart attack“ brachte Blu sechstausend textlose Broschüren mit seinen Zeichnungen mit, die er in Kartons an Haltestellen und Straßenecken zum Mitnehmen abstellte. Zudem versah er fünf Fassaden mit Wandbildern, von denen vier die gespaltene Persönlichkeit Gollums/Sméagols, einer der Hauptpersonen in Tolkiens Roman Der Herr der Ringe, thematisierten. Die Werke der Künstler wurden zum Teil als makaber und morbide charakterisiert und führten in Wuppertal zu hitzigen Diskussionen, was Kunst ist und wie weit sie in den öffentlichen Raum eindringen darf. England, London (2007, 2008) Im Jahr 2007 besuchte Blu erstmals London. In Camden Town, dem zentralen Teil des Stadtbezirks Camden, und im Bereich der Willow Street in Shoreditch hinterließ er verschiedene Graffiti beziehungsweise kleinere Bild-Arbeiten. An der ehemaligen Zentrale der Web-Kunstgalerie Pictures on Walls brachte er ein Wandbild an. Im Sommer 2007 war er mit Ericailcane auf der Ausstellung Super Fluo der Lazarides Gallery vertreten. Die Ausstellung in Soho war ausschließlich den beiden italienischen Künstlern gewidmet und präsentierte Zeichnungen aus ihrem Werk. Im Jahr 2008 folgte Blu gemeinsam mit JR, Os Gêmeos, Nunca (wie Os Gêmeos aus Sao Paulo), Sixeart (Barcelona) und dem New Yorker Künstlerkollektiv Faile einer Einladung des Tate Modern, anlässlich der ersten größeren Street-Art-Ausstellung in einem öffentlichen Londoner Museum die Haupt-Eingangsfassade des Museums zu bemalen. Den Künstlern wurden auf der Flussfassade zur Themse Flächen von 15 × 12 Metern zur Verfügung gestellt. Die Ausstellung war vom Nissan Qashqai gesponsert und fand vom 23. Mai bis zum 25. August 2008 statt. Blus Beitrag zeigte einen begehbaren Kopf. Die sichtbare Gesichtsfläche mit einem Auge, dem Nasenrand und einem Teil des Mundes sowie die Umrahmung des gesamten Kopfes und der Schulter war großflächig in weißer Farbe mit schwarzen Rändern ausgeführt. In den begehbaren, geöffneten Kopfteil waren zwölf Stockwerke eines Hauses mit rund vierzig einzelnen Räumen eingelassen, in denen kleinteilig verschiedene Szenarien eines Wohnhauses und/oder Bürohauses dargestellt waren. Beispielsweise lauschte eine Schulklasse ihrem Lehrer, in einem Konferenzraum wurde diskutiert, in einem Badezimmer wurde Wasser eingelassen. Diese Bilder waren in Orange gehalten und hoben sich stark vom weißen Gesichtsrahmen ab. Norwegen, Stavanger: Nuart/Ölkatastrophe (2010) In Stavanger, Sitz des Norwegischen Ölmuseums und zahlreicher internationaler Ölfirmen, nahmen sich Blu und Ericailcane der BP-Ölkatastrophe aus dem Frühjahr 2010 und der bedrohten Tierwelt an. Anlässlich des NuArt Festivals 2010 stellten sie auf dem Speicherturm einer alten Fabrik im unteren Bereich rundum das blaue Meer dar, in dem ölverschmierte Fische und Vögel nach Luft schnappen und anklagend zu Blus Figur hochschauen. Die skelettierte, aus gelben Pipeline-Stücken zusammengesetzte Figur hält einen aus einem Fass geformten und mit Öl gefüllten Trinkbecher in der Hand. Auf der gegenüberliegenden Fassadenseite lässt Ericailcane ein rotes Ölfass im Wasser schwimmen, auf dem ein grau-weißer Seehund ein kleineres, gelbes Ölfass auf der Nasenspitze balanciert. Österreich, Wien: Getreidespeicher (2010) Nach dem „Anschluss Österreichs“ an das Deutsche Reich im Jahr 1938 errichteten NS-Zwangsarbeiter zwischen 1939 und 1942 im Wiener Gemeindebezirk Simmering das Becken des Alberner Hafens und fünf Getreidespeicher. Als logistischer Knotenpunkt einer zukünftigen geo- und biopolitischen Ordnung, sollte über den neuen Donauhafen Getreide aus den annektierten Gebieten Ost- und Südosteuropas in die Kerngebiete des Reichs transportiert werden. Die weithin sichtbaren Landmarken gelten als monumentale, zeithistorische Dokumente der NS-Herrschaft und Bautätigkeit im Raum Wien. Blu griff den historischen Hintergrund auf und bemalte im September 2010 eine der Speicherfassaden im Rahmen des Black River Festivals nahezu über die gesamte Speicherhöhe in schwarz-weiß-gelb. Die Auftragsarbeit zeigte den Kopf und die Schulter eines Mannes, aus dessen Augenhöhlen zwei Bänder traten, an denen ein Schloss hing. Das Schloss verdeckte die gesamte Mundpartie und war im Kontrast zum weißfarbenen Gesicht in leuchtend gelber Farbe ausgeführt. In einer Hand hielt die Figur einen gleichfalls gelben Schlüssel. Ob sich dieser dem Vorhängeschloss näherte oder sich von ihm entfernte blieb unentschieden. Das gedächtnispolitische Werk wurde im Zuge einer Fassadenrenovierung im Herbst 2013 zerstört. Polen Breslau: Statue der Versklavung, Der Geizhals (2008) In Breslau beteiligte sich Blu im Jahr 2008 mit zwei Wandbildern an der Ausstellung Breakin’ the Wall im Rahmen des Urban-Art-Projekts Out of Sth. Die polnische Kunsthistorikerin Monika Kędziora bezeichnete die Werke als Statua zniewolenia („Statue der Versklavung“) und Skąpiec („Der Geizhals“). Die Statue der Versklavung auf der Oderinsel Wyspa Słodowa zeigt eine Figur mit einem Kleid aus Vorhängeschlössern. Auf dem Haupt trägt sie eine Mischung aus Zacken- und Dornenkrone. Als Ausdruck ihrer völligen Unterwerfung ist die Figur dabei, den Schlüssel, der sie von ihrem Kleid und Leid befreien könnte, zu verschlucken. Der Geizhals befindet sich auf der Seitenfassade eines Wohnblocks in der Ulica Wojciecha Cybulskiego 15 im Stadtzentrum Breslaus. Die Figur ragt querliegend mit Kopf und Armen in die Fassade hinein, zwei kleine Fenster nutzte Blu zur Darstellung der Augen. Über dem Kopf hält sie einen Beutel, aus dem grüne 100-Euro-Scheine auf die Straße regnen. Danzig: Morphing (2009) Im Mai 2009 folgte Blu einer Einladung zum internationalen Graffiti-Festival Grafffest in Danzig. Auf der Wand eines verlassenen Lagerhauses im Danziger Industriehafen schuf er den Animationsfilm Morphing, der die Geschichte des Ortes mit ihren Symbolen seit den 1930er Jahren in wechselnden Sequenzen nachzeichnet. Die Animation spannt einen Bogen von der nationalsozialistischen Zeit über die Zugehörigkeit zum Ostblock und die Gewerkschaft Solidarność, die auf der Leninwerft Danzig im Streiksommer des Jahres 1980 gegründet wurde, und über die Umwandlung der Danziger Werft in eine Aktiengesellschaft zu Beginn der 1990er Jahre bis hin zum Beitritt Polens zur NATO 1999 und zur Europäischen Union 2004. Diese Epochen stellte Blu dar, indem er auf eine Wand das nationalsozialistische Hakenkreuz, Hammer und Sichel, das „S“ aus dem Solidarność-Schriftzug, das €- und das $-Zeichen (mit zwei vertikalen Strichen) auftrug und die Zeichen in der Animation mehrfach ineinanderfließen ließ. Krakau: Never follow, auch: Ding Dong Dumb (2011) Mit einem kirchenkritischen Bild provozierte Blu im strengkatholischen Krakau eine Kontroverse. Das Wandbild an der Ecke Ulica Józefińska 3/Ulica Piwna, die zum jüdischen Ghetto Krakau im Stadtteil Podgórze gehörte, zeigt eine Glocke in den katholischen Kirchenfarben gelb/weiß, verziert mit dem Wappen des Vatikans beziehungsweise Heiligen Stuhls. Eine gewaltige Hand richtet die Glocke wie ein Megafon auf eine in weißer Farbe dargestellte Menschenmenge. Die Menschen sehen mit aufgerissenen Mündern und angespannten Mienen zu dem Trichter und dem Klöppel auf, ein Mensch im Vordergrund trägt auf dem Rücken die Inschrift „Never Follow“. Das als Never Follow oder Ding Dong Dumb bezeichnete Bild schuf Blu im Mai 2011 auf dem Krakauer ArtBoom Festival. Warschau: War Mural (2010) Auf der Reise zum Nuart-Festival im norwegischen Stavanger machte Blu im Jahr 2010 Station in Warschau. In der Aleja Jana Pawła II, Nr. 14, im Zentrum der Stadt bemalte er die Straßenfront eines sechsstöckigen verlassenen Wohnhauses mit der sogenannten War Mural. Über die gesamte Wand verteilte er kämpfende Soldaten in grün-braunen Tarnuniformen mit Stahlhelmen und Gewehren, teils im Anschlag. Auf den Ärmeln tragen die Soldaten Aufnäher mit zwei $-Zeichen, auf den Helmen ein verfremdetes Emblem, zusammengesetzt aus € und Hammer und Sichel. Tschechien, Prag: Gaza Strip, auch: Möbius Strip (2008) Ein Jahr nach seinem Wachturmbild in Bethlehem thematisierte Blu den israelisch-palästinensischen Konflikt erneut. In der Nähe des Prager Nationaltheaters, in der Národní třída 13 in der Prager Neustadt, bemalte er 2008 eine Hauswand mit dem Gaza Strip, der den endlos erscheinenden Prozess von Zerstörung und Wiederaufbau im Gazastreifen symbolisiert. Das Bild zeigt Panzer und Bulldozer in wechselnder Folge in der Möbiusschleife. Das endlose Band, benannt nach dem Leipziger Mathematiker und Astronomen August Ferdinand Möbius, gab dem Werk den Zweitnamen Möbius Strip. Das Bild entstand im August/September 2008 im Rahmen des Prager Names-Festes (Names-Festu), zu dem rund fünfzig internationale Streetartkünstler eingeladen waren. Siebdrucke des Gaza Strips, die Blu in einer signierten und nummerierten Auflage von 100 Stück herstellen ließ, werden im Kunsthandel für 225,- £ pro Stück angeboten (Stand: März 2015). Süd- und Südosteuropa Italien Übersicht Von seinen frühen, noch illegalen Graffiti bis zu jüngeren Auftragsarbeiten finden sich in Blus Heimatland die meisten seiner Werke. Dazu zählen vornehmlich Arbeiten in seinem Wohnort Bologna, ferner unter anderem in Ancona, Comacchio, Campobasso, Florenz, Grosseto, Grottaglie, Imola, Mailand, Messina auf Sizilien, Modena, Turin, Rom, Rovereto, Sassari auf Sardinien, Verona, Pesaro, Pisa und Prato. In Comacchio nahm Blu in den Jahren 2005, 2006 und 2007 am Spinafestival (Kunst-, Theater- und Musikfestival) und 2008 sowie 2009 in Grottaglie am „Fame Festival“ (Streetart-Festival) teil. Mehrfach war er auf dem Streetart-Festival Icone in Modena vertreten. Auf dem Festival Pop Up 2008 in Ancona bemalte er gemeinsam mit Ericailcane im Hafen einen riesigen Silo mit einer Flasche, in der ein Mann im Taucheranzug und mit Taucherhelm kniet, der seine Hände, zu Krebsscheren verfremdet, zum Gebet zusammenhält. In Mailand bemalte er 2008 in der Via Palestro 14 die Fassade des Kunstmuseums Padiglione d'Arte Contemporanea (PAC). Gleichfalls in Mailand folgten 2008 und 2009 Wandbilder an dem Bahnhof Bicocca und dem Altgebäude des Bahnhofs Milano Lambrate. Zahlreiche Bilder hinterließ Blu an den Centri Sociali Autogestiti (o C.S.A.). Die selbstverwalteten Kulturzentren, die als Wiege des italienischen Hip-Hop gelten, entsprechen in etwa den Autonomen Zentren in Deutschland. Blus Arbeiten finden sich in Bologna am XM24, TPO, Livello 57 und Crash, in Rom am Forte Prenestino (C.S.O.A. = C.S.A. Occupato) und Collatino, in Pisa am Cantiere San Bernardo und in Mailand am Leoncavallo und am Cox 18. Am Cox 18 verschönerte Blu 2009 beispielsweise eine langgestreckte Mauer und die Eingangsfront des C.S.A. mit einer behelmten Menschenmenge, deren Helme kreuzweise verbunden sind. Bologna: Crash (2005) Als eines der bekanntesten und für seine Arbeit beispielhaftesten Werke gilt in Italien Blus Gemeinschaftsarbeit mit Ericailcane aus dem Jahr 2005 am Crash in der Bologneser Via Avesella. Das Crash, in der damaligen Autonomen Zone Bolognas (Bologna Autonomous Zone, kurz BAZ) gelegen, gehörte mit einer rigiden Kapitalismus- und Konsumkritik zu den radikalsten Centri Sociali Autogestiti. Zwei Fassaden des zu dieser Zeit besetzten, ersten Crash-Sitzes versahen die Künstler mit Figuren, die nach Auffassung von Karin Cruciata ihre Verbundenheit mit den Zielen der Hausbesetzer ausdrücken, das gemeinschaftliche Recht am öffentlichen Raum im Sinne der Bewegung Reclaim the Streets durchzusetzen und die kapitalistische Globalisierung zu bekämpfen. Bereits die Technik der Campitura (Gemälde mit nur einer Farbe), die Figuren in heller weißer Farbe auf die schmutzige, bröckelnde Gebäudefassade aufzubringen, verweise auf einen elenden Zustand des zerfallenden öffentlichen Raums. Die nach wie vor vorhandenen (Stand 2014), beängstigenden und verstörenden Figuren seien auch über die Räumung des Kulturzentrums im August 2007 durch Carabinieri und Polizei hinaus geeignet, in ironischer Art und Weise Debatten über die Versäumnisse der Gesellschaft anzustoßen. Messina: Teatro Pinelli Occupato (Casa del Portuale) (2013) In der sizilianischen Hafenstadt Messina schuf Blu im Jahr 2013 ein Wandbild, das sich über die gesamte, langgestreckte Mauer eines ehemaligen Gebäudes der Hafenbehörde, der Casa del Portuale, erstreckt. Zur Zeit der Entstehung des Werks war das Haus von den Künstlern des Teatro Pinelli besetzt (im Januar 2014 geräumt). Das in blauen Farbtönen gehaltene Mural greift die Geschichte der Stadt in zahlreichen, verfremdenden Details auf. Es zeigt beispielsweise: surreale Schiffe, auf denen sich ganze Städte befinden; Schwertfische, die versunkene Gegenstände, darunter ein Kirchenkreuz und mehrere Autos, aufspießen; versinkende Menschen im Todeskampf. Da das Geschenk des international renommierten Künstlers Blu zur Verschönerung der Stadt beitrage und ein signifikantes Beispiel für eine gelungene Stadterneuerung darstelle, setzte sich der Stadtrat für Kultur und Identität (L'assessore alla cultura e alle identità) für die öffentliche Anerkennung und Förderung des alten Gebäudes als Kulturgut ein. Im Dezember 2014 wurde Blus Werk durch Übermalungen vandaliert und teilweise zerstört. Rom: Via del Porto Fluviale, ex caserma dell'Aeronautica militare occupata (2014) In den Jahren 2013 und 2014 wohnte Blu die meiste Zeit im Magazin einer ehemaligen Kaserne der italienischen Luftwaffe in der Via del Porto Fluviale in Rom (ex caserma dell'Aeronautica militare occupata). Das 1910 erbaute Gebäude ist seit 2003 von rund 450 Aktivisten des Coordinamento cittadino lotta per la casa besetzt. In rund zweijähriger Arbeit bemalte Blu die Fassaden des riesigen Gebäudes mit seinem bislang größten Wandbild. Das komplexe Mural zeigt eine Reihe von gewaltigen Gesichtern, die in zwei oder drei Ebenen übereinandergelagert und zum Teil ineinander verschachtelt sind. Die Bogenfenster und rechteckigen Fenster nutzte Blu zur Darstellung der Augen. Anders als bei den meisten seiner bisherigen Wandbilder setzte er nahezu die gesamte Farbpalette ein. Konturierte Linien und der Farbverlauf erzeugen die Illusion einer reichen Textur und Tiefe, die an den Trompe-l’œil-Stil angelehnt ist. Das Projekt wurde ohne behördliche Genehmigung durchgeführt und von den Bewohnern des Hauses ohne institutionelle Unterstützung eigenfinanziert. Portugal, Lissabon: Projecto Crono (2010) Die Gemeinschaftsarbeit Blus mit den brasilianischen Brüdern Os Gêmeos – vom Guardian unter die zehn besten Streetart-Werke weltweit gewählt – entstand 2010 im Rahmen des Crono Projects. An dem Lissaboner Projekt zur kreativen Aneignung des öffentlichen Raums beteiligten sich einheimische und internationale Künstler, die nach den Jahreszeiten in vier Aktionsgruppen eingeteilt waren. Das Werk von Blu und Os Gêmeos befindet sich an einem unbewohnten, ehemals repräsentativen Eckgebäude in der Avenida Fontes Pereira de Melo im Zentrum der Stadt, nahe dem U-Bahnhof Picoas. Das Werk besteht aus zwei Wandbildern, die die beiden straßenseitigen Eckfassaden des Gebäudes einnehmen und sich im gerundeten Fassadeneck ergänzen. Blus Bild zeigt in schwarz-weißen Grundfarben einen Geschäftsmann im Anzug und mit roter Krawatte. Die Figur trägt eine gelbe Krone, deren hintere Zacken von drei Dachgauben gebildet werden. Als Band sind in die Krone die Embleme internationaler Mineralölkonzerne wie Esso, Shell oder BP eingearbeitet. In der Hand des ausgestreckten Arms hält der Mann den Erdball, den er mit einem Strohhalm aussaugt. Die Hand, die die Erde hält, geht in das gerundete Fassadeneck über. Als Kontrapunkt setzten Os Gêmeos über die weißfarbene Hand Blus im Eckrund eine gelbfarbene Hand in gleicher Größe, die einen kleinen Geschäftsmann in gekreuzigter Haltung wie eine Puppe umklammert. Diese Hand gehört zu einem gelbhäutigen jungen Stadtguerillero, der auf der angrenzenden Fassade in grüner Jacke ausgeführt und mit einem rotgemusterten Halstuch maskiert ist. In der Hand hält der Krieger ein Wurfgeschoss und zielt mit der Art eines Bandrings (indonesische Schleuder) auf den Puppenmann. Die Riemen der Schleuder verlaufen als Seile zu den hochgestreckten Händen des Puppenmanns, sodass der Mann ähnlich der Marionette eines Puppenspielers an Fäden aufgehängt erscheint. Serbien, Belgrad: Summer Festival (BELEF) (2009) Im Stadtbezirk Stari Grad, dem historischen Kern Belgrads, schuf Blu 2009 in der Pop Lukina Nr. 6 anlässlich des Belgrade Summer Festivals (BELEF – Beogradski letnji festival) ein Sinnbild für den alles verschlingenden Moloch Stadt. Für das Wandbild nutzte Blu zwei fensterlose, vorspringende Seitenfassaden eines Wohnhauses. Die größere Fassade bemalte er in tristem weiß-schwarz mit einem Mann im angedeuteten Anzug. Der Kopf ist nur rund zur Hälfte ausgeführt und besteht vor allem aus einem riesigen, weit aufgerissenen Mund, dessen Zähne aus mehrstöckigen Wohnhäusern geformt sind. Hinter dem Halbrund der (Zahn)-Stadt bildet die Zunge eine karge, baumlose Landschaft. Aus der benachbarten Wand schiebt die Hand der verschlingenden Stadt den letzten Baum entgegen, der kontrastreich mit ausgeprägter Krone in leuchtend gelber Farbe dargestellt ist. Spanien Barcelona: The Influencers, Geldhai (2009); Saragossa: Minotaurus (2006) Im Februar 2009 nahm Blu in Barcelona an dem Festival The Influencers teil, das seit 2004 Culture Jamming, neue Kunst-Strömungen und Kommunikationstechnologien vereint. Auf dem Festival stellte er seine Arbeiten in mehreren Animationsfilmen vor. Im Viertel El Carmel des Stadtbezirks Horta-Guinardó bemalte er eine straßenbegrenzende Mauer (cruce de caminos del barrio de El Carmel) mit einem Haifisch, dessen Schuppen aus grünen 100-Euro-Scheinen bestehen – eine bildhafte Umsetzung des Begriffs „Geldhai“ (englisch: „money shark“). Die Arbeit an dem Wandbild wurde als Making-of-Video aufgenommen, in dem Passanten den Entstehungsprozess mit Kommentaren begleiten. In Saragossa kritisierte Blu im Jahr 2006 den Stierkampf, indem er eine Hausfassade mit einem riesigen, knienden Minotaurus versah, einer Figur der griechischen Mythologie mit menschlichem Körper und Stierkopf. In der Hand des Minotaurus zappelt ein Torero, der einen Stier mit einer Lanze oder Espada getötet hat. Der Stier liegt am unteren Bildrand und ist in rot-brauner Farbe dargestellt, während das Bild ansonsten in schwarz-weiß ausgeführt ist. Das Werk entstand anlässlich des zweiten Urbanart-Festivals Asalto (Segundo Asalto, 2006), auf dem Blu noch zwei kleinere Wandbilder und ein Gemeinschaftswerk mit dem spanischen Streetartisten San anfertigte. Madrid: drei Wandbilder (2010/2012) Bei Aufenthalten in Madrid in den Jahren 2010 und 2012 hinterließ Blu drei größere Arbeiten. Ein Wandbild im Stadtviertel Madrid Rio zeigt sechs Männer, die mit ausdruckslosen Gesichtern im Kreis hintereinander herlaufen und sich die Geldbörsen aus den Gesäßtaschen ziehen. Da sie im Kreis laufen, bleibt das gestohlene Geld in ihrem Zirkel. Das Werk an einem Wohnblock in der Calle Eugenio Caxes, 1, wird als Kritik Blus an einem korrupten Finanzsystem interpretiert. Es entstand 2010 im Rahmen von Medianeras de Madrid, dem ersten Projekt vom Oficina de Gestión de Muros (Walls Management Office, WMO). Das Büro bemüht sich seit 2010, in Verhandlungen mit Behörden und Hauseigentümern leere und legal bemalbare Wandflächen für die Urbanart zu gewinnen und namhafte Künstler zu ihrer Gestaltung nach Madrid zu holen. Das zweite Werk, gleichfalls aus dem Jahr 2010, befindet sich in der Calle del Doctor Fourquet, 24, im Viertel Lavapiés auf einer Fassade des Ésta es una plaza („Das ist ein Platz“), einem seit 2008 selbstverwalteten Raum für gelebte Nachbarschaft. Das für Blus Schaffen ungewöhnlich farbige Wandbild zeigt in einem blau umrahmten Wappen einen grün bekronten Baum mit roten Früchten, an den sich ein schwarzer Bär lehnt, der zu den Früchten aufschaut. Von der anderen Seite schickt sich ein Mann an, den Baum mit einer Motorsäge zu fällen. Das dritte Bild aus dem Jahr 2012 malte Blu auf eine Innenwand des El Campo de Cebada, einem selbstverwalteten Aktionsraum an der Plaza Cebada im Stadtzentrum in den Resten des abgerissenen, ehemaligen Sportzentrums von La Latina. Blu stellte auf einer langgezogenen Wand einen Güterzug dar, der auf einen Abgrund zufährt, an dem die Schienen jäh enden. Die Güterwagen bestehen aus Autos, Panzern und Loren, die mit riesigen Mengen Zivilisationsmüll wie Fernsehern, Waschmaschinen, Möbeln und Getränkedosen beladen sind. Der Schlepptender ist restlos mit Geldscheinen gefüllt und derart überladen, dass einige Scheine im Fahrtwind davonfliegen. Die Dampflokomotive ist als Kraftwerk mit Schornsteinen, Dach und Fenstern dargestellt, die Feuertür erstreckt sich über mehrere Stockwerke. Der Heizer trägt eine Krawatte und schaufelt vom Tender die Geldscheine auf den Rost. Farbtupfer setzen in dem ansonsten in schwarz-weiß gehaltenen Werk lediglich der glühend rote Rost und die Geldscheine in grüner Farbe. Linares (2008), Valencia (2011), Ordes (2012) Für das Certamen de Graffiti de Andalucía malte Blu 2008 in Linares über eine Eckfassade einen halben Kopf, der mit der Nase am unteren Hausrand endet. Der Kopf setzt sich aus zahlreichen kleinen Köpfen zusammen, die jeweils zu dritt verbunden sind. Sehr wahrscheinlich gleichfalls aus Linares 2008 stammt ein Wandbild auf einem Speichergebäude, das ein aufplatzendes Ei zeigt, aus dem Menschen mit Schlangenköpfen fallen. Das Ei, ansonsten in schwarz-weißer Farbe gehalten, ist mit einem kleinen schwarz-gelben, leicht verfremdeten Strahlenwarnzeichen (in der alten Ausführung mit drei gleichseitigen Dreiecken) versehen. Zum Arquitecturas colectivas festival steuerte Blu 2011 in Valencia am partizipativen Stadtraumprojekt El Solar Corona ein Wandbild mit einem liegenden Kopf bei, der die Eckfassade des Hauses – als Säule mit Fenstern dargestellt – verschlingt. An Valencias Plaza del Tossal hinterließ er ein Gesicht mit einem üppigen Vollbart, der aus gelben Schlangen besteht. In den Händen hält der Bartträger zwei Grabsteine mit eingemeißelten Euro- und Dollarzeichen. Im Jahr 2012 nahmen Blu und Ericailcane am Urbanart-Festival DesOrdes Creativas in Ordes (Órdenes) in der galicischen Comarca Ordes teil. Die Seitenfassade eines Wohnhauses bemalte Blu mit einem rund zur Hälfte gefüllten Standmixer, um den sich Hunderte vermenschlichte Früchte-, Gemüse- und Pilzfiguren mit gut gelaunten Mienen sammeln. Die knallbunten Figuren besteigen freudig eine Leiter, um sich von oben in den roten Saft zu stürzen. Das Webmagazine Street Art News verstand das Werk als Plädoyer Blus – der selbst Vegetarier ist – für den Vegetarismus. Melilla: Festung EU (2012) In der spanischen Exklave Melilla, gelegen an der nordafrikanischen Küste an der Grenze zu Marokko und mit bis zu sechs Meter hohen Grenzanlagen abgeschottet, stellte Blu 2012 die EU als Festung gegen die Flüchtlingsströme dar, indem er die Europaflagge verfremdete. Im originalgetreuen azurblau warf er die Flagge auf die Wand eines Lagerhauses. Die zwölf gelben Sterne bildete er, gleichfalls in gelber Farbe, als die Spitzen/Stacheln eines Stacheldrahts ab. Der Stacheldraht verbindet die Stacheln/Sterne zum geschlossenen Kreis. Während der EU-Kreis leer bleibt, drängen von außen rundum Menschenmassen gegen den befestigten Raum. Zu diesem Werk gab Blu ein Statement ab: Naher Osten, Westjordanland, Bethlehem (2007) Im Dezember 2007 nahm Blu an der Ausstellung Santa’s Ghetto Bethlehem 2007 teil. Santa’s Ghetto ist ein Pop-up-Shop-Format, das 2002 von Banksy und weiteren Urbanart-Künstlern als Verkaufsformat entwickelt wurde. Die jährlichen Ausstellungen an geheimen Orten zielen mit ihrem Überraschungseffekt in Form eines Guerilla-Marketing auf das Markenbranding. In Bethlehem waren neben Blu und Banksy internationale Künstler wie Ericailcane, Mark Jenkins, Sam3, Ron English, Swoon und das Kollektiv Faile beteiligt. Die Künstler wollten einen Teil der Israelischen Sperranlage zu den Palästinensischen Autonomiegebieten in das größte und kurzlebigste Kunstwerk der Welt verwandeln. Banksy steuerte in schusssicherer Weste eine Friedenstaube und eine Ratte, die eine Steinschleuder auf die Mauer richtet, bei. Nach der Aktion bot ein amerikanischer Sammler für ein Bethlehemer Mauerstück mit einem Werk von Banksy 150.000 Dollar. Blu bemalte die 25 Kilometer lange und bis zu acht Meter hohe Betonmauer bei Bethlehem mit einem weiten Feld von Baumstümpfen, in dem ein Weihnachtsbaum steht, der von einer Mauer eingekreist ist. Ein weiteres Bild Blus zeigte einen Weihnachtsmann, der mit einem Bagger Mauerstücke beseitigt. Ferner malte er einen kriechenden Riesen, der Dollarnoten in eine Gruppe Soldaten bläst. An einem Wachturm hinterließ er eine Figur, die naiv versucht, den Turm einzureißen, indem sie mit einem Finger in den Beton drückt – nicht ganz ohne Erfolg, denn im Beton zeigen sich erste Risse. Banksy und Blu stellten ein 24,5 cm hohes Modell des Wachturms her, auf das Blu seine Figur aufmalte. Die Skulptur aus Olivenholz wurde von beiden Künstlern signiert und 2011 bei Bonhams für 12.500 £ versteigert. Amerika Übersicht und Reisen 2006, 2009 Seit Herbst 2005 hielt sich Blu mehrfach, teils für mehrere Monate, in Amerika auf. Insbesondere in Zentral- und Südamerika war er auf verschiedene Kunst-Festivals eingeladen. Buenos Aires besuchte er mehrfach, darunter auf der MEGUNICA-Filmreise. Zu den rund 20 Wandbildern, die Blu Ende 2006 auf dieser Reise in Mexiko, Guatemala, Nicaragua, Costa Rica und Argentinien schuf und in denen er unter anderem die Mythologie der Maya aufgriff, siehe Eine weitere längere Reise im Jahr 2009 führte Blu nach Kolumbien, Uruguay, Peru und wiederum nach Buenos Aires. In Bogotá präsentierte ihn das Urbanart-Festival Memoria Canalla mit dem Plakat Blu en Bogotá, das ihn bei der Arbeit in der kolumbianischen Hauptstadt zeigt. Im fertigen Wandbild hält der Arm eines Geschäftsmanns eine Kreditkarte in der Hand, mit der er ein Meer aus menschlichen Schädeln zu einer Linie Kokain zermahlt. In Lima bemalte er die riesige Fassade eines alten Palastes in der zentralen Avenida Arenales mit einem Wandbild, das die Geschichte Südamerikas als gewaltsame Inbesitznahme historischer wie moderner Konquistadoren interpretiert. Den Hintergrund stellte Blu als Friedhof aus Unmengen von Knochen und Totenschädeln dar – unterbrochen von Nischen, in die Blu die Eroberer, gekrönt von Totenköpfen, setzte. Der moderne Konquistador trägt Bündel von Geldscheinen in der Hand. Darüber hinaus hinterließ er in Amerika Werke in folgenden Ländern: Argentinien, Buenos Aires: Muto und weitere Werke (2006 bis 2011) Vom Herbst 2007 bis zum Frühjahr 2008 lebte Blu erneut in der argentinischen Hauptstadt und verwendete nahezu die gesamte Zeit zur Produktion des Animations-Videos Muto („Stille“). Für die Animation bemalte er zahlreiche Wände in Buenos Aires. Die einzelnen Bilder verband er mithilfe der Slow-Motion-Technik zu verspielten Sequenzen, in denen die Zeichnungen/Figuren über Wände, durch Türen und auf Gehwegen kriechen und die Straßenkunst als stets wandelbar, manipulierbar und in ihrer Vergänglichkeit kontextualisieren. Die siebenminütige und musikunterlegte Animation verbreitete sich rasant im Internet und verzeichnete mit Stand März 2015 über elf Millionen Aufrufe auf YouTube. Muto wurde mehrfach ausgezeichnet, darunter 2009 mit dem Grand Prix in der Kategorie Lab Competition auf dem Kurzfilmfestival Clermont-Ferrand und gleichfalls 2009 mit dem Grand Prix auf dem Trickfilmfestival Stuttgart sowie 2011 in Stuttgart mit dem Online-Publikumspreis. Im Jahr 2011 bemalte Blu in Buenos Aires zwei Hauswände mit hunderten Figuren in weißer Farbe, deren Augen und Münder mit einem endlosen Band in den Farben der argentinischen Flagge verdeckt und verbunden sind. Auf Facebook provozierte das Werk mehr als 150 kontroverse Reaktionen. Das Werk wurde teils als Kritik Blus an der Anhängerschaft Kirchners gedeutet, die die Präsidentin 2011 blind im Amt bestätigt hätte. Blu selbst sagte allerdings, jeder könne die Farben der Flagge nach Belieben ändern, je nach dem, wo er wohne. Im Januar 2012 wurde das Bild im unteren Bereich mit der Aufschrift „Y ?“ (= „Und?“) vandaliert. Dieses Graffito wurde wiederum im Jahr 2013 von den Künstlern Astrid und Nacho mit einer Nixe, auf der ein Frosch sitzt, übermalt. Weitere Werke Blus aus dem Jahr 2011 zeigen einen Grill, auf dessen Rost sechs Menschen von lodernden Banknoten geröstet werden, einen monströsen Fluss aus Geldmünzen, der von den Mauern einer gigantischen Stadt zu Tal fällt und die Erde mit auseinanderdriftenden Kontinenten und verloren im Weltraum umherfliegenden Menschen. Bolivien, Cochabamba: Waage der Gerechtigkeit (2015) Wahrscheinlich im Februar 2015 schuf Blu ein Wandbild in Cochabamba (andere Angabe: in Sucre, dem Sitz des obersten bolivianischen Gerichtshofs). Das Bild an einer Fabrikwand zeigt einen Arm mit Manschette und goldenem Manschettenknopf, der in der Hand eine Balkenwaage hält. Die Balkenwaage gilt als Symbol der Gerechtigkeit und Attribut der Justitia und wägt allegorisch Schuld und Unschuld ab. In der linken Waagschale des Bilds liegt eine 1-Boliviano-Münze, in der rechten steht eine dreiköpfige Indio-Familie. Die Waagschalen sind nicht im Gleichgewicht, die Geldmünze wiegt schwerer als die Familie. Brasilien, São Paulo: Cristo del Corcovado (2007) Anlässlich des Festivals A Conquista do Espaço – novas formas da arte de rua interpretierte Blu 2007 in São Paulo die Christusstatue Cristo Redentor, die in Rio de Janeiro auf dem Berg Corcovado 30 Meter in die Höhe ragt, neu. Blu stellte Christus in seiner Wandbild-Version auf einen Berg aus Gewehren und weiteren Waffen und ließ die Statue bis zu den Armen in dem Waffenberg versinken. Chile, Santiago: Río Mapocho / HidroAysén (2013) In der chilenischen Hauptstadt Santiago griff Blu 2013 im Rahmen des zweiten „Festival de intervención urbana ‚Hecho en Casa‘“ das umstrittene Staudammprojekt HidroAysén auf, das Anfang Juni 2014 von der chilenischen Regierung wegen heftiger Proteste und verschiedener Mängel gestoppt wurde. Kritiker des Projekts befürchteten irreparable Schäden für das Ökosystem Patagoniens, darunter den Nationalpark Laguna San Rafael. Für die Darstellung nutzte Blu eine langgezogene Mauer am nördlichen Ufer des Río Mapocho, nahe der Kreuzung der Avenidas Cardenal José María Caro und Recoleta. Im rechten Bildteil zeigte er die intakte Bergwelt Patagoniens mit grünem Vorland und schneebedeckten Gipfeln im Hintergrund. Rechts daneben folgte grau in grau eine detailliert ausgeführte Baustelle mit Fabrikhallen und Schornsteinen, versehen mit den Flaggen der am Projekt beteiligten Unternehmen Endesa (Tochter der italienischen Enel) und Colbún S.A. Von einem Berghang ließ er Geldscheine auf die Baustelle regnen. In der Schnittstelle zwischen Bergwelt und Baustelle stellte er den Staudamm als Fratze dar, aufgehängt zwischen zwei Berggipfeln und gehalten von zu Roboterhänden geformten Leitungen. Die Auslauföffnung ist als mit spitzen Zähnen bewehrtes Maul gezeichnet, das den Fluss nur mehr als kleinen Bach freigibt. Mexiko, Mexiko-Stadt: Flagge Mexikos / Estado asesino (2015) Nach dem Bolivien-Aufenthalt reiste Blu weiter nach Mexiko-Stadt. Nahe der Plaza Garibaldi und der U-Bahn-Station Garibaldi der Linie 8 interpretierte er am Paseo de la Reforma die symbolische Bedeutung der Flagge Mexikos neu. In dem Wandbild wird die grün-weiß-rote Trikolore von rundum in Reih und Glied angetretenen Soldaten bewacht. Die Farbe Grün der Flagge, die für die Hoffnung steht, unterlegte er mit einer One-US-Dollar-Banknote. Die Farbe Weiß, Ausdruck der Einheit Mexikos und ursprünglich Symbol der Religion beziehungsweise der römisch-katholischen Kirche, zeigt sich als bröckelnde Fassade. Das Blut der Helden der Farbe Rot lässt Blu in ausgefransten Fetzen zerfließen. Nach Darstellung eines lokalen Journalisten versinnbildlicht das Werk einen an Geld, Drogenkrieg und den Interessen einiger weniger gescheiterten Staat, der von der Armee geschützt wird. In seinem Sketch Note-book stellte Blu Fotos des Wandbilds unter die Überschrift Estado asesino (in etwa = „Mörderstaat“). Dazu stellte er ein Foto einer der Protestkundgebungen auf der Plaza de la Constitución mit der in leuchtenden Buchstaben auf das Pflaster gemalten Parole „Fue el estado“ („Es war der Staat“), die sich insbesondere auf die Ereignisse um die Massenentführung in Iguala 2014 bezieht. Nicaragua, Managua: Hombre Banano (2005) Im Oktober 2005 beteiligten sich Blu, Ericailcane und mehrere zentralamerikanische Streetartkünstler am Festival Murales de Octubre in Managua. Das Kunstprojekt hatte das Ziel, die Avenida Bolívar (auch: Primera Avenida Noroeste oder La 1ª Avenida) im historischen Zentrum der Stadt mit neuen Wandbildern auszustatten und als geschichtsbezogenen Kunstraum zurückzugewinnen. Das monumentale, 100 Meter lange Wandbild El Supremo Sueño de Bolívar des chilenischen Künstlers Victor Canifrù in der Avenida, das einen Bogen von den ersten spanischen Karavellen bis zur Sandinistischen Revolution spannte und das als künstlerisches Herz des revolutionären Nicaragua galt, war 1990/1991 nach der Niederlage der Sandinisten weiß übertüncht und später durch Bilder mit tropischem Dekor ersetzt worden. Zu dem Projekt steuerte Blu das Wandbild Hombre Banano bei, das zu seinen bekanntesten Werken zählt. Das Bild zeigt ein aus Bananen geformtes Monster, das sich über die Förderbänder in einer Verpackungsanlage beugt. Mit dem Bananenmann thematisierte Blu den Protest der Arbeiter auf den Bananenplantagen Nicaraguas. USA, Los Angeles: MOCA (2010) Zu Blus antimilitaristischem Wandbild am Museum of Contemporary Art, Los Angeles (MOCA), das einen Kunsteklat provozierte, siehe Abschnitt oben. Ausstellungen, Videos und Druckwerke (Übersicht) Beteiligungen an Ausstellungen und Festivals (Auswahl) Werke Blus wurden unter anderem auf folgenden Ausstellungen und Kunst-Festivals präsentiert; dabei schuf Blu für die Festivals auf dafür vorgesehenen Flächen in der Regel neue Wandbilder (siehe dazu zum Teil oben die Einträge unter den jeweiligen Ländern). 2005, 2006, 2007 – Spinafestival, Comacchio, Italien. 2005 – Murales de Octubre, Managua, Nicaragua. 2007 – Planet Prozess – Zwischen Raum und Kunst, Berlin. 2007 – Santa’s ghetto, Bethlehem, Westjordanland. 2007 – Super Fluo, Lazarides Gallery, London. 2007 – BackJumps The – Live Issue#3, Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Berlin. 2007 – Street Art Sweet Art, Padiglione d’Arte Contemporanea (PAC), Mailand. 2007 – A Conquista do Espaço – novas formas da arte de rua, São Paulo, Brasilien. 2008 – Street Art, Tate Gallery of Modern Art, London. 2008, 2009 – Fame Festival, Grottaglie, Italien. 2009 – The Influencers 2009, Festival, Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB), Barcelona, Spanien. 2009 – Urban-Art – Werke aus der Sammlung Reinking im Weserburg Museum für moderne Kunst, Bremen. Gezeigt wurden von Blu: drei Zeichnungen, die Animation Muto, der Band Blu. 2004–07. 2009 – Memoria Canalla, Graffiti y arte en las calles de Bogotá, Exposición en torno al arte gráfico urbano de Bogotá, Museo de Arte Moderno de Bogotá (MAMBO), Juli 2009, Bogotá, Kolumbien. 2009 – Grafffest, Danzig. 2010 – Procecto Crono, Lissabon. 2010 – Black River Festival, Wien. 2010 – NuArt Festival, Stavanger, Norwegen. 2011 – Draw The Line Festival, Campobasso, Italien. 2011 – CityLeaks Festival, Köln. 2012 – DesOrdes Creativas, Ordes, Spanien. 2013 – Festival de intervención urbana „Hecho en Casa“, Santiago, Chile. 2015 – Positive-Propaganda, München. 2018 – International Dealmaker, Gruppenausstellung mit Shepard Fairey, Escif, NoNÅME, Positive-Propaganda e.V., München Videographie: „Making-of“ und Animationen (Auswahl) 2001 OK NO, 3′44″, Musik: Foia und Maledetto. OK NO auf YouTube 2005 Child, Animation, 3′27″, Musik: Maledetto. Child auf Vimeo 2006 Fino, Animation, Musik von Andrea Martignoni. Fino auf Vimeo 2006 Ffwd, Animation, Musik: irr.app.(ext.). FFWD auf Vimeo 2007 Fantoche, Wall-painted Animation, Ort: Baden, Schweiz; nachträglich eingearbeitet in Muto. Fantoche auf Vimeo 2007 1, 2, 3, etc, Connections, Animation, 10″. 2007 La quiete, Animation, Musik: LaQuiete Sulla differenza fra un sorriso e una risata. La quiete auf Vimeo 2007 Letter A, Wall-painted Animation. Letter A auf Vimeo 2007 Walking, Wall-painted Animation. Walking auf Vimeo 2008 Muto, Wall-painted Animation, Musik: Andrea Martignoni Muto auf Vimeo 2009 Combo (mit David Ellis), Wall-painted Animation, Produktion Studio Cromie, Fame festival, Grottaglie, 2009. Combo auf Vimeo 2009 Morphing, Wall-painted Animation, Ort: Danzig. Morphing auf YouTube 2009 Blu at Fame festival 2009, Making-of, Ort: Grottaglie. auf YouTube 2010 Big Bang Big Boom, Wall painted Animation (an unscientific point of view on the beginning and evolution of life … and how it could probably end), Länder: Argentinien, Uruguay Big Bang Big Boom auf Vimeo 2012 Blu painting in Köln, Wall painted Animation, Ort: Köln. BLU painting in Köln auf YouTube 2012 Blu and Ericailcane at Lazzaretto, Wall painted Animation, Ort: Bologna. 2012 Blu in Valencia, Wall painted Animation, Ort: Valencia. BLU in Valencia auf YouTube 2012 Making of “Ordres”, Making-of, Ort: Ordes, Spanien. Making of "ORDES" auf YouTube Im Jahr 2010 gab Blu eine DVD über Artsh.it heraus, die 33 Kurzfilme aus den letzten 10 Jahre enthält. Nach Einstellung von Artsh.it wurden die Restbestände über zooo.org vertrieben. Bücher Bei den Editionen handelt es sich um Bildbände, die, abgesehen von Danksagungen in Blu 2004–2007, nahezu textfrei sind. 2005 Blu/Ericailcane: 25 disegni. Zooo Print and Press. (Split book, 48 Seiten mit 25 Zeichnungen je Künstler) 2006 Blu: Nulla. Zooo Print and Press. (48 Seiten, 50 Zeichnungen) 2008 Blu: Blu 2004–2007. Studio Cromie. (160 Seiten, 80 Seiten Fotos, 80 Seiten Zeichnungen) 2016 Blu: Nulla 10 years. Zoo print and Press/special jubilee edition of 250 (48 Seiten, 50 Zeichnungen) 2018 Blu: Minima Muralia. Zooo Print and Press. (288 Seiten) 2018 Blu: Minima Muralia, Special Edition, inkl. Sketches zine, 2 Poster, Zooo Print and Press. (288 Seiten). Literatur Karin Cruciata: L'arte di Banksy: una critica al „sistema“ contemporaneo. E-Book, 2014, ISBN 978-6-050-30544-9 (italienisch; zu Blu siehe S. 41–44). Heike Derwanz: Street Art-Karrieren. Neue Wege in den Kunst- und Designmarkt. In der Buchreihe: Studien zur visuellen Kultur. transcript Verlag, Bielefeld 2013, ISBN 978-3-8376-2423-6. James Gaddy: Yo soy grafitero. A street artist from Bologna conquers the New World with brushes and a film crew. In: Culture & Travel, London/New York, Oktober/November 2007 S. 100 ff. (englisch). Frank Lämmer (Hrsg.): We come at Night: A Corporate Street Art Attack. Die Gestalten Verlag, Berlin/London 2008, ISBN 978-3-89955-216-4 (englisch). Caleb Nilon: Bucket of Blu. In: Swindle Magazine, Nr. 14, Los Angeles 2007, S. 86–93 (englisch). Urban Art. Werke aus der Sammlung Reinking. Hrsg.: Ingo Clauß, Weserburg Museum für moderne Kunst. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2009, ISBN 978-3-7757-2503-3 (Ausstellungskatalog). Roman Tschiedl: BLU – Untitled/it is obvious, In: Taig, Maria (Hrsg.): Kör vie 07-10: Kunst im öffentlichen Raum Wien, 2007-2010, Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 2014, ISBN 978-3-86984-059-8 Christoph Zang: Eine Analyse sozialkritischer Elemente in BLU’s Street Art & Animation „MUTO“. Studienarbeit (Hauptseminar). Universität Bremen (Kunst, Medien & Ästhetische Bildung), GRIN Verlag, München 2013, ISBN 978-3-656-51779-5 (Buch), ISBN 978-3-656-51852-5 (E-Book). Weblinks Homepage Blus: Sketch Note-book Wandbilder der MEGUNICA-Reise, den bereisten Ländern zugeordnet Blue en el Carmel auf YouTube. Cox 18, Making-of, auf YouTube. Big Bang Big Boom auf YouTube. Medusa, Making-of auf YouTube. Muto auf YouTube. Morphing auf YouTube. Einzelnachweise Streetart-Künstler (Italien) Videokünstler (Italien) Animator Senigallia Pseudonym Person unbekannten Namens Künstler (Bologna) Person (Red Bull) Italiener Geboren im 20. Jahrhundert Mann
9389305
https://de.wikipedia.org/wiki/Berthe%20Morisot%20mit%20Veilchenstrau%C3%9F
Berthe Morisot mit Veilchenstrauß
Berthe Morisot mit Veilchenstrauß () ist ein in Öl auf Leinwand gemaltes Bild von Édouard Manet. Es hat eine Höhe von 55,5 cm und eine Breite von 40,5 cm. Dargestellt ist die mit Manet befreundete Malerin Berthe Morisot, die zwischen 1868 und 1874 sein bevorzugtes Modell war. Kunstkritiker zählen das Bildnis zu den bedeutendsten Porträts im Gesamtwerk des Künstlers. Mit diesem Bild als Vorlage schuf Manet eine Radierung und zwei Lithografien, in denen er das Motiv variierte. Das Ölbild befindet sich in der Sammlung des Musée d’Orsay in Paris. Bildbeschreibung Das Gemälde zeigt das Bildnis von Berthe Morisot. Die mit Manet befreundete Malerin ist als Bruststück ausgeführt – zu sehen sind der Kopf und der Oberkörper mit Schultern und Oberarmen. Vor einem hellen Hintergrund hebt sich kontrastreich die dunkel gekleidete Porträtierte ab. Beim Hintergrund könnte es sich um einen zugezogenen Vorhang handeln, der in verschiedenen Abstufungen von Weiß und Grau erscheint. Am rechten Bildrand ist der Übergang zu einer dunklen Fläche zu sehen. Oben rechts in der Ecke hat der Maler das Bild mit „Manet 72“ signiert und datiert. Berthe Morisot trägt ein schwarzes Kleid mit einem kleinen V-förmigen Ausschnitt, aus dem ein Leinenhemd hervorschaut und ein kleines Stück Haut zu sehen ist. In der Brustmitte schmückt ein kleiner Veilchenstrauß das untere Ende des Ausschnitts. Passend zum Kleid hat die Dargestellte einen hohen schwarzen Hut aufgesetzt, der auch als „Trauerhut“ bezeichnet wurde. Hinter dem Kopf fällt ein breites Hutband nach rechts herunter, auf der linken Seite sind es dünne Streifen, die herabhängen. Zudem sind breite schwarze Kinnbänder um den Hals gebunden. Unter dem tief über die Stirn gezogenen Hut schauen einzelne Strähnen des lockigen kastanienbraunen Haares hervor. Ihr Gesicht wird von der linken Bildseite beleuchtet, sodass ihre rechte Gesichtshälfte im hellen Licht strahlt, während die linke Hälfte im Schattenbereich liegt. Auf dem Nasenrücken zeichnet sich hierbei eine deutliche Trennungslinie zwischen Hell und Dunkel ab. Ihr Teint ist hell und die Konturen sind teilweise mit weißem Farbauftrag nur unscharf gemalt. Ein Anhänger schmückt das vom Haar kaum verdeckte linke Ohr. Ein Pendant auf der rechten Seite wird mit hellen Farbtupfern angedeutet. Der Mund ist geschlossen und die Lippen sind in einem blassen Rosaton gehalten. Die auffallend großen dunklen Augen sind auf den Betrachter gerichtet. Der französische Essayist Paul Valéry war mit einer Nichte von Berthe Morisot verheiratet und kannte das im Familienbesitz befindliche Bildnis der Malerin aus eigener Anschauung. Seine Beschreibungen des Gemäldes anlässlich des 100. Geburtstages Manets 1932 sind wiederholt zitiert worden. Er sieht in den Augen von Berthe Morisot einen „ins Leere starrenden Blick“, der ein „Nicht-dabei-sein“ ausdrücke. Ihre Augen verraten für ihn „Zerstreutheit“ und „Sehr-weit-weg-sein“. Valéry fühlte sich beim Anblick der Zartheit der Darstellung in Manets Bild Berthe Morisot mit Veilchenstrauß erinnert an Vermeers Gemälde Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge. Für Valéry ist es „Dichtung“ und das bedeutendste Porträtbildnis Manets. Manets Reproduktionen des Motivs Nach Vollendung des Gemäldes fertigte Manet verschiedene Reproduktionen des Motivs an, was auf eine gewisse Zufriedenheit mit der Ausführung des Bildes schließen lässt. Vermutlich schuf er zunächst eine Radierung, deren Abzüge das Bildnis seitenverkehrt zeigen. Hier, wie auch in den nachfolgenden Drucken, verzichtete Manet völlig auf den Hintergrund mit dem Vorhang. Stattdessen variierte er bei der Radierung Hut und Kleidung der Dargestellten, indem er das nahezu monochrome Schwarz des Gemäldes in eine Oberfläche mit unregelmäßigen hellen Stellen verwandelte. Zudem ist die im Schattenbereich liegende Gesichtshälfte mit einem übertrieben dramatischen Schatten versehen, wie die Kunsthistorikerin Anne Coffin Hanson anmerkte. Bei der Radierung ist Berthe Morisot mit nach vorn geneigtem Körper leicht schräg ins Bild gesetzt. Zudem weist das Motiv an den Rändern einen gezeichneten Rahmen auf. Des Weiteren schuf Manet zwei Kreidelithografien nach dem Gemälde. Die erste Version, auch schwarze Fassung genannt, entstand möglicherweise nach einer Fotografie des Gemäldes. Hierfür spricht, dass die Konturen der Lithografie und des Gemäldes nahezu deckungsgleich sind und es sich beim Abzug um keine seitenverkehrte Darstellung handelt. Diese erste Lithografie zeigt Berthe Morisots schwarze Kleidung im starken Kontrast zur hellen Gesichtspartie und weist große Ähnlichkeit mit der Vorlage des Gemäldes auf. Unterschiede gibt es vor allem bei der Schattenwirkung im Gesicht: Während im Gemälde eine Gesichtshälfte im Schatten liegt, sind bei der Lithografie nur kleine Schatten unter Nase und Mund zu sehen. Bei der zweiten Lithografie, auch als Silhouette bezeichnet, hat Manet die Umrisse der schwarzen Flächen des Gemäldes nachgezeichnet und die Flächen hell belassen. Nur die links und rechts des Gesichts herabhängenden Bänder des Hutes zeigen grau schraffierte Flächen. Zudem sind die Augen und eine Schattenfläche am Nacken als schwarze Bereiche deutlich hervorgehoben. Die Radierung und beide Lithografien stammen aus den Jahren 1872 bis 1874 und sind nicht signiert. Die Abzüge der Lithografien erfolgten durch den Drucker Lemercier erstmals 1884, also nach Manets Tod. Die frühesten Abzüge der Radierung erschienen ebenfalls postum im Jahr 1890. Berthe Morisot als Manets Modell Manet hatte Berthe Morisot 1867 im Louvre kennengelernt, als sie gerade dabei war, ein Werk von Rubens zu kopieren und der gemeinsame Freund Henri Fantin-Latour die beiden einander vorstellte. Manet und Morisot verband fortan eine enge Freundschaft. Seit 1864 stellte sie zwar im Salon de Paris Bilder aus, befand sich jedoch immer wieder in künstlerischen Krisen mit Selbstzweifel. In dem neun Jahre älteren Manet sah sie für einige Zeit einen wichtigen Ratgeber. Darüber hinaus war sie häufig Gast bei den Soireen im Hause Manet, die wöchentlich von der Ehefrau und der Mutter des Malers veranstaltet wurden. Zwischen 1868 und 1874 saß sie Manet zudem wiederholt Modell. Zuerst malte sie Manet im Gruppenporträt Der Balkon, einem Bild mit Bezug auf ein Werk des spanischen Malers Goya. Sie sitzt in diesem Bild im weißen Kleid mit einem Fächer als Requisite auf einem Balkon. Ein weißes Kleid trägt sie auch im etwa 1870 entstandenem Gemälde Bildnis Berthe Morisot (Die Ruhepause), bei dem Manet sie auf einem Sofa sitzend porträtierte. Sehr ähnlich ist das weiße Kleid von Eva Gonzalès im Bildnis Eva Gonzalès von 1870. Sie war Manets einzige offizielle Schülerin und als solche zeigt er sie sitzend an der Staffelei an einem Blumenstillleben malend. Auffällig ist, dass Manet seine Freundin Berthe Morisot in keinem seiner Porträts als Malerin dargestellt hat. Auch im Gemälde Berthe Morisot mit Veilchenstrauß gibt es kein Requisit, das auf sie als Malerin hinweist. Die Kunsthistorikerin Manuela B. Mena Marqués vermutet, dass es im Verhältnis zwischen Eva Gonzalès und Berthe Morisot eine Art von Eifersucht gegeben habe. Bei den zwischen 1872 und 1874 gemalten Bildnissen der Berthe Morisot hat Manet die Porträtierte stets in schwarzer Kleidung wiedergegeben. Ein Trauerfall als Anlass für diese Kleidung ist nur bei dem Gemälde Berthe Morisot in Trauerkleidung bekannt. In all den anderen Bildern lässt die schwarze Kleidung zum einen auf den persönlichen Geschmack Berthe Morisots hindeuten, zum anderen ist auch bei Manet eine Vorliebe für schwarze Kleidung erkennbar. Manet hatte vor allem in den 1860er Jahren wiederholt Bilder mit spanischen Motiven gemalt, darunter auch Bildnisse von Frauen in dunkler oder schwarzer Kleidung. Hierzu gehören beispielsweise die Gemälde Spanierin mit schwarzem Kreuz oder Angelina die beide zwischen 1860 und 1865 entstanden sind. Die im Gemälde Angelina porträtierte Frau ist wie Berthe Morisot später in Der Balkon hinter einem Balkongitter mit einem Fächer porträtiert. In diesem Bild ist zudem der Effekt des halbseitig beleuchteten Gesichts vorhanden, den Manet eine Dekade später beim Gemälde Berthe Morisot mit Veilchenstrauß wieder aufnahm. Die Vorliebe für dunkle oder schwarze Töne hatte Manet vor allem beim spanischen Maler Velázquez studiert, den er sehr bewunderte. Als Manet 1872 das Bildnis Berthe Morisot mit Veilchenstrauß malte, war die Porträtierte gerade von einer Studienreise aus Madrid zurückgekehrt, auf der sie der ebenfalls mit Manet befreundete Maler Zacharie Astruc begleitet hatte. Das Porträt entstand vermutlich in nur zwei Sitzungen und die zurückliegende Reise war hierbei sicher ein Gesprächsthema, zumal Manet 1865 selbst Madrid besucht hatte. Die Kunsthistorikerin Françoise Cachin sah im Gesichtsausdruck Berthe Morisots „Neugier und Betroffenheit, versunkene Aufmerksamkeit für den Künstler, der sie malte – eine tiefe Komplizenschaft, als wären sie in lebhafter Unterhaltung“. Der französische Schriftsteller Georges Bataille ging davon aus, dass Manet in Berthe Morisot „zugleich die begabte Malerin und die schöne Frau“ sah, die er wegen ihrer „bezaubernden Intelligenz“ bewundern durfte. Nach dem Bildnis Berthe Morisot mit Veilchenstrauß schuf Manet bis 1874 einige weitere Bildnisse von Berthe Morisot in schwarzer Kleidung. Dazu gehören beispielsweise Berthe Morisot mit rosa Schuhen von 1872, Berthe Morisot liegend von 1873 und Berthe Morisot mit Fächer von 1874. Im selben Jahr heiratete Berthe Morisot Manets Bruder Eugène. Danach schuf Manet kein Bild mehr von ihr. Das Gemälde Berthe Morisot mit Veilchenstrauß ist für den dänischen Kunsthistoriker Mikael Wivel das Meisterwerk dieser Serie. Er sieht in diesem Bildnis eine Liebeserklärung des Malers an sein Modell. Provenienz Das Gemälde Berthe Morisot mit Veilchenstrauß befand sich zunächst in der Sammlung von Manets Freund Théodore Duret, den der Maler 1866 in Madrid kennengelernt hatte. Beide teilten eine Vorliebe für spanische Kunst und es ist kaum verwunderlich, dass Duret sich für dieses Porträt nach spanischem Vorbild entschied. Am 19. März 1894 war Duret gezwungen, aus finanziellen Gründen einen Großteil seiner Kunstsammlung versteigern zu lassen. Bei dieser Gelegenheit erwarb die im Bild dargestellte Berthe Morisot das Gemälde. Nur ein Jahr später starb Morisot und das Porträt ging an ihre Tochter Julie Manet. Sie behielt das Bild bis zu ihrem Tod 1966 und lieh es wiederholt zu Ausstellungen aus. Danach ging es in den Besitz ihres Sohnes Clément Rouart, der das Bild ebenfalls regelmäßig für Ausstellungen zur Verfügung stellte. Nach seinem Tod 1992 behielten seine Kinder das Bild einige Jahre, bevor sie es 1998 für 80 Millionen Franc an den französischen Staat verkauften. Die Mittel hierfür stammten vom Fonds du Patrimoine, der Fondation Meyer, der China Times Group und der japanischen Tageszeitung Nikkei. Seit 1998 wird das Gemälde im Pariser Musée d’Orsay ausgestellt. Anlässlich des Ankaufs des Gemäldes zitierte die Zeitung Libération den Historiker Marc Fumaroli, der das Bild als die Mona Lisa des 19. Jahrhunderts bezeichnete. Literatur Georges Bataille: Manet. Skira-Wasmuth, Genf und Tübingen 1988, ISBN 3-8030-3111-7. Germain Bazin: Manet. Ausstellungskatalog, Presses Municipales de la Ville de Marseille, Marseilles 1961. Françoise Cachin: Manet. DuMont, Köln 1991, ISBN 3-7701-2791-9. Françoise Cachin, Charles S. Moffett und Juliet Wilson-Bareau: Manet: 1832-1883. Ausstellungskatalog, Réunion des Musées Nationaux, Paris, The Metropolitan Museum of Art, New York, deutsche Ausgabe: Frölich und Kaufmann, Berlin 1984, ISBN 3-88725-092-3. Anne Coffin Hanson: Édouard Manet. 1832–1883. Ausstellungskatalog, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia 1966. Paul Jamot, Paul Valéry: Exposition Manet. Ausstellungskatalog, Musée de l’Orangerie, Paris 1932. Manuela B. Mena Marqués: Manet en el Prado. Ausstellungskatalog, Madrid 2003, ISBN 84-8480-053-9. Maryanne Stevens: Manet, portraying life. Ausstellungskatalog, Royal Academy of Arts, London 2012, ISBN 978-1-905711-74-1. Gary Tinterow, Geneviève Lacambre: Manet/Velázquez: The French Taste for Spanish Painting. Ausstellungskatalog, Metropolitan Museum of Art, New York 2003, ISBN 1-58839-038-1. Juliet Wilson-Bareau: Edouard Manet, das graphische Werk. Ausstellungskatalog, Stadtverwaltung Ingelheim, Ingelheim am Rhein 1977. Mikael Wivel: Manet. Ausstellungskatalog Ordrupgaardsamlingen Charlottenlund, Kopenhagen 1989, ISBN 87-88692-04-3. Weblinks Angaben zum Gemälde auf der Internetseite des Musée d’Orsay Einzelnachweise Gemälde von Édouard Manet Gemälde (19. Jahrhundert) Musée d’Orsay Frauenporträt
9807463
https://de.wikipedia.org/wiki/Deliktsrecht%20%28Deutschland%29
Deliktsrecht (Deutschland)
Das deutsche Deliktsrecht, auch als Recht der unerlaubten Handlungen bezeichnet, ist in den des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) geregelt. Begründet werden darin zivilrechtliche Schadensersatzansprüche. Sie kommen in Betracht, wenn kein Vertragsverhältnis zwischen den beteiligten Parteien besteht oder entgegensteht. Wird einer der Tatbestände des Deliktsrechts erfüllt, entsteht ein gesetzliches Schuldverhältnis. Über die jeweils normierte Anspruchsgrundlage kann sich der Geschädigte beim Verursacher schadlos halten. Die Regelungen des BGB werden durch zahlreiche Spezialgesetze, etwa das Straßenverkehrsgesetz (StVG) und das auf einer europäischen Richtlinie beruhende Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG) ergänzt. Inhaltlich regelt das Deliktsrecht den Ersatz des Schadens, der aus der Verletzung von Rechtsgütern, absoluten Rechten und Schutzgesetzen entsteht. Das Gesetz unterscheidet dabei drei Haftungformen: Die Haftung aus „verschuldetem Unrecht“, die Haftung aus „Unrecht in widerleglich vermutetem Verschulden“ und die verschuldensunabhängige Haftung aus „Gefährdung“. Ferner verfolgt das Deliktsrecht präventive Zwecke, indem es durch Androhung von Schadensersatzpflichten Schädigungshandlungen vorbeugt. Im Gegensatz zum anglo-amerikanischen Recht kommt ihm allerdings keine Straffunktion zu. Daher sind dem deutschen Deliktsrecht Schadensersatzansprüche grundsätzlich fremd, die den Schädiger sanktionieren sollen. Unberührt bleiben dabei strafrechtliche Vorschriften. Grundlagen des deutschen Deliktsrechts Das Deliktsrecht regelt, unter welchen Voraussetzungen ein Schädiger für einen von ihm angerichteten Schaden haftet. In Abgrenzung zum Vertragsrecht, bei dem der Schadensersatz als Rechtsfolge behandelt wird, entsteht ein deliktischer Schadensersatzanspruch regelmäßig kraft Gesetzes und dann, wenn jemand einen anderen in zurechenbarer und rechtswidriger Weise schädigt. Vertragsansprüche können dabei mit Deliktsansprüchen kollidieren, sodass fraglich wird, welche Auswirkungen dies auf die im Vertragsrecht meist kürzer geregelte Verjährung oder Haftungsmilderungen hat. Im Verjährungsrecht ist die Rechtsprechung uneinheitlich: Der Bundesgerichtshof gibt den Regelungen aus dem mietrechtlichen BGB regelmäßig bereits gesetzeslogischen Vorrang, weil Deliktsansprüche nahezu stets in Konkurrenz mit ihm stünden und eine Verdrängung der Norm die Aushöhlung des § 548 BGB bedeutete. Den Regelungen über Werks- oder Kaufmängel gibt er hingegen häufig den Nachrang, weil durch sie deutlich seltener zugleich Eigentumsverletzungen verwirklicht würden. Insoweit folgt die unterschiedliche Behandlung einer statistischen Häufigkeit der Konkurrenzfrage, die je nach Ausschlag deliktische Ansprüche verdrängt. Klar bezieht die Rechtsprechung demgegenüber Stellung zum Verhältnis zu vertragsrechtlichen Haftungsmilderungen: Gesetzliche Privilegierungen genießen ohne Weiteres Vorrang vor dem Schutz aus unerlaubten Handlungen, vertraglich vereinbarte indessen nicht. Dem Deliktsrecht liegt grundsätzlich das Verschuldensprinzip zu Grunde. Daher setzt eine deliktische Haftung im Regelfall voraus, dass der Schädiger schuldhaft handelt, also vorsätzlich oder fahrlässig. Eine Ausnahme vom Verschuldensprinzip stellt die Gefährdungshaftung dar. Dort knüpft die Haftung an die Verantwortlichkeit für eine Person oder Sache an. Typischerweise korreliert mit ihr eine besondere Gefahrneigung aufgrund einer gesteigerten Unfallwahrscheinlichkeit. Verbreitet ist diese Form der Haftung etwa im Kraft- und Luftfahrzeugverkehr sowie bei Arzneimitteln. Das deutsche Deliktsrecht wurzelt in der römisch-republikanischen lex Aquilia. Dieses als erstes aller Plebiszite während der römischen Republik verfasste Gesetz verpflichtete denjenigen zum Schadensersatz, der eine fremde Sache rechtswidrig und schuldhaft beschädigte. Die lex Aquilia beeinflusste die Entwicklung einiger europäischer Haftungsordnungen, etwa der französischen und der österreichischen. Diese Rechtsordnungen zeichnen sich dadurch aus, dass den Mittelpunkt eine Generalklausel bildet, also eine weit gefasste Anspruchsgrundlage, die geringe Anforderungen an das Entstehen eines Anspruchs stellt. So verpflichtet beispielsweise Art. 1240 des französischen Code civil denjenigen, der durch eine beliebige Handlung einen Schaden verursacht, diesen zu ersetzen. Durch ihre äußerst allgemein gehaltene Formulierung lässt diese Norm ihren Anwendern außerordentlich großen Auslegungsspielraum. Die Einführung einer vergleichbaren deliktischen Generalklausel wurde im Rahmen der Entwicklung des BGB zwar diskutiert, letztlich allerdings verworfen, um eine zu weitgehende Haftung zu vermeiden. Dahinter stand allerdings auch eine gesetzespolitische Erwägung: So sollte eine Haftung auf Schadensersatz weniger in das Ermessen des zur Auslegung berufenen Richters gestellt werden als vielmehr aus klar umrissener gesetzlicher Wertung hervorgehen. Der Gesetzgeber schuf letztlich bewusst eine Mehrzahl von Anspruchsgrundlagen, damit an unterschiedliches Verhalten des Schädigers angeknüpft werden konnte. In deren Mittelpunkt stehen die vergleichsweise weit gefassten § 823 BGB und § 826 BGB. Zwischen § 823 Absatz 1 BGB und § 826 BGB wird gleichwohl ein deutlicher Unterschied innerhalb der deliktischen Anspruchsgrundlagen deutlich: Während § 823 Absatz 1 BGB im objektiven Tatbestand sehr eng gefasst ist, indem er an die Verletzung bestimmter Rechtsgüter anknüpft, wird er auf subjektiver Tatbestandsebene hingegen weit gefasst, da jedes Verschulden eine Haftung begründet. Im Gegensatz dazu ist § 826 BGB subjektiv eng gefasst und grundsätzlich nur Vorsatz sanktionsfähig, auf objektiver Tatbestandsebene hingegen sehr weit, denn über die Norm wird das Vermögen schlechthin geschützt. Zwischendrin steht der § 823 Absatz 2 BGB, dessen objektiv- und subjektivtatbestandlichen Voraussetzungen sich nach dem Schutzgesetz richten und lediglich dessen Vorgaben mit einem Schadensersatzanspruch flankieren. Das im BGB geregelte Deliktsrecht erfuhr seit Inkrafttreten des BGB im Jahr 1900 bislang lediglich wenige Änderungen. Die Fortentwicklung des Rechtsgebiets wird daher im großen Maß durch die Rechtsprechung vorgenommen. Dies betrifft im Besonderen den Schutz des Persönlichkeitsrechts und das Recht der Arzthaftung. Hinzu kamen allerdings Spezialgesetze, die deliktische Anspruchsgrundlagen enthalten. Hierzu zählen das Straßenverkehrsgesetz, das Atomgesetz (AtG) und das Produkthaftungsgesetz. Haftung aus verschuldetem Unrecht Verletzung von Rechtsgütern und absoluten Rechten (subjektive Rechte), § 823 Absatz 1 BGB Schlüsselnorm des deutschen Deliktsrechts ist Absatz 1 BGB. Dieser räumt einen Anspruch auf Schadensersatz ein, wenn jemand widerrechtlich und schuldhaft eines der genannten Schutzgüter verletzt und hierdurch einen Schaden verursacht. Da der deutsche Gesetzgeber mit § 823 Absatz 1 BGB gerade keine haftungsbegründende Generalklausel schaffen wollte, knüpfte er das Entstehen eines Schadensersatzanspruchs an die Verletzung eines in der Norm genannten Rechts bzw. Rechtsguts. Nicht über § 823 Absatz 1 BGB ersatzfähig sind daher beispielsweise reine Vermögensschäden, da die Norm das Vermögen nicht als Schutzgut nennt. Zum Kreis der in § 823 Absatz 1 BGB geschützten Rechtsgüter zählen Leben, Körper, Gesundheit und Freiheit. Hierbei handelt es sich um Güter, über die jeder Mensch natürlicherweise verfügt. Sie werden daher in der Rechtswissenschaft auch als Lebensgüter bezeichnet. Leben Verletzungshandlung gegen das Leben ist die Tötung. Diese begründet jedoch keine Haftung gegenüber dem Geschädigten aus § 823 Absatz 1 BGB, da der Mensch im Zeitpunkt des Todeseintritts seine Rechtsfähigkeit verliert, sodass er keinen Anspruch erlangen kann. Der Schädiger haftet allerdings gegenüber den Hinterbliebenen, diese Ansprüche sind jedoch in anderen Anspruchsgrundlagen als dem § 823 Absatz 1 BGB geregelt. So räumt BGB beispielsweise einen Anspruch gegen den Schädiger auf Ersatz der Begräbniskosten sowie auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung ein. Im Rahmen von § 823 BGB hat das Rechtsgut Leben deshalb keinen eigenen Anwendungsbereich, wird aber gleichwohl als Schutzgut genannt. Hierdurch bringt der Gesetzgeber zum Ausdruck, dass das menschliche Leben kein zur Disposition stehendes Rechtsgut ist. Körper und Gesundheit Die Schutzgüter Körper und Gesundheit stehen in engem Zusammenhang: Während bei Ersterem der Schutz der äußeren körperlichen Unversehrtheit des Menschen im Vordergrund steht, schützt Letzteres dessen körperliche, geistige und seelische Funktionsfähigkeit. Die körperliche Unversehrtheit wird beispielsweise verletzt durch das Zufügen einer Wunde, das Abschneiden der Haare, das pflichtwidrige Unterlassen ärztlicher Behandlung sowie durch den Eintritt einer ungewollten Schwangerschaft nach gescheiterter Sterilisation. Grundsätzlich gelten auch ärztliche Eingriffe und Operationen als Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, sofern der Rechtfertigungsgrund berufskunstgerechter Behandlung nicht nachgewiesen werden kann. Um eine Gesundheitsverletzung handelt es sich etwa beim Infizieren einer Person mit einer Krankheit und dem Zuführen schädlicher Emissionen. Auch eine das Wohlbefinden verringernde psychische Beeinträchtigung kann eine Gesundheitsverletzung darstellen. Da diese allerdings schwer mess- und überprüfbar ist, stellt eine derartige Beeinträchtigung lediglich dann eine Rechtsgutsverletzung dar, wenn sie sich physisch auswirkt, etwa in Form von Schlaganfällen oder Depressionen. Auch ein ungeborenes Kind kann in seiner Gesundheit geschädigt werden. Hierzu kommt es beispielsweise, wenn einer Schwangeren eine mit Lues verunreinigte Blutkonserve verabreicht wird, wodurch das Kind krank zur Welt kommt. Anders verhält es sich, wenn sich der Vorwurf an den Arzt darauf beschränkt, die Schwangere nicht darauf hingewiesen zu haben, dass ein Kind krank geboren werden würde: Hier erleidet das Kind keine Verschlechterung seiner Gesundheit, weswegen es keinen Schadensersatzanspruch hat. In Betracht kommt allenfalls eine Haftung des Arztes gegenüber den Eltern wegen Verletzung einer vertraglichen Aufklärungspflicht. Eine deliktische Haftung des Arztes auf Ersatz des Kindesunterhalts kommt nach der Rechtsprechung in Betracht, wenn er eine Sterilisation fehlerhaft vornimmt, sodass ein Kind geboren wird. Freiheit Das Rechtsgut Freiheit schützt nach vorherrschender Auffassung ausschließlich die körperliche Bewegungsfreiheit. Verletzt wird es daher durch Beschränkungen der Fortbewegungsfreiheit, etwa durch das Erwirken einer mehrmonatigen Untersuchungshaft. Nicht ausreichend sind allerdings kurzzeitige Freiheitsbeschränkungen, etwa das Versperren des Weges oder das Zuparken, da solche Umstände dem allgemeinen Lebensrisiko zuzuordnen sind. Die körperliche Bewegungsfreiheit kann auch durch nötigende Eingriffe in die Willensfreiheit beeinträchtigt werden, etwa durch Zwang, Drohung oder Täuschung. Dies setzt voraus, dass die Willensbildung zur freien Fortbewegung beeinträchtigt wird. Fehlt diese Wirkung, kann der Eingriff in die Willensfreiheit als Verletzung des Persönlichkeitsrechts oder als strafbare Nötigung ( StGB) deliktische Schadensersatzansprüche begründen. Absolute Rechte Eigentum Weiterhin schützt § 823 Absatz 1 BGB sogenannte absolute Rechte. Bei einem absoluten Recht handelt es sich um ein Herrschaftsrecht über eine bestimmte Rechtsposition, welches von jedermann zu achten ist. Das bekannteste absolute Recht ist das Eigentum, das gemäß BGB die uneingeschränkte rechtliche Herrschaftsgewalt über eine Sache darstellt. Verletzungshandlungen bestehen im Eingriff in die Substanz einer Sache, also deren Beschädigung oder Zerstörung. Auch die Entziehung oder Nutzungserschwerung beziehungsweise Beeinträchtigung des bestimmungsgemäßen Gebrauchs der Sache sind Eigentumsverletzungen. In diesem Sinne stellen das Zuparken eines PKW und das unberechtigte Belegen eines fremden Parkplatzes Eigentumsverletzungen dar. Ebenso das Abschneiden von der Zufuhr eines Stoffs, mit dem ein Aggregat dauerhaft versorgt werden muss, beispielsweise indem die Stromversorgung einer Eisfabrik oder einer Brüterei unterbrochen wird und deren Erzeugnisse infolge der mangelnden Stromzufuhr Schaden nehmen. Die Rechtsprechung betrachtet darüber hinaus das Fotografieren fremder Gebäudefassaden als Eigentumsbeeinträchtigung, sofern der Fotograf zur Anfertigung der Aufnahme das fremde Grundstück ohne Einverständnis des Eigentümers betritt, weil durch das Betreten in dessen Verfügungsgewalt über sein Grundstück eingegriffen werde. Nach der Rechtsprechung liegt eine Eigentumsverletzung zudem vor, wenn eine Sache übereignet wird, die nach Übereignung aufgrund eines Mangels Schaden nimmt. Dies trifft etwa zu, wenn ein neu erworbener PKW aufgrund eines bereits bei Übergabe an den Käufer defekten Gaszugs einen Unfall erleidet. Als Verletzung des Eigentumsrechts wird auch die wirksame Verfügung eines Nichtberechtigten erachtet. Sonstige Rechte Weitere absolute Rechte erfasst § 823 Absatz 1 BGB mit dem Begriff des sonstigen Rechts. Hierzu zählen alle beschränkt dinglichen Rechte, beispielsweise die Grundschuld und die Hypothek, ebenso die Anwartschaftsrechte. Beschädigt jemand eine Sache, die mit einem solchen Recht belastet ist, kann der Inhaber dieses Rechts Schadensersatz verlangen. Ebenfalls geschützt ist nach überwiegender Ansicht das Besitzrecht als Anrecht auf die Ausübung der tatsächlichen Herrschaftsgewalt über eine Sache. Kritische Stimmen wenden hiergegen ein, dass deliktischer Besitzschutz dem Eigentümerschutz gleichgestellt würde und im Zweifel sogar über ihn hinausginge. Zudem drohen Kollisionen mit BGB als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Absatz 2 BGB. Weitestgehend Einigkeit besteht in Literatur und Rechtsprechung darüber, dass Forderungen als lediglich relative Rechte keine sonstige Rechte darstellen. Einzelne Stimmen betrachten jedoch die Forderungszuständigkeit, welche die Zugehörigkeit einer Forderung zu ihrem Gläubiger ausdrückt, als sonstiges Recht. Um weitere absolute Rechte handelt es sich bei Immaterialgüterrechten, die als geistiges Eigentum Schutz über das Patent-, Urheber- und Warenzeichenrecht genießen einschließlich des Erfinderpersönlichkeitsrechts. Allgemeines Persönlichkeitsrecht Der Begriff des sonstigen Rechts erfasst ferner eine Position, die auf richterliche Rechtsfortbildung zurückzuführen ist: das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Sinne von Art. 2 Absatz 1 GG. Die Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als Schutzgut des § 823 BGB unterliegt neuerer Entwicklung. Geschützt wird das Recht des Menschen auf Achtung und Anerkennung sowie auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. Damit wird der – im Gegensatz zum StGB – im BGB vernachlässigte Ehrschutz gestärkt und weitergehend sogar die Intimsphäre in den Schutzbereich einbezogen. So stellt es eine Rechtsgutsverletzung dar, wenn Fotos ohne Einwilligung des Abgebildeten veröffentlicht werden, insbesondere, wenn die Abbilder zudem noch zu kommerziellen Zwecken genutzt werden, etwa zur Bewerbung von Potenzmitteln. Zuletzt entschied der Bundesgerichtshof, dass ein Recht auf Nichtwissen der eigenen genetischen Veranlagung besteht. Problematisch ist, dass die Eingrenzung des Schutzumfangs des Rechtsguts „Persönlichkeit“ eine Interessens- und Güterabwägung erforderlich macht. Ist nämlich der Schutz einer Person gewährleistet, ist zumeist der Schutz einer anderen Person behindert. Vermögenswerte, nicht höchstpersönlich gebundene Bestandteile des Persönlichkeitsrechts genießen postmortalen Schutz. Unvererblich sind ideelle und höchstpersönliche Anteile des Persönlichkeitsschutzes. Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb Auch das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ist aufgrund Richterrechts entstanden und ebenso wie das allgemeine Persönlichkeitsrecht bezüglich § 823 BGB subsidiär ausgestaltet, sobald ein Spezialgesetz eingreift. Das Recht am Gewerbebetrieb schützt die Funktionsfähigkeit eines Betriebs als wirtschaftliche Einheit. Seit langem in der Rechtsprechung anerkannt, erfährt sein Schutz heute allerdings starke Einschränkungen, zumal er in einer von starkem Wettbewerb geprägten Gesellschaft in seinem Bestand um Kunden, Umsatz und Verdienstmöglichkeiten nicht wie Eigentum geschützt werden kann, sich vielmehr permanent neu behaupten muss. Aus diesem Grund erfährt der Gewerbebetrieb nicht Bestandsschutz im eigentlichen Sinne, vielmehr wird er vor bestimmtem, gegen ihn gerichtetem, geschäftsschädigendem Verhalten und somit vor Geschäftsschädigung geschützt. Dies kann unerlaubter Arbeitskampf im Innenverhältnis sein, ebenso unlauterer Wettbewerb im Außenverhältnis. Judiziert wurden gerade solche Fälle: unberechtigte Abmahnung wegen einer vermeintlichen Schutzrechtverletzung, Arbeitskampfmaßnahmen und Boykottaufrufe. Ehe Der deliktische Schutz der Ehe ist bereits in der Rechtsprechung hoch umstritten. Der Bundesgerichtshof anerkannte einerseits den räumlich-gegenständlichen Bereich der Ehe ausdrücklich als absolut geschützte Rechtsposition. So hat etwa die Ehefrau gegen ihren untreuen Ehemann einen Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch gegen die Aufnahme seiner Geliebten in die Ehewohnung. Andererseits verneint der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung deliktische Schadensersatzansprüche aus Eheverletzungen. Er argumentiert damit, dass das Familienrecht vermögensrechtliche Belange der Ehe bereits abschließend regle und Dritte (hier: Geliebte) die eheliche Treuepflicht nicht verletzen können, da diese nur die Ehegatten binde. Der Bundesgerichtshof gestand jedoch einen Schadenersatzanspruch in einem Fall zu, in dem die Ehefrau ihrem Ehemann vor Eheschließung vorgespiegelt hatte, allein er könne der Vater des erwarteten Kindes sein, denn hierin läge über die Verletzung der ehelichen Treue hinaus eine voreheliche Täuschung. Die Ehe selbst ist kein dem Eigentum vergleichbares, absolutes Recht und daher letztlich kein „sonstiges Recht“. Nach einer in der Lehre vertretenen, stark umstrittenen Auffassung ist auch „die Verbindung der Ehegatten zu geschlechtlicher Treue“ absolut geschützt, was eine analoge Anwendung des § 823 Absatz 1 rechtfertige. Potentieller Verletzer sei jeder Dritte, der in Folge einer Verletzung das Abwicklungsinteresse zu ersetzen habe, vergleichbar mit der Abwicklung eines Verlöbnisses gemäß BGB. Vereinsmitgliedschaft 1990 entschied der Bundesgerichtshof, dass eine Mitgliedschaft als „sonstiges Recht“ Schutz verdienen kann. Im „Schärenkreuzer-Fall“ wurde einem Mitglied eines eingetragenen Segelvereins die Teilnahme an einer Bodensee-Regatta verwehrt, weil das Segelschiff nicht den Vorschriften entsprochen habe, worauf das Mitglied Schadensersatzansprüche erhob. In der Literatur wird die Subsumption einer Vereinsmitgliedschaft unter den Schutz des § 823 BGB als zweifelhaft betrachtet. Verletzungshandlung Deliktisch handelt, wer eine Rechtsgutsverletzung unmittelbar durch eigenes Handeln herbeiführt. Eine Handlung kann in positivem Tun oder bei entsprechender Garantenstellung in pflichtwidrigem Unterlassen bestehen. Wer einen anderen schlägt und verletzt, wird ebenso zur Rechenschaft gezogen wie der Vater, der beim Schlittschuhlaufen seinem Kind nicht aus dem Eiswasser hilft, nachdem es eingebrochen ist. Damit ein Verhalten rechtlich in diesem Zusammenhang vorwerfbar ist, muss es dem Handlungsunwert positiven Tuns entsprechen. Schwieriger gestaltet sich die Haftungsbegründung bei lediglich mittelbarer Schädigung, etwa durch den Vertrieb eines Produkts, das beim Anwender einen Schaden herbeiführt. Fraglich ist, wie weit die Verantwortung einer Person für den eingetretenen Schaden dabei reichen soll und inwieweit eine grundsätzlich kaum missbilligenswerte Handlung (das Inverkehrbringen des Produktes) eine deliktische Haftung begründen soll. Um insbesondere die dahinter stehende Kausalitätsfrage für eine deliktische Haftung zielführender beantworten zu können, wurde die Figur der Verkehrssicherungspflicht entwickelt. Deren dogmatische Herleitung ist zwar streitig, die zumeist vertretenen Auffassungen stimmen aber zu Fragen der Funktion und der Voraussetzungen dieses Pflichtentyps weitgehend überein. Die Verkehrssicherungspflicht löst eine Rechtspflicht zum Handeln aus. Ihre Missachtung kann zu einer deliktischen Haftung führen. Eine Handlungspflicht in diesem Sinne obliegt Personen, die Gefahrenquellen schaffen. Die Rechtsprechung nimmt dies stets bei Betreibern von Baustellen oder bei Veranstaltern von Konzerten und dergleichen an. Durch die Eröffnung von Verkehrsräumen, die ihrer Natur nach Gefährdungspotential in sich bergen, ist zu gewährleisten, dass Dritte, die als Besucher oder aus sonstigen Gründen mit der Örtlichkeit in Berührung kommen, keinen Schaden erleiden. Widrigenfalls hat der Betreiber dem geschädigten Betroffenen Schadensersatz gemäß § 823 Absatz 1 BGB zu leisten. Auch in kleineren Dimensionen finden Verkehrssicherungspflichten Anwendung. So hat der Eigentümer eines Hauses sicherzustellen, dass Wege auf und zu seinem Grundstück sicher begehbar sind. Räumt er nach Schneefall seinen Weg nicht, haftet er auf Schadensersatz, wenn infolgedessen Passanten ausrutschen und zu Schaden kommen. Einer ähnlichen Sorgfaltspflicht unterliegen Personen, die kraft ihrer beruflichen Stellung besonderes Vertrauen in Anspruch nehmen. So haften beispielsweise Ärzte für Körper- und Gesundheitsschäden ihrer Patienten, die dadurch eintreten, dass eine Heilbehandlung unterbleibt, die aus fachdisziplinarischer Sicht klar angezeigt ist. Häufig fällt im Rahmen der Verkehrspflichten die Abgrenzung zwischen „Handeln durch Unterlassen“ und „mittelbarem positiven Tun“ schwer und noch schwerer, welche systematische Stellung diese beiden Modalitäten im Verhältnis von Tatbestand und Rechtswidrigkeit einnehmen sollen. Ausschlaggebend ist letztlich ein Nachweis der Rechtswidrigkeit der Verletzungshandlung bei den in § 823 Absatz 1 BGB genannten Lebens- und Rechtsgütern. Insoweit genügt der sonst übliche Verweis auf die Adäquanz zur Indikation rechtswidriger Tatbestandserfüllung gerade nicht. Kausalität und Zurechenbarkeit Eine Schadensersatzhaftung erfordert, dass das deliktische Verhalten ursächlich für die Rechtsgutsbeeinträchtigung war, mit diesem also haftungsbegründend kausal verknüpft ist. Dies ist dann der Fall, wenn die Handlung des Verletzers nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele (sogenannte conditio sine qua non). Sofern ein Unterlassen streitgegenständlich ist, kommt es darauf an, ob der Täter die Rechtsgutsverletzung durch pflichtgemäßes Handeln mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte verhindern können. Insoweit wird in der Rechtsliteratur von äquivalenter Kausalität gesprochen. Diese außerordentlich weite Kausalitätsformel wird in mehrfacher Hinsicht beschränkt: Zum einen werden solche Kausalverläufe aus der Haftung ausgenommen, die unvorhersehbar sind, also in einer Weise verlaufen, mit der schlicht niemand rechnen kann. Zum anderen wird gefordert, dass die Rechtsgutsbeeinträchtigung dem Verletzer objektiv zurechenbar ist (sogenannte adäquate Kausalität). Adäquanz bedeutet eine Bedingung, die sich generell eignete, einen unerwünschten Erfolg herbeizuführen. Abzugrenzen ist damit gegen außergewöhnliche Umstände, die den Erfolg herbeiführen; diese unterliegen der Adäquanz nicht. Der Standpunkt einer Beurteilung der Lage soll gemäß Rechtsprechung aus der Perspektive eines optimal präparierten Beobachters mit Tätersonderwissen im Verletzungszeitpunkt erfolgen. Häufig liegen solche Fälle vor, wenn der Täter eine rechtlich missbilligte Gefahr schafft, die sich (später) im eingetretenen Erfolg realisiert. An einer Zurechenbarkeit des Taterfolges kann es jedoch fehlen, wenn die Rechtsgutsverletzung unmittelbar durch das Opfer verursacht wird. Dies ist etwa der Fall, wenn ein Fahrkartenkontrolleur einen flüchtigen Schwarzfahrer verfolgt und hierbei stürzt. In solchen Herausforderungsfällen bejaht die Rechtsprechung eine Zurechnung der Rechtsgutsverletzung allerdings, solange die Selbstgefährdung des Verfolgers aus einer im Ansatz billigenswerten Erwägung folgt und nicht außer Verhältnis zum angestrebten Zweck steht. Dies sind Fälle der sogenannten mittelbar-kumulativen (auch psychischen) Kausalität. Rechtswidrigkeit In der Rechtsliteratur heißt es häufig, dass die Rechtswidrigkeit durch die Verwirklichung des Tatbestandes indiziert würde. Das bedeutet, dass es einer gesonderten Überprüfung der Frage der Rechtswidrigkeit nur bedarf, wo Anhaltspunkte für das Vorliegen der Voraussetzungen von Rechtfertigungsgründen gegeben sind. Um in rechtswidriger Weise in den Widerspruch zur Rechtsordnung treten zu können, muss der Schädiger den Schaden also rechtswidrig verursacht haben, Indizien für eine Notwehr- oder rechtfertigende Notstandshandlung dürfen nicht bestehen. Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass die Indikation der Rechtswidrigkeit auch aus dem Umstand herzuleiten ist, dass die Frage der Zurechnung bereits auf Tatbestandsebene vorgenommen wird und den Raum der Notwendigkeit der Überprüfung als Unrechtsmerkmal insoweit verkürzt. Folgte man andererseits aber der im Schrifttum bisweilen vertretenen „Lehre vom Handlungsunrecht“, wäre die Pflichtwidrigkeit der Handlung stets positiv festzustellen. Ein klassisches Beispiel dafür, dass die Rechtswidrigkeit nicht ohne weiteres indiziert ist, ist die Verletzungshandlung eines flüchtigen Diebs, damit dieser aufgehalten werden kann. Schon grundsätzlich ist die positive Feststellung der Rechtswidrigkeit erforderlich im Falle der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Beide Rechte besitzen jeweils einen äußerst weiten Schutzbereich, weswegen sie sogar durch Handlungen beeinträchtigt werden können, die von der Rechtsordnung im Grundsatz nicht missbilligt werden. Beim Persönlichkeitsrecht ist dies etwa durch eine auf die betreffende Person bezogene negative Berichterstattung der Fall. Beim Recht am Gewerbebetrieb kommt ein Streik der Belegschaft in Betracht. Anders als etwa eine Eigentumsverletzung genießen diese Handlungen selbst durch die Garantie der Meinungsfreiheit ( GG) und der Koalitionsfreiheit ( Absatz 3 GG) grundrechtlichen Schutz. Daher muss die Rechtswidrigkeit von Eingriffen in die Rechte an der Persönlichkeit und am Gewerbebetrieb durch eine Abwägung der auf beiden Seiten betroffenen Interessen festgestellt werden. Verschulden Der Verletzer muss die Schädigung verschuldet haben, was primär Verschuldensfähigkeit im Sinne der §§ 827, 828 BGB voraussetzt. Verschulden ist in den beiden Verschuldensformen vorsätzlichen oder fahrlässigen Handelns denkbar. Vorsatz ist gegeben, wenn der Schädiger die Rechtsgutsverletzung zumindest billigend in Kauf nimmt. Fahrlässigkeit erfordert gemäß Absatz 2 BGB, dass die verkehrsübliche Sorgfalt außer Acht gelassen wird. Verschuldensfähigkeit Verschulden ist ausgeschlossen, wenn der Verletzer bei Vornahme der Verletzungshandlung verschuldensunfähig ist. Gemäß Satz 1 BGB ist dies der Fall, wenn er sich in einem krankhaften Zustand befindet, der die freie Selbstbestimmung ausschließt. Hierzu zählen vornehmlich die Geisteskrankheit und der alkoholbedingte Rausch. Der Verletzer haftet allerdings gemäß § 827 Satz 2 BGB wie ein fahrlässig Handelnder, wenn er die Verschuldensunfähigkeit durch den Konsum von Alkohol oder ähnlichen Mitteln selbst herbeiführt. Differenziert ausgestaltet ist in BGB die Verschuldensfähigkeit von Minderjährigen: Bis zu einem Alter von sieben Jahren haften diese nicht für deliktisches Handeln. Ab dem siebten Lebensjahr haften sie, wenn sie in der Lage sind, die Gefährlichkeit ihres Handelns zu erkennen. Etwas anderes gilt bei Schädigungen, die im Zusammenhang mit Gefahren des Straßenverkehrs stehen: Hier können Minderjährige grundsätzlich erst ab dem zehnten Lebensjahr haftbar gemacht werden, da jüngere Kinder in der Regel mit der richtigen Einschätzung von Straßenverkehrssituationen überfordert sind. Dies gilt jedoch nicht, falls die Schädigung nicht auf der straßenverkehrsbedingten Überforderung des Kindes beruht. Dies trifft etwa zu, wenn es gegen ein ordnungsgemäß geparktes Fahrzeug stößt. Modifizierung der Beweislast durch die Rechtsprechung Grundsätzlich trägt der Geschädigte im Zivilprozess die Beweislast für den Nachweis aller anspruchsbegründenden Voraussetzungen, also auch das Verschulden des Schädigers. In bestimmten Situationen ist ihm dies jedoch kaum möglich, weil ihm die notwendigen Tatsachen unbekannt sind. Um dies zu kompensieren, modifiziert die Rechtsprechung in bestimmten Sachgebieten die Beweislast zugunsten des Geschädigten. Produzentenhaftung Erhebliche praktische Schwierigkeiten birgt die Beweisführung bei der Haftung des Herstellers für von ihm in Verkehr gebrachte Produkte. Erleidet der Verwender eines dieser Produkte aufgrund dessen Fehlerhaftigkeit einen Schaden und nimmt er daraufhin den Hersteller in Anspruch, so muss er beweisen, dass der Hersteller die Fehlerhaftigkeit des Produkts in schuldhafter Weise verursacht hat. Da der Verwender im Regelfall keinen Einblick in die Produktionsprozesse des Herstellers hat, kann er den Verschuldensbeweis kaum führen. Wegen dieser Schwierigkeit entwickelte die Rechtsprechung die Produzentenhaftung, die hinsichtlich des Verschuldens zu einer gesetzlich geregelten Beweislastumkehr führen kann. Dem Geschädigten wird damit die Last einer umfänglichen Beweisführung genommen, denn zu seinen Gunsten wird vermutet, dass Verschulden des Herstellers vorliegt. Die Beweislastverteilung erfolgt dabei grundsätzlich so, dass der geschädigte Anspruchsteller Fragen zur Rechtsgutverletzung, zum geltend gemachten Fehler der Sache und zur objektiven Pflichtverletzung, die zum Schaden geführt hat (haftungsbegründende wie -ausfüllende Kausalität), zu beweisen hat und der Anspruchsgegner (Hersteller) auf der anderen Seite, dass ihn keine Pflichtverletzung trifft, insbesondere aber kein Verschulden (unter Einbezug von Organisationsverschulden und Entlastungsbeweis bezüglich Verrichtungsgehilfen). Da die rechtliche Ausgestaltung allerdings eine widerlegliche Vermutung vorsieht, kann der Schädiger den Gegenbeweis antreten. Die Verschuldensvermutung knüpft an die Verletzung einer herstellerspezifischen Verkehrssicherungspflicht an. Verkehrssicherungspflichten bestehen in verschiedenen Stadien einer Produktentwicklung und -vermarktung: Sie beginnen mit der Planung des Produkts und erstrecken sich auf dessen Fertigung, die Instruktion des Verwenders über den sicheren Umgang mit dem Produkt sowie auf die Beobachtung des Produkts nach Markteinführung im Hinblick auf eventuell vorhandene Fehler. Die Rechts(gut)verletzung kann sich damit aus Planungs-, Fabrikations-, Konstruktions-, Instruktions- und Produktbeobachtungsfehlern ergeben. Vorrang vor der Produzentenhaftung haben allerdings Ansprüche, die sich unmittelbar aus Vertrag herleiten lassen. Dies sind Ansprüche, die sich aus den Vertragstypen des besonderen Schuldrechts ab §§ 433 ff. BGB ergeben oder gar selbständigen Garantieverträgen oder Verträgen mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Auch Ansprüche aus culpa in contrahendo oder Gefährdungshaftung genießen Vorrang vor der Produzentenhaftung. Arzthaftung Eine ähnliche Beweiserleichterung zugunsten des Geschädigten entwickelte die Rechtsprechung im Arzthaftungsrecht. Die häufig sehr komplexen medizinischen Behandlungen vermag der Geschädigte haftungsrechtlich kaum zu überschauen, weit eher der behandelnde Arzt. Die Rechtsprechung war auch hier dazu übergegangen, Fragen der Zuordnung der Beweislast zu beantworten, um den deutlich kenntnisärmeren Patienten zu entlasten. Lücken, etwa in der Dokumentation der ärztlichen Behandlung, können dazu führen, dass die Anforderungen an die Beweisführung des Geschädigten abgesenkt werden, da dies nicht zulasten des Geschädigten gehen darf. Gelingt es dem Patienten außerdem, einen groben Behandlungsfehler nachzuweisen, indiziert dies bereits die Kausalität des Fehlers für den Schaden. Große Teile der richterrechtlichen Arzthaftung wurden Anfang 2013 vom Gesetzgeber in den Vorschriften über den Behandlungsvertrag ( BGB – BGB) kodifiziert. Rechtsfolge: Schadensersatz Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 823 Absatz 1 BGB vor, ist der Schädiger zum Ersatz aller Schäden verpflichtet, die kausal auf die Rechtsgutsbeeinträchtigung zurückzuführen sind. Unter Schaden wird jede unfreiwillige Vermögenseinbuße verstanden, die durch die Verletzungshandlung nebst daraus resultierender Folgebeeinträchtigungen resultiert. Der Umfang des zu ersetzenden Schadens richtet sich dabei nach den allgemeinen schadensrechtlichen Vorschriften, den § bis BGB, modifiziert allerdings durch die Besonderheiten der § bis BGB. Der Schadensersatz wird mittels der Differenzhypothese ermittelt: Verglichen wird der tatsächliche Zustand mit einem fiktiven Zustand, der bestanden hätte, wenn es nicht zu dem schädigenden Ereignis gekommen wäre. Zwischen der Verletzungshandlung und dem eingetretenen Schaden muss die sogenannte haftungsausfüllende Kausalität bestehen, was bedeutet, dass der Schutzbereich der Norm den konkret eingetretenen Schaden umfassen muss – in Ansehung der Person des Geschädigten und des sachlichen Gefahrenbereichs. Die festgestellte Differenz bestimmt die Schadenshöhe und ist durch den Schädiger zu ersetzen. Die Ersatzpflicht umfasst nach BGB auch einen möglichen finanziellen Gewinn, dessen Eintritt durch die Schädigung verhindert wurde (entgangener Gewinn). In bestimmten Fällen kann der Verletzte darüber hinaus nach BGB Schadensersatz wegen immaterieller Beeinträchtigung verlangen. Von Bedeutung ist dies etwa als Schmerzensgeld bei Körper- und Gesundheitsverletzungen sowie bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Schadensersatz nach § 823 Absatz 1 BGB kann letztlich auch in einem Anspruch auf Beseitigung beziehungsweise Unterlassung bestehen. Während der Schadensersatzanspruch dazu dient, einen Ausgleich für eingetretene Rechtsgutsverletzungen zu erreichen, bezweckt der Unterlassungsanspruch, den Eintritt solcher Beeinträchtigungen zu verhindern. Diese können sich aus § 823 BGB direkt ergeben, ebenso aber aus quasinegatorischem Rechtszusammenhang gemäß Absatz 1 Satz 2 BGB analog. Voraussetzung dafür ist, dass fortgesetzte Beeinträchtigungen der durch die §§ 823, 824 BGB geschützten Rechte drohen und der Anspruchsgegner Handlungs- oder Zustandsstörer ist, wobei der Anspruchsteller nicht einer Pflicht zur Duldung der Beeinträchtigung unterliegt, die sich etwa aus Gesetz, Vertrag, behördlichem Bescheid oder einer Einwilligung ergeben kann. Zu beachten ist jedoch, dass die Abwehr der Beeinträchtigung (Beseitigung) nicht weiter reichen kann als ein Schadensersatzanspruch. Verletzung eines Schutzgesetzes, § 823 Absatz 2 BGB § 823 Absatz 2 BGB ist einschlägig, wenn jemand einen Schaden dadurch verursacht, dass er gegen ein Schutzgesetz verstößt. Schutzgesetze sind Rechtsnormen, die zumindest auch dem Schutz der Rechte und Interessen des Einzelnen oder eines bestimmten Personenkreises dienen. Darunter fallen Rechtsnormen im materiellen Sinne, aber auch des Gewohnheitsrechts, soweit sie Ge- oder Verbote zum Inhalt haben. Da derartige Gesetze sehr zahlreich sind, überprüft der Bundesgerichtshof zusätzlich, ob nicht andere Regelungen die schützenswerten Interessen des Anspruchstellers bereits ausreichend berücksichtigen. Besonders hinterfragt wird immer wieder der Schutzcharakter des BGB. Er kann nämlich mit der durch die Rechtsprechung eingezogenen Begrenzung des Besitzschutzes des § 823 Absatz 1 BGB kollidieren. Zur Vermeidung dessen darf der Charakter des § 858 BGB als Schutzgesetz nicht weiter reichen als der Besitzschutz des § 823 Absatz 1 BGB selbst. Vornehmlich dient § 858 BGB nämlich der Wahrung des Rechtsfriedens und nicht dem Schutz des Besitzers, vor allem nicht demjenigen des unrechtmäßigen Besitzers. Schutzgesetze sind vornehmlich öffentlich-rechtlicher oder strafrechtlicher Natur: Über § 823 Absatz 2 BGB finden insbesondere die Wertungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung ihren Eingang ins Zivilrecht. So verpflichtet StVO den Fahrzeugführer eines Kfz zum Fahren mit angemessener Geschwindigkeit. Die Vorschrift bezweckt den Schutz des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit und des Eigentums anderer Verkehrsteilnehmer. Eine Geschwindigkeitsüberschreitung verpflichtet somit zum Schadensersatz nach § 823 Absatz 2 BGB, wenn es zu einem Unfall kommt und dieser auf überhöhte Geschwindigkeit zurückzuführen ist. Gegenüber § 823 Absatz 1 BGB stellt sich die Beweisführung des § 823 Absatz 2 BGB zugunsten des Geschädigten erleichtert dar: Anstelle des Beweises einer schuldhaften Rechtsgutsverletzung genügt es, wenn er dem Anspruchsgegner einen objektiven Verstoß gegen die verletzte Schutznorm, im oben angegebenen Fall § 3 StVO, nachweist. Kredit- und Erwerbsschädigung, § 824 BGB BGB schützt die geschäftliche Ehre und das Vermögen. Hierzu begründet die Norm einen Schadensersatzanspruch für denjenigen, über den falsche Tatsachen behauptet oder verbreitet werden, die dazu geeignet sind, seinen wirtschaftlichen Ruf zu schädigen. Der Rufschädigung liegt die objektive Neigung zugrunde, Nachteile für Kredit, Erwerb oder Fortkommen des Anspruchstellers herbeizuführen. Dies trifft etwa auf eine Aussage zu, dass jemand „kurz vor der Insolvenz“ stehe oder ein „qualitativ minderwertiges Produkt produziere“. Die Norm konkurriert mit § 823 Absatz 2 BGB, da das haftungsbegründende Verhalten regelmäßig zugleich als üble Nachrede ( StGB) und Verleumdung ( StGB) strafbar ist. Da beide Strafnormen allerdings nicht den Fall erfassen, in welchem jemand fahrlässig eine falsche Tatsachenbehauptung aufstellt, schuf die zweite Kommission zur Erarbeitung des BGB den § 824 BGB, um eine Schutzlücke zu schließen. § 824 Absatz 2 BGB enthält einen Rechtfertigungsgrund, der grundsätzlich missbilligenswerte Äußerungen ausnahmsweise rechtfertigt. Die Schadensersatzpflicht entfällt nämlich dann, wenn der Empfänger der Äußerung ein berechtigtes Interesse an der Äußerung hat (Wahrnehmen berechtigter Interessen). Große praktische Bedeutung hat dieser Rechtfertigungsgrund bei Berichterstattungen in den Medien. Das Wahrnehmen eines berechtigten Interesses kommt allerdings nur in Betracht, wenn der Schädiger nicht um die Unwahrheit der Tatsachenbehauptung weiß, da eine bewusste Irreführung keinen Schutz verdient. Bestimmung zu sexuellen Handlungen, § 825 BGB Die praktische Bedeutung des BGB ist äußerst gering, da die Norm mit dem Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch § 823 Absatz 1 BGB konkurriert. Der Gesetzgeber hat allerdings im Rahmen des zweiten Schadensersatzrechtsänderungsgesetzes von 2002 auf die Streichung der Norm verzichtet, um nicht den Eindruck zu erwecken, die sexuelle Selbstbestimmung werde nicht ernst genommen. Sittenwidrige vorsätzliche Schädigung, § 826 BGB Wie § 823 Absatz 2 BGB beschränkt sich BGB nicht auf bestimmte Rechtsgüter, sondern schützt umfassend vor der Beeinträchtigung von Rechten, Rechtsgütern und Interessen. Die Norm besitzt eine lückenschließende Funktion, indem sie Fälle erfasst, in denen zwar weder ein Rechtsgut noch ein Schutzgesetz verletzt wurde, das Verhalten des Schädigers dennoch missbilligenswert ist. Im Gegensatz zu § 823 Absatz 1 BGB, wo der Schaden nur auf der Rechtsfolgenseite der Norm steht und sich das Verschulden nicht auf den Eintritt oder Umfang des Schadens zu beziehen braucht und im Gegensatz auch zu § 823 Absatz 2 BGB, bei dem der Schaden ebenfalls außerhalb des Verschuldens steht, muss der Schaden bei § 826 BGB vom Verschulden (bedeutet hier Vorsatz) umfasst sein. Erfasst werden Schadenszufügungen jeglicher Art und auch Vermögensschäden. Aufgrund dieses weiten Anwendungsbereichs enthält die Norm einschränkend enge Tatbestandsvoraussetzungen: Wesentliche Voraussetzung für einen Anspruch aus § 826 BGB ist deshalb, dass der Schädiger die Schadenszufügung vorsätzlich vornimmt und die Handlung sittenwidrig ist. Handlungsmaßstab für Sittenwidrigkeit ist ein „Handeln wider das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“, mithin die nach allgemeiner Überzeugung vorherrschende Sozialmoral. Der hohe Abstraktionsgrad dieser Formel ist durch die Rechtsprechung mittels einer Mehrzahl von Entscheidungen konkretisiert worden. Zudem wurden Fallgruppen gebildet, die zu identifizieren helfen sollen, wann die Annahme von Sittenwidrigkeit naheliegt. Eine dieser Fallgruppen thematisiert die Erteilung wissentlich falscher Auskünfte beziehungsweise arglistige Täuschungen. Auch der Bruch bestehender Treuepflichten und das Verleiten zum Vertragsbruch können zu einer Fallgruppe zusammengefasst werden. Von Bedeutung ist auch das Ausnutzen von wirtschaftlicher Macht (Monopolstellungen), Prozesstäuschungen, die sich das Erschleichen von Urteilen zur Aufgabe machen oder das (anschließende) Gebrauchen eines durch falsche Angaben erschlichenen Vollstreckungstitels. Haftung mehrerer Gemeinschaftliche Schädigung, § 830 Absatz 1 Satz 1 BGB Bewirken mehrere die Schädigung eines Dritten durch gemeinschaftliches Handeln, haften sie nach Absatz 1 Satz 1 BGB gegenüber dem Geschädigten als Gesamtschuldner ( BGB), also jeweils in voller Höhe. Die Haftbarkeit der Beteiligten resultiert dabei aus „unterstellter“ Kausalität ihrer Handlungsbeiträge, sofern sie zwar selbständig aber nebentäterschaftlich an einem sachlich, räumlich und zeitlich einheitlichen Vorgang beteiligt sind. Unterstellt wird mit der herrschenden Meinung, dass die erlittene Rechtsgutsverletzung mit Sicherheit durch einen oder alle Beteiligten verursacht worden ist. Dem Geschädigten wird hierdurch erspart, nachzuweisen, welcher Beteiligte zu welchem Anteil zur Schädigung beigetragen hat. Das entbindet nicht davon, dass grundsätzlich festzustellen ist, welcher Beteiligte oder welche Beteiligten Verursacher des Schadensereignisses sind. Die Haftung aus § 830 Absatz 1 Satz 1 BGB beruht auf dem Vorwurf an die gemeinschaftlich Agierenden, dass sie alle das Risiko des Schadenseintritts geschaffen oder gefördert haben. Wird ein Schädiger in einer Weise in Anspruch genommen, die seinen Verschuldensanteil übersteigt, kann er allerdings die anderen Schädiger in Regress nehmen. Kausalitätszweifel bei gefährlichem Handeln mehrerer, § 830 Absatz 1 Satz 2 BGB Die von § 830 Absatz 1 Satz 1 BGB intendierte Stärkung der Position des Geschädigten scheitert, wenn mehrere Personen als Schädiger in Betracht kommen, die nicht gemeinschaftlich handeln. Hierzu kann es beispielsweise bei Verkehrsunfällen kommen: Fahren mehrere Verkehrsteilnehmer unabhängig voneinander vorschriftswidrig, wodurch ein Dritter verletzt wird, kann der Geschädigte nicht aus § 830 Absatz 1 Satz 1 BGB gegen beide vorgehen, da sie nicht zusammengewirkt haben. Gegen die Inanspruchnahme aus § 823 Absatz 1 BGB können die Unfallfahrer jeweils einwenden, dass der andere den Schaden verursacht hat. Diese Schwierigkeit wird durch § 830 Absatz 1 Satz 2 BGB entschärft. Hiernach haften mehrere Beteiligte als Gesamtschuldner, wenn erwiesen ist, dass sie alle in einer Weise handelten, die den Schaden hätte herbeiführen können und dass einer von ihnen den Schaden tatsächlich herbeigeführt hat. Gestörte Gesamtschuld Zu einer gestörten Gesamtschuld kommt es, wenn von mehreren Schädigern sich einer auf eine Haftungsprivilegierung berufen kann. Hierzu kann es beispielsweise auf Grundlage eines Vertrags kommen, etwa weil zwei Personen eine Fahrgemeinschaft vereinbaren, in der nur für Vorsatz gehaftet wird. Verursacht nun der Fahrer fahrlässig eine Kollision mit einem anderen Fahrzeug, wodurch sich der Beifahrer verletzt, kann dieser keinen Schadensersatz vom Fahrer verlangen, da die Haftung für einfache Fahrlässigkeit ausgeschlossen wurde. In Anspruch nehmen kann er allerdings den Fahrer des anderen Fahrzeugs in voller Höhe, denn dieser kann sich auf kein Haftungsprivileg berufen. Nach den Regeln des Gesamtschuldnerausgleichs müsste er nach Inanspruchnahme durch den Geschädigten zumindest einen teilweisen Ausgleich vom Fahrer des anderen Fahrzeugs verlangen können, da dieser den Unfall schließlich mitverschuldet hatte. Die Frage, ob die Inanspruchnahme im Gesamtschuldnerausgleich die vertragliche Haftungsprivilegierung aus der Fahrgemeinschaftsbeziehung durchbricht, wird allgemein bejaht, da ansonsten zwei Parteien die Rechtsstellung eines nichtprivilegierten Dritten (hier: Unfallbeteiligten) beschneiden könnten. Die Aufrechterhaltung des Haftungsprivilegs käme einem Vertrag zu Lasten Dritter gleich, der mit der verfassungsrechtlich verbürgten Privatautonomie nicht vereinbar ist. Eine vertragliche Haftungsprivilegierung kann somit keine Wirkung gegenüber dem anderen Schädiger entfalten, weshalb Ansprüche im Innenausgleich der Gesamtschuld bestehen. Im Einzelnen ist jedoch umstritten, auf welche Weise dies rechtskonstruktiv erreicht wird. Haftung für fremdes Verschulden Manche Haftungstatbestände lassen jemanden für Fremdverschulden haften. Solche Tatbestände sehen keine Entlastungsmöglichkeit vor, da dem in Anspruch Genommenen anders als etwa bei der Haftung für Verrichtungsgehilfen kein eigener Verschuldensvorwurf gemacht wird. Stattdessen handelt es sich um die Verlagerung der Haftung vom unmittelbaren Schädiger auf den Dritten. Verletzung einer Amtspflicht, § 839 BGB Schadensersatzansprüche können auch entstehen anlässlich des Handelns eines Amtswalters in Ausübung seines Amtes. Die Ansprüche leiten sich aus BGB her, wenn Amtspflichten verletzt wurden. Die Norm bildet eine wesentliche Grundlage des deutschen Staatshaftungsrechts. Es ist lediglich fragmentarisch geregelt. Ein Anspruch aus § 839 BGB erfordert das hoheitliche Handeln eines Amtswalters jeglicher Art, wobei der „haftungsrechtliche Beamtenbegriff“ gemäß § 839 BGB in Verbindung mit GG zugrunde liegt, beziehungsweise das fiskalische Handeln eines Beamten im „staatsrechtlichen“ Sinne im Sinne von § 839 BGB. Ohne diese Norm würde ein Beamter für widerrechtliche und schuldhafte Schadenszufügung nach §§ 823, 826 BGB haften. Die Anspruchsgrundlagen werden durch § 839 BGB allerdings verdrängt. Aus der Zusammenfassung des Handelns eines Amtswalters in § 839 BGB wird deutlich, dass es des Begriffes des „Beamten“ in einem Beamtenverhältnis nicht bedarf. Amtswalter können danach auch Privatpersonen sein, die für den Staat etwa durch Beleihung tätig werden, etwa TÜV-Prüfer Zivildienstleistende oder Abschleppunternehmer. Voraussetzung ist allerdings, dass der Amtswalter die Rechtsgutsverletzung nicht gelegentlich seines öffentlich-rechtlichen Handelns begeht, sondern in konkreter Ausübung seines Amtes. Insoweit muss ein innerer Zusammenhang zwischen Amt und Handeln bestehen. Ferner erfordert die Norm die rechtswidrige und schuldhafte Verletzung einer Amtspflicht, die gegenüber einem Dritten besteht. Darunter fallen etwa die Pflicht zu rechtmäßigem Verwaltungshandeln, die Nichtbegehung unerlaubter Handlungen im Sinne der §§ 823 ff. BGB, die sachgerechte und vollständige Auskunftserteilung gegenüber den Bürgern und die Einhaltung der Amtsverschwiegenheit. Amtspflichten müssen damit nicht allein, zumindest aber auch dem Schutz des Bürgers dienen. Die Drittrichtung des Pflichtenkreises umfasst die konkret betroffenen Rechtsgüter oder Interessen des Geschädigten mit persönlicher und sachlicher Schutzrichtung. § 839 Absatz 1 Satz 2 BGB enthält eine Subsidiaritätsklausel und bestimmt, dass keine Haftungsbeschränkungen eingreifen dürfen. Der Amtsträger kann im Falle fahrlässigen Handelns nur in Anspruch genommen werden, wenn der Geschädigte nicht auf andere Weise Ersatz erlangen kann. Der Gesetzgeber schuf diese Regelung, um zu vermeiden, dass Amtsträger aus Angst vor persönlicher Haftung ihr Amt zögerlich und ineffektiv ausüben. § 839 Absatz 3 BGB legt dem Geschädigten die Obliegenheit auf, den Schaden durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden. Der Geschädigte muss sich also durch rechtzeitiges Ersuchen um Rechtsschutz darum bemühen, den Eintritt des Schadens abzuwenden. Tut er dies schuldhaft nicht, schließt dies seinen Anspruch aus. § 839 Absatz 2 BGB privilegiert in Anspruch genommene Richter. Diese haften im Falle einer Amtspflichtverletzung nur, wenn ihre Amtspflichtverletzung eine Straftat darstellt, etwa eine Rechtsbeugung ( StGB). Das hoheitliche Handeln eines Amtswalters im haftungsrechtlichen Sinne bedeutet, dass § 839 BGB nicht allein als Anspruchsgrundlage greift, sondern neben GG tritt. Über Artikel 34 GG wird die von § 839 BGB angeordnete Haftung des Beamten unter bestimmten Voraussetzungen auf den Staat oder die mittelbare Staatsverwaltung (Anstalten, Körperschaften) übergeleitet, für die der Beamte gehandelt hat. Eine solche Haftungsüberleitung im Sinne der Amtsübertragungstheorie erfordert stets, dass der Beamte in hoheitlicher Funktion tätig geworden ist. Hieran fehlt es, wenn Beamte im statusrechtlichen Sinn privatwirtschaftlich tätig werden. Sachverständigenhaftung, § 839a BGB BGB enthält eine Regelung zur Haftung gerichtlich bestellter Sachverständiger. Sachverständige trifft eine Schadensersatzpflicht für gerichtliche Entscheidungen, die auf einem fehlerhaften Gutachten beruhen. Allerdings beschränkt sich deren Haftung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit als besonders schwere Form der Fahrlässigkeit, da der gerichtliche anders als der private Sachverständige keine Haftungsbeschränkung durch Vertrag aushandeln kann. Haftung aus Unrecht in widerleglich vermutetem Verschulden Die in den §§ 823–826, 830 und 839 BGB geregelten Ansprüche setzen voraus, dass der Anspruchsgegner die Schädigung verursacht hat, betreffend die Haftung aus verschuldetem Unrecht. In bestimmten Fällen hat der Anspruchsgegner Schäden zu vertreten, die ein Dritter verursacht hat. Das Gesetz spricht in diesen Fällen vom Unrecht bei widerleglich vermutetem Verschulden. Anknüpfungspunkt der Schadensersatzhaftung ist dabei der Vorwurf, dass der Anspruchsgegner nicht hinreichend sichergestellt hat, dass ein ihm zuzurechnender Dritter niemanden schädigt. Da das Verschulden des Anspruchsgegners vermutet wird, braucht der Anspruchsteller selbiges nicht nachzuweisen. Haftung für Verrichtungsgehilfen, § 831 BGB Die Haftung für den Verrichtungsgehilfen ist in BGB geregelt und einschlägig, wenn jemand mit Wissen und Wollen des Geschäftsherrn in dessen Geschäftsbereich weisungsabhängig tätig ist und dabei jemandem einen Schaden verursacht. Der Geschädigte kann sich gegen den Geschäftsherrn (§§ 831 BGB) und gegen den Verrichtungsgehilfen (§§ 823–826 BGB) wenden. Gegen die Inanspruchnahme aus § 831 BGB kann sich der Geschäftsherr dadurch verteidigen, dass er sich exkulpiert. Er muss den Nachweise erbringen, dass er seinen Verrichtungsgehilfen ordnungsgemäß ausgewählt und angeleitet hat oder dass die Schädigung auch dann eingetreten wäre, wenn der Geschäftsherr seinen Verrichtungsgehilfen hinreichend sorgfältig ausgewählt und überwacht hätte. Verrichtungsgehilfen handeln weisungsabhängig, was typischerweise für Arbeitsverhältnisse zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gilt. In größeren Betrieben kommt der „dezentrale Entlastungsbeweis“ zum Tragen. Der Unternehmer hat die gegen ihn stehende Vermutung verschuldeten Verhaltens dahingehend zu widerlegen, dass ihn nach herrschender Meinung hinsichtlich Auswahl und Aufsicht über eine andere leitende Person, die seine Pflichten wahrnimmt, kein Vorwurf trifft. Eine vollständige Entlastungskette bis hin zum Verrichtungsgehilfen ist insoweit nicht notwendig. Allerdings kommt bei Entlastung grundsätzlich ein Organisationsverschulden im Rahmen der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten gemäß § 823 Absatz 1 BGB in Betracht. Haftung für Aufsichtspflichtige, § 832 BGB Ein Anspruch aus Absatz 1 BGB kommt in Betracht, wenn ein Schaden durch eine Person entsteht, die der Aufsicht eines Dritten untersteht. Eine solche Aufsicht besteht beispielsweise zwischen Eltern und Kind. Auch § 832 Absatz 1 BGB begründet eine Vermutung, dass die aufsichtspflichtigen Eltern ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen sind, sofern sie den Verschuldensvorwurf nicht widerlegen. Der Umfang „angemessener Aufsicht“ richtet sich nach dem Einzelfall. Maßgebliche Faktoren sind Alter, Eigenart und Charakter des Kindes. § 832 Absatz 2 BGB erstreckt die Haftung kraft Gesetzes auf vertraglich vereinbarte Aufsichtspflichten. Dies trifft etwa auf Kindergärtner und Tagesmütter zu. Haftung des Tierhalters, § 833 Satz 2 BGB BGB verpflichtet den Halter eines Tieres zum Ersatz von Schäden, die dieses Tier verursacht. Die Haftung beruht auf der Überlegung, dass von Tieren die Gefahr unvorhersehbaren Verhaltens ausgeht und erfasst jedes vom Menschen unkontrollierbare oder gar unsteuerbare tierische Verhalten, etwa das Durchgehen eines Pferdes und den Flug einer Taube in eine Flugzeugturbine. Das Aufhetzen eines Tieres führt zur Verschuldenshaftung des Verursachers aus § 823 BGB. Der Tierhalter kann sich gemäß § 833 Satz 2 BGB vom Verschuldensvorwurf entlasten. Hierzu muss er den Entlastungsbeweis entsprechend den §§ 831, 832 BGB führen, indem er nachweist, dass entweder das Tier mit der gebotenen Sorgfalt beaufsichtigt wurde oder dass die mangelnde Beaufsichtigung des Tieres nicht für den Schadenseintritt ursächlich war. Diese Exkulpation ist jedoch nur bei Haustieren möglich, die als Nutztier dienen. Ausgeschlossen ist sie bei der Schädigung durch ein Luxustier, also einem Tier, das weder zu beruflichen noch zu sonstigen Erwerbszwecken gehalten wird. Ebenfalls ausgeschlossen ist der Entlastungsbeweis bei Tieren, die keine Haustiere darstellen, etwa Honigbienen. BGB erstreckt die Haftung des Tierhalters auf den Tieraufseher. Dieser kann anders als der Halter bei allen Arten von Tieren den Entlastungsbeweis führen. Haftung des Grundstücksbesitzers, § 836 BGB Der strukturell mit den Haftungstatbeständen der §§ 831–833 BGB verwandte Absatz 1 BGB normiert die Haftung für den Einsturz eines Gebäudes oder die Ablösung eines Gebäudebestandteils. Anspruchsgegner ist der Besitzer des Grundstücks. Diesem muss der Geschädigte nachweisen, dass der Einsturz oder die Ablösung auf die fehlerhafte Errichtung oder mangelhafte Unterhaltung des Gebäudes zurückzuführen ist. Das Verschulden des Anspruchsgegners wird vermutet. Auch die Vermutung des § 836 Absatz 1 BGB ist widerleglich. Aufgrund hinreichender Sorgfaltspflichterfüllung hätte vom Gebäude keine Gefahr ausgehen dürfen. Der über § 836 Absatz 2 BGB in Anspruch genommene frühere Besitzer kann darüber hinaus zu seiner Verteidigung anführen, dass der spätere Besitzer die Gefahr durch sorgfältiges eigenes Verhalten hätte abwenden können. Ferner kann der Anspruchsgegner seine Haftung vermeiden, indem er nachweist, dass die mangelnde Sorgfalt nicht kausal für den Schaden war. § 836 Absatz 2 BGB ermöglicht die Inanspruchnahme des früheren Grundstücksbesitzers, sofern das schädigende Ereignis innerhalb eines Jahres nach Beendigung seines Besitzes eintritt. BGB erstreckt diese Haftung auf den Besitzer des Gebäudes, BGB auf denjenigen, der zum Unterhalt des Gebäudes verpflichtet ist. Eine solche Unterhaltspflicht kann aus vertraglicher Übernahme oder einem Nutzungsrecht am Grundstück resultieren. Neben die Haftung nach § 836 BGB kann eine Haftung nach § 823 BGB treten, möglich ist auch eine Haftung nach den Grundsätzen der Verkehrssicherungspflichtkreise. Haftung aus Gefährdung In einigen Bereichen sieht das deutsche Recht eine verschuldensunabhängige Haftung auf Schadensersatz vor, die sogenannte Gefährdungshaftung. Die Vorschriften dieses Typs setzen tatbestandlich – ebenso wie § 823 Absatz 1 BGB – Verletzungshandlungen an Lebens- beziehungsweise Rechtsgütern voraus. Die Verpflichtung auf Leistung von Schadensersatz tritt allerdings ohne Rücksicht auf Unrecht und Verschulden ein. Zumeist knüpft die Gefährdungshaftung am „Betrieb“ einer potentiell gefährlichen Einrichtung an. Der Betriebsbegriff ist nicht als einer der Maschinen- oder Motortechnik zu verstehen, sondern rein verkehrstechnisch. Betriebsgefahr kann ebenso von einem stehenden Kraftfahrzeug oder von einem abgeschalteten Presswerk ausgehen. Als besonders gefahrgeneigt erachtet der Gesetzgeber etwa Kraftfahrzeuge (§ 7 StVG), Eisenbahnen (§ 1 des Haftpflichtgesetzes), Energieanlagen (§ 2 des Haftpflichtgesetzes), Kernkraftwerke ( AtG) und Luftfahrzeuge ( des Luftverkehrsgesetzes). Diese Rechtsmaterien sind daher in je eigenen Gesetzen geregelt. Schädigt der Betrieb eines solchen Objekts einen Dritten, haftet der Betreiber auf Schadensersatz, ohne dass es für diesen in Bezug auf den eingetretenen Schaden absehbar gewesen sein muss. Bei der in § 833 Satz 1 BGB geregelten Tierhalterhaftung handelt es sich um eine Gefährdungshaftung, soweit das Gesetz die Führung des Entlastungsbeweises ausschließt. Schließlich normiert des Arzneimittelgesetzes eine Gefährdungshaftung für den Verkehr mit Arzneimitteln. Straßenverkehr, § 7 Absatz 1 StVG Absatz 1 StVG begründet einen Schadensersatzanspruch gegen den Halter eines Kraftfahrzeugs. Als Halter gilt, wer die rechtliche und tatsächliche Verfügungsgewalt über das Fahrzeug hat. Der Anspruch erfordert eine Schädigung, die beim Betrieb eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers eingetreten ist. Hierfür kommen alle Schädigungen in Betracht, die darauf beruhen, dass eine vom Kraftfahrzeug ausgehende Gefahr das Schadensgeschehen mitverursacht hat. Ausgeschlossen ist die Halterhaftung, wenn der Unfall auf höherer Gewalt beruht, § 7 Absatz 2 StVG. Hier ist nicht der Betrieb des Kraftfahrzeugs für das unvorhersehbare und unvermeidbare Ereignis ausschlaggebend, sondern ein außergewöhnliches Naturereignis (Betriebsfremdheit). Vorhersehbar sind Umstände aber dann, wenn man nach allgemeiner Lebenserfahrung mit ihnen rechnen muss, wozu verkehrswidriges Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer zählen kann, insbesondere dasjenige von Kindern. Damit verkürzt sich der Anwendungsbereich von § 7 Absatz 2 StVG. Gesetzgeberische Zielschutzgruppe ist der nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer, insbesondere die Kinder. Nutzt ein anderer als der Halter das Fahrzeug, ohne dass dieser davon weiß, haftet nach § 7 Absatz 3 Satz 1 StVG grundsätzlich nicht der Halter, sondern der Fahrer aus § 7 Absatz 1 StVG. Diese Ausnahmeregelung ist beispielsweise bei Fahrzeugdiebstählen einschlägig. Hat es der Halter allerdings zu vertreten, dass der Fahrer das Fahrzeug in Gebrauch nimmt, haften sowohl er als auch der Fahrer. Auf § 7 Absatz 1 StVG baut die in Absatz 1 StVG geregelte Haftung des Fahrzeugführers auf. Anders als § 7 StVG ermöglicht diese Norm dem in Anspruch Genommenen, der Haftung zu entgehen, indem er nachweist, dass er die Rechtsgutsverletzung nicht verschuldet hat. Aufgrund dieser Entlastungsmöglichkeit handelt es sich bei § 18 Absatz 1 StVG um einen Fall der Haftung für vermutetes eigenes Verschulden. Produkthaftung, § 1 Absatz 1 Satz 1 ProdHaftG Bei der Produkthaftung handelt es sich um die Haftung des Herstellers eines Produkts für Schäden, die darauf zurückzuführen sind, dass das Produkt (einen) Fehler aufweist. Diese Haftung ist im Produkthaftungsgesetz (ProdHaftG) normiert, das Ende 1989 in Kraft getreten ist und eine europäische Richtlinie umsetzt. Gemäß Absatz 2 ProdHaftG steht die Produkthaftung unabhängig neben der Produzentenhaftung nach § 823 Absatz 1 BGB. Produkte im Sinne des Produkthaftungsgesetzes sind nach ProdHaftG bewegliche Sachen sowie Elektrizität. Darüber hinaus findet das Gesetz Anwendung auf Software. Einen Fehler weist ein Produkt nach ProdHaftG auf, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die der Nutzer beim bestimmungsgemäßen Gebrauch erwarten durfte. Hierbei knüpft die Rechtsprechung an die Fehlerkategorien der Produzentenhaftung an. Die berechtigte Erwartung bemisst sich unter anderem am typischen Nutzerkreis, an der Gestaltung des Produkts sowie an dessen Bewerbung. Führt der Fehler zur Schädigung von Leben, Körper, Gesundheit oder Eigentum, kann der Geschädigte aus § 1 Absatz 1 Satz 1 ProdHaftG gegen den Hersteller des Produkts, gegen denjenigen, der sich durch das Anbringen eines Kennzeichens am Produkt als dessen Hersteller ausgibt oder gegen den Importeur vorgehen. Lässt sich eine solche Person nicht ermitteln, kann sich der Geschädigte nach Absatz 3 ProdHaftG an den Lieferanten wenden. Wegen der geringen Anspruchsvoraussetzungen unterliegt die Produkthaftung einigen Beschränkungen. Nach ProdHaftG trägt der Geschädigte im Falle einer Sachbeschädigung 500 Euro selbst. Absatz 1 ProdHaftG beschränkt die maximale Haftung bei Personenschäden auf 85 Mio. Euro. Zudem kann die Haftung vollständig ausgeschlossen sein, wenn ein Ausschlussgrund nach § 1 Absatz 2 ProdHaftG vorliegt, etwa wenn das Produkt nach den einschlägigen Rechtsvorschriften hergestellt wurde. Verjährung Die Verjährungsfrist eines deliktischen Anspruchs beginnt grundsätzlich nach Absatz 1 BGB am Ende des Jahres, in dem der Geschädigte von Schaden und Schädiger Kenntnis erlangt oder diese ohne grobe Fahrlässigkeit hätte erlangen müssen. Sie beträgt gemäß BGB drei Jahre. Kennt der Geschädigte Schaden oder Schädiger nicht, ohne dass dies auf grober Fahrlässigkeit beruhte, verjährt der Anspruch gemäß § 199 Absatz 3 Nummer 1 BGB spätestens innerhalb von zehn Jahren nach Schadenseintritt. Beruht der Schadensersatzanspruch auf einer Verletzung von Leben, Körper, Gesundheit oder Freiheit, verlängert sich die Verjährungsfrist gemäß § 199 Absatz 2 BGB auf dreißig Jahre. Internationales Privatrecht Welche Rechtsordnung bei Sachverhalten mit Auslandsbezug anzuwenden ist, richtet sich im Ausgangspunkt nach der europäischen Rom-II-Verordnung. Nach deren Absatz 1 ist auf deliktische Ansprüche das Recht des Ortes anzuwenden, an dem der Schaden entstanden ist. Dies gilt nicht, wenn Schädiger und Geschädigter einen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthaltsort oder eine offensichtlich engere Beziehung zum Recht eines anderen Staates haben, beispielsweise ein diesem Recht unterworfenes Vertragsverhältnis. Dann ist das Recht dieses Staats einschlägig. In bestimmten Fällen ist die Rom-II-Verordnung nicht anwendbar. Dies ist etwa bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Fall. Die Verordnung klammert diesen Rechtsbereich aus ihrem Anwendungsbereich aus, da sich die Mitgliedsstaaten diesbezüglich nicht auf eine einheitliche Regelung einigen konnten. Außerhalb des Anwendungsbereichs der Rom-II-Verordnung richtet sich die Frage, welches Recht anwendbar ist, nach des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche (EGBGB). Gemäß Art. 40 Absatz 1 Satz 1 EGBGB ist grundsätzlich das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Schädiger seine Schädigungshandlung vorgenommen hat. Tritt der Schaden im Geltungsbereich einer anderen Rechtsordnung ein, kann der Geschädigte allerdings wählen, ob er anstelle des Rechts des Handlungsorts das Recht des Orts des Schadenseintritts wählt. Literatur Christian Katzenmeier, Christof Muthers, Christian Huber: §§ 823–853. In: Ansgar Staudinger: §§ 823–853. In: Gerhard Wagner, Hans-Jürgen Papier: §§ 823–853. In: Einzelnachweise
10180552
https://de.wikipedia.org/wiki/B.R.M.%20P15
B.R.M. P15
Der B.R.M. P15 (alternative Schreibweise: BRM P15, gelegentlich auch: Type 15) war der erste Formel-1-Rennwagen des 1947 gegründeten Herstellers British Racing Motors (B.R.M.) aus Bourne (Lincolnshire). Das Auto entstand als Gemeinschaftsprojekt mit Unterstützung zahlreicher britischer Unternehmen und sollte als britisches Nationalprojekt und World Beater die italienische und französische Konkurrenz im Grand-Prix-Sport schlagen. Die Entwicklung des Autos wurde von der Presse intensiv und mit teilweise euphorischen Berichten begleitet. Der Wagen, der wegen seines anspruchsvollen Sechzehnzylindermotors in der Literatur auch einfach B.R.M. V16 genannt wird, erfüllte allerdings die Erwartungen seiner Konstrukteure und der Öffentlichkeit nicht. Wiederholt musste das Auto vor dem Beginn eines Rennens zurückgezogen werden, und einige Renneinsätze scheiterten unter spektakulären, teilweise demütigenden Umständen. Deshalb gilt der B.R.M. P15 als einer der großen Flops der Formel-1-Geschichte. Seine Erfolglosigkeit gilt letztlich als ausschlaggebend dafür, dass die Automobil-Weltmeisterschaft 1952 und 1953 nicht mit Formel-1-Rennwagen ausgetragen wurde. Entstehung und Verlauf des Projekts Konzept der kollektiven Entwicklung British Racing Motors wurde 1947 von dem britischen Rennfahrer Raymond Mays und dem Ingenieur Peter Berthon ins Leben gerufen. Dahinter stand die Idee, verschiedene britische Firmen zu einem nationalen Motorsportprojekt zu vereinen. Mays hatte in der Vorkriegszeit den privaten britischen Rennwagenhersteller English Racing Automobiles (ERA) geleitet und war für dessen Werksteam auch Rennen gefahren. Seinerzeit waren die englischen Konstruktionen denen der französischen, italienischen und deutschen Hersteller unterlegen gewesen, die gleichsam als Vertreter ihrer Nationen aufgetreten und jedenfalls teilweise staatlich unterstützt worden waren. Während des Krieges entwickelte Mays die Idee, ein britisches Nationalteam aufzubauen. Nach Kriegsende propagierte er seine Vorstellungen landesweit und erhielt Unterstützung von der britischen Regierung. Ab 1947 beteiligten sich auch zahlreiche britische Unternehmen an dem Projekt. Zu ihnen gehörten Rolls-Royce, English Steel und Lucas Industries. Einige Betriebe entwickelten oder produzierten kostenlos Bestandteile des Rennwagens, andere erbrachten Sachleistungen. Der Beitrag der Austin Motor Company bestand beispielsweise in der Überlassung eines Renntransporters. Wie viele Zulieferer es insgesamt waren, ist unklar. Die meisten Quellen gehen von etwa 150 bis 160 Unternehmen aus, Raymond Mays sprach zehn Jahre nach der Beendigung des Projekts von 350. Zur Finanzierung und Überwachung des Projekts wurde der British Racing Motor Research Trust gegründet, der Geld- und Sachspenden auch von der Bevölkerung sammelte. Insgesamt soll im Wege des Crowdfunding ein Budget von jährlich 25.000 GBP zusammengekommen sein, was angesichts dessen, dass B.R.M. für die Konstruktion und die Renneinsätze gleichermaßen verantwortlich war, als Minimalbugdet angesehen wird. Mays behauptete später, der Trust hätte bis Ende 1952 insgesamt etwa 160.000 GBP gesammelt. Die Begeisterung der britischen Bevölkerung für das Projekt ging zeitweise so weit, dass unbeteiligte Privatiers Konstruktionsvorschläge einreichten und anboten, bei der Suche nach Fehlern behilflich zu sein. Bedeutungslosigkeit nach Regeländerung Die Entwicklung und der Zusammenbau des Autos zogen sich über mehrere Jahre hin. Es dauerte zweieinhalb Jahre, bis der P15 fahrbereit war. Ab 1950 nahm das Team an Rennsportveranstaltungen teil. Der P15 war bei Wettbewerben in der Klasse, für die er bestimmt war, erfolglos. 1950 und 1951 war er nur zu einzelnen Formel-1-Rennen gemeldet. Lediglich eines von ihnen hatte Weltmeisterschaftsstatus, alle anderen Veranstaltungen waren weltmeisterschaftsfreie Rennen. Der mangelnde Erfolg des B.R.M. P15 war eine der Ursachen dafür, dass die Fédération Internationale de l’Automobile (FIA) die Automobil-Weltmeisterschaft, die bis dahin für die Formel 1 ausgeschrieben war, ab 1952 in der Formel 2 austrug. Nachdem sich Alfa Romeo Ende 1951 aus dem Motorsport zurückgezogen hatte, waren für die Saison 1952 nur noch Ferrari und B.R.M. als Formel-1-Konstrukteure verblieben. Als B.R.M. zum ersten Formel-1-Rennen des Jahres 1952 nicht antrat, ging die FIA davon aus, dass in diesem Jahr nur Ferrari werksseitig in der Formel 1 vertreten sein würde, und befürchtete eine unattraktive Weltmeisterschaft. Um dies zu verhindern, schrieb sie die Automobil-Weltmeisterschaft 1952 und 1953 für die Formel 2 aus, in der es einen breiteren Unterbau an Konstrukteuren gab. Für B.R.M. bedeutete dies, dass der P15, der für die Formel 1 konstruiert worden war, nun in der Weltmeisterschaft keine Rolle mehr spielte. Andererseits hatte das Unternehmen keinen Rennwagen, der geeignet war, in der jetzt maßgeblichen Formel 2 an der Automobil-Weltmeisterschaft teilzunehmen. B.R.M. zog sich daraufhin für zwei Jahre aus der Weltmeisterschaft zurück und bestritt mit dem P15 nur Nebenrennen in Großbritannien, Kontinentaleuropa und Neuseeland. Nach dem P15: Organisatorischer Neuanfang Ende 1952 wurde der British Racing Motors Research Trust aufgelöst. Der Unternehmer Alfred Owen, der mit seinem Konzern Rubery Owen von Beginn an zu den Unterstützern des Projekts gehört hatte, übernahm das Team. Unter Owens Leitung entwickelte B.R.M. 1953 den P15 zum P30 weiter, der ab 1954 bei einigen weltmeisterschaftsfreien Rennen eingesetzt wurde. Mit eigenen Konstruktionen nahm das B.R.M.-Team, das nun als Owen Racing Organisation firmierte, erst 1956 wieder an der Formel-1-Weltmeisterschaft teil und nutzte dabei den neu konstruierten P25, der als eine in jeder Hinsicht einfache Konstruktion angesehen wird und damit das Gegenteil des P15 darstellte. Konstruktion Chassis und Karosserie Die Chassiskonstruktion galt als simpel und konzeptionell den 1930er-Jahren entlehnt; Kritiker meinten, das Chassis des P15 sei „eher ein Blick in die Vergangenheit als in die Zukunft.“ Der P15 hatte einen einfachen Rohrrahmen mit zwei Längsholmen mit 2,5 Zoll (ca. 64 Millimeter) Durchmesser und mehreren Querstreben. Seitlich waren Rohrausleger befestigt, die die Karosseriebleche trugen. Der Rahmen wurde bei Rubery Owen hergestellt. Die Vorderräder waren an einer Kurbellenkerachse aufgehängt und mit einer Spindellenkung versehen, hinten gab es eine De-Dion-Achse. Die neuartigen Gasfedern lieferte Lockheed. In der britischen Motorsportliteratur finden sich Hinweise darauf, dass Peter Berthon bei der Konstruktion der Aufhängung auf Merkmale von Mercedes- und Auto-Union-Rennwagen der Vorkriegszeit zurückgriff. Bis 1951 war der P15 an allen vier Rädern mit Trommelbremsen ausgestattet, ab 1952 wurden Scheibenbremsen eingesetzt. Die Karosserie des P15 wurde bei Standard entworfen, einem Großserienhersteller für Pkw aus Coventry. Sie hatte für ihre Zeit ungewöhnlich gerade Linien. Sie wurde wiederholt überarbeitet, insbesondere wurden wegen anhaltender Überhitzungsprobleme bald zusätzliche Lüftungsöffnungen in die Motorabdeckung geschnitten, und ab Sommer 1952 war die anfangs ovale vordere Kühleröffnung deutlich größer dimensioniert. Es gab zwei separate Kraftstofftanks. Der größere, 25 Gallonen (113 Liter) fassende Tank war zwischen dem Cockpit und dem Motor oberhalb der Beine des Fahrers untergebracht, der kleinere mit einem Fassungsvermögen von 15 Gallonen (68 Liter) hinter dem Fahrersitz. Antrieb Im Gegensatz zum Fahrwerk war der von Peter Berthon und Harry Mundy entworfene Antrieb des P15 sehr komplex konstruiert. Der Motor war ein Sechzehnzylinder-V-Motor mit einem Bankwinkel von 135 Grad und Trockensumpfschmierung. Block und Zylinderköpfe bestanden aus Leichtmetall. Konzeptionell waren es zwei an ihren jeweiligen Rückseiten miteinander verbundene Achtzylinder-V-Motoren. Die zehnfach gelagerte Kurbelwelle war zweiteilig. Jeweils vier Zylinder mit nassen Laufbuchsen aus Grauguss waren unter einem Zylinderkopf zusammengefasst. Die Kraft wurde mittig abgenommen, dort saß auch der Zahnradtrieb für die vier obenliegenden Nockenwellen. Der Hubraum belief sich auf insgesamt 1496 cm³ (Bohrung 49,53 mm, Hub 47,8 mm). Anfangs war eine Benzineinspritzung geplant, sie wurde allerdings nicht verwirklicht. Stattdessen bereiteten zwei große SU-Vergaser das Gemisch auf. Für jeden Zylinder gab es ein Ein- und ein Auslassventil. Der Motor wurde mit einem zweistufigen Radialverdichter aufgeladen, den Rolls-Royce zulieferte. Seine Konstruktion war vom Ladegebläse des Flugmotors Rolls-Royce Merlin abgeleitet. Er rotierte mit vierfacher Kurbelwellendrehzahl und wurde von der Abtriebswelle über eine Zahnradübersetzung angetrieben. Das Zündsystem kam von Lucas Industries. Insgesamt gab es vier Zündverteiler für jeweils vier Zylinder. Die Versorgung des Motors mit Gemisch war zeitweise problematisch; Ursache dafür waren fehlerhaft berechnete Ventile. Das Fünfganggetriebe war quer eingebaut und saß hinter dem Fahrer an der Hinterachse. Die Angaben zur Motorleistung sind sehr unterschiedlich. Zielvorgabe waren 600 bhp (447 kW) bei 15000 Umdrehungen pro Minute; dieser Wert wurde aber zweifelsfrei zu keiner Zeit erreicht. Werksseitig behauptete B.R.M., der Motor leiste im Renntrimm etwa 550 bhp (410 kW). Diese Angaben wurden von vielen Publikationen übernommen. Der Motorsporthistoriker Mike Lawrence legt unter Berufung auf interne Werksdokumente dagegen weit geringere Leistungsdaten zugrunde. Danach habe der Motor bei seinem ersten Renneinsatz tatsächlich nur 330 bhp (246 kW) geleistet. In seiner letzten Entwicklungsstufe 1953 habe die maximale Leistung schließlich 440 bhp (328 kW) betragen; dies sei etwa so viel gewesen wie die Leistung eines unaufgeladenen Ferrari-Motors. Messungen von Rolls-Royce-Ingenieuren aus dem Jahr 1950 belegten, dass die Nebenaggregate sehr viel Leistung schluckten; der Leistungsverlust lag bei mehr als 50 Prozent. Ein weiteres Problem bestand darin, dass die maximale Motorleistung jedenfalls in den ersten Jahren nur in einem sehr schmalen Drehzahlbereich anfiel. Lackierung In den ersten Jahren waren alle P15 in einem hellen Grün lackiert. Im August 1952 änderte das Team die Farbe in den dunkleren Ton British Racing Green. Produktion Die Fertigstellung des ersten P15 zog sich über mehr als zwei Jahre hin. Insgesamt wurden vier Fahrzeuge gebaut, und zwar ein Prototyp und die drei Produktionsmodelle „No. 1“, „No. 2“ und „No. 3“. Der Prototyp wurde Ende November 1949 fertiggestellt, ein halbes Jahr nach der Komplettierung des ersten Motors. Der Prototyp wurde nur bei zwei Testfahrten auf dem nahe beim B.R.M.-Werk gelegenen Militärflughafen Folkingham am 29. November und am 15. Dezember 1949 sowie bei einer Demonstrationsrunde beim Großen Preis von Großbritannien 1950 eingesetzt. Das Auto existiert noch. Das Produktionsmodell Nr. 1 war im August 1950 einsatzbereit. Das Auto wurde bis zum September 1953 regelmäßig bei Rennen an den Start gebracht. Mit ihm erzielte das Team beim Woodcote Cup 1950 den ersten Sieg. Sein letztes Rennen war die Hastings Trophy 1953. Auch dieses Fahrzeug existiert noch. Das Produktionsmodell Nr. 2 erschien im September 1950 und blieb bis zum April 1954 im Einsatz. Ken Wharton beschädigte es bei einem Unfall bei der Glover Trophy 1954 schwer. Das Auto wurde danach verschrottet. Das Produktionsmodell Nr. 3 wurde im August 1952 fertiggestellt. Es debütierte bei der National Trophy mit Reg Parnell und fuhr dort einen Sieg ein. Ken Wharton zerstörte das Auto im Mai 1953 beim Großen Preis von Albi. Nach dem Rennen wurde der Wagen zerlegt. Er bildete die Grundlage für das erste Exemplar des P30. Die beiden noch existierenden Exemplare sind heute im Besitz von Museen. Das Fahrzeug Nr. 1 steht im National Motor Museum in Beaulieu, das zweite in Tom Wheatcrofts Donington Grand Prix Collection im Donington Park Circuit. Renngeschichte Die Renneinsätze des B.R.M. P15 waren enttäuschend. Das Ziel, mit dem P15 in der Formel 1 gegen Ferrari und andere Konkurrenten bestehen zu können, verfehlte B.R.M. Die Renngeschichte des P15 war insbesondere in den ersten Jahren geprägt von zurückgezogenen Meldungen und Defekten, die auch nach damaligen Maßstäben skurril anmuteten und das gesamte Projekt in den Bereich des Dilettantismus rückten. Das Auto, das als World Beater gedacht war, wurde nur zu einem einzigen Weltmeisterschaftslauf der Formel 1 gemeldet und nahm auf die Titelvergabe faktisch keinen Einfluss. Zwar gab es ab 1952 wiederholt Rennteilnahmen und auch Siege – Raymond Mays sprach insoweit von einem zwischenzeitlich abgeschlossenen Reifeprozess –; die Bedeutung dieser Wettbewerbe war aber tatsächlich gering. Es handelte sich dabei nämlich um Rennen, die allesamt außerhalb der Weltmeisterschaften stattfanden, nur über kurze Distanzen gingen und oft reine Amateurveranstaltungen waren. Zu dieser Zeit orientierte sich B.R.M. nicht mehr an Ferrari oder Gordini, sondern betrachtete in erster Linie den britischen Thin Wall Special als Konkurrenten, den es zu schlagen galt. Diese Ausrichtung hatte auch eine persönliche Dimension: Tony Vandervell, der Initiator des Thin Wall Special, war zunächst ein Unterstützer B.R.M.s gewesen, hatte sich nach mangelnden Fortschritten 1949 aber von dem Projekt zurückgezogen und engagierte sich nun mit einer schrittweise modifizierten Konstruktion auf Ferrari-Basis im Grand-Prix-Sport. 1950: Ernüchternder Beginn Kein Weltmeisterschaftslauf Anfängliche Planungen gingen von einem Debüt des B.R.M. P15 beim Großen Preis von Großbritannien 1950 aus, dem ersten Weltmeisterschaftslauf der Formel-1-Geschichte, der im Mai 1950 in Silverstone stattfand. Das Auto war zu dieser Zeit – drei Jahre nach Beginn der Entwicklung – allerdings noch nicht wettbewerbstauglich, sodass es nicht zum Rennen gemeldet wurde. Raymond Mays fuhr in Anwesenheit von Mitgliedern des britischen Königshauses lediglich einige Demonstrationsrunden vor dem Beginn des Rennens, das von Alfa Romeo und Talbot dominiert wurde. Demütigung bei der International Trophy Die erste Meldung erfolgte dann im August 1950 zur BRDC International Trophy, einem Formel-1-Rennen, das keinen Weltmeisterschaftsstatus hatte. Das B.R.M.-Werksteam meldete zwei Wagen für Raymond Sommer und Raymond Mays. Im Vorfeld des Rennens erlitten beide Autos bei Testfahrten Motorschäden, woraufhin Raymond Mays sich für einen Rückzug des Teams einsetzte. Auf Druck des British Motor Racing Research Trust, dessen Mitglieder zunehmend ungeduldig wurden, reparierten die Mechaniker eines der Fahrzeuge über Nacht, damit wenigstens Raymond Sommer an den Start gehen konnte. Um sich zu qualifizieren, legte Sommer im Vorfeld des Rennens drei Runden zurück, fuhr dabei aber, um das Material zu schonen, mit stark gedrosselter Geschwindigkeit. Für den zweiten Lauf des Rennens wurde ihm der letzte Startplatz zugewiesen. Unmittelbar nach dem Start brach an Sommers Auto die Antriebswelle, sodass sich der B.R.M. nur wenige Zentimeter aus eigener Kraft bewegte. Die Zuschauer warfen daraufhin zum Spott und in Anspielung auf das von B.R.M. betriebene Crowdfunding Münzen in Sommers Cockpit. Das Debüt des B.R.M. P15 wurde von den Teammitgliedern als Demütigung empfunden. Es erinnerte manche Beobachter an das Scheitern des mit großem Aufwand gebauten französischen Rennwagens CTA-Arsenal bei seinem ersten Rennen beim Großen Preis von Frankreich in Lyon 1947. Erfolge bei Nebenrennen in Goodwood Erfolgreicher war der Einsatz des Werksteams einen Monat später auf dem Goodwood Circuit, auf dem am gleichen Tag zunächst der Woodcote Cup und danach die Goodwood Trophy ausgetragen wurden. Beide Veranstaltungen hatten nichts mit der Formel-1-Weltmeisterschaft zu tun. Der Woodcote Cup war ein Formula-Libre-Rennen, die Goodwood Trophy ein Formel-1-Rennen ohne Weltmeisterschaftsstatus. In beiden Rennen ging Reg Parnell mit dem B.R.M. P15 an den Start. Parnell gewann bei strömendem Regen den über fünf Runden gehenden Woodcote Cup und erzielte damit den ersten Erfolg für das B.R.M.-Projekt. Auch die über 12 Runden gehende Goodwood Trophy ging an Parnell, der damit zwei Rennen an einem Tag gewann. Beobachter führen aber relativierend an, dass er sich nur gegen „schwache Konkurrenz“ durchsetzen musste und der P15 lediglich die Renntauglichkeit des Wagens für eine Dauer von insgesamt 30 Minuten bewiesen habe, während die Wettbewerbsfähigkeit über eine ganze Grand-Prix-Distanz, die mindestens viermal so lang war, weiter offen sei. Zudem seien starker Wind und Regen dem nach wie vor zur Überhitzung neigenden P15 in Goodwood entgegengekommen. Ausfall in Spanien Das letzte Rennen des Jahres war die weltmeisterschaftsfreie 1950er Ausgabe des Gran Premio de Penya Rhin auf dem Circuit de Pedralbes in Barcelona. B.R.M. meldete hier zwei Autos für Reg Parnell und Peter Walker. Im Qualifikationstraining erreichte Parnell eine Bestzeit, die sieben Sekunden über dem Ferrari von Alberto Ascari lag. Beide Fahrer fielen nach technischen Defekten aus: An Parnells Auto brach in der dritten Runde der Kompressor, bei Walker trat nach 33 Runden ein Ölleck im Getriebe auf. 1951: Nur ein Rennen 1951 wurde zu einem problematischen Jahr für B.R.M. In den Wintermonaten 1950/51 war die Arbeit am P15 wegen fehlender finanzieller Mittel vollständig zum Erliegen gekommen – der neu ins Team aufgenommene Ingenieur Tony Rudd bezeichnete diese Phase rückwirkend als „B.R.M.s Winterschlaf“ –, sodass der Rennstall im Grunde nicht für die neue Weltmeisterschaft vorbereitet war. Letztlich bestritt B.R.M. mit dem P15 in der Saison 1951 nur ein Rennen. Das Team hatte den P15 zwar vor Beginn der Saison 1951 für Prinz Bira zum Großen Preis der Schweiz und zum Großen Preis von Frankreich gemeldet, trat aber zu keinem dieser Rennen an. Die Einsätze scheiterten an fehlenden Motoren. B.R.M. hatte zu Jahresbeginn einige Testfahrten in Folkingham durchgeführt. Dabei waren mehrere Motoren beschädigt worden. Daraufhin fehlten dem Team zunächst die nötigen Ersatzteile für die Reparatur oder den Neuaufbau von Motoren. Großer Preis von Großbritannien Der einzige Wettbewerb, an dem B.R.M. 1951 teilnahm, war der Große Preis von Großbritannien. Es war der einzige Weltmeisterschaftslauf des P15. Der Einsatz bei diesem Rennen folgte auf großen Druck der Öffentlichkeit, die das B.R.M.-Projekt zunehmend kritisch verfolgte und, angeheizt durch die Presse, unbedingt Erfolge erwartete. B.R.M. meldete zum Großen Preis von Großbritannien in Silverstone zwei P15 für Reg Parnell und Peter Walker. Wegen technischer Probleme konnte keiner der Fahrer am Zeittraining teilnehmen; sie mussten daher aus der letzten Startreihe ins Rennen gehen. Der inzwischen 40 Jahre alte Parnell kam mit fünf Runden Rückstand auf den Sieger auf Platz fünf, dem letzten Punkterang, ins Ziel, Walker wurde mit sechs Runden Rückstand Siebter. Während des Rennens erlitten beide Fahrer Verbrennungen an den Füßen, weil keine ausreichende Isolierung des Auspuffs vorgesehen war. Während des Rennens vermieden beide Fahrer Vollgasfahrten, weil die Füße bei durchgetretenem Gaspedal zu dicht an den heißen Auspuff kamen. Parnells Durchschnittsgeschwindigkeit lag mit 90,5 Meilen pro Stunde etwa 6 mph unter der des Siegers José Froilán González (Ferrari). Scheitern in Monza Den anschließenden Großen Preis von Deutschland ließ das Team aus. Die britische Öffentlichkeit erwartete einen Auftritt des B.R.M.-Teams Für den Großen Preis von Italien, bei dem sich der World Beater mit seinen italienischen Konkurrenten auf deren Heimstrecke messen sollte. B.R.M. meldete zwei Autos für Reg Parnell und den B.R.M.-Testfahrer Ken Richardson, der Peter Walker ersetzen sollte, dessen Verbrennungen aus dem Silverstone-Rennen noch nicht verheilt waren. Parnell und Richardson nahmen in Monza am Zeittraining teil und qualifizierten sich für die Startplätze acht (Parnell) und zehn. Richardson erhielt vom zuständigen Royal Automobile Club (RAC) allerdings nicht die notwendige Starterlaubnis. Zwar hatte er viele Testkilometer für B.R.M. zurückgelegt, doch konnte er keinerlei Erfahrung in einem Automobilrennen aufweisen. Daraufhin gab B.R.M. sein Cockpit an den zufällig in Monza anwesenden Hans Stuck, der einige Testrunden drehte, bevor das Getriebegehäuse brach. Nach erfolglosen Versuchen, das Getriebe wieder aufzubauen, zog B.R.M. beide Fahrzeuge vor Rennbeginn zurück. Teamchef Mays fürchtete, bei einer Wiederholung des Defekts könnten herumfliegende Teile Zuschauer verletzen. Zum letzten Weltmeisterschaftslauf in Spanien trat das Team trotz vorheriger Meldung nicht mehr an. Daneben gab es 1951 nur eine Meldung für ein Formel-1-Rennen ohne Weltmeisterschaftsstatus. B.R.M. kündigte einen Auftritt bei der Goodwood Trophy im September 1951 an, erschien dort allerdings nicht. 1952: Keine Zielankunft bei einem Formel-1-Rennen 1952 nahm B.R.M. nicht an der Automobil-Weltmeisterschaft teil, weil der P15 nicht dem Reglement der nun maßgeblichen Formel 2 entsprach. Neben den Weltmeisterschaftsläufen gab es weltweit 35 Formel-1- oder Formel-2-Rennen, die keinen Weltmeisterschaftsstatus hatten. B.R.M. beschränkte sich 1952 darauf, einen oder zwei P15 zu vier dieser Nebenrennen zu melden. Hinzu kamen einzelne Starts bei Formula-Libre-Rennen. Formel 1 Zum Jahresbeginn waren drei Exemplare des P15 für den Gran Premio Valentino in Turin angekündigt, die Stirling Moss, Ken Wharton sowie der amtierende Formel-1-Weltmeister Juan Manuel Fangio fahren sollten. Tatsächlich erschien das Team überhaupt nicht, weil stattdessen in England Testfahrten mit Fangio durchgeführt werden sollten. Teamchef Mays gestand rückblickend ein, dass der Rückzug von diesem Rennen eine folgenschwere Fehlentscheidung war. Beim Großen Preis von Albi in Südfrankreich am 1. Juni 1952 startete Fangio erstmals für B.R.M. Das zweite Auto fuhr José Froilán González. Fangio und González belegten inmitten einer Konkurrenz, die überwiegend aus privaten Ferraris und älteren Talbot-Lagos bestand, die besten Startplätze; im Zeittraining stellte Fangio zudem einen neuen Rundenrekord auf, der den bisherigen Rekord um 11 Sekunden unterbot. Im Rennen setzte sich Fangio zunächst an die Spitze, und González, der schlecht gestartet war, lag nach drei Runden an zweiter Stelle. Keiner von ihnen konnte allerdings das Rennen beenden. Beide schieden nach überhitzungsbedingten Motordefekten aus. Nur eine Woche später startete B.R.M. mit Fangio und Stirling Moss bei der Ulster Trophy. Dieses terminlich eng auf das südfranzösische Rennen folgende Engagement in Nordirland war auf politische Entscheidungen zurückzuführen: Ein Mitglied des British Motor Racing Research Trust hatte dem nordirischen Premierminister das Erscheinen des B.R.M.-Teams zugesichert. Die in Albi beschädigten Motoren wurden vor dem Rennen in einer Garage in Belfast ausgetauscht. Die Arbeiten dauerten so lange, dass sowohl Fangio als auch Moss das Zeittraining verpassten, sodass sie auf dem Dundrod Circuit schließlich von der letzten Reihe aus starteten. Moss fiel nach vier Runden wiederum infolge eines überhitzten Motors aus, und bei Fangio traten Probleme mit der Benzinversorgung auf, derentwegen er ebenfalls vor Rennende aufgeben musste. Bei der Daily Mail International Trophy, die Anfang August 1952 auf dem Boreham Circuit im südenglischen Essex ausgetragen wurde, kam es zu einer erneuten „Erniedrigung“ des Teams: In dem Rennen, in dem Formel-1- und Formel-2-Autos gegeneinander antraten, fiel Froilán González gleich zu Beginn nach einem Fahrfehler aus, und Ken Wharton, der den zweiten P15 fuhr, erlitt nach 58 Runden einen Getriebeschaden. Formula-Libre-Rennen An den enttäuschenden Lauf in Boreham schlossen sich noch einige Engagements des B.R.M.-Teams bei Formula-Libre-Rennen an, die überwiegend erfolgreich waren. Hierbei handelte es sich im Gegensatz zu den Formel-1-Rennen jeweils um bloße Kurzstreckenrennen, bei denen die Zuverlässigkeitsprobleme des P15 nicht nachhaltig zum Tragen kamen. Zwar scheiterten beide Autos des Teams zunächst noch der BRDC Formula Libre Trophy in Silverstone an technischen Defekten. Auf dem Flugplatz in Turnberry aber gewann Reg Parnell dann die Scottish Daily Express National Trophy gegen schwache Konkurrenz, und einen Monat später siegte Froilán González bei dem über fünf Runden (12 Meilen) gehenden Woodcote Cup in Goodwood. Am gleichen Tag nahmen drei B.R.M.-Piloten die ersten drei Plätze beim Daily-Graphic-Formula-Libre-Rennen ein. Im Oktober 1952 schließlich lag Ken Wharton bei der Glasgow Daily Herald Formula Libre 1952 zeitweise auf der führenden Position, fiel dann aber nach einem Fahrfehler aus. 1953 In der Saison 1953 trat das B.R.M.-Werksteam außerhalb Großbritanniens nur zum nicht zur Weltmeisterschaft zählenden Großen Preis von Albi an, für den Formel-1- und für Formel-2-Autos gleichermaßen zugelassen waren. Als Werksfahrer waren Fangio, Froilán González und Wharton gemeldet. Der Grand Prix d’Albi wurde in zwei getrennten Läufen und einem abschließenden Finale ausgetragen. Fangio gewann den zweiten Lauf, Wharton wurde im zweiten Lauf Zweiter. Alle drei B.R.M.-Fahrer kamen ins Finale. Froilán González kam im Finale als Zweiter ins Ziel, seine beiden Teamkollegen hingegen fielen aus. An Fangios Auto versagten in der 10. Runde des Finales die Bremsen, Ken Wharton verunglückte in der 12. Runde schwer, als er mit einer Geschwindigkeit von 140 mph von der Strecke abkam und sich mehrfach überschlug. Sein Auto wurde stark beschädigt und im weiteren Verlauf des Jahres nicht wieder aufgebaut. Abgesehen davon startete BRM mit dem P15 bei einigen britischen Formula-Libre-Rennen. Im April 1953 gewann Ken Wharton ein Begleitrennen zur Glover Trophy, im Juni beendeten Fangio und Wharton ein Begleitrennen zum Großen Preis von Großbritannien auf den Plätzen zwei und drei, wobei die Konkurrenz vor allem aus Vorkriegsfahrzeugen und Formel-2-Autos bestand. Weitere Siege gab es für Wharton bei der AMOC Trophy in Snetterton und dem zwei Stunden später am gleichen Ort stattfindenden USA Invitation Race, ferner bei der Newcastle Journal Trophy im schottischen Charterhall und im Oktober 1953 bei der Hastings Trophy in Castle Combe. In seinen Memoiren betonte Raymond Mays, dass der P15 zu dieser Zeit problemlos und zuverlässig lief. Allerdings waren auch die Formula-Libre-Rennen des Jahres 1953 schwach besuchte Wettbewerbe, die nur über kurze Distanzen gingen. 1954 In den ersten Monaten des Jahres 1954 hatte der P15 seine letzten Auftritte, bevor er durch den P30 ersetzt wurde. B.R.M. meldete den Wagen für Ken Wharton im Januar 1954 zum ersten Großen Preis von Neuseeland, wo er in erster Linie gegen lokale Fahrer und ältere bzw. schwächer motorisierte Autos, die vielfach Eigenbauten waren, antrat. Wharton fuhr zeitweise mit einem nicht voll funktionsfähigen Auto, weil er nach einem Defekt der vorderen Bremsen in der zweiten Hälfte des Rennens allein die hinteren Bremsen nutzen konnte. Nach anfänglichen Unstimmigkeiten über den Sieger wurde Wharton als Zweiter gewertet. Einen Monat später wurde er Dritter bei der Lady Wigram Trophy; dabei hatte er einen Rückstand von fünf Minuten auf den Sieger Peter Whitehead im Ferrari. Letztmals erschien der P15 bei zwei kurzen Formula-Libre-Rennen in Goodwood, die als Rahmenrennen für den nach den aktuellen Formel-1-Regeln ausgeschriebenen Lavant Cup durchgeführt wurden. Die über fünf bzw. 25 Runden gehenden Rennen wurden als Glover Trophy und Chichester Cup bezeichnet. Beide Rennen gewann Wharton im P15. Weiterentwicklung: B.R.M. P30 Ab 1954 war die Automobil-Weltmeisterschaft 1954 wieder für die Formel 1 ausgeschrieben, folgte aber einem im Vergleich zu den früheren Jahren geänderten Reglement. B.R.M. wollte unter der Leitung des neuen Inhabers Alfred Owen mittelfristig wieder an der Formel 1 teilnehmen, hatte aber zu Saisonbeginn 1954 kein dem neuen Reglement entsprechendes Auto. Zunächst arbeitete das Team in dieser Zeit mit dem B.R.M. P30, der eine weiterentwickelte Version des P15 darstellte und gelegentlich auch als P15 Mark II bezeichnet wird. Der Wagen galt als Interimsmodell, das die Zeit bis zur Präsentation eines völlig neuen Formel-1-Autos überbrücken sollte. Mit dem P30 wollte B.R.M. außerhalb der Weltmeisterschaftsrennen erste Erfahrungen mit leichteren, kürzeren Rennwagen sammeln. Antriebstechnisch gab es keine Änderungen, insbesondere übernahm der P30 den Sechzehnzylinder-V-Motor des P15. Der Radstand war allerdings kürzer (2311 mm), und das Auto war etwa 90 kg leichter als der P15. Zudem hatte der P30 kleinere Tanks. Änderungen gab es schließlich bei der Aufhängung und den Bremsen. Der B.R.M. P30 startete 1954 bei zwölf und 1955 bei sieben Formula-Libre-Rennen. Fahrer waren Ken Wharton, Ron Flockhart und Peter Collins. 1954 gab es vier Siege, im folgenden Jahr noch einmal zwei. Gründe des Scheiterns Der B.R.M. P15 wird überwiegend als ein enttäuschendes Auto angesehen. Juan Manuel Fangio wird zwar mit den Worten zitiert, der B.R.M. P15 sei „das fantastischste Auto, das ich jemals gefahren bin“. Das blieb aber ein vereinzeltes Lob. Stirling Moss hingegen bezeichnete den P15 als das schlechteste Rennauto, das er jemals gefahren sei. Die Fachliteratur geht größtenteils davon aus, dass der B.R.M. P15 ein fehlgeschlagenes Projekt war. Für das Scheitern werden unterschiedliche Gründe angeführt. Raymond Mays’ Konzept, möglichst viele Fachbetriebe in das B.R.M.-Projekt einzubinden, gilt rückblickend als verfehlt. Es führte nicht zur erhofften Bündelung von Kompetenz, vielmehr lag in diesem Ansatz eine wesentliche Schwäche. Zunächst hemmte die dezentrale Entwicklung und Konstruktion der einzelnen Bauteile durch verschiedene unabhängige Unternehmen das Vorankommen des Projekts, denn die Herstellung kostenloser Komponenten für BRM genoss bei den Zulieferern keine Priorität. Die späte Lieferung eines einzelnen Teils konnte eine Kettenreaktion auslösen. So verzögerte sich etwa der Anbau der bereits fertigen Kupplung um mehrere Monate, weil die notwendigen Verbindungsstücke nicht vom Hersteller der Kupplung bezogen wurden, sondern von einem unabhängigen Lieferanten, der diese Teile seinerseits noch nicht fertiggestellt hatte. Darüber hinaus gab es Schwierigkeiten mit der Koordination: Jeder Zulieferer baute seine Komponenten nach eigenen Vorstellungen. Probleme der Anpassung an die Teile anderer Hersteller wurden oft nur ungenügend und mit hohem Zeitaufwand gelöst. Vielfach gab es auch Schwierigkeiten in der Kommunikation der beteiligten Zulieferer untereinander. Der B.R.M. P15 wird deshalb oft als Beispiel dafür genannt, dass „viele Köche den Brei verderben“. Als weiterer Grund des Scheiterns wird die Komplexität des Sechzehnzylindermotors genannt, mit der das kleine B.R.M.-Team überfordert gewesen sei. Rennergebnisse in der Automobil-Weltmeisterschaft Technische Daten Literatur Adriano Cimarosti: Das Jahrhundert des Rennsports, Motorbuch Verlag Stuttgart 1997, ISBN 3-613-01848-9 David Hodges: A–Z of Grand Prix Cars 1906–2001. Crowood Press, 2001, ISBN 1-86126-339-2. David Hodges: Rennwagen von A–Z nach 1945. Stuttgart 1993, ISBN 3-613-01477-7. Mike Lawrence: Grand Prix Cars 1945–1965. Motor Racing Publications, 1998, ISBN 1-899870-39-3. Raymond Mays, Peter Roberts: BRM, Cassell & Company, London, 1962 Pierre Ménard: La Grande Encyclopédie de la Formule 1. 2. Auflage. St. Sulpice 2000, ISBN 2-940125-45-7. Doug Nye: Das große Buch der Formel-1-Rennwagen. Die Dreiliterformel ab 1966. Verlagsgesellschaft Rudolf Müller, Köln 1986, ISBN 3-481-29851-X. Doug Nye, Tony Rudd: B.R.M. The Saga of British Racing Motors. Volume I: The Front Engined Cars 1945–1960. Motor Racing Publications, Croydon 1994, ISBN 0-947981-37-3. Colin Pitt: BRM Cars, Unique Motor Books, Basildon, ISBN 1-901977-41-2 N.N.: Britischer Sechzehn-Zylinder-Rennmotor. In: Automobiltechnische Zeitschrift. 56, Nr. 8, 1954, S. 224–225. Weblinks Die Entwicklungsgeschichte des BRM P15 auf der Internetseite 8w.forix.com Internetauftritt der BRM Association Anmerkungen Einzelnachweise Historischer Rennwagen Rennwagen der Automobil-Weltmeisterschaft 1950 P015
10633936
https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCy%C3%BCkkale
Büyükkale
Büyükkale ( für Große Burg) ist ein Felsrücken in der hethitischen Hauptstadt Ḫattuša. Er war von der frühen Bronzezeit im späten 3. Jahrtausend v. Chr. bis in römische Zeit besiedelt. Schon vor der Ankunft der Hethiter in der Zeit der Hattier existierte eine befestigte Siedlung, ebenso in der Zeit der assyrischen Handelskolonien (Karumzeit). Während des hethitischen Großreichs wurde der Hügel immer weiter bebaut und befestigt und trug in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. den Regierungssitz der hethitischen Großkönige. Auch in späterer phrygischer, hellenistischer und römischer Zeit gab es ummauerte Siedlungen auf dem Büyükkale. Ab dem frühen 20. Jahrhundert wurde der Felsrücken – vornehmlich von deutschen Archäologen – eingehend erforscht und ausgegraben. Für die Hethitologie bedeutsam ist die dortige Burganlage auch wegen einer großen Anzahl an Keilschrifttafeln, die in den Gebäuderesten gefunden wurden und in hethitischer Sprache, aber auch in mehreren anderen Sprachen verfasst sind. Forschungsgeschichte Bereits der französische Reisende Charles Texier, der 1834 die Ruinen bei Boğazköy entdeckte und sie für die Überreste des antiken Pteria hielt, verzeichnete die Burg auf seinem Stadtplan unter der Bezeichnung Esplanade. Der britische Geologe William John Hamilton, der 1836 den Ort besuchte, berichtet als erster über die Gruben bzw. Zisternen auf dem Gelände und über zahlreiche Keramikscherben. Auf dem genaueren Plan Carl Humanns von 1882 ist die Festung als Böjük Kale eingetragen. Mit dem französischen Archäologen Ernest Chantre begannen die ersten Grabungen auf Büyükkale. Nachdem er 1893 einzelne Tontafelfragmente mit Keilschrift gefunden hatte, unternahm er im folgenden Jahr eine Sondage, wahrscheinlich im westlichen Teil des Hügels. Diese Funde erregten allgemeines Interesse, da sie weitergehende Aufschlüsse über Zusammenhänge im alten Orient versprachen. Daraufhin reiste der deutsche Altorientalist Hugo Winckler 1905 nach Boğazköy, wo er gemeinsam mit Theodor Makridi bis 1907 Ausgrabungen unternahm, vermutlich an der gleichen Stelle wie Chantre, wobei sie ihr Hauptaugenmerk allerdings auf die Keilschrifttexte richteten und die Architektur weitgehend unbeachtet ließen. Dabei kamen zahlreiche Tontafeln ans Tageslicht, die Winckler zu dem Schluss brachten, dass es sich bei den Ruinen von Boğazköy um Ḫattuša, die Hauptstadt des hethitischen Großreichs handeln müsse. Die selbst für die damalige Zeit unsystematischen und unpublizierten Ausgrabungen wurden zumindest in Teilen von Otto Puchstein, der zur gleichen Zeit vor Ort war, dokumentiert. Von 1907 bis 1931 ruhten – auch im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg – die Arbeiten auf Büyükkale. 1931 nahm der deutsche Prähistoriker Kurt Bittel im Auftrag des Archäologischen Instituts des Deutschen Reichs, des heutigen Deutschen Archäologischen Instituts (DAI), und der Deutschen Orient-Gesellschaft die Grabungen in Boğazköy wieder auf, wobei er sich zunächst auf Büyükkale konzentrierte. Schon in den nächsten zwei Jahren kamen auch große Mengen von Keilschrifttafeln ans Licht. Hauptsächlich diese Funde gaben den Ausschlag dafür, dass die Grabungen bis heute fortgesetzt wurden. Dabei wurden nun auch systematisch Architekturreste aus verschiedenen Schichten ergraben und dokumentiert. Die Grabungsarbeiten gingen unter Bittels Leitung und mit Unterstützung des DAI, der DFG und verschiedener Sponsoren zunächst bis 1939 weiter und wurden nach einer kriegsbedingten Unterbrechung ab 1952 fortgesetzt, nun gemeinsam mit dem Bauforscher und Archäologen Rudolf Naumann. 1954 bis 1966 war Peter Neve für die Büyükkale-Forschungen verantwortlich, der ab 1978 die Gesamtleitung der Grabungen in Ḫattuša übernahm. Sein Nachfolger war ab 1994 Jürgen Seeher, seit 2006 hat Andreas Schachner die Grabungsleitung inne. Funde und Befunde sind ab Beginn des 20. Jahrhunderts regelmäßig in den Schriftreihen Mitteilungen der Deutschen Orient-Gesellschaft zu Berlin und Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Deutschen Orient-Gesellschaft veröffentlicht worden. Die erste Gesamtbestandsaufnahme der Architektur publizierte Peter Neve 1982 unter dem Titel Büyükkale – Die Bauwerke. Die Funde werden im lokalen Museum in Boğazkale, im Museum Çorum und größtenteils im Museum für anatolische Zivilisationen in Ankara ausgestellt. Lage Der aus mesozoischem Kalkstein bestehende Felsrücken gehört als Ausläufer zu einem Bergzug, der das Tal des Budaközü Çayı nach Osten abschließt. Er ist von Südwesten nach Nordosten ausgerichtet, das Hochplateau hat eine Größe von etwa 260 × 150 Metern. Die höchste Erhebung ist eine Felsbarriere im Nordosten mit einer Höhe von 1128 Metern über Meereshöhe. Vor der Bebauung war die Oberfläche wesentlich stärker zergliedert, als es heute erkennbar ist. Durch die baulichen Maßnahmen und natürliche Einwirkungen wurde die Oberfläche deutlich eingeebnet. Vor allem im Norden und Osten ist das Plateau durch steil abfallende Felswände geschützt, im Süden und Westen sind die Abhänge sanfter. Es liegt im östlichen Zentrum des Stadtgebiets von Ḫattuša an der Grenze zwischen Ober- und Unterstadt. Die die Unterstadt von der jüngeren Oberstadt trennende Stadtmauer – Poternenmauer genannt – bildet gleichzeitig die südliche Ummauerung der Festung. Sie umläuft in großem Bogen die Altstadt und schließt von Norden kommend wieder an die nördliche Befestigung von Büyükkale an. Südlich des Hügels liegt die als Südburg bezeichnete Erhebung, die ein Heiligtum mit einer Hieroglyphenkammer und später eine phrygische Befestigung trug. Südwestlich, wo auch der Eingang liegt, führt heute am Fuß des Hügels die moderne Straße vorbei, die vom Löwentor herabkommt. Schräg gegenüber, westlich der Straße, findet sich der Felsen Nişantepe mit der Nişantaş genannten Felsinschrift Šuppiluliumas II. Der Felsrücken bot einen guten Überblick über die Unterstadt und große Teile der Oberstadt. Geschichte Die ältesten Besiedlungsspuren in Ḫattuša stammen aus dem Chalkolithikum im 6. Jahrtausend v. Chr. und sind auf dem Felsrücken Büyükkaya zu finden, nördlich von Büyükkale. Büyükkale selbst war seit der ausgehenden frühen Bronzezeit bewohnt, die ältesten Nachweise sind Vorratsgruben im Süden und Südwesten des Plateaus. Ihre Datierung ist unsicher, nachweisbar ist lediglich die Entstehung vor 2000 v. Chr. Danach begann der Ausbau des Hochplateaus zur Siedlung. Sie beschränkte sich zunächst auf den Südteil, wies aber bereits im 19. Jahrhundert v. Chr. eine Befestigung auf. Als ihre Bewohner kommen die vorhethitischen Hattier in Frage. Mit der Zerstörung der gesamten Stadt Ḫattuša durch Anitta von Kaniš um 1700 v. Chr. ging auch diese Besiedlung auf dem Büyükkale in einer Brandkatastrophe zu Grunde. Die Neubesiedlung setzte etwa 100 Jahre später wieder ein, als die Stadt um 1600 v. Chr. durch Ḫattušili I. neu gegründet wurde. Vermutlich wegen der Raubzüge der Kaškäer errichtete Ḫantili I. an der Wende vom 17. zum 16. Jahrhundert v. Chr. die erste Mauer um die Stadt, die seiner Aussage nach bis dahin ungeschützt war. Sie war wahrscheinlich identisch mit der Poternenmauer, die den südlichen Abschnitt der Befestigung von Büyükkale bildet. Infolge von Thronstreitigkeiten, die schon unter Ḫantili einsetzten, kam es zu einem wirtschaftlichen und politischen Niedergang der Stadt, den wohl Nachbarn ausnutzten, sodass die Stadt erneut gebrandschatzt wurde und anschließend langsam verfiel. Erst durch den Thronfolgeerlass des Telipinu nach 1500 v. Chr. wurde die Thronfolge geregelt, sodass interne Streitigkeiten beendet und die Herrschaft gefestigt wurde, wonach die Stadt neu aufgebaut wurde. Auf dem Büyükkale folgte erstmals ein systematischer Aufbau eines Palastzentrums. Es fiel erst nach 1280 v. Chr., vermutlich im Zusammenhang mit den Thronstreitigkeiten zwischen dem designierten Herrscher Urḫi-Teššup (Muršili III.) und seinem Onkel, dem späteren Großkönig Ḫattušili III., wieder einer Zerstörung zum Opfer. Letzterer sowie sein Sohn und Nachfolger Tudḫaliya IV. zeichneten verantwortlich für den erneuten Aufbau des letzten großreichszeitlichen Palastes, der schließlich mit dem Ende des Hethiterreichs um 1180 v. Chr. wiederum der Zerstörung anheimfiel. Vom 8. bis 6. Jahrhundert v. Chr. sowie in römischer Zeit war das Plateau zwar bewohnt und meist auch befestigt, es erlangte aber nie mehr überregionale Bedeutung. Über eine mögliche weitere Geschichte ist nichts bekannt. Aufbau Der Burghügel wurde in mehreren Bauperioden und Schichten bebaut. Eine erste Einteilung in fünf Schichten entstand bereits in den 1930er-Jahren, wobei von oben nach unten nummeriert wurde: Schicht I Schicht II – beide nachhethitisch Schicht IIIb Schicht IIIa – beide großreichszeitlich Schicht IV – althethitisch Diese Einteilung wurde später mehrfach verändert und erweitert, aber im Grundgerüst trotz einiger Schwächen beibehalten. So waren beispielsweise die – wenn auch nur spärlich vertretene – römische und byzantinische Periode darin nicht erfassbar. Die heutige Einteilung sieht folgendermaßen aus: Die einzelnen Schichten umfassen dabei teilweise noch mehrere Bauphasen. Bei der folgenden Beschreibung ist zu beachten, dass die Zeichnung den Zustand der späten Großreichszeit im 13. Jahrhundert v. Chr. (Schicht III) abbildet. Vorhethitische Zeit Die ältesten Zeugnisse sind mehrere in den anstehenden Lehm eingetiefte runde Gruben, die im Süden und Südwesten des Plateaus neben dem Oberen Burghof, im Bereich der späteren Häuser M und N, gefunden wurden. Von stark divergierender Größe, sind sie zwischen 0,25 und 0,95 Meter tief und haben Durchmesser von 0,60 bis 1,95 Metern. Sie stellten vermutlich Vorratsspeicher dar, die in späterer Zeit als Abfallgruben genutzt wurden. In den Gruben wurden unter anderem Fragmente eines kupferzeitlichen Pithos gefunden, außerdem bemalte Scherben der sogenannten Alişar-III-Ware und monochrome Scherben sowohl handgefertigter als auch auf der Töpferscheibe erstellter Art. Eine genauere zeitliche Einordnung ist bis dato nicht möglich, lediglich eine Entstehung von oder während der Zeit von Schicht V ließ sich feststellen. Aus den vorhethitischen Schichten Vd–g konnten verschiedene Reste von Grundmauern, vornehmlich im südlichen Teil der Plateaufläche, erkannt werden. Sie bestehen aus Bruchsteinen, über ihre Bestimmung sind keine Aussagen möglich. Lediglich eine gegen Süden gerichtete starke Mauer im Bereich des späteren Burgtorhofs scheint eine Wehrmauer darzustellen. Demnach kann schon in dieser Zeit von der Existenz einer Befestigung auf Büyükkale ausgegangen werden. Die Funde sind ähnlich wie in den Gruben handgearbeitete Keramik, Alişar-III-Ware sowie dünnwandige Scheibenware, sogenannte Blumentopfware. Der Schicht Vd wird ein spatelähnliches Bronzegerät zugerechnet. Für Schicht Vc konnten im Bereich des späteren unteren Burghofs mehrere Häuser mit Lehmfußboden nachgewiesen werden, von denen zum Teil nicht nur die Steinfundamente, sondern auch einige Schichten des aufgehenden Mauerwerks aus Lehmziegeln erhalten waren. In dem größten, aus acht Räumen bestehenden Haus, das über drei Terrassen gebaut war, kamen zwei komplett verkohlte Türblätter von 85 × 180 Zentimetern ans Licht. Das Haus war vermutlich der Wohnsitz einer höherstehenden Person. Ein anderes Gebäude hatte wohl zwei Stockwerke. In den Gebäuden wurden Pithoi, Geschirr, Herdstellen, Topfständer, eine steinerne Gussform, eine beinerne Stecknadel, Stempel, verbranntes Getreide und ein menschliches Skelett gefunden. Die Bauten wurden alle in einer Brandkatastrophe vernichtet. Auf Grund von C14-Analysen an den gefundenen Holzteilen werden sie zwischen 1800 und 1600 v. Chr. datiert. Karumzeit Von den vorhethitischen Schichten Va und Vb sind nur noch spärliche Fundamentreste erhalten, da sie durch Umbauten der folgenden Schicht IVd planmäßig überbaut, teilweise abgetragen und planiert wurden. Sie enthielten nur wenige Reste von hand- und scheibengemachter Keramik. Die Datierung ist unsicher. Die Schicht IVd dagegen ist sicher als karumzeitlich zu datieren. Zu ihr gehören zum einen Teile einer über vier Meter breiten Mauer im Bereich des unteren Burghoftores. Sie stellen die ältesten Spuren einer Befestigung auf Büyükkale dar, auch wenn sie wohl teilweise auf dem Schutt einer älteren Mauer errichtet wurden. Zum anderen konnten im süd- und südwestlichen Bereich verschiedene Gebäudereste ergraben werden. Bei den meisten sind nur Mauerfragmente nachweisbar, eine Ausnahme bildet das Gebäude I/IVd. Das Haus hatte eine erhaltene Größe von 23 × 21 Metern und bestand aus mindestens zwölf zum Teil zweigeschossigen Räumen und einem Hof mit Feuerstelle. Im Hof wurde neben reichhaltigen Geschirrfunden ein halbes Geweih eines Rothirsches als Rest einer Mahlzeit gefunden, aber in der Nähe der Herdstelle auch ein Kinderskelett, was eine zusätzliche Verwendung als Begräbnisplatz belegt. Auch die Funde in den Räumen waren reichhaltig. Zu den Keramikfunden gehören wieder Pithoi, verzierte Schnabel- und Henkelkannen, Schalen, bemalte Turmvasen sowie Tierrhyta in Löwen- und Entenform. Es ist sowohl Gebrauchsgeschirr darunter als auch Kultgefäße. Außerdem fanden sich ein Mahlstein, ein Stück Bleiblech und Bronzenadeln. In mehr als hundert Tonklumpen, die in den Wänden verarbeitet waren, waren zahlreiche Siegelabdrücke zu erkennen. Sie hatten einen Durchmesser von einem Zentimeter und zeigten Ornamente und stilisierte Tier- und Menschenfiguren. Der Beginn der Bauschicht IVd wird in die Zeit der assyrischen Handelskolonien (assyrisch karum), genauer ins 19. Jahrhundert v. Chr., datiert. Ihr Ende bestimmte eine verheerende Brandkatastrophe am Übergang vom 18. zum 17. Jahrhundert, beim Überfall Anittas von Kuššara auf Ḫattuša. Frühhethitische Zeit Zur althethitischen Bauschicht IVc gehören Siedlungsreste in verschiedenen Teilen des Plateaus sowie Bauten am südwestlichen Hang des Burgbergs. Dort sind von den Gebäuden nur spärliche Spuren erkennbar, da sie zum größten Teil von der Poternenmauer überbaut sind, die in der letzten Phase von IVc errichtet wurde. Sie stellt die älteste hethitische Stadtbefestigung von Ḫattuša dar. Sie setzte sich von Büyükkale nach Nordwesten fort und umschloss die entstehende Unterstadt. In großem Bogen umlief sie sie – zum Teil vom heutigen Ort Boğazkale überbaut – und schloss im Norden wieder an die dortige Mauer von Büyükkale an. Sie war ohne Mörtel aus zwei etwa 2,7 Meter dicken Wänden aus grob zugerichteten Bruchsteinen erstellt, zur Füllung kamen Schotter und Lesesteine zur Verwendung. Die Gesamtstärke war auf 7,5 Meter ausgelegt. Am südwestlichen Fuß der Erhebung befand sich ein Torbau mit einem inneren Durchgang von 3,6 Metern und einem äußeren von 3,8 Metern Weite. Seitlich gab es zwei Torkammern von 11 Metern Breite, im Osten 3,5 und im Westen 3,0 Meter tief. Die Funde in diesem südwestlichen Bereich unterscheiden sich nicht wesentlich von den älteren, der größte Teil ist auch sekundär verlagert, stammt also aus älteren Bauphasen. Erwähnenswert sind zwei etwa armdicke Tonrohre, die an einem Ende verschlossen sind und eine dünne, düsenartige Durchbohrung aufweisen. Da sie an der Düsenstelle zu Glasfluss verbrannt sind, nehmen die Ausgräber an, dass ihr Zweck die Belüftung von Brennöfen war. Auf der Oberfläche des Berges sind nur geringe Reste der Poternenmauer zu identifizieren. Allerdings zeigt eine weiter östlich gefundene Poterne, dass sich die Mauer nach Osten zumindest 100 Meter weit fortsetzte. Der Tunnel war 37 Meter lang und führte vom südöstlichen Fuß des Burgbergs steil nach oben, um in den Bereich des späteren oberen Burghoftores zu münden. Er war mit zurechtgehauenen Bruchsteinen in Kragsteintechnik spitzbogig gebaut und hatte – wegen der starken Steigung von bis zu 35 Grad – eine Höhe zwischen 4,0 und 4,3 Metern. Eine zusammenhängende Bebauung des Gipfelplateaus ist nur im südlichen Teil zu erkennen. Die zahlreichen Häuser wurden auf dem Schutt der älteren Bauschichten gebaut und wurden selbst wiederum beim Bau der darüberliegenden Schichten planiert, abgetragen oder zerstört. Von vier Häusern ist noch durch Fundamentreste oder dazugehörige Vertiefungen der Grundriss erkennbar, von den anderen sind nur Reste oder Fußböden erhalten. Drei der Gebäude haben mehr als zwei Räume. Etwas weiter nördlich sind nochmals Gebäudespuren feststellbar, die allerdings nicht eindeutig der Schicht IVc zuzuordnen sind. Auffallend ist unter allen gefundenen Bauten eine große Zahl (mindestens sieben) von Zweiraum-Häusern, die sonst im vergleichbaren Zeitraum im Stadtgebiet von Ḫattuša nicht vorkommen. Es gilt als wahrscheinlich, dass es sich mindestens zum Teil nicht um Wohnhäuser, sondern um Werkstätten wie Schmieden gehandelt hat. Der anzunehmende Herrschersitz wird im nordöstlichen Teil von Büyükkale vermutet. Von Bedeutung für die Datierung ist einzig die sogenannte „Manda“-Tafel, ein Fragment einer in Keilschrift beschriebenen Tontafel, deren Inhalt sich auf Ereignisse in der Zeit von Ḫattušili I. bezieht und demnach in dessen Regierungszeit im 16. oder späten 17. Jahrhundert v. Chr. oder kurz danach verfasst sein dürfte. Als Beginn der Neubesiedlung nach dem erwähnten Brand wird die Zeit etwa 100 Jahre nach dem Ende der Karumperiode, also etwa um 1600 v. Chr., angenommen. Die Poternenmauer könnte die Befestigung sein, die Ḫantili I. (um 1520) nach eigener Aussage als erste Stadtmauer gegen die Angriffe der Kaškäer errichten ließ. Großreichszeit In den Schichten IVa und IVb sind erstmals Hinweise auf einen Palast im nördlichen Bereich des Bergplateaus ans Licht gekommen. Der älteste Befund ist das Haus J/IVb, das schon in der Epoche des frühen Großreichs wieder überbaut wurde. Es lag im Bereich des späteren Eingangs zum Haus D und war möglicherweise der Unterbau zu einer frühen Audienzhalle. Ebenfalls zur Periode IVb/a gehören zwei sogenannte Terrassenmauern im Osten und Norden des Berges. Die nordwestliche Mauer, unter den späteren Gebäuden E und F gelegen, ist 85 Meter lang, als Schalenmauer aus zugerichteten, teilweise zyklopischen Steinen ausgeführt. Sie hat eine Stärke von etwa 3 Metern und diente auf dem abschüssigen Terrain vermutlich sowohl als Stützmauer der südöstlich liegenden Gebäude als auch als Fundament darüber errichteter Bauwerke. Südöstlich anschließend wurden auf zwei Meter höherem Niveau einige Mauerreste eines Gebäudes ergraben. Die zweite Terrassenmauer liegt im Osten bei der Felsstufe, auf der Speichergruben gefunden wurden. Sie ist etwa doppelt so lang wie ihr nördliches Pendant, mit mehreren Knicken, wobei ihr Verlauf sich den Abstufungen des anstehenden Felsens anpasst. Ihr Aufbau entspricht dem der nördlichen Mauer, auch die Doppelfunktion als Stützmauer und Fundament dürfte die gleiche sein. Als Hinweis auf darüber stehende Gebäude werden auch die Spuren einer Pfeilerhalle, parallel zur östlichen Terrassenmauer, angesehen. Die Mauern wurden in den folgenden Perioden weiter als Substruktion der späteren Palastbauten genutzt. Für einen Nachfolgebau des Hauses J/IVb liegt ein Datierungsansatz in Form einer im darüberliegenden Schutt gefundenen Tontafel vor. Sie hat den sogenannten Bentešina-Brief zum Inhalt, der mit großer Wahrscheinlichkeit an Ḫattušili III. (Regierungsantritt etwa 1278 v. Chr.) gerichtet war. Er stellt jedoch nur einen terminus ante quem dar und kann nicht als Ende der Periode IVa/b für die restlichen Palastgebäude verallgemeinert werden. Die Bautätigkeit zur Umgestaltung des gesamten Burgbergs in Periode III setzte sicherlich schon früher an. Auf dem Südplateau konnten Reste verschiedener Gebäude (IV/A–H) ergraben werden, die im Bereich des unteren Burghofs im Schutz der Poternenmauer lagen. An letzterer wurden lediglich im Torbereich geringfügige Änderungen vorgenommen. Die Häuser sind in mehreren Phasen nacheinander entstanden und haben unterschiedliche Grundrisse. Zunächst wurden einige Gebäude ohne ersichtlichen architektonischen Zusammenhang, aber mit Verkehrswegen dazwischen erstellt. Anschließend schlossen sich die Häuser, wohl auch wegen des Mangels an verfügbarem Gelände, dichter zusammen und es entstand ein komplexes System von Gassen, Straßen und Kanälen. Bei einem der Häuser (Haus IVb/E), das etwa unter dem späteren Haus N lag, wird eine kultische Funktion vermutet, dort wurde ein bemaltes Paar Stiergefäße gefunden, die durch Füllöffnungen am Nacken und Ausgüsse durch die Nüstern als Libationsgefäße gedeutet wurden, als Gefäße für Trankopfer. Die anderen Häuser waren wohl Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Die meisten enthielten runde oder viereckige Feuerstellen, in Haus F wurden auch zwei Backöfen gefunden. Neben der bekannten Gebrauchskeramik gehörten zu den Funden neben den erwähnten Rhyta in Stierform ein Entenrhython, Pithoi, kleine Bronzegegenstände und verbranntes Getreide. Durch Architekturvergleiche mit datierten Bauten in der Unterstadt von Ḫattuša kann der Beginn von Schicht IVa/b frühestens auf das Ende des 15. Jahrhunderts v. Chr. festgelegt werden. Für das Ende der Periode zeigt der oben genannte Bentešina-Brief einen ungefähren Zeitpunkt an, sodass sich für die Dauer ein Zeitraum von 120 bis 140 Jahren ergibt. Späte Großreichszeit Ab dem späten 13. Jahrhundert v. Chr. begann unter Ḫattušili III. der monumentale Ausbau des Palasthügels. Die Spuren dieser Bebauung, der Schicht III, sind die, die heute hauptsächlich auf Büyükkale zu sehen sind. Befestigung Das komplette Burgplateau wurde nun für Regierungsbauten genutzt und ist an allen Seiten von einer Burgmauer umgeben. Im Südbereich ersetzte sie die frühere Poternenmauer, wurde jedoch nach oben versetzt. West-, Nord- und Ostmauern passten sich den Unebenheiten des Geländes an, auch die Standorte der 21 Türme oder Bastionen richteten sich meist nach vorhandenen Felsvorsprüngen. Der massive Mauersockel bestand aus Bruchsteinen, lediglich im Bereich der Tore und der Turmfassaden kamen Werksteine zum Einsatz. Darüber wurden Holzfachwerk und Lehmziegel verwendet, die auch Räumlichkeiten in der Mauer bildeten. Tore bestanden im Südwesten, Süden und Osten. Der Hauptzugang war das südliche Tor, das aus Südwesten über einen Viadukt erreicht wurde. Sein rekonstruierter steinerner Unterbau ist östlich der heutigen Straße zu sehen. Er trug einen hohen Aufbau aus Lehmziegeln und war vielleicht mit Balken gedeckt, über die auch Pferdewagen fahren konnten. Der Aufweg traf zunächst auf einen vier Meter tiefen Vorhof des Südtores. Dahinter folgten im Abstand von vier Metern zwei Durchgänge, der äußere drei, der innere vier Meter breit. Das Tor wurde von zwei Türmen flankiert, der östliche zwölf, der westliche acht Meter breit. Sie bargen im Westen die Wachstube, im Osten ein Treppenhaus, das in die Obergeschosse und auf den Wehrgang führte. Das Tor ähnelte damit im Aufbau den Toren in der Oberstadtmauer, dem Löwen-, dem Sphinx- und dem Königstor, wenn auch durch die Gegebenheiten in etwas kleineren Abmessungen. Wie das Löwentor war das Südtor mit Löwenskulpturen am äußeren Durchgang ausgestattet. Ein Fragment eines Löwenreliefs wurde am Abhang des Burgbergs gefunden. Ebenfalls in verstürzter Lage wurden vier Fragmente eines Inschriftensteins mit luwischen Hieroglyphen gefunden, die wohl im Mauersockel der Türme verbaut waren. Von der Inschrift ist allerdings zu wenig lesbar, um einen Hinweis für die Datierung geben zu können. Das Südwesttor ist in phrygischer Zeit beim Bau eines Tiefbrunnens komplett zerstört worden, erhalten sind lediglich ein Schwellen- und ein Laibungsstein. Demnach war es kleiner als das Südtor und die Tore der Stadtmauer in der Ober- und der Unterstadt. Das Tor war mit dem dahinter parallel zur Mauer verlaufenden Aufweg die direkte Verbindung in die Unterstadt, die wohl von Lieferanten, aber auch vom König auf dem Weg zu den dortigen Heiligtümern genutzt wurde. Unterhalb des Tors befand sich auch die einzige Quelle, die Büyükkale mit Wasser versorgte. Das zwischen Gebäude K und der von Norden kommenden Mauer liegende Osttor bot unter Umgehung der unteren Burghöfe einen direkten Zugang zum oberen Teil des Palastareals mit den Königsgemächern. Die Burgmauer umschließt als geschlossener Ring den Burgberg, mit Ausnahme der Stelle im Südosten, wo sie von Westen kommend an Gebäude K anschließt, während die von Norden kommende Ostmauer versetzt darauf trifft und dadurch den Durchgang für das Osttor bildet. Im Süden hat die Befestigung eine Stärke von etwa sieben Metern, die Türme sind bis zu zwölf Meter breit. An den anderen Flanken ist das Bauwerk wegen der natürlichen Gegebenheiten sehr unterschiedlich ausgeführt. Zwar war die Mauer selbst einheitlich etwa fünf Meter dick, die Länge der Kurtinen schwankte jedoch zwischen 14 und 41 Metern, die Breite der Türme zwischen 6,9 und 12 Metern, der Vorsprung der Bastionen zwischen 3,5 und 9 Metern. Die Türme überragten durchgängig die Mauer. Abhängig davon, ob Mauern und Türme ein- oder zweigeschossig waren, kann die Höhe auf 10 bis 12 Meter für die Kurtinen und 14 bis 18 Meter für die Türme angenommen werden. Während die südliche Mauer auf den Substruktionen der alten Poternenmauer gegründet war, setzte der Rest der Mauer auf dem gewachsenen Fels auf. Dieser wurde dafür in Stufen zugerichtet, oft mit einem Steg an der Außenseite, der das Abrutschen des Mauersockels verhindern sollte. Auf diesem Sockel aus Werk- und Bruchsteinen setzte dann das zweischalige Mauerwerk aus Holzfachwerk mit Lehmziegeln in Kastenbauweise auf, das heißt in unregelmäßigen Abständen waren Querwände in die Mauer eingezogen. Ob die dadurch entstandenen Räume begehbar waren, ist nicht allgemein zu klären. Die Turmfassaden waren in Werkstein errichtet. Auf der wahrscheinlich mit Tonplatten gepflasterten Oberfläche der Mauer verlief zwischen den Zinnen ein Wehrgang. Zur Datierung der Befestigung stehen zwei Schriftfunde zur Verfügung. Der erwähnte Bentešina-Brief, der in der Erdfüllung gefunden wurde, gibt einen terminus post quem an, zeigt also, dass der Ausbau in der Zeit Ḫattušilis III. (etwa 1266–1236 v. Chr.) oder später vorgenommen wurde. Das Fragment eines Orthostaten mit einer Herrscherkartusche von dessen Sohn Tudḫaliya IV. (etwa 1236–1215 v. Chr.) führt zur Feststellung, dass in dessen Regierungszeit die Bauarbeiten fortgesetzt wurden. Innenbebauung Gleichzeitig mit der Errichtung der Befestigung wurde der Ausbau des Palastes vorangetrieben, sodass schließlich die komplette Oberfläche des Burgfelsens dafür genutzt wurde, die Siedlung im südlichen Bereich verschwand. Über den Viadukt im Süden betrat man durch das Südtor zunächst den etwa dreieckigen Burgtorhof, der im Süden und Westen von der Burgmauer umgeben war. Im Nordosten befand sich der Eingang zum nächsten Hof. Ein rot gepflasterter Weg führte dorthin, vergleichbar dem heutigen roten Teppich, woraus ersichtlich wird, dass hier der offizielle Eingang für Besucher des Herrschers war. Der Weg setzte sich über den unteren Burghof und einen weiteren Torbau zum mittleren und schließlich zum oberen Burghof fort. Der untere Burghof war beidseitig von Säulenhallen begrenzt, die vor den dortigen Gebäuden verliefen. Dies waren auf der linken, nordwestlichen Seite die Gebäude M, N und H, rechts die Gebäude G und A. M und G, die sich auch im Grundriss ähneln, dienten wohl repräsentativen Zwecken beziehungsweise waren Residenzen hochgestellter Hofbeamter. Gebäude N, das links zwischen M und H lag, war ein kleines Torhaus. Dahinter endete der zum Südwesttor hochführende Aufweg, womit hier ein aus der Unterstadt und von der erwähnten Quelle kommender Zugang zum unteren Burghof zur Verfügung stand. Die Gebäude waren, wie nahezu alle Häuser des Burgbergs, mindestens zweigeschossig, wobei wegen der Hanglage meist der Zugang im oberen Stockwerk lag. In der Nordecke des Hofes, vor Gebäude H, befand sich ein Durchgang, der zum Komplex der Häuser B, C und H führte. Dieser Weg verlief zwischen einem Verbindungsbau und Haus B, wendete sich an dessen Ostecke nach Westen, wo dann über eine zwischen B und C verlaufende Gasse die drei Gebäude erschlossen wurden. Bei der Biegung nach Westen gab es außerdem einen – nachträglich eingebauten – Zugang zum großen Repräsentationsbau D. Haus B ist in zehn unterschiedlich große Räume aufgeteilt, die sich dem Gefälle des Untergrunds folgend über verschiedene Ebenen verteilen. In einem der Räume wurden 24 Bruchstücke von Keilschrifttafeln gefunden. Das nordwestlich liegende, etwa quadratische Gebäude C besteht aus sechs Räumen. Neben zahlreichen Keramikteilen wurde hier eine Stele mit einer Hieroglypheninschrift gefunden, die den Namen Tudhaliya (wahrscheinlich IV.) nennt. Sie war allerdings, vielleicht als Schwellenstein, zweitverwendet und ist daher stark abgeschliffen. Der zentrale Raum war kellerartig eingetieft und mit Wasserbecken als Impluvium gebaut. Damit ist eine kultische Funktion des Hauses anzunehmen, wohl gemeinsam mit Haus B. Es war eines der wenigen eingeschossigen Häuser. Südwestlich schließt sich, durch eine Zugangsgasse getrennt, Haus H an. Beide sind durch die nordwestliche Stützmauer miteinander verbunden. H wird mit seinen vier langrechteckigen Räumen in zwei Etagen als Magazin angesehen. Den nordöstlichen Abschluss des unteren Burghofs bildete ein Torbau, der ebenso wie das Südtor von Torlöwen flankiert wurde. Wegen des Niveauunterschieds von etwa einer Geschosshöhe zum folgenden, mittleren Burghof war der Durchgang als Rampe oder – aus Platzgründen wahrscheinlicher – als Treppe gestaltet. Im Bauschutt wurden Fragmente eines liegenden Löwen gefunden, der wohl im Durchgang aufgestellt war, sowie ein Bruchstück mit einer teilweise erhaltenen Herrscherkartusche Tadhaliyas, der demnach als Erbauer der Toranlage angenommen werden kann. Der Torbau war mehrstöckig und enthielt zwölf Räume, die Sockel waren wie beim Südtor aus Werksteinen. Mit dem mittleren Burghof betritt man den inneren Palastbereich. Der Hof war an drei Seiten, im Nordwesten, Nordosten und Südosten von Säulenreihen gesäumt. Den südwestlichen Abschluss bilden das Gebäude A und ein weiteres, kleines Tor in der Südecke des Hofs. Auf der linken, nordwestlichen Seite liegt hinter der Kolonnade das Gebäude D, das nach Süden durch einen Verbindungsbau mit dem Torhaus zusammenhängt. Haus D ist mit 39 × 48 Metern das größte Bauwerk dieser Periode. Es bestand zunächst aus 14 Räumen, in einer späteren Bauphase wurde an der Südecke ein kleiner Raum, der erwähnte Seiteneingang bei Haus B, angebaut sowie im Südosten ein Vorbau mit dem Haupteingang. Ebenfalls im Südosten lagen sechs kleinere Räume, die den Eingang mit dazugehörigen Seitengemächern bildeten. Im Südwesten nimmt ein langgestreckter Raum fast die gesamte Länge des Gebäudes ein. Den Rest des Hauses bilden sechs gleiche, ebenfalls langrechteckige Räume, wobei von einem eine kleinere Kammer abgetrennt ist. Aufgrund der extremen Hanglage weisen ihre Fußböden von Nordwest nach Südost einen Niveauunterschied von über sechs Metern auf. Sie liegen parallel zum Hang im Nordwesten und bilden gemeinsam ein nahezu exaktes Quadrat von 35,3 × 35,5 Metern. Sie stellten den Unterbau des darüberliegenden Audienzsaales des Großkönigs dar, wobei über den Wänden des Untergeschosses Reihen von Säulen oder Pfeilern standen, die die Saaldecke trugen. Aufgrund der Wandabstände können demnach fünf mal fünf Stützen, vermutlich aus Holz, angenommen werden. Im Bereich der Eingangsräume und dem davorliegenden Teil des Hofes wurden zahlreiche Bruchstücke von Skulpturen, Löwen und Stieren, gefunden. Sie waren wahrscheinlich Säulenbasen der vorliegenden Säulenhalle. In den Räumen des Untergeschosses kamen außerdem eine Anzahl von Tontafelbruchstücken und ein Hort von 280 gesiegelten Tonplomben zu Tage. Entsprechend liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei dem Gebäude um ein repräsentatives Empfangsgebäude mit angeschlossenem Dokumentenarchiv handelte. Die langen Räume des Untergeschosses dienten zusätzlich wohl als Lagerräume. Den südwestlichen Abschluss des mittleren Burghofs bildet das Gebäude A, das sich südöstlich an den Torbau anschließt. Es bedeckt eine Grundfläche von maximal 36 × 34 Metern. Es besteht, dem nach Süden abfallenden Gelände entsprechend aus einem oberen und einem unteren Gebäudetrakt. Der obere Trakt hat hauptsächlich zwei, zum mittleren Burghof parallel liegende Langräume, wobei vom südlichen zwei kleine Kammern abgetrennt sind. Eine davon hat im Westen einen Eingang vom unteren Burghof. Der südliche Gebäudeteil, der im Westen an den unteren Burghof anstößt, besteht aus fünf länglichen, quer zum oberen Teil liegenden Räumen. In den vier größeren davon wurden Reihen von Kalkstein- und Granitbasen mit Dübellöchern gefunden. Ob die darauf stehenden Pfeiler der Abstützung der Decke und des Obergeschosses dienten, ist unklar. Wahrscheinlicher ist es, dass sie zu in den Räumen stehenden Regalen gehörten. Im Brandschutt und auf den lehmgestampften Fußböden kamen an die 4.000 Bruchstücke von Tontafeln zu Tage. Das Gebäude wird daher als Magazin und Archiv angesehen, wobei im oberen Trakt vielleicht Verwaltungsräume und eine Schreiberschule untergebracht waren. Im Osten schließt sich ein kleiner Torbau an. Er führt auf einen weiteren Hof, der im Süden durch das Osttor der Burg betreten werden konnte. Dort liegt, in Fortsetzung der von Westen kommenden Burgmauer, das Gebäude K. Dieses hat eine Grundfläche von 27,5 × 22,5 Metern. Es besteht aus einem Kerngebäude mit drei unterschiedlich großen Zimmern sowie elf Kammern, die sich in zwei Reihen im Nordwesten und Nordosten an den Kernbau anschließen. Letztere wurden nach einem Brand des Gebäudes in einer zweiten Bauphase angebaut. In einem Raum des Altbaus wurden in den Ecken wiederum Stützenbasen gefunden, die auf Regale hindeuten. Da im Schutt mehr als 200 Tontafelbruchstücke ans Licht kamen, wird angenommen, das es sich auch hier um ein Archiv handelt. Insgesamt wird dem Bau eher eine repräsentative Funktion zugeordnet, wobei die kleinen, kammerartigen Gelasse an den nördlichen Seiten wohl vorgelagerte Pfeilerhallen darstellten. Diese Funktion könnte mit dem unmittelbar östlich anschließenden Osttor der Burg zusammenhängen. Nordwestlich von Gebäude K liegt der als Südgasse bezeichnete Bereich. Er wird im Süden von K, der Burgmauer und dem darin integrierten Gebäude J begrenzt, im Norden von den Rückseiten von A und G. Von der Südseite von Haus G setzt er sich als schmale, steil abfallende Gasse entlang der Mauer bis zum Burgtorhof fort. Der Bereich war ursprünglich mit Steinen gepflastert und verfügte über einen darunter liegenden Kanal, der über den Burgtorhof zum Westhang hin entwässerte. Zwischen Haus G und der Burgmauer war der Bereich durch eine kurze Mauer von der schmalen Gasse getrennt. In einer späteren Bauphase wurde eine 35 bis 50 Zentimeter dicke Lehmschicht mit darin verlaufender Kanalisation aufgebracht. Die Trennmauer wurde an das Westende zum Burgtorhof hin versetzt, vom Durchgang wurden eine Schwelle und das Türgewände ergraben. Etwa zehn Meter westlich von Haus K war in die Burgmauer das Gebäude J eingebaut. Es war 20 Meter lang und ragt im Norden etwa 2,50 Meter aus der Mauer heraus. Es besteht aus zehn kleinen, unterschiedlichen Räumen, sein südlicher Teil ist mitsamt der Burgmauer abgestürzt. In der Mitte des Südplatzes liegt, etwa parallel zum Haus, ein Wasserbecken. Es misst an der längsten Stelle 24,0 Meter von West nach Ost, die Breite beträgt im Osten 5,0 und im Westen 1,5 Meter. Darin wurden zahlreiche Votivgaben – Henkelkrüge, Becher, Schalen – gefunden. Daraus folgert, dass das Becken und der Platz einschließlich der umliegenden Gebäude unter anderem eine kultische Bedeutung hatten. Eine zusätzliche Funktion des Beckens zur Wasserversorgung der Burg ist jedoch ebenfalls wahrscheinlich. Der südöstliche Abschluss des mittleren Burghofs ist unsicher, vielleicht war er durch eine Pfeilerreihe begrenzt. Über die Bebauung des stark verstürzten Bereichs zwischen dieser angenommenen Trennreihe und der Burgmauer ist nichts bekannt. Im Nordosten schließt sich, vermutlich wiederum durch eine Pfeilerreihe getrennt, der obere Burghof an. Dessen südöstliche Begrenzung stellt eine 24,5 Meter lange und bis zu 2,2 Meter hohe künstliche Felsstufe dar. Davor sind Pfeilerbasen zu erkennen, sowohl direkt an der Barriere als auch – korrespondierend dazu – in einem Abstand von 2 Metern davor liegend, was sicherlich auf eine vorgebaute Pfeilerhalle (L) hindeutet. Auf der östlichen Oberfläche der Felsstufe sind im dort anstehenden Felsen Bebauungsspuren zu erkennen, genauere Angaben über dort vorhandene Gebäude sind jedoch wegen der späteren, phrygischen Überbauung nicht möglich. Es deutet sich an, dass sich die Vorhalle nach Süden fortsetzte und somit den Ostabschluss des mittleren Burghofs bildete. Am Südende der Felsbarriere weisen nach Westen liegende Baureste darauf hin, dass hier nicht nur eine Pfeilerreihe, sondern auch ein Torbau die beiden Höfe getrennt haben könnte. Teile von Türangelsteinen und eines schön ausgearbeiteten Löwenkopfes lassen gar einen monumentalen Torbau mit Torlöwen vermuten. Zwei Vertiefungen auf der Oberfläche der Felsstufe stellten wohl Vorratsgruben oder Zisternen aus früherer, möglicherweise vorhethitischer Zeit dar, ihre genaue Datierung ist unsicher. Wie weit sich der Hof nach Norden und Nordwesten erstreckte, ist nicht geklärt. Auf dem freien Platz im Norden sind keine Bebauungsspuren feststellbar. Im Nordwesten liegen die Gebäude E und F, jedoch ist wegen des Höhenunterschieds von fünf Metern zwischen dem Hof und den Häusern unwahrscheinlich, dass sich der Hof bis an die Gebäude erstreckte. Sie waren zweigeschossig, wobei wieder das Obergeschoss von der Hofseite aus zu betreten war. Der südwestliche Bau E misst 26,6 × 22,2 Meter und hat 13 Räume. Der zentral gelegene, größte von diesen wurde über einen hofseitig vorgelagerten Eingangsraum betreten, der vielleicht als Säulenhalle gestaltet war. Die umliegenden Zimmer hatten, ebenso wie die des Untergeschosses, vermutlich Lager- und Archivfunktionen. In zwei der unteren Zimmer wurden wieder zahlreiche Tontafelfragmente gefunden. Haus F liegt am äußersten Ende der Nordterrasse und hat Maße von 33,1 × 29,2 Meter. Es ist erheblich schlechter erhalten, weshalb sich weniger über die einzelnen Räume aussagen lässt. Das Zentrum bilden fünf parallel liegende langgestreckte Räume. Dies könnte bedeuten, dass sich darüber, analog zu Haus D, eine Säulenhalle befand. Sicher lässt sich sagen, dass beide Gebäude, abseits des repräsentativen Bereichs der Burg, die Privatgemächer des Herrscherpaares darstellten. Beide bieten einen prachtvollen Ausblick über die gesamte Unterstadt und große Teile der Oberstadt von Ḫattuša. Es ist anzunehmen, dass auch die nicht mehr feststellbaren Gebäude im Nordosten des Plateaus zum Privatbereich des Großkönigs gehörten. Zur Datierung der spätgroßreichszeitlichen Bauten wird diese Periode in drei Bauphasen unterteilt, III c, b und a. In der ersten Phase III c, die wohl in die Regierungszeit Ḫattušilis III. (etwa 1266–1236 v. Chr.) fällt, wurden auf den Grundmauern und Substruktionen des alten Palastes im nordöstlichen Bereich neue Gebäude errichtet. Die zweite Phase III b wird in die Zeit Tudhaliyas IV. (etwa 1236–1215 v. Chr.) datiert, der den monumentalen Ausbau der gesamten Palastanlage in Angriff nahm, was auch aus verschiedenen gefundenen Inschriften hervorgeht, die seinen Namen nennen. Phase III a schließlich zeigt zum Teil nachlässige und improvisiert erscheinende Reparatur- und Neubauaktivitäten, wahrscheinlich nach einem Brand, sie lag vermutlich in der Zeit von Tudhaliyas Nachfolgern Arnuwanda III. (etwa 1215 bis 1214 v. Chr.) und Šuppiluliuma II. (etwa 1214 bis 1190 v. Chr.), den letzten bezeugten Herrschern des Hethiterreiches vor dessen Untergang. Die im Verhältnis zu anderen ausgegrabenen Palastanlagen geringe Funddichte bei Einrichtungsgegenständen und sonstigen Fundstücken auf Büyükkale lässt darauf schließen, dass der nach 1190 vollzogene Auszug ohne Fremdeinwirkung in geordneten Bahnen vor sich ging. Die Bewohner waren in der Lage, wichtige Utensilien mitzunehmen und ließen lediglich ihnen unwichtig erscheinende (oder schwere) Gegenstände wie beispielsweise die Tontafeln zurück. Vorhandene Spuren von Bränden wie an den königlichen Palästen stammen wahrscheinlich aus einer Zeit, in der die Stadt bereits verlassen war. In einer Grube bei Gebäude G sowie im Grabungsschutt im Bereich der südlichen Befestigung kamen – ebenso wie in den Tempeln 5 und 9 der Oberstadt – einige Fragmente von Wandmalereien zu Tage. Die kleinen und schlecht erhaltenen Bruchstücke sind zwischen 0,2 und 0,55 Zentimetern dick und bestehen aus ein bis zwei Putzschichten, gelegentlich ist unter der Farbe noch eine weiße Grundierung feststellbar. Die verwendeten Farben sind neben Schwarz und Weiß hauptsächlich Rot, Blau und Ockergelb. An Motiven sind Rosetten, Spiralen und Bänder zu erkennen. Die Malereien werden in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts v. Chr. datiert. Nachhethitische Zeit Nachdem Ḫattuša im frühen 12. Jahrhundert v. Chr. verlassen worden war, waren zwar andere Teile der Stadt, zum Beispiel Büyükkaya, nach einiger Zeit von einfachen, anatolischen Einwohnern wieder besiedelt worden, möglicherweise auch von Kaškäern. Scheibengedrehte Keramik mit deutlich hethitischen Merkmalen führt zu der Annahme, dass in dieser eisenzeitlichen Bevölkerung auch noch hethitische Elemente vertreten waren. Auf Büyükkale jedoch setzte eine Besiedlung erst wieder zu Beginn des 8. Jahrhunderts v. Chr. ein. Dass es sich bei den neuen Einwohnern um Phryger handelte, ist anhand von zahlreichen Funden, darunter auch Inschriften, belegbar. Phrygische Besiedlung In den ersten, nicht vor dem 8. Jahrhundert v. Chr. beginnenden Bauphasen IIb und IIa entstand im Südteil des Plateaus bis hinauf zum ehemaligen oberen Burghof eine unbefestigte Siedlung. Sie bestand vorwiegend aus ein- oder zweiräumigen Häusern, darunter einige sogenannte Grubenhäuser. Bei diesen war ein unterer Teil der Räume ins Gelände eingetieft. Etwas höher gelegen, im Bereich des oberen Burghofes befand sich vermutlich die Residenz des Herrschers. Da die Bauten dieser Phasen zum größten Teil in der folgenden Zeit überbaut wurden, sind nur spärliche Reste davon nachweisbar. Das Ende dieser altphrygischen Phase wurde oft mit den Kimmerer-Einfällen gegen Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. in Verbindung gebracht. Andreas Schachner hält diese Erklärung für unhaltbar, da zum einen die Kimmerer in Zentralanatolien nirgends nachweisbar seien und auch die Datierung der Zerstörung von Gordion, die mit den Kimmerern in Verbindung gebracht wurde, nicht gesichert sei. In dieser Zeit wurde die Unterstadt Ḫattušas zerstört und gebrandschatzt, auf Büyükkale sind davon jedoch keine Spuren feststellbar. Im Zuge der anschließenden erneuten Besiedlung mit den Bauphasen Ib und Ia wurde der Hügel wieder befestigt, sodass nun erstmals ein kompletter Stadtkomplex mit Siedlung, Herrscherpalast und Stadtmauern auf dem Büyükkale Platz fand. Die Befestigungsmauern entstanden im Südwesten, Süden und Südosten und folgten, lediglich etwas nach oben versetzt, der hethitischen Anlage. Im Unterschied dazu waren sie jedoch nicht in Kastenbauweise, sondern massiv und damit insgesamt schwächer gebaut. Bis auf wenige Ausnahmen waren sie auch vollständig aus Bruchsteinen errichtet, Ziegel wie bei der hethitischen Mauer kommen nur an einem Torbau vor. Die Abstände zwischen den Türmen waren sehr unterschiedlich, die Kurtinen hatten Längen von bis zu 35 Metern. Die Türme, die vermutlich die Mauern überragten, waren nicht in sie integriert, sondern eigenständige Baukörper. Die Kurtinen waren an sie heran oder dahinter vorbei geführt. Die Befestigung hatte im Westen und Südosten jeweils ein älteres und ein jüngeres Tor. Davon ist das jüngere Südosttor bemerkenswert, da es durch seine monumentale Ausgestaltung an die hethitischen Toranlagen erinnert. Neben Opferplätzen und Bildwerken konnte dort eine Kultnische festgestellt werden, in der eine Statue der Kybele stand. Von einem Brunnen, der bei der Quelle am Südwesthang des Hügels angelegt wurde, führt ein Treppenaufgang zur Südwestbastion. Die Innenbebauung ist in der jünger-phrygischen Epoche in drei Abschnitte aufgeteilt, die durch zwei Mauern erfolgte, eine von Nord nach Süd und eine zweite, im nördlichen Teil winklig daran nach Osten anschließende. Im nördlichen Bereich, etwa identisch mit dem hethitischen oberen Burghof, lag der Palast. Er hatte insgesamt Trapezform und maß von West nach Ost etwa 30 Meter, von Nord nach Süd zwischen 16 Meter im Osten und 25 Meter im Westen. Er wurde von einem Hof im Norden durch eine Art Vorhalle betreten, die aus fünf kleinen Gelassen bestand. Der zentrale Raum von 8 × 11 Metern war von Räumen in Doppelreihen umgeben. Den südlichen Abschluss bildete die genannte Abschnittsmauer, im Westen lagen verschiedene, dazu gehörige Wirtschaftsgebäude. Die beiden anderen Abschnitte waren Wohnquartiere. Dabei gab es eine Reihe von rechteckigen Gebäuden, die als Werkstätten, Magazine und auch Verwaltungs- und Kultgebäude interpretiert werden. Bei anderen, weniger rechtwinklig angelegten Häusern handelte es sich um reine Wohngebäude. Allgemein verdichtete sich in dieser späteren Phase die Bebauung, die sich nach einem durch die Tore bestimmten Wegesystem richtete, was zu der unregelmäßigen Bauweise führte. Im Unterschied zur hethitischen Zeit sind die phrygischen Häuser ausschließlich aus Bruchsteinen erbaut, von Lehmziegeln sind keine Spuren erhalten. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass in möglicherweise vorhandenen, aber nicht nachweisbaren Obergeschossen solche zum Einsatz kamen. Der Beginn der zweiten phrygischen Bebauungsphase wird auf den Anfang des 7. Jahrhunderts v. Chr. datiert. Ihr Ende lag wahrscheinlich frühestens am Übergang vom 6. zum 5. Jahrhundert, als das Südosttor zerstört wurde. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass die Siedlung noch – unbefestigt – lange danach weiter bestand. Hellenistische und römische Bebauung In hellenistischer und römischer Zeit existierte nochmals eine befestigte Siedlung auf dem Büyükkale, von der allerdings nur spärliche Reste erhalten sind. Dazu gehören zwei Mauersockel einer Befestigung im Südosten und Südwesten, jedoch ohne Türme oder Bastionen. Sie bestand wie die phrygische Mauer aus Schalenmauerwerk mit einer Verfüllung aus Geröll. An zwei Stellen gibt es an die Mauer anschließende Gebäudespuren, die wahrscheinlich zu Räumen für Wachmannschaften gehörten. Andere Mauerreste im Inneren der Befestigung könnten Wohnräume darstellen. Durch Kleinfunde lassen sich die Gebäude auf hellenistische beziehungsweise römische Zeit datieren. Der Beginn dieser Bebauungsperiode kann auf das späte 2. Jahrhundert v. Chr. datiert werden, das Ende wohl in die spätere römische Kaiserzeit im 3. Jahrhundert n. Chr. Es gibt keine Hinweise auf eine längere Bebauungspause zwischen phrygischer und hellenistischer Zeit. Einzelfunde wie Münzen und Keramik aus byzantinischer, seldschukischer und osmanischer Zeit bestätigen, dass sich auch in späteren Epochen Menschen auf Büyükkale aufhielten. Architektonische Zeugnisse sind davon nicht vorhanden. Tontafeln In Ḫattuša wurden insgesamt 30.000 beschriftete Tontafeln gefunden. Allein 4.000 davon entfallen auf das Archiv in Haus A der Spätzeit. Kurt Bittel vermutet aufgrund der Fundsituation, dass sie in Holzregalen, möglicherweise im Obergeschoss, gelagert waren. Auch in den Gebäuden E und K bestanden umfangreiche Tontafelarchive. Die ältesten stammen aus der Zeit der assyrischen Handelskolonien, die meisten jedoch aus hethitischer Zeit. Sie sind außer in hethitischer und assyrischer Sprache in den Sprachen Hurritisch, Palaisch, Luwisch und Hattisch abgefasst. Die Texte haben profane ebenso wie religiöse Inhalte. Dazu gehören Kaufverträge (speziell aus der Karumzeit), Korrespondenz mit auswärtigen Herrschern, Verträge, aber auch Dienst- und Kultvorschriften. Obwohl die Texte sehr zahlreich sind, bezieht sich keiner von ihnen auf den Palast. Einzig ein Fragment, von dem leider nur die erste Tafel vorhanden ist, lässt Rückschlüsse auf eventuelle Funktionen der Palastarchitektur zu. Es handelt sich um den sogenannten Mešedi-Text, eine Dienstvorschrift für Bedienstete des Palastes. Die Tafel wurde Anfang des 20. Jahrhunderts im westlichen Teil des Burghügels von Winckler und Makridi gefunden. Aufgrund der fehlenden Dokumentation der Grabung ist der genaue Fundort nicht mehr nachvollziehbar. Der Text ist in der älteren Großreichszeit entstanden, lässt sich aber auch auf die letzte Bauphase des Burgbergs beziehen. Der Text erwähnt im Palastbereich zwei getrennte Höfe, den Hof des Ḫalentuva-Hauses, womit der Wohnsitz des Herrschers gemeint ist, und den Hof der Leibwache (Mešedi-Hof), der daran grenzt und auf oder an dem Gerichtsverhandlungen und Empfänge stattfanden. Beide verfügen über verschiedene Tore, dazu gehören das Große Tor (É ḫilammar) und das Kaškaštepa-Tor des Wohnpalasts, auch ein unteres und ein oberes Tor werden erwähnt. Ersterer Hof kann wohl mit dem oberen Burghof gleichgesetzt werden, der Mešedi-Hof ist vermutlich der mittlere Burghof mit dem Audienzgebäude D. Das Kaškaštepa-Tor bezeichnet den Eingang vom mittleren zum oberen Burghof, das Große Tor dürfte als dasjenige vom unteren zum mittleren Hof zu deuten sein. Der Eingang mit der Vorhalle von Haus D könnte das erwähnte untere Tor sein. Ein Ort mit der Bezeichnung É arkiu, bei dem es sich wohl um eine Art Kapelle handelte, in der der König vor Verlassen des Palastes sein Gebet verrichtete, ist möglicherweise mit dem Heiligtum im Zentrum von Gebäude C zu identifizieren. Maciej Popko identifiziert noch einige andere Tempel auf Büyükkale, allerdings sind diese Lokalisierungen sehr spekulativ. Im Zusammenhang mit den Toren werden Arsenale erwähnt, in denen die Waffen gelagert wurden, die die Bediensteten der Garde beim Verlassen des Geländes beim jeweiligen Pförtner abzugeben hatten. Literatur Peter Neve: Büyükkale – Die Bauwerke. Grabungen 1954–1966. Gebr. Mann, Berlin 1982, ISBN 978-3-7861-1252-5. Kurt Bittel: Hattuscha – Hauptstadt der Hethiter. Geschichte und Kultur einer altorientalischen Großmacht. DuMont, Köln 1983, ISBN 3-7701-1456-6, S. 87–132. Jürgen Seeher: Hattuscha-Führer. Ein Tag in der hethitischen Hauptstadt. 2. überarb. Auflage, Ege Yayınları, Istanbul 2002, ISBN 975-8070-48-7, S. 102–115. Maciej Popko: Zur Topographie von Ḫattuša: Tempel auf Büyükkale. In: Harry A. Hoffner (Hrsg.): Hittite Studies in Honor of Harry A. Hoffner, Jr: On the Occasion of His 65th Birthday. Eisenbrauns, 2003, ISBN 978-1-57506-079-8, S. 315–323. Andreas Schachner: Hattuscha – Auf der Suche nach dem sagenhaften Großreich der Hethiter. C. H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-60504-8, S. 71–82. Andreas Schachner / Jörg Becker: Neue Forschungen auf der hethitischen Königsburg Büyükkale (2021–2022) und ihre veränderte Stellung im urbanen System von Hattuscha. In: Dirk Wicke / Joachim Marzahn (Hrsg.): Zwischen Schwarzem Meer und Persischem Golf. 125 Jahre Deutsche Orient-Gesellschaft. wbg Philipp von Zabern in Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2023, ISBN 978-3-8053-5367-0, S. 96–104. Weblinks Royal Citadel in Hattusa – Turkish Archaeological News Einzelnachweise Ḫattuša Erbaut im 3. Jahrtausend v. Chr. Erbaut im 2. Jahrtausend v. Chr. Altorientalischer Fundplatz in der Türkei Geographie (Provinz Çorum) Bauwerk in der Provinz Çorum Archäologischer Fundplatz in Asien
10777225
https://de.wikipedia.org/wiki/Ford-Aktion
Ford-Aktion
Die Ford-Aktion war eine Kampagne der IG Metall zur Gewinnung von Mitgliedern innerhalb der Belegschaft der Ford-Werke Köln in den Jahren von 1960 bis 1966. Hans Matthöfer, damals Bildungsexperte dieser Gewerkschaft, war bis August 1964 der Spiritus Rector dieser Aktion, die aus seiner Sicht nicht nur den gewerkschaftlichen Organisationsgrad bei Ford erhöhen, sondern auch Impulsgeber für eine betriebsnahe Gewerkschaftspolitik sein sollte. In die Aktion band er gezielt junge Soziologen und Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) ein. Sie scheiterte an der Reaktion des Ford-Managements und an innergewerkschaftlichen Widersprüchen. Vorgeschichte Ausgangssituation bei Ford Nur fünf Prozent der Arbeiter und zwei Prozent der Angestellten bei Ford in Köln-Niehl waren 1960 Mitglieder der IG Metall. Aufgrund dieses außerordentlich schwachen Organisationsgrades galt Ford in der Gewerkschaft als „Krebsschaden für die Gewerkschaftsbewegung im Kölner Raum“, denn die Belegschaft – Ford beschäftigte damals rund 20.000 Personen – war hier im Vergleich mit anderen großen Unternehmen der westdeutschen Metallindustrie am schlechtesten organisiert. Ford war kein Mitglied im zuständigen Arbeitgeberverband, darum galten hier keine Flächentarifverträge. Löhne und Arbeitsbedingungen wurden zwischen der Geschäftsleitung und dem Ford-Betriebsrat in Betriebsvereinbarungen fixiert. Im Vergleich zu Tariflöhnen zahlte Ford deutlich mehr, diese positive Lohndrift war rechtlich jedoch schwächer abgesichert. Schwerpunktaktion der Gewerkschaft Ende 1960 wählte die IG Metall in verschiedenen Bezirken Unternehmen für sogenannte Schwerpunktaktionen aus, um dort die bislang schwache gewerkschaftliche Organisation und Mitgliedersituation zu verbessern. Ford zählte zu diesen Betrieben. Die Kampagne wurde vom neuen Bildungsexperten der IG Metall, Hans Matthöfer, koordiniert. Von Schwerpunktaktionen versprach sich die Gewerkschaft nicht allein einen verbesserten Organisationsgrad in traditionell kaum erreichten Betrieben, sondern auch die Hebung des Organisationsgrades in der Metallindustrie insgesamt. Dieser war seit Anfang der 1950er Jahre rückläufig. Ford und Gewerkschaften Matthöfer verfügte seit langem über exzellente Kontakte zu den United Automobile Workers (UAW). Dieser amerikanischen Gewerkschaft war es 1941 nach langen Kämpfen gelungen, das Ford-Werk am Firmensitz Dearborn nahe Detroit zu organisieren. Wenn die Ford-Aktion Erfolg haben würde, hätte sich vieles auch auf andere Unternehmen übertragen lassen – so das Kalkül. Das Unternehmen stand außerdem für eine epochemachende Arbeitsorganisation: den Fordismus. Ford erweiterte zudem seine Marktanteile in der expansiven deutschen Automobilindustrie. Die Kontakte zur UAW gingen auf den USA-Aufenthalt Matthöfers zurück. Er hatte von August 1950 bis Juni 1951 an der University of Wisconsin in Madison studiert. Im Mittelpunkt hatten dabei die industrial relations gestanden sowie Theorie und Praxis der amerikanischen Gewerkschaften. Ferner war er in Kontakt zur Independent Socialist League um Max Shachtman gekommen, einer am Demokratischen Sozialismus orientierten Splitterpartei mit Einfluss in der UAW. Auf diese Weise hatte Matthöfer die Bandbreite des Demokratischen Sozialismus kennengelernt sowie den Umgang mit unkonventionellen Ideen und praktische Möglichkeiten zur Verbesserung von Gewerkschaftsarbeit vor Ort. Betriebsnahe Gewerkschaftspolitik Für Matthöfer war Ford interessant, weil der Kampf um einen Betriebstarifvertrag der Einstieg für eine betriebsnahe Gewerkschaftspolitik hätte werden können. Ihm ging es in der Auseinandersetzung um die Chance, auch unter schwierigen Umständen eine betriebsnahe Tarifpolitik, Mitbestimmung am Arbeitsplatz und eine betriebsbezogene Bildungsarbeit eng miteinander zu verzahnen. Die Fokussierung der Gewerkschaftsarbeit auf betriebliche Belange war für ihn ausschlaggebend, um ihr neuen Schwung zu verleihen. Sie sollte – so Matthöfer rückblickend 1968 – die Gewerkschaftsmitglieder auffordern, sich vor Ort, vor allem im Betrieb, zu engagieren, damit Gefahren der gewerkschaftlichen Bürokratisierung und lähmende Routinen gebannt würden; das Ziel sei eine Demokratisierung der Verhältnisse. Nicht nur in Betrieben sei die Machtfrage zu stellen, sondern auch in der Gewerkschaft selbst. Entscheidungen würden weniger von Gewerkschaftsvorständen und Bezirksleitern getroffen werden, sondern in betrieblichen Gremien, beispielsweise betrieblichen Tarifkommissionen. An der Basis würde es um die Aktivierung der Gewerkschafter gehen, um die Gewinnung neuer Mitglieder, um Einfluss auf die Arbeitsbedingungen sowie um die Tarifierung von Löhnen und Gehältern. Zentrale Akteure für diesen Prozess sollten nicht in erster Linie die gewerkschaftlichen Vertrauensleute oder Betriebsräte sein, sondern die sogenannten Bildungsobleute. Diese Aktivisten wurden von der unter Matthöfers Leitung stehenden Bildungsabteilung in großer Zahl ausgebildet – 1967 waren es bereits 4.000 – und mit modernen Lehrmaterialien ausgestattet. Das Lernen sollte dabei bei den aktuellen und alltäglichen Arbeitserfahrungen der Lernenden ansetzen. Mit Hilfe dieser Bildungsobleute sei es aussichtsreich, festgefahrene Konflikte zwischen Unternehmen und Gewerkschaften durch flexible und direkte Aktionen in Betrieben in Bewegung zu bringen. Dieser werde zu einem Ort des Kampfes, des Lernens und der Veränderung. Bewusstseinsbildung und Engagement der Gewerkschaftsmitglieder sowie Überwindung einer als Gefahr empfundenen Stagnation der Klassenauseinandersetzungen waren angestrebt. Im Ganzen handelte es sich um das Projekt einer Erneuerung der Gewerkschaften von innen heraus. Matthöfer entwickelte seine Überlegungen unter Rückgriff auf militärstrategische Ausführungen von Basil Liddell Hart und Erkenntnisse der westdeutschen Industrie- und Betriebssoziologie, die sich bereits in den 1950er Jahren als Kreis interessierter, empirisch arbeitender Soziologen sowie als Sektion der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gefunden hatte. Durchführung Informationsbeschaffung Über die konkreten Arbeitsbedingungen und über das Betriebsklima bei Ford lagen anfänglich nur wenige Informationen vor. Das resultierte aus dem geringen gewerkschaftlichen Organisationsgrad. Auch die zögerlich-abwehrende Position der um ihren Einfluss fürchtenden Kölner Verwaltungsstelle der IG Metall und des weitgehend autonom agierenden Betriebsrats unter Leitung von Peter Görres, einem charismatischen Arbeiterführer alten Stils, kamen hinzu. Die Informationen wurden durch eine subversive Studie zum Betriebsklima erhoben. Den Auftrag dazu erhielt das Frankfurter Institut für Sozialforschung. Die Durchführung übernahmen 1961 überwiegend dem SDS angehörende Frankfurter Soziologiestudenten. 50 organisierte und 50 nicht-organisierte Arbeitnehmer wurden dazu in halbstandardisierten Hausinterviews befragt. Manfred Teschner und Michael Schumann leiteten die Untersuchung und werteten sie aus. Zwei zentrale Ergebnisse kristallisierten sich unabhängig von der Gewerkschaftsmitgliedschaft der Befragten heraus: Zum einen galt das Arbeitstempo durch die hohe Geschwindigkeit des Fließbands als extrem belastend. Sie verlangte von den Arbeitern eine sehr hohe Leistung. Zum anderen übten die Befragten Kritik an der Willkür der Vorgesetzten. Im Mittelpunkt standen hier „Nasenprämien“, die die Meister willkürlich als Leistungsprämie gewähren oder entziehen konnten. In den Interviews stellte sich zudem eine überraschend hohe Bereitschaft heraus, der Gewerkschaft beizutreten. Der geringe Organisationsgrad hing also offensichtlich nicht damit zusammen, dass Ford-Arbeiter zufrieden waren und Gewerkschaften grundsätzlich für überflüssig hielten. Erkennbar wurde auch eine weit verbreitete Skepsis gegenüber dem Betriebsrat, diesem mangele es an Kontakt zur Basis. Betriebszeitung Anfang 1961 hob Matthöfer eine Betriebszeitung aus der Taufe, die Tatsachen. Der Titel lehnte sich an die Ford Facts an, dem Organ der UAW für Ford-Mitarbeiter. Sie folgte dem Motto der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft Industrial Workers of the World: To Fan the Flames of Discontent (dt.: Die Flamme der Unzufriedenheit anfachen). Matthöfer betätigte sich als Herausgeber, als presserechtlicher Verantwortlicher (ab 1963), als Redakteur und oft auch als Autor für diese Zeitung. Tatsachen, dieser kollektive Organisator, sollte Argumente und Informationen der Gewerkschaften verbreiten, zum Gewerkschaftseintritt motivieren, für einen betrieblichen Tarifvertrag werben und Mythen über die Verhältnisse bei Ford zerstören. Zu diesen Mythen zählte die Behauptung, die Quote der Betriebsunfälle sei bei Ford unterdurchschnittlich. Tatsachen widerlegte diese Behauptung mit Zahlen und regte auf diese Weise die drastische Senkung der Unfallzahlen durch Schulung und Einsatz von Sicherheitsbeauftragten an. Das Medium griff die Sachverhalte auf, die zu besonders großer Unzufriedenheit mit der Arbeit führten. Um die vielen Katholiken in der Belegschaft anzusprechen, stellte Matthöfer immer wieder Bezüge zur katholischen Soziallehre her. Verdeckte Aktionen Matthöfer hatte nacheinander zwei Unterstützer in der Kölner Verwaltungsstelle der IG Metall. Schon zu Beginn der Ford-Aktion gelang es dort dem ersten, Theo Röhrig, einen vollständigen Lochkarten-Satz der Ford-Belegschaft zu besorgen. Deren Auswertung und der Abgleich mit Ford-Organisationsplänen ergab, bei welchen Arbeitnehmern anzusetzen war, wenn es um Schlüsselstellen des Produktionsprozesses ging, auch bei eventuellen Streiks. Die Lochkarten waren zudem die Basis für detaillierte Karteien der Beschäftigten nach Gewerkschaftsmitgliedschaft, Wohnort, Geschlecht, Altersgruppe und Herkunft. Nachfolger von Röhrig in der Verwaltungsstelle wurde Karl Krahn, gelernter Kfz-Mechaniker, bei Ford eingesetzter Bandarbeiter und später Lehrstuhlinhaber für Industriesoziologie an der Universität Bielefeld. Er wurde allerdings entlassen, nachdem er auf einer Gewerkschaftsversammlung den IG-Metall-Bevollmächtigten des Bezirks Köln wegen dessen massiver Behinderung der Ford-Aktion kritisiert hatte. Die spektakulärste Aktion war die Mitarbeit von Günter Wallraff, damals am Anfang seiner Laufbahn. Durch Vermittlung von Jakob Moneta, Chefredakteur von Metall und Freund Matthöfers, arbeitete dieser in der Lackiererei von Ford und verfasste darüber mehrere Artikel für die Metall. Mit anderen Reportagen später zu einem Buch zusammengestellt, erreichten sie hohe Auflagen. Erste Erfolge Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder stieg und lag 1962 durchschnittlich bei 3.286, 1963 bei 4.002. Die Auflage der Tatsachen stieg ebenfalls. Die Aktivisten gewannen zunehmend Einfluss auf den Betriebsrat und die Vertrauensleute. Im April 1963 wurde der Betriebsrat neu gewählt, hier setzten sich die Aktivisten durch. Als Neumitglieder besetzten sie 25 von 28 Plätzen dieses Gremiums, bei den Wahlen erhielten die von Tatsachen unterstützten Kandidaten die meisten Stimmen. Auch der neue Betriebsratsvorsitzende gehörte zu den Befürwortern der Ford-Aktion. Verbandsmitgliedschaft von Ford und Streikvorbereitung Als nächsten Schritt der Ford-Aktion ging es nun um die Verhandlungen über einen Betriebstarifvertrag. Bevor darüber aber im Oktober 1963 nach langen Verzögerungen erstmals zwischen den potenziellen Vertragspartnern gesprochen wurde, war Ford zum 1. Mai 1963 dem Arbeitgeberverband beigetreten. Das Ford-Management behauptete, damit würden die im Flächentarifvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen, Löhne und Gehälter gelten. Die IG Metall betonte hingegen, der existierende Flächentarifvertrag enthalte gar keine Lohnrahmenbedingungen. Aus Gewerkschaftssicht existiere deshalb keine Friedenspflicht. Für eine betriebsnahe Betriebspolitik war der Eintritt von Ford in den Arbeitgeberverband ein Rückschritt, denn damit wurden Tarifentscheidungen nicht im Betrieb selbst getroffen, sondern betriebsfern. Auf Gewerkschaftsseite übernahmen die Funktionäre in der Kölner Bezirksverwaltung und im Frankfurter Gewerkschaftsvorstand die Zuständigkeit. Die Ford-Aktion verlor damit „ihren bisherigen experimentellen Spielraum“. Der Vorstand um Otto Brenner schlug aber zunächst einen scharfen Ton an und drohte mit Streik, wenn es nicht zu Verhandlungen über einen Betriebstarifvertrag kam. Matthöfer und seine Mitstreiter organisierten alles Notwendige, um für einen solchen Arbeitskampf gerüstet zu sein, der aus ihrer Sicht im März oder April 1964 zu führen sei. Mit Hilfe einer zweiten, im Frühjahr 1964 von infas durchgeführten Umfrage informierte sich die IG Metall erneut über die Stimmung in der Belegschaft. Die Erhebung zeigte unter anderem die Befürwortung eines Betriebstarifvertrages und eine hohe Streikbereitschaft, sowohl bei IG Metall-Mitgliedern als auch bei Unorganisierten. Weil Gespräche mit den Arbeitgebern nicht zustande kamen, erklärte der Gewerkschaftsvorstand im Mai 1964 das Scheitern der Verhandlungen. Die Urabstimmung wurde auf den 22. Juni festgelegt. Gerichtliche Auseinandersetzungen und Kompromiss Die Unternehmensleitung von Ford unter ihrem amerikanischen Chef John S. Andrews reagierte mit einer Einstweiligen Verfügung, die der Gewerkschaft die Durchführung der Urabstimmung untersagte. Der Widerspruch der Gewerkschaft wurde am 26. Juni 1964 endgültig abgewiesen. Die anschließende gerichtliche Klärung folgte der herrschenden Meinung: Weil der Flächentarifvertrag für Ford gelte, müsse sich die Gewerkschaft an die Friedenspflicht halten, Urabstimmungen seien nicht zulässig. Der Kölner Bezirksleiter der IG Metall erwies sich als Bremser jeder weiteren Initiative, doch noch zu einem Betriebstarifvertrag zu kommen. Der Vorstand der IG Metall suchte in einem Spitzengespräch mit Gesamtmetall nach einer gesichtswahrenden Lösung. Sie bestand in folgender Regelung: Die Gewerkschaft erkannte den Vorrang des Flächentarifvertrags an und auch die Friedenspflicht. Im Gegenzug sollten unverzüglich Verhandlungen über eine den Flächentarifvertrag ergänzende Regelung für Ford aufgenommen werden; die Entgelt- und Arbeitsbedingungen sollten als Zusatzvereinbarung zum Flächentarifvertrag so lange gelten, bis ein neuer Flächentarifvertrag diese Zusatzvereinbarung überlagert. Auch dieser Kompromiss bot noch Chancen, einen Betriebstarifvertrag zu erreichen. Die Arbeitgeberseite sträubte sich allerdings gegen alles, was den Anschein dieser Vertragsform annahm. Wichtiger aber war die Uneinigkeit im Arbeitnehmerlager: Der Kölner Bezirksleiter der IG Metall wollte kaum mehr, als die bisherige Lohndrift abzusichern. Die Bandgeschwindigkeit, Prämienregelungen oder die Organisation von Springern kümmerten ihn wenig. Aufgrund dieser Unstimmigkeiten kam keine Zusatzvereinbarung zum Flächentarifvertrag zustande. Schlussendlich blieb wieder nur eine Betriebsvereinbarung. Ergebnisse Mitgliederwachstum und Gremien Hans Matthöfer zog sich im August 1964 aus der Führung der Aktion zurück, weil er kaum noch Einfluss auf die Ereignisse in Köln hatte. 1966 verfasste er den offiziellen Schlussbericht. Dieser verdeutlichte, dass die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder von 1.000 auf 7.000 gewachsen war, das bedeutete jährlich eine Steigerung der Einnahmen durch Mitgliedsbeiträge um rund eine halbe Million DM. Der Organisationsgrad in den umliegenden Betrieben der Metallindustrie stieg ebenfalls, weil es bei Ford traditionell eine hohe Fluktuation gab. Zu den Erfolgen zählte Karl Krahn rückblickend auch die Etablierung eines Betriebsrats, der die innerbetrieblichen Probleme und Missstände angehen wollte, ferner den nun gewerkschaftlich orientierten Vertrauensleutekörper. Nicht erreichte Ziele Der Einstieg in die betriebsnahe Gewerkschaftspolitik war jedoch nicht gelungen. Hans Matthöfer hatte sich und seinen Mitstreitern noch im Mai 1963 hohe Ziele gesteckt: Der Lebensstandard der Ford-Arbeiter sollte durch höhere Löhne und mehr Urlaub steigen; die Arbeitsbedingungen sollten besser werden; in der Lohnfindung sollte es gerechter zugehen; die Mitbestimmung am Arbeitsplatz sollte durchgesetzt werden; die Unfallquote sollte gesenkt und die Arbeitssicherheit erhöht werden; ein gewerkschaftlicher Organisationsgrad von 80 Prozent war angestrebt; der Kader der Vertrauensleute sollte 800 Mann umfassen; ein betriebsnaher Tarifvertrag sollte erreicht werden. In Anbetracht dieser Messlatte war die Ford-Aktion nicht erfolgreich. Spanisches Echo Ein fernes Echo erzeugte die Kampagne nach dem Tod Francos (1975) in Spanien. Unter der Leitung von Carlos Pardo, eines von Hans Matthöfer unterstützen Sozialisten, wurden die Beschäftigten von Seat nach dem Muster der Ford-Aktion ab 1977 für die sozialistische Gewerkschaft Unión General de Trabajadores (UGT) gewonnen. Die UGT überflügelte dabei in einigen Seat-Werken die kommunistische Gewerkschaft Comisiones Obreras (CC.OO). Forschung Kritische Betrachtungen 1974, ein Jahr nach dem aufsehenerregenden wilden Streik bei Ford, setzten sich die drei Frankfurter Jura-Studenten Volker Delp, Lothar Schmidt und Klaus Wohlfahrt mit der Ford-Aktion auseinander. Sie fragten dabei, inwieweit bereits durch die Ford-Aktion Rahmenbedingungen geschaffen worden sind, die knapp ein Jahrzehnt später dazu führten, dass die bei Ford streikenden türkischen Arbeiter nicht vom Vertrauensleutekörper, dem Betriebsrat und der IG Metall unterstützt und von vielen deutschen Arbeitskollegen als Störer wahrgenommen wurden. Die Ford-Aktion sei, so die These, in der ersten Hälfte der 1960er Jahre gescheitert, weil es ein Bündnis zwischen der Kölner IG-Metall-Verwaltungsstelle und der Mehrheit des Frankfurter Gewerkschaftsvorstands gegeben habe. Diese beiden Gruppen hätten eine betriebsnahe Gewerkschafts- und Tarifpolitik abgelehnt und letztere nur als Werbeversprechen eingesetzt, um Mitglieder zu gewinnen. Der Beitrag der Studenten übersah die Differenzen zwischen der Kölner Bezirksverwaltung und der Frankfurter Zentrale, die nach dem Verbot der Urabstimmung (Ende Juni 1964) in den Verhandlungen um einen Betriebstarifvertrag erkennbar wurden. Außerdem verstieg er sich zu der These, der Vertrauensleutekörper sei nach der Ford-Aktion korrumpiert worden. Die komplexen innergewerkschaftlichen Widersprüche wurden auf diese Weise „auf einen Basis-Apparat-Konflikt verkürzt“. Peter Birke behandelte die Ford-Aktion in einem Abschnitt seiner 2007 publizierten Dissertation über wilde Streiks in Deutschland und Dänemark. Sie sei eine „Kopfgeburt“ gewesen, die Gruppe um Matthöfer habe wie traditionelle Arbeiterfunktionäre gedacht. Auch Birke sprach das Verhältnis von IG Metall und türkischen Gastarbeitern an. Er erblicke darin einen der Faktoren, die zum Scheitern der Ford-Aktion geführt haben. Der Anteil der meist türkischen Arbeiter an der Belegschaft im Kölner Ford-Werk habe bereits 1964 bei mehr als 30 Prozent gelegen; die von der Gruppe um Matthöfer gewählte Konzeption sei ohnmächtig geblieben im Hinblick auf diese gravierende Veränderung innerhalb der Belegschaft. Sozialwissenschaften und Gewerkschaften Klaus Peter Wittemann, langjähriger Mitarbeiter am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen, setzte sich mehrfach mit der Ford-Aktion auseinander. Mehrere Aufsätze behandelten das Thema bereits Mitte der 1980er Jahre. 1994 legte Wittemann eine 300-seitige Monografie vor. Entstanden ist sie im Rahmen des Projekts „Industriesoziologie und IG Metall“. Es zählte zum Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit dem Titel „Verwendungszusammenhänge sozialwissenschaftlicher Ergebnisse“. Seine Beiträge erörterten die Möglichkeiten und Grenzen einer Zusammenarbeit von Gewerkschaftern und politisch links stehenden Sozialwissenschaftlern. Die Ford-Aktion betrachtete Wittemann als Fallbeispiel für eine solche Interaktion, bei der beide Seiten ein großes Interesse am Betrieb zeigten, dem Ort, der Arbeiter präge. Für Wittemann war das Wesentliche die Verwendung des erarbeiteten soziologischen Wissens. Der Optimalfall war für ihn, wenn „das neue Wissen die Verwender in die Lage versetzt, in den gegebenen Handlungsbedingungen Ressourcen zu entdecken, mit deren Hilfe eine veränderte Praxis möglich ist“. Wittemann maß die Ford-Aktion an der wesentlich von Matthöfer ausgearbeiteten Strategie, durch eine betriebsnahe Gewerkschaftspolitik tatsächlich zu einer Mobilisierung der Arbeitnehmer und der Gewerkschaftsmitglieder sowie zu Machtveränderungen in Betrieb und Gesellschaft zu gelangen. Bezogen auf diese Ziele konstatierte er ein Scheitern. Biografische Einordnung In seiner umfassenden Biografie über Hans Matthöfer ordnete der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser die Ford-Aktion in den Lebensweg Matthöfers ein. Abelshauser machte darauf aufmerksam, dass sein Protagonist Ende 1960 drei umfangreiche Projekte gleichzeitig anging: die Ford-Aktion, den Umbau des Bildungswesens bei der IG Metall sowie seine (erfolgreiche) Kandidatur um ein Mandat für den Deutschen Bundestag. Matthöfer verband weitgefasste strategische Überlegungen mit Detailarbeit bei Planung und Durchführung der Kampagne. Auch Abelshauser bezeichnete den Ausgang der Ford-Aktion als Niederlage für Matthöfer, die sich dieser allerdings nie eingestand. Nach der Ford-Aktion befasste sich Matthöfer noch mit weiteren Schwerpunkt-Aktionen, beispielsweise bei der VDO Adolf Schindling AG, bei der AEG und bei Siemens. Aber auch in diesen Fällen, die Matthöfer als Fallstudien für die Bildungsarbeit ansah, blieben Erfolge, die deutlich über gesteigerte Mitgliederzahlen hinausgingen, aus. Anhang Literatur Werner Abelshauser: Nach dem Wirtschaftswunder. Der Gewerkschafter, Politiker und Unternehmer Hans Matthöfer. Dietz, Bonn 2009, ISBN 978-3-8012-4171-1. Peter Birke: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark. Campus, Frankfurt/ New York 2007, ISBN 978-3-593-38444-3. Klaus Peter Wittemann: Ford-Aktion. Zum Verhältnis von Industriesoziologie und IG Metall in den sechziger Jahren. Schüren, Marburg 1994, ISBN 978-3-89472-108-4. Karl Krahn: Die Schwerpunktaktion der IG Metall in den Kölner Ford-Werken von 1960–1966. In: Helmut Schmidt, Walter Hesselbach (Hrsg.): Kämpfer ohne Pathos. Festschrift für Hans Matthöfer zum 60. Geburtstag am 25. September 1985. Redaktion: Gerhard Beier. Verlag Neue Gesellschaft, Bonn 1985, ISBN 3-87831-414-0, S. 38–43. Michael Schumann, Klaus Peter Wittemann: Betriebsnahe Politik – fast vergessener Versuch einer gewerkschaftlichen Offensive. In: Helmut Schmidt, Walter Hesselbach (Hrsg.): Kämpfer ohne Pathos. Festschrift für Hans Matthöfer zum 60. Geburtstag am 25. September 1985. Redaktion: Gerhard Beier. Verlag Neue Gesellschaft, Bonn 1985, ISBN 3-87831-414-0, S. 44–49. Klaus Peter Wittemann: Industriesoziologie und IG Metall. Zum Verhältnis von „interner“ und „externer“ Sozialwissenschaft. In: SOFI-Mitteilungen. Nr. 10, Göttingen 1984, S. 22–28. (sofi-goettingen.de) Einsehbar in: Weblinks Einzelnachweise Tarifvertrag Köln im 20. Jahrhundert Konflikt (20. Jahrhundert) Ford Gewerkschaftsgeschichte (Deutschland)
11049456
https://de.wikipedia.org/wiki/Silbergras-Herzfleckl%C3%A4ufer
Silbergras-Herzfleckläufer
Der Silbergras-Herzfleckläufer (Thanatus formicinus) ist eine Spinne aus der Familie der Laufspinnen (Philodromidae). Er ist holarktisch verbreitet und bewohnt als xerothermophile Art überwiegend trockenwarme Habitate (Lebensräume). Der Trivialname rührt von der Tatsache, dass die Art mitunter auch auf Fluren von Silbergras (Corynephorus canescens) gefunden werden kann, obgleich die Art ein großes Spektrum an Lebensräumen bewohnt. Insgesamt zählt der Silbergras-Herzfleckläufern zu den allgemein häufigeren Arten der Herzfleckläufer (Thanatus) und scheint in Nordamerika der häufigste Vertreter seiner Gattung zu sein. In Europa ist der Silbergras-Herzfleckläufer weitverbreitet, wobei er jedoch in Nordwestdeutschland fehlt. Der Status der Spinne auf den Britischen Inseln gilt als umstritten, da sie dort bislang sehr selten nachgewiesen wurde und Funde dort nur sehr sporadisch erfolgten. Zusätzlich wurde die Art auf Spitzbergen, wo sie zuvor nicht heimisch war, eingeschleppt und konnte sich dort etablieren. Die Biologie des Silbergras-Herzfleckläufers entspricht grundsätzlich dem anderer Arten der Gattung. So ist auch er tagaktiv und hält sich bevorzugt in Bodennähe auf. Er erlegt aktiv als Hetzjäger und demzufolge ohne ein Spinnennetz verschiedene Gliederfüßer. Dabei erbeutet die Art auch vergleichsweise wehrhafte Vertreter dieser Gruppe, die die Dimensionen des Jägers deutlich übertreffen können. Der Paarung geht ein Balzverhalten voraus, das wie bei anderen Herzfleckläufern aus Trommelbewegungen des Männchens mithilfe seiner Pedipalpen (umgewandelte Extremitäten im Kopfbereich) besteht, während das Weibchen in einem katalepsieartigen Zustand verweilt. Das Weibchen bewacht seinen einige Zeit nach der Paarung angefertigten Eikokon bis zum Schlupf der Nachkommen, die dann im Sub- oder im Adultstadium überwintern. Merkmale Das Weibchen des Silbergras-Herzfleckläufers erreicht eine Körperlänge von 6,9 bis 12 Millimetern, während die des Männchens 5,2 bis 7,4 Millimeter betragen kann. Allerdings scheint die Größe der Spinne zumindest in Nordamerika je nach geographischer Lage zu variieren. So erwiesen sich in Kalifornien gefundene Exemplare des Silbergras-Herzfleckläufers größer als solche, die in Kanada oder dem Osten der Vereinigten Staaten nachgewiesen wurden. Der Körperbau der Art gleicht dem anderer Herzfleckläufer (Thanatus). Die Grundfärbung des Silbergras-Herzfleckläufers ist hell gelbbraun oder graubraun und kann auch leicht in das Rötliche übergehen. Der Carapax weist eine dunkelrotbraune Grundfarbe auf. Dabei erscheinen die beiden lateralen (seitlichen) Bereiche etwas abgedunkelt. Ein median (mittig) auf dem Carapax verlaufendes Band ist hellgelblichbraun gefärbt. Der cephale (am Kopf gelegene) Bereich besitzt zwei dunkle Streifen, die posterior (nach hinten) weiterlaufen und sich dort schließlich auch treffen. Für gewöhnlich befindet sich vor der Fovea (Apodem) ein blasses V und undeutliche dunkle Längsbänder auf den lateralen Bereichen. Die marginale (am Rand gelegene) Region des Carapax erscheint blass und die Cheliceren (Kieferklauen) dunkelbraun. Das Sternum ist gelblichbraun gefärbt und außerdem mit kleinen dunklen Punkten versehen. Die Beine weisen eine einheitlich braune oder rotbraune Grundfarbe auf und haben meist zwei undeutliche Linien entlang der dorsalen (oberen) Fläche. Die allesamt fast gleich langen Beine besitzen außerdem dunklere Flecken. Legende: ap = apikal (zur Spitze gelegen) d = dorsal pl = prolateral (seitlich vorliegend) rl = retrolateral (seitlich rückliegend) v = ventral (unten) Das Opisthosoma (Hinterleib) ist auf der Dorsalseite braungelblich gefärbt. Des Weiteren verfügt er auf gleicher Fläche wie bei allen Herzfleckläufern über den namensgebenden und lanzettförmigen Spießfleck mit schwarzer Grundfärbung, der bei dieser Art von weißen Umrandung flankiert wird. Auf der Dorsalseite des Opisthosomas sind abgesehen von dem Lanzettfleck paarigen gezähnten Markierungen befindlich. Posterior verlaufen auf dem Opisthosoma zusätzlich zwei undeutliche hellrotbraune, sich verjüngende Streifen. Sexualdimorphismus Abgesehen von den Körpermaßen ist bei beiden Geschlechtern des Silbergras-Herzfleckläufers kein stark ausgeprägter Sexualdimorphismus (Unterschied der Geschlechter) vorhanden. Die Färbung fällt beim Männchen und beim Weibchen gleich aus. Weibchen Bei den schwedischen Populationen der Art beträgt die Körperlänge des Weibchens 5,6 bis 8,9 und durchschnittliche 7,6 ± 1. Bei diesen Populationen beträgt die Länge des Carapax 2,71 bis 4,02 sowie im Durchschnitt 3,41 ± 0,35 und dessen Breite 2,35 bis 3,67 sowie durchschnittlich 3,03 ± 0,33 Millimeter. Das Verhältnis zwischen Länge und Breite des Carapax beläuft sich hier demnach auf 1,06 bis 1,20 und zumeist 1,13 ± 0,05. Er ist außerdem hier um 20° geneigt. Innerhalb der ungarischen Populationen, bei denen das Prosoma des Weibchens eine Länge von 3,04 bis 4,66 und eine Breite von 2,86 bis 4,19 Millimetern erreicht, sind dort die anterior (vorne) medianen (mittleren) Augen voneinander um 0,13 bis 0,23 Millimeter getrennt, während der Abstand der anterior medianen zu den anterior lateralen Augen 0,06 bis 0,09 Millimeter beträgt. Der Abstand zwischen den beiden posterior medianen Augen beläuft sich hier auf 0,25 bis 0,36 und der zwischen den posterior medianen und den posterior lateralen Augen 0,23 bis 0,29 Millimeter. Das mediane Augenviereck hat beim Weibchen beim Auftreten dieser Maße eine anteriore Breite von 0,36 bis 0,52 und eine Länge von 0,36 bis zu 0,53 Millimetern. Das Opisthosoma des Weibchens weist bei einer Länge von 2,46 bis 3,37 jeweils eine Breite von 2,15 bis 3,61 Millimetern auf. Männchen Das Männchen des Silbergras-Herzfleckläufers gleicht abgesehen von den hier genannten Eigenschaften dem Weibchen. Bei ihm besitzt innerhalb der schwedischen Beständen der Art, bei denen die Körperlänge des Männchens 5,4 bis 6,5 Millimeter beträgt, der Carapax eine Länge von 2,44 bis 3,37 und Breite von 2,6 bis 3,2 Millimetern sowie eine Neigung von 2°. Innerhalb der ungarischen Bestände der Art, bei denen das Prosoma des Männchens 2,73 bis 4,02 Millimeter lang und 2,15 bis 3,61 Millimeter breit ist, beträgt der Abstand zwischen den beiden anterior medianen Augen 0,13 bis 0,23 und der zwischen den anterior medianen und den anterior lateralen Augen je 0,06 bis 0,09 Millimeter, während sich der Abstand zwischen den beiden posterior medianen Augen hier auf 0,25 bis 0,36 und der zwischen den posterior medianen und den posterior lateralen auf je 0,23 bis 0,29 Millimeter beläuft. Das mediane Augenviereck ist beim Männchen in diesem Fall anterior 0,36 bis 0,52 Millimeter breit sowie insgesamt 0,36 bis 0,53 Millimeter lang. Das Opisthosoma des Männchens ist innerhalb der schwedischen Bestände und bei einer Länge von je 2,46 bis 3,37 Millimetern 1,91 bis 2,66 Millimeter breit. Genitalmorphologische Merkmale Beim Männchen des Silbergras-Herzfleckläufers besitzen die Pedipalpen (umgewandelte Extremitäten im Kopfbereich) je eine retrolaterale Apophyse (chitinisierter Fortsatz) an den Tibien (Schienen), die in etwa gleich lang ist wie die jeweilige Tibia selbst und distal (von der Körpermitte entfernt liegend) zugespitzt ist. Der Konduktor (Leiter) erscheint membranös. Die Apophyse hat außerdem eine breite, dreieckige Basis. Dem Tegulum (zweites und mittleres Sklerit, bzw. Hartteil) eines einzelnen Bulbus (männliches Geschlechtsorgan) fehlt anders als bei einigen anderen Herzfleckläufern (Thanatus) eine Prominenz (Vorsprung) zwischen den Zweigen des Konduktors. Der Embolus (drittes und letztes Sklerit des Bulbus) ist dünn und verläuft fast gerade. Er entspringt der weichen Fläche der Außenwand des Tegulums. Die Epigyne (weibliches Geschlechtsorgan) der Art ist parallel oder an den lateralen Rändern in posteriore Richtung konvergierend geformt. Die Epigynalplatte ist etwa so breit wie lang. Das median (mittig) angelegte Septum (Trennwand) hingegen ist in die Breite gehend. Die Atrien der Epigyne sind recht schmal, während die Kopulationsöffnungen posterior an den Taschen der Epigyne angelegt sind. Die Öffnungen selbst haben eine runde Form und sind zusätzlich sklerotisiert. Die Spermatheken (Samentaschen) sind breit gebaut, dicht beieinander, wenig gefurcht und anterolateral eher kantig geformt. Sie verfügen außerdem posterior über je einen schraubenförmigen Bereich und anterior über Drüsen. Differenzierung von ähnlichen Herzfleckläufern Der Silbergras-Herzfleckläufer kann leicht mit anderen Herzfleckläufern (Thanatus) und darunter insbesondere der Art T. coloradensis verwechselt werden, von der er nur anhand des Aufbaus der Geschlechtsorgane sicher unterschieden werden kann. Das Männchen von T. coloradensis kann anhand der dreieckig geformten und seitlich gebogenen retrolateralen Apophysen an den Tibien der Pedipalpen sowie der tägulär (rückseitige) angelegten Prominenzen von dem des Silbergras-Herzfleckläufers unterschieden werden. Die Spermatheken des Weibchens der anderen Art haben zumeist eine ziemlich langgestreckte Erscheinung und sind gut gefurcht. Außerdem sind die anterolateralen (vorne seitlichen) Winkel der Spermatheken hier im Regelfall stark abfallend. Beim geringfügig kleiner bleibenden Sand-Herzfleckläufer (T. arenarius) hat das Männchen einen rotbraun gefärbten und das Weibchen einen eher hellgrau gefärbten Carapax. Beim Männchen sind dort zusätzlich zwei schmale, weißliche Längsbinden vorhanden. Der Spießfleck auf dem Opisthosoma ist beim Sand-Herzfleckläufer weniger stark abgesetzt. Bei dieser Art befindet sich hinter dem Spießfleck eine dunkelgraues, hell begrenztes Folium (Blattzeichnung). Durch seine gräulichen und längeren Beine ähnelt auch der Kosmopolit-Herzfleckläufer (T. vulgaris) entfernt dem Silbergras-Herzfleckläufer. Vorkommen Der Silbergras-Herzfleckläufer besitzt ein großes und sich über die Holarktis erstreckendes Verbreitungsgebiet, reichend von Nordamerika über Europa, die Türkei, Kaukasien, Russland (europäischer bis fernöstlicher Teil), den Iran, Kasachstan, Zentralasien, China bis nach Japan. Außerdem wurde er auf der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen eingeschleppt und konnte sich dort etablieren. In Europa selber ist der Silbergras-Herzfleckläufer ebenfalls flächendeckend vertreten und ließ sich in Kontinentaleuropa lediglich in der Oblast Kaliningrad, Bosnien und Herzegowina, dem Kosovo und dem europäischen Teil der Türkei sowie zusätzlich auf der russischen Doppelinsel Nowaja Semlja, in Franz-Josef-Land und Island genauso wie auf Irland nicht nachweisen. In Kaukasien fehlt die Art außerdem in Armenien und in Aserbaidschan. Durch Fehlbestimmungen galt sie im letztgenannten Land vor einiger Zeit noch als vorkommend. In Mitteleuropa gilt die Spinne als weitverbreitet, sie fehlt allerdings in Nordwestdeutschland. In Nordamerika ist der Silbergras-Herzfleckläufer nach Nordwesten hin bis zum US-Bundesstaat Alaska und nach Nordosten bis zur kanadischen Provinz Nova Scotia vertreten, während das Verbreitungsgebiet der Art hier in südöstliche und südwestliche Richtung jeweils in den US-Bundesstaaten Virginia und Texas begrenzt wird. Situation auf den Britischen Inseln Auf Großbritannien erfolgten bislang nur vereinzelt Nachweise des Silbergras-Herzfleckläufers, davon die ersten 1894 in Südengland in der Beaulieu Heath nahe dem Dorf Brockenhurst innerhalb der gelegenen Grafschaft Hampshire und im New Forest sowie im Süden Hampshires. Weitere Funde der Art auf der Insel geschahen im 20. Jahrhundert und zwar ebenfalls in Südengland, jedoch in der Grafschaft East Sussex zwischen der Legsheath Farm und dem Dorf Duddleswell sowie dem Ashdown Forest. Dabei wurden ausgewachsene Exemplare in der Legsheath Farm 1930 und Jungtiere an beiden Standorten in East Sussex 1969 nachgewiesen. Auf Irland erfolgten keine Sichtungen der Art. Nach 1969 ließ sich der Silbergras-Herzfleckläufer auch in den zuvor genannten auf Großbritannien gelegenen Arealen ebenfalls nie mehr nachweisen. Im Ashdown Forest war die Art zuvor anscheinend zahlreich vertreten. 2017 ließen sich allerdings Individuen der Art im Clumber Park, der in der zentralenglischen Grafschaft Nottinghamshire liegt, vorfinden. Die letzte Sichtung von Individuen des Silbergras-Herzfleckläufers auf Großbritannien geschah 2019. Der Rückgang der für die Spinne geeigneten Lebensräume auf Großbritannien dürfte der Grund dafür sein, dass diese in den erwähnten Gebieten Großbritanniens nicht mehr vorkommt. Auslöser dafür sind vermutlich vor allem Brände in Heidelandschaften sowie deren Rückgang zugunsten von landwirtschaftlich genutzten Flächen. Um die Fläche und die Qualität der Weidelandschaften im New Forest zu erhöhen, wurden außerdem einige Moore entwässert, wodurch ebenfalls Habitate des Silbergras-Herzfleckläufers zurückgingen. Im Gegensatz dazu befinden sich im Ashdown Forest kaum noch Weiden, was mitunter daran liegt, dass Fahrstraßen das nicht eingezäunte Gebiet durchqueren und somit eine Beweidung mit Vieh in diesen Gebieten erschweren. Ein weiteres Problem dürfte das Eindringen von verschiedenem Gestrüpp und dem Adlerfarn (Pteridium aquilinum) in Heidelandschaften auf Großbritannien sein, wodurch ebenfalls Lebensräume für die Spinne zurückgehen können. Lebensräume Der Silbergras-Herzfleckläufer bewohnt eine Vielzahl an Habitaten (Lebensräumen), er ist dabei jedoch sehr xerothermophil (trockenwarme Habitate bevorzugend) und bewohnt vor allem trockene Stellen mit niedriger Vegetation, darunter insbesondere steinigen Trockenrasen. Wie in Trocken- oder auch in Halbtrockenrasen kommt die Art auch in xerothermen Waldsteppen vor. Daneben bewohnt die Art auch trockene und halbtrockene Wiesen und entsprechend ihrer Trivialbezeichnung Fluren von Silbergras (Corynephorus canescens). Neben trockenen und halbtrockenen Lebensräumen ist der Silbergras-Herzfleckläufer jedoch auch im feuchteren Habitaten wie Mooren anzutreffen. Außerdem kommt er in Sümpfen mit Bewuchs aus Torfmoosen (Sphagnum), großen Pflanzen des Blauen Pfeifengrases (Molinia caerulea) und ausgereiften Pflanzen der Besen- (Calluna vulgaris) sowie der Glocken-Heide (Erica tetralix) vor. Ebenso bewohnt die Art offene Nadelwälder mit Heiden, Flechten und Moosen genauso wie Wälder der Zwerg-Birke (Betula nana) in der Subalpinen Höhenstufe. In Nordamerika ließen sich Individuen des Silbergras-Herzfleckläufers auf Wiesen, in Kiefern-, Nadel- und Espenwäldern sowie in Nutzgärten in Höhen von bis zu bis 2.920 Metern über dem Meeresspiegel nachweisen. In Nordasien wurde die Art zusätzlich in abfallenden Strauchsteppen sowie in Lichtungen von Laub- und Mischwäldern nachgewiesen. Häufigkeit und Gefährdung Der Silbergras-Herzfleckläufer gilt im Allgemeinen als häufig. In Nordamerika scheint er der häufigste und am weitesten verbreitete Vertreter der Herzfleckläufer (Thanatus) zu sein. Auch in Mitteleuropa ist die Art weitverbreitet, dort jedoch nicht unbedingt häufig. In Nordwestdeutschland kommt die Spinne nicht vor. In anderen Teilen Deutschlands gilt sie als mäßig häufig vorkommend. In der Roten Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands, bzw. der Roten Liste und Gesamtartenliste der Spinnen Deutschlands (2016) wird der Silbergras-Herzfleckläufer in der Vorwarnliste (V) aufgeführt, da bei den Bestandspopulationen der Art in Deutschland auf langfristige Sicht noch immer ein mäßiger Rückgang zu verzeichnen ist, während für kurzfristige Analysen nicht ausreichend Daten verfügbar sind. Auch in der Roten Liste der Spinnen Kärntens (1999) wird die Spinne in der Vorwarnliste geführt. In der Roten Liste Großbritanniens (2017) ist der Silbergras-Herzfleckläufer aufgrund der dortigen Bestandssituation nach IUCN-Maßstab in der Kategorie CR („Critically Endangered“, bzw. vom Aussterben bedroht) gelistet. Im Gegensatz dazu wird die Art in der Roten Liste der Spinnentiere (Arachnida) Norwegens (2015) und in der Roten Liste der Spinnen Tschechiens (2015) in der Kategorie LC („Least Concern“, bzw. nicht gefährdet) erfasst. Lebensweise Der Silbergras-Herzfleckläufer ist wie alle Herzfleckläufer (Thanatus) tagaktiv und zeigt eine epigäische (die direkte Bodenoberfläche bevorzugende) Biologie. Auch ist er nomadisch und legt demzufolge keine Unterschlüpfe an. Entsprechend ihrer Lebensweise hält sich die Art vorwiegend am Boden oder an bodennaher Vegetation auf. Daneben ist sie in geeigneten Habitaten auf Gräsern und niedrigen Sträuchern sowie unter Steinen zu finden. Jagdverhalten und Beutespektrum Der Silbergras-Herzfleckläufer lebt wie alle Spinnen räuberisch und teilt mit allen Laufspinnen (Philodromidae) die Eigenschaft, Beutetiere freilaufend zu erlegen, sodass auch er kein Spinnennetz für den Beutefang anlegt. Dabei entspricht die Jagdweise der Art der eines Hetzjägers. Der Silbergras-Herzfleckläufer scheint über einen sehr gut entwickelten Sehsinn zu verfügen und nimmt Beutetiere optisch wahr. Hat er ein passendes Beutetier gesichtet, verfolgt er dieses aktiv über mehrere Zentimeter und packt das Beutetier, sobald der Jäger nah genug an dieses gelangt, mit allen vier Beinpaaren und versetzt dem Beutetier mittels der Cheliceren einen Giftbiss, der dieses flucht- und wehrunfähig macht. Unmittelbar danach positioniert die Spinne alle Beinpaare weit weg von dem ergriffenen Beutetier. Insgesamt zeigt der Silbergras-Herzfleckläufer und dabei vor allem trächtige Weibchen eine hohe Aggressivität und Zielstrebigkeit beim Beutezugriff. Das Gift der Art zeigt bei Beutetieren eine auffallend schnelle Wirkung. Das Beutespektrum des Silbergras-Herzfleckläufers setzt sich aus anderen Gliederfüßern zusammen. Durch sein Jagdverhalten sowie -weise kann die Art auch wehrhafte Vertreter dieser Klasse erlegen, die deutlich größer sind, als die Spinne selbst. So wurde beispielsweise das Erlegen von Exemplaren der Listspinne (Pisaura mirabilis) seitens Individuen des Silbergras-Herzfleckläufers belegt. Lebenszyklus und Phänologie Der Lebenszyklus des Silbergras-Herzfleckläufers entspricht im Überwiegenden dem anderer Herzfleckläufer (Thanatus). Die Phänologie (Aktivitätszeit) der Art beläuft sich bei ausgewachsenen Individuen beider Geschlechter von Mitte April bis September. Das Balzverhalten des Silbergras-Herzfleckläufer besteht wie bei anderen Herzfleckläufern aus einem Trommeln mit den Pedipalpen seitens des Männchens, ehe es wie bei den anderen Arten der Gattung nach einer gewissen Zeitperiode auf das Weibchen, das während der Paarung in einem katalepsieartigen Zustand verweilt, springt, sodass beide Geschlechtspartner sich während der Paarung übereinander befinden. Auch ansonsten gleicht das Paarungsverhalten des Silbergras-Herzfleckläufers dem anderer Herzfleckläufer, sodass das Männchen seine in die Epigyne des Weibchens einzuführenden Bulbi mehrmals wechselt. Während einem Wechsel dreht sich das auf dem Rücken des Weibchens befindliche Männchen zur jeweils anderen Seite, in die der folgende Bulbi eingeführt werden soll und führt dabei auf dem Rücken des Weibchens tanzartige Bewegungen aus. Die Paarung kann beim Silbergras-Herzfleckläufer bis zu 1,5 Stunden in Anspruch nehmen. Nach der Paarung verlässt das Männchen schnell seine Geschlechtspartnerin, dessen katalepsieartiger Zustand einige Sekunden nach dem Paarungsende nachlässt. Kannibalismus kommt wie bei anderen Herzfleckläufern (Thanatus) scheinbar nicht vor. Der einige Zeit nach der Paarung vom Weibchen angefertigte Eikokon ist cremefarben und erinnert von der Form her an eine Sammellinse. Der Kokon wird auf der Oberseite von Blättern befestigt und vom Weibchen bis zum Schlupf bewacht. Die Jungtiere überwintern dann im subadulten Stadium oder im bereits ausgewachsenen Zustand. Systematik Die Systematik des Silbergras-Herzfleckläufers erfuhr mehrfach Veränderungen. Der Artname formicinus ist eine Abwandlung des lateinischen Nomens formica für „Ameise“ (heute vorwiegend die wissenschaftliche Bezeichnung für die Gattung der Waldameisen) und rührt daher, dass der weibliche Holotypus (für die Erstbeschreibung angewandtes Exemplar) bei einem Ameisenhügel gefunden wurde. Der Silbergras-Herzfleckläufer ist außerdem die Typusart der Herzfleckläufer (Thanatus). Beschreibungsgeschichte Der Silbergras-Herzfleckläufer wurde bei seiner 1757 seitens Carl Alexander Clerck durchgeführten Erstbeschreibung wie alle im 18. Jahrhundert beschriebenen Spinnenarten in die Gattung Araneus (heute die zu den Echten Radnetzspinnen (Araneidae) zählende Gattung der Kreuzspinnen) eingeordnet und als A. formicinus beschrieben. Anschließend führten ihn verschiedene Autoren in unterschiedliche Gattungen und Familien, sodass er mehrere taxonomische Umstellungen erfuhr. Thanatus formicinus ist seit einer 1936 von Saburô Saitô durchgeführten Anwendung der Bezeichnung die durchweg genutzte für die Art. Artengruppe des Silbergras-Herzfleckläufers Seit 1965 besteht eine von Robert X. Schick entworfene und nach dem Silbergras-Herzfleckläufer benannte Artengruppe, die anfangs lediglich neben dem Silbergras-Herzfleckläufer einige weitere in Kalifornien vorkommende Arten der Herzfleckläufer (Thanatus) umfasste. 1996 wurde die Gruppe seitens Dmitri Viktorovich Logunov überarbeitet und beinhaltet neben dem Silbergras-Herzfleckläufer und einigen in Nordamerika vorkommenden Vertretern der Gattung nun auch in Asien verbreitete Arten. Beide Autoren verwendeten jeweils gemeinsame Merkmale, von denen sich die Arten der Gruppe von anderen Herzfleckläufern unterscheiden lassen. Schick gab folgende Merkmale für die zu dieser Gruppe zählenden Arten an: Bei den Femora vom zweiten Beinpaar beträgt bei den Weibchen der Arten der Längenindex (Länge der Femora des zweiten Beinpaars dividiert durch die von denen des ersten) dieser Gruppe 1 bis 1,2, während den Tibien des ersten Beinpaares angeblich eine prolaterale Bestachelung fehlen soll. An den Pedipalpen befindet sich distal je ein membranöser Bereich, der bis zum prolateralen Rand des Tegulums vom jeweiligen Pedipalpus reicht. Alle Arten besitzen laut Schick gut entwickelte und stark sklerotisierte retrolaterale Apophysen. Die primäre ventrolaterale (seitlich unten liegende) Apophyse ist als blasser Höcker auf der ventrobasalen (unten an der Basis liegend) Seite der retrolateralen (seitlich rückliegende) Apophyse ausgebildet, während eine sukundäre ventrolaterale Apophyse jedoch fehlt. Die Epigyne weist bei allen Arten der Gruppe mitsamt dem Silbergras-Herzfleckläufer ein sklerotisiertes Zentrum auf und die seitliche Führungstasche ist im posterioren Teil, die an den posterioren Rand der Epigyne ranreicht, befindlich. Die Spermathekalen besitzen je ein sklerotisiertes Apodems (sklerotisierte Einfaltung des Exoskeletts, bzw. Außenpanzers). Ihr posteriorer Teil ist mit deutlichen Quernähten versehen. Die in Kalifornien verbreitete Artengruppe des Silbergras-Herzfleckläufers umfasst neben diesem laut Schick die Arten T. altimontis und T. coloradensis. Logunov gab bei seiner Beschreibung der Artengruppe ähnliche Gemeinsamkeiten bezüglich der Merkmale wie Schick an. So fehlt ebenso laut ihm bei allen Arten der Gruppe eine sekundäre Tibialapophyse und die ventrale Tibialapophyse ist als blasser Höcker allerdings auf der ventrobasalen Seite der dorsalen Tibialapophyse entwickelt, wobei sie laut Logunov allerdings auch nicht ausgeprägt sein kann. Er beschreibt zusätzlich, dass die dorsale Tibialapophyse bei der Artengruppe gut entwickelt und meist stark sklerotisiert ist und außerdem eine schwach ausgebildete teguläre Apophyse vorhanden sein kann. Sowohl Schick als auch Logunov gaben an, dass die vergleichsweise großen Spermatheken ziemlich stark sklerotisiert sowie mit gut ausgebildeten Quernähten ausgestattet sind. Laut Logunov umfasst die Artengruppe des Silbergras-Herzfleckläufers zumindest 11 Arten. Dazu zählen neben diesem die sechs weiteren in Nordasien vorkommenden Arten T. arcticus, T. coloradensis, T. mongolicus, T. nigromaculatus, T. nipponicus und T. ubsunurensis. Bei den weiteren vier Arten handelt es sich um die in Kaukasien und Mittelasien verbreitete Art T. imbecillus, die in Mittelasien vertretene Art T. kitabensis, die in Israel vorkommende Art T. meronensis und die Art T. rubicellus, die in den kühlen gemäßigten Regionen der Vereinigten Staaten und Kanadas heimisch ist. Die Zugehörigkeit der Arten T. imbecillus und T. meronensis zur Artengruppe des Silbergras-Herzfleckläufers ist jedoch nicht vollständig geklärt, da sich beiden Arten durch die eigentümlichen gefalteten und zweizähnigen dorsalen Tibialapophysen an den Pedipalpen der Männchen von den anderen Arten unterscheiden. Einzelnachweise Literatur Weblinks bei Global Biodiversity Information Facility Thanatus formicinus beim Rote-Liste-Zentrum Thanatus formicinus bei der British Arachnological Society Thanatus formicinus bei araneae - Spiders of Europe Thanatus formicinus beim Wiki der Arachnologischen Gesellschaft e. V. Laufspinnen
11072419
https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht%20bei%20Prairie%20Grove
Schlacht bei Prairie Grove
Die Schlacht bei Prairie Grove fand während des Amerikanischen Bürgerkriegs am 7. Dezember 1862 im Washington County im Nordwesten von Arkansas statt. Sie gehört zu den wichtigsten Kampfhandlungen auf dem Kriegsschauplatz westlich des Mississippi. Durch ihren Sieg konnte die Union Nordarkansas sichern und den Weg zur Eroberung Little Rocks im darauffolgenden Sommer ebnen. Die Schlacht begann mit dem Versuch einer konföderierten Streitmacht unter General Hindman, zwei räumlich getrennte Truppenteile der nordstaatlichen Frontier-Armee zu schlagen, bevor diese sich vereinigen konnten. Hindman umging zu diesem Zweck die Division von General Blunt und stellte sich den Divisionen General Herrons auf dem Hügel Prairie Grove entgegen. Herron ergriff die Offensive und wollte sich den Weg zu Blunts Division freikämpfen. In einer Serie von Angriffen und Gegenangriffen konnte keine Seite entscheidende Vorteile erzielen. Blunt setzte jedoch seinerseits seine Truppen zu Herrons Unterstützung in Marsch und erreichte das Schlachtfeld am Nachmittag. Auch danach konnte keine Seite den Gegner vom Schlachtfeld vertreiben, Hindmans Konföderierte zogen sich allerdings in der Nacht wieder nach Süden zurück. Vorgeschichte Konföderierte Reorganisation in Arkansas Im März 1862 hatten Truppen der Nordstaaten unter Brigadegeneral Samuel Curtis die Konföderierten unter Generalmajor Earl Van Dorn in der Schlacht am Pea Ridge in Nordarkansas geschlagen und dadurch die Kontrolle über den Grenzstaat Missouri gesichert. Zur gleichen Zeit brach infolge der Niederlagen bei Mill Springs, Fort Henry und Fort Donelson auch die konföderierte Position in Tennessee und Kentucky zusammen. Der konföderierte Befehlshaber westlich der Appalachen, General Albert Sidney Johnston, zog deswegen seine Verbände bei Corinth zusammen und beorderte zur Unterstützung auch Van Dorns Truppen auf die östliche Seite des Mississippi. Nordarkansas wurde dadurch bis auf einige Milizeinheiten militärisch entblößt. Curtis’ Südwest-Armee ergriff nun die Offensive mit dem Ziel, die Hauptstadt Little Rock zu erobern. Am 3. Mai erreichten seine Truppen Batesville, etwa 90 Meilen (über 140 km) nördlich von Little Rock. Sein weiterer Vormarsch verlangsamte sich jedoch aufgrund von Nachschubproblemen. Auf konföderierter Seite wurde am 26. Mai Generalmajor Thomas C. Hindman zum neuen Verantwortlichen für die Verteidigung des konföderierten Gebiets westlich des Mississippi (Department of the Trans-Mississippi) ernannt. Hindman traf am 31. Mai 1862 in Little Rock ein. In seinem ganzen Wehrbezirk verfügte er nur über 9.000 Mann, darunter 3.000 Indianer, die sich den Südstaaten angeschlossen hatten. Hindman galt als eine schillernde Persönlichkeit. Er war 34 Jahre alt und hatte Arkansas vor dem Krieg im Kongress vertreten. Er wird als „adrett, lebhaft, dandyhaft“, vor allem aber als energisch beschrieben. Trotz der schlechten Situation in Arkansas setzte er sein Augenmerk sofort nach seiner Ankunft auf die Offensive und begann, eine neue Armee aufzubauen. So erwirkte er den Transfer einiger Einheiten von anderen Kriegsschauplätzen. Zur gleichen Zeit versuchte der Gouverneur von Arkansas als Reaktion auf den Abzug von Van Dorns Streitmacht eigene Verbände aufzustellen, die nur dem Gliedstaat und seiner Verteidigung verpflichtet waren und nicht der konföderierten Armee unterstehen sollten. Hindman drohte ihm, diese Truppen unter Anwendung des konföderierten Wehrpflichtgesetzes in konföderierte Dienste zu überführen, und der Gouverneur gab schließlich nach. Hindmans Ziel war, dass sich sein Wehrbereich militärisch selbst versorgen konnte. Er veranlasste deswegen den Aufbau von Fabriken, die Waffen, Zündhütchen, aber auch Leder, Schuhe und andere Kriegsgüter produzierten. Anfang Juli 1862 hatte er somit eine Armee aufgebaut, die 20.000 Mann und 46 Geschütze umfasste. Durch eine Serie von Täuschungsmanövern (und dank Curtis’ Nachschubsorgen) gelang es ihm, Curtis zum Abbruch seiner Offensive gegen Little Rock zu zwingen. Der Unionsgeneral und seine Armee zogen sich zuerst nach Batesville und dann ostwärts in Richtung Helena am Mississippi zurück, wo sie über den Fluss versorgt werden konnten. Hindman griff bei seinem Aufbau auch zu drastischen Maßnahmen. So erklärte er am 30. Juni das Kriegsrecht über Arkansas. Um die Desertion zu bekämpfen, befahl er, dass zehn Deserteure kriegsgerichtlich verurteilt und erschossen wurden. Darüber hinaus verlangte er von Sklavenhaltern, ihre Sklaven für Schanzarbeiten bereitzustellen und beschlagnahmte und verbrannte all die Baumwolle, von der er befürchtete, dass sie Curtis’ Truppen in die Hände fallen könnte. Solche Maßnahmen machten ihn bei der Bevölkerung und vor allem bei der lokalen Pflanzerelite nicht beliebt und er wurde politisch angreifbar. Im September 1862 ersetzte ihn Präsident Jefferson Davis deswegen als Befehlshaber des Wehrbereichs Trans-Mississippi durch Generalleutnant Theophilus H. Holmes. Hindman behielt jedoch das Kommando über den Bezirk Arkansas und das Indianerterritorium. Hindmans erste Offensive Curtis’ Truppen in Nordarkansas waren nicht die einzige Bedrohung für die Konföderierten. In Fort Scott befehligte Brigadegeneral James G. Blunt eine Division, die gerade von einer Expedition ins von den Konföderierten kontrollierte Indianerterritorium zurückgekehrt war. Blunt wollte wieder ins Indianerterritorium vorrücken, musste aber aufgrund von starker konföderierter Guerillaaktivität im benachbarten Missouri dem dortigen Befehlshaber John McAllister Schofield aushelfen. Hindman hatte unterdessen seine Truppen, nun als „1. Korps der Trans-Mississippi-Armee“ bezeichnet, bei Fort Smith in Nordarkansas gesammelt. Von dort aus marschierte er in Missouri mit dem Ziel ein, bis an den gleichnamigen Fluss vorzurücken. Anfang September erreichte er Südwestmissouri und wollte von dort auf Springfield marschieren. Kurz darauf wurde er jedoch von Holmes nach Little Rock beordert. In seiner Abwesenheit fiel das Kommando über seine Truppen an Brigadegeneral James S. Rains. Am 19. September übernahm Curtis das Kommando über den neu geschaffenen übergeordneten Wehrbereich des Missouri (Department of the Missouri), der die Staaten Missouri, Arkansas, Kansas und das Indianerterritorium umfasste. Curtis konzentrierte drei Divisionen gegen die konföderierte Invasion: Von Springfield aus führte General Schofield zwei Divisionen nach Südosten und von Fort Scott aus wurde Blunts reorganisierte Division ebenfalls nach Südmissouri beordert. Hindman hatte Rains angewiesen, die Offensive während seiner Abwesenheit nicht fortzuführen, doch Rains sandte seine Kavallerie in nordöstlicher Richtung nach Newtonia. Am 30. September traf sie dort auf Frederick Salomons Brigade aus Blunts Division und schlug diese zurück. Blunt und Schofield konzentrierten ihre Truppen ihrerseits in Newtonia und mit vereinten Kräften besiegten sie nun die konföderierte Kavallerie. Die vereinigte Streitmacht bestand aus drei Divisionen und wurde als Frontier-Armee (Army of the Frontier) unter Schofields Befehl gestellt. Mit rund 11.–14.000 Mann effektiver Stärke gelang es der Frontier-Armee, die Konföderierten wieder aus Missouri zu vertreiben. Ende Oktober zogen sich die Konföderierten hinter die Bergkette der Boston Mountains zurück und Schofields Truppen besetzten Fayetteville in Nordwestarkansas. Neugruppierung Hindman war inzwischen wieder aus Little Rock zu seinem Korps zurückgekehrt. In den folgenden Wochen manövrierten beide Seiten in Nordarkansas, ohne sich jedoch große Vorteile verschaffen zu können. Beide Seiten hatten mit Nachschubproblemen zu kämpfen. Schofield und Blunt waren weit weg von ihren Nachschubdepots in Springfield und Fort Scott und Hindmans Versorgung wurde durch Niedrigwasser des Arkansas erschwert. Die Gebirgsregion um die Boston Mountains bot den Armeen außerdem wenig Möglichkeit, sich im Land zu verpflegen. Anfang September marschierten die beiden Armeen deswegen voneinander weg: Die Unionstruppen zogen sich nach Nordosten zurück. Schofield mit den beiden Divisionen Tottens und Herrons marschierte nach Ozark in Missouri, während Blunts Division in Nordarkansas blieb. Auf ihrem Rückzug wandten die Unionstruppen eine Taktik der Verbrannten Erde an, um den Konföderierten eine zukünftige Offensive logistisch noch schwieriger zu machen. Hindman seinerseits zog seine Armee in das Tal des Arkansas und von dort nach Fort Smith zurück, um sich zu versorgen und neu zu gruppieren. Beide Oberkommandeure – Curtis in St. Louis und Holmes in Little Rock – wurden zu dieser Zeit aus Washington und Richmond unter Druck gesetzt, den strategisch wichtigen Feldzug gegen Vicksburg zu unterstützen. Curtis wollte zwei von Schofields Divisionen nach Helena senden, um von dort mit Grants Truppen am anderen Ufer des Mississippi kooperieren zu können. Die konföderierte Regierung ihrerseits drängte Holmes, Helena für die Konföderierten zurückzuerobern oder 10.000 Mann nach Vicksburg zu schicken. Hindman hatte inzwischen aber von Schofields Rückzug erfahren und überzeugte seinen Vorgesetzten stattdessen, ihn Blunts isolierte Division in Nordarkansas angreifen zu lassen. Hindmans zweite Offensive Hindmans Feldarmee war zu diesem Zeitpunkt rund 11.500 Mann stark und verfügte über 22 Geschütze. Blunt, mit etwa 7.000 Mann und 20 Geschützen, biwakierte zwanzig Meilen südwestlich von Fayetteville, während Schofields andere beide Divisionen (etwa 6.000 Mann mit 22 Geschützen) in der Nähe von Springfield waren, mehr als hundert Meilen von Blunt entfernt. Schofield selbst war erkrankt. Blunt hatte deswegen nominell das Kommando über die ganze Frontier-Armee. Die beiden Divisionen bei Springfield unterstanden nun General Herron. Der 36-jährige Blunt war ein aggressiver Anführer. Er war ursprünglich als Arzt nach Kansas gekommen, hatte sich dort dann allerdings während der Unruhen in den 1850er Jahren einen Namen als Abolitionist und radikaler Republikaner gemacht. Er gab nicht viel auf militärisches Zeremoniell, war aber kühn, entschlossen und bei seinen Männern beliebt. Hindman hatte eine Kavalleriedivision unter Brigadegeneral John S. Marmaduke nach Cane Hill, südwestlich von Fayetteville, geschickt, um dort Nachschub zu sammeln. Als Blunt hiervon erfuhr, griff er Marmaduke am 28. November mit 5.000 Mann an. Die Konföderierten zogen sich zurück, doch Blunts taktische Offensive hatte die Distanz zwischen ihm und Herrons zwei Divisionen weiter vergrößert. Trotzdem entschied er sich, die Stellung bei Cane Hill zu halten und beorderte Herrons Divisionen zu sich. Später gab er allerdings zu, dass er gar nicht wusste, wo genau diese beiden Divisionen zu diesem Zeitpunkt waren. Tatsächlich waren die Konföderierten zu diesem Zeitpunkt deutlich näher an Blunt als dessen mögliche Verstärkungen. Hindmans Route war allerdings schwieriger. Außerdem trieb Herron seine beiden Divisionen zu einem Gewaltmarsch an. In eisiger Kälte und auf schlechten Straßen legten die Nordstaatler zwischen dem 3. und 6. Dezember mehr als hundert Meilen zurück. Um Mitternacht des 6. Dezember erreichten sie Fayetteville, nur noch zwanzig Meilen von Blunt entfernt. Ein beteiligter Offizier schrieb später, es handele sich hierbei um „den großartigsten Marsch, den irgendeine Truppe während des Rebellionskrieges durchführte“. Auf Befehl Blunts schickte Herron einen Großteil seiner Kavallerie schon zu ihm. Diese Verstärkungen – rund 1.600 Mann – erreichten Blunt am Abend des 6. Dezember in seinem Hauptquartier Boonsboro. Hindman hatte Blunts Stellung am Morgen des 6. Dezember erreicht. Hier erfuhr er von Herrons Anstrengungen und von Blunts Verstärkungen. Er befürchtete, dass Blunt sich bei einem Angriff auf Cane Hill nach Nordosten zu Herron zurückziehen würde und änderte deswegen seine Pläne: Statt Blunt anzugreifen ließ er ihn lediglich durch eine Kavalleriebrigade beobachten und nahm das Gros seiner Armee – rund 10.000 Mann – auf einen weiteren Marsch nach Norden, um zuerst Herron zu besiegen und sich dann auf Blunt zu konzentrieren. Verlauf Beteiligte Verbände Die auf Unionsseite eingesetzten Truppen waren als Frontier-Armee bekannt und unterstanden dem Wehrbereich Missouri (Department of the Missouri), der von Generalmajor Samuel R. Curtis befehligt wurde. Die Frontier-Armee gliederte sich wie folgt: Hindmans Kommando wurde als I. Korps der Trans-Mississippi-Armee bezeichnet und unterstand Generalleutnant Theophilus H. Holmes’ Wehrbereich Trans-Mississippi (Department of the Trans-Mississippi). Es gliederte sich wie folgt: Ausgangslage und Kontakt Bei Tagesanbruch des 7. Dezember hatte Blunt mit zwei Brigaden eine Stellung auf einem Höhenrücken bei Newburg bezogen, südöstlich der Straße nach Fayetteville. Bei Newburg trafen sich zwei Straßen: Nach Nordosten erstreckte sich die Fayetteville Road, über die Herrons Kommando in Richtung Blunt marschierte. Nach Südosten führte die Van Buren Road, über die Hindmans Kommando angekommen war. Hindman hatte Oberst Monroes Kavalleriebrigade südöstlich von Blunt auf der Van Buren Road postiert. Der Großteil seiner Armee – Marmadukes Kavalleriedivision und die Infanteriedivisionen Frosts und Shoups – sollte nun entlang der weiter östlich gelegenen Cove Creek Road direkt nach Norden marschieren, bis zur Mündung der Cove Creek Road in die Fayetteville Road. Von dort sollte die konföderierte Armee nach Nordosten schwenken und dann entlang der Fayetteville Road auf Herrons Kolonne zumarschieren. Die zurückgelassene Brigade Monroes hatte unterdessen den Auftrag, mit Blunt zu scharmützeln, um diesen vom Marsch der Hauptkolonne abzulenken. Auf Unionsseite waren unterdessen zwei weitere Kavallerieeinheiten in Regimentsstärke auf dem Weg zu Blunts Position. Diese trafen in den Morgenstunden des 7. Dezember auf Marmadukes Division und wurden in die Flucht geschlagen. Die Unionskavallerie flüchtete entlang der Fayetteville Road in Richtung Herron, der seinen Marsch fortgesetzt hatte. Herron versuchte, die Flucht der Kavalleristen zu stoppen und schoss zu diesem Zweck sogar einen der Reiter von seinem Pferd. Herrons Infanterie ging auf der Nordseite des Illinois in Stellung. Auf der anderen Seite des Flusses stellte Hindman seine Truppen auf einem dicht bewaldeten Hügel namens Prairie Grove auf. Zwischen den Konföderierten auf Prairie Grove und den Unionisten auf der Nordseite des Illinois befand sich eine flache Prärielandschaft (Crawford’s Prairie), die sich in Nord-Süd-Richtung etwa 1200 Meter erstreckte. Auf der Nordseite von Prairie Grove waren außerdem mehrere Farmhäuser und weiter südlich, an der Straßenkreuzung der Fayetteville mit der Cover Creek Road, erhob sich eine Kirche. Zu Beginn der Kampfhandlungen verfügten sowohl Herron als auch Hindman nur über Teile ihrer Truppen. Herron hatte zu Beginn nur seine führende Division bei sich, während die andere noch auf dem Marsch war. Hindman hatte eine Infanteriedivision entlang der Fayetteville Road mit Front nach Südwesten gelassen, um dort einen möglichen Vormarsch Blunts zu blockieren. Er verfügte deswegen nur über Shoups Infanteriedivision und Marmadukes Kavallerie. Gegen 11:00 Uhr waren diese rund 4.800 Mann und 10 Geschütze auf der Nordseite von Prairie Grove in Stellung. Angriffe und Gegenangriffe Herron befand sich in einer schwierigen Situation. Einerseits sah er, dass die konföderierte Position auf Prairie Grove sehr stark war, andererseits war sein Auftrag, so schnell wie möglich zu Blunt nach Cane Hill zu kommen. Herron gab später an, dass er wusste, dass er sich einem Großteil von Hindmans Streitmacht gegenübersah, wahrscheinlich glaubte er jedoch zunächst, dass es sich nur um einen kleineren Blockadeversuch handelte. Er wollte seine Artillerie in Stellung bringen, mit ihr die konföderierte Artillerie zum Schweigen bringen und die konföderierte Position dann stürmen. Herrons Artillerie war derjenigen Hindmans sowohl quantitativ als auch qualitativ überlegen. Gegen die 10 konföderierten Geschütze konnte Herron 20 in Stellung bringen. Die Hälfte von Herrons Geschützen bestand aus modernen gezogenen Kanonen, während Hindman nur ältere Sechspfünderkanonen und Zwölfpfünderhaubitzen aufbieten konnte. Darüber hinaus hatte die Unionsartillerie mehr Munition zur Verfügung. Das Ergebnis war eindeutig. Während die Unionstruppen die konföderierten Batterien unter präzises Feuer nehmen konnten, blieb die konföderierte Antwort ineffektiv. Hindman befahl seinen Batterien um 14:00 Uhr, das Feuer einzustellen, um keine weitere Munition zu verschwenden. Die Unionsartillerie feuerte weiter in die konföderierten Stellungen auf Prairie Grove. Die Verluste unter den vom Wald gedeckten Konföderierten waren zwar gering, doch viele erinnerten sich später an das konzentrierte Feuer der Unionsartillerie, das einem Teilnehmer der Schlacht „dicht wie Hagel“ vorkam. Nachdem die konföderierte Artillerie zurückgetrieben war, ließ Herron gegen 14:30 Uhr seine Infanterie vorrücken, die über Crawford’s Prairie auf Prairie Grove zumarschierte. Für die Union rächte sich, dass Herron auf Blunts Befehl so prompt reagiert und fast seine gesamte Kavallerie nach Süden geschickt hatte. Herron fehlten dadurch die Aufklärungsmittel. Er ging davon aus, dass der rechte Flügel der Konföderierten in der Nähe des Farmhauses der Familie Borden verlief und setzte dort seinen Angriff an. Tatsächlich war das Borden-Haus allerdings recht genau in der Mitte der konföderierten Linie. Herrons Plan, die rechte Flanke der Konföderierten aufzurollen konnte deswegen nicht aufgehen. Dem 20. Wisconsin Infanterieregiment gelang es zwar dank der Geländebeschaffenheit, westlich des Borden-Hauses eine konföderierte Batterie zu überrennen, es wurde dann aber von einem Gegenangriff zweier Regimenter aus General Fagans Brigade zurückgeworfen. Dem 19. Iowa Infanterieregiment östlich des Borden-Hauses erging es nicht besser, es traf ebenfalls auf zwei Arkansas-Regimenter. In einem Feuergefecht, das zu den intensivsten während des Sezessionskrieges westlich des Mississippi zählte, unterlag es und musste ebenfalls zurückweichen. Der Anblick der fliehenden Unionstruppen ermutigte einige der Arkansasregimenter, einen spontanen Gegenangriff von Prairie Grove herab durchzuführen, der jedoch im Kartätschenfeuer der Unionsartillerie zusammenbrach. Herron sandte zwei zusätzliche Regimenter in den Angriff, die aber ebenfalls abgeschlagen wurden. Wieder gingen die Konföderierten zum unkoordinierten Gegenangriff über, und wieder wurde dieser abgewiesen. Blunt trifft ein Blunt hatte unterdessen das Manöver der Konföderierten bemerkt und war Herron zu Hilfe geeilt. Über den Zeitpunkt seines Eintreffens gibt es verschiedene Angaben. In seinem offiziellen Bericht zur Schlacht gab er an, das Schlachtfeld um 13:45 Uhr erreicht zu haben. Herron dagegen machte zwei unterschiedliche Zeitangaben: In einem Bericht vom 9. Dezember schrieb er, Blunt sei um 16:00 Uhr eingetroffen, einige Tage später datierte er Blunts Ankunft auf 14:30 Uhr. Der Historiker William L. Shea hält die frühen Uhrzeiten für nicht plausibel und gibt Blunts Ankunft mit etwa 15:15 Uhr an, etwa zu der Zeit, als der zweite konföderierte Gegenangriff scheiterte. Auf jeden Fall erreichte Blunt das Schlachtfeld auf Herrons rechter Seite und ging zum Angriff über. Hindman warf ihm Parsons Division entgegen, die Blunts Angriff stoppen konnte. Wieder ergriffen die Konföderierten ihrerseits die Initiative, und wieder wurden sie von der Unionsartillerie gestoppt. Bei Einbruch der Dunkelheit hatte sich trotz fünf Stunden blutigen Kampfes eine taktische Pattsituation ergeben. Hindmans operatives Ziel, Herron zu schlagen, bevor er sich mit Blunt vereinigen konnte, war allerdings durch die Ankunft Blunts vereitelt worden. Hindmans Armee war auch nicht mehr in der Lage, den Kampf fortzusetzen, da es insbesondere an Munition und Nahrungsmitteln mangelte. Hindman gab noch in der Nacht den Befehl zum Rückzug. Die Konföderierten ummantelten die Räder ihrer Geschütze mit Decken, um die Unionstruppen nicht durch die Geräuschentwicklung auf ihre Bewegung aufmerksam zu machen. Als Nachhut blieb Marmadukes Kavalleriedivision auf dem Schlachtfeld zurück. Am nächsten Tag machte auch sie sich, begleitet von Hindman, auf den Weg nach Van Buren. Nachwirkungen Die Nordstaaten bezifferten ihre Verluste auf 175 Gefallene, 813 Verwundete und 263 Vermisste, insgesamt 1.251 Mann. Die konföderierten Berichten gaben 164 Gefallene, 817 Verwundete und 263 Vermisste an, sind aber wahrscheinlich weniger zuverlässig und sollten eher als untere Grenze angesehen werden. Hindmans Armee war durch den Rückzug demoralisiert. Krankheit und Desertionen verringerten ihre Zahl auf nur noch rund 5.000 Mann. Schlecht versorgt und schlecht verpflegt lagerten sie im Arkansas-Tal bei Van Buren und Fort Smith. Der energische Blunt ließ sie dort jedoch nicht zur Ruhe kommen. Trotz der Bedenken seines Vorgesetzten Schofield setzte er den Konföderierten Ende Dezember mit 8.000 Mann nach, überquerte die Boston Mountains und attackierte am 28. Dezember Van Buren. Hindman zog sich nach Little Rock zurück. Blunt und Herron wurden beide im März 1863 zu Generalmajoren mit Rangdatum 29. November 1862 befördert. Trotz des Sieges bei Prairie Grove kam es nach der Schlacht zu Streitigkeiten zwischen General Schofield und seinen beiden Untergebenen Blunt und Herron. Dabei ging es zum einen um die Bewertung des Feldzuges und der Rolle der drei Beteiligten, aber auch um politische Differenzen: Schofield war politisch eher konservativ und gegen die Abschaffung der Sklaverei, Blunt und Herron dagegen gehörten zur Gruppe der radikalen Abolitionisten. Kurzfristig wurde der Streit durch Schofields Versetzung zur Cumberland-Armee gelöst. Am 13. Mai 1863 kehrte er jedoch als neuer Befehlshaber des übergeordneten Wehrbereiches Missouri zurück. Herron weigerte sich, weiter unter Schofield zu dienen, und wurde daraufhin zu Ulysses S. Grants Tennessee-Armee versetzt. Auch General Curtis musste seinen Posten aufgrund politischer Differenzen aufgeben: Als ehemaliger Kongressabgeordneter für die Republikaner stand er im Zwist sowohl mit seinem Untergebenen Schofield, als auch mit dem demokratischen Gouverneur von Missouri Hamilton R. Gamble und mit Henry W. Halleck, dem Oberbefehlshaber des US-Heeres. Lincoln war zwar militärisch nicht unzufrieden mit Curtis, ersetzte ihn aber im Mai 1863 durch Schofield, um die politischen Grabenkämpfe zu beenden (und – wie er selbst sagte – weil er zwar einen General, nicht aber einen Gouverneur absetzen konnte). Curtis kehrte allerdings ein Jahr später als Kommandeur des Wehrbereichs Kansas wieder auf den Kriegsschauplatz westlich des Mississippi zurück. Die Schlacht von Prairie Grove hatte mehrere wichtige Auswirkungen. Hindmans Armee war nun definitiv nicht mehr in der Verfassung, um irgendwie in die Verteidigung Vicksburgs eingreifen zu können. Die Niederlage bei Prairie Grove und der Rückzug hinter den Arkansas bedeutete für die Konföderierten außerdem den dauerhaften Verlust von Nordwestarkansas und des nördlichen Indianerterritoriums. Zwar gab es auch in Zukunft Kavallerie-Raids und Guerillaaktionen bis nach Missouri, doch die Konföderierten waren danach nie mehr in der Lage, das Gebiet militärisch zu kontrollieren. Der Feldzug nach Prairie Grove war auch die letzte groß angelegte operative Offensive der Südstaaten westlich des Mississippi. Von nun an blieben sie in die Defensive gedrängt und konnten allenfalls taktisch zu Gegenangriffen übergehen. Nach der Kapitulation Vicksburgs und Port Hudsons im Sommer 1863 war der Wehrbereich Trans-Mississippi vom Rest der Konföderation abgeschnitten. Einige Wochen später wurden die Konföderierten durch unionistische Offensiven aus Little Rock und Forth Smith verdrängt und zogen sich, von Partisanen abgesehen, in den Südwestteil des Staates zurück. Gedenken Das Schlachtfeld ist heute ein Staatspark des Bundesstaates Arkansas, der Prairie Grove Battlefield State Park. 1908 hatten die United Daughters of the Confederacy Teile des ehemaligen Schlachtfeldes erworben und begonnen, Veteranentreffen zu veranstalten. Inzwischen umfasst der Park fast 3,5 Quadratkilometer und wird auch archäologisch erschlossen. Eine Besonderheit des Parks ist das Besucherzentrum Hindman Hall, das einzige nach einem konföderierten General benannte Gebäude auf einem Schlachtfeld des Sezessionskrieges. General Hindmans ältester Sohn hatte in seinem Testament 100.000 Dollar für den Zweck hinterlassen, seinem Vater eine Gedenkstätte auf dem Prairie-Grove-Schlachtfeld zu bauen. Dieses Geld wurde für die Errichtung des Besucherzentrums genutzt und erklärt seine Namensgebung. Alle zwei Jahre findet im Park ein großes Reenactment der Schlacht statt, eine Art Nachstellung, das größte seiner Art in Arkansas. Anmerkungen Literatur Thomas W. Cutrer. 2017. Theater of a Separate War – The Civil War West of the Mississippi River. Chapel Hill: University of North Carolina Press Shelby Foote. 1986. The Civil War – A Narrative: Fredericksburg to Meridian. First Vintage Edition. New York: Vintage Books. Alvin M. Josephy, Jr. 1991. The Civil War in the American West New York: Alfred K. Knopf. 1880–1901. Hier vor allem Serie 1, Band 22, Teil 1 William L. Shea. 2009. Fields of Blood: The Prairie Grove Campaign. Chapel Hill: University of North Carolina Press. Weblinks Eintrag zur Schlacht in der Datenbank des National Park Service Konflikt 1862 Prairie Grove Geschichte von Arkansas Washington County (Arkansas)
12391297
https://de.wikipedia.org/wiki/Duell%20Castlereagh%E2%80%93Canning
Duell Castlereagh–Canning
Das Duell Castlereagh–Canning war ein mit Pistolen ausgetragenes Duell zwischen dem britischen Kriegsminister Viscount Castlereagh und Außenminister George Canning, das am 21. September 1809 bei Putney Heath stattfand. Gründe für das Duell waren die Rivalität beider Politiker und zahlreiche Unstimmigkeiten zwischen beiden über die Führung des Kriegs gegen das napoleonische Frankreich in den Jahren 1808 und 1809. Diese führten im Frühjahr 1809 zu Cannings Forderung nach einer Neubesetzung im Kriegsministerium, verbunden mit einer Androhung seines eigenen Rücktritts. Premierminister Portland wollte weder Canning noch Castlereagh verlieren und zögerte eine Entscheidung lange hinaus; stattdessen wurde die Angelegenheit mit König Georg III. und anderen Kabinettsmitgliedern hinter dem Rücken Castlereaghs besprochen. Castlereagh, der über die Vorgänge lange im Dunkeln blieb, erfuhr erst im Spätsommer 1809 von den Diskussionen und forderte einige Tage später Canning zum Duell. Das Duell, bei dem Canning von Castlereagh am Bein verwundet wurde, führte zum endgültigen Kollaps der Regierung Portland und zum Aufstieg Spencer Percevals zum neuen Premierminister, während Castlereagh und Canning mehrere Jahre außerhalb jeder Regierungsverantwortung auf den Hinterbänken verbrachten. Castlereaghs und Cannings Herkunft und Aufstieg Während Castlereagh einer adeligen Familie mit irisch-schottischen Wurzeln entstammte, war George Canning der Sohn eines enterbten irischen Grundbesitzers und einer Schauspielerin. Seine ersten Lebensjahre hatte er in Armut verbracht, bevor er dank der Großzügigkeit eines Verwandten eine privilegierte Ausbildung in Eton und Oxford durchlief, wo er intellektuell brillierte und kraft seiner als herausragend bezeichneten Talente schnell als vielversprechender Politiker galt. Er galt als gefeierter, scharfzüngiger Redner und als unverhohlen ambitioniert; von seinen privilegierteren politischen Zeitgenossen wurde er aufgrund seiner bescheidenen Herkunft als Außenseiter mit einer Mischung aus Snobismus und Misstrauen beobachtet. Dagegen wurde Castlereagh als archetypischer Vertreter einer privilegierten Gruppe von Insidern wahrgenommen, dem Rang und Würden ohne Anstrengung zufielen, obwohl er als langweiliger, schlechter Redner angesehen wurde. Beide begannen ihre politische Karriere als Anhänger der Whigs um Charles James Fox. Unter dem Eindruck der zunehmend blutiger verlaufenden Französischen Revolution wechselten beide ihre politische Orientierung und schlossen sich William Pitt dem Jüngeren an, der ihr politisches Talent schnell erkannte und sie protegierte. Beinahe gleichaltrig, wurden beide schnell zu Rivalen um Beförderungen und Regierungsposten in Pitts Kabinett. Als dieser 1801 zurücktrat, folgten beide Pitts Beispiel und kehrten auf die Hinterbänke zurück. Pitt ermutigte viele seiner engeren politischen Weggefährten, der neuen Regierung unter dem neuen (von ihm selbst vorgeschlagenen) Premierminister Henry Addington beizutreten. Castlereagh folgte Pitts Rat und wurde Präsident des Kontrollamtes. Der rhetorisch gewandte Canning blieb dagegen auf den Hinterbänken, verspottete Addington und vertrat mit leidenschaftlichem Eifer Pitts Sache. Damit verärgerte er Pitt, der Addington nicht nur selbst als Nachfolger vorgeschlagen hatte, sondern ihn als seinen temporären Platzhalter ansah und im Unterhaus auch unterstützte. Bei Pitts Rückkehr in das Amt des Premierministers im Jahr 1804 behielt Castlereagh sein altes Amt und übernahm zusätzlich die Bürde des Führers des Unterhauses, um den gesundheitlich bereits geschwächten Pitt im Unterhaus zu entlasten. Dazu übernahm er bald noch das Kriegsministerium. Castlereagh, der sich als Kabinettsminister bereits einen Ruf als solider und kompetenter Administrator erworben hatte, stieg so zum unverzichtbaren Mann in der Regierung auf. Der ambitionierte Canning musste sich demgegenüber mit einem unbedeutenden Amt außerhalb des Kabinetts abfinden und wurde auch bei nachfolgenden Vakanzen im Kabinett übergangen. Pitt versprach ihm den nächsten offenen Kabinettsposten, starb jedoch im Januar 1806, woraufhin William Grenville und Charles James Fox die sogenannte Regierung aller Talente bildeten. Castlereagh und Canning in Portlands Kriegsregierung Nach dem Fall der kurzlebigen Regierung aller Talente berief König Georg III. im Frühjahr 1807 den betagten Herzog von Portland als neuen Premierminister. Im neuen Kabinett erhielt Castlereagh sein vormaliges Amt, das Kriegsministerium. Canning wurde nach der Absage des Marquess of Wellesley das Außenministerium zugesprochen. Trotz der substantiellen Beförderung forderte Canning auch den Posten des Führers im Unterhaus ein, den Castlereagh innehatte. Castlereagh war bereit, dieses (als Belastung empfundene) Amt abzugeben, weigerte sich jedoch, es Canning zu überlassen. Als Kompromisslösung fiel die Aufgabe an Spencer Perceval. Wie schon in seiner ersten Amtszeit als Premier, als Charles James Fox die bestimmende Figur in der Regierung gewesen war, war Portland erneut eher eine Galionsfigur als der Kopf der Regierung. In der Praxis erwies sich Portland als führungsschwach, träge und konfliktscheu. Den Kabinettssitzungen blieb er meist fern. Als Resultat von Portlands Schwäche war jedes Ressort sich selbst überlassen. Dadurch gab es im Kabinett keine höhere Autorität, die als Schiedsrichter Unstimmigkeiten zwischen den Ressorts beilegen konnte. Die vier führenden Köpfe im Kabinett waren Canning und Castlereagh, dazu Spencer Perceval in seiner Doppelfunktion als Schatzkanzler und Führer des Unterhauses sowie der Innenminister Lord Hawkesbury (der 1808 nach dem Tod seines Vaters den Titel Earl of Liverpool erbte, mit dem er bekannt wurde). Zum Kabinett gehörte auch der Onkel Castlereaghs, Lord Camden, als Lord President of the Council. Konflikte um die Kriegsführung Im Jahr 1807 dauerte der Krieg gegen das napoleonische Frankreich weiter an. Wie schon seine Vorgänger war auch das Kabinett Portland zerrissen über die richtige Strategie. Im Kabinett kam es schnell zu zahlreichen Unstimmigkeiten, die die Regierung zunehmend paralysierten. Dagegen hatte sich George Canning zunehmend als die treibende Kraft der Regierung etabliert. Um die maritime Überlegenheit der Royal Navy abzusichern, regte Canning erfolgreich an, die Flotte des neutralen Dänemarks entweder über diplomatische Offerten oder notfalls durch Gewalt zu neutralisieren, um sie dem drohenden Zugriff Napoleons zu entziehen. Parallel dazu überredete er die portugiesische Königsfamilie, nach Brasilien zu fliehen, um auch die portugiesische Flotte vor Napoleons Zugriff zu bewahren. Beide Maßnahmen unterstützte Castlereagh. Auch als sich durch Napoleons Intervention in Spanien die Möglichkeit bot, einen neuen Kriegsschauplatz zu eröffnen, war Canning der Taktgeber hinter der schnell getroffenen Entscheidung, Truppen unter Führung Arthur Wellesleys (dem späteren Herzog von Wellington) auf die iberische Halbinsel zu verschiffen, um dort den Aufstand gegen Napoleon zu unterstützen. Castlereagh war im Verlauf des Jahres 1808 mehrere Monate an einer nicht näher beschriebenen Krankheit erkrankt. Dadurch wurde er in Cannings Augen bald eine Belastung. Beide gerieten im Kabinett über die Frage des passenden Oberbefehlshabers mehrmals in Konflikt. Canning sah den bisherigen Befehlshaber Wellesley als geeignete Wahl an, Castlereagh unterstützte im Kabinett die Forderungen von König Georg III. nach einem formal ranghöheren Offizier und setzte sich schließlich durch. Wellesley schlug die Franzosen im August 1808 in der Schlacht von Vimeiro, wurde dann aber den beiden Generälen Burrard und Dalrymple unterstellt. In der Konvention von Cintra verspielten beide den errungenen Vorteil mit einem für Frankreich günstigen Waffenstillstand. Auch der nun anstelle der beiden abberufenen Generäle entsandte – und wiederum von Canning kritisch gesehene – John Moore schlug sich aus Sicht des britischen Kabinetts nicht viel besser und musste seine Armee nach dem Eingreifen Napoleons zurückziehen. Moore fiel im Januar 1809 bei einem Rückzugsgefecht, wodurch Wellesley erneut Oberbefehlshaber wurde. Die Armee wurde zunächst evakuiert und im Frühjahr nach Portugal entsandt. Auch wenn er intern selbst heftige Kritik geübt hatte, verteidigte Canning den Feldzug Moores im Unterhaus gegen die heftigen Angriffe der Opposition in einer machtvollen und einhellig als denkwürdig gefeierten Rede, womit er die Regierung bei der nachfolgenden knappen Abstimmung vor einer Niederlage bewahrte. Auch über den richtigen strategischen Ansatz waren Canning und Castlereagh zunehmend uneinig. Canning forderte eine Konzentration der begrenzten militärischen Kräfte auf den iberischen Kriegsschauplatz. Demgegenüber bereitete Castlereagh parallel zur iberischen Kampagne eine britische Invasion in den Niederlanden oder in Nordfrankreich vor, um den Verbündeten Österreich zu unterstützen und militärisch zu entlasten. Dies führte zur Planung der Walcheren-Expedition. Canning sah dadurch den Erfolg der iberischen Kampagne gefährdet, unterwarf sich jedoch widerwillig der mehrheitlich getroffenen Entscheidung des Kabinetts. Canning suchte nun eine Diskussion mit Premierminister Portland und teilte ihm unumwunden mit, dass die Regierung in ihrer derzeitigen Form nicht geeignet sei, ihre Aufgaben zu erfüllen und deutete seinen Rücktritt an. Ein paar Tage später traf er mit Portland auf dessen Landsitz in Buckinghamshire zusammen und erneuerte seine Ausführungen. Er riet Portland (aus gesundheitlichen Gründen) zum Rücktritt. Außerdem forderte er eine personelle Neubesetzung im Kriegsministerium. Portland, der weder Canning noch Castlereagh verlieren wollte, beschwichtigte Canning und stimmte zwar grundsätzlich zu, unternahm aber zunächst keine weiteren Schritte. Er informierte stattdessen zunächst Lord Bathurst (den Präsidenten des Handelsamts) und den König, nicht jedoch Castlereagh. Über den Sommer wurden weitere Minister in die Diskussionen über die Kabinettsumbildung und die Frage, wie mit Castlereagh umzugehen sei, einbezogen. Auch Castlereaghs Onkel Lord Camden war involviert, konnte sich jedoch nicht überwinden, seinem Neffen offen über die Vorgänge zu berichten. Portland und Canning gingen zunächst vom Gegenteil aus und erfuhren erst Tage später, dass Camden untätig geblieben war. König Georg III. lehnte den Rücktritt Cannings ab und verbot Portland gleichzeitig, Castlereagh über die Vorgänge zu informieren. Giles Hunt sieht in den Handlungen des Königs den Versuch, den ungemein talentierten, aber als Emporkömmling betrachteten Canning einerseits nicht zu verlieren, andererseits zumindest aber als Premierminister zu verhindern. Canning, der das Land mit dem Rücken zur Wand in einem Kampf auf Leben und Tod mit einem weit überlegenen Gegner sah, zeigte sich zunehmend rastlos und erneuerte in regelmäßigen Abständen bei Portland seine Forderungen, verbunden mit der Androhung seines Rücktritts. Während er im Unterhaus pflichtschuldig die Regierung, Castlereagh und die Kriegsanstrengungen verteidigte, klagte er gegenüber Bekannten harsch die aus seiner Sicht untragbaren Verhältnisse an. Für Giles Hunt waren Cannings Aktionen kein Schlag gegen einen politischen Rivalen, sondern Ausdruck einer wachsenden Verzweiflung über den Verlauf des Krieges; mit dem Blick des Eingeweihten habe Canning gesehen, dass das Kabinett nicht in der Lage war, die diversen Krisen erfolgreich zu meistern und der Krieg eine schlechte Wende zu nehmen drohte. John Campbell vermerkt dagegen, dass Canning zu diesem Zeitpunkt nicht nur die dominante Person im Kabinett war, sondern nun auch zunehmend so auftrat. Er taktierte bereits offen für die absehbare Nachfolge von Premierminister Portland, bei der er und Spencer Perceval als die beiden aussichtsreichsten Kandidaten galten. So bereitete er für den König ein Memorandum vor, in dem er sich dagegen aussprach, dass der nächste Premierminister aus dem Oberhaus kam, was die Nachfolge auf ihn und Spencer Perceval beschränkt hätte. Weiter führte er im Memorandum aus, dass er nicht unter Perceval dienen wollte, womit er als unverzichtbares Kabinettsmitglied die Wahl zu seinen Gunsten beeinflusst hätte. Auch versprach er, ohne dafür die nötige Legitimation zu besitzen, Lord Wellesley (dem Bruder Arthur Wellesleys) den Posten des Kriegsministers, sobald Castlereagh aus dem Amt entfernt worden war. Auch Douglas Hurd sieht Cannings Aktionen als Anmaßung und seine Entlassungsforderung als einen Akt außerhalb der normal zu nennenden politischen Rivalitäten. Castlereaghs Herausforderung Die Walcheren-Expedition mündete im Sommer 1809 schnell in ein militärisches Desaster und geriet zu einem völligen Fehlschlag. Für Canning war dies die Bestätigung seiner Befürchtungen. Er forderte nun ultimativ die sofortige Entlassung Castlereaghs. Perceval und Lord Liverpool verständigten sich dagegen auf eine andere Lösung; sie überredeten Premierminister Portland zum Rücktritt und schlugen eine große Kabinettsumbildung als Lösung vor. Auf diese Weise wäre Castlereagh auf eine gesichtswahrende Weise als Kriegsminister entfernt worden, ohne dadurch den Ahnungslosen bloßzustellen und die Regierung zu kompromittieren. Portland, der im August einen Schlaganfall erlitten hatte, akzeptierte den Vorschlag und verkündete am 6. September 1809 seinen Rücktritt, sobald ein Nachfolger gefunden sei; zudem teilte er Canning gleichzeitig mit, dass Castlereagh nicht einfach entlassen werden könnte. Canning erneuerte daraufhin seinen Rücktritt und blieb der Kabinettssitzung am nächsten Tag fern. Wahrscheinlich erwartete er, auf diese Weise nun die Ernennung zum Premierminister erzwingen zu können. Castlereagh schöpfte nun einen Verdacht und forderte bei seinem Onkel eine Erklärung, der ihm schließlich die Vorgänge offenbarte. Castlereagh reichte nun ebenfalls seinen Rücktritt ein und nahm an Kabinettssitzungen nicht mehr teil. Nachdem er sich 12 Tage lang zurückgezogen hatte, schickte er am 19. September 1809 Canning einen harsch formulierten mehrseitigen Brief, in dem er ihn anklagte, gegen das Prinzip von Treu und Glauben, sowohl privat als öffentlich, verstoßen zu haben. Er räumte Canning zwar das Recht auf Kritik ein, sah sich aber in seiner Ehre verletzt. Auch warf er Canning vor, hinter seinem Rücken konspiriert zu haben. Der Brief kam einer Aufforderung zum Duell gleich. Castlereagh benannte Lord Yarmouth als seinen Sekundanten, Canning benannte Charles Ellis. Ellis startete einen Vermittlungsversuch und sandte Yarmouth Kopien einiger Briefe, in denen Canning den Premierminister vor der Verheimlichung der Diskussionen gewarnt hatte. Castlereagh, der sich gedemütigt und hintergangen fühlte, blieb allerdings bei seiner Forderung und wies darauf hin, dass Canning einfach hätte zurücktreten können. Canning blieb nun nichts anderes übrig, als die Forderung nach einem Duell zu akzeptieren. Hintergrund: Duelle als gesellschaftliche Praxis Obwohl verboten, waren Duelle an der Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert in Großbritannien weiterhin eine häufig vorkommende Praxis in den oberen Gesellschaftsschichten. Wollte der Herausgeforderte nicht die gesellschaftliche Isolation riskieren, war es beinahe unmöglich, die Duellforderung abzulehnen. Während sich in früheren Zeiten zumeist mit Stichwaffen duelliert wurde, war im Großbritannien des späten 18. Jahrhunderts das Pistolenduell zur üblichen Form des Duells geworden. Diese waren in der Praxis äußerst ungenau; viele Duellanten waren mit der Waffe auch nicht hinreichend vertraut, teils schossen beide Kontrahenten auch absichtlich daneben. All dies führte dazu, dass die Mehrheit der ausgetragenen Duelle nicht tödlich ausging. Wenn sich zudem beide Kontrahenten einig waren, dass der Ehre Genüge getan worden war, blieb es oft bei einem ergebnislosen Duellgang. Unter ranghohen Politikern war die Praxis des Duells nicht unüblich. Charles James Fox war 1779 bei einem Duell verletzt worden. Sein politischer Antipode William Pitt der Jüngere hatte im Mai 1798 aufgrund einer Beleidigung im Unterhaus mit dem Fox–Anhänger George Tierney ein Duell ausgefochten. Beide blieben beim ersten Waffengang unverletzt, Pitt feuerte beim zweiten Waffengang in die Luft und beide einigten sich dann darauf, dass kein weiterer Duellgang nötig war. König Georg III. war wütend und entsetzt, als er über den Vorgang unterrichtet wurde und erinnerte Pitt daran, dass er als Premierminister sein Amt über persönliche Belange hätte stellen müssen. Dennoch starb die Praxis des Duells auch danach nicht aus. Das Duell Das Duell fand um 6 Uhr morgens am 21. September 1809 in Putney Heath auf dem Besitz von Lord Yarmouth statt – in Sichtweite des Hauses, wo Pitt der Jüngere drei Jahre zuvor gestorben war. Beide Duellanten wurden von ihren Sekundanten begleitet. Auf der Kutschfahrt zum Ort des Duells war Castlereagh laut Bericht seines Sekundanten in gelöster und heiterer Stimmung und diskutierte angeregt über eine gefragte Opernsängerin. Castlereagh war ein versierter Schütze; in seiner Jugend in Irland hatte ein politischer Gegner seine Herausforderung zurückgezogen, als er über Castlereaghs Fähigkeiten mit der Waffe informiert worden war. Canning hatte vor dem Duell sein Testament gemacht und einen Abschiedsbrief an seine Frau verfasst. Canning hatte nie eine Pistole abgefeuert und noch kein einziges Duell ausgefochten. Deshalb mussten sein Sekundant und Yarmouth die Waffe für Canning laden und spannen. Nachdem ein letzter Vermittlungsversuch der Sekundanten gescheitert war, kam es zum Duell. Der erste Waffengang, auf zwölf Schritte Entfernung ausgetragen, blieb ohne Ergebnis. Nach einem kurzen Austausch zwischen den Sekundanten erklärte Castlereagh, er sei noch nicht zufriedengestellt, so dass ein zweiter Duellgang nötig war. Beim zweiten Duellgang durchbohrte Castlereaghs Schuss Cannings Oberschenkel. Unbestätigt ist, dass Cannings zweiter Schuss Castlereagh streifte und ihm einen Knopf abschoss. Der getroffene Canning fragte nach, ob ein dritter Waffengang nötig sei, was von den beiden Sekundanten sofort unterbunden wurde, die die Angelegenheit als erledigt erklärten. Sein Sekundant und Castlereagh halfen Canning zum nahen Cottage von Lord Yarmouth, wo bereits ein Chirurg wartete und Cannings Wunde versorgte. Da der Schuss lediglich durch das Fleisch des Oberschenkels gegangen und keine Arterie getroffen hatte, hatte er nur einen Blutverlust verursacht und Cannings Wunde war nach wenigen Wochen bereits wieder komplett geheilt. Nach dem Duell: Öffentliche Reaktion Neben einem ausführlichen Bericht über das Duell erschien am Folgetag im Morning Chronicle auch ein Leitartikel des Herausgebers, eine heftige Attacke gegen die beiden Protagonisten, die sich in einer Zeit der nationalen Krise völlig unverantwortlich verhalten hätten. Der Courier, anders als der Morning Chronicle eher der Regierung als der Whig-Opposition nahestehend, legte wenige Tage danach offen, dass der Grund für das Duell die Forderung nach Castlereaghs Entlassung gewesen sei. Andere Zeitungen griffen das Duell zwischen „Mr. Canting“ und „Lord Castaway“ auch satirisch auf, während die Regierung zunächst versuchte, das Duell als das Ergebnis eines Missverständnisses zu schildern. William Wilberforce nannte das Duell schandhaft und forderte, dass beide nie wieder ein Amt bekleiden sollten. Spencer Perceval äußerte privat, Castlereagh habe aus einem völligen Missverständnis heraus gehandelt, während Lord Holland (der Neffe von Charles James Fox) meinte, dass Castlereaghs Verhalten mehr vom Rachedurst als von einem Gefühl der verletzten Ehre zeuge. Der führende Whig Charles Grey sah Castlereagh im Recht und äußerte, es sei unmöglich, Cannings Verhalten zu verteidigen. Die öffentliche Meinung sah zunächst mehrheitlich Canning im Recht. Castlereagh rechtfertigte sich gegenüber seinen engsten Verwandten zunächst in Briefform. Dem König schickte er einen Brief, in dem er sich für seine Duellforderung entschuldigte, gleichzeitig aber bestritt, dass Canning irgendwelche Gründe hätte, sich über sein Wirken als Kriegsminister zu beschweren. Am 3. Oktober 1809 veröffentlichte er zudem eine Rechtfertigung, was einen Meinungsumschwung bewirkte, da Castlereagh nun als Opfer einer Verschwörung seiner Kabinettskollegen gesehen wurde, die heimlich gegen ihn konspiriert hatten. Ein Freund und Loyalist Castlereaghs gab im frühen Oktober Details über das Duell und die Vorgeschichte an die führende britische Tageszeitung The Times weiter. Canning antwortete darauf ebenfalls in der Times mit seiner eigenen Version in einem offenen Brief an Lord Camden, worin er Camden einen Teil der Schuld gab. König Georg III. ließ sich von Canning ein paar Tage später amüsiert in allen Einzelheiten über das Duell informieren. Historische Auswirkungen Sowohl für die beiden Protagonisten als auch für die britische Politik hatte das Duell nachhaltige Konsequenzen. Zwei Tage vor dem Duell waren Spencer Perceval und andere Kabinettsmitglieder zum Schluss gekommen, dass sie entweder die führenden Köpfe der Opposition (Grenville und Grey) in die Regierung einbinden oder dem König Canning als Nachfolger Portlands empfehlen müssten. Mit Canning und Castlereagh nun auf den Hinterbänken, waren zwei der führenden Politiker im öffentlichen Ansehen weit gesunken und außerhalb jeder Nachfolgediskussion. Der Versuch, die Opposition einzubinden, schlug fehl, woraufhin Spencer Perceval als neuer Premierminister eine neue Regierung bildete, die sich hauptsächlich auf Lord Liverpool als Kriegsminister und Lord Wellesley als Außenminister stützte. Castlereagh und Canning verbrachten die nächsten Jahre außerhalb jeder Regierungsverantwortung; Castlereagh, weniger getrieben als Canning, war über sein Exil nicht unglücklich und genoss die Untätigkeit. Der rastlose Canning dagegen konnte sich nur schwer mit der als frustrierend empfundenen Rolle des Hinterbänklers abfinden. Ein erster Versuch Percevals im Jahr 1812, beide wieder in die Regierung zu integrieren, schlug fehl, da Castlereagh ablehnte und Perceval entweder beide oder keinen der beiden ins Kabinett zurückholen wollte. Ein weiterer Versuch, nach Wellesleys Rücktritt, scheiterte an Cannings überzogenen Forderungen; Liverpool, der Nachfolger des ermordeten Perceval, ignorierte Canning daraufhin und machte Castlereagh zum Außenminister. Castlereagh behielt den Posten bis 1822 und spielte eine tragende Rolle bei der politischen Neugestaltung Europas nach Napoleons Niederlage. Forschungsgeschichte In den Jahren 1929 bis 1931 war das Duell Gegenstand einer Diskussion zwischen den beiden angesehenen Cambridge-Historikern Harold Temperley und Charles Webster im Cambridge Historical Journal. Webster, der eine Studie über Castlereaghs Außenpolitik veröffentlicht hatte, verteidigte Castlereagh. Der Canning-Biograph Temperley rechtfertigte Cannings Verhalten; er sah den Einfluss von König Georg III. als entscheidend und ihn als den eigentlich Verantwortlichen an. Dabei führte er den Brief von Georg III. an Portland als Beweis an, in dem Georg III. Portland zur Diskretion verpflichtet und verboten hatte, Castlereagh in die Diskussionen einzuweihen. Thematisch wurde das Duell zwischen beiden im Jahr 2008 von Giles Hunt in einem eigenen Buch (The Duel: Castlereagh, Canning and Deadly Cabinet Rivalry) ausgebreitet. Hunt merkte in seinem Fazit an, dass das Duell für Castlereaghs politische Karriere letztlich positive Auswirkungen hatte; er verwies auf ein Urteil von Thomas Creevey aus dem Jahr 1818 und führte aus, dass Castlereaghs Karriere vor dem Duell praktisch beendet war, er sich durch das Duell jedoch in der öffentlichen Mehrheitsmeinung rehabilitieren konnte. Weiter sah er in Castlereaghs Duellforderung eine teilweise irrationale Handlung. Im Jahr 2009 veröffentlichte John Campbell sein Buch Pistols at Dawn: Two Hundred Years of Political Rivalry from Pitt and Fox to Blair and Brown. Er widmete der Rivalität zwischen Castlereagh und Canning das Kapitel (Viscount Castlerereagh and George Canning) und beschrieb das Duell als den Höhepunkt einer politischen Rivalität, die sich über die gesamte politische Karriere beider erstreckte. Während politische Duelle bzw. auch politische Rivalitäten nichts Ungewöhnliches waren und sind, sah er den Versuch beider Duellanten, sich gegenseitig zu töten, vor dem Hintergrund des bis dahin größten Kriegs der britischen Geschichte als beispiellos an. Auch er verwies auf Thomas Creeveys Urteil und sah Castlereagh als den Begünstigten des Duells; ohne das Duell wäre Castlereaghs Karriere beendet gewesen. Weniger vom Ehrgeiz angetrieben als Canning, habe er sich mit dem Verlust des Amts problemlos arrangiert. Im Jahr 2010 wurde die komplexe Interaktion zwischen Canning und Castlereagh von Douglas Hurd in einer Studie über die Außenpolitik verschiedener britischer Außenminister aufgegriffen; er sah das Duell als Ergebnis intensiver Rivalität und Ambitionen an. Zudem vermerkte er, die Tragödie des Duells sei es gewesen, dass Pitt der Jüngere seinen beiden talentierten Protegés zwar viel über die Kunst der Politik beibrachte, es aber nie vermochte, beide zusammenzuführen und auf eine Kooperation einzuschwören. Literatur John Bew: Castlereagh. A Life. Oxford University Press, Oxford 2012, ISBN 978-0-19-993159-0. John Campbell: Pistols at Dawn: Two Hundred Years of Political Rivalry from Pitt and Fox to Blair and Brown. Vintage Books, London 2009, ISBN 978-1-84595-091-0, (Kapitel Viscount Castlereagh and George Canning, S. 57–89). Giles Hunt: The Duel: Castlereagh, Canning and Deadly Cabinet Rivalry. I.B. Tauris, London 2008, ISBN 978-1-84511-593-7. Douglas Hurd: Choose your Weapons. The British Foreign Secretary. Weidenfeld & Nicolson, London 2010, ISBN 978-0-297-85334-3, (Kapitel Castlereagh and Canning, S. 1–68). Anmerkungen Castlereagh Canning 1809 Politik 1809 Politikgeschichte (Vereinigtes Königreich) Britische Geschichte (19. Jahrhundert)
140
https://de.wikipedia.org/wiki/Aristoteles
Aristoteles
Aristoteles (, Betonung lateinisch und deutsch: Aristóteles; * 384 v. Chr. in Stageira; † 322 v. Chr. in Chalkis auf Euböa) war ein griechischer Universalgelehrter. Er gehört zu den bekanntesten und einflussreichsten Philosophen und Naturforschern der Geschichte. Sein Lehrer war Platon, doch hat Aristoteles zahlreiche Disziplinen entweder selbst begründet oder maßgeblich beeinflusst, darunter Wissenschaftstheorie, Naturphilosophie, Logik, Biologie, Medizin, Physik, Ethik, Staatstheorie und Dichtungstheorie. Aus seinem Gedankengut entwickelte sich der Aristotelismus. Überblick Leben Der aus einer Arztfamilie stammende Aristoteles kam mit siebzehn Jahren nach Athen. Im Jahr 367 v. Chr. trat er in Platons Akademie ein. Dort beteiligte er sich an Forschung und Lehre. Nach Platons Tod verließ er 347 Athen. 343/342 wurde er Lehrer Alexanders des Großen, des Thronfolgers im Königreich Makedonien. 335/334 kehrte er nach Athen zurück. Er gehörte nun nicht mehr der Akademie an, sondern lehrte und forschte selbständig mit seinen Schülern im Lykeion. 323/322 musste er wegen politischer Spannungen Athen erneut verlassen und begab sich nach Chalkis, wo er bald darauf verstarb. Werk Die an eine breite Öffentlichkeit gerichteten Schriften des Aristoteles in Dialogform sind verloren. Die erhalten gebliebenen Lehrschriften waren größtenteils nur für den internen Gebrauch im Unterricht bestimmt und wurden fortlaufend redigiert. Themenbereiche sind: Logik, Wissenschaftstheorie, Rhetorik: In den logischen Schriften arbeitet Aristoteles auf der Grundlage von Diskussionspraktiken in der Akademie eine Argumentationstheorie (Dialektik) aus und begründet mit der Syllogistik die formale Logik. Auf der Basis seiner Syllogistik erarbeitet er eine Wissenschaftstheorie und liefert unter anderem bedeutende Beiträge zur Definitionstheorie und Bedeutungstheorie. Die Rhetorik beschreibt er als die Kunst, Aussagen als plausibel zu erweisen, und rückt sie damit in die Nähe der Logik. Naturlehre: Aristoteles’ Naturphilosophie thematisiert die Grundlagen jeder Naturbetrachtung: die Arten und Prinzipien der Veränderung. Der damals aktuellen Frage, wie Entstehen und Vergehen möglich ist, begegnet er mit Hilfe seiner bekannten Unterscheidung von Form und Materie: Dieselbe Materie kann unterschiedliche Formen annehmen. In seinen naturwissenschaftlichen Werken untersucht er auch die Teile und die Verhaltensweisen der Tiere sowie des Menschen und ihre Funktionen. In seiner Seelenlehre – in der „beseelt sein“ „lebendig sein“ bedeutet – argumentiert er, dass die Seele, die die verschiedenen vitalen Funktionen von Lebewesen ausmache, dem Körper als seine Form zukomme. Er forscht aber auch empirisch und liefert bedeutende Beiträge zur zoologischen Biologie. Metaphysik: In seiner Metaphysik argumentiert Aristoteles (gegen Platons Annahme von abstrakten Entitäten) zunächst dafür, dass die konkreten Einzeldinge (wie Sokrates) die Substanzen, d. h. das Grundlegende aller Wirklichkeit sind. Dies ergänzt er um seine spätere Lehre, wonach die Substanz konkreter Einzeldinge ihre Form ist. Ethik und Staatslehre: Das Ziel des menschlichen Lebens, so Aristoteles in seiner Ethik, ist das gute Leben, das Glück. Für ein glückliches Leben muss man Verstandestugenden und (durch Erziehung und Gewöhnung) Charaktertugenden ausbilden, wozu ein entsprechender Umgang mit Begierden und Emotionen gehört. Seine politische Philosophie schließt an die Ethik an. Demnach ist der Staat als Gemeinschaftsform eine Voraussetzung für das menschliche Glück. Aristoteles fragt nach den Bedingungen des Glücks und vergleicht zu diesem Zweck unterschiedliche Verfassungen. Die Staatsformenlehre, die er entwickelt hat, genoss über viele Jahrhunderte unangefochtene Autorität. Dichtungstheorie: In seiner Theorie der Dichtung behandelt Aristoteles insbesondere die Tragödie, deren Funktion aus seiner Sicht darin besteht, Furcht und Mitleid zu erregen, um beim Zuschauer eine Reinigung von diesen Emotionen zu bewirken (katharsis). Nachwirkung Das naturwissenschaftliche Forschungsprogramm des Aristoteles wurde nach seinem Tod von seinem Mitarbeiter Theophrastos von Eresos fortgesetzt, der auch die aristotelische Schule, den Peripatos, im juristischen Sinne gründete. Die Aristoteles-Kommentierung setzte erst im 1. Jahrhundert v. Chr. ein und wurde insbesondere von Platonikern betrieben. Durch die Vermittlung von Porphyrios und Boethius wurde die aristotelische Logik für das lateinischsprachige Mittelalter wegweisend. Seit dem 12./13. Jahrhundert lagen alle grundlegenden Werke des Aristoteles in lateinischer Übersetzung vor. Sie waren für den Wissenschaftsbetrieb der Scholastik bis in die Frühe Neuzeit maßgeblich. Die Auseinandersetzung mit der aristotelischen Naturlehre prägte die Naturwissenschaft des Spätmittelalters und der Renaissance. Im arabischsprachigen Raum war Aristoteles im Mittelalter der am intensivsten rezipierte antike Autor. Sein Werk hat auf vielfältige Weise die Geistesgeschichte geprägt; wichtige Unterscheidungen und Begriffe wie „Substanz“, „Akzidenz“, „Materie“, „Form“, „Energie“, „Potenz“, „Kategorie“, „Theorie“ und „Praxis“ gehen auf Aristoteles zurück. Leben Aristoteles wurde 384 v. Chr. in Stageira, einer damals selbständigen ionischen Kleinstadt an der Ostküste der Chalkidike, geboren. Daher wird er mitunter „der Stagirit“ genannt. Sein Vater Nikomachos war Leibarzt des Königs Amyntas III. von Makedonien, seine Mutter Phaestis stammte aus einer Arztfamilie von Chalkis auf Euboia. Nikomachos starb, bevor Aristoteles volljährig wurde. Proxenos aus Atarneus wurde zum Vormund bestimmt. Erster Athenaufenthalt 367 v. Chr. kam Aristoteles als Siebzehnjähriger nach Athen und trat in Platons Akademie ein. Dort beschäftigte er sich zunächst mit den mathematischen und dialektischen Themen, die den Anfang der Studien in der Akademie bildeten. Schon früh begann er Werke zu verfassen, darunter Dialoge nach dem Vorbild derjenigen Platons. Er setzte sich auch mit der zeitgenössischen Rhetorik auseinander, insbesondere mit dem Unterricht des Redners Isokrates. Gegen das auf unmittelbaren Nutzen abzielende pädagogische Konzept des Isokrates verteidigte er das platonische Erziehungsideal der philosophischen Schulung des Denkens. Er nahm eine Lehrtätigkeit an der Akademie auf. In diesem Zusammenhang entstanden als Vorlesungsmanuskripte die ältesten seiner überlieferten Lehrschriften, darunter die logischen Schriften, die später unter der Bezeichnung Organon („Werkzeug“) zusammengefasst wurden. Einige Textstellen lassen erkennen, dass der Hörsaal mit Gemälden geschmückt war, die Szenen aus dem Leben von Platons Lehrer Sokrates zeigten. Reisejahre Nach Platons Tod verließ Aristoteles 347 v. Chr. Athen. Möglicherweise war er nicht damit einverstanden, dass Platons Neffe Speusippos die Leitung der Akademie übernahm; außerdem war er in politische Schwierigkeiten geraten. Im Jahr 348 v. Chr. hatte König Philipp II. von Makedonien die Chalkidike erobert, Olynth zerstört und auch Aristoteles’ Heimatstadt Stageira eingenommen. Dieser Feldzug wurde von der antimakedonischen Partei in Athen als schwere Bedrohung der Unabhängigkeit Athens erkannt. Wegen der traditionellen Verbundenheit der Familie des Aristoteles mit dem makedonischen Hof richtete sich die antimakedonische Stimmung auch gegen ihn. Da er kein Athener Bürger war, sondern nur ein Metöke von zweifelhafter Loyalität, war seine Stellung in der Stadt relativ schwach. Er folgte einer Einladung des Hermias, der die Städte Assos und Atarneus an der kleinasiatischen Küste gegenüber der Insel Lesbos beherrschte. Zur Sicherung seines Machtbereichs gegen die Perser war Hermias mit Makedonien verbündet. In Assos fanden auch andere Philosophen Zuflucht. Der sehr umstrittene Hermias wird von der ihm freundlichen Überlieferung als weiser und heldenhafter Philosoph, von der gegnerischen aber als Tyrann beschrieben. Aristoteles, der mit Hermias befreundet war, blieb zunächst in Assos; 345/344 v. Chr. übersiedelte er nach Mytilene auf Lesbos. Dort arbeitete er mit seinem aus Lesbos stammenden Schüler Theophrast von Eresos zusammen, der sein Interesse für Biologie teilte. Später begaben sich beide nach Stageira. 343/342 v. Chr. ging Aristoteles auf Einladung von Philipp II. nach Mieza, um dessen damals dreizehnjährigen Sohn Alexander (später „der Große“ genannt) zu unterrichten. Die Unterweisung endete spätestens 340/339 v. Chr., als Alexander für seinen abwesenden Vater die Regentschaft übernahm. Aristoteles ließ für Alexander eine Abschrift der Ilias anfertigen, die der König als Verehrer des Achilleus später auf seinen Eroberungszügen mit sich führte. Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler ist nicht näher überliefert; es hat zur Legendenbildung und vielerlei Spekulationen Anlass gegeben. Sicher ist, dass ihre politischen Überzeugungen grundverschieden waren; ein Einfluss des Aristoteles auf Alexander ist jedenfalls nicht erkennbar. Aristoteles soll allerdings am makedonischen Hof den Wiederaufbau seiner zerstörten Heimatstadt Stageira erreicht haben; die Glaubwürdigkeit dieser Nachricht ist aber zweifelhaft. Die Hinrichtung des Hermias durch die Perser 341/340 berührte Aristoteles tief, wie ein dem Andenken des Freundes gewidmetes Gedicht zeigt. Als nach dem Tode des Speusippos 339/338 v. Chr. in der Akademie das Amt des Scholarchen (Schulleiters) frei wurde, konnte Aristoteles nur wegen seiner Abwesenheit an der Wahl des Nachfolgers nicht teilnehmen; er galt aber weiterhin als Akademiemitglied. Später ging er mit seinem Großneffen, dem Geschichtsschreiber Kallisthenes von Olynth, nach Delphi, um im Auftrag der dortigen Amphiktyonen eine Siegerliste der Pythischen Spiele anzufertigen. Zweiter Athenaufenthalt Mit der Zerstörung der rebellischen Stadt Theben 335 v. Chr. brach der offene Widerstand gegen die Makedonen in Griechenland zusammen, und auch in Athen arrangierte man sich mit den Machtverhältnissen. Daher konnte Aristoteles 335/334 v. Chr. nach Athen zurückkehren und begann dort wieder zu forschen und zu lehren, war aber nun nicht mehr an der Akademie tätig, sondern in einem anderen öffentlichen Gymnasium, dem Lykeion. Hier schuf er eine eigene Schule, deren Leitung nach seinem Tod Theophrastos übernahm. Neue Grabungen haben möglicherweise die Identifizierung des Gebäudekomplexes ermöglicht. Im juristischen Sinne hat aber erst Theophrastos die Schule gegründet und das Grundstück erworben – die später üblichen Bezeichnungen Peripatos und Peripatetiker speziell für diese Schule sind für die Zeit des Theophrastos noch nicht bezeugt. Die Fülle des Materials, das Aristoteles sammelte (etwa zu den 158 Verfassungen der griechischen Stadtstaaten), lässt darauf schließen, dass er über zahlreiche Mitarbeiter verfügte, die auch außerhalb von Athen recherchierten. Er war wohlhabend und besaß eine große Bibliothek. Sein Verhältnis zum makedonischen Statthalter Antipatros war freundschaftlich. Rückzug aus Athen, Tod und Nachkommen Nach dem Tod Alexanders des Großen 323 v. Chr. setzten sich in Athen und anderen griechischen Städten zunächst antimakedonische Kräfte durch. Delphi widerrief ein Aristoteles verliehenes Ehrendekret. In Athen kam es zu Anfeindungen, die ihm ein ruhiges Weiterarbeiten unmöglich machten. Daher verließ er 323/322 v. Chr. Athen. Angeblich äußerte er bei diesem Anlass, dass er nicht wollte, dass die Athener sich ein zweites Mal gegen die Philosophie vergingen (nachdem sie bereits Sokrates zum Tode verurteilt hatten). Er zog sich nach Chalkis auf Euboia in das Haus seiner Mutter zurück. Dort starb er im Oktober 322 v. Chr. Aristoteles war mit Pythias, einer Verwandten seines Freundes Hermias, verheiratet. Von ihr hatte er eine Tochter, die ebenfalls Pythias hieß. Nach dem Tod seiner Gattin wurde Herpyllis, die niedriger Herkunft war, seine Lebensgefährtin; sie war möglicherweise die Mutter seines Sohnes Nikomachos. In seinem Testament, dessen Vollstreckung er Antipatros anvertraute, regelte Aristoteles unter anderem die künftige Verheiratung seiner noch minderjährigen Tochter und traf Vorkehrungen zur materiellen Absicherung von Herpyllis. Werk Hinweis: Belege aus Werken des Aristoteles sind folgendermaßen angegeben: Titelangabe (Abkürzungen werden an der ersten Stelle im Kapitel per Link aufgelöst) und gegebenenfalls Buch- und Kapitelangabe sowie Bekker-Zahl. Die Bekker-Zahl gibt eine genaue Stelle im Corpus an. Sie ist in guten modernen Ausgaben vermerkt. Aufgrund von Brüchen und Inkonsequenzen im Werk des Aristoteles ist die Forschung von der früher verbreiteten Vorstellung abgekommen, das überlieferte Werk bilde ein abgeschlossenes, durchkomponiertes System. Diese Brüche gehen vermutlich auf Entwicklungen, Perspektivwechsel und unterschiedliche Akzentuierungen in verschiedenen Kontexten zurück. Da eine sichere chronologische Reihenfolge seiner Schriften nicht bestimmt werden kann, bleiben Aussagen über Aristoteles’ tatsächliche Entwicklung Vermutungen. Zwar bildet sein Werk de facto kein fertiges System, doch besitzt seine Philosophie Eigenschaften eines potentiellen Systems. Überlieferung und Charakter der Schriften Verschiedene antike Verzeichnisse schreiben Aristoteles fast 200 Titel zu. Sofern die Angabe des Diogenes Laertios stimmt, hat Aristoteles ein Lebenswerk von über 445.270 Zeilen hinterlassen (wobei in dieser Zahl zwei der umfangreichsten Schriften – die Metaphysik und die Nikomachische Ethik – vermutlich noch nicht berücksichtigt sind). Nur etwa ein Viertel davon ist überliefert. In der Forschung werden zwei Gruppen unterschieden: exoterische Schriften (die für ein breiteres Publikum veröffentlicht worden sind) und esoterische (die zum internen Gebrauch der Schule dienten). Alle exoterischen Schriften sind nicht oder nur in Fragmenten vorhanden, die meisten esoterischen sind hingegen überliefert. Die Schrift Die Verfassung der Athener galt als verloren und wurde erst Ende des 19. Jahrhunderts in Papyrusform gefunden. Exoterische und esoterische Schriften Die exoterischen Schriften bestanden vor allem aus Dialogen in der Tradition Platons, z. B. der Protreptikos – eine Werbeschrift für die Philosophie –, Untersuchungen wie Über die Ideen, aber auch propädeutische Sammlungen. Cicero lobt ihren „goldenen Fluss der Rede“. Die auch Pragmatien genannten esoterischen Schriften sind vielfach als Vorlesungsmanuskripte bezeichnet worden; gesichert ist dies nicht und für einige Schriften oder Abschnitte auch unwahrscheinlich. Weitgehend herrscht die Auffassung, dass sie aus der Lehrtätigkeit erwachsen sind. Weite Teile der Pragmatien weisen einen eigentümlichen Stil voller Auslassungen, Andeutungen, Gedankensprünge und Dubletten auf. Daneben finden sich jedoch auch stilistisch ausgefeilte Passagen, die (neben den Dubletten) deutlich machen, dass Aristoteles wiederholt an seinen Texten gearbeitet hat, und die Möglichkeit nahelegen, dass er an die Veröffentlichung mindestens einiger der Pragmatien gedacht hat. Aristoteles setzt bei seinen Adressaten große Vorkenntnisse fremder Texte und Theorien voraus. Verweise auf die exoterischen Schriften zeigen, dass deren Kenntnis ebenfalls vorausgesetzt wird. Die Manuskripte des Aristoteles Nach dem Tod des Aristoteles blieben seine Manuskripte zunächst im Besitz seiner Schüler. Als sein Schüler und Nachfolger Theophrast starb, soll dessen Schüler Neleus die Bibliothek des Aristoteles erhalten und mit dieser – aus Ärger darüber, nicht zum Nachfolger gewählt worden zu sein – mit einigen Anhängern Athen Richtung Skepsis in der Nähe Trojas in Kleinasien verlassen haben. Die antiken Berichte erwähnen eine abenteuerliche und zweifelhafte Geschichte, nach der die Erben des Neleus die Manuskripte zur Sicherung vor fremdem Zugriff im Keller vergruben, wo sie dann aber verschollen blieben. Weitgehend gesichert ist, dass im ersten Jahrhundert v. Chr. Apellikon von Teos die beschädigten Manuskripte erworben und nach Athen gebracht hat und dass sie nach der Eroberung von Athen durch Sulla im Jahr 86 v. Chr. nach Rom gelangten. Dessen Sohn beauftragte Mitte des Jahrhunderts Tyrannion, die Manuskripte zu sichten und durch weiteres Material zu ergänzen. Weitere Überlieferungswege Auch wenn mit der Bibliothek des Aristoteles seine Manuskripte jahrhundertelang verschollen waren, ist es unbestritten, dass seine Lehre im Hellenismus mindestens teilweise bekannt war, vor allem durch die exoterischen Schriften und indirekt wohl auch durch Theophrasts Wirken. Daneben müssen einige Pragmatien bekannt gewesen sein, von denen es möglicherweise Abschriften in der Bibliothek des Peripatos gab. Andronikos von Rhodos. Die erste Ausgabe Auf der Grundlage der Arbeit Tyrannions besorgte dessen Schüler Andronikos von Rhodos in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr. die erste Ausgabe der aristotelischen Pragmatien, die wohl nur zum Teil auf den Manuskripten des Aristoteles beruhte. Die Schriften dieser Edition bilden das Corpus Aristotelicum. Vermutlich gehen einige Zusammenstellungen von zuvor ungeordneten Büchern sowie einige Titel auf diese Ausgabe zurück. Möglicherweise hat Andronikos auch darüber hinaus Eingriffe in den Text – wie etwa Querverweise – vorgenommen. Im Fall der zahlreichen Dubletten hat er möglicherweise verschiedene Texte zum selben Thema hintereinander angeordnet. Die heutige Anordnung der Schriften entspricht weitgehend dieser Ausgabe. Die zu seiner Zeit noch vorliegenden exoterischen Schriften berücksichtigte Andronikos nicht. Sie gingen in der Folgezeit verloren. Handschriften und Druckausgaben Heutige Ausgaben beruhen auf Abschriften, die auf die Andronikos-Ausgabe zurückgehen. Mit über 1000 Handschriften ist Aristoteles unter den nichtchristlichen griechischsprachigen Autoren derjenige mit der weitesten Verbreitung. Die ältesten Handschriften stammen aus dem 9. Jahrhundert. Das Corpus Aristotelicum ist wegen seines Umfangs nie vollständig in einem einzigen Kodex enthalten. Nach der Erfindung des Buchdrucks erschien 1495–1498 die erste Druckausgabe aus der Hand von Aldus Manutius. Die von Immanuel Bekker 1831 besorgte Gesamtausgabe der Berliner Akademie ist die Grundlage der modernen Aristotelesforschung. Sie beruht auf Kollationen der besten damals zugänglichen Handschriften. Nach ihrer Seiten-, Spalten- und Zeilenzählung (Bekker-Zählung) wird Aristoteles heute noch überall zitiert. Für einige wenige Werke bietet sie noch immer den maßgeblichen Text; die meisten liegen jedoch heute in neuen Einzelausgaben vor. Einteilung der Wissenschaften und Grundlegendes Aristoteles’ Werk deckt weite Teile des zu seiner Zeit vorhandenen Wissens ab. Er teilt es in drei Bereiche: theoretische Wissenschaft praktische Wissenschaft poietische Wissenschaft Das theoretische Wissen wird um seiner selbst willen gesucht. Praktisches und poietisches Wissen hat einen weiteren Zweck, die (gute) Handlung oder ein (schönes oder nützliches) Werk. Nach der Art der Gegenstände untergliedert er das theoretische Wissen weiter: (i) Die Erste Philosophie („Metaphysik“) behandelt (mit der Substanztheorie, der Prinzipientheorie und der Theologie) Selbstständiges und Unveränderliches, (ii) die Naturwissenschaft Selbstständiges und Veränderliches und (iii) die Mathematik behandelt Unselbständiges und Unveränderliches (Met. VI 1). Eine Sonderstellung scheinen die in dieser Einteilung nicht vorkommenden Schriften zu haben, die erst nach dem Tod des Aristoteles im sogenannten Organon zusammengestellt worden sind. Die wichtigsten Schriften lassen sich grob folgendermaßen gliedern: Mit dieser Einteilung der Wissenschaften geht für Aristoteles die Einsicht einher, dass jede Wissenschaft aufgrund ihrer eigentümlichen Objekte auch eigene Prinzipien besitzt. So kann es in der praktischen Wissenschaft – dem Bereich der Handlungen – nicht dieselbe Genauigkeit geben wie im Bereich der theoretischen Wissenschaften. Es ist zwar eine Wissenschaft der Ethik möglich, aber ihre Sätze gelten nur in der Regel. Auch kann diese Wissenschaft nicht für alle möglichen Situationen die richtige Handlungsweise vorgeben. Vielmehr vermag die Ethik nur ein nicht-exaktes Wissen im Grundriss zu liefern, das zudem allein noch nicht zu einer erfolgreichen Lebensführung befähigt, sondern hierfür an Erfahrungen und bestehende Haltungen anschließen muss (EN I 1 1094b12–23). Aristoteles war davon überzeugt, dass die „Menschen für das Wahre von Natur aus hinlänglich begabt sind“ (Rhet. I 1, 1355a15–17). Daher geht er typischerweise zunächst (allgemein oder bei Vorgängern) anerkannte Meinungen (endoxa) durch und diskutiert deren wichtigsten Probleme (aporiai), um einen möglichen wahren Kern dieser Meinungen zu analysieren (EN VII 2). Auffällig ist seine Vorliebe, in einer Allaussage zu Beginn einer Schrift die Grundlage für die Argumentation zu legen und den spezifischen Gegenstand abzustecken. Sprache, Logik und Wissen Das Organon Der Themenbereich Sprache, Logik und Wissen ist vor allem in den Schriften behandelt, die traditionell unter dem Titel Organon (griech. Werkzeug, Methode) zusammengestellt sind. Diese Zusammenstellung und ihr Titel stammen nicht von Aristoteles, und die Reihenfolge ist nicht chronologisch. Die Schrift Rhetorik gehört dem Organon nicht an, steht ihm aber inhaltlich wegen ihrer Art der Behandlung des Gegenstands sehr nahe. Eine Berechtigung für die Zusammenstellung besteht in dem gemeinsamen methodologisch-propädeutischen Charakter. Bedeutungstheorie Im folgenden Abschnitt – der als der einflussreichste Text in der Geschichte der Semantik gilt – unterscheidet Aristoteles vier Elemente, die in zwei verschiedenen Beziehungen zueinander stehen, einer Abbildungsbeziehung und einer Symbolbeziehung: Gesprochene und geschriebene Worte sind demnach bei den Menschen verschieden; geschriebene Worte symbolisieren gesprochene Worte. Seelische Widerfahrnisse und die Dinge sind bei allen Menschen gleich; seelische Widerfahrnisse bilden die Dinge ab. Demnach ist die Beziehung von Rede und Schrift zu den Dingen durch Übereinkunft festgelegt, die Beziehung der mentalen Eindrücke zu den Dingen hingegen naturgegeben. Wahrheit und Falschheit kommt erst der Verbindung und Trennung von mehreren Vorstellungen zu. Auch die einzelnen Wörter stellen noch keine Verbindung her und können daher je allein nicht wahr oder falsch sein. Wahr oder falsch kann daher erst der ganze Aussagesatz (logos apophantikos) sein. Prädikate und Eigenschaften Einige sprachlich-logische Feststellungen sind für Aristoteles’ Philosophie fundamental und spielen auch außerhalb der (im weiteren Sinne) logischen Schriften eine bedeutende Rolle. Hierbei geht es insbesondere um das Verhältnis von Prädikaten und (wesentlichen) Eigenschaften. Definitionen Unter einer Definition versteht Aristoteles primär keine Nominaldefinition (die er auch kennt; siehe An. Post. II, 8–10), sondern eine Realdefinition. Eine Nominaldefinition gibt nur Meinungen an, welche sich mit einem Namen verbinden. Was diesen Meinungen in der Welt zugrunde liegt, gibt die Realdefinition an: eine Definition von X gibt notwendige Eigenschaften von X an und was es heißt, ein X zu sein: das Wesen. Möglicher Gegenstand einer Definition ist damit (nur) das, was ein (universales) Wesen aufweist, insbesondere Arten wie Mensch. Eine Art wird definiert durch die Angabe einer (logischen) Gattung und der artbildenden Differenz. So lässt sich Mensch definieren als vernunftbegabtes (Differenz) Lebewesen (Gattung). Individuen lassen sich mithin nicht durch Definition erfassen, sondern nur ihrer jeweiligen Art zuweisen. Kategorien als Aussageklassen Aristoteles lehrt, dass es zehn nicht aufeinander zurückführbare Aussageweisen gibt, die auf die Fragen Was ist X?, Wie beschaffen ist X?, Wo ist X? etc. antworten (→ die vollständige Liste). Die Kategorien haben sowohl eine sprachlich-logische als auch eine ontologische Funktion, denn von einem zugrunde liegenden Subjekt (hypokeimenon) (z. B. Sokrates) werden einerseits Prädikate ausgesagt, und ihm kommen andererseits Eigenschaften zu (z. B.: weiß, Mensch). Entsprechend stellen die Kategorien die allgemeinsten Klassen sowohl von Prädikaten als auch des Seienden dar. Dabei hebt Aristoteles die Kategorie der Substanz, die notwendig zukommende, wesentliche Prädikate enthält, von den anderen ab, die akzidentelle Prädikate enthalten. Wenn man von Sokrates Mensch prädiziert (aussagt), so handelt es sich um eine wesentliche Aussage, die vom Subjekt (Sokrates) angibt, was er ist, also die Substanz benennt. Dies unterscheidet sich offensichtlich von einer Aussage wie Sokrates ist auf dem Marktplatz, mit der man etwas Akzidentelles angibt, nämlich wo Sokrates ist (also den Ort benennt). Deduktion und Induktion: Argumenttypen und Erkenntnismittel Aristoteles unterscheidet zwei Typen von Argumenten oder Erkenntnismitteln: Deduktion (syllogismos) und Induktion (epagôgê). Die Übereinstimmung mit den modernen Begriffen Deduktion und Induktion ist dabei weitgehend, aber nicht vollständig. Deduktionen und Induktionen spielen in den verschiedenen Bereichen der aristotelischen Argumentationstheorie und Logik zentrale Rollen. Beide stammen ursprünglich aus der Dialektik. Deduktion Nach Aristoteles besteht eine Deduktion aus Prämissen (Annahmen) und einer von diesen verschiedenen Konklusion. Die Konklusion folgt mit Notwendigkeit aus den Prämissen. Sie kann nicht falsch sein, wenn die Prämissen wahr sind. Die Definition der Deduktion (syllogismos) ist also weiter als die der (unten behandelten) – traditionell Syllogismus genannten – Deduktion, die aus zwei Prämissen und drei Termen besteht. Aristoteles unterscheidet dialektische, eristische, rhetorische und demonstrative Deduktionen. Diese Formen unterscheiden sich vor allem nach der Art ihrer Prämissen. Induktion Der Deduktion stellt Aristoteles explizit die Induktion gegenüber; deren Bestimmung und Funktion ist allerdings nicht so klar wie die der Deduktion. Er nennt sie Aristoteles ist klar, dass ein derartiges Übergehen von singulären zu allgemeinen Sätzen ohne weitere Bedingungen nicht logisch gültig ist (An. Post. II 5, 91b34 f.). Entsprechende Bedingungen werden beispielsweise in dem ursprünglichen, argumentationslogischen Kontext der Dialektik erfüllt, da der Kontrahent einen durch Induktion eingeführten Allgemeinsatz akzeptieren muss, wenn er kein Gegenbeispiel nennen kann. Vor allem aber hat die Induktion die Funktion, in anderen, nicht folgernden Kontexten durch das Anführen von Einzelfällen das Allgemeine deutlich zu machen – sei es als didaktisches, sei es als heuristisches Verfahren. Eine derartige Induktion stellt plausible Gründe dafür bereit, einen allgemeinen Satz für wahr zu halten. Aristoteles rechtfertigt aber nirgends ohne weitere Bedingungen induktiv die Wahrheit eines solchen Satzes. Dialektik: Theorie der Argumentation Die in der Topik behandelte Dialektik ist eine Form der Argumentation, die (ihrer genuinen Grundform nach) in einer dialogischen Disputation stattfindet. Sie geht vermutlich auf Praktiken in Platons Akademie zurück. Die Zielsetzung der Dialektik lautet: Die Dialektik hat demnach keinen bestimmten Gegenstandsbereich, sondern kann universal angewendet werden. Aristoteles bestimmt die Dialektik durch die Art der Prämissen dieser Deduktion. Ihre Prämissen sind anerkannte Meinungen (endoxa), das heißt Für dialektische Prämissen ist es unerheblich, ob sie wahr sind oder nicht. Weshalb aber anerkannte Meinungen? In ihrer Grundform findet Dialektik in einem argumentativen Wettstreit zwischen zwei Gegnern statt mit genau zugewiesenen Rollen. Auf ein vorgelegtes Problem der Form ‚Ist S P oder nicht?‘ muss der Antwortende sich auf eine der beiden Möglichkeiten als These festlegen. Das dialektische Gespräch besteht nun darin, dass ein Fragender dem Antwortenden Aussagen vorlegt, die dieser entweder bejahen oder verneinen muss. Die beantworteten Fragen gelten als Prämissen. Das Ziel des Fragenden besteht nun darin, mithilfe der bejahten oder verneinten Aussagen eine Deduktion zu bilden, so dass die Konklusion die Ausgangsthese widerlegt oder aus den Prämissen etwas Absurdes oder ein Widerspruch folgt. Die Methode der Dialektik weist zwei Bestandteile auf: herausfinden, welche Prämissen ein Argument für die gesuchte Konklusion ergeben. herausfinden, welche Prämissen der Antwortende akzeptiert. Für 2. bieten die verschiedenen Typen (a)–(ciii) anerkannter Meinungen dem Fragenden Anhaltspunkte dafür, welche Fragen der jeweilige Antwortende bejahen wird, das heißt, welche Prämissen er verwenden kann. Aristoteles fordert dazu auf, Listen solcher anerkannter Meinungen anzulegen (Top. I 14). Vermutlich meint er nach den Gruppen (a)–(ciii) getrennte Listen; diese werden wiederum nach Gesichtspunkten geordnet. Für 1. hilft dem Dialektiker in seinem Argumentationsaufbau das Instrument der Topen. Ein Topos ist eine Konstruktionsanleitung für dialektische Argumente, das heißt zur Auffindung geeigneter Prämissen für eine gegebene Konklusion. Aristoteles listet in der Topik etwa 300 dieser Topen auf. Der Dialektiker kennt diese Topen auswendig, die sich aufgrund ihrer Eigenschaften ordnen lassen. Die Basis dieser Ordnung stellt das System der Prädikabilien dar. Nach Aristoteles ist die Dialektik für dreierlei nützlich: (1) als Übung, (2) für die Begegnung mit der Menge und (3) für die Philosophie. Neben (1) der Grundform des argumentativen Wettstreits (bei der es eine Jury und Regeln gibt und die wahrscheinlich auf Praktiken in der Akademie zurückgeht) gibt es mit (2) auch Anwendungsweisen, die zwar dialogisch, aber nicht als regelbasierter Wettstreit angelegt sind, sowie mit (3) solche, die nicht dialogisch sind, sondern in denen der Dialektiker im Gedankenexperiment (a) Schwierigkeiten nach beiden Seiten hin durchgeht (diaporêsai) oder auch (b) Prinzipien untersucht (Top. I 4). Für ihn ist die Dialektik aber nicht wie bei Platon die Methode der Philosophie oder eine Fundamentalwissenschaft. Rhetorik: Theorie der Überzeugung Aristoteles definiert Rhetorik als „Fähigkeit, bei jeder Sache das möglicherweise Überzeugende (pithanon) zu betrachten“ (Rhetorik I 2, 1355b26 f.). Er nennt sie ein Gegenstück (antistrophos) zur Dialektik. Denn ebenso wie die Dialektik ist die Rhetorik ohne abgegrenzten Gegenstandsbereich, und sie verwendet dieselben Elemente (wie Topen, anerkannte Meinungen und insbesondere Deduktionen), und dem dialektischen Schließen entspricht das auf rhetorischen Deduktionen basierende Überzeugen. Der Rhetorik kam im demokratischen Athen des vierten Jahrhunderts eine herausragende Bedeutung zu, insbesondere in der Volksversammlung und den Gerichten, die mit durch Los bestimmten Laienrichtern besetzt waren. Es gab zahlreiche Rhetoriklehrer, und Rhetorikhandbücher kamen auf. Aristoteles’ dialektische Rhetorik ist eine Reaktion auf die Rhetoriktheorie seiner Zeit, die – wie er kritisiert – bloße Versatzstücke für Redesituationen bereitstellt und Anweisungen, wie man durch Verleumdung und die Erregung von Emotionen das Urteil der Richter trüben kann. Im Gegensatz dazu beruht seine dialektische Rhetorik auf der Auffassung, dass wir dann am meisten überzeugt sind, wenn wir meinen, dass etwas bewiesen worden ist (Rhet. I 1, 1355a5 f.). Dass die Rhetorik sachorientiert sei und das jeweils in der Sache liegende Überzeugungspotential entdecken und ausschöpfen müsse, drückt er ebenfalls in der Gewichtung der drei Überzeugungsmittel aus. Diese sind: der Charakter des Redners (Ethos) der emotionale Zustand des Hörers (Pathos) das Argument (Logos) Das Argument hält er für das wichtigste Mittel. Unter den Argumenten unterscheidet Aristoteles das Beispiel – eine Form der Induktion – und das Enthymem – eine rhetorische Deduktion (wobei wiederum das Enthymem wichtiger als das Beispiel ist). Das Entyhmem ist eine Art der dialektischen Deduktion. Sein besonderes Merkmal aufgrund der rhetorischen Situation ist, dass seine Prämissen nur die anerkannten Meinungen sind, die von allen oder den meisten für wahr gehalten werden. (Die verbreitete, kuriose Ansicht, das Enthymem sei ein Syllogismus, in dem eine der zwei Prämissen fehle, vertritt Aristoteles nicht; sie basiert auf einem schon in der antiken Kommentierung belegten Missverständnis von 1357a7 ff.) Der Redner überzeugt demnach die Zuhörer, indem er eine Behauptung (als Konklusion) aus den Überzeugungen (als Prämissen) der Zuhörer herleitet. Die Konstruktionsanleitungen dieser Enthymeme liefern rhetorische Topen, z. B.: An den zeitgenössischen Rhetoriklehrern kritisiert Aristoteles, dass sie die Argumentation vernachlässigten und ausschließlich auf Emotionserregung abzielten, etwa durch Verhaltensweisen wie Jammern oder Mitbringen der Familie zur Gerichtsverhandlung, wodurch ein sachbezogenes Urteil der Richter verhindert werde. Aristoteles’ Theorie zufolge können alle Emotionen definiert werden, indem drei Faktoren berücksichtigt werden. Man fragt: (1) Worüber, (2) wem gegenüber und (3) in welchem Zustand empfindet jemand die jeweilige Emotion? So lautet die Definition von Zorn: Wenn der Redner mit diesem Definitionswissen den Zuhörern deutlich machen kann, dass der entsprechende Sachverhalt vorliegt und sie sich im entsprechenden Zustand befinden, empfinden sie die entsprechende Emotion. Sofern der Redner mit dieser Methode bestehende Sachverhalte eines Falles hervorhebt, lenkt er damit nicht – wie bei den kritisierten Vorgängern – von der Sache ab, sondern fördert nur dem Fall angemessene Emotionen und verhindert somit unangemessene. Schließlich soll der Charakter des Redners aufgrund seiner Rede für die Zuhörer glaubwürdig, das heißt tugendhaft, klug und wohlwollend erscheinen (Rhet. I 2, 1356a5–11; II 1, 1378a6–16). Die sprachliche Form dient ebenfalls einer argumentativ-sachorientierten Rhetorik. Aristoteles definiert nämlich die optimale Form (aretê) dadurch, dass sie primär klar, dabei aber weder banal noch zu erhaben ist (Rhet. III 2, 1404b1–4). Durch solche Ausgewogenheit fördert sie das Interesse, die Aufmerksamkeit und das Verständnis und wirkt angenehm. Unter den Stilmitteln erfüllt insbesondere die Metapher diese Bedingungen. Syllogistische Logik Besteht Aristoteles’ dialektische Logik in einer Methode des konsistenten Argumentierens, so besteht seine syllogistische in einer Theorie des Beweisens selbst. In der von ihm begründeten Syllogistik zeigt Aristoteles, welche Schlüsse gültig sind. Hierfür verwendet er eine Form, die in der Tradition wegen der Bedeutung dieser Logik schlicht Syllogismus (die lateinische Übersetzung von syllogismos) genannt wird. Jeder Syllogismus ist eine (besondere Form der) Deduktion (syllogismos), aber nicht jede Deduktion ist ein Syllogismus (und zwar weil Aristoteles’ sehr allgemeine Definition der Deduktion viele mögliche Argumenttypen beschreibt). Aristoteles verwendet selbst auch keinen eigenen Begriff, um den Syllogismus von anderen Deduktionen abzugrenzen. Ein Syllogismus ist eine spezielle Deduktion, die aus genau zwei Prämissen und einer Konklusion besteht. Prämissen und Konklusion weisen zusammen genau drei verschiedene Begriffe, Terme (in der Tabelle dargestellt durch A, B, C) auf. Die Prämissen haben genau einen Term gemeinsam (in der Tabelle B), der in der Konklusion nicht vorkommt. Durch die Stellung des gemeinsamen Terms, des Mittelterms (hier immer B) unterscheidet Aristoteles folgende syllogistische Figuren: Ein Prädikat (P) (z. B. 'sterblich') kann einem Subjekt (S) (z. B. 'Grieche') entweder zu- oder abgesprochen werden. Dies kann in partikulärer oder in allgemeiner Form geschehen. Somit gibt es vier Formen, in denen S und P miteinander verbunden werden können, wie die folgende Tabelle zeigt (nach De interpretatione 7; die Vokale werden seit dem Mittelalter für den jeweiligen Aussagetypus und auch in der Syllogistik verwendet). Der Syllogismus verwendet genau diese vier Aussagetypen in folgender Form: Aristoteles untersucht folgende Frage: Welche der 192 möglichen Kombinationen sind logisch gültige Deduktionen? Bei welchen Syllogismen ist es nicht möglich, dass, wenn die Prämissen wahr sind, die Konklusion falsch ist? Er unterscheidet vollkommene Syllogismen, die unmittelbar einsichtig sind, von unvollkommenen. Die unvollkommenen Syllogismen führt er mittels Konversionsregeln auf die vollkommenen zurück (dieses Verfahren nennt er analysis) oder beweist sie indirekt. Ein vollkommener Syllogismus ist der – seit dem Mittelalter so genannte – Barbara: Weitere gültige Syllogismen und deren Beweise finden sich im Artikel Syllogismus. Die in den Analytica Priora ausgearbeitete Syllogistik wendet Aristoteles in seiner Wissenschaftstheorie, den Analytica Posteriora an. Aristoteles entwickelt zudem eine modale Syllogistik, die die Begriffe möglich und notwendig einschließt. Diese Modalsyllogistik ist sehr viel schwieriger zu interpretieren als die einfache Syllogistik. Ob eine konsistente Interpretation dieser modalen Syllogistik überhaupt möglich ist, ist noch heute umstritten. Interpretatorisch problematisch, aber auch bedeutend ist Aristoteles’ Definition von möglich. Er unterscheidet hierbei die sogenannte einseitige und die zweiseitige Möglichkeit: Einseitig: p ist möglich, insofern nicht-p nicht notwendig ist. Zweiseitig: p ist möglich, wenn p nicht notwendig und nicht-p nicht notwendig ist, das heißt p ist kontingent. Damit lässt sich der Indeterminismus, den Aristoteles vertritt, als der Zustand charakterisieren, der kontingent ist. Kanonische Sätze In der aristotelischen Logik wird zwischen folgenden konträren und kontradiktorischen Satzarten unterschieden – F und G stehen dabei für Subjekt und Prädikat: Diese „kanonischen Sätze“ gehören zum Fundament der traditionellen Logik und werden unter anderem bei einfacher bzw. eingeschränkter Konversion angewandt. Wissen und Wissenschaft Stufen des Wissens Aristoteles unterscheidet verschiedene Stufen des Wissens, die sich folgendermaßen darstellen lassen (Met. I 1; An. post. II 19): Mit dieser Stufung beschreibt Aristoteles auch, wie Wissen entsteht: Aus Wahrnehmung entsteht Erinnerung und aus Erinnerung durch Bündelung von Erinnerungsinhalten Erfahrung. Erfahrung besteht in einer Kenntnis einer Mehrzahl konkreter Einzelfälle und gibt nur das Dass an, ist bloße Faktenkenntnis. Wissen hingegen (oder Wissenschaft; epistêmê umfasst beides) unterscheidet sich von Erfahrung dadurch, dass es allgemein ist; nicht nur das Dass eines Sachverhalts, sondern auch das Warum, den Grund oder die erklärende Ursache angibt. In diesem Erkenntnisprozess schreiten wir nach Aristoteles von dem, was für uns bekannter und näher an der sinnlichen Wahrnehmung ist, zu dem vor, was an sich oder von Natur aus bekannter ist, zu den Prinzipien und Ursachen der Dinge. Dass Wissen an oberster Stelle steht und überlegen ist, bedeutet aber nicht, dass es im konkreten Fall die anderen Stufen in dem Sinne enthält, dass es sie ersetzte. Im Handeln ist zudem die Erfahrung als Wissen vom Einzelnen den Wissensformen, die aufs Allgemeine gehen, mitunter überlegen (Met. 981a12–25). Ursachen und Demonstrationen Unter einer Ursache (aitia) versteht Aristoteles in der Regel nicht ein von einem verursachten Ereignis B verschiedenes Ereignis A. Die Untersuchung von Ursachen dient nicht dazu, Wirkungen vorherzusagen, sondern Sachverhalte zu erklären. Eine aristotelische Ursache gibt einen Grund als Antwort auf bestimmte Warum-Fragen an. (Aristoteles unterscheidet vier Ursachentypen, die genauer hier im Abschnitt Naturphilosophie behandelt werden.) Nach Aristoteles hat Ursachenwissen die Form einer bestimmten Deduktion: der Demonstration (apodeixis) eines Syllogismus mit wahren Prämissen, die Ursachen für den in der Konklusion ausgedrückten Sachverhalt angeben. Ein Beispiel: Aristoteles spricht davon, dass die Prämissen einiger Demonstrationen Prinzipien (archē; wörtl. Anfang, Ursprung) sind, erste wahre Sätze, die selbst nicht demonstrativ bewiesen werden können. Nicht-Beweisbare Sätze Neben den Prinzipien können auch die Existenz und die Eigenschaften der behandelten Gegenstände einer Wissenschaft sowie bestimmte, allen Wissenschaften gemeinsame Axiome nach Aristoteles nicht durch Demonstrationen bewiesen werden, wie beispielsweise der Satz vom Widerspruch. Vom Satz des Widerspruchs zeigt Aristoteles, dass er nicht geleugnet werden kann. Er lautet: X kann Y nicht zugleich in derselben Hinsicht zukommen und nicht zukommen (Met. IV 3, 1005b19 f.). Aristoteles argumentiert, dass, wer dies leugnet, etwas und somit etwas Bestimmtes sagen muss. Wenn er z. B. ‚Mensch‘ sagt, bezeichnet er damit Menschen und nicht Nicht-Menschen. Mit dieser Festlegung auf etwas Bestimmtes setze er aber den Satz vom Widerspruch voraus. Dies gelte sogar für Handlungen, insofern eine Person etwa um einen Brunnen herumgeht und nicht in ihn hinein fällt. Dass diese Sätze und auch Prinzipien nicht demonstriert werden können, liegt an Aristoteles’ Lösung eines Begründungsproblems: Wenn Wissen Rechtfertigung enthält, dann führt dies in einem konkreten Fall von Wissen entweder (a) zu einem Regress, (b) einem Zirkel oder (c) zu fundamentalen Sätzen, die nicht begründet werden können. Prinzipien in einer aristotelischen demonstrativen Wissenschaft sind solche Sätze, die nicht demonstriert, sondern auf andere Weise gewusst werden (An. Post. I 3). Das Verhältnis von Definition, Ursache und Demonstration Aristoteles spricht zudem davon, dass, sofern die Prämissen Prinzipien sind, sie auch Definitionen darstellen können. Wie sich Demonstration, Ursache und Definition zueinander verhalten, illustriert folgendes Beispiel: Der Mond weist zum Zeitpunkt t eine Finsternis auf, weil (i) immer, wenn etwas im Sonnenschatten der Erde ist, es eine Finsternis aufweist und (ii) der Mond zum Zeitpunkt t im Sonnenschatten der Erde liegt. Demonstration: Mittelterm: Verdecken der Sonne durch die Erde. Ursache: Verdecken der Sonne durch die Erde kommt dem Mond zum Zeitpunkt t zu. Die Definition wäre hier etwa: Mondfinsternis ist der Fall, in dem die Erde die Sonne verdeckt. Sie erklärt nicht das Wort ‚Mondfinsternis‘. Vielmehr gibt sie an, was eine Mondfinsternis ist. Indem man die Ursache angibt, schreitet man von einem Faktum zu seinem Grund fort. Das Verfahren der Analyse besteht darin, bottom-up zu einem bekannten Sachverhalt die nächste Ursache zu suchen, bis eine letzte Ursache erreicht ist. Status der Prinzipien und Funktion der Demonstration Das aristotelische Wissenschaftsmodell wurde in der Neuzeit und bis ins 20. Jahrhundert als ein Top-down-Beweisverfahren verstanden. Die unbeweisbaren Prinzipien seien notwendig wahr und würden durch Induktion und Intuition (nous) erlangt. Alle Sätze einer Wissenschaft würden – in einer axiomatischen Struktur – aus ihren Prinzipien folgen. Wissenschaft beruht demnach auf zwei Schritten: Zunächst würden die Prinzipien intuitiv erfasst, dann würde top-down aus ihnen Wissen demonstriert. Gegner dieser Top-down-Interpretation stellen vor allem infrage, dass für Aristoteles die Prinzipien immer wahr sind; die Prinzipien durch Intuition gewonnen werden; die Funktion der Demonstration darin besteht, dass aus obersten Prinzipien Wissen erschlossen wird. Eine Interpretationsrichtung behauptet, die Demonstration habe didaktische Funktion. Da Aristoteles in den naturwissenschaftlichen Schriften seine Wissenschaftstheorie nicht befolge, lege diese nicht dar, wie Forschung durchgeführt, sondern wie sie didaktisch präsentiert werden soll. Eine andere Auslegung weist auch die didaktische Interpretation zurück, da sich sehr wohl Anwendungen des wissenschaftstheoretischen Modells in den naturwissenschaftlichen Schriften finden ließen. Vor allem aber kritisiert sie die erste Lesart dahingehend, dass sie nicht zwischen Wissensideal und Wissenskultur unterscheide; denn Aristoteles halte Prinzipien für fallibel und die Funktion der Demonstration für heuristisch. Sie liest die Demonstration bottom-up: Zu bekannten Sachverhalten würden mithilfe der Demonstration deren Ursachen gesucht. Die wissenschaftliche Forschung gehe von den für uns bekannteren empirischen (meist universalen) Sätzen aus. Zu einer solchen Konklusion werden Prämissen gesucht, die für den entsprechenden Sachverhalt Ursachen angeben. Der wissenschaftliche Forschungsprozess besteht nun darin, beispielsweise die Verknüpfung von Schwere und Statue oder Mond und Finsternis in der Weise genauer zu analysieren, dass man Mittelterme sucht, die sie als Ursachen miteinander verknüpfen. Im einfachsten Fall gibt es dabei nur einen Mittelterm, in anderen mehrere. Top-down wird dann das Wissen von den erklärenden Prämissen zu den erklärten universalen empirischen Sätzen präsentiert. Dabei geben die Prämissen den Grund für den in der Konklusion beschriebenen Sachverhalt an. Das Ziel jeder Disziplin besteht in einer derartigen demonstrativen Darstellung des Wissens, in der die nicht demonstrierbaren Prinzipien dieser Wissenschaft Prämissen sind. Erfassen der Prinzipien Wie die Prinzipien nach Aristoteles erfasst werden, bleibt undeutlich und ist umstritten. Vermutlich werden sie durch Allgemeinbegriffe gebildet, die durch einen induktiven Vorgang entstehen, einen Aufstieg innerhalb der oben beschriebenen Wissensstufen: Wahrnehmung wird Erinnerung, wiederholte Wahrnehmung verdichtet sich zu Erfahrung, und aus Erfahrung bilden wir Allgemeinbegriffe. Mit dieser auf der Wahrnehmung basierenden Konzeption der Bildung von Allgemeinbegriffen weist Aristoteles sowohl Konzeptionen zurück, die die Allgemeinbegriffe aus einem höheren Wissen ableiten, als auch diejenigen, die behaupten, Allgemeinbegriffe seien angeboren. Vermutlich auf Grundlage dieser Allgemeinbegriffe werden die Prinzipien, Definitionen gebildet. Die Dialektik, die Fragen in der Form ‚Trifft P auf S zu oder nicht?‘ behandelt, ist vermutlich ein Mittel, Prinzipien zu prüfen. Das Vermögen, das diese grundlegenden Allgemeinbegriffe und Definitionen erfasst, ist der Geist, die Einsicht (nous). Naturphilosophie Natur In Aristoteles’ Naturphilosophie bedeutet Natur (physis) zweierlei: Zum einen besteht der primäre Gegenstandsbereich aus den von Natur aus bestehenden Dingen (Menschen, Tiere, Pflanzen, die Elemente), die sich von Artefakten unterscheiden. Zum anderen bilden die Bewegung (kínēsis) und Ruhe (stasis) den Ursprung, beziehungsweise das Grundprinzip (archē) aller Natur (Phys. II 1, 192b14). Bewegung bedeutet wiederum Veränderung (metabolē) (Phys. II 1,193a30). So ist beispielsweise die Ortsbewegung eine Form der Veränderung. Ebenso stellen die „Eigenbewegungen“ des Körpers, wenn dieser (zum Beispiel durch Nahrungsaufnahme) wächst oder abnimmt, eine Veränderung dar. Beide Begriffe, kínēsis und metabolē, sind für Aristoteles folglich nicht trennbar. Gemeinsam bilden sie das Grundprinzip und den Anfang aller Naturdinge. Bei Artefakten kommt das Prinzip jeder Veränderung von außen (Phys. II 1, 192b8–22). Die Wissenschaft der Natur hängt in der Folge von den Arten der Veränderung ab. Definition, Prinzipien und Arten der Veränderung Ein Veränderungsprozess von X ist gegeben, wenn X, das (i) der Wirklichkeit nach die Eigenschaft F und (ii) der Möglichkeit nach G aufweist, die Eigenschaft G verwirklicht. Bei Bronze (X), die der Wirklichkeit nach ein Klumpen ist (F) und der Möglichkeit nach eine Statue (G), liegt Veränderung dann vor, wenn die Bronze der Wirklichkeit nach die Form einer Statue (G) wird; der Prozess ist abgeschlossen, wenn die Bronze diese Form besitzt. Oder wenn der ungebildete Sokrates gebildet wird, so verwirklicht sich ein Zustand, welcher der Möglichkeit nach schon vorlag. Der Veränderungsprozess ist also durch seinen Übergangsstatus gekennzeichnet und setzt voraus, dass etwas, das der Möglichkeit nach vorliegt, verwirklicht werden kann (Phys. III 1, 201a10–201b5). Für alle Veränderungsprozesse hält Aristoteles (in Übereinstimmung mit seinen naturphilosophischen Vorgängern) Gegensätze für grundlegend. Er vertritt darüber hinaus die These, dass in einem Veränderungsprozess diese Gegensätze (wie gebildet-ungebildet) immer an einem Substrat oder Zugrundeliegenden (hypokeimenon) auftreten, so dass sein Modell folgende drei Prinzipien aufweist: Substrat der Veränderung (X); Ausgangszustand der Veränderung (F); Zielzustand der Veränderung (G). Wird der ungebildete Sokrates gebildet, so ist er dabei an jedem Punkt der Veränderung Sokrates. Entsprechend bleibt die Bronze Bronze. Das Substrat der Veränderung, an dem diese sich vollzieht, bleibt dabei mit sich selbst identisch. Den Ausgangszustand der Veränderung fasst Aristoteles dabei als einen Zustand, dem die entsprechende Eigenschaft des Zielzustands ermangelt (Privation; Phys. I 7). Aristoteles unterscheidet vier Arten der Veränderung: Qualitative Veränderung Quantitative Veränderung Ortsbewegung Entstehen/Vergehen. Bei jeder Veränderung – so Aristoteles – gibt es ein zugrunde liegendes, numerisch identisches Substrat (Physik I 7, 191a13–15). Im Falle qualitativer, quantitativer und örtlicher Veränderung ist dies ein konkretes Einzelding, das seine Eigenschaften, seine Größe oder seine Position verändert. Wie verhält sich dies aber beim Entstehen/Vergehen konkreter Einzeldinge? Die Eleaten hatten die einflussreiche These vertreten, Entstehen sei nicht möglich, da sie es für widersprüchlich hielten, wenn Seiendes aus Nicht-Seiendem hervorginge (bei Entstehen aus Seiendem sahen sie ein ähnliches Problem). Die Lösung der Atomisten, Entstehen sei ein Prozess, in dem durch Mischung und Trennung unvergänglicher und unveränderlicher Atome aus alten neue Einzeldinge hervorgehen, führt nach Aristoteles’ Ansicht Entstehen illegitimerweise auf qualitative Veränderung zurück (Gen. Corr. 317a20 ff.). Form und Materie bei Entstehen/Vergehen Aristoteles’ Analyse von Entstehen/Vergehen basiert auf der innovativen Unterscheidung von Form und Materie (Hylemorphismus). Er akzeptiert, dass kein konkretes Einzelding aus Nichtseiendem entstehe, analysiert den Fall Entstehen jedoch folgendermaßen. Ein konkretes Einzelding des Typs F entsteht nicht aus einem nicht-seienden F, sondern aus einem zugrunde liegenden Substrat, das nicht die Form F aufweist: der Materie. Ein Ding entsteht, indem Materie eine neu hinzukommende Form annimmt. So entsteht eine Bronzestatue, indem eine Bronzemasse eine entsprechende Form annimmt. Die fertige Statue besteht aus Bronze, die Bronze liegt der Statue als Materie zugrunde. Die Antwort auf die Eleaten lautet, dass einer nicht-seienden Statue die Bronze als Materie entspricht, die durch Hinzukommen einer Form zur Statue wird. Der Entstehungsprozess ist dabei von verschiedenen Seinsgraden gekennzeichnet. Die tatsächliche, aktuale, geformte Statue entsteht aus etwas, das potentiell eine Statue ist, nämlich Bronze als Materie (Phys. I 8, 191b10–34). Materie und Form sind Aspekte eines konkreten Einzeldings und treten nicht selbständig auf. Materie ist immer Stoff eines bestimmten Dings, das schon eine Form aufweist. Sie ist ein relativer Abstraktionsbegriff zu Form. Indem eine derartige Materie in einer neuen Weise strukturiert wird, entsteht ein neues Einzelding. Ein Haus setzt sich aus Form (dem Bauplan) und Materie (Holz und Ziegel) zusammen. Die Ziegel als Materie des Hauses sind durch einen bestimmten Prozess auf eine bestimmte Weise geformter, konfigurierter Lehm. Unter Form versteht Aristoteles seltener die äußere Gestalt (dies nur bei Artefakten), in der Regel die innere Struktur oder Natur, dasjenige, was durch eine Definition erfasst wird. Die Form eines Gegenstandes eines bestimmten Typs beschreibt dabei Voraussetzungen, welche Materie für diesen geeignet ist und welche nicht. Ortsbewegung Bewegungen erfolgen nach Aristoteles entweder naturgemäß oder naturwidrig (gewaltsam). Nur Lebewesen bewegen sich aus eigenem Antrieb, alles andere wird entweder von etwas bewegt oder es strebt möglichst geradlinig seinem natürlichen Ort entgegen und kommt dort zum Stillstand. Der natürliche Ort eines Körpers hängt von der in ihm vorherrschenden Materieart ab. Wenn Wasser oder Erde vorherrscht, bewegt sich der Körper zum Mittelpunkt der Erde, dem Zentrum der Welt, wenn Feuer oder Luft dominiert, strebt er nach oben. Erde ist ausschließlich schwer, Feuer absolut leicht, Wasser relativ schwer, Luft relativ leicht. Der natürliche Ort des Feuers ist oberhalb der Luft und unterhalb der Mondsphäre. Leichtigkeit und Schwere sind Eigenschaften von Körpern, die mit deren Dichte nichts zu tun haben. Mit der Einführung der Vorstellung einer absoluten Schwere und absoluten Leichtigkeit (Schwerelosigkeit des Feuers) verwirft Aristoteles die Auffassung Platons und der Atomisten, die alle Objekte für schwer hielten und das Gewicht als relative Größe auffassten. Das fünfte Element, der Äther des Himmels, ist masselos und bewegt sich ewig in gleichförmiger Kreisbewegung um das Zentrum der Welt. Der Äther füllt den Raum oberhalb der Mondsphäre; er ist keinerlei Veränderung außer der Ortsbewegung unterworfen. Die Annahme, auf der Erde und am Himmel gälten verschiedene Gesetze, ist für Aristoteles nötig, weil die Bewegung der Planeten und Fixsterne nicht zur Ruhe kommt. Aristoteles nimmt an, dass für jede Ortsbewegung ein Medium, das entweder als bewegende Kraft wirkt oder der Bewegung Widerstand leistet, erforderlich ist; eine kontinuierliche Bewegung im Vakuum ist prinzipiell unmöglich. Aristoteles schließt sogar die Existenz eines Vakuums aus. Die Bewegungslehre des Aristoteles war bis zur Entwicklung eines neuen Trägheitsbegriffs durch Galilei und Newton einflussreich. Ursachen Um Wissen von Veränderungsprozessen und somit von der Natur zu besitzen, muss man – so Aristoteles – die entsprechenden Ursachen (aitiai) kennen (Phys. I 1, 184a10–14). Aristoteles behauptet, es gebe genau vier Ursachentypen, die jeweils auf verschiedene Weise auf die Frage Warum antworten und die in der Regel bei einer vollständigen Erklärung alle angegeben werden müssen (Phys. II 3, 194b23–35): Der aristotelische Ursachenbegriff unterscheidet sich weitgehend vom modernen. In der Regel treffen zur Erklärung desselben Sachverhaltes oder Gegenstandes verschiedene Ursachen zugleich zu. Die Formursache fällt oft mit der Bewegungsursache und der Finalursache zusammen. Die Ursache eines Hauses sind so Ziegel und Holz, der Bauplan, der Architekt und der Schutz vor Unwetter. Letztere drei fallen oft zusammen, insofern beispielsweise der Zweck Schutz vor Unwetter den Bauplan (im Geist) des Architekten bestimmt. Die Finalursache ist vom Standpunkt der neuzeitlichen mechanistischen Physik aus kritisiert worden. Von einer insgesamt teleologisch ausgerichteten Natur wie bei Platon setzt sich Aristoteles jedoch weitgehend ab. Finale Ursachen treten für ihn in der Natur vor allem in der Biologie auf, und zwar beim funktionellen Aufbau von Lebewesen und der Artenreproduktion. Metaphysik Metaphysik als Erste Philosophie Aristoteles gebraucht den Ausdruck „Metaphysik“ nicht. Gleichwohl trägt eines seiner wichtigsten Werke traditionell diesen Titel. Die Metaphysik ist eine von einem späteren Herausgeber zusammengestellte Sammlung von Einzeluntersuchungen, die ein mehr oder weniger zusammenhängendes Themenspektrum abdecken, indem sie nach den Prinzipien und Ursachen des Seienden und nach der dafür zuständigen Wissenschaft fragen. Ob der Titel (ta meta ta physika: die <Schriften, Dinge> nach der Physik) einen bloß bibliografischen oder einen sachbezogenen Hintergrund hat, ist unklar. Aristoteles spricht in der Metaphysik von einer allen anderen Wissenschaften vorgeordneten Wissenschaft, die er Erste Philosophie, Weisheit (sophia) oder auch Theologie nennt. Diese Erste Philosophie wird in dieser Sammlung aus Einzeluntersuchungen auf drei Weisen charakterisiert: als Wissenschaft der allgemeinsten Prinzipien, die für Aristoteles’ Wissenschaftstheorie zentral sind (→ Satz vom Widerspruch) als Wissenschaft vom Seienden als Seienden, die aristotelische Ontologie als Wissenschaft vom Göttlichen, die aristotelische Theologie (→ Theologie) Ob oder inwieweit diese drei Projekte zusammenhängende Aspekte derselben Wissenschaft oder voneinander unabhängige Einzelprojekte sind, ist kontrovers. Aristoteles behandelt später metaphysisch genannte Themen auch in anderen Schriften. Ontologie Im Corpus Aristotelicum finden sich in zwei Werken, den frühen Kategorien und der späten Metaphysik, unterschiedliche Theorien des Seienden. Substanzen in den Kategorien Die Kategorien, die die erste Schrift im Organon bilden, sind vermutlich das einflussreichste Werk des Aristoteles und der Philosophiegeschichte überhaupt. Die frühe Ontologie der Kategorien befasst sich mit den Fragen ‚Was ist das eigentlich Seiende?‘ und ‚Wie ist das Seiende geordnet?‘ und ist als Kritik an der Position Platons zu verstehen. Der mutmaßliche Gedankengang lässt sich folgendermaßen skizzieren. Unterschieden werden Eigenschaften, die Einzeldingen zukommen (P kommt S zu). Dafür liegen zwei Deutungsmöglichkeiten nahe: Das eigentlich Seiende, die Substanz (ousia) sind abstrakte, unabhängig existierende Urbilder als Ursache und Erkenntnisgegenstand von Eigenschaften. konkrete Einzeldinge als Träger von Eigenschaften. Aristoteles selbst berichtet (Met. I 6), Platon habe gelehrt, man müsse von den wahrnehmbaren Einzeldingen getrennte, nicht sinnlich wahrnehmbare, unveränderliche, ewige Urbilder unterscheiden. Platon nahm an, dass es Definitionen (und damit aus seiner Sicht auch Wissen) von den Einzeldingen, die sich beständig ändern, nicht geben kann. Gegenstand der Definition und des Wissens sind für ihn die Urbilder (Ideen) als das für die Ordnungsstruktur des Seienden Ursächliche. Verdeutlichen lässt sich dies an einer von allen Menschen getrennten, einzelnen und numerisch identischen Idee des Menschen, die für das jeweilige Menschsein ursächlich ist und die Erkenntnisgegenstand ist für die Frage ‚Was ist ein Mensch?‘. Aristoteles’ Einteilung des Seienden in den Kategorien scheint sich von der skizzierten Position Platons abzugrenzen. Er orientiert sich dabei an der sprachlichen Struktur einfacher Sätze der Form ‚S ist P‘ und der sprachlichen Praxis, wobei er die sprachliche und die ontologische Ebene nicht explizit voneinander scheidet. Einige Ausdrücke – wie ‚Sokrates‘ – können nur die Subjektposition S in dieser sprachlichen Struktur einnehmen, alles andere wird von ihnen prädiziert. Die Dinge, die in diese Kategorie der Substanz fallen und die er Erste Substanz nennt, sind ontologisch selbständig; sie bedürfen keines anderen Dinges, um zu existieren. Daher sind sie ontologisch primär, denn alles andere ist von ihnen abhängig und nichts würde ohne sie existieren. Diese abhängigen Eigenschaften bedürfen eines Einzeldings, einer ersten Substanz als eines Trägers, an der sie vorkommen. Derartige Eigenschaften (z. B. weiß, sitzend) können einem Einzelding (etwa Sokrates) jeweils zukommen oder auch nicht zukommen und sind daher akzidentelle Eigenschaften. Dies betrifft alles außerhalb der Kategorie der Substanz. Für einige Eigenschaften (z. B. ‚Mensch‘) gilt nun, dass sie in der Weise von einem Einzelding (z. B. Sokrates) ausgesagt werden können, dass ihre Definition (vernünftiges Lebewesen) auch von diesem Einzelding gilt. Sie kommen ihm daher notwendig zu. Dies sind die Art und die Gattung. Aufgrund dieses engen Bezugs, in dem die Art und die Gattung angeben, was eine erste Substanz jeweils ist (etwa in der Antwort auf die Frage ‚Was ist Sokrates?‘: ‚ein Mensch‘), nennt Aristoteles sie zweite Substanz. Dabei hängt auch eine zweite Substanz von einer ersten Substanz ontologisch ab. A) Kategorie der Substanz: 1. Substanz: Merkmal der Selbständigkeit. 2. Substanz: Merkmal der Erkennbarkeit. B) Nichtsubstanziale Kategorien: Akzidenzien. Aristoteles vertritt also folgende Thesen: Nur Einzeldinge (erste Substanzen) sind selbständig und daher ontologisch primär. Alle Eigenschaften hängen von den Einzeldingen ab. Es existieren keine unabhängigen, nicht-exemplifizierten Urbilder. Neben kontingenten, akzidentellen Eigenschaften (wie ‚weiß‘) gibt es notwendige, essentielle Eigenschaften (wie ‚Mensch‘), die angeben, was ein Einzelding jeweils ist. Die Substanztheorie der Metaphysik Für Platon ergibt sich als Konsequenz aus seiner Auffassung von den Ideen die Annahme, dass im eigentlichen, unabhängigen Sinne allein die unveränderlichen Ideen existieren; die Einzeldinge existieren nur in Abhängigkeit von den Ideen. Diese ontologische Konsequenz kritisiert Aristoteles eingehend in der Metaphysik. Er hält es für widersprüchlich, dass die Anhänger der Ideenlehre einerseits die Ideen dadurch von den Sinnesobjekten abgrenzen, dass sie ihnen das Merkmal der Allgemeinheit und damit Undifferenziertheit zuweisen, und andererseits zugleich für jede einzelne Idee eine separate Existenz annehmen; dadurch würden die Ideen selbst Einzeldinge, was mit ihrem Definitionsmerkmal Allgemeinheit unvereinbar sei (Met. XIII 9, 1086a32–34). In der Metaphysik vertritt Aristoteles im Rahmen seines Vorhabens, das Seiende als Seiendes zu untersuchen, die Auffassung, dass alles Seiende entweder eine Substanz ist oder auf eine bezogen ist (Metaphysik IV 2). In den Kategorien hatte er ein Kriterium für Substanzen formuliert und Beispiele (Sokrates) für diese gegeben. In der Metaphysik thematisiert er nun abermals die Substanz, um nach den Prinzipien und Ursachen einer Substanz, eines konkreten Einzeldings zu suchen. Hier fragt er nun: Was macht etwa Sokrates zu einer Substanz? Substanz ist hier also ein zweistelliges Prädikat (Substanz von X), so dass man die Frage so formulieren kann: Was ist die Substanz-X einer Substanz? Dabei spielt die Form-Materie-Unterscheidung, die in den Kategorien nicht präsent ist, eine entscheidende Rolle. Aristoteles scheint die Substanz-X vor allem mit Hilfe zweier Kriterien zu suchen, die in der Theorie der Kategorien auf die erste und die zweite Substanz verteilt sind: (i) selbständige Existenz oder Subjekt für alles andere, aber nicht selbst Prädikat zu sein (individuelles Wesen = erste Substanz); (ii) Definitionsgegenstand zu sein, Erkennbarkeit zu garantieren, das heißt auf die Frage ‚Was ist X?‘ zu antworten (allgemeines Wesen = zweite Substanz). Das Kriterium (ii) wird genauer erfüllt, indem Aristoteles das Wesen als Substanz-X bestimmt. Mit Wesen meint er dabei, was ontologisch einer Definition entspricht (Met. VII 4; 5, 1031a12; VIII 1, 1042a17). Das Wesen beschreibt die notwendigen Eigenschaften, ohne die ein Einzelding aufhören würde, ein und dieselbe Sache zu sein. Fragt man: Was ist die Ursache dafür, dass diese Materieportion Sokrates ist?, so ist Aristoteles’ Antwort: Das Wesen von Sokrates, welches weder ein weiterer Bestandteil neben den materiellen Bestandteilen ist (dann bedürfte es eines weiteren Strukturprinzips, um zu erklären, wie es mit den materiellen Bestandteilen vereint ist) noch etwas aus materiellen Bestandteilen (dann müsste man erklären, wie das Wesen selbst zusammengesetzt ist). Aristoteles ermittelt die Form (eidos) eines Einzeldings als sein Wesen und somit als Substanz-X. Mit Form meint er weniger die äußere Gestalt als vielmehr die Struktur: Die Form wohnt dem Einzelding inne, bewirkt bei Lebewesen die Entstehung eines Exemplars derselben Art (Met. VII 8, 1033b30–2) bei Artefakten (z. B. Haus) als formale Ursache (Bauplan) (Met. VII 9, 1034a24) im Geist des Produzenten (Met. VII 7, 1032b23) (Architekt) die Entstehung des Einzeldings. geht der Entstehung eines aus Form und Materie zusammengesetzten Einzeldings voraus und entsteht und verändert sich nicht und bewirkt so (bei natürlichen Arten) eine Kontinuität der Formen, die für Aristoteles ewig ist (Met. VII 8, 1033b18) ist Ursache, Erklärung der wesentlichen Eigenschaften und Fähigkeiten eines Einzeldings (Beispielsweise ist die Form eines Menschen die Seele (Met. VII 10, 1035b15), welche sich aus Fähigkeiten wie Nährvermögen, Wahrnehmungsvermögen, Denkvermögen unter anderem konstituiert (An. II 2, 413b11–13)). Dass die Form als Substanz-X auch das genannte Kriterium (ii), selbständig zu sein, erfüllen muss, und dies teilweise als Kriterium für etwas Individuelles aufgefasst wird, ist einer von vielen Aspekten in folgender zentralen interpretatorischen Kontroverse: Fasst Aristoteles die Form (A) als etwas Allgemeines oder (B) als etwas (dem jeweiligen Einzelding) Individuelles auf? Als Problem formuliert: Wie kann die Form, das eidos, zugleich Form eines Einzeldings und Gegenstand des Wissens sein? Für (A) spricht insbesondere, dass Aristoteles an mehreren Stellen davon ausgeht, dass die Substanz-X und somit die Form definierbar ist (Met. VII 13) und dies für ihn (wie für Platon) nur auf Allgemeines zutrifft (VII 11, 1036a; VII 15, 1039b31–1040a2). Für (B) hingegen spricht vor allem, dass Aristoteles kategorisch die unplatonische Position zu vertreten scheint: Kein Allgemeines kann Substanz-X sein (Met. VII 13). Nach (B) besitzen Sokrates und Kallias zwei auch qualitativ verschiedene Formen. Definierbar müssten dann zu separierende, überindividuelle Aspekte dieser beiden Formen sein. Die Interpretation (A) hingegen löst das Dilemma etwa, indem sie die Aussage Kein Allgemeines ist Substanz-X als Nichts allgemein Prädizierbares ist Substanz-X interpretiert und so entschärft. Die Form werde nicht auf herkömmliche Weise (wie die Art ‚Mensch‘ von ‚Sokrates‘ in den Kategorien) prädiziert und sei daher nicht im problematischen Sinne allgemein. Vielmehr werde die Form von der unbestimmten Materie in einer Weise ‚prädiziert‘, die einen Einzelgegenstand erst konstituiere. Akt und Potenz Die für die Ontologie wichtige Beziehung zwischen Form und Materie wird durch ein weiteres Begriffspaar genauer erläutert: Akt (energeia, entelecheia) und Potenz (dynamis). Für die Form-Materie-Unterscheidung ist die später ontologisch genannte Bedeutung von Potenz oder Vermögen wichtig. Potentialität ist hier ein Zustand, dem ein anderer Zustand – Aktualität – gegenübersteht, indem ein Gegenstand der Wirklichkeit nach F oder dem Vermögen, der Möglichkeit nach F ist. So ist ein Junge der Möglichkeit nach ein Mann, ein ungebildeter Mensch der Möglichkeit nach ein gebildeter (Met. IX 6). Dieses (hier diachron beschriebene) Verhältnis von Aktualität und Potentialität bildet die Grundlage für das (auch synchron zu verstehende) Verhältnis von Form und Materie, denn Form und Materie sind Aspekte eines Einzeldings, nicht dessen Teile. Sie sind im Verhältnis von Aktualität und Potentialität miteinander verbunden und konstituieren so (erst) das Einzelding. Die Materie eines Einzeldings ist demnach genau das potentiell, was die Form des Einzeldings und das Einzelding selbst aktual sind (Met. VIII 1, 1042a27 f.; VIII 6, 1045a23–33; b17–19). Zum einen ist zwar (diachron betrachtet) eine bestimmte Portion Bronze potentiell eine Kugel wie auch eine Statue. Zum anderen aber ist (synchron als konstituierender Aspekt) die Bronze an einer Statue potentiell genau das, was die Statue und deren Form aktual sind. Die Bronze der Statue ist ein Konstituens der Statue, ist aber nicht mit ihr identisch. Und so sind auch Fleisch und Knochen potentiell das, was Sokrates oder seine Form (die für einen Menschen typische Konfiguration und Fähigkeiten seiner materiellen Bestandteile,→ Psychologie) aktual sind. So wie die Form gegenüber der Materie ist für Aristoteles auch die Aktualität gegenüber der Potentialität primär (Met. IX 8, 1049b4–5). Unter anderem ist sie der Erkenntnis nach primär. Man kann nur dann ein Vermögen angeben, wenn man Bezug auf die Wirklichkeit nimmt, zu der es ein Vermögen ist. Das Sehvermögen etwa lässt sich nur bestimmen, indem man auf die Tätigkeit ‚Sehen‘ Bezug nimmt (Met. IX 8, 1049b12–17). Des Weiteren ist die Aktualität im entscheidenden Sinne auch zeitlich früher als die Potentialität, denn ein Mensch entsteht durch einen Menschen, der aktual Mensch ist (Met. IX 8, 1049b17–27). Theologie Aristoteles unterscheidet im Vorfeld seiner Theologie drei mögliche Substanzen: (i) sinnlich wahrnehmbare vergängliche, (ii) sinnlich wahrnehmbare ewige und (iii) nicht sinnlich wahrnehmbare ewige und unveränderliche (Met. XII 1, 1069a30–1069b2). (i) sind die konkreten Einzeldinge (der sublunaren Sphäre), (ii) die ewigen, bewegten Himmelskörper, (iii) erweist sich als der selbst unbewegte Ursprung aller Bewegung. Aristoteles argumentiert für einen göttlichen Beweger, indem er feststellt, dass, wenn alle Substanzen vergänglich wären, alles vergänglich sein müsste, die Zeit und die Veränderung selbst jedoch notwendig unvergänglich sind (Phys. VIII 1, 251a8–252b6; Met. XII 6, 1071b6–10). Aristoteles zufolge ist die einzige Veränderung, die ewig existieren kann, die Kreisbewegung (Phys. VIII 8–10; Met. XII 6,1071b11). Die entsprechende beobachtbare kreisförmige Bewegung der Fixsterne muss daher als Ursache eine ewige und immaterielle Substanz haben (Met. XII 8, 1073b17–32). Enthielte das Wesen dieser Substanz Potentialität, könnte die Bewegung unterbrochen werden. Daher muss sie reine Aktualität, Tätigkeit sein (Met. XII, 1071b12–22). Als letztes Prinzip muss dieser Beweger selbst unbewegt sein. Nach Aristoteles bewegt der unbewegte Beweger „wie ein Geliebtes“, nämlich als Ziel (Met. XII 7, 1072b3), denn das Begehrte, das Gedachte und insbesondere das Geliebte kann bewegen, ohne bewegt zu sein (Met. XII 7, 1072a26). Seine Tätigkeit ist die lustvollste und schönste. Da er immaterielle Vernunft (nous) ist und seine Tätigkeit im Denken des besten Gegenstandes besteht, denkt er sich selbst: das „Denken des Denkens“ (noêsis noêseôs) (Met. XII 9, 1074b34 f.). Da nur Lebendiges denken kann, muss er zudem lebendig sein. Den unbewegten Beweger identifiziert Aristoteles mit Gott (Met. XII 7, 1072b23 ff.). Der unbewegte Beweger bewegt die gesamte Natur. Die Fixsternsphäre bewegt sich, da sie mit der Kreisbewegung die Vollkommenheit nachahmt. Die anderen Himmelskörper werden vermittelt über die Fixsternsphäre bewegt. Die Lebewesen haben Anteil an der Ewigkeit, indem sie mittels der Fortpflanzung ewig bestehen (GA II 1, 731b31–732a1). Biologie Stellung der Biologie Nicht nur in der Philosophiegeschichte, sondern auch in der Geschichte der Naturwissenschaften nimmt Aristoteles einen bedeutenden Platz ein. Ein großer Teil seiner überlieferten Schriften ist naturwissenschaftlich, von denen die bei weitem bedeutendsten und umfangreichsten die biologischen Schriften sind, die fast ein Drittel des überlieferten Gesamtwerks umfassen. Vermutlich in Arbeitsteilung wurde die Botanik von seinem engsten Mitarbeiter Theophrast, die Medizin bzw. Geschichte der Medizin von seinem Schüler Menon bearbeitet. Aristoteles vergleicht das Studium unvergänglicher Substanzen (Gott und Himmelskörper) und vergänglicher Substanzen (der Lebewesen). Beide Forschungsgebiete haben ihren Reiz. Die unvergänglichen Substanzen, die höchsten Erkenntnisgegenstände zu untersuchen, bereiten zwar die größte Freude, aber das Wissen über Lebewesen ist leichter zu erlangen, da sie uns näher stehen. Er betont den Wert der Erforschung auch niederer Tiere und weist darauf hin, dass auch diese etwas Natürliches und Schönes zeigen, das sich nicht in ihren zerlegten Bestandteilen erschöpft, sondern erst durch die Tätigkeiten und das Zusammenwirken der Teile hervortritt (PA I 5, 645a21–645b1). Aristoteles als empirischer Forscher Aristoteles hat selbst empirische Forschung betrieben, jedoch vermutlich nicht Experimente im – erst in der neuzeitlichen Naturwissenschaft eingeführten – Sinne einer methodischen Versuchsanordnung angestellt. Sicher ist, dass er selbst Sezierungen vornahm. Einem Experiment am nächsten kommt die in festgelegten zeitlichen Abständen wiederholte Untersuchung von befruchteten Hühnereiern, mit dem Ziel zu beobachten, in welcher Reihenfolge die Organe entstehen (GA VI 3, 561a6–562a20). Experimente sind jedoch in seiner eigentlichen Domäne – der deskriptiven Zoologie – auch nicht das wesentliche Instrument der Forschung. Neben eigenen Beobachtungen und einigen wenigen Textquellen stützte er sich hier auch auf Informationen von einschlägig Berufstätigen wie Fischern, Bienenzüchtern, Jägern und Hirten. Er ließ die Inhalte seiner Textquellen teilweise empirisch überprüfen, übernahm aber auch unkritisch fremde Irrtümer. Ein verlorenes Werk bestand vermutlich großenteils aus Zeichnungen und Diagrammen von Tieren. Methodologie der Biologie: Trennung von Fakten und Ursachen Aufgrund des lange vorherrschenden Interpretationsmodells der Wissenschaftstheorie des Aristoteles und der Vernachlässigung der biologischen Schriften, ging man früher davon aus, dass er diese Theorie nicht auf die Biologie angewendet hat. Demgegenüber wird heute durchaus angenommen, dass seine Vorgehensweise in der Biologie von seiner Wissenschaftstheorie beeinflusst war, wenngleich Umfang und Grad umstritten sind. Faktensammlungen Von Aristoteles ist keine Beschreibung seines naturwissenschaftlichen Vorgehens überliefert. Erhalten sind neben der allgemeinen Wissenschaftstheorie nur Texte, die ein Endprodukt der wissenschaftlichen Forschung darstellen. Die biologischen Schriften sind in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet, die der Vorgehensweise entspricht. Die erste Schrift (Historia animalium) beschreibt die verschiedenen Tierarten und ihre spezifischen Differenzen. Sie bietet die Sammlung des Faktenmaterials wie z. B., dass alle Lebewesen mit Lungen Luftröhren aufweisen. Dabei wird nicht erörtert, ob etwas notwendig oder unmöglich so sei. In der Faktensammlung ordnet Aristoteles die Lebewesen nach verschiedenen Einteilungsmerkmalen wie blutführend, lebendgebärend usw. Nach Merkmalen geordnet stellt er allgemeine Relationen zwischen verschiedenen Aspekten der Beschaffenheit fest. So bemerkt er beispielsweise: Alle Vierfüßler, die lebendgebärend sind, weisen Lungen und Luftröhren auf (HA II 15, 505b32 f.). Erst die an dieses Werk anschließenden und darauf aufbauenden Schriften De generatione animalium (Über die Entstehung der Tiere) und De partibus animalium (Über die Teile der Tiere) befassen sich mit den Ursachen, welche die Fakten erklären. Ursachenwissen Die Faktensammlung ist die Voraussetzung dafür, Wissen auf der Grundlage von Ursachenkenntnis zu erreichen. Zentral für die Biologie sind dabei finale Ursachen, die den Zweck der Bestandteile des Körpers angeben. Die Ursache für die Existenz einer Luftröhre bei allen Lebewesen, die eine Lunge besitzen, besteht für Aristoteles in der Funktionsweise der Lunge. Die Lunge kann – anders als der Magen – nicht unmittelbar an den Mund anschließen, da sie eines zweigeteilten Kanals bedarf, so dass Einatmen und Ausatmen auf optimale Weise möglich ist. Da dieser Kanal eine gewisse Länge aufweisen muss, haben alle Lebewesen mit Lunge einen Hals. Fische haben daher keinen Hals, weil sie keine Luftröhre benötigen, da sie mit Kiemen atmen (PA III 3, 664a14–34). Finale Ursachen in der Biologie Die Verwendung finaler Erklärungen in der Biologie (und auch anderen Forschungsgebieten des Aristoteles) ist insbesondere in der Frühen Neuzeit und bis ins 20. Jahrhundert vielfach kritisiert worden. Unter finalen Erklärungen oder Ursachen versteht Aristoteles hier allerdings in der Regel keine übergreifenden Zwecke, die etwa eine bestimmte Spezies hätte. Ihm geht es vielmehr um eine interne Funktionsbestimmung der Organismen und ihrer Teile. Inhalte der Zoologie Aristoteles hat über 500 Spezies untersucht. Seine Schriften behandeln systematisch die inneren und äußeren Teile der einzelnen Tiere, Bestandteile wie Blut und Knochen, Arten der Fortpflanzung, die Nahrung, den Lebensraum und das Verhalten. Er beschreibt das Verhalten von Haustieren, exotischen Raubtieren wie dem Krokodil, Vögeln, Insekten und Meerestieren. Zu diesem Zweck ordnet er die Lebewesen. Einteilung der Arten Aristoteles unterscheidet zwei Hauptgruppen von Lebewesen: blutführende und blutlose Tiere. Dies entspricht der Einteilung in Wirbeltiere und Wirbellose. Diese ordnet er nach größten Gattungen: Blutführende Tiere: lebendgebärende Vierfüßler eierlegende Vierfüßler Vögel Fische Cetaceen (Meeressäuger) eierlegende Fußlose (Schlangen) lebendgebärende Fußlose (Vipern) Mensch (bildet eine isolierte Gattung) Blutlose Tiere: Weichtiere Krustentiere Schalentiere Kerbtiere Vermutlich war es nicht Aristoteles’ Absicht, eine vollständige Taxonomie zu schaffen. Das System einer Taxonomie ist für ihn auch kein Hauptgegenstand. Ziel seiner Untersuchungen war eher eine Morphologie, eine Klassifikation der Lebewesen anhand charakteristischer Merkmale. So hat er die Gattungen zwischen den genannten sowie Untergattungen nicht terminologisch fixiert. Beispiel einer Beschreibung. Der Krake Aristoteles und die Erkenntnisse der modernen Biologie In vielen Fällen hat sich Aristoteles als Biologe geirrt. Einige seiner Irrtümer erscheinen reichlich kurios, wie die Beschreibung des Bisons, das sich „durch Ausschlagen und Ausstoßen seines Kots, welchen es bis siebeneinhalb Meter weit von sich schleudern kann, verteidigt“ (HA IX 45, 630b8 f.). Offenbar war seine Informationsquelle über dieses exotische Tier nicht sehr verlässlich. Weitere bekannte Irrtümer sind unter anderem die Behauptung, der Mann habe mehr Zähne als die Frau (HA II 3, 501b19), das Gehirn sei ein Kühlorgan und das Denken geschehe in der Herzgegend (PA II 7, 652b21–25; III 3, 514a16–22) sowie das Konzept der Telegonie, wonach eine vorangegangene Trächtigkeit den Phänotyp von Nachkommen aus späteren Trächtigkeiten beeinflussen könne. Aristoteles hat aber auch auf der Grundlage seiner Beobachtungen Einsichten gewonnen, die nicht nur zutreffen, sondern die erst in der Moderne wiederentdeckt oder bestätigt worden sind. Beispielsweise erwähnt er bei der Beschreibung des angeführten Kraken, dass die Paarung durch einen Fangarm des Männchens geschieht, der gegabelt ist – die sogenannte Hektokotylisation –, und beschreibt diesen Fortpflanzungsvorgang (HA V 5, 541b9–15; V 12, 544a12; GA V 15, 720b33). Dieses Phänomen war bis ins 19. Jahrhundert nur durch Aristoteles bekannt; die genaue Art der Fortpflanzung wurde erst 1959 vollständig verifiziert. Bedeutender noch ist seine Hypothese, nach der die Teile eines Organismus in einer hierarchischen Ordnung ausgebildet werden und nicht – wie die (bereits von Anaxagoras vertretene) Präformationslehre annimmt – vorgebildet sind (GA 734a28–35). Diese Auffassung von der embryonalen Entwicklung ist in der Neuzeit unter der von Aristoteles noch nicht verwendeten Bezeichnung Epigenesis bekannt geworden. Ihre empirische Grundlage waren für Aristoteles seine Sezierungen. In der Neuzeit war aber die Präformationslehre vom 17. bis in das 19. Jahrhundert hinein die allgemein akzeptierte Theorie, und Vertreter der Epigenesis wie William Harvey (1651) und Caspar Friedrich Wolff (1759) fanden mit ihren embryologischen Untersuchungen, die klar zeigten, dass die Embryonen sich aus ganz undifferenzierter Materie entwickeln, wenig Beachtung. Diese Einsicht setzte sich erst im frühen 19. Jahrhundert durch und verdrängte schließlich die präformistischen Spekulationen. Endgültig wurde erst im 20. Jahrhundert in der Experimentalbiologie durch Hans Driesch und Hans Spemann bestätigt, dass die embryonale Entwicklung eine Kette von Neubildungen, ein epigenetischer Prozess ist. Ferner gibt es eine Analogie zwischen der aristotelischen zielhaften Epigenesis und der Genetik. Seelenlehre: Theorie des Lebendigseins Ausgangssituation Lebewesen unterscheiden sich von anderen natürlichen und künstlichen Objekten dadurch, dass sie lebendig sind. Bei Homer ist die Seele (psychê) das, was einen Leichnam verlässt. Im Laufe des 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. findet der Begriff zunehmend eine deutliche Ausweitung: beseelt (empsychos) zu sein bedeutet lebendig zu sein und das Konzept Seele weist nun auch kognitive und emotionale Aspekte auf. Aristoteles nimmt diesen Sprachgebrauch auf. In seiner Seelentheorie ist er mit zwei Positionen konfrontiert: zum einen mit dem Materialismus vorsokratischer Naturphilosophen (vor allem Demokrit und Empedokles), die behaupten, die Seele bestehe aus einer besonderen Art Materie, zum anderen mit der dualistischen Position Platons, für den die Seele unsterblich, immateriell und ihrer Natur nach eher etwas Intelligibles ist. Hinsichtlich der Streitfrage zwischen Materialismus und Dualismus, ob Körper und Seele miteinander identisch sind oder nicht, ist Aristoteles der Auffassung, dass die Frage falsch gestellt ist. Dies erläutert er mit einem Vergleich: Die Frage Sind Körper und Seele identisch? ist ebenso unsinnig wie die Frage Sind Wachs und seine Form identisch? (An. II 1, 412b6–9). Zustände der Seele sind zwar immer auch Zustände des Körpers, aber eine Identität von Körper und Seele verneint Aristoteles ebenso wie die Unsterblichkeit der Seele. Bestimmung der Seele Was die Seele ist, bestimmt Aristoteles mittels seiner Unterscheidung von Form und Materie. Die Seele verhält sich zum Körper wie die Form zur Materie, das heißt wie eine Statuenform zur Bronze. Form und Materie eines Einzeldings sind aber nicht zwei verschiedene Objekte, nicht dessen Teile, sondern Aspekte ebendieses Einzeldings. Die Seele definiert Aristoteles als „erste Wirklichkeit (entelecheia) eines natürlichen organischen Körpers“ (An. II 1, 412b5 f.). Eine Wirklichkeit oder Aktualität ist die Seele, weil sie als Form den Aspekt des Lebendigen an der potentiell belebten Materie (nämlich der organischen) darstellt. Eine erste Wirklichkeit ist sie, insofern das Lebewesen auch dann lebendig ist, wenn es nur schläft und keine weiteren Tätigkeiten ausübt (die ebenfalls Aspekte des Seelischen sind). (An. II 1, 412a19–27). Fähigkeiten Die weiteren seelischen Aspekte sind die Funktionen, die für ein Lebewesen charakteristisch sind, seine spezifischen Fähigkeiten oder Vermögen (dynamis). Aristoteles unterscheidet vor allem folgende Fähigkeiten: Ernährungs- und Fortpflanzungsvermögen (threptikon) Wahrnehmungsvermögen (aisthêtikon) Denkvermögen (dianoêtikon) Ernährungs- und Fortpflanzungsvermögen kommen – als grundlegendes Vermögen alles Lebendigen – auch den Pflanzen zu, Wahrnehmungsvermögen (und Fortbewegungsfähigkeit) weisen nur die Tiere (einschließlich des Menschen) auf. Das Denken besitzt allein der Mensch. Wahrnehmungsvermögen Aristoteles unterscheidet folgende fünf Sinne und behauptet, dass es nicht mehr geben kann: Tastsinn Geschmackssinn Riechen Hören Sehen Wahrnehmung (aisthesis) fasst Aristoteles allgemein als ein Erleiden oder eine qualitative Veränderung (An. II 5, 416b33 f.). Das, was die Sinne wahrnehmen, ist dabei jeweils durch ein kontinuierliches Gegensatzpaar bestimmt: Sehen durch hell und dunkel, Hören durch hoch und tief, Riechen und Schmecken durch bitter und süß; Tasten weist verschiedene Gegensatzpaare auf: hart und weich, heiß und kalt, feucht und trocken. Aristoteles behauptet, dass beim Wahrnehmungsvorgang das jeweilige Organ wie das Wahrgenommene wird (An. 418a3–6). Des Weiteren sagt er, dass das Organ die Form „ohne die Materie“ aufnimmt, so „wie das Wachs das Siegel des Ringes ohne Eisen und ohne Gold aufnimmt“ (An. II 12, 424a18 f.). Dies ist von manchen Kommentatoren, darunter Thomas von Aquin, so interpretiert worden, dass das Organ keine natürliche Veränderung (mutatio naturalis), sondern eine geistige (mutatio spiritualis) erfahre. Andere Interpreten meinen, dass „ohne Materie“ schlicht bedeutet, dass zwar keine Partikel in das Organ gelangen, dieses sich aber tatsächlich dem Wahrnehmungsobjekt entsprechend verändert. Den Tastsinn besitzen alle Lebewesen, welche Wahrnehmung besitzen. Der Tastsinn ist ein Kontaktsinn, das heißt zwischen Wahrnehmungsorgan und Wahrgenommenem befindet sich kein Medium (An. II 11, 423a13 f.). Der Geschmacksinn ist eine Art Tastsinn (An. II 10, 422a8 f.). Die drei Distanzsinne Riechen, Hören und Sehen hingegen benötigen ein Medium, das den Eindruck vom Wahrgenommenen zum Organ transportiert. Vernunft Die Vernunft oder das Denkvermögen (nous) ist spezifisch für den Menschen. Aristoteles definiert sie als „das, womit die Seele denkt und Annahmen macht“ (An. III 4, 429a22 f.). Die Vernunft ist unkörperlich, da sie anderenfalls in ihren möglichen Denkgegenständen eingeschränkt wäre, was aber nicht der Fall sein darf (An. III 4, 429a17–22). Allerdings ist sie körpergebunden, da sie auf Vorstellungen (phantasmata) angewiesen ist. Vorstellungen bilden das Material der Denkakte, sie sind konservierte Sinneswahrnehmungen. Das entsprechende Vorstellungsvermögen (phantasia; weder interpretierend noch produktiv im Sinne von Phantasie) ist auf Sinneseindrücke angewiesen, wenngleich Sinneseindruck und Vorstellung qualitativ mitunter stark voneinander abweichen können, etwa bei Halluzinationen. Das Vorstellungsvermögen ist den Wahrnehmungsvermögen zugeordnet (An. III 8, 428b10–18). Insofern die Vernunft also in ihrer Tätigkeit an Vorstellungen gebunden ist, ist sie auch an einen Körper gebunden. Ethik Glück (eudaimonia) und Tugend oder Bestzustand (aretê) sind die in Aristoteles’ Ethik zentralen Begriffe. Aristoteles vertritt die These, dass das Ziel aller absichtlichen Handlungen das im „guten Leben“ verwirklichte Glück ist. Die Ausbildung von Tugenden ist nach seiner Ansicht wesentlich dafür, dieses Ziel zu erreichen (→ Tugendethik). Glück als das Ziel des guten Lebens Strebenshierarchie der Güter In ihren (absichtlichen) Handlungen streben alle Menschen nach etwas, das ihnen gut erscheint. Einige dieser erstrebten Güter werden nur als Mittel erstrebt, um andere Güter zu erreichen, andere sind sowohl Mittel als auch selbst ein Gut. Da das Streben nicht unendlich sein kann, muss es ein oberstes Gut und letztes Strebensziel geben. Dieses wird nur um seiner selbst willen erstrebt. Es wird offenbar allgemein „Glück“ (eudaimonia) genannt (EN I 1). Definition des Glücks als des obersten Guts Um umrisshaft zu bestimmen, worin das Glück als oberstes Gut für den Menschen besteht, fragt Aristoteles: Worin besteht die spezifische Funktion (telos) oder Aufgabe (ergon) des Menschen? Sie besteht im Vermögen der Vernunft (logos), das ihn von anderen Lebewesen unterscheidet. Der für den Menschen spezifische Seelenteil verfügt über dieses Vermögen der Vernunft; der andere Seelenteil, der sich aus Emotionen und Begierden zusammensetzt, ist zwar selbst nicht vernünftig, kann sich aber durch die Vernunft leiten lassen. Um das Glück zu erlangen, muss das Individuum das Vermögen Vernunft gebrauchen, nicht bloß besitzen, und zwar auf Dauer und in einem Bestzustand (aretê). Demgemäß ist „das Gut für den Menschen“, das Glück, eine Tugenden Um den Zustand der Vortrefflichkeit zu erreichen, muss man den beiden Seelenteilen entsprechend (a) Verstandestugenden und (b) Charaktertugenden ausbilden. Tugenden sind für Aristoteles Haltungen, zu denen jeder Mensch die Anlage besitzt, die sich jedoch durch Erziehung und Gewöhnung erst ausbilden müssen. Verstandestugenden Unter den Verstandestugenden beziehen sich einige auf das Wissen von Unveränderlichem oder die Herstellung von Gegenständen. Allein die Klugheit (phronêsis) ist mit dem Handeln verknüpft, und zwar als Tugend mit dem Ziel eines guten Lebens. Sie ist – neben den Charaktertugenden – notwendig, um in konkreten Entscheidungssituationen im Hinblick auf das gute Leben handeln zu können. Im Bereich menschlicher Handlungen gibt es – anders als in den Wissenschaften – keine Beweise, und um klug zu sein, bedarf es dabei auch der Erfahrung. Die Funktion der Klugheit besteht darin, die Mitte (mesotês) zu wählen. Charaktertugenden Charaktertugenden sind Haltungen (hexeis), für die kennzeichnend ist, dass man sie loben und tadeln kann. Sie werden durch Erziehung und Gewöhnung ausgeprägt, wobei dies nicht als eine Konditionierung zu verstehen ist. Zwar hängt von Kindheit an sehr viel von der Gewöhnung ab (EN II 1, 1103b24), Charaktertugenden liegen jedoch erst vor, wenn jemand sich wissentlich für die entsprechenden Handlungen entscheidet, und zwar nicht wegen möglicher Sanktionen, sondern um der tugendhaften Handlungen selbst willen, und wenn er dabei auch nicht ins Wanken gerät (EN II 3, 1105a26–33). Auch unterscheidet sich der Tugendhafte vom Selbstbeherrschten (der dieselben Handlungen ausführen mag, sich aber dazu zwingen muss) dadurch, dass er an der Tugend Freude empfindet (EN II 2, 1104b3 ff.). Durch Gewöhnung ausgeprägt werden die Charaktertugenden, indem Übermaß und Mangel vermieden werden. Das Instrument der Mitte bestimmt die Charaktertugenden genauer. So ist beispielsweise die Tugend der Tapferkeit eine Mitte zwischen den Lastern Tollkühnheit und Feigheit. Grundlage für die Tugenden sind dabei sowohl die Handlungen als auch die Emotionen und Begierden. Nicht tapfer, sondern tollkühn ist jemand, der entweder in einer bestimmten Situation völlig furchtlos ist, obwohl die Situation bedrohlich ist, oder der in einer ernsten Bedrohungssituation seine Furcht ignoriert. Die Mitte besteht also – hier wie bei den anderen Charaktertugenden – darin, angemessene Emotionen zu haben und demgemäß angemessen zu handeln. Dabei ist diese Lehre von der Mitte vermutlich nicht in konkreten Situationen als normativ handlungsleitend, sondern nur als Beschreibungsinstrument der Charaktertugenden aufzufassen. Sie ist auch keine arithmetische Mitte, sondern eine Mitte für uns (pros hêmas), die die jeweilige Emotion, die Person sowie die Situation berücksichtigt. Diese Tabelle zeigt einige wichtige Charaktertugenden (EN II 7): Aristoteles definiert die Charaktertugend dementsprechend als Lebensformen und Lust Im Kontext der Analyse des guten Lebens unterscheidet Aristoteles drei Lebensformen, die verschiedene Ziele verfolgen: das Genussleben – mit dem Ziel Lust; das politische Leben – mit dem Ziel Ehre; das theoretische Leben – mit dem Ziel Erkenntnis (EN I 3). Das Genussleben im Sinne einer bloßen Befriedigung der Begierden hält Aristoteles für sklavisch und verwirft es. Gelderwerb und Reichtum als Ziel hält er nicht für eine Lebensform, da Geld immer nur Mittel zu einem Zweck, aber nie selbst Ziel ist. Er plädiert für das theoretische Leben als beste Lebensform. Die beste Tätigkeit, die in der Glücksdefinition gesucht wird, ist diejenige des Theoretikers, der auf Gebieten wie Philosophie, Mathematik usw. forscht und neue Erkenntnisse gewinnt, denn sie bedeutet Muße, dient keinem anderen Zweck, betätigt mit den Verstandestugenden das Beste im Menschen und weist die besten Erkenntnisgegenstände auf (EN X 7, 1177a18–35). Obwohl er das theoretische Leben für das bestmögliche hält, weist er darauf hin, dass die Betrachtung als Lebensform den Menschen als Menschen übersteigt und eher etwas Göttliches ist (EN X 7, 1177b26–31). Das zweitbeste Leben ist das politische. Es besteht in der Betätigung der Charaktertugenden, die den Umgang mit anderen Menschen sowie mit unseren Emotionen bestimmen. Da Charaktertugenden und Verstandestugenden einander nicht ausschließen, meint Aristoteles möglicherweise, dass selbst der Theoretiker, insofern er ein soziales und mit Emotionen ausgestattetes Wesen ist, sich im Sinne des zweitbesten Lebens betätigen muss. Aristoteles fasst die Betätigung der Verstandestugenden (zumindest der Klugheit) und der Charaktertugenden als wesentliche Elemente des Glücks auf. Aber auch äußere oder körperliche Güter und auch die Lust hält er für Bedingungen, die hilfreich oder sogar notwendig sind, um glücklich zu werden. Güter wie Reichtum, Freunde und Macht verwenden wir als Mittel. Fehlen einige Güter, wird das Glück getrübt, wie bei körperlicher Verunstaltung, Einsamkeit oder missratenen Kindern (EN I 9, 1099a31–1099b6). Aristoteles meint, das Genussleben führe nicht zum Glück. Er hält die Lust nicht für das oberste Gut. Gegenüber lustfeindlichen Positionen macht er jedoch geltend, dass das gute Leben Lust einschließen müsse und bezeichnet die Lust als ein Gut (EN VII 14). Auch meint er, man könne einen Tugendhaften, der „auf das Rad geflochten“ sei, nicht als glücklich bezeichnen (EN VII 14, 1153b18–20). Gegen Platons Auffassung, Lüste seien Prozesse (kinêsis), die einen Mangel beseitigen (wie Lust beim Durstlöschen), und somit sei das Vollenden des Prozesses besser als dieser selbst, argumentiert Aristoteles dafür, dass Lüste Tätigkeiten (energeia) sind, die kein Ziel außer sich aufweisen. Paradigmatische Fälle sind Wahrnehmen und Denken. Mit diesem Lustkonzept, das Lust als „unbehinderte Tätigkeit“ oder „Vervollkommnung der Tätigkeit“ definiert (EN VII 13, 1153a14 f.; X 4, 1174b33), macht er geltend, dass die Betätigung der Verstandestugenden und der Charaktertugenden lustvoll sein kann. Ob Lüste gut oder schlecht sind, hängt davon ab, ob die entsprechenden Tätigkeiten gut oder schlecht sind. Bei körperlichen Lüsten ist Letzteres etwa der Fall, wenn sie im Übermaß auftreten oder wenn sie gute Handlungen verhindern und so dem Glück abträglich sind. Politische Philosophie Die politische Philosophie des Aristoteles schließt an seine Ethik an. Als umfassende Form aller Gemeinschaften besteht der Staat (polis) um des höchsten Gutes willen, des Glücks (EN I 1, 1094a26–b11; Pol. I 1, 1252a1–7). Die politische Philosophie fragt also nach den Bedingungen des Glücks hinsichtlich des Lebens im Staat. Hierfür analysiert er die Bestandteile jeder menschlichen Gemeinschaft und jedes Staates und untersucht, welche Verfassung (politeia) die beste ist und für welche besonderen Bedingungen welche Verfassung die richtige ist. Entstehung, Bestandteile und Zweck des Staates Aus der Sicht von Aristoteles besteht der Staat von Natur aus, weil der einzelne Mensch nicht für sich allein zu existieren vermag. Betrachtet man die aus den einzelnen Haushalten sich zusammensetzenden Teile des Staates, so liegen zunächst zwei grundlegende Beziehungen vor: die zwischen Mann und Frau, deren Zweck die Fortpflanzung ist, und die von Herr und Sklave, die dem Lebensunterhalt und der Besitzmehrung dient. (Pol. I 2, 1253b, 1253a und 1253b) Aristoteles rechtfertigt die Sklaverei, indem er sie als dem Prinzip von Herrschaft und Unterordnung entsprechend auffasst. Er vertritt die These, dass es Sklaven gibt, die von Natur aus zu nichts anderem bestimmt sind als zum Sklavendasein. Das begründet er damit, dass solche „Sklaven von Natur“ nur in geringem Maße Anteil an der Vernunft hätten; daher sei es nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar für sie selbst vorteilhaft, dass sie ihr Leben als Sklaven verbringen müssen (Pol. I 5, 1254b20–23; 1255a1 f.). Allerdings ist sein Konzept unklar und widersprüchlich, da er die Freilassung von Sklaven grundsätzlich billigt und für die Unterscheidung zwischen akzidentellen Sklaven (etwa durch Kriegsgefangenschaft) und Sklaven von Natur keine klaren Kriterien nennt. Sein Rat, Sklaven als Lohn die Freiheit zu versprechen (Pol. VII 10, 1330a20 f.), widerspricht der Vorstellung eines „Sklaven von Natur“. Entsprechend argumentiert er auch für eine Unterordnung der Frau (Pol. VII 10, 1330a20 f.). Es sei für sie besser, vom Mann beherrscht zu werden, da ihre Urteilskraft schwächer sei als die männliche (Pol. I 5, 1254b10–15; I 13, 1259a12). Mehrere Haushalte ergeben ein Dorf, in dem Arbeitsteilung bessere Versorgung ermöglicht, und mehrere Dörfer einen Staat. Dieser ist autark in dem Sinne, dass er die Bedingungen für ein gutes Leben bereitstellen kann. Aristoteles unterscheidet den Grund der Entstehung des Staates von seinem Zweck. Der Staat entsteht zum Zweck des Überlebens, des Lebens an sich, sein Zweck aber ist das gute Leben: εὖ ζῆν = eu zēn = gut leben (Pol. I 2, 1252a25–1253a1). Nach Aristoteles gehört es zur Natur des Menschen, in Gemeinschaft zu leben, denn er ist ein „zôon politikon“, ein Lebewesen in der Polisgemeinschaft (Pol. I 2, 1253a3). Nur im Staat kann der Mensch das gute Leben verwirklichen. Wer des Staates nicht bedürfe, sei „entweder ein Tier oder ein Gott“ (Pol. I 2, 1253a29). Bürger und Verfassung eines Staates Eine Polis (ein Staat) besteht aus den freien Bürgern. Der Zweck des Staates ist immer das gute Leben. Militär- oder Handelsbündnisse, also Verträge, machen noch keinen Staat aus. Kennzeichnendes Merkmal eines bestimmten Staates ist seine Verfassung. Der Bürger Bürger sind die mit dem Bürgerrecht ausgestatteten Einwohner, die sich aktiv am politischen Geschehen (am Richten und Regieren) beteiligen (Pol. III 1, 1275a22). Den Bürger bestimmt Aristoteles also primär nicht über die Herkunft oder den Wohnort, sondern über die Partizipation an den politischen Institutionen des Staates. Entsprechend den damaligen Verhältnissen in Athen betrachtet Aristoteles Frauen, Kinder, Sklaven und Fremde nicht als Bürger. Ein Bürger darf auch nicht für seinen Lebensunterhalt arbeiten müssen. Lohnarbeiter und Handwerker können somit keine Bürger sein (Pol. III 5, 1278a11). Die jeweilige Verfassung eines Staates bestimmt genauer, wer Bürger ist und wer nicht. Theorie der Verfassungen In seiner Unterscheidung der verschiedenen Verfassungen stellt Aristoteles zwei Fragen: Wer herrscht? Zu wessen Nutzen wird geherrscht? Bei der ersten Frage unterscheidet er drei mögliche Antworten: einer, wenige, viele. Bei der zweiten Frage unterscheidet er zwei mögliche Zustände und Nutznießer: die Verfassung ist gerecht, wenn zum Nutzen aller regiert wird; sie ist ungerecht oder verfehlt, wenn allein zum Nutzen der Herrschenden regiert wird (Pol. III 6, 1279a17–21). Auf dieser Grundlage entwirft er eine erste Staatsformenlehre mit sechs Verfassungen (Pol, III 6–8): Die verschiedenen Verfassungen wenden auf unterschiedliche Weise die distributive Gerechtigkeit an (Pol. III 9, 1280a7–22). Distributive Gerechtigkeit bestimmt er als die Verteilung proportional zur Leistung oder Würde (EN V 6). Kritik an schlechten Verfassungen Unter den schlechten, nicht am Gemeinwohl orientierten Verfassungen hält er die Tyrannis für die schlechteste, denn in ihr herrscht der Tyrann über den Staat im Sinne einer despotischen Alleinherrschaft wie der Herr über den Sklaven (Pol. III 8, 1279b16). Für etwas weniger schlecht erachtet er die durch die Herrschaft der Reichen gekennzeichnete Oligarchie, die ebenso wie die Tyrannis sehr instabil ist (Pol. V 12). Für den Grundirrtum der Oligarchie hält Aristoteles die Auffassung, dass die, die in einer Hinsicht (Besitz) ungleich sind, in allen Hinsichten ungleich seien. Entsprechend besteht der Grundirrtum der Demokratie in der Ansicht, dass die, die in einigen Hinsichten gleich sind, dies in allen seien (Pol. V 1, 1301a25–36). Die Demokratie hält Aristoteles für weniger schlecht als die Tyrannis und Oligarchie. Sie ist neben Gleichheit durch Freiheit gekennzeichnet. Freiheit bedeutet dabei, so zu leben wie man will, Gleichheit, dass das Regieren und Regiertwerden reihum geht (1317b2–12). Die absolute Freiheit, so zu leben wie man will, hält Aristoteles insofern für problematisch, als sie mit der Herrschaft der Verfassung in Konflikt steht (Pol. V 9, 1310a30–35). Gleichheit kritisiert er, wenn sie als totale arithmetische interpretiert wird, die dazu führe, dass die Herrschaft der Unvermögenden die Besitzenden enteignet. Dafür, dass Aristoteles die Beteiligung des „einfachen Volkes“ an der Herrschaft durchaus nicht rundweg abgelehnt hat, spricht ferner seine so genannte „Summierungsthese“ (Pol. III 11, 1281 a38–b9) und eine differenzierte Untersuchung der Formen der Volksherrschaft im Rahmen seiner zweiten Staatsformenlehre. Gute Verfassungen Unter den guten Verfassungen ist die Monarchie (unter der Aristoteles nicht zwingend ein Königtum, sondern nur eine dem Gemeinwohl dienende Alleinherrschaft versteht) am wenigsten gut. Insofern sie nicht gesetzgebunden ist, ist sie eine bloße Herrschaftsform, teilweise kaum eine Verfassung, und insofern problematisch, als nur das Gesetz unbeeinflusst von Emotionen herrschen kann. Unter einer Aristokratie versteht er eine Herrschaft der Guten, das heißt derjenigen, die am meisten Anteil an der Tugend (aretê) haben, was nicht unbedingt Herrschaft eines Geburtsadels bedeuten muss. Da das Ziel des Staates, das gute Leben, in einer Aristokratie im höchsten Maße verwirklicht wird, hält Aristoteles sie (neben einer bestimmten Form der Monarchie, nämlich der Königsherrschaft) für die beste Verfassung (Pol. IV 2, 1289a30–32). Aristoteles diskutiert Verfassungstheorie allerdings nicht ohne Realitätsbezug. Oft ist aus seiner Sicht eine absolut beste Verfassung in einem bestimmten Staat nicht möglich. Was am besten für einen konkreten Staat ist, muss immer relativ zu den Umständen bestimmt werden (Pol. IV 1, 1288b21–33). Solche Überlegungen durchziehen die ganze Verfassungstheorie. Sie zeigen sich insbesondere im Modell der Politie, die Aristoteles als die bestmögliche für die meisten zeitgenössischen Staaten ansieht (Pol. IV 11, 1295a25). Sie ist eine Mischverfassung, die Elemente der Demokratie und der Oligarchie enthält. Dabei wird für die Bestrebungen nach Gleichheit auf der einen und nach Reichtum auf der anderen Seite ein Ausgleich geschaffen. Dieser Ausgleich wird unter anderem durch Ämterzuteilung nach Klassenzugehörigkeit erreicht (Pol. V 8, 1308b26). Auf diese Weise wird nach seiner Auffassung die Stabilität erhöht und sozialen Unruhen vorgebeugt (die in griechischen Staaten häufig waren). Besondere Stabilität verleiht dem Staat ein breiter Mittelstand (Pol. IV 11, 1295b25–38). Poetik Theorie der Dichtung Mimêsis Der zentrale Begriff der aristotelischen Theorie der Dichtung, die er in seiner zu Lebzeiten nicht veröffentlichten Poetik (poiêtikê) ausarbeitet, ist die mimêsis, das heißt die „Nachahmung“ oder „Darstellung“. Neben der Dichtung im engeren Sinne (Epik, Tragödie, Komödie und Dithyrambendichtung) zählen auch Teile der Musik und der Tanz für Aristoteles zu den mimetischen Künsten (Poet. 1, 1447a). Abbildende Künste wie Malerei und Plastik behandelt Aristoteles nicht weiter, sondern erwähnt nur, dass sie ebenfalls nach dem Prinzip der Nachahmung arbeiten (Poet. 1, 1447a19 f.). Gemeinsam ist allen mimetischen Künsten die zeitliche Sukzession. Insofern lässt sich mimêsis als ästhetisches Handeln auffassen. In der Lust an der mimêsis sieht Aristoteles eine anthropologische, allen Menschen gemeinsame Grundgegebenheit. Denn die Freude an ihr sowie an ihren Produkten ist den Menschen angeboren, da sie gerne lernen (Poet. 4, 1448b5-15). Im Gegensatz zu den anderen mimetischen Künsten ist für die Dichtung die Verwendung von Sprache spezifisch. Alle Dichtung ist zudem Darstellung von Handlungen; allerdings nicht von tatsächlich Geschehenem, sondern von dem, „was geschehen könnte, das heißt das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“ (Poet. 9, 1451a37 f.). Dargestellt werden Handlungen, die etwas über den Menschen im Allgemeinen aussagen, nicht über zufällige und beliebige Verhältnisse. Ziel ist nicht die Nachahmung von Menschen; nicht auf Figuren oder Charaktere, sondern auf Handlungen kommt es an; Erstere sind nur Mittel (Poet. 6, 1450a26–23). Arten der Dichtung Aristoteles klassifiziert vier Formen der existierenden Dichtung nach zwei Kriterien: (i) der Art der Darstellung von Handlung und (ii) der Art der dargestellten Figuren. Dramatische Darstellung ist dadurch gekennzeichnet, dass die jeweilige Figur selbst die Handlung darstellt, berichtende dadurch, dass über die Handlung berichtet wird. Mit „besser“ und „schlechter“ sind die Figuren und ihre Handlungen gemeint. Bessere Figuren oder Charaktere sind etwas besser als wir selbst, schlechtere schlechter; beides aber nie so weit, dass wir uns nicht mehr mit ihnen identifizieren können (Poet. 5, 1449a31–1449b13). Aristoteles vertritt dabei die Hypothese, dass die Tragödie aus dem Epos und die Komödie aus dem Spottlied entstanden ist (Poet. 4, 1449a2–7). Eine Untersuchung der Komödie kündigt Aristoteles an. Sie ist aber – wie auch eine des Spottliedes – nicht überliefert. Das Epos behandelt er recht kurz. Seine überlieferte Dichtungstheorie ist daher primär eine Tragödientheorie. Tragödie Aristoteles definiert die Tragödie als eine Dieser kurze Satz ist eine der meistdiskutierten Passagen im gesamten Werk des Aristoteles. (3) nennt das dramatisch-darstellende Element. (1) nennt (neben oben schon genannten Aspekten) die (später sogenannte) Einheit der Handlung. Die Einheit des Ortes und der Zeit wurde in der Renaissance der aristotelischen Tragödientheorie zugeschrieben, er vertrat sie aber selbst so nicht. (2) bezieht sich darauf, dass die Sprache der Tragödie Melodie und Rhythmus aufweist. Die weitaus meiste Aufmerksamkeit hat (4) erhalten, insbesondere (4b). Emotionserregung und Katharsis In (4) beschreibt Aristoteles die Funktion der Tragödie, das was sie leisten soll. Weitgehend unumstritten ist nur (4a): Beim Zuschauer sollen durch die dargestellte Handlung die Emotionen Mitleid und Furcht erregt werden. Unklar ist allerdings, ob eleos und phobos tatsächlich mit „Mitleid“ und „Furcht“ oder mit „Elementareffekten“ „Jammer“ und „Schauder“ wiederzugeben sind. Dass die Handlung selbst und nicht die Aufführung die entscheidende Rolle bei der Emotionserregung spielt, ist daraus ersichtlich, dass Aristoteles auch die gelesene Tragödie durch seine Theorie berücksichtigt sieht. Mitleid wird erregt, wenn die Protagonisten unverdient Unglück erleiden, Furcht, wenn sie dabei dem Zuschauer (oder Leser) ähnlich sind. (4b) ist höchst kontrovers, da die Funktionsweise nicht weiter erläutert ist. Das Wort Katharsis, das als Metapher (wie „Reinigung“ im Deutschen) einen Sinnüberschuss aufweist, hat zu den verschiedensten Deutungen Anlass gegeben, insbesondere weil es schon vor Aristoteles verwendet wurde, nämlich unter anderem in der Medizin (Reinigung durch Brech- und Abführmittel) und in religiösen Kulten (Reinigung von unreinen Personen durch religiöse Praktiken). Die grammatikalische Konstruktion Reinigung der Emotionen lässt dabei verschiedene Deutungen zu, worin die Reinigung besteht. Vermutlich sollen die Emotionen selbst (durch eine Emotionserregung) gereinigt werden; die Aussage ist aber auch als Reinigung von den Emotionen verstanden worden. Der normativ-deskriptive Charakter der Tragödientheorie Aristoteles’ Tragödientheorie weist zwei Typen von Aussagen auf. Zum einen untersucht er die Grundlagen der Dichtung, unterscheidet verschiedene Arten von ihr und nennt Teile einer Tragödie und deren Funktionsweise. Zum anderen spricht er aber auch davon, was eine gute Tragödie ist und was der Dichter entsprechend machen soll. So äußert er etwa, dass in einer guten Tragödie ein Protagonist weder aufgrund seines guten noch seines schlechten Charakters vom Glück ins Unglück gerät, sondern aufgrund eines Fehlers (Hamartie), beispielsweise wie Ödipus aufgrund von Unwissenheit. Nur eine schlechte Tragödie würde zeigen, wie ein guter Charakter vom Glück ins Unglück oder ein schlechter vom Unglück ins Glück gerät. Der Grund hierfür ist die Funktion der Tragödie, das Bewirken von Mitleid und Furcht. In schlechten Tragödien würden Mitleid und Furcht nicht erregt werden, in guten ist dies aufgrund der Beschaffenheit des Protagonisten und des Fehlers als Ursache des Unglücks der Fall (Poet. 13, 1452b28–1453a12). Hymnos Von Aristoteles ist zudem ein Hymnos an Aretê überliefert, den er in Erinnerung an seinen Freund Hermias verfasst hat. Rezeption Antike Die Lehre des Aristoteles hat auf seine Schule, den Peripatos, nach seinem Tode weit weniger Einfluss ausgeübt als Platons Lehre auf dessen Akademie. Aristoteles wurde keine Verehrung zuteil, die mit derjenigen Platons bei den Platonikern vergleichbar wäre. Dies bedeutete einerseits Offenheit und Flexibilität, andererseits Mangel an inhaltlich begründetem Zusammenhalt. Die Peripatetiker widmeten sich vor allem empirischer Naturforschung, aber unter anderem auch der Ethik, Seelenlehre und Staatstheorie. Dabei kamen Aristoteles’ Schüler Theophrastos, sein Nachfolger als Leiter der Schule, und dessen Nachfolger Straton zu teilweise anderen Ergebnissen als der Schulgründer. Nach Stratons Tod (270/268 v. Chr.) begann eine Periode des Niedergangs. Das Studium und die Kommentierung der Schriften des Aristoteles wurde damals im Peripatos anscheinend vernachlässigt, jedenfalls weit weniger eifrig betrieben als das Platonstudium in der konkurrierenden Akademie. Erst im ersten Jahrhundert v. Chr. sorgte Andronikos von Rhodos für eine Zusammenstellung der Lehrschriften (Pragmatien) des Aristoteles, und auch bei deren Auslegung durch die Peripatetiker kam es zu einem Aufschwung. Die für die Öffentlichkeit bestimmten „exoterischen“ Schriften, insbesondere die Dialoge, waren lange populär, gingen aber in der römischen Kaiserzeit verloren. Cicero hat sie noch gekannt. Die Peripatetiker betrachteten die Lehrschriften als speziell für ihren internen Unterrichtsgebrauch bestimmt. In der römischen Kaiserzeit war der einflussreichste Repräsentant des Aristotelismus Alexander von Aphrodisias, der gegen die Platoniker die Sterblichkeit der Seele vertrat. Obwohl Aristoteles großen Wert auf die Widerlegung von Kernbestandteilen des Platonismus gelegt hatte, waren es gerade die Neuplatoniker, die in der Spätantike einen maßgeblichen Beitrag zur Erhaltung und Verbreitung seiner Hinterlassenschaft leisteten, indem sie seine Logik übernahmen, kommentierten und in ihr System integrierten. Eine besonders wichtige Rolle spielten dabei im 3. Jahrhundert n. Chr. Porphyrios, im 5. Jahrhundert Proklos, Ammonios Hermeiou (der in Alexandria die Tradition der Aristoteles-Kommentierung begründete) und im 6. Jahrhundert Simplikios, der bedeutende Aristoteleskommentare verfasste. Im 4. Jahrhundert schrieb Themistios Paraphrasen zu Werken des Aristoteles, die eine starke Nachwirkung erzielten. Er war unter den spätantiken Kommentatoren der einzige (wenn auch neuplatonisch beeinflusste) Aristoteliker; die anderen befassten sich mit dem Aristotelismus aus neuplatonischer Perspektive und strebten eine Synthese platonischer und aristotelischer Auffassungen an, wobei oft ein Übergewicht der platonischen erkennbar ist. Noch zu Beginn des 7. Jahrhunderts kommentierte der angesehene, in Konstantinopel lehrende christliche Philosoph Stephanos von Alexandria Werke des Aristoteles. Bei den prominenten antiken Kirchenvätern war Aristoteles wenig bekannt und unbeliebt, manche verachteten und verspotteten seine Dialektik. Sie verübelten ihm, dass er das Universum für ungeschaffen und unvergänglich hielt und die Unsterblichkeit der Seele bezweifelte (oder nach ihrem Verständnis bestritt). Ein positiveres Verhältnis zu Aristoteles hatten hingegen manche christliche Gnostiker und andere häretische Christen: Arianer (Aëtios von Antiochia, Eunomius), Monophysiten, Pelagianer und Nestorianer – ein Umstand, der den Philosophen für die kirchlichen Autoren erst recht suspekt machte. Syrer – monophysitische wie nestorianische – übersetzten das Organon in ihre Sprache und setzten sich intensiv damit auseinander. Im 6. Jahrhundert schrieb Johannes Philoponos Aristoteles-Kommentare, übte aber auch scharfe Kritik an der aristotelischen Kosmologie und Physik. Er war mit seiner Impetustheorie ein Vorläufer spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kritik an der aristotelischen Bewegungslehre. Mittelalter Im Byzantinischen Reich des Frühmittelalters wurde Aristoteles wenig beachtet. Sein Einfluss machte sich vorwiegend indirekt geltend, nämlich über die meist neuplatonisch gesinnten spätantiken Autoren, die Teile seiner Lehre übernommen hatten. Daher war Vermischung mit neuplatonischem Gedankengut von vornherein gegeben. Bei Johannes von Damaskus tritt die aristotelische Komponente deutlich hervor. Im 11. und 12. Jahrhundert kam es zu einer Wiederbelebung des Interesses an aristotelischer Philosophie: Michael Psellos, Johannes Italos und dessen Schüler Eustratios von Nikaia (beide wegen Häresie verurteilt) sowie der primär philologisch orientierte Michael von Ephesos schrieben Kommentare. Die Kaisertochter Anna Komnena förderte diese Bestrebungen. Im islamischen Raum dagegen setzte die Wirkung der Werke des Aristoteles früh ein und war breiter und tiefer als in der Spätantike und im europäischen Früh- und Hochmittelalter. Der Aristotelismus dominierte qualitativ und quantitativ gegenüber der übrigen antiken Tradition. Schon im 9. Jahrhundert waren die meisten Werke des Aristoteles, häufig durch vorangehende Übersetzung ins Syrische vermittelt (der erste syrische Aristoteleskommentator war Sergios von Resaina), in arabischer Sprache verfügbar, ebenso antike Kommentare. Hinzu kam ein reichhaltiges unechtes (pseudo-aristotelisches) Schrifttum teilweise neuplatonischen Inhalts, darunter Schriften wie die Theologie des Aristoteles und der Kalam fi mahd al-khair (Liber de causis). Die aristotelischen Ideen waren von Anfang an mit neuplatonischen vermischt, und man glaubte an eine Übereinstimmung der Lehren Platons und des Aristoteles. In diesem Sinne deuteten al-Kindī (9. Jahrhundert) und al-Fārābī (10. Jahrhundert) und die ihnen folgende spätere Tradition den Aristotelismus; bei ibn Sina (Avicenna) trat das neuplatonische Element stärker in den Vordergrund. Einen relativ reinen Aristotelismus vertrat hingegen im 12. Jahrhundert ibn Rušd (Averroes), der zahlreiche Kommentare schrieb und die aristotelische Philosophie gegen al-Ghazālī verteidigte. Muslimische Gelehrte des Mittelalters bezeichneten Aristoteles oft als den „Ersten Lehrer“. Der Titel „Lehrer“ wurde Aristoteles zuerst von muslimischen Gelehrten verliehen und später von westlichen Philosophen verwendet (wie in dem berühmten Gedicht von Dante), die von der Tradition der islamischen Philosophie beeinflusst waren. Im lateinischen Mittelalter war zunächst bis ins 12. Jahrhundert nur ein kleiner Teil des Gesamtwerks des Aristoteles verbreitet, nämlich zwei der logischen Schriften (Kategorien und De interpretatione), die Boethius im frühen 6. Jahrhundert übersetzt und kommentiert hatte, zusammen mit der Einleitung des Porphyrios zur Kategorienlehre. Dieses Schrifttum, später als Logica vetus bezeichnet, bildete die Grundlage des Logikunterrichts. Mit der großen Übersetzungsbewegung des 12. und 13. Jahrhunderts änderte sich diese enge Begrenzung. Im 12. Jahrhundert wurden die bisher fehlenden logischen Schriften (Analytica priora und posteriora, Topik, Sophistische Widerlegungen) in lateinischer Sprache verfügbar; sie machten die Logica nova aus. Dann wurden eines nach dem anderen fast alle restlichen Werke zugänglich (teils erst im 13. Jahrhundert). Die meisten Schriften wurden mehrmals ins Lateinische übertragen (entweder aus dem Arabischen oder aus dem Griechischen). Michael Scotus übersetzte Aristoteleskommentare des Averroes aus dem Arabischen. Sie wurden eifrig benutzt, was in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts zur Entstehung des lateinischen Averroismus führte, der ein für damalige Verhältnisse relativ konsequenter Aristotelismus war. Im Lauf des 13. Jahrhunderts wurden die Schriften des Aristoteles als Standardlehrbücher zur Grundlage der an den Universitäten (in der Fakultät der Freien Künste) betriebenen scholastischen Wissenschaft; 1255 wurden seine Logik, Naturphilosophie und Ethik an dieser Fakultät der Pariser Universität als Lehrstoff vorgeschrieben. Die Führungsrolle kam der Pariser und der Oxforder Universität zu. Wegweisend waren die Aristoteleskommentare des Albertus Magnus. Das Verfassen von Aristoteleskommentaren wurde eine Hauptbeschäftigung der Magister, und viele von ihnen hielten die kommentierten Lehrbücher für irrtumsfrei. Besonders intensiv studierte man neben der aristotelischen Methodik die Wissenschaftstheorie, um sie als Basis für ein hierarchisch geordnetes System der Wissenschaften zu verwenden. Widerstand erhob sich allerdings von theologischer Seite gegen einzelne Lehren, vor allem gegen die Thesen von der Ewigkeit der Welt und der absoluten Gültigkeit der Naturgesetze (Ausschluss von Wundern), sowie gegen den Averroismus. Daher kam es 1210, 1215, 1231, 1245, 1270 und 1277 zu kirchlichen Verurteilungen von Lehrsätzen und zu Aristotelesverboten. Sie richteten sich aber nur gegen die naturphilosophischen Schriften oder gegen einzelne Thesen und konnten den Siegeszug des Aristotelismus nur vorübergehend hemmen. Diese Verbote betrafen nur Frankreich (vor allem Paris), in Oxford galten sie nicht. Aristoteles wurde „der Philosoph“ schlechthin: mit Philosophus (ohne Zusatz) war immer nur er gemeint, mit Commentator Averroes. Gegenpositionen (vor allem in der Erkenntnistheorie und Anthropologie) vertraten Anhänger der platonisch beeinflussten Lehren des Augustinus, besonders Franziskaner („Franziskanerschule“). Ein prominenter Kritiker des Aristotelismus war der Franziskaner Bonaventura. Ein anderer Franziskaner, Petrus Johannis Olivi, stellte um 1280 missbilligend fest: „Man glaubt ihm (Aristoteles) ohne Grund – wie einem Gott dieser Zeit.“ Schließlich setzte sich das von dem Dominikaner Thomas von Aquin abgewandelte und weiterentwickelte aristotelische Lehrsystem (Thomismus) durch, zunächst in seinem Orden und später in der gesamten Kirche. Allerdings schrieb man weiterhin neuplatonische Schriften zu Unrecht dem Aristoteles zu, wodurch das Gesamtbild seiner Philosophie verfälscht wurde. Dante würdigte in seiner Göttlichen Komödie Bedeutung und Ansehen des Aristoteles, indem er ihn als „Meister“ darstellte, der von den anderen antiken Philosophen bewundert und geehrt wird; jedoch verwarf Dante manche aristotelische Lehren. Die Politik des Aristoteles wurde erst um 1260 von Wilhelm von Moerbeke ins Lateinische übersetzt und dann von Thomas von Aquin und anderen Scholastikern kommentiert und zitiert. Besonders die Rechtfertigung der Sklaverei bzw. Knechtschaft stieß bei den Gelehrten auf Interesse und grundsätzliche Zustimmung. Die Politik regte Kommentatoren und Verfasser politischer Traktate zu Erörterungen über Vor- und Nachteile von Erb- bzw. Wahlmonarchie sowie von absoluter bzw. ans Gesetz gebundener Herrschaft an. In der Epoche des Übergangs vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit setzte sich Nikolaus von Kues kritisch mit Aristoteles auseinander. Er stellte sich Aristoteles als fiktiven Gesprächspartner vor, dem man die Berechtigung der cusanischen Lehre von der Coincidentia oppositorum einsichtig machen könnte, obwohl Aristoteles sie nach seinem Satz vom Widerspruch hätte verwerfen müssen. Neuzeit In der Renaissance fertigten Humanisten neue, viel leichter lesbare Aristotelesübersetzungen ins Lateinische an, weshalb man weniger auf die Kommentare angewiesen war. Bedeutend sind u. a. die Übersetzungen der Nikomachischen Ethik und der Politik durch Leonardo Bruni. Man begann aber auch, die griechischen Originaltexte zu lesen. Es kam zu heftigem Streit zwischen Platonikern und Aristotelikern, wobei die beteiligten Humanisten mehrheitlich zu Platon neigten. Es gab in der Renaissance aber auch bedeutende Aristoteliker wie Pietro Pomponazzi (1462–1525) und Jacopo Zabarella (1533–1589), und es entstanden damals im Abendland mehr Aristoteleskommentare als während des gesamten Mittelalters. Wie im Mittelalter herrschte auch noch bei vielen Renaissance-Gelehrten das Bestreben vor, platonische und aristotelische Standpunkte untereinander und mit der katholischen Theologie und Anthropologie zu versöhnen. Seit dem 15. Jahrhundert war es aber möglich, dank des besseren Zugangs zu den Quellen das Ausmaß der fundamentalen Gegensätze zwischen Platonismus, Aristotelismus und Katholizismus besser zu verstehen. Bei der Vermittlung dieser Erkenntnisse spielte der byzantinische Philosoph Georgios Gemistos Plethon eine wichtige Rolle. Unabhängig davon herrschte der (neu)scholastische Aristotelismus, der die mittelalterliche Tradition fortsetzte, mit seiner Methode und Terminologie an Schulen und Universitäten noch bis tief in die Neuzeit, auch in den lutherischen Gebieten, obwohl Martin Luther den Aristotelismus ablehnte. Im sechzehnten Jahrhundert unternahmen Bernardino Telesio und Giordano Bruno Frontalangriffe auf den Aristotelismus, und Petrus Ramus trat für eine nichtaristotelische Logik ein (Ramismus). Bereits Giovanni Battista Benedetti (1530–1590) widerlegte 1554 in seinem Werk Demonstratio proportionum motuum localium contra Aristotilem et omnes philosophos in einem simplen Gedankenexperiment die aristotelische Annahme, dass Körper im freien Fall umso schneller fallen, je schwerer sie sind: Zwei gleiche Kugeln, die durch eine (masselose) Stange fest verbunden werden, fallen mit derselben Geschwindigkeit wie jede der beiden Kugeln allein. Aber erst seit dem 17. Jahrhundert verdrängte ein neues Wissenschaftsverständnis die aristotelisch-scholastische Tradition. Den Umschwung in der Physik leitete Galileo Galilei ein. 1647 konnte die von Aristoteles aufgestellte Hypothese eines Horror Vacui von Blaise Pascal mit dem Versuch Leere in der Leere widerlegt werden. Erst in der 1687 veröffentlichten Schrift Philosophiæ Naturalis Principia Mathematica von Isaac Newton wurde mit dem Trägheitsprinzip ein Fundament der neuen klassischen Mechanik errichtet, das die aristotelischen Annahmen ersetzte. In der Biologie konnten sich aristotelische Auffassungen bis ins 18. Jahrhundert halten. Sie erwiesen sich teilweise als fruchtbar. So ging William Harvey bei der Entdeckung des Blutkreislaufs von dem Prinzip des Aristoteles aus, dass die Natur nichts Unnötiges hervorbringt, und wendete es auf die Beschaffenheit der Blutgefäße und Herzkammern, von denen Aristoteles fälschlich drei annahm, an. Charles Darwin bezeichnete 1879 Aristoteles als „einen der größten Beobachter (wenn nicht den größten), die jemals gelebt haben“. Sehr stark und anhaltend war die Nachwirkung von Aristoteles’ Poetik, insbesondere seiner Tragödientheorie (→ Regeldrama). Sie prägte Theorie und Praxis des Theaters während der gesamten Frühen Neuzeit, abgesehen von manchen gewichtigen Ausnahmen besonders in Spanien und England (Shakespeare). Die Poetik lag seit 1278 in lateinischer Übersetzung vor, 1498 und 1536 erschienen humanistische Übersetzungen. Auf ihr fußte die Poetik des Julius Caesar Scaliger (1561), die Dichtungslehre von Martin Opitz (1624), die französische Theaterlehre des 17. Jahrhunderts (doctrine classique) und schließlich die von Johann Christoph Gottsched geforderte Regelkunst (Critische Dichtkunst, 1730). Im 19. Jahrhundert setzte insbesondere in Deutschland die intensive philologische Auseinandersetzung mit dem Werk des Aristoteles ein. 1831 erschien die von der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Auftrag gegebene und durch Immanuel Bekker besorgte Gesamtausgabe. Hermann Bonitz verfasste zahlreiche Übersetzungen und den noch heute maßgeblichen Index Aristotelicus. Ende des 19. Jahrhunderts wurde unter der Leitung von Hermann Diels ebenfalls in der in Berlin ansässigen Akademie die 15.000 Seiten umfassende Ausgabe der antiken griechischen Aristoteles-Kommentare (Commentaria in Aristotelem Graeca) veröffentlicht. Infolge der intensiven philologischen Auseinandersetzung wurde Anfang des 20. Jahrhunderts das lange vorherrschende Bild, das Corpus Aristotelicum sei ein als Ganzes komponiertes philosophisches System, vor allem von Werner Jaeger revidiert. Die moderne Aristotelesforschung wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neben Jaeger vor allem von William David Ross in Oxford bestimmt; zahlreiche Schüler sorgten für eine zunehmende Beschäftigung mit Aristoteles nicht nur in den philologischen, sondern auch den philosophischen Abteilungen angelsächsischer Universitäten, die bis heute anhält. Martin Heideggers Seinsanalyse der Fundamentalontologie geschah in intensiver Auseinandersetzung mit Aristoteles, was auch für Schüler wie Hans-Georg Gadamer gilt. Den größten Einfluss hatte Aristoteles im 20. Jahrhundert in der Ethik (Tugendethik) und der politischen Philosophie (in Deutschland insbesondere in der Schule um Joachim Ritter, im angelsächsischen Raum im Kommunitarismus). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts griff die zuvor metaphysikkritische analytische Philosophie Aristoteles’ Substanztheorie explizit (etwa David Wiggins: Sameness and Substance, die Vier-Kategorien-Ontologie von E. J. Lowe oder die Ontologie von Barry Smith) oder seinen Essentialismus implizit auf (z. B. Kripke). Nach ihm ist der Mondkrater Aristoteles benannt. Gleiches gilt seit 1995 für den Asteroiden (6123) Aristoteles und seit 2012 für die Aristotle Mountains im Grahamland auf der Antarktischen Halbinsel. Siehe auch Aristoteles-Archiv Symposium Aristotelicum Textausgaben und Übersetzungen (Auswahl) Sammlungen Diverse Herausgeber in der Reihe Oxford Classical Texts (OCT) bei Oxford University Press Diverse Herausgeber und Übersetzer in der Reihe Loeb Classical Library (LCL) bei Harvard University Press (griechischer Text mit englischer Übersetzung) Ernst Grumach, Hellmut Flashar (Hrsg.): Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung. 20 Bände, Akademie Verlag, Berlin 1956 ff. (mit extensivem und in der Regel sehr gutem Kommentar) Jonathan Barnes (Hrsg.): The Complete Works of Aristotle. The revised Oxford translation. 2 Bände. Princeton (New Jersey) 1984, 6. Auflage 1995, ISBN 0-691-09950-2 (Sammlung der maßgeblichen englischen Übersetzungen) Aristoteles: Philosophische Schriften in sechs Bänden. Felix Meiner, Hamburg 1995, ISBN 3-7873-1243-9 (Übersetzungen; diverse Übersetzer) Immanuel Bekker (Hrsg.): Aristotelis opera. 2. Auflage. besorgt von Olof Gigon. De Gruyter, Berlin 1960–1987 Band 1. 1960 (Nachdruck der Ausgabe von 1831 mit Verzeichnis neuerer Einzelausgaben). Ausgabe von 1831 online Band 2. 1960 (Nachdruck der Ausgabe von 1831 mit Verzeichnis neuerer Einzelausgaben). Ausgabe von 1831 online Band 3. Librorum deperditorum fragmenta, hrsg. von Olof Gigon, 1987, ISBN 3-11-002332-6. Band 4. Scholia in Aristotelem, hrsg. von Christian August Brandis; Supplementum scholiorum, hrsg. von Hermann Usener; Vita Marciana, hrsg. von Olof Gigon, 1961 (Nachdruck der Scholia-Ausgabe von 1836 und der Supplementum-Ausgabe von 1870; Vita Marciana als Neuausgabe). Ausgabe der Scholia von 1836 online Band 5. Index Aristotelicus, hrsg. von Hermann Bonitz, 2. Auflage besorgt von Olof Gigon, 1961 Einzelausgaben Literatur Der historische Aristoteles Biographie Carlo Natali: Aristotle. His Life and School. Princeton University Press, Princeton/Oxford 2013, ISBN 978-0-691-09653-7. Einführungen John Lloyd Ackrill: Aristoteles. Eine Einführung in sein Philosophieren. De Gruyter, Berlin 1985, ISBN 3-11-008915-7 (knappe Einführung vor allem in die theoretische Philosophie) Jonathan Barnes: Aristoteles. Eine Einführung. Reclam, Stuttgart 1999 [1982], ISBN 3-15-008773-2 (knappe Einführung; Biographisches und Naturwissenschaftliches relativ ausführlich, wenig zur praktischen Philosophie) Thomas Buchheim: Aristoteles. Herder, Freiburg i. Br. 1999, ISBN 3-451-04764-0 (Einführung mit Schwerpunkt auf dem Organon, der Naturphilosophie und Metaphysik; wenig praktische Philosophie, keine Rezeption; kommentierte Bibliografie) Wolfgang Detel: Aristoteles. Reclam, Leipzig 2005, ISBN 3-379-20301-7 (Einführung mit hohem systematischem Anspruch, insbesondere zu Wissenschaftstheorie und Metaphysik; Kapitel zum Neoaristotelismus des 20. Jahrhunderts) Otfried Höffe: Aristoteles. 3. Auflage. Beck, München 2006, ISBN 3-406-54125-9 (Biographisches, praktische Philosophie und Rezeption ausführlich; Bezüge zu anderen Epochen, insbesondere der Neuzeit). Christian Mueller-Goldingen: Aristoteles. Eine Einführung in sein philosophisches Werk (= Olms Studienbücher Antike. Band 11). Olms, Hildesheim 2003, ISBN 3-487-11795-9. Christof Rapp: Aristoteles zur Einführung. 4. Auflage. Junius, Hamburg 2012, ISBN 978-3-88506-690-3 (singuläre Darstellung der Handlungstheorie, der Semantik, Dialektik und Rhetorik sowie Ontologie; nichts zur Person; hilfreiche, thematisch gegliederte Bibliografie) Christopher Shields: Aristotle. Routledge, New York 2007, ISBN 978-0-415-28332-8 (umfangreiche thematisch gegliederte Einführung; Review) Wolfgang Welsch: Der Philosoph: Die Gedankenwelt des Aristoteles. Fink (Wilhelm), München 2012, ISBN 978-3-7705-5382-2. Gesamtdarstellungen Ingemar Düring: Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens. Winter, Heidelberg 1966 Hellmut Flashar: Aristoteles. (= Ders., Hrsg., Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Band 3: Ältere Akademie, Aristoteles, Peripatos.) 2. Auflage. Schwabe, Basel 2004, ISBN 3-7965-1998-9, S. 167–492. Hellmut Flashar: Aristoteles: Lehrer des Abendlandes. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-64506-8. William K. C. Guthrie: A History of Greek Philosophy. Band 6: Aristotle. An Encounter. Cambridge University Press, Cambridge 1981, ISBN 0-521-23573-1 (sehr gut lesbar, aber nichts zur Logik) John M. Rist: The Mind of Aristotle: A Study in Philosophical Growth. University of Toronto Press, Toronto 1989, ISBN 0-8020-2692-3 (behandelt die Entwicklung von Aristoteles’ Denken) William David Ross: Aristotle. 1956; 6. Auflage. Routledge, London 1995, ISBN 0-415-32857-8 (solide und ausführliche Darstellung, besonders für Naturphilosophie und Biologie wertvoll) Kompendien Georgios H. Anagnostopoulos (Hrsg.): A Companion to Aristotle. Wiley-Blackwell, Malden 2009, ISBN 978-1-4051-2223-8. Jonathan Barnes (Hrsg.): The Cambridge Companion to Aristotle. Cambridge University Press, Cambridge 1995, ISBN 0-521-41133-5 (gute Einführung mit einer umfangreichen, thematisch gegliederten Bibliografie) Christof Rapp, Klaus Corcilius (Hrsg.): Aristoteles-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart/Weimar 2011, ISBN 978-3-476-02190-8. Hilfsmittel Ferdinand Edward Cranz (Hrsg.): A Bibliography of Aristotle Editions 1501–1600. Baden-Baden 1971. Otfried Höffe (Hrsg.): Aristoteles-Lexikon (= Kröners Taschenausgabe. Band 459). Kröner, Stuttgart 2005, ISBN 3-520-45901-9 (Rezension) Rezeption Übersichts- und Gesamtdarstellungen Olof Gigon u. a.: Aristoteles/Aristotelismus. In: Theologische Realenzyklopädie. Band 3, De Gruyter, Berlin 1978, ISBN 3-11-007462-1, S. 726–796, hier: 760–796. François Queyrel u. a.: Aristote de Stagire. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band Supplément, CNRS Éditions, Paris 2003, ISBN 2-271-06175-X, S. 109–654. Epochenübergreifende Untersuchungen zu einzelnen Themen Christoph Horn, Ada Neschke-Hentschke (Hrsg.): Politischer Aristotelismus. Die Rezeption der aristotelischen Politik von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Metzler, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-476-02078-9. Joachim Knape, Thomas Schirren (Hrsg.): Aristotelische Rhetorik-Tradition. Franz Steiner, Stuttgart 2005, ISBN 3-515-08595-5. Cees Leijenhorst u. a. (Hrsg.): The Dynamics of Aristotelian Natural Philosophy from Antiquity to the Seventeenth Century (= Medieval and Early Modern Science. Band 5). Brill, Leiden 2002, ISBN 90-04-12240-0. Jürgen Wiesner (Hrsg.): Aristoteles. Werk und Wirkung. Band 2: Kommentierung, Überlieferung, Nachleben. De Gruyter, Berlin 1987, ISBN 3-11-010976-X. Antike Andrea Falcon (Hrsg.): Brill’s Companion to the Reception of Aristotle in Antiquity (= Brill’s Companions to Classical Reception. Band 7). Brill, Leiden 2016, ISBN 978-90-04-26647-6. Paul Moraux: Der Aristotelismus bei den Griechen. 3 Bände. De Gruyter, Berlin 1973–2001. Richard Sorabji (Hrsg.): Aristotle Transformed. The Ancient Commentators and Their Influence. 2., überarbeitete Auflage. Bloomsbury, London 2016, ISBN 978-1-4725-8907-1. Mittelalter Edward Grant: Das physikalische Weltbild des Mittelalters. Artemis, Zürich 1980, ISBN 3-7608-0538-8. Volker Honemann: Aristoteles. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., neu bearbeitete Auflage. Band 1. De Gruyter, Berlin 1978, ISBN 3-11-007264-5, Sp. 436–450. Ludger Honnefelder u. a. (Hrsg.): Albertus Magnus und die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lateinischen Mittelalter. Aschendorff, Münster 2005, ISBN 3-402-03993-1. Neuzeit Charles B. Schmitt: Aristotle among the physicians. In: A. Wear, R. K. French, I. M. Lonie (Hrsg.): The medical renaissance of the sixteenth century. Cambridge 1985, S. 1–15 und 271–279. Fritz Mauthner: Aristoteles: Ein unhistorischer Essay. Berlin, 1904 (Die Literatur. Sammlung illustrierter Einzeldarstellungen, hg. v. Georg Brandes, 2. Band) Thomas Buchheim, Hellmut Flashar, Richard King (Hrsg.): Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles? Meiner, Hamburg 2003, ISBN 3-7873-1630-2. Weblinks Über Aristoteles Stanford Encyclopedia of Philosophy: Internet Encyclopedia of Philosophy: nach Themenfeldern (PDF-Datei; 38 kB) Texte von Aristoteles Texte (griechisch/englisch) im Perseus Project Texte von Aristoteles (englisch) (MIT Classics) Anmerkungen Philosoph (Antike) Moralphilosoph Erkenntnistheoretiker Logiker Naturphilosoph Physiker (vor dem 15. Jahrhundert) Sprachphilosoph Ästhetiker Universalgelehrter Politischer Philosoph Metaphysik Zoologe Namensgeber für eine Universität Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Namensgeber für eine Pflanzengattung Grieche (Antike) Geboren 384 v. Chr. Gestorben 322 v. Chr. Mann Kosmologe der Antike
1084
https://de.wikipedia.org/wiki/Dresden
Dresden
Dresden (; ; abgeleitet aus dem altsorbischen Drežďany für Sumpf- oder Auwaldbewohner) ist die Landeshauptstadt des Freistaates Sachsen und östlichste Großstadt Deutschlands. Mit Einwohnern () bzw. 569.173 (laut Melderegister am 31. Dezember 2022) ist Dresden, nach Leipzig, die zweitgrößte sächsische Kommune und der Einwohnerzahl nach zwölftgrößte Stadt Deutschlands. Als Sitz der Sächsischen Staatsregierung und des Sächsischen Landtags sowie zahlreicher Landesbehörden ist die Großstadt das politische Zentrum Sachsens. Außerdem sind bedeutende Bildungs- und Kultureinrichtungen des Freistaates hier konzentriert, darunter die renommierte Technische Universität, die Hochschule für Technik und Wirtschaft, die Hochschule für Bildende Künste Dresden und die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden. Die an der Elbe gelegene kreisfreie Stadt ist sowohl eines der sechs Oberzentren Sachsens als auch wirtschaftliches Zentrum des Ballungsraumes Dresden, einer der ökonomisch dynamischsten Regionen in Deutschland mit über 780.000 Einwohnern. Innovationen und Spitzentechnologien spielen im Raum Dresden eine herausragende Rolle; wirtschaftlich bedeutend sind etwa die Informationstechnik und Nanoelektronik, weshalb es sich auch als Zentrum von „Silicon Saxony“ positioniert. Ebenfalls große Wertschöpfung im Raum Dresden erbringen die Branchen Pharmazie, Kosmetik, Maschinen-, Fahrzeug- und Anlagenbau, Lebensmittel, optische Industrie, Dienstleistungen, Handel, sowie der Tourismus. Mit drei Autobahnen, zwei Fernbahnhöfen, einem Binnenhafen sowie einem internationalen Flughafen bildet Dresden außerdem einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt. Archäologische Spuren auf dem späteren Stadtgebiet deuten auf eine Besiedlung schon in der Steinzeit hin. In erhaltenen Urkunden wurde Dresden 1206 erstmals erwähnt und entwickelte sich zur kurfürstlichen, später königlichen Residenz, 1918 bis 1933 sowie ab 1990 Hauptstadt des Freistaates Sachsen, in der DDR von 1952 bis 1990 Bezirkshauptstadt. International bekannt ist Dresden als Kulturstadt mit zahlreichen bedeutenden Bauwerken, wie dem barocken Zwinger, herausragenden Museen, wie der Gemäldegalerie Alter Meister, berühmten Klangkörpern, wie der Sächsischen Staatskapelle oder dem Kreuzchor und als Wirkungsstätte weithin bekannter Kulturschaffender, zum Beispiel Richard Wagner. Die Dresdner Altstadt wurde in großen Teilen rekonstruiert und durch verschiedene architektonische Epochen geprägt, neben dem Zwinger beispielsweise mit der Frauenkirche am Neumarkt, der Semperoper und der Hofkirche sowie dem Residenzschloss. Der 1434 begründete Striezelmarkt ist einer der ältesten (ältester mit einer Urkunde bestätigter Weihnachtsmarkt) und bekanntesten Weihnachtsmärkte Deutschlands. Dresden wird auch Elbflorenz genannt, ursprünglich vor allem wegen seiner Kunstsammlungen; maßgeblich trug dazu sowohl seine barocke und mediterran geprägte Architektur als auch seine malerische und klimatisch begünstigte Lage im Elbtal bei. Geographie Lage und Fläche Die Stadt liegt beiderseits der Elbe zu großen Teilen im Elbtalkessel, eingebettet zwischen den Ausläufern des Osterzgebirges, dem Steilabfall der Lausitzer Granitplatte und dem Elbsandsteingebirge am Übergang vom Nordostdeutschen Tiefland zu den östlichen Mittelgebirgen im Süden Ostdeutschlands. Das nördliche und nordöstliche Stadtgebiet gehört naturräumlich daher zum Westlausitzer Hügel- und Bergland (Dresdner Heide und Schönfelder Hochland). Im Süden kennzeichnen die Talausgänge der Erzgebirgsabflüsse und Hochlagen den Übergang zum Östlichen Erzgebirgsvorland (eingegrenzter als Dresdner Erzgebirgsvorland und Meißner Hochland bezeichnet). Die Dresdner Elbtalweitung ist eine Untereinheit des Sächsischen Elblands. Vom Bundesamt für Naturschutz wurde Dresden vollständig der naturräumlichen Großlandschaft „D19 Sächsisches Hügelland und Erzgebirgsvorland“ zugeordnet. Als Höhenreferenz für Dresden gilt der Altmarkt als zentraler Platz der Stadt mit einer Höhe von , der Nullpunkt des Elbpegels liegt bei 102,73 m. Die höchste Erhebung im Stadtgebiet ist der rechts der Elbe gelegene 383 m hohe Triebenberg, der tiefste Punkt liegt am Elbufer in Niederwartha mit 101 m. Die Stadt ist nach teils großflächigen Eingemeindungen hinter Berlin, Hamburg und Köln und vor Bremen und München ihrer Fläche nach die viertgrößte Großstadt Deutschlands und steht in der Liste der flächengrößten Gemeinden Deutschlands an 14. Stelle. Die Länge der Stadtgrenze beträgt 139,65 km. Die Ausdehnung des Stadtgebiets beläuft sich in Nord-Süd-Richtung auf 22,6, in Ost-West-Richtung auf 27,1 km. Durch das Stadtgebiet fließen außer der schiffbaren Elbe (Länge im Stadtgebiet: 30 km) die beiden im Osterzgebirge entspringenden linken Nebenflüsse Lockwitzbach und Weißeritz sowie die rechts zufließende Prießnitz. Daneben fließen auf dem Stadtgebiet noch kleinere Flüsse wie der Kaitzbach, der Landgraben und der Lausenbach. Natur Dresden gehört nach großflächigen Eingemeindungen mit 63 % Grün- und Waldflächen zu den Großstädten in Europa mit dem höchsten Anteil an Vegetationsfläche, wovon die Dresdner Heide mit 5876 ha die größte geschlossene Waldfläche bildet. Insgesamt liegen in Dresden 7341 ha Waldflächen und 676 ha Wasserflächen. Im Stadtgebiet gibt es vier Naturschutzgebiete mit 265 ha und zehn Landschaftsschutzgebiete mit 12.340 ha Fläche, teilweise deckungsgleich mit zehn FFH-Gebieten mit 1901 ha Fläche. Zahlreiche denkmalgeschützte Gärten, Alleen und Parkanlagen sowie Friedhöfe bilden 138 Naturdenkmäler mit 134 ha oder 15 geschützte Landschaftsbestandteile mit 71 ha. Im Stadtgebiet liegen zudem drei Vogelschutzgebiete mit 1612 ha. Die Natur- und Kulturlandschaft Dresdner Elbtal mit den Elbwiesen ziehen sich fast 20 km durch das Stadtgebiet, ist aber in der Innenstadt unterbrochen. An einer besonders breiten zentrumsnahen Stelle wird es durch die von 2007 bis 2013 errichtete Waldschlößchenbrücke durchschnitten, weshalb die UNESCO das Elbtal 2009 nach jahrelanger Kontroverse von seiner Welterbeliste strich. In Dresden gibt es ca. 54.000 Straßenbäume. Geologie Den überwiegenden Anteil der oberflächennah anstehenden Gesteine im Stadtgebiet von Dresden prägen kaltzeitliche Ablagerungen pleistozänen Alters. Im Elbtal dominieren fluviatile Ablagerungen, während im Bereich des südlichen Talhanges meist äolische Sedimente in Form von Löss und Lösslehm vorkommen. Im Süden und Südwesten werden diese Sedimente von Aufragungen des Grund- und Übergangsstockwerkes durchbrochen. Hierbei handelt es sich um eine vielfältige Abfolge von Gesteinen unterschiedlicher Ausbildungen und verschiedenen Alters, zum Beispiel kreidezeitlichen Pläner, permische (rotliegende) Sedimentite und Vulkanite sowie variszische Intrusiva. In den morphologisch höher gelegenen nördlichen Stadtteilen stehen außerdem proterozoische Granitoide oberflächennah an. Das dominierende tektonische Element ist die Lausitzer Verwerfung (auch „Lausitzer Überschiebung“). Sie verläuft etwa parallel zur Elbe und prägt das Landschaftsbild von Dresden in typischer Weise. Klima Dresden liegt mit seinem humiden Klima in der kühl-gemäßigten Klimazone, jedoch ist ein Übergang zum Kontinentalklima spürbar. Der größte Teil des bewohnten Stadtgebietes liegt im Elbtal. Dort herrscht ein milderes Mikroklima als in den Stadtteilen auf den Hängen und im Hügelland der näheren Umgebung. Die Wetterwarte am Flughafen Dresden-Klotzsche befindet sich am nördlichen Stadtrand oberhalb des Elbkessels. An ihrem Standort auf ist es das ganze Jahr über etwa 1–2 Grad kälter als in der Innenstadt. In der Periode 1981 bis 2010 betrug die mittlere Temperatur in Klotzsche im Januar 0,1 °C und im Juli 19,0 °C. Die Monatstemperaturen in der Innenstadt weisen etwa ähnliche Werte auf wie die in südwestdeutschen Städten. Mit einer Jahresmitteltemperatur im Innenstadtbereich von 10,4 °C gehört Dresden zu den wärmsten Städten in Deutschland. Vor allem im Sommer ist die Lage zwischen der warmen Lausitz und dem kühleren Erzgebirge bemerkenswert. Zwischen diesen beiden Regionen können an einzelnen Tagen Temperaturunterschiede von bis zu 10 Grad herrschen. Die Stadtgrenze ist dann in gewisser Weise zugleich eine Isotherme. Das Erzgebirge kann durch Föhnwetterlagen auf Sachsen wärmend einwirken. Dresden hat durchschnittlich 1641 Sonnenscheinstunden im Jahr. Der Februar ist mit im Mittel unter 40 mm Niederschlagshöhe der niederschlagsärmste Monat im langjährigen Mittel 1981 bis 2010, der Juli der niederschlagsreichste; dabei fallen in den westlichen Stadtteilen (Station Dresden-Gohlis, 591 mm) im Mittel rund 10 % weniger Niederschläge als in den östlichen Stadtteilen (Station Dresden-Hosterwitz, 670 mm). Die höchste Regenmenge innerhalb von 24 Stunden fiel am 12. August 2002 mit 158 mm. Die sogenannte Vb-Wetterlage, die zu diesem Niederschlagsereignis führte und den gesamten sächsischen und böhmischen Raum betraf, hatte ein starkes Elbhochwasser zur Folge. Der Kälterekord in Dresden beträgt minus 30,5 Grad Celsius, gemessen am 11. Februar 1929 in der Innenstadt. Hochwasserschutz Aufgrund der Lage Dresdens an der Elbe und an Nebengewässern aus dem Osterzgebirge musste der Hochwasserschutz in der Entwicklung der Stadt berücksichtigt werden. Dazu wurden Freiräume belassen und Altarme weitestgehend baufrei gehalten. Zusätzlich zu dieser Retention gibt es Flutrinnen, die Wasser schneller abführen sollen. Systeme zur Hochwasserregulierung befinden sich dagegen kaum in der Stadt, sondern im südlich gelegenen Erzgebirge und am Oberlauf der Elbe. Umgebung Nahe gelegene Großstädte sind Chemnitz (80 km südwestlich), Leipzig (100 km nordwestlich) und die tschechische Hauptstadt Prag (150 km südlich). Berlin befindet sich 200 km nördlich; 230 km östlich liegt Breslau (Wrocław), die nächstgelegene Partnerstadt Dresdens. In der Nachbarschaft liegen der Landkreis Bautzen mit der Stadt Radeberg, der Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge mit den Städten Pirna, Heidenau und Freital und der Landkreis Meißen mit Moritzburg und der Stadt Radebeul. Alle erwähnten Städte grenzen direkt an Dresden und bilden den Kernraum des Ballungsraumes Dresden. Etwas weiter entfernt liegen Meißen, Riesa und die Bergstadt Freiberg. Weitere angrenzende Gemeinden sind die Stadt Wilsdruff und Klipphausen im Westen, Radeburg, Ottendorf-Okrilla und Wachau im Norden sowie Arnsdorf und Dürrröhrsdorf-Dittersbach im Osten. Südlich benachbart liegen Dohna, Kreischa und Bannewitz. Dresden gehört zur Euroregion Elbe/Labe. Bevölkerung Am Anfang des 20. Jahrhunderts gehörte Dresden zu den fünf bevölkerungsreichsten Städten in Deutschland. 1933 wurde mit 642.143 Einwohnern der höchste Wert in der Geschichte der Stadt erreicht. Die Volkszählung am 17. Mai 1939 ergab 629.713 Einwohner, davon 281.379 Männer und 348.334 Frauen. Durch den Zweiten Weltkrieg verringerte sich die Stadtbevölkerung auf etwa 468.000 (Zählung von 1946). Bis Mitte der 1980er Jahre nahm die Bevölkerung bis auf etwa 520.000 Einwohner zu. Danach sank die Anzahl an wohnberechtigter Bevölkerung mit Erstwohnsitz durch Abwanderung und Suburbanisierung bis 1998 auf etwa 453.000 Einwohner und lag damit trotz der Eingemeindungen der 1950er Jahre unter der Zahl von 1946, die eine kleinere Fläche betraf. Danach wurde sie durch Eingemeindungen erhöht und steigt mittlerweile dauerhaft durch einen leichten Wanderungs- und Geburtenüberschuss an. Die Einwohnerzahl betrug am 30. Juni 2006 genau 500.068 (nur Hauptwohnsitze). Am 12. August 2006 wurde deshalb nach umfangreichen Ermittlungen ein Neugeborener symbolisch als der 500.000. Einwohner der Stadt nachträglich vom Oberbürgermeister begrüßt. Mit mehr als 6000 Geburten (im Jahr 2012) galt Dresden bis 2014 als „Geburtenhauptstadt“ unter deutschen Großstädten. Am 31. Dezember 2017 lebten in Dresden laut Melderegister 557.098 Einwohner bei einer Bevölkerungsdichte von 1.696 Einwohnern je Quadratkilometer. Am 31. Dezember 2018 hatten laut Melderegister 560.641 Einwohner den Hauptwohnsitz in Dresden. Am 31. Dezember 2019 hatten laut Melderegister 563.011 Einwohner den Hauptwohnsitz in Dresden bei einer Bevölkerungsdichte von 1.715 Einwohnern je Quadratkilometer. Am 31. März 2020 waren es noch 562.132 Einwohner. 2021 hatten 561.942 Menschen ihren Hauptwohnsitz in Dresden. Dresden steht bei den größten Städten der Europäischen Union an 44. Stelle. Migration Am 31. Dezember 2018 lebten etwa 23.176 Deutsche mit Migrationshintergrund in Dresden (Wohnbevölkerung mit ausländischer Herkunft und deutscher Staatsangehörigkeit), das entspricht 4,1 Prozent aller Einwohner Dresdens. Der Ausländeranteil (Wohnbevölkerung ohne deutsche Staatsangehörigkeit) in Dresden bezifferte sich am 31. Dezember 2018 auf 8,0 Prozent. Von 2010 bis 2018 stieg der Ausländeranteil von 4,7 auf 8,0 Prozent bzw. von 24.692 auf 44.665 Personen. Siedlungsraum Im Stadtgebiet entfallen 8087 Hektar auf Gebäude- und Freiflächen, im Jahr 2011 gab es in Dresden 292.740 Wohnungen mit 286.889 Haushalten. Wie feinstrukturiert und unterschiedlich die urbanen Räume besiedelt sind, zeigt sich beim Vergleich von Äußerer und Innerer Neustadt. Die Äußere Neustadt ist mit mehr als 15.000 Bewohnern pro Quadratkilometer der am dichtesten besiedelte Stadtteil Dresdens, während die Innere (historische) Neustadt mit etwa 4.000 Einwohnern pro Quadratkilometer eine weit geringere Bevölkerungsdichte aufweist, die jedoch weit über anderen Stadtteilen liegt. Der Bereich mit der dichtesten Besiedlung ist der Stadtbezirk Blasewitz: Dies ist vor allem mit dem Stadtteil Striesen verbunden, weniger mit dem früheren Gemeindegebiet von Blasewitz. Dichte Besiedlung ist hier nicht Anzeichen für schlechteren Wohnraum, wie es zu Zeiten enger Hinterhofbebauung noch gelten konnte, im Gegenteil: Die Grundsätze für die Bebauung haben schon in den 1880er Jahren einerseits zu den Dresdner Villen als Typus eines Mehrfamilienhauses geführt, andererseits führte dies trotz dichter Bebauung zu einem durchgrünten Stadtteil. Die Elbe mit ihren Auen wirkt im Bereich von Blasewitz überdies als Grenze des urbanen Raums, weshalb die linkselbischen dicht besiedelten und die rechtselbisch quasi unbewohnten Flächen der Dresdner Heide sehr nahe beieinander liegen. Blasewitz selbst wurde erst 1921 an Dresden angegliedert, wobei zu jener Zeit schon weite Teile des heutigen Stadtbezirks (Striesen seit 1892) zur Stadt gehörten. Die Dresdner Heide wiederum liegt im Stadtbezirk Loschwitz, der mit 268 Einwohnern je Quadratkilometer der am dünnsten besiedelte Stadtbezirk ist. Religionen Die Reformation setzte sich in Dresden 1539 durch. Ab etwa 1571 vertrat die Stadt ein strenges Luthertum. Im Jahre 1661 gab es in Dresden erstmals wieder katholische Gottesdienste. Kurfürst Friedrich August I. veranlasste 1697 den Wechsel des Hofstaates zum katholischen Glauben, um zum polnischen König gekrönt werden zu können. Die katholischen Gemeinden wurden erst 1807 den evangelischen gleichgestellt und blieben nach Mitgliederzahl eine kleine Minderheit. Von den am 1. Dezember 1900 gezählten 396.146 Einwohnern Dresdens (ohne die später einverleibten Vorstädte, jedoch einschließlich des Gutsbezirks Albertstadt, inkl. 11.962 Mann Militär) waren 349.145 Lutheraner, 3340 Reformierte, 36.910 Römisch-Katholische und 3029 Juden. Das Ende der Monarchie führte nach dem Ersten Weltkrieg zur Trennung von Kirche und Staat und 1922 zur Wahl des ersten evangelischen Landesbischofs. Von im Jahr 1939 gezählten 629.713 Einwohnern waren 513.301 Evangelische, 40.951 Katholiken, 3052 sonstige Christen und 1459 Juden. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging während der DDR-Zeit der Anteil der evangelischen Kirchenmitglieder von etwa 85 % (1949) auf 22 % (1989) zurück. 1980 wurde Dresden Sitz eines katholischen Bischofs, wobei die Katholische Hofkirche zur Kathedrale des Bistums Dresden-Meißen erhoben wurde. Der Volkszählung 2011 zufolge waren 15,3 % der Einwohner evangelisch und 4,3 % römisch-katholisch. 80,4 % waren konfessionslos, gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Ende 2021 gehörten von den 561.002 Einwohnern 12,9 % einer der Evangelisch-lutherische Kirchen und 4,6 % der katholischen Kirche an. Fast 83 % waren konfessionslos, gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe. 2021 erklärten 2068 Dresdner (zirka 0,4 %) ihren Kirchenaustritt. Die Stadtverwaltung schätzte die Anzahl der Mitglieder von weiteren christlichen Glaubensgemeinschaften, wie zum Beispiel der russisch-orthodoxen Kirche, rumänisch-orthodoxen Kirche, Freikirchen und nicht-christlichen Gemeinden auf etwa 5000 Menschen. In Dresden lebten 2011 etwa 760 Juden. Weitere registrierte Religionsgemeinschaften sind muslimische, buddhistische und hinduistische Glaubensgemeinschaften und die Glaubensgemeinschaft der Bahá'í. Geschichte Erste Besiedlung, Stadtgründung und Mittelalter Bereits in der Jungsteinzeit bestanden erste Siedlungen im Raum Dresden. Die Kreisgrabenanlagen in Nickern aus dem 5. Jahrtausend v. Chr. waren die ersten Monumentalbauten im heutigen Stadtgebiet. Die Furt durch die Elbe in Höhe der heutigen Altstadt bestand wahrscheinlich schon im frühen Mittelalter. Eine Besiedlung blieb aber trotz der lukrativen Lage an der Elbe und seiner fruchtbaren Böden aufgrund der starken Bewaldung problematisch. Dresdens vom altsorbischen (= „Sumpf-“ oder „Auwald-Bewohner“, Mehrzahlform) abgeleiteter Name deutet auf eine ursprünglich slawische Siedlung. Dresdene lag im damaligen Gau Nisan, der 1142 von Böhmen an den deutschen König Konrad III. kam. Das nahe Meißen war ab 968 der Sitz der Markgrafen von Meißen und entwickelte sich so zum zentralen Ort der Markgrafschaft Meißen, die im Zuge der Expansion und Eingliederung der sorbischen Siedlungsgebiete östlich von Elbe und Saale errichtet wurde. Südöstlich von Dresden befand sich ab 1156 die reichsunmittelbare Burggrafschaft Dohna. Am 31. März 1206 wird Dresden erstmals in einer erhaltenen Urkunde genannt: Acta sunt hec Dresdene. Das in Dresden ausgestellte Schriftstück befasst sich mit einer Gerichtsverhandlung wegen Schleifung der Burg Thorun auf dem Burgwartsberg, der im Gebiet der heutigen Stadt Freital südlich von Dresden zwischen Potschappel und Pesterwitz liegt. In einer Urkunde vom 21. Januar 1216 wird Dresden bereits als Stadt erwähnt: . 1350 wird das rechtselbisch gelegene Dresden (Altendresden), die heutige Innere Neustadt, als selbstständige Ansiedlung „Antiqua Dressdin“ erstmals erwähnt. Eine Verleihung des Stadtrechts an Altendresden ist urkundlich bisher nicht belegt, aber sie soll am 21. Dezember 1403 durch Wilhelm I. erfolgt sein. Erst ab 29. März 1549 bildeten unter Kurfürst Moritz die rechts- und linkselbischen Teile der Stadt eine Einheit. Frühe Neuzeit Bei der Erlangung des Stapelrechts am 17. September 1455 war Dresden noch eine recht unbedeutende Stadt, wurde jedoch nach der Leipziger Teilung der wettinischen Länder 1485 für Jahrhunderte herzogliche Residenzstadt der sächsischen Herrscher und erfuhr mit der Erhebung des wettinischen Herrschaftsbesitzes zum Kurfürstentum und Königreich eine Aufwertung als politisches und kulturelles Zentrum. Durch den Übergang der kurfürstlichen Würde innerhalb des Hauses Wettin (Wittenberger Kapitulation) wurde die Stadt zur Hauptstadt des wichtigsten protestantischen Landes innerhalb des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. In dieser Zeit wurden wichtige kulturelle Einrichtungen begründet, die bis in die Gegenwart die besondere Geltung der Stadt ausmachen. Die von Kurfürst August 1556 zunächst in unmittelbarer Nähe des Residenzschlosses errichtete Münzstätte Dresden wurde nach Schließung sämtlicher Landesmünzstätten einzige Münzstätte im Kurfürstentum. Im Dreißigjährigen Krieg wurde Dresden nie geplündert oder zerstört, aber um 1632 durch Pest und Hungersnot sowie die allgemeine wirtschaftliche Stagnation in seiner Entwicklung gestört. Die Geschichte seit dem Dreißigjährigen Krieg ist sehr wechselvoll: Zum einen entstanden die weltbekannten Bauwerke und Parkanlagen; auf der anderen Seite war die Stadt in fast alle großen europäischen Kriege verwickelt und wurde dabei mehrfach in Mitleidenschaft gezogen. Im Jahr 1685 brannte Altendresden komplett ab. Es wurde hernach über mehrere Jahrzehnte wiederaufgebaut und 1732 als „Neue Königliche Stadt“ vollendet. Der Stadtteil wird deshalb als Neustadt bezeichnet. Unter August dem Starken errang Dresden durch den Dresdner Barock und den opulenten Hoffesten des Dresdner Hofes die kulturelle Bedeutung, die es bis in die Moderne hat. Im Dezember 1745 wurde die Stadt im Österreichischen Erbfolgekrieg zum ersten Mal durch Preußen erobert. Erneut wurde es im Siebenjährigen Krieg 1756 durch Preußen erfolglos besetzt. Als sich die österreichische Armee der Stadt näherte, rief der preußische Gouverneur zu Vergeltungsaktionen auf und ließ die Stadt teilweise abbrennen. 1760 belagerte Preußen Dresden erfolglos und beschoss dabei die Innenstadt. 1785 schrieb Friedrich Schiller für die Tafel der Freimaurerloge „Zu den drei Schwertern“ in Dresden das Gedicht An die Freude. Dieses Gedicht wurde von Ludwig van Beethoven für seine 9. Sinfonie vertont. Die Melodie des Themas dieser Vertonung ist die Europahymne. Im Frühjahr des Jahres 1791 wurde im nahe gelegenen Ort Pillnitz mit der Pillnitzer Deklaration ein Initial für die mehr als 150 Jahre währende Feindseligkeit zwischen Deutschland und Frankreich gelegt. Darin riefen die vornehmlich deutschen Monarchen die europäischen Mächte zur Zerschlagung der Französischen Revolution auf. 19. und frühes 20. Jahrhundert Im Großraum Dresden fanden 1813 in den Befreiungskriegen gegen Napoleon vorentscheidende Schlachten der Völkerschlacht bei Leipzig statt. Sachsen, und damit Dresden, kämpfte auf der Seite von Frankreich; die Stadt wurde durch die Franzosen weiter befestigt und durch deren Truppen geschützt. Napoleon errang am 27. August 1813 in der Schlacht um Dresden einen seiner letzten Siege auf deutschem Boden. Die südlichen Vororte von Dresden wurden teilweise schwer zerstört, und die Stadt Dresden glich durch die hohe Anzahl von Verwundeten einem großen Feldlazarett. Der auf die Märzrevolutionen folgende Dresdner Maiaufstand vom 3. bis 9. Mai 1849 zwang den sächsischen König Friedrich August II., die Stadt zu verlassen. Er konnte sie erst durch preußische Unterstützung wiedergewinnen. Bekannte Teilnehmer des Aufstandes waren Richard Wagner und Gottfried Semper; beide verließen daraufhin Sachsen. Nach Niederschlagung der Revolution fanden hier 1850/1851 die Dresdner Konferenzen statt, die einzigen in der Zeit des Deutschen Bundes, auf der alle Staaten vertreten waren. Vom 17. bis 19. Juli 1880 fand in Dresden der 11. Deutsche Feuerwehrtag statt. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts blieb Dresden von Kriegen verschont und wurde Hauptstadt eines der wohlhabendsten Bundesstaaten im Deutschen Reich. Am 7. Juni 1905 wurde in Dresden die Künstlergruppe Brücke von den vier Architekturstudenten Ernst Ludwig Kirchner, Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff gegründet. Weitere Mitglieder waren Max Pechstein, Otto Mueller und Cuno Amiet, kurzzeitig auch Emil Nolde und Kees van Dongen. Nicht abschließend geklärt ist, ob die Bezeichnung der Künstlergruppe sich auf die vielen Brücken Dresdens bezog oder ob es sich um eine Metapher für den Willen zum Aufbruch in der Kunst und die Überwindung alter Konventionen handeln sollte. Im Ersten Weltkrieg blieb die Stadt zwar von direkten Kampfhandlungen unberührt, aber die Einwohnerzahl ging zwischen 1910 und dem ersten Nachkriegsjahr 1919 um fast 20.000 Menschen zurück. Weimarer Republik Nach der Novemberrevolution 1918 wurde Dresden Hauptstadt des (ersten) Freistaates Sachsen. Es gehörte zu den zehn größten Städten in Deutschland und war ein kulturelles und wirtschaftliches Zentrum der Weimarer Republik. 1919 gründete sich die Dresdner Sezession, deren bekanntestes Mitglied Otto Dix war. Dieser Gruppe ging schon vor dem Ersten Weltkrieg die Vereinigung Brücke voraus. 1925 wurde mit der Palucca-Schule Dresden neben der bestehenden Hochschule für Bildende Künste eine bedeutende Schule der Darstellenden Kunst gegründet. Die Sächsische Staatsoper war eine bedeutende Bühne für Uraufführungen. Bis 1913 entstand das Schauspielhaus des Staatstheaters. Zwar verlegte die 1872 gegründete Dresdner Bank ihre Hauptverwaltung noch im 19. Jahrhundert nach Berlin, Dresden blieb aber bedeutender Bankenstandort vor allem kleinerer familiengeführter Privatbanken bis in die 1920er Jahre. Führende Unternehmen bestanden hier zwischen 1918 und 1933 im (Elektro-)Maschinenbau, der Pharmazie und Kosmetik sowie in der Tabakverarbeitung und Lebens- und Genussmittelindustrie. Teilweise haben sich diese Unternehmen (häufig in neu gegründeter Form) bis in die Gegenwart erhalten. Die durch die Stadt 1909 übernommenen Straßenbahnbetriebe wurden 1930 als Dresdner Straßenbahn AG wieder privatisiert. Zeit des Nationalsozialismus Die etwa 5000 jüdischen Dresdner, die noch 1933 Gemeindemitglieder waren, wurden vertrieben oder später in Konzentrationslager deportiert. Der Antisemitismus in Dresden ist vor allem durch die Tagebücher Victor Klemperers („Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“) dokumentiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten nur noch 41 Juden in der Stadt. Bei den Bücherverbrennungen am 8. März und 10. Mai 1933 sollte unter anderem das Werk des Dresdners Erich Kästner „symbolisch für immer ausgetilgt werden“. Das vor allem expressionistische Kulturleben Dresdens aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts endete 1933. Die Werke von Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff oder Otto Dix dieser Zeit waren Teil der Ausstellung Entartete „Kunst“. 56 Werke der Galerie Neue Meister wurden beschlagnahmt. Auch die Staatsoper, geprägt von Werken von Richard Strauss, geriet in Bedrängnis. Schon im März 1933 wurde durch einen von der SA inszenierten Theater-Skandal bei einer „Rigoletto“-Aufführung ihr berühmter langjähriger Generalmusikdirektor Fritz Busch aus Dresden vertrieben; die einst von Busch entdeckte Erna Berger, inzwischen an der Berliner Staatsoper engagiert und an diesem Abend als Gilda gastierend, wurde Zeugin dieser Barbarei. Die Strauss-Oper „Die schweigsame Frau“ konnte dort 1935 wegen ihres jüdischen Librettisten Stefan Zweig überhaupt nur dank der Prominenz ihres Komponisten uraufgeführt werden, musste aber nach nur drei Wiederholungen vom Spielplan genommen werden und verschwand in Deutschland von der Bildfläche. Während der Novemberpogrome 1938 wurde die Alte Synagoge (Sempersynagoge) niedergebrannt. Zahlreiche Geschäfte und Wohnungen wurden vor den Augen der Polizei verwüstet und geplündert, jüdische Bürger misshandelt. Die männlichen wohlhabenden jüdischen Bürger wurden anschließend in Konzentrationslager verschleppt, um sie zur Emigration zu nötigen und ihr Vermögen zu arisieren. Zwischen 1939 und 1945 befanden sich KZ-Häftlinge, vor allem aus den Lagern in Auschwitz und Flossenbürg, in der Stadt in KZ-Außenlagern. Mehrere hundert Frauen mussten Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie bei Zeiss Ikon (685 Frauen im Goehle-Werk und 400 Frauen in Dresden-Reick) und in der Universelle-Maschinenfabrik (685 Frauen) leisten. Außerdem gab es ein KZ-Außenlager in der Schandauer Straße 68 in Dresden-Striesen für den Berliner Rüstungsbetrieb Bernsdorf & Co. 500 Juden mussten hier im Metallwerk Striesen Zwangsarbeit leisten und wurden nach der Bombardierung Dresdens zu großen Teilen provisorisch nach Pirna, und später nach Zwodau und Theresienstadt evakuiert. In der Ausländerkinder-Pflegestätte „Kiesgrube Dresden“ wurden 497 Kinder geboren, 225 Säuglinge und Kleinkinder verstarben dort. Die noch erhaltenen Privatbanken im jüdischen Familienbesitz wurden unter Zwang der Dresdner Bank angeschlossen. Dresden war seit Jahrhunderten ein militärisches Zentrum und diente bis 1945 zur Aufstellung militärischer Großverbände. Die Albertstadt nördlich des Stadtzentrums war als autarke Militärstadt angelegt und wurde in der Zeit des Nationalsozialismus weiter ausgebaut. Im Zweiten Weltkrieg wurden bereits im August 1944 erste Luftangriffe auf den Großraum Dresden geflogen, woraufhin sich die Stadt auf Bombardierungen vorbereitete. Bei den Luftangriffen auf Dresden wurden in vier aufeinanderfolgenden nächtlichen Angriffswellen vom 13. bis 15. Februar 1945 weite Teile des Stadtgebietes durch britische und US-amerikanische Bomber schwer beschädigt. Die genaue Zahl der Opfer ist ungewiss. Früher fand sich in einzelnen – und weiter unbeirrt in vielen geschichtsrevisionistischen und rechtsradikalen – Publikationen die falsche Angabe von rund 350.000 Toten. Der Report of the Joint Relief 1941–1946 des Internationalen Roten Kreuzes kolportiert eine ebenfalls falsche Opferzahl von 275.000. In jüngerer Zeit sind die Opferzahlen auf 22.700, höchstens 25.000 korrigiert worden. Dem Historiker Frederick Taylor zufolge gehe die falsche Opferzahl auf eine Fälschung der Nazis selber zurück: ihr sei einfach eine Null hinzugefügt worden, um in neutralen Medien und Ländern Stimmung gegen die Alliierten zu machen. Der Schaden an Gebäuden wird ebenfalls häufig zu hoch angegeben. 60 Prozent des Stadtgebietes waren von den Angriffen schwer betroffen, 15 km² ausgehend von der Innenstadt wurden gar total zerstört; Stadtteile im Norden und Nordwesten waren dagegen wenig zerstört. Vorwiegend vom nördlich der damaligen Stadtgrenze gelegenen Flughafen Dresden-Klotzsche aus wurde das ab Mitte Februar 1945 bis zum 6. Mai eingekesselte Breslau versorgt, ehe Dresden selbst am 8. Mai, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, von der Roten Armee besetzt wurde. Zuvor wurde in einer verdeckten Aktion ohne Wissen der jeweils anderen von fünf Personen, unter anderem von den auf einer Gedenktafel genannten Paul Zickler und Erich Stöckel, die von der SS geplante Sprengung des Blauen Wunders vereitelt. Zeit der Deutschen Demokratischen Republik Von 1952 bis 1990 war Dresden Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks Dresden. Während der Zeit des Sozialismus wurden viele Reste der stark zerstörten Stadt beseitigt. Viele Ruinen Dresdens, darunter auch die Überreste der Sophienkirche, vor allem aber die historische Wohnbebauung, wurden abgetragen oder gesprengt. Das historische Stadtzentrum wurde dabei entkernt und fortlaufend wieder bebaut. Die Umgebung der einst so belebten Prager Straße glich einer Brachlandschaft, ehe sie Anfang der 1960er Jahre im sozialistischen Stil wieder bebaut wurde. Erneuert bzw. vollständig rekonstruiert wurden vor allem die historischen Monumentalbauwerke, so das Ständehaus (1946), die Augustusbrücke (1949), die Kreuzkirche (bis 1955), der Zwinger (bis 1963), die Katholische Hofkirche (bis 1965), die Semperoper (bis 1985), das Japanische Palais (bis 1987) und die beiden größten Bahnhöfe (teilweise fortlaufend). Einige dieser Arbeiten zogen sich, geprägt von der wirtschaftlichen Gesamtlage der DDR, über Jahrzehnte hin und waren mitunter für längere Zeit unterbrochen worden. Das Schloss wurde über viele Jahre gesichert und Teile rekonstruiert (so der Stallhof). Erst ab 1986 begann der Wiederaufbau, der bis in die Gegenwart dauert. Die Ruine der Frauenkirche sollte als Mahnmal gegen den Krieg auf dem Neumarkt verbleiben. Während so Theater- und Schloßplatz 1990 zumindest nach historischem Vorbild bebaut waren, blieb der Neumarkt völlig unbebaut. Der Altmarkt dagegen ist geprägt von Bauten des Sozialistischen Klassizismus und einer Raumgestaltung und -ausrichtung nach sozialistischen Idealen (zum Beispiel Kulturpalast). Von 1955 bis 1958 wurde ein großer Teil der von der Sowjetunion erbeuteten Kunstschätze zurückgegeben, so dass ab 1960 viele Museen der Staatlichen Kunstsammlungen in wiedererbauten Einrichtungen oder Interimsausstellungen eröffnet werden konnten. Die wichtigen Klangkörper wie die Staatskapelle traten in Ausweichspielstätten auf (zum Beispiel im Kulturpalast ab 1969). Teile der Kultureinrichtungen wurden aus der Innenstadt herausverlegt (so die Landesbibliothek in die Albertstadt). Die im Krieg nahezu unzerstörte Äußere Neustadt blieb aufgrund von Bürgerprotesten erhalten. Ihr drohte in den 1980er Jahren der Abriss, da ihre Bebauung stark vernachlässigt wurde und deshalb in schlechtem Zustand war. In Prohlis und Gorbitz entstanden Großwohnsiedlungen in Plattenbauweise auf zuvor unbebautem Land. Die Johannstadt und andere Gebiete im Stadtzentrum wurden ebenso in Großblockbauweise überbaut. Weitestgehend erhalten wurden die Villenviertel in Blasewitz, Striesen, Kleinzschachwitz, Loschwitz und am Weißen Hirsch. Bis zum Ende des Kalten Krieges waren in und um Dresden die 1. Gardepanzerarmee der Sowjetarmee sowie die 7. Panzerdivision der Nationalen Volksarmee stationiert. Nach der Wende in der DDR ab 1989 wurden gemäß den Bestimmungen des Zwei-plus-Vier-Vertrags von 1990 die sowjetischen/russischen Truppen Anfang der 1990er Jahre aus Deutschland abgezogen und die NVA aufgelöst. Zwischen dem 30. September und dem 5. Oktober 1989 fuhren Sonderzüge mit den Flüchtlingen aus der bundesdeutschen Prager Botschaft über Dresden und Plauen in die Bundesrepublik. Besonders in der Nacht vom 4. zum 5. Oktober versammelten sich tausende Menschen am Hauptbahnhof. Dabei kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Bürgern, die teils demonstrierten, teils die Züge zur Flucht erreichen wollten. Am 8. Oktober zogen rund 20.000 Menschen durch Dresden und demonstrierten unter anderem für Reise- und Meinungsfreiheit. Ein großer Teil von ihnen wurde von der Polizei auf der Prager Straße eingekesselt. Es bildete sich spontan die „Gruppe der 20“, die am nächsten Tag dem SED-Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer die Forderungen der Demonstranten vorbrachte. Am Tag darauf fand in Leipzig die erste große Montagsdemonstration statt, wie sie in den folgenden Wochen in Dresden ebenfalls stattfanden. Seit 1990 Nach der politischen Wende 1989 und der deutschen Wiedervereinigung 1990 wurde Dresden wieder die Hauptstadt des wieder errichteten Landes Sachsen. In der Stadt wurden nochmals einige alte Gebäude abgerissen. Viele andere wurden jedoch mit Hilfe steuerlicher Subventionen wieder restauriert. Viele Gebiete Dresdens gelten daher als Beispiele für die gelungene Restaurierung von Baudenkmälern und stehen als Gesamtensembles unter Denkmalschutz. Im August 2002 wurde die Stadt von der „Jahrhundertflut“ getroffen. Dabei überschwemmten die Weißeritz und die Elbe nebst mehrerer ihrer Nebengewässer die Stadt. Die Elbe erreichte einen Pegelstand, der das bis dato schwerste Hochwasser von 1845 übertraf. Das Reparieren der Infrastruktur dauert nach dem Hochwasser bis in die Gegenwart an; betroffene Bauwerke waren wesentlich schneller wieder hergerichtet. Am 30. Oktober 2005 wurde die Frauenkirche nach einem zehnjährigen Wiederaufbau, der weitgehend durch Spendengelder finanziert wurde, geweiht („Wunder von Dresden“). 2006 feierte die Stadt ihr 800-jähriges Bestehen (formal am Tag ihrer ersten urkundlichen Erwähnung am 31. März). Höhepunkt war dabei im Rahmen des Festumzuges im August eine Nachstellung des kompletten Fürstenzuges durch Reiter in historischen Kostümen. Am 5. Juni 2009 besuchte mit Barack Obama erstmals ein Präsident der Vereinigten Staaten die Stadt und traf sich mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Residenzschloss. Er besichtigte anschließend die Frauenkirche. Die Technische Universität Dresden wurde 2012 in den Kreis der „Elite-Hochschulen“ Deutschlands aufgenommen. Mit dem Bau der Waldschlößchenbrücke erhielt Dresden 2013 eine weitere innenstadtnahe Elbquerung für den Straßenverkehr, nachdem 2011 bereits eine neue Straßenbrücke nach Radebeul eröffnet worden war. Im Oktober 2014 nahm die islam- und fremdenfeindliche Bewegung Pegida, die durch Demonstrationen in Dresden und anschließend in anderen Städten im Jahr 2015 viel Aufmerksamkeit erreichte, ihren Anfang. Die Stadt erhielt am 21. April 2015 zusammen mit der schwedischen Stadt Vara den Europapreis, der jährlich vom Ministerkomitee des Europarats an Gemeinden verliehen wird, die sich um den europäischen Gedanken verdient gemacht haben. Stadtgebietsentwicklung und Stadtgliederung Geschichtliches Zu Eingemeindungen siehe auch Liste der Gemarkungen von Dresden. Ursprünglich lag der älteste Teil der Stadt rechtselbisch, also nördlich der Elbe. Den Stadtteil Altendresden gibt es nicht mehr. Nachdem er abgebrannt war, wurde er 1732 als Neue Königliche Stadt, später vereinfacht Neustadt, neu angelegt und ist mit der heutigen Inneren Neustadt deckungsgleich. Der Stadtteil südlich der Elbe wird daher mittlerweile als die historische Altstadt bezeichnet. Die flachere südliche Tallage hat eine stärkere Entwicklung begünstigt, so dass sich damit die gesamte Stadt nach Süden verlagert hat. Die Stadt dehnt sich nicht gleichmäßig aus, sondern folgt dem Elbtal in südöstlicher beziehungsweise nordwestlicher Richtung. Überall wuchs Dresden zunächst durch Vorstädte, die anfangs der Stadtbefestigung vorgelagert waren. Eingemeindungen von umliegenden Gemeinden gab es seit 1835, als Dresden sich nach Norden und Westen ausdehnte. Seitdem wurden 65 Landgemeinden, die vier Gutsbezirke Albertstadt, Wilder Mann, das Gorbitzer und das Pillnitzer Kammergut sowie die Stadt Klotzsche nach Dresden eingemeindet. Landgemeinden, die nach 1990 eingemeindet wurden, erhielten innerhalb der kommunalen Struktur kraft Gesetzes den Sonderstatus „Ortschaft“. Die größte Eingemeindung war die von Schönfeld-Weißig im Osten des Stadtgebietes. Dresden ist nicht nur durch die Eingemeindungen in den 1990er Jahren eine weitläufige Stadt mit unterschiedlichen Strukturen in den einzelnen Stadtteilen. Viele Stadtteile besitzen einen erhaltenen Dorfkern; einige sind vollständig dörflich erhalten. Andere prägende Strukturen sind die der Vorstädte und der Einzelbebauung durch Stadtvillen sowie die Plattenbauviertel. Es gibt Stadtteile, die teilweise in enger Nachbarschaft verschiedene Strukturmerkmale aufweisen. Zur ursprünglichen Stadt gehörten Stadtteile, die in der gegenwärtigen Struktur fast alle zu den Stadtbezirken Altstadt und Neustadt gehören. Neben diesen innerhalb der Stadtfestung liegenden Teilen entstanden außerhalb der Stadtmauern, jedoch meist auf Dresdner Flur, Vorstädte, die zum Teil auf Anweisung sächsischer Herrscher angelegt worden waren und zum Teil nach diesen benannt wurden (Friedrichstadt, Albertstadt, Johannstadt). Weitere Dresdner Vorstädte wurden nach Stadttoren bzw. Ausfallstraßen (Wilsdruffer Vorstadt, Pirnaische Vorstadt) oder nach – nicht mehr vorhandenen – Naturmerkmalen (Seevorstadt) benannt. Die Antonstadt ist mittlerweile weitgehend unter dem Begriff Äußere Neustadt bekannt. Die anderen, nach Königen benannten Vorstädte blieben ihrerseits als Begriff erhalten. Später wuchs die Stadt vor allem im 19. Jahrhundert, als weitere Dörfer dichter bebaut wurden. Der Begriff Vorstadt wurde nach dem Ersten Weltkrieg für weitere Stadtteile nicht mehr verwendet. Von 1957 bis 1991 war das Stadtgebiet in die fünf Stadtbezirke Dresden-Mitte, -Ost, -West, -Süd und -Nord eingeteilt. Stadtbezirke und Ortschaften seit 1990 Seit 1991 gab es die Gliederung in zehn Ortsämter (für das Stadtgebiet vor 1990) und neun Ortschaften (nach 1990 eingemeindete Flächen). Mit der Einführung der Ortschaftsverfassung und die Wahl 2019 wurde die Bezeichnung „Ortsamt“ rückgängig gemacht und nunmehr Stadtbezirke eingerichtet, die ihrerseits ebenfalls den eingemeindeten „Ortschaften“ entsprechen. Sie sind Stadt- beziehungsweise Ortsteile des Stadtgebietes mit Flächenstand vom 31. Dezember 1990 und haben jeweils ein Stadtbezirksamt, das heißt ein Rathaus vor Ort, sowie einen Stadtbezirksrat im Sinne des von der Sächsischen Gemeindeordnung, der zu allen wichtigen Angelegenheiten, die den Stadtbezirk betreffen, vom Stadtrat und seinen Ausschüssen anzuhören ist. Vorsitzender des Stadtbezirksbeirats ist der Oberbürgermeister oder eine von ihm beauftragte Person. Diese beauftragte Person ist in der Regel die Leiterin oder der Leiter der Verwaltung des Stadtbezirks (Stadtbezirksamtsleiter). Die ehrenamtlich tätigen Mitglieder der Stadtbezirksbeiräte werden direkt gewählt. Die Stadtbezirksbeiräte (als Personen) müssen ihren Hauptwohnsitz im jeweiligen Stadtbezirk haben. Der Stadtbezirk mit der größten Bevölkerung ist der von Blasewitz, der flächengrößte der von Loschwitz. Die Dresdner Innenstadt liegt in den Stadtbezirken Altstadt und Neustadt. Bis zu einer Änderung der Hauptsatzung im September 2018 wurden die Stadtbezirke als Ortsamtsbereiche bezeichnet. Entsprechend hießen Stadtbezirksräte, Stadtbezirksämter und Stadtbezirksamtsleiter bis dahin Ortsbeiräte, Ortsämter und Ortsamtsleiter. Bei den neun Ortschaften, die zum Teil ihrerseits aus mehreren Ortsteilen bestehen, handelt es sich – mit Ausnahme der Ortschaften Oberwartha und Schönborn – um erst Ende der 1990er Jahre eingegliederte und bis dahin selbständige Gemeinden. Eine weitere Ausnahme ist der Ortsteil Kauscha, der, bis 1999 zu Bannewitz gehörig, dem Stadtbezirk Prohlis angegliedert wurde. Für die Ortschaften wurden insgesamt fünf Verwaltungsstellen eingerichtet, lediglich die Ortschaft Altfranken wird vom Stadtbezirksamt Cotta mitverwaltet. Je Ortschaft existiert ein Ortschaftsrat, der – im Gegensatz zu den Stadtbezirksbeiräten der Stadtbezirke – direkt von den Bürgern der Ortschaft zeitgleich mit dem Stadtrat gewählt wird. Jeder Ortschaftsrat wählt für seine Ortschaft einen Ortsvorsteher. Im Gegensatz zu den Ortsbeiräten haben die Ortschaftsräte eigene Entscheidungskompetenzen und dafür eigene Budgets innerhalb des Stadthaushaltes, über das sie selbst verfügen. Soweit sich ihre Entscheidungsbefugnisse nicht aus der Sächsischen Gemeindeordnung ergeben, regeln die jeweiligen Eingemeindungsverträge im Detail ihre Kompetenzen. Die größte und bevölkerungsreichste Ortschaft ist Schönfeld-Weißig, die sich im Schönfelder Hochland erstreckt. Sie entstand ihrerseits aus mehreren ehemaligen Gemeinden, die sich in den 1990er Jahren zunächst als Gemeinde Schönfeld-Weißig vereinigt hatten. Die jahrelang nur inoffiziell diskutierte „Einführung der Ortschaftsverfassung für das gesamte Stadtgebiet Dresdens“ war 2014 ein Wahlkampfthema und sollte zur darauffolgenden Stadtratswahl 2019 eingeführt werden. Die Änderung der Sächsischen Gemeindeordnung im Jahr 2018, durch die die Rechte der Ortsbeiräte gestärkt werden, verhinderte letztlich die Einführung der Ortschaftsverfassung. Dresdner Stadtbezirke, Ortschaften und Stadtteile im Detail Namensherkunft der Ortsteile Viele Stadtteilnamen sind wie der Stadtname Dresden sorbischer Herkunft. Typische Endungen der Namen sind „-itz“ und – ursprünglich eine Suffixverbindung mit dem Vorigen – „-witz“. Beide Endungen haben adjektivische Funktion; erstere sind Ableitungen von Appellativen, letztere von Personennamen und sind damit Patronyme. -nitz ist etymologisch keine eigene Endung, sondern eine Verbindung von stammauslautendem -n mit der Endung -itz. Die im Gefolge der Ostsiedlung eingedeutschten Endungen gehen somit häufig auf ursprüngliche (mittelalterliche) Besitzverhältnisse zurück. Leutewitz zum Beispiel wurde erstmals als Ludiwice „bei den Ludischen, das heißt bei den Leuten des Lud, Dorf des Lud“ erwähnt. Pillnitz hieß ursprünglich Belenewitz „Dorf des Belan“. Andere Stadtteilnamen sind aus geografischen Merkmalen gebildet worden; so bedeutet Klotzsche „gerodeter Wald“. Sehr wenige Ortsbezeichnungen wie Langebrück haben ihren Ursprung tatsächlich in der deutschen Sprache. Die (neueren) Ortsbezeichnungen „Weißer Hirsch“ und „Wilder Mann“ gehen beide auf Gastwirtschaften zurück, die sich in diesen Randlagen der Stadt befanden. Die Stadtteilbezeichnung Gittersee ist eine Volksetymologie und entwickelte sich aus dem slawischen „Geterssin“. Politik und Verwaltung Grundlagen Die insgesamt 70 Stadträte Dresdens werden nach dem in Sachsen auf kommunaler Ebene üblichen Personen-Mehrstimmenwahlsystem mit drei Stimmen – wobei Kumulieren und Panaschieren möglich ist – für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Die Stadt selbst wird dabei vor jeder Kommunalwahl in Wahlkreise aufgeteilt, die sich an einer annähernden Gleichzahl der Stimmberechtigten orientieren, womit sich allerdings ihre Grenzen von Wahl zu Wahl verschieben. Die Sitzverteilung im Stadtrat wird nach dem D’Hondt-Verfahren berechnet ( KomWG) und auf dieser Grundlage, zunächst über die jeweilig höchste Stimmzahl der Wahlliste in den Wahlkreisen und anschließend die persönlich erreichte Stimmzahl auf der Wahlliste innerhalb des Wahlkreises, wiederum die gewählte Person oder die gewählten Personen bestimmt. Hauptorgan der Stadt ist der Stadtrat; er nimmt satzungsgebende Kompetenzen wahr und erlässt allgemein geltende Verordnungen, definiert die Grundlagen und fasst die Beschlüsse, nach denen die Stadtverwaltung (einschließlich Oberbürgermeister) zu handeln hat. Als Organ bestimmt er direkt über solche Angelegenheiten, die nicht im Kompetenzbereich des Oberbürgermeisters liegen. Die Mitglieder der einzelnen Parteien im Stadtrat bilden Fraktionen. Die Stadträte arbeiten in elf beschließenden Ausschüssen und einem beratenden Ausschuss und wirken außerdem in sieben Beiräten mit. Dem einzelnen Mitglied stehen umfangreiche Frage- und Auskunftsrechte zu sowie mit weiteren gemeinsam ein Akteneinsichtsrecht. Der Oberbürgermeister wiederum ist allein für die Weisungsaufgaben nach Bundes- und Landesrecht zuständig. Er leitet die Stadtverwaltung, verantwortet laufende Tagesgeschäfte und repräsentiert die Stadt. Entsprechend den Regelungen der Sächsischen Gemeindeordnung (SächsGemO) wird er für eine Amtszeit von sieben Jahren direkt von den Bürgern gewählt. Ihm zur Seite gestellt sind sieben Beigeordnete, die für einzelne Geschäftskreise zuständig sind und diese eigenverantwortlich leiten. Sie führen den Titel „Bürgermeister“, wobei der „Erste Bürgermeister“ den Oberbürgermeister ständig vertritt. Dies kam Ende 2014 bis Mitte 2015 voll zum Tragen, da die Oberbürgermeisterin Helma Orosz aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in den Ruhestand gegangen war. Ihr Stellvertreter, der seit 2008 Erste Bürgermeister Dirk Hilbert (FDP), wurde im zweiten Wahlgang am 5. Juli 2015 mit 54,2 % der Stimmen zum neuen Oberbürgermeister gewählt. Für Senioren, Ausländer und Behinderte sowie für geheimzuhaltende Angelegenheiten hat der Stadtrat Beiräte berufen, letzterer hat jedoch seit 1994 bis heute kein einziges Mal getagt. Die Stadtverwaltung Dresden zählte im Jahr 2021 ca. 7.400 Mitarbeiter, 2010 waren es noch etwa 6.200. Sie sind auf mehr als 50 Standorte in der Stadt verteilt. Historische Entwicklung der städtischen Verwaltung An der Spitze der Stadt gab es seit dem 13. Jahrhundert (1292) einen Rat mit einem Bürgermeister. Dieser wurde vom Rat gewählt und wechselte jährlich. Er war ehrenamtlich tätig. Besonderen Einfluss auf das Umland konnte die Stadt über das Dresdner Brückenamt der Kreuzkirchgemeinde ausbauen, das in Konkurrenz zum Kloster Altzella Güter und Dörfer insbesondere auf dem späteren Stadtgebiet erwarb. Nach Einführung der Allgemeinen Städteordnung des Königreichs Sachsen im Jahr 1832 gab es neben dem Bürgermeister noch gewählte Stadträte. Wie Köln und München überschritt Dresden 1852 als vierte deutsche Stadt nach Berlin, Hamburg und Breslau die 100.000-Einwohner-Grenze, wodurch die Stadt zur Großstadt wurde. 1853 wurde Bürgermeister Friedrich Wilhelm Pfotenhauer erstmals der damals den Großstädten vorbehaltene Titel Oberbürgermeister verliehen. 1874 schied die Stadt aus der Amtshauptmannschaft aus und wurde eine „exemte Stadt“ (kreisfreie Stadt). Sie blieb weiterhin Sitz der Amtshauptmannschaft Dresden (bzw. beider AHM Dresden-Altstadt und -Neustadt) sowie der Kreishauptmannschaft Dresden. Mit der DDR-Kreisreform wurde Dresden 1952 als Stadtkreis definiert; der Kreis Dresden-Land erhielt einen neuen Zuschnitt, mit dem er bis zu seiner Auflösung Anfang 1996 fortbestand. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden Oberbürgermeister und Ratsherren entsprechend der Deutschen Gemeindeordnung von der NSDAP eingesetzt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte die sowjetische Stadtkommandantur 1945 zunächst eine Verwaltung ein. Im September 1946 wurde als Stadtvertretung eine Stadtverordnetenversammlung gewählt. Bei späteren Wahlen bis 1989 traten alle Parteien und Organisationen auf einer gemeinsamen Liste der Nationalen Front auf. Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland wurde das zunächst weiterhin als Stadtverordnetenversammlung, seit 1994 als Stadtrat bezeichnete Gremium wieder frei gewählt. Vorsitzender dieses Gremiums war von 1990 bis 1994 ein besonderer Präsident (beziehungsweise eine Präsidentin: Evelyn Müller, CDU). Die Wahl des Oberbürgermeisters war Sache der Stadtverordnetenversammlung. Nach Einführung der Süddeutschen Ratsverfassung in Sachsen ist seit 1994 der nunmehr direkt vom Volk gewählte Oberbürgermeister zugleich Vorsitzender des Stadtrates. Amtsinhaber ist seit 2015 Dirk Hilbert von der FDP, der sich 2015 im zweiten Wahlgang mit 54,2 % der Stimmen gegen Eva-Maria Stange (SPD) durchsetzte. Im Jahr 2022 konnte sich Dirk Hilbert im zweiten Wahlgang erneut gegen seine vier Mitbewerber durchsetzen. Die beiden Wahlgänge der Oberbürgermeisterwahl 2022 ergaben folgende Ergebnisse: Stadtrat Bei der letzten Kommunalwahl am 26. Mai 2019 wurde folgender Stadtrat gewählt: Im Stadtrat haben sich folgende Fraktionen gebildet: CDU (einschließlich Freie Bürger, 14 Mitglieder), Grüne (13 Mitglieder), AfD (12 Mitglieder), Linke (12 Mitglieder), SPD (6 Mitglieder), FDP (5 Mitglieder), FW (4 Mitglieder). Das Ratsmitglied der Piraten und das Ratsmitglied der Partei waren bis 18. Mai 2021 fraktionslos. Danach folgte der Zusammenschluss mit zwei Stadträten der Grünen zur Dissidenten-Fraktion. Fortan war die Fraktion aus CDU und Freien Bürgern größte Fraktion. Nach zwei Fraktionsaustritten aus der CDU-Fraktion ist die offizielle Sitzverteilung erneut verändert. Polizei und Justiz Die Polizeidirektion Dresden sitzt im Polizeipräsidium nahe dem Pirnaischen Platz. Das Amtsgericht Dresden befindet sich im Bezirk des Landgerichts Dresden; übergeordnet ist das Oberlandesgericht Dresden. Weitere Gerichte sind das Verwaltungsgericht Dresden, das Arbeitsgericht Dresden und das Sozialgericht Dresden. Seit 1559 bestand das Sächsische Appellationsgericht in Dresden. Ab 1835 wurde es durch das Oberappellationsgericht Dresden abgelöst, dem das Appellationsgericht Dresden und das Bezirksgericht Dresden nachgeordnet waren. Zu DDR-Zeiten gab es das Bezirksgericht Dresden sowie das Landesverwaltungsgericht Sachsen mit Sitz in Dresden. Die Justizvollzugsanstalt Dresden befindet sich der Dresdner Albertstadt. Stadtwappen und -flagge Die Flagge der Stadt zeigt das Stadtwappen auf einem schwarz-goldenen Flaggentuch. Kommunalpolitische Themen mit überregionaler Resonanz Jüngere Vergangenheit Waldschlößchenbrücke Über den Bau einer neuen Elbquerung, der Waldschlößchenbrücke entbrannte eine heftige Diskussion, als die UNESCO den Brückenbau als so wesentlich ansah, dass sie die 2004 aufgenommene Weltkulturerbestätte nur zwei Jahre später auf die Rote Liste des gefährdeten Welterbes setzte. Im November 2007 war Baubeginn, im August 2013 erfolgte dann die Eröffnung der neuen Elbbrücke. Dresden verlor als einzige Stätte weltweit den Titel als Weltkulturerbe 2009. Schuldenfreie Stadt durch WOBA-Verkauf Im März 2006 wurde der, auf Initiative des damaligen Oberbürgermeisters Ingolf Roßberg gestarteten und nach einem umfangreichen Verfahren 2005 durch den Stadtrat beschlossenen Verkauf der Wohnungsbaugesellschaft Woba Dresden mit 47.000 Wohnungen an die US-amerikanische Investmentgesellschaft Fortress Investment Group durch die Aufsichtsbehörde genehmigt. Mit einem erzielten Netto-Erlös von ca. 988 Mio. Euro wurde Dresden zur ersten faktisch schuldenfreien Großstadt Deutschlands. Der Verkauf war umstritten und löste ein breites Medienecho aus. Abgesichert wurde er mit einer umfangreichen Sozialcharta, unter anderem einem kostenfreien Belegungsrecht für 8000 Wohnungen für insgesamt 20 Jahre, sowie, um die Mieter zu schützen, zahlreichen Einschränkungen hinsichtlich Kündigungen und Mietpreiserhöhungen. Am 21. Juni 2007 nahm der Stadtrat mit 37 zu 12 Stimmen (bei 9 Enthaltungen) ein Verschuldungsverbot in die Hauptsatzung auf. Während 2006, zum Zeitpunkt des Verkaufs, der Dresdner Immobilienmarkt durch einen hohen Leerstand gekennzeichnet war, haben in den letzten Jahren Investoren wie Capital Holding S.A., Intershop Holding (MiKa-Quartier), Adler Real Estate (Hufewiesen Alttrachau) oder die Immokles AG (Lingner Altstadtgarten Dresden) den Wohnungsmarkt in Dresden als renditeträchtige Anlageform entdeckt. Mittlerweile lag zwischenzeitlich 2018 die durchschnittliche Dresdner Wohnkostenquote mit 32 % des Gesamteinkommens für Familien höher als in Stuttgart und auf dem geteilten Rang vier gleichauf mit Nürnberg, gleichwohl wurden daraus politische Lösungen, wie der Rückkauf von ehemaligen städtischen Wohnungen oder die (Wieder-)Gründung einer städtischen Wohnungsgesellschaft zwar diskutiert und seitdem zum Teil realisiert: Eine gewisse Zögerlichkeit resultiert daraus, dass etwa 22 % des Wohnungsbestandes der Stadt sich ohnehin im Besitz von Wohnungsgenossenschaften befindet (Stand 2022, prozentual gegenüber 2006 nahezu unverändert), die ihrerseits bereits von ihrem genossenschaftlichen Auftrag her preisgünstige Wohnungen anbieten. Das seit 2007, also nunmehr fast 16 Jahren (Stand: Ende 2022) geltende Verschuldungsverbot der Stadt Dresden ist dabei nach wie vor fraktionsübergreifender Konsens bei den politischen Mandatsträgern im Stadtrat. Gegenwart Neumarkt Die Wiederbebauung des Neumarktes – in welcher Verdichtung und ob modern oder historisiert – steht exemplarisch für das internationale Interesse an der Dresdner Architektur. Die Gesellschaft Historischer Neumarkt Dresden ist wegen dieser Auseinandersetzung gegründet worden. Grundsatzerklärung gegen Rechtsextremismus Der Stadtrat Dresdens verabschiedete am 30. Oktober 2019 eine Grundsatzerklärung gegen Rechtsextremismus. Diese fand in der internationalen wie auch nationalen Berichterstattung unter dem Begriff Ausrufung des Nazi-Notstandes Beachtung. Oberbürgermeister Hilbert distanzierte sich nur wenige Stunden später von diesem Begriff. Die Grundsatzerklärung wurde fraktionsübergreifend mit den Stimmen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke, FDP und Fraktionslosen beschlossen und sieht vor, „demokratische Alltagsstrukturen zu stärken“, „Bürgerschaft und zivilgesellschaftliche Bündnisse, die sich für aktiv für Menschenrechte einsetzen“, zu unterstützen, Opfern rechter Gewalt zu helfen, Täter konsequent zu verfolgen und die Verbreitung menschenfeindlicher und extrem rechter Einstellungen auf öffentlichen Plätzen nicht unwidersprochen zuzulassen. Bundestagsabgeordnete Der Wahlkreis 159 (Dresden I) umfasst die Stadtteile südlich der Elbe mit Ausnahme einiger westlicher Bereiche. In diesem Wahlkreis ist Markus Reichel von der CDU gewählter Abgeordneter. Der Wahlkreis 160 (Dresden II - Bautzen II) schließt alle Stadtteile nördlich der Elbe und einige westliche südlich der Elbe ein und umfasst zusätzlich einige Gemeinden im westlichen Landkreis Bautzen. Abgeordneter dieses Wahlkreises ist Lars Rohwer von der CDU. Weiterhin vertreten von den Landeslisten der jeweiligen Parteien Torsten Herbst (FDP), Rasha Nasr (SPD), Kassem Taher Saleh und Merle Spellerberg (beide Grüne) sowie bis zur Niederlegung ihres Mandats auch Katja Kipping (Linke) die Stadt. Städtepartnerschaften Städtepartnerschaften bestehen mit folgenden Städten: Eine Städtefreundschaft besteht außerdem seit 1976 mit der polnischen Stadt Gostyń in Zusammenhang mit der von dort stammenden Widerstandsgruppe Schwarze Legion. Weitere Städtefreundschaften bestehen zu Daejeon in Südkorea und zu Schiras im Iran. Konsulate und Auslandsvertretungen Neben einem tschechischen Generalkonsulat befinden sich in Dresden die Honorarkonsulate von Dänemark, Ecuador, Finnland, Italien, Kap Verde, Kasachstan, Kroatien, Litauen, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Panama, den Philippinen, der Schweiz, Slowenien, Spanien, Südafrika, Südkorea und Ungarn. Außerdem befindet sich in Dresden ein Institut français. Kultur und Sehenswürdigkeiten Dresden war in den Jahren 2004 bis 2009 Weltkulturerbestätte der UNESCO. Die Stadt beherbergt über 50 Museen, mehr als 35 Theater und Kleinkunstbühnen, herausragende Klangkörper und bekannte Bauwerke verschiedener Kunststile. Großveranstaltungen ziehen jedes Jahr Gäste aus dem In- und Ausland an. Jährlich wird der Kunstpreis der Landeshauptstadt Dresden verliehen. Theater und Bühnen Die Sächsische Staatsoper Dresden im Bauwerk der Semperoper wurde 1841 am jetzigen Standort, dem Theaterplatz, gegründet. Das Gebäude wurde in seiner Geschichte zweimal zerstört. Insgesamt war die Staatsoper in mehr als 50 Jahren ihrer etwa 160-jährigen Geschichte gezwungen, an einem anderen Ort als der Semperoper zu spielen. In der Semperoper und ihren Vorgängerbauten wurden Opern unter anderem von Richard Wagner und Richard Strauss uraufgeführt. Das Orchester der Oper ist die Sächsische Staatskapelle (siehe Abschnitt Musik). Die Semperoper verfügt außerdem über eine Kammerbühne, „Semper Zwei“. Das Staatsschauspiel Dresden betreibt das „Schauspielhaus“ – allgemein als das „Große Haus“ bekannt – und damit das größte Theater der Stadt sowie das „Kleine Haus“ in der Glacisstraße. Am Theaterplatz befindet sich der Theaterkahn, eine Bühne auf einem Elbschiff. Die Staatsoperette Dresden hat seit Dezember 2016 ihr Haus im Kraftwerk Mitte. Entgegen ihrer Bezeichnung ist die Stadt Besitzer und Betreiber der Operette. Die bedeutenden Kabaretttheater der Stadt sind „Die Herkuleskeule“, „Dresdner Friedrichstatt Palast“, die „Comödie Dresden“ und das „Boulevardtheater Dresden“. Theater für moderne Formen von Aufführungen sind das Theater Junge Generation, zu dem auch ein Puppentheater gehört, das neubauLABOR im Kleinen Haus des Staatsschauspiels und insbesondere das Festspielhaus Hellerau, in dem sich das Europäische Zentrum der Künste befindet. Weitere Theater und Aufführungsstätten sind das Societaetstheater, das Studententheater Die Bühne, „Das Projekttheater“ sowie die „Theaterruine St. Pauli“ in der Neustadt und das „Boulevardtheater Dresden“. Die Kulturvereine „Mimenstudio Dresden e. V.“, „Kulturverein riesa efau“ und die „Motorenhalle – Projektzentrum für zeitgenössische Kunst“ zeigen ebenfalls Aufführungen; auch das Tanztheater Derewo ist in Dresden beheimatet. Musik In Dresden sind mehrere Orchester und Chöre zu Hause. Die Sächsische Staatskapelle Dresden geht auf die Königliche Hofcantorey zurück. Diese wurde von Moritz von Sachsen bereits 1548 gegründet. Anfang des 17. Jahrhunderts begann die Dresdner Hofkapelle Opernaufführungen zu begleiten, ihr Kapellmeister Heinrich Schütz komponierte und führte mit ihr 1627 in Torgau die erste deutschsprachige Oper Daphne auf. Das Textbuch schrieb Martin Opitz nach der italienischen Oper des Jacopo Peri. Johann Georg Pisendel, seit 1728 Konzertmeister, führte eine „neuzeitliche Orchesterleitung“ ein, wodurch das Orchester in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Europa führend wurde. Musikdirektoren im 19. Jahrhundert wurden unter anderen Carl Maria von Weber, Heinrich Marschner sowie als Assistent Richard Wagner. Seit September 2012 ist Christian Thielemann Chefdirigent. Die Dresdner Philharmonie, das Konzertorchester der Stadt, wurde 1871 gegründet. Bis 1915 trug das Orchester den Namen „Gewerbehaus-Kapelle“, bis 1923 „Dresdner Philharmonisches Orchester“. Chefdirigenten in jüngerer Zeit waren unter anderen Kurt Masur und Marek Janowski. Derzeitiger Chefdirigent ist Michael Sanderling. Die Dresdner Sinfoniker wurden 1996 von Sven Helbig und Markus Rindt gegründet. Das Orchester widmet sich der zeitgenössischen Musik sowie dem Crossoverbereich. 2004 wurde es mit dem Echo Klassik ausgezeichnet und vertonte zusammen mit den Pet Shop Boys den Film Panzerkreuzer Potemkin neu. Weitere Orchester sind das „ensemble courage“, ein Ensemble für zeitgenössische (Kammer-)Musik, 2004 mit dem Förderpreis der Stadt Dresden ausgezeichnet, Sinfonietta Dresden, ein Kammerorchester mit vielfältigen Aufgaben im städtischen Musikleben und einer eigenen Konzertreihe, das Dresdner Barockorchester, die Dresdner Kapellsolisten sowie die Virtuosi Saxoniae. Das Dresdner Festspielorchester ist ein 2012 für die Dresdner Musikfestspiele gegründetes, international besetztes Ensemble unter der Leitung von Ivor Bolton, es hat 2016 seine erste eigene CD veröffentlicht. In Dresden haben zwei berühmte Chöre mit langer Geschichte ihre Heimat: Der Dresdner Kreuzchor (Capella sanctae crucis) ist zwar Knabenchor der Kreuzkirche und wird mit dieser identifiziert, ist jedoch seit seiner Gründung bis heute ein städtischer Chor. Nach dessen eigener Darstellung sei er so alt wie die Stadt selbst und im 13. Jahrhundert gegründet worden (was allerdings so nicht zutrifft). Der Knabenchor der Kathedrale (ehemalige Hofkirche) wiederum sind die Dresdner Kapellknaben, der jedoch im Gegensatz zum Kreuzchor ein kirchlicher Chor ist. Weitere Chöre in Dresden sind: Dresdner Kammerchor – international renommierter Chor mit einem breiten Repertoire (Alte Musik über Romantik bis zu Uraufführungen), gegründet (1985) und geleitet von Hans-Christoph Rademann Das Sächsische Vocalensemble – 1996 gegründet mit dem Schwerpunkt Alte Musik und geleitet von Matthias Jung. Philharmonische Chöre Dresden – 1967 gegründet, arbeiten hauptsächlich mit der Philharmonie zusammen, derzeitiger Leiter ist Gunter Berger Knabenchor Dresden – gegründet im Jahr 1971 durch Studienrat Manfred Winter, geleitet von Matthias Jung Singakademie Dresden – einer der bedeutendsten Laienchöre Mitteldeutschlands, hervorgegangen aus dem 1884 gegründeten Dresdner Lehrergesangverein, bestehend aus Kinder-, Kammer-, Oratorien- und Seniorenchor, geleitet von Ekkehard Klemm Chorus 116 Sven Helbig ist zugleich Produzent der Band Polarkreis 18, der 2008 als erster Dresdner Band mit Allein Allein ein Nummer-eins-Hit in den deutschen Singlecharts gelang. In den 1970er Jahren war Dresden mit Bands wie electra und Lift ein Zentrum der Rockmusik in der DDR. Die Mitglieder dieser Bands waren vorrangig Studenten der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber. Hier begann unter anderem Veronika Fischer ihre musikalische Karriere. Anfang der 1990er Jahre galten die Freunde der italienischen Oper unter vielen Journalisten als beste und innovativste Band der neuen Länder. Ray & the Rockets veröffentlichten im Jahre 1998, 44 Jahre nach der „Erfindung“ des Rock ’n’ Roll den ersten Rock-’n’-Roll-Tonträger Dresdens. Bekannte Komponisten, die in Dresden wirkten, sind zum Beispiel Fritz Geißler, Jörg Herchet, Heinrich Schütz, Richard Wagner, Carl Maria von Weber und Jan Dismas Zelenka. Einige Komponisten haben in Dresden ihren Wohnsitz, darunter Thuon Burtevitz, Alexander Keuk, Wilfried Krätzschmar, Karoline Schulz, Jorge García del Valle Méndez und Udo Zimmermann. Museen und Galerien Dresden hat eine vielseitige Museumslandschaft – eine Komposition von historisch gewachsenen und wertvollen jüngeren Einrichtungen. Der über Jahrhunderte anhaltende kulturelle Beitrag Dresdens wird mit etwa 50 Museen repräsentiert, darunter viele halbstaatliche und private Institutionen. Landesmuseen Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) enthalten die bekanntesten Museen der Stadt. Die zentralen Einrichtungen der Kunstsammlungen sind das Residenzschloss und der Zwinger. Die Gemäldegalerie Alte Meister befindet sich seit 1855 im Semperbau des Zwingers. Das berühmteste Exponat ist die Sixtinische Madonna von Raffael, die ursprünglich 1512/13 als Altarbild gemalt wurde. Mit weiteren Werken unter anderen von Rembrandt, Rubens und Canaletto führt die Galerie Bilder der Renaissance und des Barock. Der Begriff „Alte Meister“ soll dabei die epochale Abgrenzung zu den Malern der Galerie Neue Meister späterer Epochen schaffen. Zu den Neuen Meistern zählen Maler wie Caspar David Friedrich, Max Liebermann, Max Slevogt, Otto Dix und Künstler der Gruppe Brücke. Damit führt die Galerie Werke der Romantik, des Impressionismus und des Expressionismus. Im Gegensatz zu den Alten Meistern hatten bei den Künstlern dieser Galerie sehr viele einen persönlichen Bezug zu Dresden, indem sie an der Kunstakademie studierten, lehrten oder hier lebten. Eine weitere Einrichtung der SKD ist das Grüne Gewölbe. Es beherbergt die Sammlung der sächsischen Kurfürsten und Könige. Der Schatz in Form von Schmuck und repräsentativen Ausstellungsstücken ist eine Sammlung europäischer Goldschmiedekunst und des Feinhandwerks. Die wohl bekanntesten Werke entstanden durch den Hofgoldschmied Johann Melchior Dinglinger und seine Söhne. Der Hofstaat zu Delhi am Geburtstag des Großmoguls Aurang-Zeb zählt zu den herausragenden Stücken der Sammlung. Besonders bekannt ist der mit 185 menschlichen Köpfen beschnitzte Kirschkern. Ein besonderes Museum der SKD ist der Mathematisch-Physikalische Salon, der sich ebenfalls im Zwinger befindet. Er enthält mathematische und physikalische Instrumente aus der Zeit des Barock und der Aufklärung sowie Globen und astronomische Kartografien. Er ist eines der frühesten Zeugnisse für die Verbindung von Kultur und Wissenschaft in Dresden und wurde 1728 aus der allgemeinen Kunstsammlung ausgegründet. Die Grundlagen dieser Sammlung wurden dort schon Jahrhunderte vorher gelegt. Weitere Einrichtungen der Kunstsammlungen sind das Kunstgewerbemuseum im Schloss Pillnitz, das Kupferstichkabinett mit dem Josef-Hegenbarth-Archiv, das Museum für Sächsische Volkskunst, die Porzellansammlung – eine Sammlung von Meissener Porzellan –, die Puppentheatersammlung, die Skulpturensammlung und die Kunsthalle im Lipsius-Bau. Nationale Museen Das Deutsche Hygiene-Museum dient seit seiner Gründung 1912 der gesundheitlichen, humanbiologischen und medizinischen Aufklärung der breiten Bevölkerung. Bekanntestes Exponat ist die Gläserne Frau, die einen plastischen Einblick auf alle inneren Organe zulässt. Im Norden der Stadt, in der ehemaligen Kasernenvorstadt Albertstadt, liegt das Militärhistorische Museum der Bundeswehr. Es wurde von 2006 bis 2011 nach Plänen von Daniel Libeskind umgebaut (siehe Moderne Bauwerke). 10.000 Objekte bezeugen Kulturgeschichten der Gewalt. Die Sammlung umfasst Waffen und Kriegsgeräte aus mehreren Jahrhunderten. Städtische Museen Das Stadtmuseum Dresden und die Städtische Galerie Dresden sind im Landhaus (dem ersten Tagungsgebäude für die Landstände) am Pirnaischen Platz untergebracht. Weitere Museen in städtischer Verantwortung sind die Technischen Sammlungen, das Carl-Maria-von-Weber-Museum, das Kraszewski-Museum, das Kügelgenhaus – Museum der Dresdner Romantik, das Schillerhäuschen, das Palitzsch-Museum, Leonhardi-Museum und das Kunsthaus Dresden. Literatur Besonders erwähnenswert unter den Autorinnen und Autoren, die zumindest einen Teil ihres Lebens in Dresden verbracht haben, sind Volker Braun, Heinz Czechowski, Durs Grünbein, Ralf Günther, Erich Kästner, Victor Klemperer, Theodor Körner, Karl Mickel, Ludwig Renn, Friedrich Schiller, Ingo Schulze, Ludwig Tieck und Józef Ignacy Kraszewski. Bekannte Autoren, die zurzeit in Dresden ihren Wohnsitz haben, sind zum Beispiel Marcel Beyer, Undine Materni, Thomas Rosenlöcher, Volker Sielaff, Uwe Tellkamp, Jens Wonneberger und Michael Wüstefeld. Einmal im Jahr schreibt Dresden den Dresdner Stadtschreiber aus. Der ausgewählte Schriftsteller lebt jeweils für sechs Monate in der Stadt. Alle zwei Jahre wird der Dresdner Lyrikpreis ausgelobt. Darüber hinaus widmen sich in Dresden ansässige Vereine der Förderung der zeitgenössischen Literatur, so die Literarische Arena, das Literaturbüro und das Literaturforum Dresden. Bibliotheken Die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden befindet sich im Süden der Stadt auf dem Campus der Technischen Universität. Sie entstand 1996 aus dem Zusammenschluss der Dresdner Universitätsbibliothek mit der Sächsischen Landesbibliothek, die 1556 als Hofbibliothek gegründet wurde. Sie gehört mit etwa neun Millionen Bestandseinheiten zu den größten Bibliotheken in Deutschland und hat das Pflichtexemplarrecht für in Sachsen erschienene und erscheinende Bücher. In der Bibliothek befindet sich die Deutsche Fotothek. Hochschulbibliotheken bestehen an der Hochschule für Wirtschaft und Technik, an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber, an der Hochschule für Bildende Künste sowie am gemeinsamen Campus der Berufsakademie Dresden und der Evangelischen Hochschule Dresden. Die Stadt verfügt mit den Städtischen Bibliotheken über eine der am intensivsten genutzten Bibliotheken in Deutschland. Jährlich verleiht sie 5,4 Millionen Medien. Neben der Zentralbibliothek bestehen 19 Stadtteilbibliotheken und eine Fahrbibliothek. Bedeutende Archive in Dresden sind das Stadtarchiv und das Hauptstaatsarchiv. Kinos In Dresden gibt es 18 Kinos mit rund 10.700 Sitzplätzen. Mit dem CinemaxX in Blasewitz (2000 eröffnet), dem UCI im Elbe-Park (1997 eröffnet) und dem Ufa-Kristallpalast an der Prager Straße (1998 eröffnet) existieren insgesamt drei Multiplex-Kinos. Nach deren Eröffnung war Dresden mit über 12.000 Kinositzen in den Jahren 2001 und 2002 die deutsche Stadt mit über 200.000 Einwohnern mit den meisten Plätzen pro Einwohner. Nach einem Bevölkerungswachstum lag Dresden im Jahr 2010 in dieser Statistik auf Platz drei hinter Augsburg und Magdeburg. Besonders der UFA-Palast ist architektonisch interessant; der vom Architekturbüro Coop Himmelb(l)au entworfene auffällige „Glaskristall“ (siehe Abschnitt Bauwerke) steht direkt neben dem ebenso markanten Rundkino aus DDR-Zeiten. Trotz der Häufung von Multiplex-Kinos bestehen weiterhin verschiedene Programmkinos und mit der Schauburg in der Neustadt ein großes „klassisches“ Kino. Trotz der Konkurrenz wurde beispielsweise die Schauburg wiederholt bei Umfragen eines Stadtmagazins zum beliebtesten Kino gewählt. Unter den Programmkinos sind vor allem das Programmkino Ost, das Kino im Dach, das Kino im Kasten und das Thalia zu nennen. Im Jahr 2006 wiedereröffnet wurde das Kino in der Fabrik (kurz KIF), das jedoch kein reines Programmkino ist. Erwähnenswert ist dessen ungewöhnliches Ambiente in einer ehemaligen Fabrik, das unter anderem durch eine ausgefallene Farbgebung besticht. Bauwerke Dresden ist bekannt als Stadt des Barock, wobei Dresden mit Ausnahme der Inneren Neustadt keine Barockstadt im eigentlichen fachlichen Sinne ist. Im Bereich der Architektur hat sich der Dresdner Barock entwickelt, wobei die erhaltenen Bauwerke meist für sächsische Monarchen errichtet worden und teilweise dem Neobarock zuzuordnen sind. Für den originalen bürgerlichen Barock gibt es einige erhaltene Beispiele. Auf der anderen Seite werden viele Gebäude irrtümlich dem Barock zugeordnet: So sind weite Bereiche der Stadt entweder im Stil der Renaissance oder des Klassizismus, vor allem aber im Neobaustil des Historismus nach der Barockzeit errichtet worden. Der eigentlichen barocken Zielsetzung einer Einordnung in klare symmetrische Formen entgegengestellt, achtete man bei der Stadtplanung auf Freiräume für die Elbe. Kulturelles Erbe Die Stadt wurde neben gotischen Bauten (Ursprungsbau der Kreuzkirche, abgerissene Sophienkirche) und Renaissancebauten (Residenzschloss Dresden) sowie Bauten des 19. Jahrhunderts vor allem vom Dresdner Barock und seinen großartigen Bauwerken geprägt. Ein Wahrzeichen der Stadt ist die Frauenkirche. Nach der Zerstörung Dresdens am 13./14. Februar 1945 standen nur zwei Seitenmauern um ihren Trümmerberg. Ihre Stätte wird seither als Mahnmal des Krieges wahrgenommen, insbesondere beim alljährlichen Gedenken an den 13. Februar 1945. Seit dem 2005 beendeten Wiederaufbau versteht sich die Frauenkirche zudem als „internationale[s] Symbol für Frieden und Versöhnung“. In den ersten zweieinhalb Jahren nach der Neueröffnung wurde sie von fünf Millionen Menschen besucht, nach sieben Jahren waren es 14,5 Millionen. Kulturelle Wahrzeichen der Stadt sind die Semperoper und der Zwinger. Die Semperoper wurde von 1977 bis 1985 wieder errichtet nach Originalplänen des zweiten Opernbaus (1878 bis 1945) von Gottfried Semper. Sie ist ein Bauwerk des Historismus und trägt vor allem Elemente des Klassizismus. Mit Ausnahme der von 1847 bis 1854 errichteten Sempergalerie wurde der Zwinger von 1711 bis 1728 im barocken Baustil als Ort für königliche Feste sowie Kunstausstellungen auf einer ehemaligen Bastion der Stadtfestung errichtet. Auf der Südseite blieben dabei die Reste der Stadtmauer erhalten. Hier steht das Kronentor, das der königlichen Krone nachempfunden ist. Als eines der ersten Gebäude wurde es nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut und restauriert. Zusammen mit dem Italienischen Dörfchen, der Altstädtischen Hauptwache und der Hofkirche bilden der Zwinger und die Semperoper die architektonische Einheit des Theaterplatzes. Die Brühlsche Terrasse erstreckt sich in der Innenstadt entlang des Elbufers. Sie ist eine Zusammenstellung aus mehreren Bauwerken und befindet sich auf der alten Stadtbefestigung etwa zehn Meter über der Elbe. Die Kasematten, die ehemaligen unzugänglichen Wehranlagen der Stadt, unter der Terrasse sind in Form eines Museums begehbar. Gebäude, die zur Brühlschen Terrasse gezählt werden, sind zum Beispiel das Albertinum, die Kunstakademie und die Sekundogenitur. Am östlichen Ende befinden sich die Jungfernbastei und der Brühlsche Garten. Das Residenzschloss Dresden war Wohnsitz der sächsischen Kurfürsten und später Könige. Es ist im Verlauf seiner Geschichte häufig erweitert und verändert worden. Es weist daher sehr viele Baustile in verschiedenen Flügeln und Teilen des Gesamtbauwerks auf. Die ältesten Strukturen lassen sich auf Stichen des 15. Jahrhunderts erkennen. Der Georgenbau ist dabei einer der wenigen erhaltenen Renaissancebauten in Dresden. Der Wiederaufbau des Schlosses begann 1986 und ist im Jahre 2015 weit fortgeschritten und es wird umfangreich durch die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden genutzt. Als erstes eigenständiges Element der Schlossanlagen konnte der Stallhof fertiggestellt werden. Zur architektonischen Einheit des Schlossplatzes zählen noch die Hofkirche (siehe unten), der Fürstenzug und das erst Ende des 19. Jahrhunderts errichtete Ständehaus. Am Rand der Innenstadt befindet sich der Große Garten, ein Park mit Merkmalen barocker Gartenbauweise und symmetrischer Wegführung, allerdings mit freien Verläufen von Bewaldung. Dort befindet sich das Sommerpalais. Der Große Garten gehörte nicht zum Weltkulturerbe. Am Rande von Dresden, direkt an der Elbe, liegt das Schloss Pillnitz. Dieses besteht aus drei Palais im barocken und chinamodischen Baustil und wurde als Sommerresidenz genutzt. Am Palais an der Elbseite liegt die berühmte Treppe zur Elbe, über die es möglich war, aus der Innenstadt per Gondel an diesem Schloss zu landen. In die europäische Geschichte ging es über die Pillnitzer Deklaration ein. Weltkulturerbe Die Kulturlandschaft Dresdner Elbtal mit einer Ausdehnung von Schloss Pillnitz bis Schloss Übigau wurde im Jahr 2004 durch die UNESCO in deren Liste der Welterbestätten aufgenommenen, 2009 mit dem Bau der Waldschlößchenbrücke jedoch wieder daraus gestrichen. Die UNESCO sah in der Brücke eine Gefährdung der Landschaft als Welterbe. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden im Dresdner Raum bedeutende Bauwerke der Reformbaukunst. Für die daraus besonders hervorzuhebende 1909 gegründete erste deutsche Gartenstadt Dresden-Hellerau laufen seit ca. 2011 Bemühungen, für diesen Dresdner Stadtteil die Aufnahme in das UNESCO-Welterbe zu beantragen. Namhafte Künstler und Architekten wie Richard Riemerschmid, Hermann Muthesius, Theodor Fischer, Kurt Frick und Heinrich Tessenow waren an der Gestaltung der von Karl Schmidt-Hellerau gegründeten Reformsiedlung beteiligt. Sakralbauten Das berühmteste Wahrzeichen der Stadt ist die evangelische Frauenkirche. Sie ist international bekannt als Mahnmal gegen Krieg und als Zeugnis von Versöhnung. Die Frauenkirche wurde nach ihrer Zerstörung am 14. Februar 1945 infolge der Luftangriffe auf Dresden und langjährigem Wiederaufbau, der sich wesentlich über Spendengelder aus der ganzen Welt finanzierte, am 30. Oktober 2005 geweiht. Mit ihrer hohen und breiten Kuppel beherrscht sie das Stadtbild, auf das man von der begehbaren Laterne an der Spitze einen Rundblick werfen kann. Das Original von George Bähr war eines der wenigen hervorragenden Beispiele für bürgerlichen Barock. Die Kirche wurde von 1723 bis 1743 erbaut und ersetzte einen gotischen Vorläufer. Die Bauzeit von 17 Jahren war für damalige Zeiten sicher sehr schnell, wenn man bedenkt, dass der Wiederaufbau mit wesentlich besseren Kränen und Baugeräten etwa zehn Jahre dauerte. Die Kirche in ihrer alten Form wie in ihrem Neubau ist etwas mehr als 91 Meter hoch. Durch den Wiederaufbau der Frauenkirche ist die Katholische Hofkirche wieder das zweithöchste Kirchengebäude der Stadt. Sie wurde zwischen 1739 und 1751 erbaut und im selben Jahr der Heiligsten Dreifaltigkeit („Sanctissimae Trinitatis“) geweiht. Ebenfalls am 13. Februar 1945 zerstört, wurde sie dennoch ab Juni 1945 weiter zur Feier von Gottesdiensten benutzt. 1962 konnte auch das Hauptschiff wieder genutzt werden. 1964 wurde die Hofkirche zur Kon-Kathedrale (so viel wie Mit-Kathedrale) erhoben. Durch den Umzug des Bischofs von Bautzen nach Dresden ist sie seit 1980 Kathedrale des Bistums Dresden-Meißen. Evangelische Hauptkirche ist allerdings die am Südost-Rand des Altmarkts gelegene Kreuzkirche. Sie ist der größte Kirchenbau Sachsens und, durch Zerstörungen oder Brände mit anschließenden Wiederaufbauten in veränderter Form, seit dem 13. Jahrhundert überliefert. Die Sophienkirche, die am Postplatz in unmittelbarer Nähe des Zwingers stand, war eines der wenigen Bauwerke der Gotik in der Stadt. Die Ruine dieser Kirche wurde trotz eines guten Erhaltungszustandes im Rahmen einer sozialistisch-antikirchlichen Einstellung abgetragen und musste der HO-Gaststätte „Am Zwinger“ weichen (von den Dresdnern Fresswürfel genannt), die ihrerseits den Start in die Marktwirtschaft nicht überlebte. Heute geben einerseits der Cholerabrunnen, andererseits durch die Bemühungen bürgerschaftlichen Engagements, Elemente der Busmannkapelle der früheren Sophienkirche Auskunft über den vormaligen Standort. Mit ihr verbunden ist der Sophienschatz im Stadtmuseum Dresden. Auch die in der Südvorstadt gelegene Zionskirche fiel – als damals eine der jüngsten Kirchen in der Stadt – dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Nach der Grundsteinlegung im Jahr 1901 wurde die im Jugendstil errichtete Kirche schließlich im September 1912 geweiht. In der Bombennacht vom 13. Februar 1945 brannte das Gotteshaus völlig aus. In einer Baracke in unmittelbarer Nähe der Ruine fanden ab 1949 Aktivitäten der evangelischen Studentengemeinde statt, die die Räumlichkeiten ab 1956 mit der Zionsgemeinde teilte. Im Juni 1981 wurde mit dem Bau der neuen Zionskirche in der Bayreuther Straße begonnen, der durch die Unterstützung der schwedischen Kirche möglich wurde. Deren feierliche Weihe fand am 31. Oktober 1982 statt. Die kirchenfeindliche Haltung der sozialistischen Zeit hat dazu geführt, dass mehrere Ruinen Dresdner Kirchen in den fünfziger Jahren endgültig beräumt wurden, davon wären einige wiederaufbaufähig gewesen: Neben der Sophienkirche waren dies die Johanneskirche, die Jakobikirche, die anglikanische und die amerikanische Kirche, die Kirche des Ehrlich’schen Gestifts und die Erlöser-Andreas-Kirche, die Reformierte Kirche, die schottische Kirche und in den sechziger Jahren die katholische Kirche des hl. Franziskus-Xaverius in der Inneren Neustadt. Andere Kirchenruinen konnten vor einem Abriss bewahrt und zum Teil wieder aufgebaut werden. Von der im Neorenaissancestil errichteten Trinitatiskirche in Johannstadt wurden der Turm und Mauerreste erhalten und einzelne Räume in den 1990er Jahren, nach Enttrümmerung und Sicherung der Ruine, wieder ausgebaut. Heute dient sie der evangelisch-lutherischen Johanneskirchgemeinde Dresden-Johannstadt-Striesen wieder als Kirchenraum, dem Förderverein als Veranstaltungsort, unter anderem für Konzerte, der Offenen Sozialen Jugendarbeit der Gemeinde als Anlaufpunkt für Kinder und Jugendliche aus dem Stadtteil und fungiert als Ausgabestelle der Dresdner Tafel. Die St.-Pauli-Kirche im Hechtviertel wird von einem gemeinnützigen Verein intensiv als Sommertheater genutzt. Am südlichen Rand der Innenstadt, ebenfalls in der Südvorstadt, liegen die Russisch-Orthodoxe Kirche und die Lukaskirche. In der Inneren Neustadt befindet sich die Dreikönigskirche mit ihrem Totentanzrelief. Ihre Kriegsruine wurde im Zusammenhang mit der Fertigstellung der Neustädter Hauptstraße wieder aufgebaut. Von 1990 bis 1993 war sie Sitz des sächsischen Landtags. Die im Stadtteil Strehlen auf einer Anhöhe am Kaitzbach gelegene Christuskirche entstand in den Jahren 1902–1905. Erbaut von den Dresdner Architekten Schilling & Graebner, stellt sie eine der modernsten und kühnsten Kirchenbauten ihrer Zeit in Deutschland dar und wird der Reformarchitektur zugeordnet. Die Alte Synagoge wurde während der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zerstört. Der Architekt des von 1838 bis 1840 erbauten Sakralgebäudes war Gottfried Semper. Aus dem alten Gebäude konnte nur einer der beiden Davidsterne gerettet werden. Fast exakt am selben Ort entstand der Bau der Neuen Synagoge, die am 9. November 2001 eingeweiht wurde. Moderne Bauwerke In Dresden befinden sich viele Baudenkmäler des 19. und 20. Jahrhunderts. Die neudeutsche Romantik ist ebenso vertreten wie neoklassizistische Bauten und Gebäude der Gründerzeit, des Jugendstils und der Moderne wie Postmoderne. Teilweise bauen diese neuen Bauwerke auf Vorgängern auf beziehungsweise dienen der Erneuerung dieser Bauwerke. In der Gegenwart werden in Dresden wieder Projekte von international bedeutsamen Architekten durchgeführt. Das Gebäude des Sächsischen Landtags besteht aus mehreren Flügeln. Der alte südliche, 1928 bis 1931 errichtete Teil gehört dem Bauhaus-Stil an und beherbergt jetzt die Büros der Abgeordneten. Ursprünglich wurde das Gebäude als Landesfinanzamt errichtet und nach 1945 bis 1990 durch die SED-Bezirksleitung genutzt. Neu errichtet wurden der Glasflügel im Norden und die davorliegende „Neue Terrasse“ an der Elbe. Der Plenarsaal und die Räume für die Sitzung befinden sich entlang des Flusses in diesem Glasanbau. Ein weiteres Gebäude, das der Architektur der Weimarer Republik angehört, ist das 1930 eröffnete Deutsche Hygiene-Museum. Es befindet sich in Verlängerung der Hauptachse des Großen Gartens zwischen diesem und der Innenstadt. Der mehrflügelige Bau nimmt die Symmetrie des barocken Parks auf, ist also bewusst als modernes Bauwerk in die bestehende Stadtlandschaft integriert worden. Er trägt vor allem Stilelemente des späten Historismus und bedient sich als solches bei verschiedenen europäischen Baustilen. Direkt gegenüber dem Landtag befindet sich das Kongresszentrum der Stadt. Es soll die Innenstadt nach Westen hin abschließen, besteht zu großen Teilen aus Glas und nimmt in seiner Form der Fassade die Kurven des Flusses auf. Eine weitere Einrichtung für große Veranstaltungen ist der Kulturpalast, der von 1962 bis 1969 errichtet und 2013 bis 2017 umgebaut wurde. Er schließt den Altmarkt in Richtung der wiedererrichteten Frauenkirche ab und brach vor deren Rekonstruktion die Leere in der entkernten Stadt. Das sonstige Umfeld am Altmarkt wurde durch Gebäude im Stil des Neoklassizismus errichtet. In der nördlichen Albertstadt, dem ehemaligen Garnisonskomplex, befindet sich das Militärhistorische Museum der Bundeswehr. Dessen Bauwerk (das Arsenal), das 1875 das Albertinum in der Altstadt als Zeughaus ersetzte, wurde nach Plänen von Daniel Libeskind erneuert, umgebaut und 2011 wiedereröffnet. Libeskind ist zudem der Architekt des Imperial War Museum North in Trafford bei Manchester. Am 10. November 2006 wurde der nach Plänen von Norman Foster umgebaute und modernisierte Dresdner Hauptbahnhof wiedereröffnet. Wie schon beim Reichstag in Berlin oder dem British Museum wird dabei die alte Struktur und Beschaffenheit des Gebäudes mit neuen Materialien und Formen kombiniert. Das Hauptaugenmerk beim Hauptbahnhof lag auf der Erneuerung des Daches, das mit einem lichtdurchlässigen Teflon-Glasfaser-Gewebe belegt wurde. Dabei heben sich die filigrane Stahlkonstruktion der Bahnhofshalle und der schlicht fallende Stoff gegenseitig hervor. Durch die Dachform des reißfesten Stoffes ergeben sich weitere Einblicke in die Struktur der Stahlträger. Ebenfalls nach Bestrebungen von Foster wurde die lange Zeit mit einem festen Dachbelag überbaute Glaskuppel der Empfangshalle wieder lichtdurchlässig gestaltet. Das Gebäude ist dadurch insgesamt heller und transparenter geworden. Direkt am Hauptbahnhof befindet sich das neuerrichtete Glaskugelhaus. Der Gedanke eines Hauses in Kugelform wurde erstmals 1928 in Dresden verwirklicht. Das für Ausstellungszwecke errichtete Kugelhaus befand sich bis 1938 auf dem Messe- und Ausstellungsgelände, dem heutigen Gelände der Gläsernen Manufaktur. Das neue Kugelhaus, das eine reine Glasfassade hat, soll das Motiv der Kugel wieder aufnehmen. Eines der Gebäude der Moderne ist der Ufa-Kristallpalast des Architekturbüros Coop Himmelb(l)au. Dieses mittlerweile bekannte Büro baute mit diesem Gebäude sein erstes großes Projekt. Es gehört trotz nutzungsbedingter Kompromisse zum Dekonstruktivismus, was vor allem am großen Glaskubus des Baus zu erkennen ist. Weitere bekannte glasbetonende Bauwerke sind zum Beispiel das World Trade Center und die Gläserne Manufaktur von VW, beide am sogenannten „26er Ring“ (Straßenzug um die Altstadt aus Ammonstraße, Wiener Straße, Lennéstraße und Güntzstraße) gelegen. Zu den der Überbetonung des Glases entgegengestellten Bauwerken gehört die Synagoge, ein auch wegen der markanten Lage am alten Standort der 1938 in der Reichspogromnacht zerstörten Synagoge von Gottfried Semper direkt an der Elbe in seiner Gestaltung umstrittenes Gebäude. Sie besteht aus zwei Flügeln, dem Gebets- und Gemeinderaum. Der Gebetsraum ist nach außen fast völlig fensterlos. Auffällig an dem Gebäude sind die verdrehten senkrechten Kanten. Das Gebäude wurde 2001 zum Europäischen Gebäude des Jahres ernannt. In der Auffassung von Glas sehr ähnlich ist die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. Die Auslage- und Lesebereiche der Bibliothek liegen größtenteils unter der Erde. Die einzige echte Fassade des Bauwerks besitzen die beiden aufragenden Riegel, die wenig Fensterfläche aufweisen. Eine natürliche Beleuchtung der Bibliothek wird über Lichtschächte und das große Glasdach des zentralen Lesesaals erreicht. Die Innenarchitektur wirkt ruhig und gleicht der einer Klosterbibliothek mit sehr vielen Nischen, Galerien und Säulen. Am Rande der Innenstadt befindet sich das St. Benno-Gymnasium, einer der ersten Schulneubauten nach 1989. Das von Behnisch Architekten entworfene Gebäude fällt durch seine aufgelockerte und farbige Gestaltung auf. Ein repräsentativer Bau der 1990er ist das Gebäude der sächsischen Landesärztekammer auf der Schützenhöhe. In den Jahren 2016 bis 2019 wurde das Gebäude der ehemaligen Oberpostdirektion saniert. Dabei wurden die Altbauten durch zwei Neubauten ergänzt. Brücken Dresden, beiderseits der Elbe gelegen, weist mehrere Elbbrücken auf. Die berühmteste ist das 1893 fertiggestellte Blaue Wunder (eigentlich Loschwitzer Brücke). Die Stahlfachwerkbrücke gehört zu den technischen Sehenswürdigkeiten und liegt etwa acht Kilometer stromaufwärts der Innenstadt zwischen Loschwitz und Blasewitz. Sie überspannt die Elbe über eine Länge von 141,5 m. Nach jahrelangem politischen und juristischen Tauziehen (siehe Dresdner Brückenstreit) wurde am 24. August 2013 östlich der Innenstadt die neue Waldschlößchenbrücke eröffnet. In der Innenstadt befinden sich vier Straßenbrücken und eine Eisenbahnbrücke: Die Albertbrücke folgt in der Brückenfolge auf die Waldschlößchenbrücke und wurde als letzte der Steinbrücken angelegt. Im Rahmen der spätestens seit 2008 notwendigen Sanierung, die letztlich 2014–2016 erfolgte, wurde die Brücke verbreitert und der ihr nördlich vorgelagerte Rosa-Luxemburg-Platz umgestaltet. Die Carolabrücke folgt etwa 640 Meter weiter. Sie war ursprünglich eine auf steinernen Pfeilern ruhende Bogenbrücke mit Bögen aus Stahlfachwerk, wurde aber nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg durch eine Spannbetonbrücke ersetzt. Diese trägt mit der vierspurigen B 170 eine der wichtigsten Nord-Süd-Verbindungen der Stadt und zudem einen separaten Gleiskörper der Straßenbahn. Zu DDR-Zeiten trug sie den Namen Dr.-Rudolf-Friedrichs-Brücke. Weitere 600 Meter flussabwärts folgt die Augustusbrücke. Sie ist ebenfalls seit ihrem Neubau, eingeweiht 1910 als Friedrich-August-Brücke, eine Stahlbetonbrücke, allerdings historisierend in Bogenbauweise und von außen mit Sandstein verkleidet. An dieser Stelle befand sich im Strom die mittelalterliche steinerne Dresdner Elbbrücke, die 1727–1731 unter August dem Starken aufwendig umgebaut und dann nach ihm benannt wurde. Die Reste der mittelalterlichen Brücke, wie auch der von Pöppelmann umgestalteten Brücke sind teilweise an beiden Elbufern erhalten geblieben. Die Brücke selbst liegt direkt im alten Stadtkern. Die stromabwärts letzte Brücke im Stadtzentrum ist die Marienbrücke, die zunächst eine kombinierte Eisenbahn-Straßenbrücke war. Im Zuge der Neugestaltung der Dresdner Eisenbahnanlagen des auslaufenden 19. Jahrhunderts besteht sie nunmehr aus zwei Brücken: flussaufwärts die eigentliche Marienbrücke, seit 1900 eine reine Straßenbrücke und flussabwärts eine seit ihrer Sanierung (und teilweisem Neubau) fünf- (vorher vier-)gleisige Eisenbahnbrücke. Um beide Brücken zu unterscheiden, meint der heutige Sprachgebrauch mit „Marienbrücke“ die Straßenbrücke, die zweite wird korrekt als „Marien-Eisenbahnbrücke“ bezeichnet. Weiter flussabwärts liegt die zwischen den beiden Weltkriegen errichtete Flügelwegbrücke, die die Stadtteile Kaditz und Cotta verbindet. Der Brückenüberbau wurde 2004 komplett ausgetauscht und trägt nun sechs Fahrstreifen der Westumfahrung Dresdens. Weitere Brücken auf dem Stadtgebiet sind die ebenfalls erneuerte Autobahnbrücke der A 4 sowie die Niederwarthaer Eisenbahnbrücke der Berlin-Dresdner Eisenbahn im äußersten Westen. Beide Brücken haben zusätzlich gesonderte Fuß- und Radwege. Dazu kommt die 2008 fertiggestellte Straßenbrücke zwischen dem Ortsteil Niederwartha und Radebeul, die direkt neben der dortigen Eisenbahnbrücke entstanden ist. Die Fertigstellung einer Vorlandbrücke und die Anbindung der Straßen verzögerte sich bis 12. Dezember 2011, da aus Gründen des Hochwasserschutzes umfangreiche Umplanungen (Verlängerung von ursprünglich geplanten 68 m auf 112 m) an der Vorlandbrücke vorgenommen wurden. Für weitere Elbbrücken gab es seit 1867 teilweise recht detaillierte Planungen, die zugunsten der Waldschlößchenbrücke jedoch immer wieder aufgegeben wurden. Technische Bauwerke An den Elbhängen im Stadtteil Loschwitz befinden sich die beiden Dresdner Bergbahnen. Die Standseilbahn verbindet Loschwitz über eine 547 Meter lange Strecke mit dem 95 Meter höher gelegenen Stadtteil Weißer Hirsch. Auf gegenüberliegender Seite des Nebentals des Loschwitzbachs verbindet die Schwebebahn die Stadtteile Loschwitz und Oberloschwitz. Sie überwindet auf 274 Metern Länge 84 Höhenmeter. Beide Einrichtungen zählen weltweit zu den ersten ihrer Art; die Standseilbahn wurde 1895, die Schwebebahn 1901, als erste Bergschwebebahn der Welt, eröffnet. Die Berghänge machen eine Fahrt mit diesen zu den Dresdner Verkehrsbetrieben gehörenden Fortbewegungsmitteln sehr reizvoll. Die Hänge von Loschwitz gehörten vor 100 Jahren zu den teuersten Wohnflächen in Europa. Nach 1905 entstanden unter dem Stadtbaurat Hans Erlwein zahlreiche Industriebauten, die bewusst so gestaltet waren, dass sie das Stadtbild in der Innenstadt so wenig wie möglich stören. Markantestes Beispiel dafür ist der unter Denkmalschutz stehende Erlweinspeicher, der wenige Meter hinter der Semperoper liegt. Er gehört zu den ersten in Stahlbetonbauweise errichteten Gebäuden. Damit das zehngeschossige Gebäude nicht zu grob wirkt, hat Erlwein das Dach und die Fassade in kleinen Strukturen gebrochen. Im Frühjahr 2006 wurde der Umbau des Speichers in ein Hotel abgeschlossen. Weitere bedeutende Gebäude von Erlwein sind der Gasometer in Reick und der (neue) Schlachthof im Ostragehege, in dem sich seit 1999 die Messe Dresden befindet. Der Alte Schlachthof liegt auf der anderen Elbseite in der Leipziger Vorstadt und wird als Veranstaltungsort für Konzerte genutzt. In Sichtweite des Erlweinspeichers wurde von 1908 bis 1909 die Tabakwarenfabrik Yenidze im Stil einer Moschee erbaut, die ebenfalls unter Denkmalschutz steht. Sie wird immer wieder für einen Sakralbau gehalten. Der Baustil war damals insbesondere wegen der Distanz zur orientalischen Kultur äußerst umstritten. Seit seiner Restaurierung 1996 dient das Gebäude als Bürokomplex. An der Yenidze vorbei führt die Bahnstrecke zwischen Hauptbahnhof und dem Bahnhof Dresden-Neustadt. Sie wurde ähnlich wie die Berliner Stadtbahn auf Viadukten durch die enge Innenstadt gebaut. Bis zur Fertigstellung des durchgängigen Bahnsystems gab es Stichbahnhöfe: den Leipziger Bahnhof und den Schlesischen Bahnhof auf Neustädter Elbseite sowie den Berliner Bahnhof, den Böhmischen Bahnhof und den Albertsbahnhof linkselbisch, die mittels ebenerdiger Bahngleise lose verbunden gewesen waren. Einmalig in seinem Aufbau ist der Hauptbahnhof: Der mittlere Teil ist als ebenerdiger Kopfbahnhof für Züge aus Richtung Leipzig, Nürnberg oder Berlin errichtet. Auf beiden Seiten gibt es aber durchgängige Hochbahnsteige Richtung Prag, mit jeweils zusätzlicher Bahnhofshalle. Das Empfangsgebäude befindet sich auf der Stirnseite des Kopfbahnhofteils zwischen den Durchgangsgleisen. Der Fernsehturm befindet sich am Rand des östlichen Hochlands und ist 252 Meter hoch. Er überragt die Stadt aufgrund der Berglage um etwa 370 Meter und wurde 1969 eröffnet. Bis 1991 befand sich eine gastronomische Einrichtung auf knapp 150 Metern Höhe, also etwa 268 Meter über der Stadt. Ebenfalls am Elbhang, wenngleich am südlichen in der nordwestlich gelegenen Ortschaft Cossebaude, liegt das Pumpspeicherwerk Niederwartha. Es wurde 1930 erbaut und hat eine Leistung von 120 Megawatt. Aus dem oberen Becken strömt das Wasser 143 Meter in das untere, das an der Elbe liegt. Weitere nennenswerte technische Bauwerke sind das Krematorium Tolkewitz, das Wasserwerk Saloppe und das Automatische Parkhaus Dresden-Neustadt, das im Rahmen der zur Fußball-WM 2006 gestarteten Initiative „Deutschland – Land der Ideen“ als einer von 365 repräsentativen Orten ausgezeichnet wurde. Brunnen, Denkmäler und Skulpturen Die bekannteste Skulptur in Dresden ist der Goldene Reiter, ein Abbild Augusts des Starken im römischen Schuppenpanzer hoch zu Ross. Er scheint als König von Polen in Richtung Warschau zu reiten. Das Denkmal befindet sich auf der Hauptstraße in der historischen Neustadt. Das Modell stammt vermutlich von Hofbildhauer Jean Joseph Vinache. Der Kanonenschmied Ludwig Wiedemann (1690–1754) trieb die Figuren 1733 in Kupfer. Im selben Jahr starb August der Starke und erlebte die Aufstellung seines Denkmals nicht mehr. 1735 wurde die erste Feuervergoldung aufgebracht, die Denkmalweihe fand am 26. November 1736 statt. Die Figuren sind heute mit Blattgold beschichtet. Ganz in der Nähe des Goldenen Reiters befindet sich ein Denkmal für Augusts Hofnarren Joseph Fröhlich, und zwar an der Stelle, wo bis 1945 dessen Wohnhaus stand, das sogenannte Narrenhäusel. Aus Dankbarkeit, dass die Stadt von der Cholera verschont blieb, wurde der Cholerabrunnen 1846 auf dem Postplatz errichtet. Aus Platzgründen (der Postplatz war bereits um 1920 das Drehkreuz des Dresdner Straßenbahnnetzes) wurde er später etwas abseits des Platzes in die Nähe der Hofkirche verlegt. Er ist eines der wenigen Bauwerke der Neugotik in Dresden. Am Albertplatz befindet sich ein 240 Meter tiefer artesischer Brunnen, der ursprünglich der Trinkwasserversorgung in der damals stark wachsenden Antonstadt dienen sollte, dies aber nie erreichen konnte. Auf dem Albertplatz befinden sich zwei Zierbrunnen, stadteinwärts links „Stille Wasser“ und „Stürmische Wogen“ stadteinwärts rechts, auf dem parkähnlichen und kreisrunden Albertplatz, zwischen denen sich die Straßenbahnhaltestellen befinden. Eine historische und ebenfalls sehr berühmte Brunnenanlage ist das Nymphenbad im Zwinger. Zur Erinnerung an Opfer des Nationalsozialismus wurden seit 2009 über 100 Stolpersteine verlegt. Die Leistung der Dresdner Frauen bei der Enttrümmerung nach dem Zweiten Weltkrieg wird durch das Denkmal der Trümmerfrau von Walter Reinhold von 1952 gewürdigt. Es steht, nach 1990 in Bronze neu gegossen, in einer Grünanlage vor dem Neuen Rathaus. Dieses Denkmal war das erste seiner Art in der DDR. In Dresden befinden sich etwa 300 Brunnen, Wasserspiele und Fontänen. Darunter sind auch moderne Anlagen wie die „Pusteblumen“ auf der Prager Straße (diese sind den Springbrunnen aus sozialistischen Zeiten nachempfunden, die sich am selben Ort befanden) oder die Brunnen vor dem Hauptbahnhof, in denen sich das Glasdach der darunterliegenden Tiefgarage befindet. Sonstige Alter Jüdischer Friedhof Japanisches Palais Gartenstadt Hellerau mit Festspielhaus Luisenhof in Loschwitz Pfunds Molkerei Königstraße Kunsthofpassage Messe Dresden Sarrasani (zerstört) Schillerhäuschen Städtischer Heidefriedhof Nachbildungen der Kursächsischen Postdistanzsäule aus dem Jahr 1722/32 vom ehemaligen Wilsdruffer Tor (Postplatz) in Zschertnitz und an der Freiberger Straße/Hertha-Lindner-Straße (Telekom) sowie des Kursächsischen Viertelmeilensteins Nr. 1 von der Obergebirgischen Poststraße als Denkmal für den Stadtteil Zschertnitz am Ausgang der Paradiesstraße Ausflugsziele/Erholung Dresden hat sowohl auf eigenem Stadtgebiet als auch im Umland zahlreiche Ausflugsziele. Gerade der touristische Wert der Stadt ergibt sich aus der Nähe zu einigen für sich schon bekannten Regionen oder Bauwerken, wie zum Beispiel Schloss Moritzburg, Meißen, dem Erzgebirge sowie der Sächsischen Schweiz. Dorthin bieten sich vor allem Fahrten mit den neun historischen Raddampfern der Sächsischen Dampfschiffahrtsgesellschaft an – jeder für sich ein Technikdenkmal. Der Schillergarten, eine alte Gaststätte in Blasewitz, liegt direkt neben dem Blauen Wunder. Bekannt ist Friedrich Schillers Verewigung der Tochter des damaligen Wirts als Gustel von Blasewitz in Wallensteins Lager. Der unmittelbar an das Blaue Wunder anschließende Schillerplatz ist eines der bedeutendsten Stadtzentren außerhalb der Innenstadt. Weite Teile des Stadtgebietes dienen der Naherholung; einige Stadtteile sind ehemalige Kurorte. Die Gesamtgröße der Erholungsflächen in Dresden beläuft sich auf 1561 Hektar (30,5 m² je Einwohner). Davon sind 890 Hektar öffentliche Grünflächen und Erholungsanlagen. Des Weiteren existieren in Dresden 369 Kleingartenanlagen auf einer Fläche von 792 Hektar. Ungefähr 50.000 Dresdnerinnen und Dresdner sind aktive Kleingärtner (Stand: Ende 2009). Außerdem gibt es in der Stadt 58 Friedhöfe mit einer Gesamtfläche von 196 Hektar, mehr als 50.000 Straßenbäume sowie etwa 900 öffentlich zugängliche Spielplätze. Im Nordosten der Stadt liegt die Dresdner Heide. Sie bedeckt mit 58 Quadratkilometern etwa 15 % der heutigen Stadtfläche. Sie wird von den Stadtteilen und Ortschaften Klotzsche, Weixdorf und Langebrück umfasst. Südlich schließen direkt an die Dresdner Heide die Elbwiesen an. Diese landwirtschaftlich genutzten, flussnahen Grünflächen durchziehen die gesamte Stadt und bilden damit etwa 5 % des Stadtgebiets. Direkt an die Elbwiesen schließen dabei verlandete Altarme der Elbe an, die ebenfalls weitestgehend Weideflächen, Feucht- oder Trockenwiesen geblieben sind. Etwa einen Kilometer flussaufwärts der Altstadt befinden sich die drei Dresdner Elbschlösser mit ihren Parkanlagen: Schloss Albrechtsberg, Lingnerschloss (Villa Stockhausen) und Schloss Eckberg. Sie bilden den Anfang des Dresdner Elbhangs, der ab dort bis zur Stadtgrenze im Osten verläuft. An diesen Hängen, die teilweise an die Dresdner Heide grenzen, befinden sich 24 Hektar Weinanbauflächen. Zentral auf Altstädter Elbseite liegt der Große Garten, in dem der Zoologische Garten Dresden, die Parkeisenbahn (ehemalige Pioniereisenbahn), der Botanische Garten der TU Dresden und der Carolasee liegen. Der Große Garten ist im Grundriss rechteckig, 1,9 Kilometer lang und knapp 2 Quadratkilometer groß. An den Großen Garten schließen sich weitere Parkanlagen wie die Bürgerwiese und der Blüherpark an, weitere kleine Parks wie der Rothermundt- und der Beutlerpark befinden sich unweit davon in angrenzenden Stadtteilen. Auf der Neustädter Elbseite liegen an der Albertbrücke der Stauden- und der Rosengarten, beide in den 1930er Jahren angelegt. Mit dem Alaunpark und dem Albertpark gibt es auch in der Neustadt zwei große Parkanlagen. Weitere große Parks sind der Waldpark Blasewitz und der Schlosspark Pillnitz, in dem die Pillnitzer Kamelie steht. Der etwa 200 Jahre alte Baum gilt als älteste Kamelie in Europa. Besonders die Zeit der reichen Blüte des Baums zwischen Februar und April zieht viele Besucher an. Freizeit Musische Aktivitäten Das Heinrich-Schütz-Konservatorium Dresden ist die Musikschule der Stadt. Es werden über 7.000 Schüler unterrichtet. Sport Vereinssport in Dresden Ein früher Fußballverein war der Dresden English Football Club. In den Kriegsjahren des Zweiten Weltkriegs konnte der Dresdner Sportclub (DSC) um den Nationalspieler und späteren Bundestrainer Helmut Schön jeweils zweimal den deutschen Pokal (Tschammerpokal) und die deutsche Meisterschaft erringen. Der Dresdner SC spielt mittlerweile nur noch im Amateurbereich. Wesentlich erfolgreicher als die Herrenfußball-Abteilung des DSC ist heute die Damenabteilung des DSC im Volleyball, die seit ihrem Aufstieg in die Bundesliga sechsmal Deutscher Meister und 2010 Sieger des Challenge Cup (Europapokal) wurde. Der heute höchstklassierte Fußballverein SG Dynamo Dresden spielte ab 1968 bis 1991 ununterbrochen in der Oberliga, der höchsten Spielklasse im DDR-Fußball. Insgesamt achtmal gelang der Mannschaft der Gewinn der Meisterschaft. Unter den 98 Europapokal-Spielen war der größte Erfolg das Erreichen des UEFA-Pokal-Halbfinales 1989. Als Vizemeister in der letzten Saison der Oberliga qualifizierte sich Dynamo für die Fußball-Bundesliga, in der der Verein bis 1995 spielte. Dann musste er wegen Lizenzentzugs in die Regionalliga absteigen. Später wurde bei der Reform der Regionalligen der qualifizierende Platz verpasst, wodurch der Verein gezwungen war, in der Oberliga zu spielen. Nachdem Dynamo Dresden zwischenzeitlich in der Regionalliga spielte, pendelt der Verein in den letzten Jahren zwischen der 3. Fußball-Liga und der 2. Bundesliga. Die hohe Schuldenlage aus der Erstligazeit und die geringeren Einnahmen in den unteren Spielklassen führten beinahe zum Konkurs des Vereins, seit 2016 ist er jedoch wieder schuldenfrei. Die Heimspielstätte, das Rudolf-Harbig-Stadion, wurde komplett abgerissen und durch einen 2009 eröffneten Stadionneubau ersetzt. Das neue Stadion war ein Schauplatz der Frauen-Fußball-Weltmeisterschaft 2011 in Deutschland. Erfolgreiche Sportvereine in anderen Sportarten sind die Dresden Monarchs, die in der GFL, der ersten Bundesliga des American Football spielen, der HC Elbflorenz, der in der 2. Handballbundesliga spielt und die Dresdner Eislöwen, die in der DEL2 spielen. Die Abteilung Para-Eishockey (Dresden Cardinals) spielt in der ersten Liga. Dresden ist zudem ein historisches Schachzentrum in Deutschland. Dem Dresdner Schachbund gehören mehr als zehn Schachvereine, teils mit langer Tradition, an; im Jahr 2008 wurde hier die Schacholympiade ausgetragen. Der Snooker-Verein SAX-MAX Dresden spielte von 2013 bis 2016 in der 1. Snooker-Bundesliga. Im Breitensport sehr erfolgreich ist das Dresdner Nachtskaten, das als erste Veranstaltung dieser Art nächtliches Skaten auf verschiedenen Routen durch die Stadt ermöglicht. Diese Veranstaltungen finden den ganzen Sommer über statt. Der älteste Mannschaftsduathlon Deutschlands – der 100km-Duathlon – findet seit 1996 jedes Frühjahr statt und verläuft auf einer 100 km langen Wettkampfstrecke rund um Dresden. Eine Abteilung Rollstuhltanz (Breitensport) gibt es im Tanzclub Saxonia e. V. Dresden (in Kooperation mit dem Verein Eureha e. V.). Darüber hinaus wird im Rollstuhl-Turniertanz trainiert, um an die Erfolge der vergangenen Jahre anzuknüpfen, wo ein Paar mehrfacher Deutscher Meister war und 2004 einen 3. Platz bei der WM in Tokio erreichte. Weitere Vereine sind: FV Dresden 06 Laubegast e. V., Fußball SG Dresden Striesen, Fußball SSV Turbine Dresden e. V., Fußball Dresden Titans, Basketball USV TU Dresden, Mehrspartenverein Alpinsport Sächsischer Bergsteigerbund mit 16.984 Mitgliedern (Stand: 31. Dezember 2021); zweitgrößter Verein in Dresden, größte DAV-Sektion in Sachsen, gegründet am 1. März 1911 Sektion Dresden des Deutschen Alpenvereins mit 6.673 Mitgliedern (Stand: 31. Dezember 2021); zweitgrößte DAV-Sektion in Sachsen, zweitälteste Sektion in Ostdeutschland nach der Sektion Leipzig, gegründet am 9. April 1873 Akademische Sektion Dresden mit 589 Mitgliedern (Stand: 31. Dezember 2021); gegründet am 10. Juni 1901 Sportanlagen Jahrelang wurde die Modernisierung von Sportstätten vernachlässigt. Am 19. November 2007 begann der Abriss des alten Rudolf-Harbig-Stadions. Die zuletzt max. für 23.000 Zuschauer zugelassene Arena wurde durch einen Stadionneubau an gleicher Stelle ersetzt, der am 15. September 2009 fertiggestellt wurde. Das neue Stadion, das als reine Fußballarena konzipiert wurde und in der Regel somit als Fußballstadion, aber teilweise auch für American Football, Konzerte und als Kongressstätte der Zeugen Jehovas genutzt wird, bietet Platz für maximal 32.249 Zuschauer und war Austragungsort von drei Vorrunden- sowie einem Viertelfinalspiel der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen 2011. Das zweite große Stadion ist das Heinz-Steyer-Stadion, das derzeit komplett umgebaut wird. Bis Ende 2023 entsteht eine Multifunktions-Sportstätte, die dann 5.000 überdachte Sitzplätze bietet und mit mobilen Tribünen für große Sportveranstaltungen auf bis auf 15.000 Zuschauerplätze erweiterbar ist. Es liegt im Sportpark Ostra in der Friedrichstadt direkt an der Marienbrücke. Die ohnehin marode Eissporthalle Pieschener Allee wurde durch das Elbhochwasser 2002 in Mitleidenschaft gezogen und durch einen Neubau ersetzt. Der Nachfolgebau, die heutige Joynext-Arena, konnte 2007 eingeweiht werden. Weitere Sportstätten sind die Margon Arena, die BallsportArena sowie weitere Anlagen im Ostragehege, in denen eine Leichtathletikhalle errichtet und einige Tennisplätze hochwassersicher verlegt wurden, außerdem die Schwimmhallen und die Wasserspringhalle am Freiberger Platz. Im Stadtteil Seidnitz gibt es eine Pferderennbahn. Inklusion 2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Puerto Rico ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. Nachtleben Die Äußere Neustadt ist eines der größten erhaltenen Stadtgebiete der Gründerzeit in Deutschland. Gleichzeitig befindet sich dort das mit etwa 175 gastronomischen Einrichtungen größte Szene- und Kneipenviertel der Stadt. Hervorgegangen aus dem schlechten Zustand der Bausubstanz entwickelte sich dort eine alternative Kulturszene in der Stadt. 1989 bildeten einige Bewohner aus Protest eine Interessengemeinschaft gegen die schlechte Wohnraumsituation und Abrisspläne, riefen 1990 die Bunte Republik Neustadt aus und begründeten damit den Charakter eines Szeneviertels. Dort ist die höchste Konzentration an Clubs, Bars und Kneipen in der Stadt. Der Zustand des Viertels hat sich in den letzten Jahren stark verbessert, weshalb es durch sein vielseitiges Kulturangebot zu den beliebtesten Wohngegenden junger Menschen in Dresden zählt. Das Spektrum der Lokale ist sehr vielseitig und reicht von Jazzbar, Indie- und Elektroclubs bis Kleinraumdisko. Auf südlicher Elbseite, in der Nähe der Hochschulen, befinden sich die dreizehn Studentenclubs der Stadt. Die meisten werden vom Studentenwerk Dresden unterstützt, sind aber in der Regel selbständige Vereine. Bereits in den 1960er Jahren ins Leben gerufen, ist der „Bärenzwinger“ im Gewölbe der ehemaligen Kasematten unter der Brühlschen Terrasse einer der ältesten und der einst bekannteste Studentenclub in Dresden. Die anderen Klubs liegen meist an, teilweise in den Wohnheimen sowie in den Mensen der Technischen Universität und der Hochschule für Technik und Wirtschaft. Seit der Verkleinerung des Bärenzwingers im Jahre 2000 zählt heute unter anderem der „Club Mensa“ (CM) zu den bekanntesten Studentenclubs in Dresden. Sehr bekannt ist der 1977 gegründete Jazzclub Tonne, der von 1979 bis 1997 im Tonnengewölbe der Ruine des Kurländer Palais residierte. Danach befand er sich in Gewölbekellern im Waldschlösschen-Areal und in der Inneren Neustadt, wurde nach einer Insolvenz neu gegründet und befindet sich seit 2015 wieder im zwischenzeitlich wiederaufgebauten Kurländer Palais. Große Bekanntheit erreichte ebenfalls der Techno-Club Triebwerk, der sich von 2002 bis 2013 im Felsenkellergelände befand. Im als „Industriegelände“ bekannten Industriegebiet nördlich der Innenstadt in Richtung Klotzsche haben nicht wenige Industriegebäude eine Umnutzung zu Diskothek- und Konzertsälen erfahren (Kulturzentrum Strasse E), so dass sich in dem Gebiet mittlerweile an Wochenend-Nächten mehr Menschen aufhalten als an Arbeitstagen. Zu den bekannten Clubs im Industriegelände gehören unter anderem Sektor Evolution, Objekt klein a und Club Paula. Weitere Clubs und Veranstaltungsorte für Konzerte befinden sich im Areal des Alten Schlachthofs, einem Industriedenkmal in der Leipziger Vorstadt, unter anderem Klub Neu, Alter Schlachthof und Club Puschkin. Weiterhin gehören zum Nachtleben Konzertsäle und -häuser, die dauerhaft oder vorübergehend für Veranstaltungen mit Bühnen genutzt werden. Dauerhafte Konzerteinrichtungen sind der Alte Schlachthof, der bis zu 1800 Besucher fasst, der „Beatpol“ (bis 2007: „Starclub“) in Briesnitz und die Freilichtbühne „Junge Garde“ im Großen Garten. Gelegentlich werden für Konzerte die Messe im Neuen Schlachthof, das Kongresszentrum sowie Teile des Campus der Technischen Universität und der Elbwiesen genutzt. Bei den Filmnächten am Elbufer finden ebenfalls Konzerte statt. Regelmäßige Veranstaltungen In Dresden gibt es das ganze Jahr über verschiedene Festivals und Großveranstaltungen. Insbesondere die musikalischen Veranstaltungen genießen internationale Bedeutung. Stadtteilfeste mit verschiedenem Hintergrund ergänzen dieses Angebot. Frühjahr Im April findet das Filmfest Dresden statt. Es ist ein bedeutendes Festival für Animations- und Kurzfilm. Viel weiter reichende Tradition haben die Dresdner Musikfestspiele, deren ursprüngliche Vorläufer die Musikfeste des barocken Hofs waren. Sie sind als Veranstaltung klassischer Musik deutschlandweit bekannt. 1971 wurde das erste Internationale Dixieland-Festival ausgetragen. Mittlerweile gehört es zu den weltweit bedeutendsten Jazz- und Bluesveranstaltungen. Mit jährlich etwa 500.000 Besuchern ist es außerdem die größte Kulturveranstaltung in Sachsen. Elemente des Festivals wie die Jazzmeile, die sich quer durch die Stadt zieht, sind ohne Eintritt erreichbar. Der Hauptteil des Festivals findet aber auf viele Clubs und Bars verteilt statt. Jedes Jahr im Frühjahr findet die Internationale Tanzwoche Dresden statt. Sie präsentiert seit 1992 Ensembles von internationalem Rang vom Ballett, Tanztheater bis zum zeitgenössischen Tanz an mehreren Spielstätten in Dresden. Sommer Gegenüber der Altstadtsilhouette finden seit 1990 jedes Jahr die Filmnächte am Elbufer statt. Schon beim ersten Mal dauerte die Veranstaltung zehn Tage. Mittlerweile ziehen Filme, Veranstaltungen und Konzerte in rund 60 Tagen 150.000 Zuschauer an, wodurch die Veranstaltung als die größte ihrer Art in Deutschland gilt. Eine Veranstaltung mit politischem Ursprung ist die Bunte Republik Neustadt. Von 1990 bis 1993 bestand im Stadtteil Äußere Neustadt aus Protest gegen die maroden Wohnbedingungen die gleichnamige Mikronation. Bereits 1990 gab es ein entsprechendes Stadtteilfest, das weiterhin veranstaltet wird. 2001 und 2002 kam es während des Festes zu Ausschreitungen, während die letzten Jahre friedlich verliefen. Das Fest ist eines der alternativen Szenekultur geblieben. Am rechten Elbufer entlang findet am Dresdner Elbhang alljährlich das Elbhangfest statt. Es erstreckt sich vom Stadtteil Loschwitz bis Pillnitz. Höhepunkt ist unter anderem eine Drachenboot-Regatta. Nach der Elbflut 2002, die neben dem Stadtteil Kleinzschachwitz Laubegast mit einschloss, findet dort auf der anderen Elbseite das Inselfest statt. Im Sommer finden Veranstaltungen in den Abend- und Nachtstunden statt. Ende Juni oder Anfang Juli laden die Forschungseinrichtungen und Hochschulen zur Langen Nacht der Wissenschaften ein. Für die Hochschulen, Institute und die kooperierenden Technologieunternehmen bietet die Veranstaltung die Möglichkeit, Arbeiten einem großen Publikum vorzustellen. Seit 1999 findet Anfang Juli die Museumssommernacht statt. 2015 wurde diese in Museumsnacht umbenannt und fand 2016 und 2017 aufgrund eines Besucherrückgangs in den Vorjahren (durch oftmals am selben Tag stattfindende Spiele von Fußball-Welt- und Europameisterschaften) am dritten Septembersonnabend statt, seit 2018 wird sie ohne Nennung von Gründen wieder im Juli veranstaltet. Einem ähnlichen Konzept folgt seit 2003 die Nacht der Kirchen, bei der etwa sechzig Kirchen und Gemeindehäuser christlicher Konfession ihre Türen öffnen. Sie findet seit einiger Zeit alle 2 Jahre statt, 2016 fiel sie wegen des Deutschen Evangelischen Posaunentages aus und pausiert seitdem. Im August findet das Dresdner Stadtfest statt. Es erstreckt sich über die gesamte Innenstadt. Neben Live-Musik bietet es ein auf Familien zugeschnittenes Programm, das jährlich etwa 500.000 Gäste zählt. Weitere Festivals und Veranstaltungen im Sommer sind das Dresdner Kunstfest, die Kulturnacht und das Nachtskaten, das vielfach im Sommer freitags stattfindet. Dabei rollen mehrere tausend Inlineskater einen Parcours auf gesperrten Straßen durch die Stadt. Herbst Im Herbst findet das Volkstanzfest und Drehorgeltreffen statt. Weitere Veranstaltungen im Herbst sind die Dresdner Tage der zeitgenössischen Musik, das Literaturfestival Bardinale und das Festival der Zauberkunst sowie alle zwei Jahre der Tag der Dorfkirchen. 1997 fand als Höhepunkt der Zauberkunstaktivitäten in Dresden die jeweils dreijährlich stattfindende Weltmeisterschaft des internationalen Dachverbands Fédération Internationale des Sociétés Magiques statt. Seit 2004 findet jährlich an einem Wochenende im Herbst die CCC-Veranstaltung „Datenspuren“ statt. Winter Während der Adventszeit findet der Dresdner Striezelmarkt statt. Dieser seit 1434 bestehende Weihnachtsmarkt ist einer der ältesten in Deutschland. Er wird in der Regel auf dem Altmarkt errichtet und gehört zu den größten Touristenattraktionen in der Weihnachtszeit. Der Name des Marktes leitet sich von seinem Hauptprodukt, dem Dresdner Stollen („Striezel“), ab. Ein Höhepunkt des Marktes ist das Dresdner Stollenfest. Die Frage, ob der Bautzener Wenzelsmarkt oder der Striezelmarkt der älteste Weihnachtsmarkt Deutschlands sei, klärte das Rekord-Institut Hamburg im Dezember 2015. Der Wenzelsmarkt ist Deutschlands ältester in einer Chronik erwähnte Weihnachtsmarkt, der Striezelmarkt der älteste mit einer Urkunde bestätigte Weihnachtsmarkt Deutschlands. Gleichzeitig mit dem Striezelmarkt findet jährlich ein mittelalterlicher Weihnachtsmarkt im Stallhof des Residenzschlosses statt, an einigen weiteren Orten in der Stadt wie Prager Straße, Neumarkt oder Hauptstraße gibt es parallel dazu weitere Weihnachtsmärkte. Am 13. Januar 2006 fand erstmals seit 67 Jahren wieder der Dresdner Opernball in der Semperoper statt. Mittlerweile findet der Opernball regelmäßig jedes Jahr statt und erfreut sich immer größerer Beliebtheit. Stargast des Opernballs 2009 war der russische Ministerpräsident Wladimir Putin. Im Februar findet das Fest sächsischer Puppen- und Marionettenspieler statt. Kulinarische Spezialitäten Dresdner Stollen Russisch Brot Dominosteine Eierschecke Pflaumentoffel Quarkkäulchen Wirtschaft und Infrastruktur Kennzahlen Dresden bildet das Zentrum des gegenwärtig wirtschaftsstärksten Raums der neuen Bundesländer und gehört zu den wirtschaftlich stärksten Räumen in Deutschland. Im Jahre 2016 erbrachte Dresden, innerhalb der Stadtgrenzen, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 20,725 Milliarden Euro und belegte damit Platz 15 innerhalb der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung. Das BIP pro Kopf lag im Jahr 2017 bei 39.134 Euro (Sachsen: 31.453 Euro, Deutschland 41.358 Euro). In der Stadt gab es 2020 ca. 341.000 erwerbstätige Personen. Der Kaufkraftindex pro Einwohner lag 2013 bei 90,1 (Deutschland: 100). Es ist zu beobachten, dass der Kaufkraftindex pro Einwohner jährlich abnimmt. Im europäischen Vergleich erhielte Dresden einen Index von etwa 121 (EU-27: 100) im Vergleich zum ehemaligen Direktionsbezirk Dresden 87,7, Sachsen 86,1 und Deutschland 115,1. Besonders hohen Anteil an der gesamten wirtschaftlichen Leistung hat das verarbeitende Gewerbe. Allein die Unternehmen der Mikroelektronik erreichten mehr als drei Milliarden Euro Umsatz. Im sogenannten Zukunftsatlas 2016 belegte die Stadt Dresden Platz 28 von 402 Landkreisen und kreisfreien Städten in Deutschland und zählt damit zu den Orten mit „sehr hohen Zukunftschancen“. Laut der Studie belegt Dresden damit den ersten Platz unter allen Städten und Landkreisen in Ostdeutschland. Im Zukunftsatlas 2019 wird Dresden auf Rang 41 gelistet, der Stadt werden dennoch „sehr hohe Zukunftschancen“ zugesprochen. Die Gewerbesteuereinnahmen der Stadt betrugen 2018 305 Millionen Euro. 41.625 Personen über 18 Jahren waren 2019 überschuldet (9,25 Prozent). Arbeitsmarkt Ende 2019 waren in Dresden 15.700 Menschen (5,3 Prozent) arbeitslos, der niedrigste Stand seit 1990. Im März 2020 lag der Anteil der Arbeitslosen in Dresden im Vergleich zu allen zivilen Erwerbspersonen bei 5,5 Prozent. Als absolute Zahl wurden 16.410 Personen angegeben. Rund ein Drittel der Arbeitslosen sind langzeitarbeitslos, im Oktober 2018 waren das 5.470. Die Arbeitslosenquote in Dresden lag 2019 durchschnittlich bei 5,3 Prozent. Aufgrund der COVID-19-Pandemie wuchs im April 2020 die Arbeitslosenquote auf 6,2 Prozent (18.426 Arbeitslose), im Mai 2020 auf 6,4 Prozent (19.254 Personen), im Juni 2020 auf 6,5 Prozent (19.479), im Juli 2020 auf 6,7 Prozent (19.950) und im August 2020 auf 6,8 Prozent (20.419). Im Mai 2023 gab es 18.100 Arbeitslose (Quote von 5,9 Prozent), davon durch Flucht vor dem russischen Überfall auf die Ukraine etwa 5.000 ausländische Arbeitslose. Etwa 276.000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte arbeiteten 2022 in der Stadt. 40.000 arbeiten im Einzelhandel. 14.000 sind vom Tourismus abhängig. Es gibt ca. 98.000 Einpendler, der höchste Wert seit Jahren, vor allem aus Freital, Radebeul, Pirna, Heidenau und Radeberg. In der Stadt haben etwa 225.000 Arbeitnehmer ihren Erstwohnsitz, von ihnen sind ca. 58.000 Auspendler. Durch den Saldo der Aus- und Einpendler von 40.000 Personen ist Dresden eine Einpendlerstadt. Im Stadtgebiet entfällt eine Fläche von 307 Hektar auf Betriebsflächen, 10.885 Hektar werden landwirtschaftlich genutzt. Tourismus Im Rekordjahr 2019 gab es 2,3 Millionen Übernachtungsgäste, darunter etwa 20 Prozent aus dem Ausland. 2020 sank die Zahl auf 1,2 Millionen Übernachtungsgäste. 163 Hotels und Beherbergungsstätten mit jeweils mehr als 10 Betten boten im Jahr 2021 zusammen über 22.000 Betten an. Dabei gibt es 26 Hotels der Ober- und Luxusklasse. Zusammen mit der Messe Dresden und dem Kongresszentrum versucht sich die Stadt als Kongress- und Tagungsort zu profilieren. Die Sächsischen Spielbanken betreiben in Dresden die Spielbank Dresden im Café Prag, eine von drei Spielbanken in Sachsen. Ansässige Unternehmen In der Stadt sind vor allem Unternehmen aus dem Bereich Mikroelektronik, Informations- und Biotechnologie sowie Elektrotechnik tätig, die die Nähe der Universität und zahlreicher Forschungsinstitute nutzen. Die Kompetenzfelder der Stadt liegen in den Bereichen Mikroelektronik, Informations- und Kommunikationstechnologie Neue Werkstoffe und Nanotechnologie Maschinen- und Anlagenbau/Fahrzeug-, Luft- und Raumfahrttechnik, Solartechnik Biotechnologie, Pharmazie und Impfstoffe Tourismus, Handel und Märkte Bildung, Kunst-, Geistes- und Sozialwissenschaften Viele der Kompetenzfelder entstanden nicht erst in den letzten Jahren. Einige, wie zum Beispiel die Mikroelektronik, die schon vor 1989 in Dresden ein Zentrum besaß, wurden aber erfolgreich ausgebaut. Durch die Möglichkeiten der engen Zusammenarbeit der Industrie mit den hier ansässigen Universitäten und Forschungseinrichtungen entwickelt sich die Stadt immer mehr zu einem der führenden Zentren der Halbleiterfertigung in Europa. So entstanden in den vergangenen Jahren neue Fertigungsstätten führender Unternehmen wie Globalfoundries und Infineon. Ein neues Halbleiterwerk der Robert Bosch GmbH wurde 2021 eröffnet. Viele Bereiche der Zulieferindustrie (Reinraumtechnik, Spezialmaschinenbau, Siliziumwafer) lassen sich in und um Dresden nieder, sodass in Anlehnung an das Silicon Valley in Kalifornien oft vom Silicon Saxony gesprochen wird. Durch Forschungsarbeit im Bereich der Nanotechnologie und Werkstoffe erhofft man sich, führender Wirtschaftsstandort der aufkommenden Nanoelektronik, die einen Quantensprung für die elektronische Datenverarbeitung darstellen wird, zu werden. An der wirtschaftlichen Nutzung von besonderen elektromagnetischen Eigenschaften von Supraleitern (Meißner-Ochsenfeld-Effekt) wird ebenfalls gearbeitet. Neben der Mikroelektronik- und Halbleiterindustrie ist auch die Softwareindustrie vertreten, etwa durch das T-Systems-Tochterunternehmen T-Systems MMS sowie die Niederlassungen der Softwarehersteller SAP Deutschland AG & Co. KG, Amazon, GoTo und der polnischen Comarch. Ebenfalls findet man drei der Big-Four-Wirtschaftsprüfungsgesellschaften in Dresden vor: EY, KPMG und Deloitte. Es sind auch zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen sowie Startups im Bereich Softwareentwicklung vorhanden, wie Lovoo. Nach der Wende hat Siemens in Dresden einen Standort errichtet. Der Konzern kaufte 1991 von der Treuhandanstalt das Transformatoren- und Röntgenwerk „Hermann Matern“, das auf die Koch & Sterzel AG zurückgeht. Um dieses Werk herum im Stadtteil Übigau übernahm der Konzern eine Grundstücksfläche von rund 350.000 Quadratmetern. Volkswagen ließ in der Gläsernen Manufaktur das Luxusfahrzeug (VW Phaeton) der Muttermarke des Volkswagen-Konzerns herstellen. Im März 2016 wurde im 15. Jahr nach Inbetriebnahme die Fertigung eingestellt und nach einem Umbau der Anlagen zwischenzeitlich im April 2017 die nichtexklusive Fertigung des e-Golf aufgenommen. Seit 2021 wird der Nachfolger VW ID.3 gefertigt. Die Airbus-Gruppe (bis 2013 EADS) hat in Dresden mit den Elbe Flugzeugwerken ein Tochterunternehmen insbesondere zum Umbau von Airbus-Flugzeugen. Der Standort ist auch an der Entwicklung des Airbus A380 beteiligt. Zum einen stammen Teile der Innenausstattung aus den Werken, zum anderen wird eine der beiden Materialtestprozeduren bei IABG/IMA durchgeführt. Viele Zulieferer der Automobilindustrie für elektronische Komponenten produzieren in Dresden. Ein Tochterunternehmen der Linde plc konzipiert und plant Anlagen der Pharmazie- und Chemieindustrie. Im Bereich Pharma und Arzneimittel spielt Dresden seit mehr als hundert Jahren eine bedeutende Rolle. Viele Verfahren zur industriellen Produktion von Arzneimitteln wurden hier entwickelt und angewandt. Das ehemalige Sächsische Serumwerk Dresden (heute Teil des GlaxoSmithKline-Konzerns) ist ein international bedeutsamer Lieferant für Grippeimpfstoffe. Die im benachbarten Radebeul ansässige und auf eine lange Tradition (als Chemische Fabrik v. Heyden und Arzneimittelwerk Dresden) zurückblickende Arzneimittelproduktion, gehört jetzt zur italienischen Menarini-Gruppe. Des Weiteren ist der Zigarettenhersteller Philip Morris (Marke f6) in Dresden ansässig, der als VEB Vereinigte Zigarettenfabriken Dresden (VEZIFA) zu DDR-Zeiten Stammbetrieb des VEB Kombinat Tabak war. Die Feldschlößchen AG braut ihre Biere in Dresden-Coschütz. Einzelhandel Vor der Zerstörung durch den Luftangriff befand sich das repräsentative Einkaufszentrum der Stadt mit zahlreichen Fachgeschäften in der Prager Straße, während die großen Kaufhäuser den Bereich des Altmarktes prägten. Den Wiederbeginn 1952 markierte der Bau des Warenhauses an der Wilsdruffer Straße nahe dem Postplatz. Stand damals dieser Bau für das erwachende Dresden, so ist heute dessen Bedeutung für die Stadt zu Beginn der 1950er Jahre durch die neueren umliegenden Bauten kaum noch nachzuvollziehen. Die größte Konzentration von Warenhäusern und Geschäften befindet sich heute im Dresdner Stadtzentrum an der nördlichen Prager Straße und am Altmarkt. Dort haben sich Filialen der großen Warenhausketten angesiedelt und bilden mit der Altmarkt-Galerie und der Centrum-Galerie eines der großen Einkaufszentren der Stadt. Die Altmarkt-Galerie wurde bis 2011 zum Postplatz hin erweitert und hat seitdem mehr als 200 Geschäfte, darunter viele einmalige Markenstores in Ostdeutschland wie Hollister, Apple und O’Neill. Das Gebiet ist durch mehrere Straßenbahnhaltestellen erschlossen. Auch der Hauptbahnhof, am südlichen Ende der Prager Straße, ist seit seiner Fertigstellung und der Bebauung des Wiener Platzes ein bedeutendes Zentrum des Einzelhandels. Als Einkaufsstraße für hochwertige Güter und Luxusartikel – früher das Privileg der Prager Straße – hat sich dagegen die Königstraße in Dresden-Neustadt etabliert. Geschäfte dieser Preisklasse sind stark mit dem Tourismus der Stadt verwoben. Eine ähnliche Struktur hat sich am Neumarkt rund um die Frauenkirche entwickelt. Die zur Fußgängerzone umgebaute Neustädter Hauptstraße hatte „ihre beste Zeit“ in den 1980er Jahren. In deren Nähe liegt die Neustädter Markthalle, ein kleines Einkaufszentrum mit 20 Händlern in einem rekonstruierten Jugendstilgebäude. Auch in alten Stadtteilzentren wie am Schillerplatz in Blasewitz wurden wieder bedeutende Einkaufszentren geschaffen. Andere Anlagen wie der Elbepark konzentrieren sich außerhalb der Innenstadt an Autobahnausfahrten und haben so einen deutlich überregionalen Einfluss. Der Preisdruck auf die Handelsflächen im Stadtzentrum durch große Einkaufszentren der Peripherie ist auch in Dresden spürbar und wird häufig kritisiert. In der Innenstadt werden gerade einmal 22 Prozent des Umsatzes des Einzelhandels erzielt. Das ist vergleichsweise wenig, wenngleich mehrere Nebenzentren existieren. Traditions- und ehemalige Unternehmen Eines der bekanntesten Unternehmen war die am 12. November 1872 gegründete Dresdner Bank. Bereits 1885 wurde die operative Geschäftsführung nach Berlin verlegt, bis 1950 blieb die Bank aber im Handelsregister der Stadt Dresden eingetragen. Die Raddampferflotte, die von der Sächsischen Dampfschiffahrtsgesellschaft betrieben wird, gilt als die größte und älteste der Welt. Der 1879 gebaute Raddampfer Stadt Wehlen, benannt nach dem Ort Wehlen in der Sächsischen Schweiz, ist das älteste Schiff der Flotte. Im Jahr fahren etwa 500.000 Passagiere auf den 13 Schiffen. Nur wenig jünger ist die Genossenschaft Konsum Dresden, ein Handelsunternehmen, das im Jahr 1888 als „Konsumverein Vorwärts“ gegründet wurde. Verunreinigte und überteuerte Lebensmittel führten damals dazu, dass mehrere Dresdner Familien selbst einkaufen und miteinander handeln wollten. Mit eigenen Produktions- und Logistikstrukturen wurde ein Ladennetz aufgebaut und bereits 1931 die erste konsumeigene Fleischfabrik in Dresden eröffnet. Heute betreibt das Unternehmen noch über 40 Filialen und hat rund 25.600 Mitglieder. Das im Jahr 1892 vom Dresdner Unternehmer Karl August Lingner herausgebrachte Mundwasser Odol wurde in den 1945 zerstörten Dresdner Lingner-Werken hergestellt. Die „Sachsenwerk, Licht- und Kraft AG“ wurde 1903 gegründet und baute vor allem Transformatoren und Schaltgeräte für elektrische Beleuchtungen sowie große elektrische Maschinen. Seit den 1920er Jahren ist das Werk ein bedeutender Hersteller von Straßenbahn- und Lokomotivmotoren. Heute gehört die VEM Sachsenwerk GmbH zur VEM Gruppe. 1907 begann auf dem Dachboden der Löwenapotheke die Produktion der Zahncreme Chlorodont, die ab 1917 in den neu gegründeten Leowerken in immer größerem Stil erzeugt und vermarktet wurde. Das Nachfolgeunternehmen nutzt die Räume noch heute. Das seit Jahrzehnten international tätige Unternehmen Melitta wurde am 15. Dezember 1908 mit 73 Pfennigen Eigenkapital von Melitta Bentz ins Dresdner Handelsregister eingetragen. Mit dem Zentrum Mikroelektronik Dresden (ZMD) und dem Kombinat Robotron begann 1961 die Zeit der Mikroelektronik und Computerfertigung in Dresden. 1989 waren etwa 4000 Angestellte beim Zentrum Mikroelektronik, im Kombinat Robotron wurden bis zu 68.000 Mitarbeiter beschäftigt. Das ZMD firmierte von 1961 bis 1976 als Arbeitsstelle für Molekularelektronik Dresden (zunächst AME, ab 1969 AMD). Nach weiteren Umbenennungen und der Privatisierung in den 1990er Jahren arbeiteten 2011 in dem nun „ZMD AG“ genannten Unternehmen ca. 300 Ingenieure, Techniker und Facharbeiter. Das Kombinat Robotron wurde 1990 aufgelöst und dessen Teilbetriebe wurden privatisiert. Von diesen Nachfolgeunternehmen existiert in Dresden nur noch die Robotron Datenbank-Software GmbH mit 442 Mitarbeitern (Geschäftsjahr 2017/2018). Der Dresdner Maschinenbau hat eine Tradition als direkter Zulieferer der ansässigen Industrien der Pharmazeutik, Optik und Lebensmittelherstellung. Wettbewerbsvorteile konnte die Sächsische Industrie vor allem durch die Anwendung der Feinmechanik im Großmaschinenbau erlangen. Die Historie setzte sich zuletzt bei den Spezialmaschinenbauern für Reinraumtechnik fort. Dresden und Umland war bis in die Nachkriegszeit hinein ein Schwerpunkt der deutschen optisch-feinmechanischen Industrie, insbesondere im Bereich des Kamerabaus. Die Ernemann-Werke, Zeiss Ikon, die Ihagee (Erfindung der einäugigen Kleinbild-Spiegelreflexkamera), die Kamera-Werke Niedersedlitz sowie das Kombinat VEB Pentacon (Praktica-Kameras) hatten hier ihren Sitz. Ebenfalls in Dresden wurde 1923 von dem 18-jährigen gelernten Fotografen Martin Hanke Hama gegründet. Die Elbe Flugzeugwerft, die heute als Elbe Flugzeugwerke firmiert und zu Airbus gehört, war schon sehr früh nach dem Zweiten Weltkrieg ein bedeutendes Werk des Flugzeugbaus, das am Nordostrand des Flughafens Dresden-Klotzsche auf einem Teil des Geländes der vormaligen Luftkriegsschule 1 errichtet wurde. Mit der Baade 152 entstand dort in den 1950er Jahren das erste deutsche Verkehrsflugzeug mit Strahltriebwerken. Auf Beschluss des Politbüros der SED musste 1961 aufgrund mangelnder Absatzmöglichkeiten der Flugzeugbau in der DDR und damit auch dieses Projekt eingestellt werden. Verkehr Dresden ist einer der wichtigsten Knotenpunkte im Straßen- und Schienenverkehr Ostdeutschlands und hat einen Flughafen. Etwa 3335 Hektar des Stadtgebiets entfallen auf Verkehrsflächen. Verkehrsmittelwahl Die folgende Tabelle zeigt die Aufteilung der in Dresden zurückgelegten Wege nach Verkehrsmitteln (verkehrstechnisch als bezeichnet) und deren Änderung seit 1991. Schienenverkehr Der Eisenbahnknoten Dresden verbindet fünf Haupt- und Fernstrecken. Dresden Hauptbahnhof ist einer von 20 Fernverkehrsknoten in Deutschland und neben dem Bahnhof Dresden-Neustadt der wichtigste Bahnhof der Stadt. Direkte Fernverkehrsverbindungen im Tagesverkehr besitzt Dresden unter anderem mit Leipzig, Chemnitz, Berlin, Prag, Erfurt, Magdeburg, Rostock, Warnemünde, Frankfurt am Main, Wiesbaden, Hamburg, Hannover, Brünn, Bratislava und Budapest. Im Nachtverkehr bestehen Verbindungen nach Zürich. Bis zum Fahrplanwechsel im Dezember 2017 bestanden Nachtzugverbindungen nach Budapest und Wien, seitdem ist für diese Ziele ein Umstieg in Prag notwendig. Die S-Bahn Dresden verbindet die Stadt mit dem Umland und dem Flughafen. Im Regionalverkehr ist Dresden mit der Lausitz, Chemnitz, Zwickau sowie Leipzig und Hof verbunden. Größter Güterbahnhof der Stadt ist der Bahnhof Dresden-Friedrichstadt mit einem Güterverkehrszentrum und Containerterminal für den kombinierten Verkehr. Straßenverkehr Im Ballungsraum Dresden gibt es vier Bundesautobahnen. Durch das nordwestliche Stadtgebiet führt die A 4 in Richtung Görlitz beziehungsweise Chemnitz und Erfurt mit fünf Anschlussstellen. Von der A 4 zweigen im äußersten Norden der Stadt die A 13 in Richtung Berlin und westlich von Dresden die A14 nach Leipzig ab. Die 2006 fertiggestellte A 17 beginnt im Dresdner Westen und tangiert die Stadt südlich mit drei Anschlussstellen. Sie ist gleichzeitig die Europastraße E 55 und führt durch das Erzgebirge nach Prag. Unter zwei Dresdner Stadtteilen verläuft die A 17 in Tunneln. Die Autobahn ist besonders bedeutend für den LKW-Fernverkehr in Nord-Süd-Richtung und entlastet die Hauptstraßen der Stadt im Berufsverkehr, da sie parallel und nah zum Verdichtungsraum um Dresden verläuft und dadurch Pendlern aus Pirna und Heidenau nutzt. Kritisiert wurden die hohen Kosten der neuen Strecke sowie die damit verbundene Förderung der Zersiedelung. Durch die neu erschlossenen Wohnungsstandorte würden langfristig neuer Pendlerverkehr erzeugt und Entlastungen wieder wettgemacht. Der Einfluss auf die Luftzufuhr der Stadt wurde ebenfalls kritisch gesehen. Ferner führen folgende Bundesstraßen durch die Stadt: Die B 6, die B 97, die B 170 und die B 173. Die Stadt Dresden galt mit vielen vierspurigen Straßen und stark gestiegenen, vergleichsweise hohen Reisegeschwindigkeiten zwar als autofreundlich, wobei allerdings das parallel sehr hohe Niveau des öffentlichen Verkehrs nicht geleugnet wurde bzw. wird. Der Elberadweg (D10), der im Jahr 2015 zum elften Mal in Folge von Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) zum beliebtesten Radwanderweg Deutschlands gewählt wurde, führt innerhalb der Stadt mit wenigen Ausnahmen durchgehend an der Elbe entlang. In den deutschlandweiten Umfragen zur Radfahrfreundlichkeit (Fahrradklimatest) belegt Dresden einen Platz im Mittelfeld hinter Chemnitz und Leipzig (beim Test im Jahr 2014 war es Platz 21 unter den insgesamt 38 beurteilten Großstädten über 200.000 Einwohner). In der kommunalen Bürgerumfrage 2014 gaben 71 % der Befragten an, dass die Stadtverwaltung sich mehr für den Radverkehr engagieren müsse. Dennoch begeistern sich die Dresdner für das Fahrrad: Schon bei der ersten Teilnahme am Wettbewerb Stadtradeln 2011 Sieger in der Kategorie Fahrradaktivste Stadt mit den meisten Radkilometern. Seit 2020 gibt es das Fahrradverleihsystem MietOn. Insgesamt umfasst das Straßennetz in kommunaler Verwaltung 1.400 km Straßen (3.200 Straßennamen), 1.908 km Fußwege und 370 km Radwege. Öffentlicher Personennahverkehr Den öffentlichen Personennahverkehr bedienen neben der S-Bahn zwölf Straßenbahn- und über 30 Buslinien der Dresdner Verkehrsbetriebe sowie einiger Busunternehmen (vgl. Busverkehr in Dresden). Bedeutende Überlandlinien mit Verbindung nach Dresden betreibt die Regionalverkehr Sächsische Schweiz-Osterzgebirge GmbH. Straßenbahnen verkehren in der ehemaligen sächsischen Residenzstadt seit 1872, zunächst als Pferdebahnen, ab 1893 zunehmend elektrisch. Dabei bestanden zeitweise zwei konkurrierende private Unternehmen, deren äußeres Erkennungszeichen die unterschiedlichen Wagenfarben waren (daher wurden sie in der Bevölkerung als „gelbe“ bzw. „rote“ Gesellschaft bezeichnet). Diese wurden 1905 in der Städtischen Straßenbahn Dresden vereinigt. Seitdem wird das Straßenbahnnetz unter einheitlicher Regie betrieben, zunächst von der Stadt selbst, im Laufe der Zeit von unterschiedlichen mehr oder weniger von der Stadt abhängigen Trägern. Bekannt ist die Dresdner Straßenbahn für den zwischen 1931 und 1972 eingesetzten großen Hechtwagen. Schon in der Weimarer Republik gab es teilweise einen Dreiminutentakt. Seit der letzten Linienumstellung verkehren zwölf Straßenbahnlinien auf einem etwa 204 km langen Liniennetz, das bis zu den benachbarten Städten Radebeul, Coswig und Weinböhla reicht; diese Überlandbahn wird touristisch als Kultourlinie vermarktet. siehe auch: Meines Vaters Straßenbahn, Filmbiografie Die Dresdner Verkehrsbetriebe modernisieren seit Jahren ihr Netz und ihren Fuhrpark. Seit Juni 2010 sind im Normalfall ausschließlich Niederflurbahnen von Bombardier Transportation aus Bautzen mit bequemen stufenlosen Einstiegen im Einsatz. Lediglich für Sonderleistungen kommen gelegentlich noch die Tatra-Wagen des Typs T4D zum Einsatz, außerdem zur regulären Taktverdichtung der Linie 3 in der Vorlesungszeit. Drei Elbfähren ermöglichen neben den Brücken (jeweils mit öffentlichem Nahverkehr per Eisenbahn, Bus oder Straßenbahn) den Übergang über die Elbe: von der Johannstadt zur Neustadt, von Niederpoyritz nach Alttolkewitz sowie von Kleinzschachwitz nach Pillnitz. Im Stadtteil Loschwitz gibt es außerdem die historischen Bergbahnen: eine Standseilbahn zum Nobelviertel Weißer Hirsch sowie eine Schwebebahn nach Oberloschwitz, an deren Bergstation sich eine hervorragende Aussicht auf die Stadt und das südwestliche Umland bietet. Auf der Elbe fahren die Raddampfer der Weißen Flotte und stellen ausschließlich touristisch genutzte Verbindungen elbaufwärts in die Sächsische Schweiz und elbabwärts nach Meißen bereit. Dresden ist auch Haltepunkt für Passagierschiffe der Flusskreuzfahrt-Veranstalter. Flugverkehr Im Norden von Dresden, in Klotzsche, liegt seit 1935 der Flughafen Dresden mit nationalen und internationalen Fluglinien. Er wurde nach der Wiedervereinigung saniert und hat daher ein gut ausgebautes Terminal sowie eine gute Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr. Der Flughafen Dresden hat eine eingeschränkte Nachtruhe zwischen 0 und 5 Uhr, die darüber hinaus in den weiteren Randzeiten davor und danach nur eingeschränkt Flugverkehr zulässt. Fernbusverkehr Dresden hat kein eigenes Fernbusterminal. Genutzt werden die Bushaltestellen in der Bayrischen Straße am Dresdner Hauptbahnhof oder die Haltestelle am Bahnhof Dresden-Neustadt. Insbesondere die Bushaltestelle südlich des Hauptbahnhofs ist jedoch nicht für den expandierenden Fernbusverkehr ausgelegt. Vor allem fehlt es an Unterständen und Sitzbänken. So existieren Überlegungen, einen zentralen Omnibusbahnhof nördlich des Hauptbahnhofs am westlichen Ende des Wiener Platzes zu errichten. Der Busbahnhof soll neben einem 43 Meter hohen neuen Hochhaus mit zehn Steigen bis 2025 fertig sein. Neben einer Vielzahl nationaler, bedienen auch einige internationale Linien Dresden. So können unter anderem die Städte Amsterdam, Budapest, Brüssel, London, Kopenhagen, Paris, Prag, Stockholm, Wien oder Zürich umstiegsfrei erreicht werden. Güterverkehr Dresden war und ist ein wichtiger Eisenbahnknoten im Güterverkehr, zu dessen Eisenbahnanlagen der Rangierbahnhof Dresden-Friedrichstadt gehört. Durch die Automobilwerke des Volkswagen-Konzerns in Chemnitz, Zwickau, bei der tschechischen Tochter Škoda in Mladá Boleslav und in Dresden selbst kommt dem Güterbahnhof als Logistikzentrum eine wichtige Funktion zu. Täglich rollen etwa 200 Güterzüge über die Elbtalbahn von und nach Tschechien. Eine Besonderheit stellte bis 2020 die Güterstraßenbahn CarGoTram dar, die die Gläserne Manufaktur von Volkswagen am Großen Garten bediente. Die Bahn wurde eingerichtet, um die Innenstadt zwischen Logistikzentrum am Güterbahnhof in der Friedrichstadt und Manufaktur keiner zusätzlichen Belastung durch LKW auszusetzen. Dresdens Hafen liegt linkselbisch in Dresden-Friedrichstadt und dient der Elbe-Containerlinie und der Binnenschiffslinie ETS-Elbe. Er erhielt 2007 zusätzlich eine RoRo-Anlage mit einer zulässigen Höchstlast von 500 Tonnen. Dresden liegt am Kreuzungspunkt der E 40 und E 55, zweier wichtiger Europastraßen. Über die A 17 ist es gelungen, den Güterfernverkehr aus der Stadt zu verlagern. Alleine die E55 nutzen täglich mehr als 2000 LKW. Medien Tageszeitungen Mit der Sächsischen Zeitung (SZ) und den Dresdner Neuesten Nachrichten (DNN) erscheinen zwei traditionelle Tageszeitungen. Die Sächsische Zeitung war ab 1946 und zu DDR-Zeiten Organ der SED. Heute gehört sie mehrheitlich zum Verlagshaus Gruner + Jahr. Die Vorläufer der DNN waren Zeitungen der NDPD (Sächsische Neueste Nachrichten), LDPD (Sächsisches Tageblatt) beziehungsweise CDU (Die Union). Die Dresdner Neuesten Nachrichten gehören heute zur Leipziger Verlags- und Druckereigesellschaft, die zudem Gesellschafterin der Leipziger Volkszeitung (LVZ) ist. An der Leipziger Verlags- und Druckereigesellschaft ist zu 100 % die Verlagsgesellschaft Madsack beteiligt, an welcher wiederum zu über 20 % die Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft (dd_vg) beteiligt ist, das Medienbeteiligungsunternehmen der SPD. Weitere Zeitungen sind die Dresdner Morgenpost (mit dem Online-Ableger Tag24) und die Lokalausgabe der Bild. Sonstige Zeitungen und Zeitschriften Das kostenlose Dresdner Amtsblatt (DDA) erscheint als Veröffentlichungsorgan der Stadtverwaltung wöchentlich. Dresdner Kulturmagazin (kostenlos) und Sax sind monatlich erscheinende Stadtmagazine mit Veranstaltungskalender. Das Gastronomiemagazin Augusto erscheint jährlich. Weitere Magazine sind Frizz, Spot, DD-INside, Skunk, SPIESSER, Urania, caz, Prinz und port01, die teilweise werbefinanziert sind. Einige dieser Blätter sind auch in anderen deutschen Städten vertreten. Weiterhin werden in Dresden noch die kostenlosen Anzeigenblätter Wochenkurier, freitagSZ und Dresden am Wochenende verteilt, die beiden letzteren als Portfolioergänzung des Verlags der Sächsischen Zeitung (DDV Mediengruppe). Des Weiteren gibt es Anzeigenblätter für die jeweiligen Stadtteile, beispielsweise die Leubener Zeitung für den Stadtbezirk Leuben. Darüber hinaus erscheinen in Dresden die Literaturzeitschriften Ostragehege und Signum. Hörfunk und Fernsehen Da in der Tallage nur an wenigen Orten im Stadtgebiet überregional ausgestrahlte Rundfunkprogramme zu empfangen waren, wurde 1969 der 252 Meter hohe Fernsehturm eröffnet, der heute noch in Betrieb ist. In Dresden befinden sich neben dem Landesfunkhaus des MDR zahlreiche Produktions- und Dienstleistungsunternehmen. Private Radiosender wie Hitradio RTL, Radio PSR, Energy Sachsen, Radio Dresden und R.SA sind mit ihren Programmen in Dresden vertreten. Neben Fernsehsendern in einzelnen Stadtteilen, die von Antennengemeinschaften betrieben werden, gibt es Dresden Fernsehen als privatrechtlichen Sender für das gesamte Stadtgebiet. Außerdem sendet rund um die Uhr über das Vodafone-Kabelnetz der Lokalfernsehsender tvM (Meissen Fernsehen). Über Primacom wird der regionale Sportsender 8Sport in Dresden verbreitet. In Dresden beheimatet sind zwei Sächsische Ausbildungs- und Erprobungskanäle (SAEK) – ein schulisch spezialisierter SAEK im St. Benno-Gymnasium und einer im Medienkulturzentrum Pentacon. Hier findet der interessierte Bürger offene Studios und kann das Produzieren sowie Senden erlernen und auf Sendung gehen (eigener Radiosender NEON 425 auf 104,25 MHz im Dresdner Kabel). Neben den öffentlichen und privaten Radiosendern besteht in Dresden das Freie Radio coloRadio, das wochentags von 18 bis 24 Uhr sowie am Wochenende von 12 bis 24 Uhr auf den Frequenzen 98,4 und 99,3 MHz zu hören ist. Diese Frequenzen teilt sich coloRadio mit apollo radio. Sonstiges Während der DDR-Zeit konnten in Dresden größtenteils keine westlichen Fernsehsender empfangen werden, weshalb Dresden den Namen Tal der Ahnungslosen bekam. Im Volksmund wurde der Name der ARD als Außer Raum Dresden gedeutet. Um dennoch westdeutsche Fernsehsender empfangen zu können, gründeten sich ab 1987 mehrere Bürgerinitiativen, die staatlich toleriert über Satelliten empfangene Signale westdeutscher Fernsehprogramme in kleinen Kabelnetzen verbreiteten. Teils wurden in diesen Kabelnetzen schon vorher terrestrisch schwach empfangbare westdeutsche Programme mit hohem Aufwand aufbereitet und in schwankender, aber nur an wenigen Tagen wirklich guter Qualität angeboten. Zusätzlich wurden tschechische Fernsehprogramme mit aufbereitet, in denen manchmal deutschsprachige Filme mit tschechischen Untertiteln liefen. Öffentliche Einrichtungen von überregionaler Bedeutung Aufgrund ihres Status als Landeshauptstadt haben in Dresden zahlreiche öffentliche Einrichtungen und Institutionen beziehungsweise Körperschaften des öffentlichen Rechts der Landesebene ihren Sitz, so der Sächsische Landtag, die Sächsische Staatskanzlei, alle Ministerien der Sächsischen Staatsregierung, der Sächsische Datenschutzbeauftragte, das Landeskriminalamt Sachsen und weitere Landesbehörden. Das Prinzip der räumlichen Trennung der Legislative und Exekutive von der Judikative wurde in Sachsen in der Weise eingehalten, dass sich außer dem Oberlandesgericht für die ordentliche Gerichtsbarkeit alle weiteren oberen Landesgerichte in Leipzig, Chemnitz und Bautzen befinden. Das aus der 1954 gegründeten Medizinischen Akademie Dresden entstandene Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden ist das Krankenhaus der Maximalversorgung für Ostsachsen mit etwa 1300 Betten. Das Städtische Klinikum Dresden ist ein Krankenhaus zur Schwerpunktversorgung. Des Weiteren gibt es eine Handwerkskammer und eine Industrie- und Handelskammer. Das Wasser- und Schifffahrtsamt Dresden ist der Wasser- und Schifffahrtsdirektion Ost untergeordnet und hauptsächlich für die Elbe auf einer Länge von 290 km verantwortlich. Zur Bundeszollverwaltung gehören ein Zollfahndungsamt und ein Hauptzollamt mit Sitz in Dresden. Letzteres und das dazugehörige Zollamt sind der Bundesfinanzdirektion Mitte in Potsdam unterstellt. Bis zum 31. Dezember 2007 war es der Zoll- und Verbrauchsteuerabteilung (ZuVA) der Oberfinanzdirektion Chemnitz nachgeordnet. Mit Ablauf dieses Datums wurde die ZuVA aufgelöst. Die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk hat in Dresden eine Regionalstelle und einen Ortsverband. Diese sind dem THW Länderverband Sachsen, Thüringen mit Sitz in Altenburg unterstellt. Die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen ist in Dresden mit einer Außenstelle vertreten. Darüber hinaus haben die Sächsische Akademie der Künste, die Sächsische Landesstiftung Natur und Umwelt, die Bürgerstiftung, die Brücke/Most-Stiftung und seit 2006 das Gerhard Richter Archiv ihren Sitz in Dresden. Garnison Dresden kann auf eine lange Geschichte als Garnisonsstadt zurückblicken. Heute ist in der Albertstadt neben der Offizierschule des Heeres samt Verwaltung sowie des Militärhistorischen Museums auch das Landeskommando Sachsen angesiedelt. Sonstiges In Dresden gibt es 18 genehmigte Prostitutionsstätten. Bildung und Forschung Dresden wurde vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft für das Jahr 2006 zur „Stadt der Wissenschaft“ ernannt. Die Verankerung von Wissenschaft und Bildung in der Bevölkerung zeigt sich besonders in der jährlich stattfindenden, gut besuchten Langen Nacht der Wissenschaften. Hochschulbildung und universitäre Forschung In der Stadt existieren neun Hochschulen. Traditionell liegen deren Stärken und Bedeutungen einerseits in der Technik und Wirtschaft, andererseits in Kunst und Kultur. Insgesamt studieren hier etwa 40.000 Menschen. Die Studenten der Hochschulen werden durch das Studentenwerk Dresden betreut. Die Technische Universität Dresden (TUD) liegt mit ihren über 31.000 Studenten auf Platz 19 unter den größten Universitäten Deutschlands. Ihr Campus liegt südlich der Innenstadt in der Nähe des Hauptbahnhofs, einen Großteil beherbergt die Südvorstadt. Eine Ausgründung der TU Dresden ist die Dresden International University (DIU), an der nur postgraduale Abschlüsse erworben werden können. Außerdem wird an der TUD in jedem Semester eine Kinderuniversität in der Art einer Ringvorlesung zu verschiedensten Themen veranstaltet. Die größte Fachhochschule Dresdens ist die Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden (HTW Dresden). Die Hauptgebäude der HTW Dresden liegen direkt am Hauptbahnhof. Sie beherbergten bis 1992 die Hochschule für Verkehrswesen „Friedrich List“, die seit 1992 die gleichnamige Fakultät für Verkehrswissenschaften in der TU Dresden bildet. Derzeit studieren etwa 5000 Menschen an der HTW Dresden. Bedeutung im Bereich der Bildenden Künste besitzt die Hochschule für Bildende Künste (HfBK), die sich direkt in der Innenstadt an der Brühlschen Terrasse befindet. Ebenfalls in ihren Bereichen bedeutend sind die Palucca Hochschule für Tanz Dresden und die Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ (HfM). Seit Dezember 2012 ist zudem die Universität der Vereinten Nationen (United Nations University, UNU) mit dem Institute for Integrated Management of Material Fluxes and of Resources (UNU-FLORES) in Dresden vertreten. UNU-FLORES wird sich mit dem Fokus des Globalen Wandels sowie der Ressourcensteuerung zur Green Economy beschäftigen. Weitere Hochschulen sind die Evangelische Hochschule Dresden und die Hochschule für Kirchenmusik Dresden. Daneben existieren als weitere wichtige Bildungsanstalten die Staatliche Studienakademie Dresden, eine Zweigstelle der Berufsakademie Sachsen, sowie die Sächsische Verwaltungs- und Wirtschafts-Akademie e. V. als reine Fortbildungseinrichtung. Ebenfalls den höheren Bildungseinrichtungen kann die Offizierschule des Heeres zugeordnet werden, die traditionell die Offiziere des deutschen Heeres ausbildet. Außeruniversitäre Wissenschaftseinrichtungen Fraunhofer-Gesellschaft Derzeit baut die Fraunhofer-Gesellschaft in Dresden mit ihren elf Einrichtungen und dem Institutszentrum ihren deutschlandweit größten Standort auf. Als führende Trägerorganisation der angewandten Forschung in Deutschland betreibt sie in ihren Instituten Vertragsforschung. Die Forschung der Fraunhofer-Einrichtungen ist für viele hoch technologisierte Unternehmen ein bedeutsamer Standortfaktor geworden. So betreibt die Gesellschaft – in die Anlagen des ehemaligen Qimonda-Werks integriert – das Fraunhofer-Center Nanoelektronische Technologien (CNT) in Zusammenarbeit in Form einer Public Private Partnership mit AMD Saxony und Qimonda. Weitere Fraunhofer-Institute in Dresden sind: Fraunhofer-Institut für Organische Elektronik, Elektronenstrahl- und Plasmatechnik (FEP) Fraunhofer-Institut für Keramische Technologien und Systeme (IKTS) Fraunhofer-Institut für Photonische Mikrosysteme (IPMS) Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktursysteme (IVI) Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnik (IWS) Fraunhofer-Institutsteile und -Zentren in Dresden sind: Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte Materialforschung (IFAM) – Institutsteil Dresden Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen (IIS) – Institutsteil Dresden Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik (IWU) – Institutsteil Dresden Fraunhofer IVV, Außenstelle für Verarbeitungsmaschinen und Verpackungstechnik (IVV Dresden) Mit dem Standort Dresden verbunden wird zudem das Zentrum All Silicon System Integration Dresden (IZM-ASSID), das direkt an der Stadtgrenze in Boxdorf steht. Max-Planck-Gesellschaft Die Max-Planck-Gesellschaft betreibt in Dresden seit 2001 das Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI CBG). Seitdem hat es sich über Forschungsprogramme wie Molecular Bioengineering Dresden zu einem wichtigen Institut im Bereich der funktionellen Genomik entwickelt. Etwa 300 Mitarbeiter arbeiten in diesem Institut. Weitere Institute der Gesellschaft sind das Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe (MPI CPfS) und Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme (MPI PKS). Helmholtz-Gemeinschaft Das Helmholtz-Zentrum Dresden-Rossendorf e. V. (HZDR) gehörte bis 2011 zur Leibniz-Gemeinschaft und hat Forschungsschwerpunkte in den Lebenswissenschaften (insbesondere Krebsforschung), der Energieforschung und in der Materialforschung. Seit 2009 hat das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) einen Standort in Dresden. Wissenschaftsgemeinschaft „Gottfried Wilhelm Leibniz“ Die als Leibniz-Gemeinschaft bekannte Wissenschaftsgemeinschaft betreibt hier schon seit einigen Jahren Forschungsinstitute verschiedener Disziplinen: Leibniz-Institut für Festkörper- und Werkstoffforschung (IFW) Dresden Institut für Polymerforschung Dresden e. V. (IPF) Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e. V. (IÖR) ifo Institut für Wirtschaftsforschung (Einzige Niederlassung mit Fokus der Wirtschaft in den Neuen Bundesländern) Gymnasien Dresden verfügt über 31 Gymnasien, darunter neun in freier und eins in Landesträgerschaft. Das Martin-Andersen-Nexö-Gymnasium vermittelt eine vertiefte mathematisch-naturwissenschaftliche, das Romain-Rolland-Gymnasium eine vertiefte sprachliche Ausbildung und das Semper-Gymnasium eine vertiefte künstlerische Ausbildung. Dresdens altsprachliches Gymnasium und zugleich die älteste Schule der Stadt ist das Evangelische Kreuzgymnasium, dessen Geschichte bis in das 13. Jahrhundert zurückreicht. Das Sächsische Landesgymnasium für Musik „Carl Maria von Weber“ bildet musikalisch besonders begabte Schüler aus. Weiterhin gibt es eine Eliteschule des Sports, das Sportgymnasium. Persönlichkeiten Ehrenbürger Zu den Ehrenbürgern der Stadt zählen neben Monarchen und Politikern insbesondere Wissenschaftler und Künstler, die in Dresden wirkten – beispielsweise der Wissenschaftler Manfred von Ardenne, die Tanzpädagogin Gret Palucca und der Musiker Richard Strauss. Adolf Hitler war während der Zeit des Nationalsozialismus, wie damals üblich, ebenfalls Ehrenbürger der Stadt. Dieser Status wurde ihm aber nach Mai 1945 wieder aberkannt. Söhne und Töchter der Stadt Der weltweit bekannte Autor Erich Kästner wurde in Dresden geboren und wuchs im Stadtteil Neustadt auf. Zu den bekannten Menschen, die in Dresden geboren wurden, zählt der Maler Gerhard Richter. Er studierte an der Kunstakademie und zählt zu den bedeutendsten deutschen Malern der Nachkriegszeit. Ebenfalls aus Dresden stammen der langjährige SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner und sein FDP-Kollege Wolfgang Mischnick sowie der Fußballtrainer Helmut Schön, der die Auswahl der Bundesrepublik 1972 zur Europa- und 1974 zur Weltmeisterschaft führte. Weitere Erfolge sind zwei Pokalsiege und eine deutsche Meisterschaft. Auch Matthias Sammer (1995 Ballon d’Or, 1996 Fußball-Europameister) wurde in der sächsischen Landeshauptstadt geboren. Die ehemalige Bundesministerin für Familie, Christine Bergmann, wurde in Dresden geboren. So auch Peter Scholze, der erst zweite deutsche Träger der Fields-Medaille, des „Nobelpreises“ für Mathematik. Weitere Personen, die längere Zeit in Dresden lebten und wirkten, waren unter anderem Hans Georg von Arnim-Boitzenburg, Berthold Auerbach, Carl Gustav Carus, Johan Christian Clausen Dahl, Otto Dix, Felix Draeseke, Günter Ehrlich, Hans Erlwein, Caspar David Friedrich, Karl Gutzkow, Heinrich von Kleist, Victor Klemperer, Charlotte Meentzen, Pierre I Mercier, Matthäus Daniel Pöppelmann, Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow, Wilhelm Rudolph, Wolf Curt von Schierbrand, Gertrude Seltmann-Meentzen, Richard Wagner, Carl Maria von Weber, Maria Reiche, Mary Wigman, Erhard Ludewig Winterstein, Nicolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und Otto Zirnbauer. Siehe auch Literatur Chronologisch sortiert: Beschreibung der Königlich-Sächsischen Residenzstadt Dresden und der umliegenden Gegend für Fremde bearbeitet. Erster Teil und zweiter Teil in einem Band. Neudruck [der Ausg.] Dresden, Walthersche Hofbuchhandlung 1807. Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn 2010, ISBN 978-3-940494-43-6. Fritz Löffler: Das alte Dresden. Geschichte seiner Bauten. Seemann, Leipzig 1999, (Erstausgabe 1955, 16. Auflage 2006), ISBN 3-363-00007-3. Alexander McKee: Dresden 1945 – Das deutsche Hiroshima. Paul Zsolnay Verlag, Hamburg/Wien 1983, ISBN 3-552-03529-X. Heinz Quinger: Dresden. (Kunstgeschichtliche Städtebücher). Leipzig 1991. Folke Stimmel, Reinhardt Eigenwill, Heinz Glodschei u. a.: Stadtlexikon Dresden. A–Z. Verlag der Kunst, Dresden 1994, ISBN 3-364-00300-9 (2. Aufl. 1998). Landeshauptstadt Dresden: Flächennutzungsplan. Stadtplanungsamt, Dresden 1998. Landeshauptstadt Dresden: Integriertes Stadtentwicklungskonzept Dresden. Teil I. Analyse und Handlungsfelder. Stadtplanungsamt, Dresden 2001. Ingeborg Flagge: Dresden (FSB Architekturführer. Stadtführer zeitgenössischer Architektur). Verlag Das Beispiel, Darmstadt 2004, ISBN 3-935243-48-0. Thomas Widera: Dresden 1945–1948. Politik und Gesellschaft unter sowjetischer Besatzungsherrschaft (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung. Bd. 25). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, ISBN 3-525-36901-8. Ulrich Hübner, Ulrike Grötzsch u. a.: Symbol und Wahrhaftigkeit. Reformbaukunst in Dresden. Verlag der Kunst, Dresden 2005, ISBN 3-86530-068-5. Eckhart Leisering: Acta sunt hec Dresdene – die Ersterwähnung Dresdens in der Urkunde vom 31. März 1206, Sächsisches Staatsarchiv, Mitteldeutscher Verlag (mdv), Halle/Saale und Dresden 2005, ISBN 3-89812-320-0 (), S. 5/40/35-41/94. Karlheinz Blaschke, Reiner Groß, Holger Starke (Hrsg.): Geschichte der Stadt Dresden. Band 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. ISBN 978-3-8062-1906-7; Band 2: Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Reichsgründung. ISBN 978-3-8062-1927-2; Band 3: Von der Reichsgründung bis zur Gegenwart. Theiss, Stuttgart 2005–2006, ISBN 3-8062-1928-1. Georg Dehio: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler – Dresden. Bearbeitet von Barbara Bechter, Wiebke Fastenrath, Heinrich Magirius u. a., 1996/2005 aktualisiert von Friedrich Kobler, Heinrich Magirius, Mathis Nitzsche und Hartmut Ritschel. Deutscher Kunstverlag, Berlin, ISBN 3-422-03110-3. (mit 40 Plänen und Grundrissen). Thorsten Pietschmann: Dresden. Architektur und Kunst (= Cybela Bildhandbuch Architektur und Kunst. Band 2). Cybela Verlag, Oybin-Lückendorf 2013, ISBN 978-3-944470-00-9. Jürgen Helfricht: Kleines Dresden-ABC. Husum, Husum 2014, ISBN 978-3-89876-719-4. Claudia Quiring, Hans-Georg Lippert (Hrsg.): Dresdner Moderne 1919–1933. Neue Ideen für Stadt, Architektur und Menschen. Sandstein Verlag, Dresden 2019, ISBN 978-3-95498-464-0. Steffen Raßloff: Kleine Geschichte der Stadt Dresden. Rhino Verlag, Ilmenau 2019, ISBN 978-3-95560-072-3. Andreas Krase (Hrsg.): Dresden in Photographien des 19. Jahrhunderts. Schirmer Mosel, München 2020, ISBN 978-3-8296-0777-3 (Bildband mit 250 historischen Aufnahmen). Steffen Raßloff: Dresden. 55 Highlights aus der Geschichte. Sutton Verlag, Erfurt 2021, ISBN 978-3-96303-297-4. Zeitungsartikel: Andreas Ruby: Stadtplanung. Las Vegas an der Elbe. In: Die Zeit. 9. November 2000 und 2. Januar 2014, abgerufen am 25. Dezember 2020. Belletristik Mit Themen aus Dresden: Oliver Bendel: Verlorene Schwestern. Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2009, ISBN 978-3-86660-079-9. Renatus Deckert (Hrsg.): Die wüste Stadt. Sieben Dichter über Dresden. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-458-34849-2. Wilhelm von Kügelgen: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. u. a. hrsg. von Philipp von Nathusius. W. Hertz, Berlin 1870. Eberhard Panitz: Dresdner Novelle 1989. Verlag am Park, Berlin 2009, ISBN 978-3-89793-232-6. Detlev Schöttker (Hrsg.): Dresden. Eine literarische Einladung. Wagenbach Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-8031-1239-7. Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Roman. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-518-42020-1. Mathias Ullmann: Ohne Engel. VAT, Mainz 2009, ISBN 978-3-940884-20-6. Marcus Wächtler: Grüner Dresdner. SWB Media Publishing, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-945769-10-2. Frank Goldammer: Max Heller, Band 1 Der Angstmann. dtv Verlagsgesellschaft, München 2017, ISBN 978-3-423-21696-8. Michael Göring: Dresden. Roman einer Familie. 2. Auflage. Osburg Verlag, Hamburg 2021, ISBN 978-3-95510-243-2. Industrie Tilo Richter (Text), Hans-Christian Schink (Fotos): Industriearchitektur in Dresden. Kiepenheuer, Leipzig 1997, ISBN 3-378-01019-3. Reinhardt Balzk, Jürgen Leibiger (Hrsg.): Industriegeschichte der Stadt Dresden 1945–1990. Beiträge zum 800. Stadtjubiläum. Schkeuditz 2007. Musik Musik in Dresden. Schriften der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ Dresden. Laaber-Verlag, Laaber 1995–2005. Band I: Die Dresdner Oper im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Michael Heinemann und Hans John, ISBN 3-89007-310-7. Band II: Die Dresdner Stadtmusik, Militärmusikkorps und Zivilkapellen im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Anneliese Zänsler, ISBN 3-89007-319-0. Band III: Die Dresdner Kirchenmusik im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Matthias Herrmann, ISBN 3-89007-331-X. Band IV: Dresden und die avancierte Musik im 20. Jahrhundert. Teil I: 1900–1933. Hrsg. von Matthias Herrmann und Hanns-Werner Heister, ISBN 3-89007-346-8. Band V: Dresden und die avancierte Musik im 20. Jahrhundert. Teil II: 1933–1966. Hrsg. von Matthias Herrmann und Hanns-Werner Heister, ISBN 3-89007-510-X. Band VI: Dresden und die avancierte Musik im 20. Jahrhundert. Teil III: 1966–1999. Hrsg. von Matthias Herrmann und Stefan Weiss, ISBN 3-89007-511-8. Band VII: Die Dresdner Oper im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Michael Heinemann und Hans John, ISBN 3-89007-651-3. Weblinks Internetauftritt der Landeshauptstadt Dresden Dresden in Zahlen – II. Quartal 2022 (PDF; 9,3 MB) Dresden auf stadtpanoramen.de Liniennetzpläne des öffentlichen Nahverkehrs www.bausituation-dresden.de Blog mit Fotos Historische Fotografien 1900/1914 (Sammlung Bernd Nasner) Einzelnachweise Kreisfreie Stadt in Sachsen Deutsche Landeshauptstadt Ort mit Binnenhafen Ehemalige Herzogsresidenz Deutsche Universitätsstadt Ort an der Elbe Ehemalige Kreisstadt in Sachsen Weinort im Weinanbaugebiet Sachsen Ehemalige Hauptstadt (Deutschland) Stadt als Namensgeber für einen Asteroiden Träger des Europapreises Deutscher Ortsname slawischer Herkunft Weinort in Sachsen Ersterwähnung 1206
1165
https://de.wikipedia.org/wiki/Tulpenmanie
Tulpenmanie
Bei der Tulpenmanie (auch Tulipomanie, Tulpenwahn, Tulpenblase, Tulpenfieber oder Tulpenhysterie; , oder ) handelt es sich um eine Periode im Goldenen Zeitalter der Niederlande, in der Tulpenzwiebeln zum Spekulationsobjekt wurden. Tulpen waren seit ihrer Einführung in die Niederlande in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein Liebhaberobjekt. Sie wurden in den Gärten der sozial gehobenen Schichten des gebildeten Bürgertums, der Gelehrten und der Aristokratie kultiviert. Zu den auf Tauschhandel gegründeten Beziehungen dieser Liebhaber kam zum Ende des 16. Jahrhunderts der kommerzielle Handel mit Tulpen hinzu. In den 1630er Jahren stiegen die Preise für Tulpenzwiebeln auf ein vergleichsweise extrem hohes Niveau, bevor der Markt zu Beginn des Februars 1637 abrupt einbrach. Die Tulpenmanie wird als die erste relativ gut dokumentierte Spekulationsblase der Wirtschaftsgeschichte angesehen. Sie wird auch metaphorisch zur Charakterisierung anderer, anscheinend irrationaler und riskanter Finanzentwicklungen gebraucht. Die Deutungen über den Anlass, den Verlauf und die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Tulpenmanie gehen auseinander. Für die traditionelle Lesart der Ereignisse und Auswirkungen, die sich schon in der zeitgenössischen Kritik findet und von späteren Interpretationen aufgegriffen wurde, waren in den Handel mit Tulpen in den 1630er Jahren große Teile der niederländischen Bevölkerung bis in die untersten Gesellschaftsschichten involviert. Der rasche Preisverfall habe demgemäß den Ruin vieler Beteiligter bedeutet und der niederländischen Wirtschaft insgesamt einen schweren Schaden zugefügt. Andere Lesarten bemühen sich, den Preisanstieg und Preisverfall von Tulpen im Lichte der Markteffizienzhypothese nicht als irrationale und singuläre Manie darzustellen, kehren institutionelle Ursachen für die Blase hervor und relativieren die gesamtwirtschaftliche Relevanz. Bedingungen Tulpenliebhaberei in den Niederlanden Das Zentrum der Artenvielfalt der Pflanzengattung Tulpen (Tulipa) liegt im südöstlichen Mittelmeerraum. Von den Persern übernahmen die Türken die Kultivierung der Tulpen im 15. Jahrhundert. Im Osmanischen Reich galt sie als eine der edelsten Blumen und wurde spätestens im 18. Jahrhundert in großen Mengen in den Gärten des Sultans gepflanzt. Aus dem Osmanischen Reich gelangten Tulpen um 1555–60 über Konstantinopel (heute Istanbul) nach Wien. Wahrscheinlich importierte erstmals Ogier Ghislain de Busbecq, ein flämischer Edelmann und Botschafter von Kaiser Ferdinand I. am Hofe Süleyman I., Tulpensamen und -zwiebeln. Von ihm hat sich auch eine der frühesten, möglicherweise sogar die erste angefertigte Beschreibung eines Westeuropäers von einer Tulpe überliefert. In einem Brief vom 1. September 1555 gab er ihr den Namen Tulipan. Auch auf anderen Wegen, etwa aus Südeuropa oder im Zuge des Handels mit der Levante, gelangten Tulpen nach Mitteleuropa. 1559 sah der Schweizer Gelehrte Conrad Gessner im Garten des Augsburger Bankiers Johannes Heinrich Herwarth eine rote Tulpe, die er als Tulipa Turcarum beschrieb. Die Einführung der Tulpe leitete in der Gartenkultur die sogenannte orientalische Periode ein, in der neben Tulpen auch Hyazinthen und Narzissen Eingang in die westeuropäischen Gärten fanden und sich dort großer Wertschätzung erfreuten. Der flämische Botaniker Carolus Clusius, seit 1573 Präfekt des Kaiserlichen Heilkräutergartens (Hortus botanicus medicinae) in Wien, kultivierte Tulpen ab 1574 in großem Stile. Im Garten Maximilians II. ließ er Zwiebeln und Samen auspflanzen bzw. aussäen. In der Folgezeit wurden blühende Tulpen unabhängig voneinander in Brüssel (1577), in Leiden (1590), in Breslau (1594) und in Montpellier (1598) beschrieben. Nach einer Station in Frankfurt am Main wurde Clusius 1593 zum Professor für Botanik in Leiden berufen und stand dort dem Hortus botanicus vor. Wie bereits in Frankfurt und in Wien war Clusius in Leiden ein wichtiger Punkt in einem Netzwerk an Blumenliebhabern, den . Sie waren durch ihren gehobenen gesellschaftlichen Rang, ihre humanistische Bildung und ihre Wertschätzung für Pflanzen miteinander verbunden. Im exklusiven Zirkel dieser Enthusiasten mischten sich Vertreter verschiedener sozialer Kreise. Zu den Blumenliebhabern zählten Gelehrte, gebildete und wohlhabende Bürger (Apotheker, Ärzte, Notare, Händler, Advokaten) sowie Adlige, für welche alle der Umgang mit Pflanzen keine Landwirtschaft, sondern eine Liebhaberei war. Tulpen wurden aufgrund mehrerer Eigenschaften geschätzt. Sie waren neu, exotisch, exklusiv, dekorativ und anspruchsvoll. Um ihre Begeisterung für die Blumenzucht und zu pflegen, legten Amateure private Gärten an und besuchten sich gegenseitig in diesen, um sich über die Kultivierung der neuen Sorten auszutauschen und die jeweiligen Exemplare in Augenschein zu nehmen. Befördert wurde die Anlegung privater Gärten durch das Wachstum der holländischen Städte jenseits der Stadtmauern. So wurden beispielsweise die Häuser, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts an den Kanälen der Amsterdamer Herengracht, Keizersgracht und Prinsengracht gebaut wurden, mit rückwärtigen Gärten konzipiert. In anderen Städten wie in Haarlem legte man Gärten außerhalb der Stadtmauern an. In diesen Gärten wurden nicht mehr nur Heil- und Nutzkräuter gezogen, sondern die Gärten dienten auch der Kultivierung neuer Pflanzenarten wie Tulpen. So enthielt der Hortus botanicus in Leiden, der vor allem für Pflanzen zur medizinischen Verwendung angelegt wurde, bei Clusius’ Tod mehr als 600 Tulpenzwiebeln, mit denen keinerlei medizinische Wirkung verbunden wurde. Manche Blumenliebhaber spezialisierten sich auf das Sammeln und die Zucht von Tulpen, die in den Beeten mit großzügigem Abstand zueinander einzeln wuchsen. Ausdruck fand die gesteigerte Wertschätzung und Bekanntheit für Blumen in den Stillleben, wie sie in dieser Periode etwa von Ambrosius Bosschaert d. Ä., Balthasar van der Ast und Roelant Savery gemalt wurden. In manchen dieser Werke taucht die Tulpe in Verbindung mit anderen Gegenständen als Symbol der Vanitas auf. Die kurze Blühdauer von April bis Juni und das zeitige Vergehen der Pflanzen nach der Blüte machten die Tulpen, so eine Lesart dieser Bilder, zum Memento mori. Tulpen wurden auch in Wunderkammern gesammelt. Diese Kollektionen waren im Prinzip unterteilt in naturalia und artificialia. Jedoch wurden in der Praxis in der Natur vorkommende und menschgemachte Objekte zusammengesammelt und ausgestellt. Beispielsweise gehörte zum Hortus botanicus in Leiden auch eine Galerie (das Ambulacrum), in der die Raritätensammlung des Barent ten Broecke d. Ä. (Bernardus Paludanus) untergebracht war. Tulpenzwiebeln und Bilder von Tulpen fanden sich in diesen Kunst- und Naturalienkabinetten neben Kunstwerken und anderen raren und wertvollen Dingen wie Straußeneiern, Narwalhörnern, seltenen Mineralien und Muscheln. Manche Autoren wie der Sieur de La Chesnée Monstereul gingen so weit, die Tulpe zu den artificialia und nicht zu den naturalia zu zählen, weil in den Tulpenzüchtungen natürliche und menschliche Faktoren zusammenkamen. Das Sammeln von Tulpen und anderen Raritäten wurde bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden kritisch begutachtet. In seiner 1614 erschienenen polemischen Sammlung von Emblemen (‚Sinnsprüche‘, Amsterdam 1614) vergleicht Roemer Visscher den Eifer der Sammler von Muscheln mit dem der Sammler von Tulpen. In zwei aufeinander folgenden Blättern zeigt er zum einen exotische Muscheln unter dem Titel („Es ist verrückt, für was ein Narr sein Geld ausgibt“), zum anderen Tulpen unter der Überschrift („Ein Narr und sein Geld sind eilends geschieden“). Die Tulpenliebhaber unterhielten ihre Beziehungen durch den Tausch, nicht den Verkauf von Tulpen. Ihre Reputation beruhte auf Kennerschaft, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und der Bereitschaft, Wissen und Güter bereitwillig zu tauschen. Jedoch bedingte die hohe Wertschätzung und Seltenheit der Tulpen auch, dass sie zu einem finanziell kostbaren Gut wurden. Dies zeigt sich etwa in den Diebstählen von Tulpenzwiebeln. So wurde Clusius allein 1569 zweimal bestohlen, und ihm wurden dabei über 100 Tulpen entwendet. Zu der Kultur der Blumenliebhaber trat der kommerzielle Handel mit Blumen. Seit mindestens der Mitte der 1570er Jahre wurden seltene Pflanzen und Blumen gehandelt. Clusius berichtet beispielsweise von Händlern, die 1576 Schneerosen in Wien verkauft hätten. Zu den etablierten Amateuren und ihren Tauschgeschäften kamen neue Akteure hinzu, die mit Blumen kommerziell handelten (rhizotomi ‚Wurzelschneider‘, wie Clusius sie nannte). Es finden sich aber auch Belege, dass die selbst und nicht nur neu dazukommende Händler aktiv an der Kommodifizierung der Tulpen teilgehabt haben und Tulpen sowohl kauften als auch verkauften. Tulpenzucht Die Seltenheit von Tulpen begründete sich nicht nur in ihrer klimabedingten Anfälligkeit für Krankheiten und Fäulnis. Auch die bevorzugte Art der Vermehrung setzte einer massenhaften Verbreitung Grenzen: Zwar können Tulpen über Samen verbreitet werden, doch benötigt in dieser Form das Heranwachsen einer blühfähigen Pflanze sieben bis zehn Jahre. Daher erfolgte die Vermehrung vegetativ mittels Tochterzwiebeln. Als Geophyten bilden Tulpen in der Erde geschützte Zwiebeln aus, um den Winter zu überdauern und im nächsten Frühjahr erneut auszutreiben. Nach der Blüte wachsen im Frühjahr bis zum Sommer an den Mutterzwiebeln Tochterzwiebeln, die nach der Blüte „gerodet“ werden können. Sie existieren dann als eigenständige blühfähige Exemplare. Die Mutterzwiebeln werden nach der Blüte mit den gebildeten Tochterzwiebeln den Sommer über aus der Erde genommen und erst im September bzw. Oktober wieder eingepflanzt, wo sie bis zur nächsten Blüte überwintern. In den Niederlanden trieben die Züchter und Sammler neben der mengenmäßigen Vergrößerung des Tulpenbestandes zudem die Zucht von Sorten voran. Das Wissen über die korrekte Bestellung und Pflege der Pflanzen wurde sowohl in Abhandlungen von Botanikern wie Rembert Dodoens und Matthias de L’Obel als auch in populären Schriften wie Emanuel Sweerts Florilegium oder Crispijn van de Passes d. J. Hortus floridus verbreitet. Tulpen wurden wegen ihrer spontanen Farb- und Formwechsel und der dadurch erzielten unzähligen Varianten geschätzt. In der Zeit zwischen 1630 und 1650 kannte man rund 800 namentlich unterschiedene Tulpensorten. Die in der Zucht entstandenen Cultivare wurden in Gruppen klassifiziert: Unter die Couleren zählten beispielsweise alle einfarbigen roten, gelben und weißen Tulpen, die Rozen zeigten eine violette bzw. lila Färbung auf weißem Grund, während zu den Bizarden alle Tulpen gerechnet wurden, die eine rote, braune oder violette Färbung auf gelbem Grund aufwiesen. Die gemusterten Blütenblätter („das Brechen“) sind Resultat des Tulpenmosaikvirus, das von Blattläusen übertragen wird und über infizierte Tochterzwiebeln weitergegeben werden kann. Dementsprechend unberechenbar und selten waren erfolgreiche Zuchtlinien, insbesondere deshalb, weil der Grund für die plötzliche Farbänderung den damaligen Züchtern unbekannt war – er wurde erst 1924 gefunden – und weil die gebrochenen Tulpen schwächer und anfälliger sowie in ihrem Farbmuster weniger konstant waren als gesunde Tulpen. Auch wenn den Züchtern der Grund der Farbvariationen unbekannt war, suchten sie nach Wegen, Tulpen gezielt zu brechen. Beispielsweise wurden zwei Hälften verschiedener Zwiebeln zusammengebunden, Tulpenzwiebeln wurden mit Tinte getränkt, oder Taubenmist wurde auf dem Gartenboden verbrannt. Die Wertschätzung für Tulpen in den Niederlanden drückt sich in ihrer Benennung aus. So finden sich zahlreiche Tulpen mit den Namensbestandteilen Admirael und Generael, was den höchsten in dieser Zeit erreichbaren gesellschaftlichen Positionen entspricht. Zum Beispiel hieß eine der Tulpen des Züchters Francesco Gomes da Costa Admirael da Costa oder die Sorten Admirael van Enkhuizen bzw. Generael der Generaels van Gouda kamen aus Enkhuizen bzw. Gouda. Zudem gab es Anspielungen auf kostbare Materialien (z. B. ‚Goldstoff‘) oder bekannte Figuren der klassischen Antike (z. B. ‚Schöne Helena‘). Auch wurden zur Bezeichnung von Tulpensorten häufig Anleihen bei anderen in den Wunderkammern gezeigten Gegenständen gemacht. So finden sich Hinweise zu Sorten mit den französischen bzw. niederländischen Namen Agaat (Achat), Morillon (ungeschliffener Smaragd), Ghemarmerde (marmoriert) oder Marquetrine (Marketerie). Es waren besonders die mehrfarbig geflammten, gestrichelten, gestreiften, geränderten oder gesprenkelten Tulpen, die im Zentrum der Spekulationsgeschäfte der Tulpenmanie standen. Die meisten dieser Sorten sind mittlerweile ausgestorben. So ist von der damals wertvollsten Tulpe, Semper Augustus (‚der immer Erhabene‘), kein Exemplar erhalten, weil in jüngerer Zeit mit dem Tulpenmosaikvirus befallene Pflanzen von den Züchtern vernichtet werden, damit sie nicht den gesamten Bestand infizieren. Organisation des niederländischen Tulpenhandels Zwiebeln wurden während der Pflanzzeit in den Sommermonaten gehandelt. Die gerodeten Zwiebeln wurden dabei in Spotmärkten verkauft. Der Handel mit Tulpen ließ sich nicht auf diese kurze Periode beschränken. Die Händler gingen dazu über, auch solche Zwiebeln zu kaufen und zu verkaufen, die sich noch in der Erde befanden und erst später, nach der Blüte, ausgegraben werden konnten. Die in diesen Transaktionen getätigten Börsen- bzw. Terminkontrakte konnten notariell beglaubigt werden oder wurden inoffiziell auf Papierstreifen (coopcedulle) festgehalten. Gelegentlich bedienten sich die beiden Handelsparteien eines Vermittlers () zur Aushandlung der Kaufbedingungen. Die Bezahlung der Tulpen war gewöhnlich dann fällig, wenn die Zwiebeln nach der Blüte aus der Erde genommen und übergeben wurden. Als Konsequenz entwickelte sich der Tulpenhandel zum Spekulationsgeschäft, da niemand in der Lage war, verbindliche Aussagen darüber zu treffen, wie die gehandelten Tulpen aussehen, noch ob sie in der neuen Saison überhaupt blühen würden. Aufgrund dieser unklaren Handelsgrundlage wurde das Geschäft mit Tulpen auch als bezeichnet. Zum Zwecke der Veranschaulichung des zu erwartenden Aussehens einer Tulpe gaben die Züchter und Händler Kupferstiche, Aquarelle und Gouachen von Tulpensorten in Auftrag und sammelten diese in Handels- bzw. Versteigerungskatalogen, so genannten Tulpenbüchern. Von ihnen sind Anfang des 21. Jahrhunderts insgesamt 45 Exemplare erhalten geblieben. Die Besonderheit dieser Tulpenbücher ist, dass neben den Illustrationen selbst auch die Namen und gelegentlich auch noch das Gewicht und die Preise der abgebildeten Sorten am Rand der Blätter verzeichnet sind. Mit der steigenden Beliebtheit der Zierpflanze kamen neue Formen des Tulpenhandels dazu, und ab der Mitte der 1630er Jahre ist im Vergleich zu anderen Produkten ein Preisanstieg zu bemerken. Spätestens um das Jahr 1634 betraten Spekulanten den Markt, die Tulpen nicht nur in der Hoffnung kauften, sie zu späterer Zeit selbst in ihren Garten zu setzen, sondern sie erwarben, um sie bei steigenden Preisen mit Gewinn weiterzuverkaufen. Der Leerverkauf war auch in anderen Sektoren der niederländischen Wirtschaft verbreitet. So verkaufte die Niederländische Ostindien-Kompanie ihre verschifften Waren, noch bevor diese ausgeliefert werden konnten. Jedoch untersagten die Generalstaaten 1610 diese Art des Handels, und das Verbot wurde in den Folgejahren, 1621, 1630 und 1636, bestätigt. Dies bedeutete, dass entsprechende Verträge nicht vor Gericht einklagbar waren. Jedoch wurden die Händler, die solcherart Geschäfte betrieben, auch nicht explizit verfolgt, so dass Formen des Leerverkaufs stets genutzt wurden. Auch konnten diese Verdikte nicht verhindern, dass Optionsscheine auf Tulpenzwiebelanteile gehandelt wurden. Die umfassendste Beschreibung der Organisation des niederländischen Tulpenhandels zur Zeit der Tulpenmanie hat sich in dem spekulationskritischen Pamphlet erhalten, das drei satirische Dialoge der beiden Weber (‚Habgier‘) und (‚Wahrmund‘) wiedergibt. Es wurde kurz nach dem Ende der Spekulationsblase 1637 von Adriaen Roman aus Haarlem verbreitet. Folgt man der dortigen Beschreibung, dann fand der Handel mit Tulpenzwiebeln nicht in Börsengebäuden statt, sondern die Händler trafen sich in so genannten Kollegs ( bzw. ) in bestimmten Herbergen und Schankhäusern. Bei den Treffen der Kollegs wurden Tulpen gehandelt, bewertet und das Wissen über Sorten und Akteure ausgetauscht. Tulpenzwiebeln wurden zum Teil als einzelne Zwiebelexemplare, zum Teil nach Gewicht verkauft, im Speziellen nach der Goldschmiedeeinheit asen (ein Aes = 0,048 Gramm und ein Pfund = 9.729 Asen in Haarlem bzw. 10.240 Asen in Amsterdam). Der Verkäufer hatte die Möglichkeit einer Auktion (), oder beide Seiten schrieben ihren Preiswunsch auf einen Zettel bzw. ein Brett () und zwei jeweils gewählte Unterhändler () einigten sich auf einen Preis (). Käufer waren verpflichtet, eine Gebühr von 2,5 Prozent des Verkaufspreises bzw. bis zu drei Gulden (das sog. „Weingeld“ bzw. in holländischen Gulden, also in florins (Dfl) bzw. guilders) zu zahlen, die vor Ort für Speisen, Getränke und Trinkgelder ausgegeben wurden. Wenn man aus bereits angelaufenen Verkaufsverhandlungen wieder aussteigen wollte, dann war die Zahlung eines (Bußgeld) fällig. Mitunter wurde die Verpflichtung, eine Zwiebel zu liefern, über Zwischenhändler weiterverhandelt. Tulpen wurden außerdem auf offiziellen Auktionen versteigert, wie bei den Auktionen einer (Waisenhaus), wenn diese den Nachlass eines Verstorbenen zu Gunsten seiner Kinder versteigerte. Daten und Verlauf Tulpenpreise Für den Zeitraum von 1630 bis 1637 haben sich keine vollständigen Preisdaten erhalten. Daher ist es nicht möglich, exakte Aussagen über den Preisverlauf und das Ausmaß des Wertverlusts von Tulpenzwiebeln zu machen. In der Mehrzahl stammen die Daten auch aus dem . Die Aufstellung des amerikanischen Wirtschaftshistorikers Peter M. Garber, der die Informationen zu Verkäufen von 161 Zwiebeln von 39 Sorten zwischen 1633 und 1637 zusammentrug, zeigt, dass selbst gleiche Tulpensorten zum selben Zeitpunkt zu unterschiedlichen Preisen gehandelt wurden. Der Grund hierfür liegt in den verschiedenen möglichen Handelsweisen und Handelsorten. Tulpen konnten in den Terminbörsen der Kollegs, bei Auktionen, auf Spotmärkten beim Züchter und durch notariell beglaubigte Terminkontrakte verkauft bzw. erworben werden. Schon in den 1620er Jahren war es unter Umständen möglich, für einzelne Tulpensorten sehr hohe Preise zu erzielen. Beispielhaft hierfür steht die Tulpe Semper Augustus. Sie wurde 1637 als teuerste Tulpe aller Zeiten gehandelt. Einem Bericht aus dem Jahr 1623 zufolge sollten alle damals existierenden zwölf Tulpen dieser Sorte dem Amsterdamer Bürger Adriaan Pauw auf seinem Gut Heemstede gehören. 1623 kostete jede dieser Zwiebeln 1.000 Gulden, 1624 stand der Preis bei 1.200 Gulden, 1633 war er auf 5.500 Gulden gestiegen und 1637 wurden für drei Zwiebeln 30.000 Gulden geboten. Zum Vergleich: Das Durchschnittsjahreseinkommen in den Niederlanden lag bei etwa 150 Gulden, die teuersten Häuser an einer Amsterdamer Gracht kosteten rund 10.000 Gulden. Jedoch scheinen diese sehr hohen Tulpenpreise zu jener Zeit die Ausnahme gewesen zu sein. So wurden 1611 Tulpen der Sorte (‚Kerzen auf einem Leuchter‘) für 20 Gulden verkauft. Aus dem Oktober 1635 haben sich Daten zum Verkauf einer Tulpe der Sorte für 30 Gulden erhalten. Dass die Preise für Tulpenzwiebeln zu Beginn der 1630er Jahre anzogen, lässt sich an den Sorten ablesen, für die in zeitlicher Folge mehrere Preisdaten verfügbar sind. Beispielsweise verdoppelte sich der Preis einer Tulpe der Sorte von 0,07 Gulden per Aes am 28. Dezember 1636 auf 0,15 Gulden per Aes am 12. Januar 1637. Der Preis der Sorte Switserts stieg in diesen zwei Wochen von 125 Gulden auf 1.500 Gulden für das Pfund, ein Anstieg auf das Zwölffache. Verlauf Ihren Höhepunkt erreichten die Preise für Tulpen bei der Weeskamer-Versteigerung am 3. Februar 1637 in Alkmaar. Sie wurde von den weesmesters (Rektoren des Waisenhauses) für die Nachkommen von Wouter Bartholomeusz Winckel veranstaltet. Auf der Auktion wurden für 99 Posten Tulpenzwiebeln insgesamt rund 90.000 Gulden erzielt. Es finden sich aber weder für die einzelnen Preise noch für die Käufer verlässliche Belege. Eine kurze Zeit nach der Auktion erschienenes Flugblatt enthält eine Preisliste, doch ohne Angaben, wer diese Summen auf der Auktion geboten haben soll. Der durchschnittliche Preis der versteigerten Tulpen betrug 793 Gulden. Das meiste Interesse zogen in den späteren Auseinandersetzungen mit den Ereignissen die Tulpen auf sich, für welche weitaus höhere Preise geboten worden sein sollen. So kam eine Tulpe der Sorte 'Viceroy' für 4.203 Gulden unter den Hammer, eine Admirael van Enchhysen wurde für 5.200 Gulden verkauft. Zwei Tage nach der Auktion in Alkmaar, am 5. Februar 1637, hatte der Verfall von Preisen in Haarlem seinen Anfang genommen. Bei einer der regelmäßigen Wirtshausversteigerungen konnte keine der angebotenen Tulpen zu dem erwarteten Preis verkauft werden. In den nächsten Tagen brach dann in den gesamten Niederlanden der Tulpenmarkt zusammen. Das System des Handels funktionierte nur so lange, wie die Händler mit steigenden Preisen und der Option rechneten, dass ein Käufer bereit wäre, die reale Tulpenzwiebel zu erwerben. Als sich keine neuen Käufer fanden, die in die Preisspirale einsteigen wollten, fiel der Wert von Tulpen um geschätzt mehr als 95 Prozent. Am Ende der Spekulationsblase fanden sich Händler mit Verpflichtungen, Tulpenzwiebeln im Sommer zu einem Preis weit über den aktuellen Marktpreisen zu erwerben, während andere Marktakteure Tulpenzwiebeln verkauft hatten, die nur noch einen Bruchteil des Wertes besaßen, um den sie ihnen abgekauft worden waren. Um einen Weg aus dieser Krise zu finden, entsandten am 23. Februar 1637 verschiedene Städte Delegierte zu einem Treffen nach Amsterdam. So waren bei dieser Zusammenkunft insgesamt 36 Blumenhändler aus zwölf Städten und Regionen (Haarlem, Leiden, Alkmaar, Utrecht, Gouda, Delft, Vianen, Enkhuizen, Hoorn, Medemblik und der Region De Streeck) vertreten. Auch Händler aus Amsterdam selbst waren zugegen, doch weigerten sie sich, die getroffene Vereinbarung zu unterzeichnen. Die Abmachung sah vor, allen Kaufverträgen Gültigkeit zuzusichern. Aber jeder Käufer hatte bis März 1637 das Recht, Käufe zu annullieren, die nach dem 30. November 1636 (dem Ende der vorherigen Pflanzsaison) getätigt worden waren. Als Ausgleich hätten in diesem Fall nur 10 Prozent des Kaufpreises als Bußgeld gezahlt werden müssen. Weil aber diese Abmachung nicht rechtlich verbindlich war und mit Amsterdam ein wichtiges Zentrum des Handels sich weigerte, zu kooperieren, wurde die Vereinbarung nicht eingehalten. Ein zweiter Anlauf zur Lösung der Krise ging von Städten unter dem Druck einflussreicher Blumenhändler aus. So wurde in Haarlem vorgeschlagen, den Staaten von Holland und Westfriesland die Idee zu unterbreiten, alle Transaktionen seit dem Ende der letzten Pflanzzeit (planttijt) Ende September 1636 ohne Strafzahlungen zu annullieren. Der Ältestenrat (vroedschap) diskutierte diesen Vorschlag am 4. März 1637 und kam zu dem Entschluss, dass dieses Anliegen vor den Staaten vertreten werden sollte. Diesen Beschluss unterstützten auch die Bürgermeister (burgemeesters), wohl auch unter dem Einfluss wichtiger regenten (Mitglieder der patrizischen Stadtregierung in den Niederlanden) wie Cornelis Guldewagen und Johan de Wael. Beide besaßen Brauereien in Haarlem, gehörten zur bürgerlichen Oberschicht und bekleideten über Jahrzehnte verschiedene öffentliche Ämter in der Stadtverwaltung. Kurz vor dem Preisverfall waren sie in das Geschäft mit Tulpen eingestiegen, indem sie 1.300 Zwiebeln aus dem Garten des bankrotten Amsterdamer Händlers Anthony de Flory kauften. In den Gerichtsakten tauchen sie auf, weil sie in der Folgezeit mehrfach versuchten, gerichtlich aus dem Vertrag auszusteigen. In Hoorn ging der Magistrat denselben Weg, während Alkmaar einen entgegengesetzten Kurs einschlug. Am 14. März 1637 forderte Alkmaar seine Repräsentanten in den Staaten auf, die Einhaltung aller Verträge einzufordern. Zwar beschäftigten sich die Staaten mit den Eingaben, doch verwiesen sie die Städte am 11. April 1637 an den obersten Gerichtshof der Provinz Holland (Hof van Holland). In seiner Entscheidung vom 23. April 1637, die von den Staaten am 25. April 1637 verkündet wurde, erklärte der Gerichtshof: Erstens sollten alle Verträge in Kraft bleiben. Zweitens sollten die einzelnen Städte die bloemisten bei ihrer Suche nach einvernehmlichen Lösungen (viam concordiea) unterstützen. Wo dies nicht gelänge, sollten die Probleme dem Gerichtshof rückgemeldet werden. Drittens war es den Verkäufern erlaubt, im Fall, dass die Käufer ihre Abmachung brechen würden, die betreffenden Zwiebeln nochmals zu verkaufen. Dabei sollte der erste Käufer für die Differenz zwischen dem ersten abgemachten und dem zweiten erzielten Preis einstehen. In Haarlem wurde dieser Schiedsspruch so umgesetzt, dass ab 1. Mai 1637 Streitigkeiten wegen Tulpenverkäufen nicht mehr vor Gericht gebracht werden durften. Die Blumenhändler mussten sich untereinander einig werden. Da aber auf diese Weise viele Streitfälle ungelöst blieben, wandten sich die burgemeesters von Haarlem im Juni 1637 erneut an den Hof van Holland mit der Bitte, den Schiedsspruch aufzuheben. Weil aber der Gerichtshof diesem Antrag nicht folgte, stellten die burgemeesters von Haarlem am 30. Januar 1638 eine Kommission zusammen (Commisarissen van den Bloemen Saecken). Eine ähnliche Lösung wurde in Alkmaar und nach heutigem Kenntnisstand eventuell auch in weiteren Städten gefunden. Ziel war es, die Konflikte einvernehmlich beizulegen (per accomodatie). Die endgültige Lösung bestätigten die Bürgermeister von Haarlem am 28. Mai 1638: Die Verträge konnten annulliert werden, wenn die Käufer zur Zahlung einer Strafe in Höhe von 3,5 Prozent des ursprünglichen Kaufpreises bereit waren. Erklärungen Es existieren verschiedene Ansätze, den Preisanstieg und Preisverfall von Tulpen im Winter 1636/37 zu erklären. Während traditionell eine kritische Deutung der Ereignisse als irrationale Manie vorherrschte, bemühen sich neuere Arbeiten aus marktrationalen, institutionellen und historischen Perspektiven um ausgewogenere Interpretationen. Der Tulpenzwiebelwahn im 17. Jahrhundert wird weiter oft auch zur Bewertung aktueller Marktgegebenheiten herangezogen. Traditionelle Deutungen Die traditionelle Deutung des Preisanstiegs und Preisverfalls von Tulpen versteht diese Ereignisse als exzessive Finanzspekulation und leichtsinnige Verrücktheit. Entscheidend für die Verbreitung der Idee einer Tulpenmanie war das Buch , das der schottische Journalist Charles Mackay 1841 in London veröffentlichte. Mackay vertrat darin die These vom irrationalen Massenverhalten und unterstützte diese durch die Beispiele der Südseeblase und des Skandals um die Mississippi-Kompanie (beide 1720). Grundelemente seiner Darstellung, die in den anschließenden Auseinandersetzungen vielmals weitergetragen wurden, sind zum einen die Behauptung, die Tulpenmanie habe alle Bevölkerungsschichten der Niederlande erfasst und in kommerzielle Spekulationen getrieben, und zum anderen die Behauptung, sie habe die Beteiligten ruiniert und der niederländischen Wirtschaft insgesamt einen schweren Schaden zugefügt. Außerdem verbreitete Mackays Text einige danach immer wieder zu findende Anekdoten, etwa die vom Tausch eines sehr umfangreichen Warenkorbs gegen eine Tulpe der Sorte 'Viceroy' oder die vom Missgeschick eines Mannes, der aus Versehen eine der kostbaren Tulpenzwiebeln mit einer einfachen Gemüsezwiebel verwechselt und verspeist habe. Mackays wichtigste Quelle für seine Informationen und die von ihm vorgebrachte kritische Lesart der Tulpenmanie ist Johann Beckmann, welcher wiederum auf den niederländischen Botaniker Abraham Munting vertraute. Dieser wurde 1626 geboren und ist kein Augenzeuge der Tulpenmanie. Munting verließ sich auf zwei Dokumente, die damit die Grundlage für alle späteren Texte und deren kritischen Deutung des Tulpenhandels bilden. Zum einen ist dies eine Chronik von Lieuwe van Aitzema und zum anderen das Pamphlet von Adriaen Roman. Da Aitzema wiederum seine Beschreibung auf Pamphlete und Flugblätter gründet, bildet diese Sammlung an zeitgenössischen Texten die Hauptquelle der populären Auseinandersetzung mit der Tulpenmanie. Der überwiegende Teil der Kritik in diesen Flugblättern und Handzetteln, die im Frühjahr 1637 in verschiedenen Städten kursierten, wirft den Blumenhändlern vor, sie hätten Tulpen zu ihren Götzen gemacht und damit Gott beleidigt, sie hätten durch unlauteren Handel nach Geld gestrebt und sie hätten die soziale Ordnung gefährdet. Das von Mackay entworfene Bild des Preisanstiegs und Preisverfalls von Tulpen als umfassender und zerstörerischer Manie macht das historische Ereignis zum Paradebeispiel einer durch Massenhysterie fehlgeleiteten Marktentwicklung. In dieser Form findet die Tulpenmanie Eingang in populärwissenschaftliche Betrachtungen zu Finanzmärkten und späteren Finanzkrisen, wie etwa Burton Malkiels (1973) oder Kenneth Galbraiths (1990). So taucht die Tulpenmanie auch in Oliver Stones Film Wall Street: Geld schläft nicht (2010) auf. Darin nutzt der Spekulant Gordon Gekko eine historische Darstellung des sich wandelnden Marktwerts von Tulpen, um die Finanzkrise ab 2007 zu erklären und zu bewerten. Marktrationale Erklärung Seit den 1980er Jahren haben sich Ökonomen an einer positiveren Sicht auf das spekulative Verhalten versucht und Mackays Deutung kritisch begutachtet. Hinterfragt werden dabei das Ausmaß, in dem die Spekulationswelle die Bevölkerung erfasste, und das Ausmaß der negativen ökonomischen Auswirkungen der Tulpenmanie. In seiner Erklärung, warum die Händler immer höhere Preise für Tulpen zu zahlen bereit waren, hebt der amerikanische Wirtschaftshistoriker Peter M. Garber den Aspekt der spielerischen Zerstreuung und die erhöhte Risikobereitschaft in Pestzeiten hervor. Während der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts grassierten in Abständen Beulenpestepidemien in den niederländischen Städten, was Garber als Begründung für die Bereitschaft zum Risiko und als Erklärung für die zur Verfügung stehenden Geldsummen (durch Erbschaft) anführt. Anhand der von ihm genutzten Preisdaten für Tulpenverkäufe im Winter 1636/1637 und für danach erfolgte Transaktionen von Tulpen in den Jahren 1643, 1722 und 1739 argumentiert er, dass der jährliche Preisverfall von Sorte zu Sorte variierte und von 76 Prozent bis 24 Prozent betragen konnte. Im Vergleich mit den Preisen für Hyazinthen im 18. Jahrhundert erklärt Garber, dass die Behauptung, die Tulpenmanie sei ein einmaliges Geschehen, nicht aufrechterhalten werden könne. Vielmehr würden die Preiskurven deutliche Parallelen aufweisen. Auch bei Hyazinthen seien die Preise für die teuersten Sorten innerhalb von drei Jahrzehnten auf ein bis zwei Prozent des ursprünglichen Wertes gefallen. An Garbers marktrationale Erklärung, basierend auf der Markteffizienzhypothese, schließt die Überlegung von Douglas French an. Er behauptet, die Tulpenmanie sei auch deshalb möglich geworden, weil die Geldpolitik der Amsterdamer Wechselbank (Wisselbank) und die Kaperung der Spanischen Silberflotte am 17. September 1628 durch Piet Pieterszoon Heyn dazu führten, dass mehr Geld verfügbar war, welches spekulativ eingesetzt werden konnte. Institutionelle Erklärung Garbers vergleichender Argumentation widerspricht der amerikanische Ökonom Earl A. Thompson. Er weist darauf hin, dass der Preisverfall von Tulpen in den 1630er Jahren nicht die behauptete Änderung um rund 40 Prozent betrug, sondern 99,999 Prozent. Dass die Händler im Winter 1636/1637 bereit waren, immer höhere Geldsummen für Tulpen zu bieten, erklärt Thompson mit dem Dekret, welches die Delegierten der Händler am 24. Februar in Amsterdam verabschiedeten. Er geht davon aus, dass dieses Dokument nicht die Reaktion auf den Preissturz zu Beginn des Monats Februar gewesen sei, sondern nur der Endpunkt eines längeren Vorhabens. Die Händler hätten danach gestrebt, die Verträge im Bedarfsfall verlustlos annullieren zu können, und seien in Erwartung der Bestätigung dieses Ansinnens bereits vorfristig risikoreiche Verträge eingegangen. In seiner Deutung eröffnet das Dekret eine Ausstiegsklausel für Kaufverträge. Dem Käufer von Tulpenzwiebeln stand es frei, aus eingegangenen Verträgen auszusteigen und in diesem Fall eine Vertragsstrafe in Höhe von 3,5 Prozent des Handelswertes zu zahlen. Diese Möglichkeit habe die preistreibenden Spekulationen der Händler begünstigt, welche mit steigenden Preisen und Weiterverkaufsgewinnen rechneten, aber bei Gefahr eines Preisverfalls unter Verlust nur eines Bruchteils der Vertragssumme hätten aussteigen können. In diesem Sinne sei die Manie nur eine ökonomisch-rationale Antwort auf die Änderung rechtlicher Rahmenbedingungen. Der Preissturz wiederum sei durch Ereignisse im Dreißigjährigen Krieg hervorgerufen worden. Der Vormarsch der Schweden nach der Schlacht bei Wittstock habe die Erwartung der holländischen Händler gedämpft, deutsche Fürsten würden in den Tulpenhandel einsteigen und die überteuerten Tulpen aufkaufen. Historische Erklärung nach Anne Goldgar Die amerikanische Historikerin Anne Goldgar überprüft in ihrer Studie des sozio-ökonomischen Kontextes von Tulpenzucht und Tulpenhandel im Goldenen Zeitalter der Niederlande mehrere populäre Behauptungen zu den Umständen und Folgen der Tulpenmanie. Ihre Arbeit beruht im Wesentlichen auf der Auswertung historischer Quellen, insbesondere der erhaltenen Zeugnisse von Verkäufen und Gerichtsakten für drei Zentren des Tulpenhandels: Amsterdam, Haarlem und Enkhuizen. Zu Beginn ihrer Darstellung weist sie auf ein Problem jeder Untersuchung der Tulpenmanie hin, die damit umgehen müsse, dass sich die Dokumente über Preise, Transaktionen und beteiligte Akteure nur unvollständig erhalten haben. Die erste von ihr untersuchte Behauptung betrifft das Ausmaß der Handelsaktivitäten. Entgegen der bereits in den frühen Flugschriften und später von Mackay vertretenen Idee, die Tulpenmanie habe große Teile der Bevölkerung erfasst, vertritt Goldgar die Meinung, das Phänomen habe nur eine kleine Gruppe der Bevölkerung betroffen, vor allem wohlhabende Kaufleute und Handwerker. Die einschlägigen Berichte über wahnhaften und massenhaften Handel gingen dagegen auf zeitgenössische Propaganda und religiös motivierte Sozialkritik zurück. Insgesamt konnte sie 285 Personen identifizieren, die in Haarlem zu Beginn des 17. Jahrhunderts in den Tulpenhandel involviert gewesen waren. In Amsterdam waren es etwa 60, in Enkhuizen rund 25. In dieser kleinen Gruppe der bloemisten bzw. floristen seien weder Angehörige der obersten noch der untersten gesellschaftlichen Schichten vertreten gewesen. Der Kauf und Verkauf von Tulpen war, so behauptet sie, ein urbanes Phänomen, welches insbesondere in der dicht besiedelten Provinz Holland und dort besonders von Kaufleuten, Notaren, Ärzten, Silberschmieden, Handwerksmeistern, Schankwirten, Brauereibesitzern und Apothekern betrieben wurde. In manchen Fällen seien auch Bürgermeister, schepen (‚Schöffen‘) und Mitglieder des Ältestenrats in die Tulpengeschäfte involviert gewesen. Auch formierten sich ab Mitte der 1630er Jahre Kompanien, bei denen mehrere geldgebende und ausführende Partner zusammen auf dem Markt agierten. Sie alle hätten sich, wie den Steuerregistern zu entnehmen ist (1631 für Amsterdam sowie 1628, 1650 und 1653 für Haarlem angelegt), in der Schicht der wohlhabenden Stadtbürger befunden. Weder für die Teilnahme von den in den Pamphleten häufig genannten Webern und Schornsteinfegern noch für die Präsenz Adliger konnte Goldgar Belege ausfindig machen. Goldgar argumentiert, dass der Tulpenhandel auch während der Tulpenmanie ein Phänomen der bürgerlich-gehobenen Schichten war. Es bestehe demgemäß eine Kontinuität zwischen den , die Tulpen besonders wegen ihrer Schönheit und Seltenheit schätzten, und den bloemisten, die in den Tulpen auch Handelswaren und Wertanlagen sahen. Wie die Tulpenliebhaber seien auch die Tulpenhändler in engen familiären, religiösen (ein überproportional hoher Anteil an Mennoniten handelte mit Tulpen), örtlichen und geschäftlichen Netzwerken miteinander verbunden gewesen. Der Handel war zudem, auch dies zeigten die Dialoge im , ein geordnetes System an Verpflichtungen und Abläufen, wie sie in den Kollegs gepflegt wurden. Die Kollegs waren nicht allein die soziale Veranstaltung des Handels mit Tulpen, sondern zugleich eine moralische, wenn auch keine rechtlich bindende Autorität der Begutachtung von Tulpen und der Bewertung der Transaktionen. Die Verhandlungen in den Kollegs versteht Goldgar als Ausdruck der niederländischen discussiecultuur, die über Diskussion, Ausgleich und Verhandlung kommerzielle und soziale Probleme zu lösen versuchte. Außerdem behauptet Goldgar, dass die Händler im Umgang mit den Risiken des windhandels geübt waren. In einer auf den Seehandel orientierten niederländischen Wirtschaft waren spekulative Geschäfte üblich. So verkaufte die Niederländische Ostindien-Kompanie ihre Waren, bevor diese die Kunden erreicht hatten. Auch erfreuten sich Wetten und Lotterien großer Beliebtheit, und Tulpen wurden selbst zu Wetteinsätzen gemacht. Als Beleg für die Ernsthaftigkeit und Bedeutung des Handels mit Tulpen sieht Goldgar das Vorhaben der Generalstaaten im Sommer 1636, die Transaktionen zu besteuern. Parallel zu Überlegungen, Abgaben für andere Luxusgüter wie den Besitz einer Dienerschaft, den Genuss von Tabak oder das Kartenspiel einzuführen, sollte der Handel mit Tulpen besteuert werden. Dem üblichen Prozedere folgend, verwiesen die Generalstaaten diesen Vorschlag an die einzelnen Städte zur Diskussion, doch endete die Sitzungsperiode mit dem 7. Februar 1637 und im Mai 1637 wurde die Idee aufgrund der gesunkenen Preise wieder verworfen. Ein wichtiger Faktor für den raschen Preisverfall scheint der vertrauensbasierte Handel mit „immateriellen“ Gütern gewesen zu sein. Nicht reale Tulpenzwiebeln wurden ver- und gekauft, sondern die Option auf eine zukünftig nach einem bestimmten Muster blühende Tulpe. Eine Ursache des Preisverfalls könnte vor diesem Hintergrund das Gerücht einer Überproduktion infolge der Nachfragesteigerung gewesen sein, denn der Preis bemaß sich auch an der Seltenheit der Tulpensorte. Zweitens bestreitet Goldgar, dass die Tulpenmanie ernsthafte negative Konsequenzen für die niederländische Wirtschaft und für die einzelnen Tulpenhändler gehabt habe. Die Praxis des Tulpenhandels sah vor, dass der Kaufpreis erst fällig wurde, wenn die Tulpenzwiebel nach ihrer Blüte aus der Erde gehoben wurde. Deshalb wechselten in den Transaktionen im Winter 1636/1637 weder reale Tulpenzwiebeln noch Geldmengen ihre Besitzer. Wenn in der Folge der sinkenden Preise die beiden Handelsparteien sich deshalb auf eine Annullierung des Kaufes einigten, so erlitt niemand ernsthaften finanziellen Schaden. Die Verkäufer konnten ihre Tulpen zwar nicht für den erhofften Preis absetzen, gerieten im Prinzip aber nur dann in Schwierigkeiten, wenn sie die zu erwartenden Einnahmen bereits vorfristig für anderen Zwecke als Kredit eingesetzt hatten. Die Käufer wiederum konnten zwar nicht auf einen Weiterverkauf mit Gewinn hoffen, doch kamen sie, wenn eine Strafzahlung fällig wurde, mit einem vergleichsweise geringen Verlust aus dem Geschäft. In den Ketten von Käufern und Verkäufern musste wiederum nur derjenige Verluste hinnehmen, der die Tulpe auch real besaß. In der längsten dieser Ketten, in denen eine Tulpenzwiebel in einer Pflanzperiode weiterverkauft wurde, zählt Goldgar insgesamt fünf Beteiligte. Was den behaupteten Bankrott zahlreicher Händler angeht, so findet Goldgar nur vereinzelt Hinweise auf derartige Konsequenzen. Im Falle des Malers Jan van Goyen, der bei seinen Tulpengeschäften 894 Gulden verlor, zeigt Goldgar, dass dieser mehr Verluste durch die Spekulation mit Grundstücken als durch den Handel mit Tulpen erlitten habe. Zudem habe der Einbruch der Tulpenpreise für die Niederlande keinen wirtschaftlichen Abschwung bedeutet. Insgesamt betrachtet wuchs die Wirtschaft stetig bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Die nachweislichen kürzeren Phasen wirtschaftlichen Abschwungs hätten in den frühen 1620er Jahren und zwischen 1626 und 1631 stattgefunden, nicht aber in der Folge der Tulpenmanie nach 1637. Die Tulpenmanie sei daher weniger eine finanzielle Krise, sondern eine kulturelle Krise gewesen, in der das Zutrauen in den Markt, in die Zahlungssicherheit und in den vertrauensbasierten Handel erschüttert wurde. Ein anschaulicher Beleg dafür ist, dass der berühmte Arzt Nicolaes Tulp, der sich zuvor nach der umschwärmten Blume benannt hatte, nach dem Einsturz der Preise das Tulpenbild von seinem Haus an der Keizersgracht in Amsterdam entfernte. Für strenge Calvinisten wie ihn verletzte der Tulpenrausch in schockierender Weise die humanistische Tradition des Maßhaltens. Rezeption in der Kunst und Literatur Der aus den Fugen geratene Tulpenhandel wurde unmittelbar künstlerisch verarbeitet. Der Kupferstich von Crispin van der Passe d. J. enthält eine moralisierende Kritik, die zur Deutung der Tulpenmanie als Phase zügelloser Spekulationssucht wesentlich beigetragen hat. Den Tulpen, die die Göttin Flora auf einem Segelwagen trägt, sind Namen von Tulpensorten beigegeben, die stellvertretend für die Kostbarkeit der gehandelten Blumen stehen: Semper Augustus, Generael Bol und Admirael van(n) Horn. Die Bürger, die dem Wagen nachrennen, rufen: Wy willen mee vaeren (‚Wir wollen mitfahren‘). Ein Affe, der sich an den Mast klammert, beschmutzt Flora, die in manchen Schmähschriften als Bloemenhoertje (‚Blumenhure‘) bezeichnet wurde. Der Wagen selbst steuert auf die Laetus vloet, die Flut des Vergessens, zu. Am Strand versucht ein Bauer (Santvorder Boer, ein Bauer aus Zandvoort), den Schout, also den Schulzen, auf die Katastrophe hinzuweisen. Die Wappen am Wagen können möglicherweise in Zusammenhang mit bestimmten Schankhäusern gebracht werden, da die angegebenen Bezeichnungen wie Witte Wambuis oder Bastart Pyp typische Namen für solche Örtlichkeiten waren. In den vier Darstellungen in den Ecken des Stiches wiederum werden Szenen aus dem Tulpenhandel gezeigt: Links oben ein Tulpenbeet mit einem Käufer, rechts oben die Compariti der Bloemisten, unten links nochmals eine Handelsszene im Wirtshaus. Rechts unten ist das abrupte Ende der Spekulationen illustriert. („Wenn die Tat der Narren geschehen ist, wird weiser Rat gesucht“). Die Händler sitzen und stehen in Konfusion aufgelöst, während ein Handwerker am rechten Bildrand bemerkt: Wie hat dat gemeent („Wer hätte das gedacht“). Bekannter noch als der Kupferstich von Crispin van der Passe d. J. ist das auf dieser Vorlage um 1640 von Hendrik Gerritz Pot gemalte satirische Bild von Floras Narrenwagen (Flora’s Mallewagen, Frans-Hals-Museum, Haarlem). Abgebildet ist auch hier ein Segelwagen, in dem Flora mit Tulpensträußen in der Hand sitzt. Ihr zu Füßen sieht man eine trinkende Figur mit Narrenkappe, die Leckebaerd (Schleckmaul, Leckerbeck) genannt wird und die Völlerei symbolisiert. Diesem Bildmuster nach versammelt der Wagen noch weitere Laster. So heißt der mit einer tulpengeschmückten Narrenkappe versehene Mann Liegwagen (das Lügenmaul), der ältere Mann mit der Stockbörse und der Uhr wird als Graegreich (Gernereich) gedeutet, die Frau mit der Waage in der Hand ist die Vergaer al (Häufe an) und die Figur mit den zwei Gesichtern, die vorne auf dem Wagen sitzt, ist die Ydel Hope (Eitle Hoffnung). Sie streckt die Hand nach einem Vogel aus, der Ydel Hope ontflogen (Entflogenen eitlen Hoffnung). Im linken Hintergrund des Bildes ist Haarlem mit der Kirche St. Bavo zu sehen, während im Bildvordergrund ein Webstuhl und ein Gesetzbuch mit Füßen getreten werden. Im rechten Hintergrund sieht man bereits das Schicksal des Gefährts und seiner Insassen: Unlenkbar geworden stürzt es ins Meer. Noch deutlicher wird der Bezug zwischen Narrentum und Tulpenspekulation in dem Stich Florae’s Gecks-kap von Cornelis Danckerts. Es zeigt eine überdimensionierte Narrenkappe, in der ein Wirtshaus Raum gefunden hat, in welchem eine Tulpenauktion im Gange ist. Die Waage auf dem Tisch scheint zum Abwiegen der Tulpen zu dienen. Hinter der Kappe wird Flora, auf einem Esel sitzend, von einer wütenden Menge bedrängt. Im Vordergrund links und rechts werden die verblühten Tulpen zum Abfall gebracht. Der lachende Dritte ist der Wirt, der an den handelnden Tulpenliebhabern und Spekulanten verdient hat. Der Teufel im linken Bildhintergrund hält an einer Angelrute die Narrenkappe und als Köder einen Stapel von Einschreibungen für die Tulpenversteigerung. Wiederum anders geht Jan Brueghel der Jüngere das Thema an. Seine Persiflage auf die Tulpomanie (2. Viertel 17. Jahrhundert, Frans-Hals-Museum, Haarlem) stellt in mehreren narrativen Einzelszenen Affen in Menschenkleidern dar. In ihren Rollen als Tulpenmakler und Tulpenkäufer verweisen sie auf den Irrwitz des Tulpenhandels. So sieht der Betrachter ein Festmahl, mit dem potentielle Käufer amüsiert werden sollten, sowie die verschiedenen Stadien des Handels bis zur Verzweiflung der ruinierten Käufer. In der Preisliste, die einer der Affen im Vordergrund studiert, ist unter anderem zu lesen: „Preis von / Blumen / viceroy 300 / asen 1500“. Der Name der Tulpensorte Viceroy, die 4.600 Gulden bei einer Versteigerung 1637 einbrachte, findet sich auch im Giebelstein der Herberge wieder. Zudem sind Affen dargestellt, die das Gewicht von Tulpenzwiebeln prüfen; ein Affe wird von seiner Frau verprügelt, weil er das Geld für die teuren Tulpenzwiebeln vergeudet hat, ein anderer wird von Wegelagerern überfallen, ausgeraubt und getötet. Eine zweite Version aus einer österreichischen Privatsammlung (Allegorie der Tulipomanie) wurde 2011 im Wiener Auktionshaus Im Kinsky um insgesamt 92.500 Euro versteigert. 1966 wurde Otto Rombachs Roman verfilmt: Adrian der Tulpendieb war einer der ersten Fernsehfilme, die in Farbe ausgestrahlt wurden. Der Knecht Adrian gaunert sich durch die Tulpenmanie, wird reich und wieder bettelarm. In jüngerer Zeit wurde die Tulpenmanie insbesondere als historischer Hintergrund von Erzählungen genutzt. Deborah Moggachs Buch Tulpenfieber (2001) erzählt von der unglücklichen Liebe zwischen einem Maler und seinem Modell und von dem riskanten Versuch, durch den Erwerb einer Semper Augustus zu Reichtum zu kommen (siehe auch Tulpenfieber (Film)). Zur Zeit der Tulpenmanie spielen auch Enie van Aanthuis’ Roman Die Tulpenkönigin (2007), in welchem einem Waisenkind Tulpenzwiebeln vermacht werden und sie diese Erbschaft nutzt, um als Tulpenhändlerin reich zu werden, und Olivier Bleys’ Werk Semper Augustus (2007) über die skrupellosen Machenschaften eines Tulpenhändlers. Die Staats- und Stadtbibliothek Augsburg zeigt vom 8. April bis zum 8. Juli 2022 die Ausstellung Tulpenschau im Gartenbau. Historische Zeugnisse der Tulpomanie in Augsburg, zu der ein umfangreicher Katalog erschienen ist. Literatur Populärwissenschaftliche Überblicke Wilfrid Blunt: Tulipomania (= King Penguin Books. 44). Penguin Books, Harmondsworth/London 1950. Wilfrid Blunt: Tulips and Tulipomania. The Basilisk Press, London 1977. Mike Dash: . Gollancz, London 1999, ISBN 0-575-06723-3. Deutsche Ausgabe: Tulpenwahn. Die verrückteste Spekulation der Geschichte. Claassen Verlag, München 1999, ISBN 3-546-00177-X. Zbigniew Herbert: Der Tulpen bitterer Duft (= Insel-Bücherei. 1215). Insel Verlag, Frankfurt/Main, Leipzig 2001, ISBN 3-458-19215-8. Charles Mackay: Memoirs of Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds. Richard Bentley, London 1841. Abgerufen am 25. November 2010 (Auch als E-Book bei Project Gutenberg, abgerufen am 20. November 2010). Anna Pavord: The Tulip. Bloomsbury, London 1999 (Paperback 2004), ISBN 0-7475-7190-2. Deutsche Ausgabe: Die Tulpe. Eine Kulturgeschichte. Insel Verlag, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-458-34581-7. Wissenschaftliche Untersuchungen Douglas E. French: The Dutch Monetary Environment During Tulipomania. In: The Quarterly Journal of Austrian Economics Band 9, Nummer 1, 2006, S. 3–14, . Douglas E. French: . Ludwig von Mises Institute, Auburn 2009, ISBN 978-1-933550-44-2. John Kenneth Galbraith: . Penguin Books, New York 1990, ISBN 0-670-85028-4. Peter M. Garber: Tulipmania. In: Journal of Political Economy Band 97, Nummer 3, 1989, S. 535–560, . Peter M. Garber: Famous First Bubbles. In: The Journal of Economic Perspectives, 4 (2), 1990, S. 35–54, . Peter M. Garber: . MIT Press, Cambridge 2000, ISBN 0-262-07204-1. André van der Goes (Hrsg.): Tulpomanie. Die Tulpe in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts. Uitgeverij Waanders, Zwolle 2004, ISBN 90-400-8840-3 (anlässlich der Ausstellung in Dresden 2004). Anne Goldgar: . University of Chicago Press, Chicago/London 2007, ISBN 978-0-226-30125-9. Charles P. Kindleberger und Robert Aliber: . 5. Auflage. Wiley, Hoboken 2005, ISBN 978-0-471-46714-4. Ernst H. Krelage: . In: Economisch-Historisch Jaarboek. Band 22, 1943, S. 38. Ernst H. Krelage: Bloemenspeculatie in Nederland. P.N. van Kampen & Zoon, Amsterdam 1942. Ernst H. Krelage: De Pamfletten van den Tulpenwindhandel 1636–1637. Martinus Nijhoff, Den Haag 1942. Ernst H. Krelage: Drie Eeuwen Bloembollenexport. Rijksuitgeverij, Den Haag 1946. Nicolaas Wilhelmus Posthumus: De Speculatie in Tulpen in de Jaren 1636 en 1637. In: Economisch-Historisch Jaarboek Band 12, 1926, S. 3–99. Nicolaas Wilhelmus Posthumus: The Tulip Mania in Holland in the Years 1636 and 1637. In: Journal of Economic and Business History Band 1, Nummer 3, 1929, S. 434–466. Simon Schama: . Alfred A. Knopf, New York 1987, ISBN 0-394-51075-5. Pascal Schwaighofer, Jan Verwoert: Tulipmania, Edition Fink, Zürich © Mai 2016, ISBN 978-3-037-46194-5 (Based on a conversation between Pascal Schwaighofer and Jan Verwoert, Le Foyer, Zurich, 3. July 2014). Robert J. Shiller: Irrational Exuberance. 2. Auflage. Princeton University Press, Princeton 2005, ISBN 0-691-12335-7. Earl A. Thompson: In: Public Choice. Band 130, Nummer 1/2, 2007, S. 99–114, . Belletristische Werke Susanne Thomas: In Zeiten des Tulpenwahns. Ruhland-Verlag, Bad Soden 2021, ISBN 978-3-88509-166-0. Enie van Aanthuis: Die Tulpenkönigin. Ein historischer Roman. Rowohlt, Hamburg 2007, ISBN 978-3-499-24363-9. Olivier Bleys: Semper Augustus. Gallimard, Paris 2007, ISBN 978-2-07-077555-2. Gijs Ijlander: Stilleben mit Tulpen. Luchterhand, München 2000, ISBN 3-630-87066-X. Heinrich Eduard Jacob: Der Tulpenfrevel. Ein Schauspiel in fünf Akten. Ernst Rowohlt Verlag, Berlin 1920. Uraufführung: 31. Mai 1921 am Nationaltheater Mannheim. Gregory Maguire: . William Morrow, New York 1999, ISBN 0-06-039282-7. Deutsche Ausgabe: Das Tulpenhaus oder Bekenntnisse einer häßlichen Stiefschwester. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2000, ISBN 3-423-24230-2. Deborah Moggach: Tulip Fever. Vintage Book, New York 2000, ISBN 978-0-09-928885-5. Deutsche Ausgabe: Tulpenfieber. Droemer Knaur, München 2001, ISBN 978-3-426-61817-2. – Ebenfalls 1936 erschien die Ausgabe: . Zahlreiche Neuausgaben, beispielsweise: Adrian der Tulpendieb. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1990, ISBN 3-423-01329-X. Zur Verfilmung von 1966 siehe Adrian der Tulpendieb. Weblinks , Manuskript zu einer Sendung des Süddeutschen Rundfunks vom 30. Juni 1998, Version vom 14. Juli 2007. Pieter Cos: . Haarlem 1637. (Originales Tulpenbuch, online verfügbar über das Wageningen Tulip Portal, abgerufen am 25. November 2010) Norton Simon Tulpenbuch, online verfügbare Version eines Tulpenbuchs aus dem Besitz des Norton Simon Museums, Pasadena, abgerufen am 26. November 2010. Vorlesung von Prof. Dr. Jenks über geschichtliche Spekulationsblasen (u. a. die Tulpenmanie) Einzelnachweise Gartenbauwirtschaft Spekulationsblase 1630er Gartenbaugeschichte Kulturgeschichte (Niederlande)
9400
https://de.wikipedia.org/wiki/Cheops-Pyramide
Cheops-Pyramide
Die Cheops-Pyramide ist die älteste und größte der drei Pyramiden von Gizeh und wird deshalb auch als „Große Pyramide“ bezeichnet. Die höchste Pyramide der Welt wurde als Grabmal für den ägyptischen König (Pharao) Cheops (altägyptisch Chufu) errichtet, der während der 4. Dynastie im Alten Reich regierte (etwa 2620 bis 2580 v. Chr.). Zusammen mit den benachbarten Pyramiden der Pharaonen Chephren und Mykerinos ist sie das einzige der Sieben Weltwunder der Antike, das sich bis heute erhalten hat. Als Bauplatz wählte Cheops nicht die königliche Nekropole von Dahschur wie sein Vorgänger Snofru, sondern das Gizeh-Plateau. Altägyptisch wurde die Pyramidenanlage Achet Chufu („Horizont des Cheops“) genannt. Ihre ursprüngliche Seitenlänge wird auf 230,33 m und die Höhe auf 146,59 m (ca. 280 Ellen) berechnet. Damit war sie rund viertausend Jahre lang das höchste Bauwerk der Welt. Da sie in späterer Zeit als Steinbruch diente, beträgt ihre Höhe heute noch 138,75 m. Ihre Einmessung wurde in sehr hoher Genauigkeit vorgenommen, die in den nachfolgenden Bauten nicht mehr erreicht wurde. Sie ist genau nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichtet, und der Unterschied in den Längen ihrer vier Seiten beträgt weniger als ein Promille. Als Baumaterial diente hauptsächlich örtlich vorkommender Kalkstein. Für einige Kammern wurde Granit verwendet. Die Verkleidung der Pyramide bestand ursprünglich aus weißem Tura-Kalkstein, der im Mittelalter fast vollständig abgetragen wurde. An der Nordseite befindet sich der ursprüngliche Eingang und im Innern ein Kammersystem aus drei Hauptkammern: die Felsenkammer im gewachsenen Fels, die sogenannte Königinnenkammer etwas höher im Kernmauerwerk und die sogenannte Königskammer oberhalb der großen Galerie mit dem Sarkophag, in welchem der König vermutlich bestattet wurde. Ein Leichnam oder Grabbeigaben wurden nicht gefunden. Die Pyramide wurde offensichtlich spätestens im Mittelalter, wahrscheinlich schon zu pharaonischer Zeit geplündert. Die Funktion der einzelnen Kammersysteme in der Cheops-Pyramide ist in vielfacher Hinsicht ungeklärt. Das Raumprogramm spiegelt vermutlich religiöse Vorstellungen wider, wie die Idee des Himmelsaufstiegs des toten Königs: anfänglich zu den unvergänglichen Sternen des Nordhimmels, dann zum Lichtland, den Gefilden des Re am Himmel. An der Ostseite der Pyramide befindet sich der Totentempel, von dem heute nur noch die Fundamente erhalten sind. Vom Aufweg und Taltempel ist fast nichts erhalten. Im anliegenden Ostfriedhof wurden die näheren Verwandten des Cheops bestattet. Dazu gehören mehrere große Mastabas vorwiegend für seine Söhne und deren Frauen sowie drei Königinnenpyramiden, deren Zuordnung zu einzelnen Königinnen und Prinzessinnen bisher nicht zweifelsfrei vorgenommen werden kann. Eine vierte, kleinere Pyramide diente als Kultpyramide für den König. Im Westen wurde ein Friedhof aus kleineren Mastabas angelegt, hauptsächlich für hohe Beamte. Im Umfeld der Cheops-Pyramide wurden sieben Bootsgruben entdeckt, zwei davon noch intakt und verschlossen. Die in 1224 Einzelteile zerlegte Barke des Königs ist, restauriert und wieder zusammengesetzt, seit 1982 im Bootsmuseum ausgestellt. Die Bedeutung der Königsboote ist noch ungeklärt. Vielleicht stehen sie im Zusammenhang mit der Bestattung oder mit gewissen Jenseitsvorstellungen. Bereits antike Historiker befassten sich mit der Cheops-Pyramide, insbesondere Herodot, der über 2.000 Jahre nach dem Bau der Pyramiden lebte, seine Informationen teilweise aus zweifelhaften Quellen bezog und aus der Sicht eines Griechen schrieb. Mit ihm nahmen bis heute andauernde Irrungen und Wirrungen über die Pyramide ihren Anfang. Ab dem 15. Jahrhundert war sie Ziel europäischer Reisender und ab dem 18. Jahrhundert von Forschungsexpeditionen. Spätestens die Untersuchungen Flinders Petries, Begründer der modernen ägyptischen Archäologie, widerlegten zahlreiche mythische Ideen. In jüngerer Zeit waren vor allem die Schächte der Königinnenkammer Gegenstand von Untersuchungen. Von besonderem Interesse für die Logistik beim Bau der Cheopspyramide sind Papyrus-Fragmente, die 2013 in Wadi al-Garf entdeckt wurden. Darunter befand sich ein Logbuch eines Inspektors namens Merer, der einen Arbeitstrupp leitete, der Steine vom Steinbruch Tura für den Bau der Cheopspyramide nach Giza schiffte (Papyrus Jarf A und B). Diese Papyrus-Funde liefern erstmals ein „inneres“ Bild der Verwaltung des frühen Alten Reiches. Die Cheops-Pyramide gehört seit 1979 zusammen mit vielen weiteren Pyramiden als Teil des Komplexes „Memphis und seine Totenstadt – die Pyramidenfelder von Gizeh bis Dahschur“ zum UNESCO-Weltkulturerbe. Forschungsgeschichte Antike Historiker Herodot von Halikarnassos Herodot von Halikarnassos, den Cicero als „Vater der Geschichtsschreibung“ und Erzähler „zahlloser Geschichten“ bezeichnete, verfasste im 5. Jahrhundert v. Chr. ein neun Bücher umfassendes Geschichtswerk, die sogenannten Historien. Als viel gereister Mann beschrieb er die Länder und Völker der damals bekannten Welt. Ägypten bereiste er zur Zeit der Ersten Perserherrschaft um 450 v. Chr. und schrieb darüber im zweiten Buch seiner Historien. Dieser älteste Bericht über die Pyramiden ist aber erst mehr als 2000 Jahre nach ihrem Bau entstanden. Offensichtlich bezog Herodot sein Wissen vor allem von Beamten und Priestern niedrigen Ranges, von Ägyptern und angesiedelten Griechen aus dem Volk und von seinen Dolmetschern. Dementsprechend präsentieren sich seine Ausführungen als eine Mischung aus nachvollziehbaren Beschreibungen, persönlichen Beschreibungen, fehlerhaften Berichten und Phantasiegeschichten. So nahmen mit ihm die spekulativen Irrungen und Wirrungen über das Monument ihren Anfang. Herodot charakterisiert Cheops als einen tyrannischen König. Dies zeigt wohl die Sicht des Griechen, dass solche Bauten nur durch grausame Ausbeutung des Volkes zustande kommen können. Nach Herodot soll Cheops sogar so weit gegangen sein, Auf Befehl des Cheops hätten in dreimonatigen Schichten jeweils 100.000 Arbeiter an den Bauten Frondienste verrichtet. In den ersten zehn Jahren sei eine breite Dammstraße errichtet worden, die Herodot zufolge fast ebenso beeindruckend schien wie der Bau der Pyramiden selbst, da sie etwa 1 km lang, 18 m breit und 14 m hoch und mit geglätteten Steinen belegt gewesen sei. Außerdem seien am Fuße der Pyramiden unterirdische Kammern errichtet worden, in deren einer Cheops selbst bestattet worden sei. Herodot spricht von einer Insel in einem unterirdischen See, der durch einen Nilkanal gefüllt werde. Jede Seite der Pyramide sei etwa 240 m lang und ebenso groß sei die Höhe. Ihr Bau habe 20 Jahre gedauert. Herodot beschrieb auch eine Inschrift an der Außenseite der Pyramide, welche seiner Meinung nach die Menge von Rettichen, Knoblauch und Zwiebeln angab, welche die Arbeiter verzehrt hätten. Hierbei könnte es sich um einen Vermerk von Restaurierungsarbeiten handeln, die Chaemwaset, Sohn von Ramses II., durchgeführt hatte. Offenbar konnten Herodots Begleiter und Dolmetscher die Hieroglyphen nicht lesen oder gaben ihm bewusst falsche Informationen. Diodor von Sizilien Diodor von Sizilien besuchte Ägypten um 60 v. Chr. Er stützte sich bei seinen Beschreibungen einerseits auf die Sichtweise einiger antiker Historiker, distanzierte sich jedoch auch von Herodot, der lediglich „Wundermärchen und unterhaltende Dichtungen“ geschildert habe. Vermutlich bezog er sein Wissen aus dem verlorengegangenen Werk des Hekataios von Abdera und von ägyptischen Priestern. Seinem Bericht zufolge gab es weder bei den ägyptischen Geschichtsschreibern noch im Volk übereinstimmendes Wissen über die Erbauer der Pyramiden. Einerseits erzählte man ihm, dass die Könige Cheops und Chephren nicht in den Pyramiden, sondern an einem geheimen Ort bestattet wurden, aus Angst vor der Rache des zum Frondienst verurteilten Volkes. Damit festigte Diodor die Verbindung zwischen Pyramidenbau und Sklaverei und die Idee von riesigen Kenotaphen. Andererseits brachte er die Pyramiden mit ganz anderen Bauherren in Verbindung. So soll der Bauherr der Cheops-Pyramide ein gewisser König Harmais gewesen sein – eine Bezeichnung, die sich vielleicht auf die „Harmachis“ genannte Sphinx beziehen könnte. Die Chephren-Pyramide sollte demnach von Amasis, einem König der 26. Dynastie, und die Mykerinos-Pyramide von Inaros I., dem Helden eines Aufstandes gegen die Perser, stammen. Diese Vorstellung entsprang offenbar zeitgenössischen Volkserzählungen, die die Pyramiden bekannten Persönlichkeiten der nahen Vergangenheit zuschrieben. Man muss aber auch in Betracht ziehen, dass in dieser Zeit die Pyramiden für erneute Bestattungen verwendet wurden. Laut Diodor befand sich die Verkleidung der Pyramide zu seiner Zeit noch in hervorragendem Zustand, wohingegen der oberste Teil der Pyramide von einer Plattform von sechs Ellen Breite (ca. 3 m) gebildet worden sei. Demzufolge wäre das Pyramidion im 1. Jahrhundert v. Chr. bereits verschwunden gewesen. Über den Bau der Pyramide hält er fest, dass sie mit Hilfe von Rampen errichtet wurde, da noch keine Hebewerkzeuge erfunden waren. Von den Rampen sei nichts übrig geblieben, da man sie nach der Fertigstellung der Pyramiden wieder abgetragen habe. Die Anzahl der Arbeiter, die für die Errichtung der Cheops-Pyramide notwendig waren, schätzte er auf 360.000 und die Bauzeit auf 20 Jahre. Strabon aus Amasya Strabon besuchte Ägypten um 25 v. Chr., kurz nach der Eroberung Ägyptens durch die Römer. Er hielt sie zwar noch für Begräbnisstätten von Königen, erwähnte aber nicht mehr die darin bestatteten Könige. Möglicherweise konnte er die Pyramide tatsächlich betreten. So erwähnt er in der Mitte einer Pyramidenseite einen Stein, der herausgenommen werden kann und in einen gekrümmten Gang bis zur Gruft führte. Dieser Stein wurde in der Forschung auch schon als eine Art drehbare Steintür interpretiert, vermutlich handelte es sich aber nur um einen einfachen Steinblock, der den Zugang blockierte. Die Beschreibung des gekrümmten Ganges passt jedoch wiederum am besten zum Grabräuberzugang. Plinius der Ältere Der römische Schriftsteller Plinius der Ältere hielt die Pyramiden für eine Zurschaustellung von Reichtum und eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, um das Volk besser kontrollieren zu können. Plinius weist in seiner Naturalis historia auf einen 86 Ellen tiefen Schacht in der Pyramide hin, der seinen Vorstellungen zufolge dazu diente, das Nilwasser in die Pyramide zu leiten. Damit könnte er den Schacht zwischen der großen Galerie und dem absteigenden Korridor gemeint haben. Vielleicht war in der damaligen Zeit nur das obere Kammersystem zugänglich. Byzantinische und arabische Zeit Zur Zeit von Gregor von Nazianz oder Stephanos von Byzanz begann eine Uminterpretation der Pyramiden als „Kornspeicher Josephs“, eine Fehldeutung, die sich bis zum Ende des 15. Jahrhunderts halten sollte. Haase führt dies auf eine falsche Etymologie des griechischen Wortes „pyros“ zurück, das seiner Ansicht nach „Weizen“ bedeutet. In Wirklichkeit bedeutet πυρ (pyr) aber „Feuer“. Möglicherweise verwechselt er das mit πυραμόεις (pyramoeis), einem im Feuer gerösteten Weizenkuchen. Weiterhin finden sich keine Informationen über die Cheops-Pyramide zur Zeit der byzantinischen Herrschaft über Ägypten. Mit dem Verlust der altägyptischen Sprache und dem Wissen über die ägyptischen Herrscher festigte sich die Deutung als Kornspeicher. Auch als 639 das Land durch die Araber erobert wurde, änderte sich daran nichts. Der islamische Historiker al-Maqrīzī (1364–1442) fasste in seinem Werk Chitat eine Reihe früher islamischer und koptischer Berichte über die Pyramiden zusammen, die fast einheitlich beschrieben, dass der erneute Zugang zur Pyramide unter dem siebten Kalif der Abbasiden al-Ma'mūn erfolgte, dessen Männer im Jahr 820 einen Tunnel nahe dem ursprünglichen Zugang angefertigt hätten (sogenannter al-Ma'mun-Tunnel). Al-Maqrīzī war sich offenbar der Sarkophage in den Sargkammern bewusst und erkannte daran, dass es sich bei den Pyramiden nicht um Kornspeicher, sondern um Gräber handelte. Der arabische Philosoph, Geograph und Historiker al-Masʿūdī berichtete in seinem Werk Geschichte der Zeit und derer, die die Ereignisse dahinrafften ebenfalls über die Aktivitäten al-Ma'muns. Seine Schilderungen sind allerdings von phantasievollen Ausschmückungen durchsetzt. Erste konkrete Schilderungen über die Situation im Innern der Cheops-Pyramide erschienen in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts vom Arzt Ali ibn Ridwan und zu Beginn des 12. Jahrhunderts vom arabischen Schriftsteller Muhammad al-Kaisi. In al-Kaisis Bericht liegen erste Beschreibungen von einem Leichenfund in der Grabkammer des Cheops vor, der auch von anderen arabischen Quellen bestätigt wird. Es ist unklar, um wessen sterbliche Überreste es sich dabei handelt. Der arabische Universalgelehrte Abd al-Latif al-Baghdadi (1163–1231) beschrieb, wie ein Heer von Arbeitern des Herrschers al-Malik al-ʿAzīz ʿUthmān ibn Salāh ad-Dīn Yūsuf erfolglos versuchte, die Verkleidungssteine der Mykerinos-Pyramide abzutragen, und dass die Verkleidungssteine einiger Nebenpyramiden zum Brückenbau in der Stadt Gizeh benötigt wurden. Damit begannen die in den nächsten Jahrhunderten folgenden Abrissarbeiten an der Verkleidung der beiden großen Pyramiden von Gizeh. Abd al-Latif verwies auch auf die vielen Inschriften an den Verkleidungen der beiden großen Pyramiden und wies auf die Genauigkeit hin, mit der die Verkleidungssteine verlegt worden waren. Von besonderer Bedeutung sind seine Beschreibungen vom Kammersystem der Cheops-Pyramide. Hier findet man offenbar auch die erste Bemerkung zu den Schächten der Königskammer. Europäische Wiederentdeckung Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde die Cheops-Pyramide zunehmend Ziel oder zumindest Station europäischer Forschungsreisender und Pilger auf dem Weg ins Heilige Land, und diese distanzierten sich immer öfter von der christlichen Kornspeicher-Fehldeutung. Bereits im Jahr 1335 hatte der niedersächsische Mönch Guilielmus de Boldensele alias Otto von Nienhusen die Pyramiden von Gizeh besucht und auch das Innere der Cheops-Pyramide zu sehen bekommen, die als Kornspeicher zu deuten er entschieden ablehnte. Zu dieser Zeit muss die Verkleidung im unteren Bereich der Pyramide noch intakt gewesen sein. Sie wurde vermutlich in großem Stil erst unter dem Mamluken-Sultan an-Nasir al-Hasan (1347–1362) für den Bau seiner Moschee (Sultan-Hasan-Moschee) in Kairo abgetragen. Der Mainzer Bernhard von Breidenbach (1486) und Jehan Thenaud (1512), der Obere der Franziskaner von Angoulême, sahen in den Pyramiden bereits Grabmäler altägyptischer Könige. 1646 erschien die Pyramidographia, or a Description of the Pyramids of Egypt des britischen Mathematikers und Altertumsforschers John Greaves. Sie gilt als erster Versuch einer ägyptologischen Arbeit. Greaves bestieg die Cheops-Pyramide, vermaß die Blöcke, betrat das Innere und fertigte ein für seine Zeit bemerkenswert genaues Schnittschema der Pyramide an. Ägyptologische Forschung 18. und 19. Jahrhundert Der britische Diplomat Nathaniel Davison betrat 1765 die Grabkammer des Cheops und entdeckte die unterste Entlastungskammer oberhalb der Grabkammer, die seitdem seinen Namen trägt. Edmé François Jomard verfasste für die Description de l’Égypte das Kapitel über die Pyramiden von Memphis. Mit dem Architekten Célile vermaß er 1799 die Pyramiden und zählte bei der Cheops-Pyramide eine Höhe von 203 Steinlagen. Der französische Oberst Jean Marie Joseph Coutelle, der wie Jomard und Célile an der Napoleon-Expedition teilnahm und Grabungen im memphitischen Raum leitete, interpretierte die Kammer über der Grabkammer als Entlastungskammer. 1817 befreite der Italiener Giovanni Battista Caviglia den absteigenden Korridor von Schuttmassen und entdeckte die Felsenkammer wieder, die offenbar jahrhundertelang verschüttet war. Dabei fand er auch den Zugang zum Luft- beziehungsweise Fluchtschacht. 1837 konnten die britischen Pyramidenforscher Howard Vyse und John Shae Perring in die vier weiteren Entlastungskammern über der Davison-Kammer vordringen und fanden dabei viele Bauarbeiter-Graffiti mit dem Namen des Cheops, die erstmals eine eindeutige Zuordnung der Pyramide zu diesem König zuließen. Außerdem fanden sie die Außenmündungen der Schächte der Königskammer, die sie in der Folge reinigten. Bei Grabungen an der Ostseite der Pyramide stießen sie auf die Reste des Basaltpflasters des Totentempels. Auf der Suche nach weiteren Zugängen zur Pyramide sprengten sie an der Südseite der Pyramide eine Bresche ins Kernmauerwerk. Die von König Friedrich Wilhelm IV. ausgesandte Expedition nach Ägypten (1842–1845) unter der Leitung von Richard Lepsius befasste sich vor allem mit der Struktur der Cheops-Pyramide. Die Teilnehmer der Expedition feierten den Geburtstag des preußischen Königs, indem sie die Pyramide bestiegen und an deren Gipfel eine Fahne entrollten. Anlässlich des königlichen Geburtstags fertigten die Expeditionsteilnehmer auch ein einzigartiges Schriftzeugnis an: In einem Steinbalken oberhalb des Eingangs zur Cheops-Pyramide brachten sie eine Inschrift nach Art alter Stelen an. Sie kann wohl als erste Inschrift gelten, die nach der Entzifferung der Hieroglyphen wieder diese Schrift als Informationsträger nutzt. 1872 entdeckte Waynman Dixon die Schächte der Königinnenkammer. 1880 bis 1882 führte Flinders Petrie umfangreiche Vermessungen der Pyramide durch. Der englische Astronom Charles Piazzi Smyth hatte nach eigenen Vermessungen an der Cheops-Pyramide, die sich später als nicht zuverlässig herausstellten, behauptet, in ihren Abmessungen seien Prophezeiungen und andere mystische Informationen verborgen. Petrie richtete sich in einem leeren Grab nahe der Pyramide ein und vermaß mit teilweise selbst gebauten Vermessungsinstrumenten sowohl das Äußere als auch das Innere der Großen Pyramide exakt. Seine Ergebnisse widerlegten die Theorien von Piazzi Smyth und Spekulationen über einen „Pyramidenzoll“ durch den Nachweis, dass den Abmessungen der Pyramide die alte ägyptische Königselle zugrunde lag. Beginn des 20. Jahrhunderts 1902 bis 1932 führte George Andrew Reisner umfangreiche Grabungen auf dem Westfeld durch. 1925 entdeckte er im Umfeld der Nordostecke der Königinnenpyramide G I-a die Grabschachtanlage G 7000x mit Teilen der Grabausstattung der Hetepheres I. Diese war wahrscheinlich die Gemahlin des Snofru und Mutter des Cheops. Hermann Junker führte ebenfalls umfangreiche Grabungen auf dem Westfeld durch und entdeckte dabei unter anderem in der Mastaba G 4000 die über 1,50 m hohe Sitzstatue des Hemiunu, der unter anderem den Titel „Vorsteher aller Bauarbeiten des Königs“ trug und damit höchstwahrscheinlich verantwortlich für den Bau der Cheops-Pyramide gewesen war. 1954 entdeckten die beiden ägyptischen Archäologen Kamal el-Malakh und Zaki Iskander südlich der Cheops-Pyramide zwei verschlossene Gruben mit den in Einzelteile zerlegten Booten. Nach aufwändigen Restaurierungsarbeiten ist jenes aus der östlichen Grube seit 1982 im Bootsmuseum oberhalb der Fundstelle ausgestellt. Neuere Erforschungen 1986/87 suchten französische und japanische Forscher mit mikrogravimetrischen Instrumenten und elektromagnetischen Scannern nach noch unbekannten Kammern in der Pyramide. Es konnten allerdings lediglich hinter den Wänden des horizontalen Ganges zwischen der Großen Galerie und der Königinnenkammer etwa 25 cm breite mit Sand gefüllte Fugen gefunden werden, die vermutlich bautechnischen Ursprungs sind. Seit 1988 fanden südöstlich des Gizeh-Plateaus unter der Leitung von Mark Lehner Grabungen an einer der Arbeitersiedlungen statt. Westlich dieser Arbeitersiedlung leitete Zahi Hawass seit 1990 die Ausgrabung eines Friedhofareals, der 1992 ebenfalls die Überreste der Kult-Pyramide südöstlich der Cheops-Pyramide entdeckte. Im Jahr 1993 untersuchte der Ingenieur Rudolf Gantenbrink in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Archäologischen Institut (DAI) in Kairo unter der Leitung von Rainer Stadelmann mit Hilfe des Mini-Roboters Upuaut-2 beide Schächte der Königinnenkammer. Diese Schächte haben im Gegensatz zu denen der Königskammer keine Öffnungen an den Außenwänden der Pyramide. Im nördlichen Schacht entdeckte das Gerät nach ungefähr 40 m eine in einer Biegung des Schachts fest verkantete längere Eisenstange, die 1872 von dem englischen Hobbyarchäologen und Entdecker dieser beiden Schächte, Waynman Dixon, bei einer „blinden“ Inspektion nicht mehr entfernt werden konnte. Eine weitere Erkundung durch den Roboter in diesem Schacht war aufgrund des 45-Grad-Knicks nicht möglich, und es ist geplant, mit einem Spezialgerät eines Tages die verkantete Stange wieder vollständig zu entfernen. In den südlichen Schacht drang Upuaut-2 („Öffner der Wege“) 65 m ein und stieß auf einen Blockierstein aus der Bauzeit, der eine weitere Kammer vermuten ließ. In der Steinplatte waren zwei Kupferbeschläge eingegipst. Am 17. September 2002 setzte eine von National Geographic gesponserte Expedition ein Roboter-Fahrzeug mit der Bezeichnung „Pyramid Rover“ ein, der die Steinplatte durchbohrte und den dahinter liegenden Raum mit einer Kamerasonde inspizierte. Der Vorgang konnte durch Fernsehübertragung in der ganzen Welt live mitverfolgt werden. Hinter dem glatt polierten Blockierstein aus Tura-Kalkstein befand sich ein leerer Hohlraum, der diesmal mit einem roh behauenen und rissigen Blockierstein abgeschlossen ist. Eine weitere größere Kammer, wie mehrfach vermutet, wurde hinter dem Stein nicht gefunden. Am 23. September 2002 verkündeten die ägyptische Antikenverwaltung und das Kulturministerium schließlich den Fund einer weiteren „Tür“ im nördlichen der Schächte, die in der Königinnenkammer entspringen. Der Pyramid Rover war am 18. September auch diesen Schacht, diesmal ohne Fernsehübertragung, hinaufgefahren. Nach den von Zahi Hawass veröffentlichten Ergebnissen ist die Steinplatte im Nordschacht baugleich derjenigen im Südschacht und versperrt den Schacht in gleicher Distanz von der Königinnenkammer wie ihr südliches Pendant. Videoaufnahmen zeigen ebenfalls zwei Kupferbeschläge, die im Gegensatz zum Südschacht beide intakt zu sein scheinen. Im Mai 2009 verkündete ein internationales Forscherteam um den britischen Ingenieur Robert Richardson die Ergebnisse einer weiteren Expedition im unteren südlichen Schacht. Dem eingesetzten Roboter Djedi gelang es, mithilfe eines nun schwenkbaren Kameraarms den Bereich unmittelbar hinter der vormals durchbohrten Steinplatte zu betrachten. In den Videoaufzeichnungen entdeckten die Forscher auf dem Boden des Schachts rötliche Hieroglyphen, von deren Entschlüsselung sich Richardson Hinweise auf den Konstruktionszweck der Schächte versprach. Gleichzeitig erwiesen sich die beiden kupfernen Metallbeschläge an der Steinplatte auf deren Rückseite als auf sich selbst, zu sehr schmalen Ösen, zurückgebogen. Nach Ansicht der Forscher ist dies ein Indiz dafür, dass die Kupferbeschläge weniger mechanischen als vielmehr ornamentalen Zwecken dienten. Der Roboter sei zudem mit einem Miniatur-Ultraschallgerät ausgestattet, mit dem das Team in naher Zukunft die gegenüberliegende Wand abklopfen und so Hinweise auf ihre Mächtigkeit erhalten wolle. Darüber hinaus wollte Richardson noch im Jahr 2011 den nördlichen der Schächte der Königinnenkammer weitererkunden. Im Herbst 2017 gaben Forscher um den Wissenschaftler Kunihiro Morishima den Fund eines mindestens 30 m langen Hohlraums oberhalb der Großen Galerie bekannt. Dieser wurde mittels Beobachtung von Myonen als Nebenprodukt kosmischer Strahlung entdeckt (Myonentomografie) und durch weitere unabhängige Messungen verschiedener Forscherteams bestätigt. Der Hohlraum entspricht laut Morishima einem Korridor. Er hat eine Länge von 30 Metern und ist bei einer Breite von zwei Metern bis zu drei Meter hoch. Er verläuft horizontal oder leicht geneigt nach oben (dies lässt sich noch nicht genau sagen). Sein Volumen ist somit vergleichbar mit der unterhalb liegenden großen Galerie. Am 9. Februar 2018 demonstrierten Ingenieurwissenschaftler der Universität Kassel mit einem 1:1-Nachbau des Zugangs zum Grab des Cheops, wie der Verschlussmechanismus der Grabkammer funktionierte. Die Pyramide Das Gizeh-Plateau König Snofru, vermutlich Vater und Vorgänger des Cheops, ließ insgesamt drei große Pyramidenkomplexe errichten: die Meidum-Pyramide in Meidum, die Knickpyramide und die Rote Pyramide in Dahschur. Mit letzterer wurde erstmals eine geometrisch echte Pyramide erreicht, und die Entwicklung von den Ziegel-Mastabas über die Stufenpyramiden der 3. Dynastie fand ein Ende. Cheops wählte für sein Bauprojekt einen neuen Bauplatz, das „Gizeh-Plateau“. Vermutlich verließ er die königliche Nekropole in Dahschur, da diese nicht mehr genügend Platz für einen großen Pyramidenkomplex bot, dort nicht mehr ausreichend Kalkstein zur Verfügung stand und vielleicht aus Furcht vor dem instabilen Untergrund aus Tonschiefer. Dagegen zeichnete sich das sattelförmige Felsplateau, die sogenannte Mukattam-Formation, in Gizeh durch einen festen, kompakten Untergrund aus und besaß die notwendige geologische Konsistenz. Zur Zeit des Cheops befand sich dort bereits eine Reihe von Privatgräbern von offensichtlich einflussreichen Beamten aus den ersten drei Dynastien. Als Bauplatz wählte man die Nordostkante der Mokattam-Formation aus, wo sich ein großflächig kompakter Felshügel erhob. Michael Haase vermutet, dass solche Felssockel, auf denen auch die Djedefre-Pyramide und die Chephren-Pyramide errichtet wurden, ein maßgebliches Kriterium für die Standortwahl waren. Neben einer Arbeitsersparnis könnte dies auch durch statische Probleme beim Bau der Knickpyramide motiviert gewesen sein. Der Felskern tritt insgesamt an fünf Stellen deutlich hervor: Nach einer absteigenden Strecke von 33 m ist der absteigende Korridor eine aus dem Felsen gehauene Galerie, von einer Höhe von 3 m über der Pyramidenbasis bis zur Höhe des Basisniveaus. Der Luft-/Fluchtschacht durchdringt vom Basisniveau bis zu einer Höhe von 7 m darüber ebenfalls den Felskern. An der Nordwestecke des Kernmauerwerks erstreckt sich der Fels deutlich sichtbar nord- und südwärts. An der Nordostecke tritt der Fels bis auf eine Höhe von 1,95 m über dem Basisniveau zutage. Er wurde der Form des Oberbaus angepasst, indem er terrassenförmig abgearbeitet oder mit Steinlagen aufgefüllt wurde, um die äußeren Verkleidungssteine optimal einzupassen. An der Südseite, nahe der Südostecke erscheint der Kern mindestens zwei Stufen hoch. Das Volumen des Felskerns wird auf 7,7 % des Gesamtvolumens der Cheops-Pyramide geschätzt. Nivellierung und Einmessung Als Erstes wurde die Basisfläche nivelliert, indem um den Felskern ein ebenes Plateau hergestellt wurde, auf dem die Basis der Pyramide eingemessen wurde. Einerseits wurde dazu der Felskern abgetragen, andererseits die Risse mit gut gepflasterten Blöcken aufgefüllt. Auf den nivellierten Fels nahe dem Pyramidenkern wurde ein Fundamentsockel aus Tura-Kalkstein verlegt. Dieser diente der genauen Einmessung der Kantenlinien, der Konstruktion des rechten Winkels und letztlich dem Verlegen der ersten Steinlage. Die Nivellierung des Fundaments ist sehr präzise: Der größte Höhenunterschied beträgt lediglich 21 mm. Die Einmessung der Pyramide war die Aufgabe der Harpedonapten. Sie weist ebenfalls eine bewundernswerte Genauigkeit auf, die schon in den nachfolgenden Bauten nicht mehr erreicht oder erstrebt wurde. Umso erstaunlicher ist dies in Anbetracht des erhöhten Felskerns, der eine genaue Messung der Diagonalen unmöglich machte. Die Pyramide ist im Grunde genau nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichtet, denn der Azimut, die Abweichung von der Nordrichtung, beläuft sich auf lediglich 3′ 6″ nach Westen. Die vier Seiten weichen nur sehr wenig von der erstrebten Länge von 440 Ellen (≈ 230,383 m) ab, auf der Südseite um 7 cm, auf der Nordseite um 13 cm. Eine noch größere Genauigkeit findet sich in der Messung des rechten Winkels an den Ecken. Die Abweichung beträgt 2″ an der Nordwestecke, 3′ 2″ an der Nordostecke, 3′ 33″ an der Südostecke und 33″ an der Südwestecke. Der Böschungswinkel betrug 51° 50′ 40″, was nach altägyptischer Vermessung auf 1 Elle Höhe einen Rücksprung von fünfeinhalb Handbreit (5 Hände plus 2 Finger sind 5,5 Seked) ergibt. Daraus lässt sich eine ursprüngliche Höhe von 280 Ellen (= 146,59 m) erschließen. Heute ist die Pyramide noch 138,75 m hoch. Die heutigen Außenflächen der Pyramide sind nach innen gewölbt und nicht flach. An der Nordseite beträgt die Wölbung nach innen 0,94 m. Kernmauerwerk und Verkleidung Ursprünglich war die Cheops-Pyramide mit poliertem Tura-Kalkstein verkleidet. Allerdings sind viele dieser Steine herausgebrochen und später für den Bau von Gebäuden in Kairo wiederverwendet worden. Die Außenseiten sind dadurch nicht mehr glatt, sondern stufenförmig. Die Verkleidung ist nurmehr in den untersten Lagen teilweise erhalten. Auf diesen noch erhaltenen Blöcken konnten Markierungen von den Steinbrucharbeiten festgestellt werden, die mit roter Farbe angebracht worden waren. Die Spitze der Verkleidung war das (nicht mehr erhaltene) Pyramidion. Dieses bestand vermutlich als einziges Element der Verkleidung nicht aus Tura-Kalkstein, sondern aus Basalt oder Granit. Das Kernmauerwerk besteht aus Blöcken nummulitischen Kalksteins. Die Blöcke an der Außenseite des Kernmauerwerks sind waagerecht angeordnet. Ihre Höhe beläuft sich auf ein bis eineinhalb Meter. Heute sind nur noch 203 Schichten erhalten, die obersten sieben sind wahrscheinlich herausgebrochen worden. Das Gewicht der Blöcke wird auf eine (in den obersten Schichten) bis drei Tonnen (in den untersten Schichten) geschätzt. Für die Konstruktion der Königskammer mussten aber auch vierzig bis siebzig Tonnen schwere Blöcke aus Rosengranit in eine Höhe von etwa 70 m transportiert werden. Zwischen der äußersten Schicht des Kernmauerwerks und der Kalkstein-Verkleidung wurde eine weitere Schicht aus Mörtel und sogenannten „Backing Stones“ eingesetzt. Dies sind kleine Steine, die die Haftung der beiden materiell- und konstruktionsbedingt unterschiedlichen Mauerwerksarten erhöhten. Georges Goyon entdeckte auf einem Backing Stone der 4. Steinlage auf der Westseite eine Steinbruchinschrift. Wie bei den Inschriften in den Entlastungskammern ist auch diese auf dem Kopf stehend und in kursiver Schrift. Weitere Inschriften und Marken in Ocker und teilweise schwarzer Farbe machte Leslie Grinsell auf heute freiliegenden „Backing Stones“ der 5. und 6. Steinlage ausfindig. Es handelt sich um Maßlinien, Namen von Arbeitertruppen und in zwei Fällen um den Namen des Cheops. Der Mörtel, der beim Bau des Kerns verwendet wurde, ist sehr hart und meist von einer blassrosa Farbe. Er setzt sich aus verschiedenen Elementen wie Gips, Sand, pulverisiertem Granit und Kalkstein zusammen. Die Fugen sind an den Außenseiten weniger als einen halben Millimeter breit und wurden mit einem halb-flüssigen Gips-Mörtel verfüllt. An den Unterseiten weisen die Verkleidungsblöcke Hebellöcher auf. Durch diese konnten die Blöcke mit Hebeln seitwärts eingeschoben werden. Die Hebellöcher wurden nach dem Versatz der Blöcke ebenfalls mit Mörtel und Flicksteinen verschlossen. Untersuchungen französischer Geophysiker haben gezeigt, dass die Struktur des Kernmauerwerks vermutlich sehr uneinheitlich beschaffen ist. Es enthält wahrscheinlich mit Sand gefüllte Räume, feinen Schotter und anderes Abfallmaterial der Baustelle. Diese Methode sparte Material, verlagerte den Druck in der Pyramide wirkungsvoll und dürfte sich bei Erdbeben günstig ausgewirkt haben. Das Kammersystem Über die Funktion der einzelnen Kammersysteme in der Cheops-Pyramide bleiben viele Fragen noch immer unbeantwortet. Frühere Ägyptologen wie Ludwig Borchardt versuchten, das komplizierte Raumprogramm durch verschiedene Bauphasen zu erklären. Demnach wurden diese durch die vermeintlichen Änderungen in drei Phasen errichtet: In einer ersten Phase entstand die Felsenkammer als Grabkammer, danach war die sogenannte Königinnenkammer dafür vorgesehen und in einer dritten Phase die Große Galerie und Königskammer. Heute geht man eher davon aus, dass die Pyramide von Anfang an in den ersichtlichen Ausmaßen geplant und gebaut wurde. Das Raumprogramm spiegelt vermutlich religiöse Vorstellungen wider, für die jedoch wegen der mangelnden textlichen Überlieferung dieser Zeit die Grundlagen für das Verständnis fehlen. Deshalb bleibt das Kammersystem eines der eindrucksvollsten und zugleich eines der rätselhaftesten. Das normale Kammersystem dieser Pyramide ist, wie auch die Kammern aller anderen königlichen Grabanlagen dieser Epoche ohne Inschriften. Erst etwa 250 Jahre später, seit dem Ende der 5. Dynastie (ab König Unas), finden sich im Inneren von Pyramiden Inschriften, die sogenannten Pyramidentexte, die erstmals einen Eindruck der königlichen Jenseitsvorstellungen und des königlichen Totenkults dieser Zeit geben. Ursprünglicher Eingang Ursprünglich lag der Eingang ins Kammersystem der Pyramide 16,98 m über dem Bodenniveau, auf Höhe der 19. Verkleidungslage. Er liegt an der Nordseite, 7,29 m von deren Mittelachse nach Osten versetzt. Die Nord-Süd-Achse wurde allerdings im Unterpflaster eingeritzt, was eindeutig darauf hinweist, dass die Versetzung des Eingangs aus der Nord-Süd-Achse nach Osten hin beabsichtigt war, wenn auch die Gründe dafür heute nicht mehr bekannt sind. Über dem Eingangskorridor liegen drei Lagen großer Steinblöcke und darüber zwei Lagen wie bei einem Giebeldach angeordnete Steinquader, die jeweils über 2 m hoch sind. Vermutlich erstreckt sich diese Konstruktion entlang des absteigenden Korridors bis auf Höhe des Felskerns. Heute sind das obere Ende des absteigenden Korridors und der eigentliche Eingang nicht mehr vorhanden. Vito Maragioglio und Celeste Rinaldi gehen davon aus, dass die Eingangskonstruktion aus einem 1,20 m hohen Architrav bestand. Über dem ursprünglichen Eingang der Pyramide wurde durch Ultraschall- und Endoskop-Aufnahmen im Jahr 2023 eine bis dahin unbekannte, mindestens 9 Meter lange und leere Kammer entdeckt. Strabon, der um 25 v. Chr. Ägypten bereiste, beschrieb in seinem Werk Geographika, dass der Eingang von einer herausklappbaren Steinplatte verschlossen wurde. Nach Rainer Stadelmann war dies kaum der ursprüngliche Verschluss. Dieser dürfte aus Blockierungssteinen und einem Verkleidungsstein bestanden haben, der den Eingang verbergen sollte. Es wurde vermutet, dass die Pyramide nach Beraubungen seit der ersten Zwischenzeit in der Spätzeit eine steinerne Klapptür erhalten habe, wodurch die Innenräume besichtigt werden konnten. Später sei die Pyramide erneut blockiert und verschlossen worden, sodass der Zugang in arabischer Zeit unter Maʾmun nicht mehr aufgefunden werden konnte. Al-Ma'mun-Tunnel Unterhalb des ursprünglichen Eingangs soll der siebte Kalif der Abbasiden Abū l-ʿAbbās ʿAbdallāh al-Ma'mūn im Jahr 832 einen Zugang in das Innere der Pyramide geschlagen haben, durch den Besucher heute für gewöhnlich die Pyramide betreten. Al-Ma'mun vermutete den Eingang auf Höhe der siebten Steinlage, also zehn Lagen unterhalb des tatsächlichen Eingangs, und verschätzte sich zudem um 7,3 m in westlicher Richtung. Der Tunnel wurde etwa 27 m direkt und horizontal in die Steinlagen gegraben und knickt dann scharf nach links ab, um auf die Blockiersteine am unteren Ende des aufsteigenden Korridors zur Großen Galerie zu treffen. Hier arbeiteten sich al-Ma'muns Arbeiter durch den weichen Kalkstein um die Blockiersteine herum hinein in den aufsteigenden Korridor. Rainer Stadelmann hält die Tradition, dass al-Ma'mun den Räubertunnel anfertigen ließ, für unwahrscheinlich. Es lässt sich nur schwer erklären, wie die Gangkreuzung gerade da erreicht wurde, wo man die Blockade umgehen konnte, und woher man im 9. Jahrhundert n. Chr. Mittel und Motivation für ein solches Vorhaben hatte. Somit sieht Stadelmann die Berichte von Strabo und über al-Ma'mun skeptisch: „Ich möchte daher unterstellen, dass sowohl der Bericht des Strabo über die Steintür, deren Konstruktion ohnehin kaum sinnvoll wäre, wie auch die Tradition von Ma’mun nur insoweit der Wirklichkeit entsprachen, als sie einen schon bestehenden, in der Ersten Zwischenzeit erzwungenen Eingang mit Steintür und Tunnel betrafen, den Ma’mun erneut hat öffnen und erweitern lassen.“ Absteigender Korridor Der absteigende Korridor besitzt eine Breite von 1,09 m und eine Höhe von 1,20 m. Er führt mit einer Neigung von 26° 34′ 23″ etwa 34 m durch das gemauerte Massiv, wobei er nach etwa 28,21 m auf den aufsteigenden Gang trifft. Nach Erreichen des Basisniveaus führt er weitere 70 m durch den gewachsenen Fels, das heißt insgesamt 105,34 m bis in eine Tiefe von 30 m unter dem Basisniveau. Dort führt ein 8,91 m langer waagerechter Gang weiter in die Felsenkammer. Etwa 1,50 m vor der Felsenkammer befindet sich im horizontalen Korridor auf der westlichen Seite eine kleine, offenbar nicht fertiggestellte Nische, deren Bedeutung nicht geklärt ist. Da sie Ähnlichkeiten mit den Nischen im horizontalen Abschnitt des Korridors der Meidum-Pyramide aufweist, hält es Michael Haase für möglich, dass hier eine Blockiervorrichtung installiert werden sollte. Obwohl im Gang mehrere, sogar bearbeitete Granitfragmente gefunden wurden, ist es Rainer Stadelmann zufolge unwahrscheinlich, „dass der gesamte absteigende Korridor einst mit Steinen blockiert gewesen wäre“. Diese stammten demnach aus dem oberen Drittel. Es ist anzunehmen, dass der Gangteil bis zur blockierten Wegkreuzung ebenfalls blockiert war. Dies würde erklären, warum bei der Beraubung ein am oberen Gangteil vorbeiführender Tunnel angelegt wurde, anstatt die Blockierung zu entfernen. Felsenkammer Der absteigende Korridor endet in der Felsenkammer. Die Kammer blieb offensichtlich unvollendet, und auch der Boden ist nicht auf sein geplantes Niveau abgearbeitet worden. Der westliche Bereich wurde nicht zu einem rechteckigen Raum aus dem Fels gemeißelt. Dort sind noch Arbeitsrinnen von den Versuchen erkennbar, das anstehende Felsgestein abzuschlagen. Nach Michael Haase hatten die Arbeiter anscheinend enorme Probleme bei der Ausarbeitung der Kammer, da die Sauerstoffzufuhr nur unzureichend war. Die Kammer misst 8,36 m in nordsüdlicher Ausrichtung, 14,08 m in ostwestlicher Ausrichtung und ist maximal 5,03 m hoch. Der unebene Untergrund im östlichen Bereich ist bis zu 1,30 m tiefer als das Niveau des Korridors, was darauf hindeutet, dass ein Bodenpflaster in unbekannter Höhe geplant war. I.E.S. Edwards schloss nicht aus, dass diese Vertiefung die erste Stufe eines nicht weitergeführten Arbeitsganges zur Vertiefung der Felsenkammer gewesen war. Aus der Südostecke führt in Verlängerung des Gangsystems ein Korridor weitere 16,41 m nach Süden, wo die Arbeiten abgebrochen worden sind. Seine Funktion bleibt rätselhaft, konnte sich darin doch nur ein einzelner Mann mühsam mit Meißel und Hammer durch den Fels schlagen. Im östlichen Teil der Felsenkammer führt ein Schacht in die Tiefe. Seine Seitenwände sind nicht parallel zu den Kammerwänden, sondern in etwa diagonal. Der erste Teil des Schachtes bis zu einer Tiefe von etwa 2 m wurde oft als alt angesehen. Perring drang bis in eine Tiefe von 11 m weiter vor, auf der Suche nach einer unterirdischen Kammer. Rainer Stadelmann hält auch den ersten Schachtansatz aufgrund der Orientierung für eine vergebliche Bohrung späterer Schatzsucher. Die Funktion der Felsenkammer ist in der Forschung umstritten. Der Aufbau des unterirdischen Kammerbereichs entspricht durchaus dem der königlichen Grabmäler des Alten Reiches: Nach den absteigenden Korridoren schließt sich auf einem ebenen oder erhöhten Niveau der Grabraum an. Rainer Stadelmann hält es aus folgenden Gründen nicht für möglich, dass die Kammer als Grabkammer eines ersten Projektes gedacht war: Es sind keine Sicherheitsvorkehrungen davor angebracht. Der geplante Gang nach Süden erweist sie als eine Art Vorkammer. Es hätte kein Sarg durch den Korridor eingebracht werden können. Für Michael Haase sind diese Belege nicht hinreichend, um dem Raum die Funktion als Grabkammer abzusprechen. Er hält es für möglich, dass hier ein unterirdisches Kammersystem geplant war, das scheiterte, weshalb man neue Grabräume im Kernmauerwerk der Pyramide baute. Unterirdische Felsenkammern erinnern an das chthonische Wesen des Königs und sein Wirken als Totengott. In späteren Erzählungen wurde über ein Osirisgrab unter der Pyramide berichtet. Nach Rainer Stadelmann waren zu Cheops’ Zeit allerdings noch nicht so sehr osirianische Vorstellungen ausgeprägt als vielmehr solche, die mit Ptah und Sokar verbunden sind: „Nach einer alten Tradition ist in Gizeh die ursprüngliche Kultstätte des Gottes Sokar namens Ra-setjau zu suchen, die man sich nach der Etymologie als eine Höhle vorstellen muss. Vielleicht hat Cheops mit der Felsenkammer unter der Pyramide ein persönliches Rosetau einschließen wollen, eine Höhle mit einem unendlichen oder blind endenden Korridor, ägyptisch sṯˀw (setau), in der der tote König als Abbild des Sokar ruhte.“ Luft- oder Fluchtschacht und „Grotte“ Zwischen der Großen Galerie und dem absteigenden Korridor verläuft ein Luft- oder Fluchtschacht, auch als Brunnen- oder Verbindungsschacht bezeichnet. Der untere Zugang befindet sich etwa 98 m unterhalb des Eingangs an der rechten Wand des absteigenden Korridors. Er setzt sich aus mehreren verschieden langen und unterschiedlich aufgebauten Abschnitten zusammen. Bis auf wenige Unregelmäßigkeiten verläuft er parallel zum Absteigenden Korridor, etwa 1,2 bis 1,4 m westlich davon. Allem Anschein nach nahm er seinen Anfang auf dem Felsgestein, auf dem man die Pyramide errichtet hat, etwa 5,7 m über dem Basisniveau und 78 m südlich der Nordkante der Pyramide. Der Teil des Schachtes, der vom Basisniveau senkrecht in das Felsgestein hinein führt, wurde auf einer Länge von etwa 2,50 m mit mittelgroßen Steinblöcken gemauert. Dieser Teil des Luft- oder Fluchtschachtes führt im Felsgestein durch eine Hohlraumstruktur, die als „Grotte“ bezeichnet wird. Es wurde schon angenommen, dass es sich bei der Grotte um die Überbleibsel einer alten Grabanlage handelt, es konnten aber keine Anhaltspunkte dafür gefunden werden. Weder die allgemeine strukturelle Beschaffenheit noch die Abmessungen der „Grotte“ geben Anlass zu dieser Vermutung. In der Grotte befindet sich ein großes Bruchstück eines Steinblocks aus Granit, bei dem es sich vermutlich um einen der drei Blöcke handelte, mit denen die Grabkammer verschlossen wurde. Nach dem etwa 5,20 m langen senkrechten Teilstück verläuft der Luft-/Fluchtschacht folgendermaßen: Etwa 26,50 m weit in die Tiefe unter einem Winkel von 45° in südlicher Richtung, eine etwa 9,50 m lange Strecke unter einem Winkel von 75° und ein fast 2,30 m langes, südöstlich orientiertes, horizontales Teilstück als Verbindungsstück zum absteigenden Korridor. In entgegengesetzter Richtung wurde der Schacht über eine Länge von 61 m bis in eine Höhe von 21,80 m ins Kernmauerwerk gebaut, wo er auf Höhe der Basis der Großen Galerie endet. Dieser diente den Arbeitern unter Tage vermutlich zur Belüftung oder als Fluchtweg. Wäre der Schacht jedoch allein als Notausstieg konstruiert worden, würde man einen kürzeren Weg zum absteigenden Korridor erwarten. Aufsteigender Korridor Etwa 27,40 m unterhalb des ursprünglichen Eingangs der Pyramide befindet sich in der Decke des absteigenden Korridors der Übergang zum aufsteigenden Bereich des Korridors. Dieser stellt eine Verbindung zwischen dem in den Fels gemeißelten unteren und dem im Kernmauerwerk konstruierten oberen Kammersystem her. Der Korridor misst 1,20 m in der Höhe und 1,05 m in der Breite und mündet nach einer Länge von 37,76 m in die Große Galerie ein. Das untere Ende verengt sich auf 0,97 m, um die Blockierung zu halten. Noch heute sitzen die drei Granitsteinblöcke in der ursprünglichen Position fest, und der Gang ist nur über das Ende des al-Ma'mun-Tunnels zugänglich. Eine Besonderheit des aufsteigenden Korridors sind vier „Gürtelsteine“ (auch girdle stones). Es handelt sich dabei um senkrecht im Kernmauerwerk verbaute Kalksteinblöcke, durch die hindurch der Gang konstruiert wurde. Ludwig Borchardt meinte, dass der Korridor deswegen schon durch verlegtes Mauermaterial getrieben wurde. Dies sollte die These stützen, dass die Felsenkammer als erste Grabkammer geplant war und der aufsteigende Korridor erst nach deren Aufgabe gebaut wurde. Vito Maragioglio und Celeste Rinaldi konnten nachweisen, dass sie der statischen Sicherung des absteigenden Korridors dienten und nicht schon vor der Korridorkonstruktion bestanden. Durch sie sollten die Lasten der Korridorkonstruktion aufgefangen werden. Große Galerie Die Große Galerie liegt auf derselben schiefen Ebene wie der aufsteigende Korridor, jedoch mit einem etwas anderen Azimut. Dieser weicht um plus 1′ 20″ von Norden ab. Sie ist doppelt so breit wie der aufsteigende Korridor, um ein Vielfaches höher und besitzt ein Kraggewölbe. Bei dieser Deckenkonstruktion nähern sich die überhängenden Binderschichten der Längsseiten eines Raumes stufenweise so weit, dass sich der Zwischenraum darüber überbrücken lässt. Daneben erfüllt die Konstruktion eine stabilisierende Funktion. Der Druck der darüberliegenden Steinmasse wird seitlich ins Kernmauerwerk abgelenkt. Ab einer Höhe von 1,80 m verschieben sich sieben Seitenlagen der Wände um jeweils 8 cm nach innen, sodass am Ende wieder die Breite des aufsteigenden Korridors erreicht wird. Die Höhe der Galerie variiert zwischen 8,48 und 8,74 m, die Länge beträgt 46,12 m. Die Konstruktion des Kraggewölbes war also vermutlich durch die Breite des Ganges bedingt, die durch einen ihrer Funktion entsprechenden Platzbedarf erforderte. Die Decken wurden versetzt verlegt, wodurch sie keinen ebenen Übergang bilden, „sondern gleichsam in die Seitenwände einhaken, um den Schub aufzufangen“. Die Galerie besteht aus einem mittleren, 1,05 m breiten Gang und erhöhten seitlichen Bänken mit einer Höhe und Breite von 0,52 m. In den Banketten und unmittelbar darüber in den Wänden befinden sich jeweils 25 rechteckige Vertiefungen und Nischen in einem Abstand zueinander von 1,40 bis 1,50 m. Die Nischen sind etwa 0,67 m × 0,20 m groß, die Vertiefungen 0,52 m × 0,18 m. Die Nischen scheinen später durch eine Kalksteinfüllung wieder verschlossen worden zu sein. Bereits Flinders Petrie und Noel Wheeler nahmen an, dass die Nischen und Vertiefungen der Halterung der Blockiersteine dienten, die im vertieften Gang der Galerie gelagert wurden. Horizontaler Gang zur Königinnenkammer Vom unteren Ende der Großen Galerie führt ein 38,15 m langer Gang zur Königinnenkammer. Die ersten 5,07 m des Ganges sind zur großen Galerie nach oben geöffnet. Rainer Stadelmann vermutet, dass dieser Abschnitt zeitweise durch eine Brücke überdeckt gewesen sein muss, die den Zugang versperrt hat. Links und rechts des offenen Abschnitts wurden Nischen in den Wänden angebracht. Für Michael Haase dienten sie vermutlich als Haltevorrichtungen, die die im Mittelgang gelagerten Blockiersteine in Position hielten und vielleicht auch als Haltepunkte für die Aufbauten eines hölzernen Gerüstes, mit dem eine Art Zwischendecke in die Große Galerie eingezogen werden konnte. Der Gang ist 1,05 m breit und 1,17 m hoch und damit 3 cm niedriger als die Blockiersteine des aufsteigenden Ganges, weshalb sie nicht in diesem Gang gelagert werden konnten. Der Gang sinkt in Richtung Königinnenkammer um mehrere Zentimeter ab und auf den letzten 5,50 m zusätzlich um etwa 0,50 m. Dieses Niveau wird auch in der Königinnenkammer beibehalten. Vielleicht war hier ein Boden aus Granit verlegt, der in späterer Zeit herausgerissen wurde. Königinnenkammer Der horizontale Gang endet in der Nordostecke der sogenannten Königinnenkammer. Diese verdankt ihren Namen einer falschen Interpretation ihrer Funktion in arabischer Zeit. Die 5,23 m × 5,76 m große Kammer liegt genau in der Ost-West-Achse der Pyramide, ist jedoch von der Nord-Süd-Achse nach Osten versetzt. Sie ist mit feinem Kalkstein ausgekleidet und hat ein flaches, 6,26 m hohes Satteldach. Es weist einen Neigungswinkel von 30,5° auf und reicht bis in eine Höhe von 4,69 m über dem Boden. Sie war der erste Raum in einer ägyptischen Pyramide, der mit einer Decke in Form eines Satteldaches ausgestattet wurde. An der Ostwand befindet sich eine 4,69 m hohe und 1 m tiefe Nische, deren Seitenwände wie ein Kraggewölbe aufgebaut sind. Die Funktion der Nische ist unklar, Petrie nahm an, dass sich darin eine Statue befunden hat, da er zahlreiche Dioritfragmente an der nördlichen Außenseite der Pyramide fand. Auch Lehner hält dies für möglich, da der horizontale Gang zur Königinnenkammer vermutlich komplett versperrt war. Dies ist ein Merkmal des Serdabs, ein Raum für die Ka-Statue, den spirituellen Doppelgänger des Königs. Von dieser Nische aus führt ein etwa 15,30 m langer Schacht in das Kernmauerwerk der Pyramide. Während Rainer Stadelmann davon ausgeht, dass er von Schatzsuchern herausgeschlagen wurde, meint Michael Haase, dass zumindest die ersten 7 m während des Baus der Pyramide errichtet wurden und eine bestimmte Funktion hatten. Erst danach nimmt er eine rohe Gestalt an, die auf Grabräuber hindeutet. Korridor zur Sarkophagkammer und Blockiersteinkammer Ein 6,85 m langer und etwa 1,05 m × 1,11 m großer Korridor verbindet die große Galerie mit der Sarkophagkammer. Der Korridor durchquert eine Kammer aus Granit mit Granitfallsteinen. Drei etwa 2,5 t schwere Blöcke aus Granit dienten einst der primären Blockierung der Grabkammer. Die Blöcke konnten in senkrechten, etwa 55 cm breiten Rinnen bewegt werden. Während der Bauzeit wurden die Blöcke vermutlich über eine Seilvorrichtung hochgezogen und zusätzlich durch Stein- oder Holzbalken in einer erhöhten Position gehalten, damit der Durchgang bis zur Verschließung passierbar war. Um die Seile hindurchzuführen, wurden die Blöcke aus Granit an den Kopfenden viermal durchbohrt. In den Seitenwänden der Kammer sind noch die runden Vorrichtungen für drei darin waagerecht fixierten Rundhölzer erkennbar, über die die Seile gezogen wurden. An der hinteren Wand dienten vier halbkreisförmige Rillen als Führung für die Seile, um so ein Verklemmen zu verhindern. Von den Blockiersteinen wurde einer in der „Grotte“ gefunden. Weitere Fragmente befanden sich im absteigenden Korridor, und ein großes Bruchstück liegt heute vor dem ursprünglichen Eingang der Pyramide. Königskammer Der Zugang in die Grabkammer der Cheops-Pyramide liegt in der Nordostecke der Kammer. Die 10,49 m × 5,24 m große und 5,84 m hohe Königskammer orientiert sich an der Ost-West-Achse. Sie ist vollständig aus Granitsteinblöcken aufgebaut. Für Michael Haase hat es den Anschein, „als ob sich Cheops’ Bauleiter bei der Konzeption der primären Grabkammer an der Stufenpyramide des Djoser orientiert haben“. Es ist die einzige königliche Grabkammer innerhalb der 4. bis 6. Dynastie, die eine flache Decke aufweist. Vermutlich aufgrund des räumlich kompakten Kammersystems wurde sie nicht wie üblich mit einem Giebeldach oder einem Kraggewölbe überdacht. Stattdessen legte man neun über 6 m lange Balken aus Granit auf die Wände, die darüber die Entlastungskammern erforderten. Im westlichen Bereich der Königskammer steht der Granitsarkophag des Cheops. Der Deckel ist nicht mehr vorhanden. Der Sarkophag besteht aus einem einzigen Granitblock, der durch Sägen, Bohren und Polieren in seine Form gebracht wurde. Bearbeitungsspuren an der Außenseite lassen erkennen, dass Sägen aus Kupfer unter Beimengung von Quarzsand als Schleifmittel verwendet wurden. Spuren im Innern zeigen, dass hier kupferne Bohrzylinder mit einem vermuteten Durchmesser von 11 cm und einer Wandstärke von 5 mm zum Einsatz kamen. Von der Größe her (2,28 m × 0,99 m × 1,05 m) passte der Sarkophag nicht durch die Korridore und wurde daher sicherlich schon bei der Errichtung der Grabkammer dort aufgestellt. An der westlichen Oberkante weist der Sarkophag drei Bohrlöcher auf, durch die der Deckel vermutlich mit Stiften fixiert und verriegelt wurde. Nach Angabe arabischer Historiker des Mittelalters wurde hier eine Art mumienförmiger Sarg gefunden. Der darin gefundene Leichnam wurde demnach zu dieser Zeit geplündert. Rainer Stadelmann schließt die Möglichkeit nicht aus, dass das Begräbnis vermutlich in der Ramessidenzeit wiederhergestellt wurde und erst durch Ma’mun wieder geöffnet wurde. Zumindest lässt sich aus den vagen Beschreibungen antiker Besucher wie Herodot entnehmen, dass sie das Innere der Pyramide vielleicht nicht gesehen haben. Entlastungskammern Oberhalb der Grabkammer befinden sich fünf kleine, übereinander liegende, hermetisch abgeschlossene Hohlräume. Durch diese sogenannten Entlastungskammern wurde die Giebeldachkonstruktion so weit nach oben verlagert, dass „sie ihre kräfteumlenkende Funktion in einem Bereich erfüllen konnte, der keine Auswirkungen auf das Kammersystem hatte“. Insbesondere wurde dadurch vermieden, dass die Deckenkonstruktion auf der Blockiersteinkammer und der großen Galerie lastete. Aus der Sicht der modernen Baustatik mag diese Konstruktion übertrieben erscheinen, sie erzielte aber durchaus den gewünschten Effekt. Durch eine geringe Senkung der Grabkammer sind kleine Risse aufgetreten, die bereits in antiker Zeit ausgebessert worden sind. Die gesamte Grabkammerkonstruktion mit den darüberliegenden Hohlräumen besitzt eine Höhe von 21 m. Die unterste der Entlastungskammern entdeckte der britische Diplomat Nathaniel Davison 1765, die seitdem seinen Namen trägt. Die weiteren vier Kammern wurden erst 1837 von Oberst Howard Vyse und John S. Perring entdeckt, die mit Hammer, Meißel und Schießpulver bis in die oberste vordringen konnten. Sie wurden nach bekannten Persönlichkeiten der damaligen Zeit benannt: Admiral Nelson, Duke of Wellington, Lady Ann Arbuthnot und Generalkonsul Oberst Patrick Campbell. In den vier oberen Entlastungskammern sind zahlreiche Bauarbeiterinschriften und Markierungszeichen erhalten. Die in roter Farbe festgehaltenen Inschriften geben einen kleinen Eindruck von der Organisation der Bauarbeiten und der damaligen Vermessungstechnik. Besonders häufig werden drei Arbeitermannschaften genannt, die für den Transport der Steinblöcke verantwortlich waren. Die Mannschaften „Die Höflinge des Chufu“ und „Horus Medjenu ist rein“ tauchen nur in der südlichen Hälfte der Kammern auf, die Mannschaft „Die Weiße Krone des Chnum-Chufu ist mächtig“ nur in der nördlichen. Dies zeigt vermutlich ein Logistikkonzept, wonach die Arbeitermannschaften die Blöcke gezielt zu einem Abschnitt der Entlastungskammern gebracht haben, an dem sie verbaut wurden. Es fanden sich zahlreiche aufschlussreiche Markierungszeichnungen. Im westlichen Bereich der Südwand der Lady Arbuthnot-Kammer wurde die Nord-Süd-Zentralachse der Pyramide markiert, an der innerhalb der Grabkammer vermutlich auch der Sarkophag ausgerichtet wurde. Die 11 m tiefer liegende Westwand der Grabkammer wurde in dieser Kammer durch Niveaulinien fixiert. Schächte Eine Besonderheit der Cheops-Pyramide sind die sogenannten „Luftschächte“. Alle vier Schächte sind, von wenigen Stellen abgesehen, an jeder Stelle nach dem gleichen Konstruktionsprinzip durch die Pyramide gebaut, das Forscher insbesondere durch Fahrten mit Robotern analysieren konnten: Die Seitenwände und die Decke der Schächte werden von u-förmig behauenen, umgestülpten und hintereinander gesetzten Monolith-Steinblöcken gebildet. Diese lasten auf einer Reihe von Basissteinblöcken. Die Schächte bilden so einen eigenen diagonalen, von den sie umgebenden horizontalen Steinlagen der Pyramide unabhängigen „Steinkanal“. Obwohl durch moderne Untersuchungen Verlauf und Aufbau der Schächte relativ gut dokumentiert sind, ist die Frage nach deren Funktion noch nicht eindeutig geklärt. Schächte der Königskammer Von der königlichen Grabkammer führen zwei Schächte Richtung nördlichem und südlichem Himmel. Die Ausgänge befinden sich an der Südflanke in der Höhe der 102. Steinlage und an der nördlichen Flanke in der Höhe der 101. Lage. Der südliche Schacht weist einen regelmäßigen, geradlinigen Verlauf bis ca. 6 m vor dem oberen Austritt auf. Dort verbreitert er sich um ca. 0,34 m und weist eine einseitige, nietenartige Nische auf. Die Deutung dieses Befundes könnte in Zusammenhang mit den neuen Entdeckungen im südlichen Schacht der Königinnenkammer stehen, wo ein Verschlussstein und ein kleiner Raum dahinter entdeckt wurden. Der Ausgang des nördlichen Schachts wurde zu einem unbestimmten Zeitpunkt vermutlich von Schatzsuchern von einer ursprünglichen Breite von 0,22 m × 0,22 m auf einer Länge von ca. 11,30 m auf eine Größe von 0,91 m × 0,84 m erweitert. Der Schacht weist im unteren Bereich mehrere Richtungsänderungen auf, da er den oberen Bereich der Großen Galerie umgehen musste. Der Winkel des südlichen Schachts beträgt 45° 00′ 00″ jener des nördlichen 32° 36′ 08″. Die Breite des Schachts beträgt 20,5 cm, mit einer maximalen Abweichung von 0,5 cm. Schächte der Königinnenkammer Die unteren Ausgänge der Schächte in der Königinnenkammer liegen in der Mitte der Nord- und Südwand, heute in einer Höhe von 1,50 m. Geht man von einem Plattenbelag von 0,523 m aus, waren sie wahrscheinlich ursprünglich in der gleichen Höhe wie jene der Königskammer angebracht, in ca. 0,96 m. Die unteren Ausgänge waren bis in die moderne Zeit verschlossen, und zwar so, „dass in den entsprechenden Blöcken der Seitenwände das letzte Teilstück des Schachtes in einer Dicke von 0,18 m ≈ 10 altäg. Finger nicht ausgeschachtet war“. Erst 1872 wurden die Schächte von Waynman Dixon entdeckt und gewaltsam geöffnet. Dabei fand er im unteren Teilstück des nördlichen Schachtes drei Gegenstände: eine kleine Steinkugel, eine Holzleiste und einen Gegenstand aus Kupfer, wohl ein schwalbenschwanzförmiges Kupferwerkzeug. Diese befinden sich heute im British Museum. Vermutlich handelt es sich um originale Beigaben: „Die wahrscheinlichste Deutung dieser Gegenstände ist die, dass sie Modellbeigaben waren, wie sie ähnlich bei Gründungsbeigaben vorkommen. Sie dienten damit dem König im Jenseits als Werkzeuge, die kleine Kugel als Steinhammer, das Kupferwerkzeug als Meißel, das Holz als Elle oder Keilholz zur magischen Öffnung des Schachtes.“ Dieser Befund lässt vermuten, dass auch die unteren Ausgänge der Königskammer ursprünglich verschlossen waren. Der nördliche Schacht der Königinnenkammer wird nach etwa 19 m durch eine Eisenstange blockiert, die vielleicht noch von Dixons Untersuchungen stammt. Deshalb konzentrierten sich Stadelmanns und Gantenbrinks Untersuchungen mit dem Roboterfahrzeug auf den südlichen Schacht. Dieser verläuft zunächst 2,29 m in horizontaler Richtung und steigt dann mit einer Steigung von 39,60° nach oben. Nach 57,55 m verschließt ein Kalksteinblock mit polierter Oberfläche den weiteren Anstieg. Auf dieser Oberfläche finden sich zwei stark ausgeblühte und erodierte, 5,5 cm hohe Kupferbeschläge. Im Jahr 2002 wurde der Blockierstein durchbohrt. Dahinter befand sich ein leerer Hohlraum, der mit einem diesmal roh behauenen und rissigen Blockierstein abgeschlossen ist. Der etwa 21 cm tiefe Hohlraum dahinter stellt offensichtlich die Verlängerung des Schachtes dar. Vermutlich handelt es sich hier um das Ende des Schachtes, da man im Bereich an der Außenseite der Pyramide, an der der Südschacht theoretisch austreten müsste, keinen Austrittspunkt feststellen konnte. Weiter konnte auch der nördliche Schacht 2002 erforscht werden. Auch dort versperrt ein Steinblock, baugleich demjenigen im Südschacht, den weiteren Aufstieg. Auch dieser weist zwei Kupferbeschläge auf. Es ist anzunehmen, dass sich dahinter eine ähnliche Hohlraumstruktur befindet wie beim südlichen Schacht. Mit Projekt Djedi wurde 2011 der Blockierstein und die dahinterliegende Kammer erneut erforscht. Dabei war es möglich, mit Hilfe einer beweglichen Endoskopkamera den gesamten Hohlraum zu untersuchen. Die Rückseite des Blockiersteins ist ebenfalls glatt und die Kupferbeschläge bilden auf der Rückseite die Form zweier Ösen, die möglicherweise dekorativer Natur sind. Des Weiteren wurden auf dem Boden der 23 cm hohen Kammer rote Markierungen entdeckt, bei denen es sich wahrscheinlich um Bauarbeiter-Graffiti handelt. Deutungen der Schächte Rainer Stadelmann interpretiert die Schächte als Modellkorridore für die Himmelfahrt der Seele des Königs. So findet sich in den königlichen Jenseitsvorstellungen des Alten Reichs die Idee der Himmelfahrt des toten Königs, „anfänglich zu den unvergänglichen Sternen des Nordhimmels, denn zum Lichtland, den Gefilden des Re am Himmel“. Besonders die erstmals etwa 250 Jahre später überlieferten Pyramidentexte sind durchdrungen von dieser Vorstellung, aber auch die Form des Königsgrabes von der Mastaba bis zur zum Himmel ragenden Pyramide und der Gestaltung der Grabräume sind davon geprägt. Demnach weisen die Schächte dem toten König den Weg zum Nordhimmel, zu den „unvergänglichen“ Sternen. Damit der Tote oder eine seiner Erscheinungsformen diesen Weg begehen konnte, musste dies durch eine Scheintür oder rituell vorbereitete Korridore oder Grabschächte begehbar gemacht werden. Da bei Cheops die Grabkammer nicht mehr in der Tiefe der Erdausschachtung, sondern in der Mitte der Pyramidenhöhe angelegt wurde, ergab sich ein dogmatisches Problem. Um über das normale Gangsystem zum Himmel aufzusteigen, hätte der König, aus seiner Grabkammer kommend, zuerst durch die Große Galerie und den absteigenden Korridor gehen müssen, um dann in den aufsteigenden Korridor zu gelangen, der zum Ausgang und in der Verlängerung zum Himmel führt. Dies widerspricht aber der Idee des Himmelsaufstiegs. Deshalb musste man nach Stadelmann eine architektonische Lösung finden, „die trotz der hohen Lage der Grabkammer einen direkten vertikalen Aufstieg ermöglichte“. Wie die echten Grabkorridore besitzen auch die Modellkorridore ein kurzes horizontales Gangstück in die Grabkammer und steigen dann in einem steilen Winkel direkt zum Himmel an. Dass es nicht nur Korridore zum Nordhimmel, sondern auch zum Südhimmel gibt, deutet Stadelmann mit dem universalen Anspruch des Cheops als Inkarnation des Sonnengottes: „der nördliche Korridor (nSK) führt zu den Zirkumpolarsternen, den jḫmw-sk (ichemu-sek), wo der König die Tagesbarke des Sonnengottes besteigt, der südliche (sSK) zu den jḫmw wrḏ (ichemu weredsch – Nichtzirkumpolarsterne), den Dekanen und Planeten, die ihn in seiner Nachtbarke begleiten.“ Michael Haase bringt folgende Einwände gegen die „Seelenschacht“-Hypothese: In allen Pyramiden des Snofru, Cheops Vater und Vorgänger, liegen die Grabkammern gegenüber dem unteren Ende des Korridors erhöht. Snofrus Seele war also stets gezwungen, ein Stück nach unten zu gehen, bevor sie in den Himmel aufsteigen konnte. Es stellt sich die Frage, wieso die Schächte der Königskammer an die Außenseite der Pyramide führen, jene der Königinnenkammer aber etwa 15 m vorher im Kernmauerwerk enden. Die zusätzliche Orientierung der Südschächte auf den Südhimmel bliebe eine einmalige Angelegenheit. In den späteren Pyramiden findet sich keine weitere südliche Ausrichtung von Korridoren. Der Versuch einer Deutung anhand der Vorstellungen in den Pyramidentexten ist nicht unproblematisch, da diese erst etwa 250 Jahre später festgehalten wurden und dazwischen grundlegende Entwicklungen bautechnischer und konstruktiver Art der Pyramiden-Architektur stattgefunden haben. Außerdem wurden die Enden der Schächte in der Königinnenkammer nicht als symbolische Durchgänge im Sinne einer Scheintür gekennzeichnet, was im Widerspruch zu einer religiösen Funktionalität steht, die durch eine gewisse „Bildhaftigkeit“ gekennzeichnet wurde. Daneben werden die Schächte als Luftschächte für die Arbeiter im Kammersystem interpretiert. Diese Ansicht basiert unter anderem auf den Erfahrungen der britischen Forscher, die die Schächte der Königskammer säuberten, wodurch es zu einer merklichen Frischluftzufuhr in der Grabkammer kam. Vielleicht nutzten die Ägypter dafür geschickt den Nordwind aus. Die Belüftungskanäle in der Königinnenkammer wurden zwar geplant, letztlich aber nicht gebraucht und aufgegeben. Einerseits besaß der Gebrauch von Belüftungskanälen in der 4. Dynastie schon eine gewisse Tradition, andererseits könnten sie im Hinblick auf die negativen Erfahrungen mit der Luftzufuhr in der Felsenkammer angelegt worden sein. Der Ägyptologe Rolf Krauss schließt sich der Interpretation als Belüftungsschächte an. Er macht dies an zwei Argumenten fest. Zum einen führe der Versuch die Neigungswinkel der Schächte auf kulminierende Sterne zu beziehen auf chronologische Widersprüche. Andererseits wurde in der Cheops-Pyramide, im Gegensatz zu allen anderen altägyptischen Pyramiden, die Zufuhr von Frischluft benötigt, da sich die Königs- und die Königinnenkammer hoch oben innerhalb des Pyramidenmassivs befinden. In anderen Pyramiden konnte kühle Luft in unten liegende Kammern einfließen und warme Luft nach oben aufsteigen, wodurch eine Luftzirkulation zustande kam. In der Cheops-Pyramide musste diese Luftzirkulation zu den oben liegenden Kammern durch Schächte künstlich herbeigeführt werden, um die Arbeiter mit Frischluft und die Öllampen oder Fackeln mit Sauerstoff zu versorgen. Der Pyramidenkomplex Totentempel Der Totenkult für den verstorbenen König konzentrierte sich vor allem auf den sogenannten Totentempel (auch Pyramidentempel), der sich in der Mitte an die Ostseite der Pyramide anschloss. Auffälliges Merkmal der Totentempel der 4. Dynastie ist, dass sie architektonisch nicht mit der Pyramide verbunden waren. Es besteht keine direkte Verbindung zwischen Grab (Pyramide) und Kultanlage (Totentempel). Der Abstand zwischen Pyramidenfuß und Westfront des Tempels beträgt etwa 10 m. Der Totentempel wurde fast vollständig Opfer von Steinraub. Lediglich Reste eines Basaltpflasters, Reste von Pfeilern aus Granit und Fragmente von Statuen und von mit Inschriften und Reliefs versehenen Kalksteinblöcken zeugen noch davon. Es lässt sich eine nord-südliche Breite von 52,40 m und eine ost-westliche Länge von rund 40,30 m rekonstruieren. Ein offener Hof wurde von 26 Pfeilern aus Granit umgeben, die eine überdachte Kolonnade bildeten. Westlich schlossen sich zwei weitere Kolonnadenreihen an, die zu den inneren Kulträumen des Tempels überleiteten. Die Reliefornamente zeigen Szenen des Sedfestes, des Festes des Weißen Nilpferdes und andere Motive. Im Fußboden finden sich Überreste eines Kanalisationssystems, das Regenwasser ableitete. Die Rekonstruktion des Hauptkultraumes wird durch einen Grabschacht von 5 m × 5 m Ausdehnung erschwert, der dort in saitischer Zeit gegraben worden ist. Jean-Philippe Lauer erkannte unregelmäßige Vertiefungen im Fels mit einem Ausmaß von 19,50 m × 9,25 m × 0,60 m, die er zu einem nord-süd orientierten Raum gehörig interpretierte. Aufgrund der Länge des Raumes und der Befunde in den Mastabas und Königinnenpyramiden ging er davon aus, dass sich an der Westwand des Hauptkultraumes zwei Scheintüren befanden. Maragioglio und Rinaldi gingen davon aus, dass die Vertiefungen im Fels auf den Grabschacht ausgerichtet sind und somit nicht zum ursprünglichen Totentempel gehören. Herbert Ricke sprach sich gegen eine Rekonstruktion mit Scheintüren aus. Er meinte, dass dieser Raum Statuen beherbergte, und bezeichnete ihn als „Verehrungstempel“ zur Verehrung des vergöttlichten Königs. Nach Ricke befand sich die notwendige Totenopferstelle direkt an der Ostseite der Pyramide und wurde durch ein Stelenpaar und einen Opferaltar gekennzeichnet. Basierend auf Untersuchungen zum Totentempel der Roten Pyramide schlussfolgert Rainer Stadelmann, dass es auch bei Cheops einen Raum mit Scheintüren gab, der im Norden und Süden von je einer Sakristei oder einem Opfermagazin flankiert wurde. Aufweg und Taltempel Die archäologischen Befunde von Taltempel und Aufweg sind äußerst spärlich. Die Wände des Aufwegs müssen mit kunstvollen Reliefs geschmückt gewesen sein, wie die Berichte von Herodot und Funde einiger Fragmente verdeutlichen. Der Aufweg dürfte etwa 700 m lang gewesen sein. Schwarze Basaltblöcke, die 1990 etwa 750 m nordöstlich der Cheopspyramide in der Ortschaft Nazlet el-Sammam gefunden wurden, stammten vermutlich vom Taltempel. Weiter stammen vielleicht Kalksteinblöcke, die in der Amenemhet-I.-Pyramide verbaut wurden und Inschriften mit dem Namen Cheops tragen, ebenfalls aus dem Taltempel. Es wurde aber auch schon in Betracht gezogen, dass letztere aus einem Tempel des Cheops in der Umgebung des Faijum stammten. Ansonsten ist über ihn nichts bekannt, und die Rekonstruktion bleibt völlig hypothetisch. Im Januar 2015 wurde bekannt, dass ein Bewohner des bei Gizeh gelegenen Dorfes el-Haraneya bei einer illegalen Grabung im Hof seines Hauses auf einen mit Steinblöcken verkleideten Gang gestoßen war. Eine Untersuchung durch Archäologen des ägyptischen Antiken-Ministeriums ergab, dass es sich offenbar um den Aufweg der Cheops-Pyramide handelt. Hof und Umfassungsmauern Auf allen vier Seiten der Cheops-Pyramide sind Reste einer Umfassungsmauer erkennbar, die auf nicht sehr tiefen Fundamenten von 3,15 bis 3,60 m Breite stand und in einem Abstand von etwa 10 m um die Pyramide führte. Die ursprüngliche Höhe kann nicht mehr bestimmt werden. Die Seiten waren leicht geneigt und die Oberseite abgerundet. Der Hof zwischen Umfassungsmauer und Pyramide war mit unregelmäßig geformten, weißen Kalksteinblöcken gepflastert, wovon sich noch einige in situ befinden. Ludwig Borchardt stellte fest, dass der Hof ein leichtes Gefälle nach außen aufweist, sicherlich um bei Regen Sturzbäche von der Pyramide abzuleiten. Außerdem wurden in den Nordwest- und Südwestecken des Hofes Kanäle in das Pflaster geschlagen, die unter der Umfassungsmauer hindurchführten und so das Regenwasser weiter ableiteten. Den Hof konnte man nur durch den Totentempel betreten – vermutlich gab es keine andere Verbindung zur Außenseite der Umfassungsmauer. Weiter entfernt, in einem Abstand von 18,75 bis 23,60 m, gibt es Reste einer zweiten Umfassungsmauer, die nur aus Bruchstein bestand und mit Mörtel verputzt wurde. Sie war zwischen 2,50 und 3,50 m dick und verlief nicht exakt parallel zur Pyramide. Diese Mauer entstand sicherlich nicht zur Zeit des Cheops. Schon die Tatsache, dass sie über die südlichen Bootsgruben verläuft, weist darauf hin, dass sie frühestens unter seinem Sohn Djedefre errichtet wurde, noch wahrscheinlicher im Zusammenhang mit dem Bau der südlichen Mastabas. Auf der Südseite der Pyramide finden sich zwischen der inneren und äußeren Umfassungsmauer die Fundamente einer weiteren Mauer, die nur etwa 0,75 m dick war. Bootsgruben Insgesamt wurden im Umfeld der Cheops-Pyramide sieben Bootsgruben entdeckt. Fünf gehörten zur Cheops-Pyramide und zwei zu den Königinnenpyramiden. Die beiden Bootsgruben südlich der Cheops-Pyramide konnten noch intakt und verschlossen vorgefunden werden. Die südlichen Bootsgruben Die beiden südlichen Bootsgruben wurden erst im Jahr 1954 entdeckt. Aus der östlichen Grube konnten die Einzelteile eines zerlegten Bootes geborgen und wieder zusammengebaut werden. Die zweite Grube wurde erst 1987 erstmals untersucht. Auch dort befindet sich offenbar ein vollständig erhaltenes, in Teile zerlegtes Boot. Die östliche der beiden Gruben verläuft in einem Abstand von 17,10 m parallel zur Südseite der Pyramide, östlich ihrer verlängerten Nord-Süd-Achse. Sie ist 31,15 m lang und 5,35 m tief. Große Abdecksteinblöcke wurden quer zur Grube auf Auflageflächen an der Nord- und Südseite gelegt und ihre Stoßfugen mit feinem Kalkmörtel hermetisch versiegelt. Die 41 Abdecksteine weisen unterschiedliche Abmessungen auf. Im Mittel sind sie 4,50 m lang, 0,85 m breit und 1,80 m hoch und wiegen zwischen 15 und 20 t. Auf den Abdecksteinen wurden zahlreiche Bauarbeiterinschriften entdeckt, darunter Namen von Arbeitsmannschaften, die für den Transport der Steinblöcke verantwortlich waren, darunter auch achtzehn Kartuschen mit dem Namen von Cheops’ Nachfolger Djedefre und ein Datum der „11. Mal der Zählung“. Verner folgert daraus, dass einige Teile von Cheops’ Grabkomplex erst nach seinem Tod fertiggestellt worden sind. Allerdings bezieht sich laut Haase das Datum eher auf die Regierungszeit des Cheops. Demnach handelt es sich um eine Registrierung des Steinblocks im Steinbruch zur Zeit des Cheops. Da für Cheops mittlerweile ein Beleg für ein „Jahr nach dem 13. Mal der Zählung“ existiert, wäre er demnach einige Jahre lang zwischengelagert worden, ehe er für die Bestattung zum Einsatz kam. Gegen ein Regierungsjahr von Djedefre spricht auch, dass dieser nur etwa acht Jahre regiert hat, er bei einem 11. Mal der Zählung und einer zweijährigen Zählweise mindestens 21 Jahre amtiert haben müsste. Außerdem wären die Boote dann nicht mehr im Zusammenhang mit der Bestattung des Cheops deponiert worden. Die funktionstüchtige Barke war in 1224 Einzelteile zerlegt und ihre Bestandteile in 13 Lagen aufgeschichtet. Es handelt sich um ein königliches Ruderboot aus libanesischem Zedernholz, das unter anderem aus einer Kabine, fünf Ruderpaaren, zwei Steuerrudern und einer Ladungsbrücke besteht. Seine Gesamtlänge beträgt 42,32 m, die maximale Breite 5,66 m. Seine Form scheint dem Bootstyp aus Papyrusschilf nachempfunden zu sein. In zehnjähriger Restaurierungsarbeit wurde es wieder zusammengesetzt und ist seit 1982 in einem eigens dafür errichteten Museum ausgestellt. Abnutzungsspuren könnten darauf hindeuten, dass es einst als königliches Ruderboot benutzt wurde. Zahi Hawass geht jedoch davon aus, dass es sich nie im Wasser befunden hat. Spuren von Spänen um die Gruben deuteten an, dass es direkt bei der Pyramide gefertigt wurde. 1987 zeigten Aufnahmen einer Miniatur-Kamera, dass in der zweiten Bootsgrube ebenfalls ein in Einzelteile zerlegtes Boot liegt. Vermutlich handelt es sich dabei um ein Segelschiff. Nach langjährigen Vorbereitungen hat 2009 ein Forscherteam der Waseda-Universität Tokio und des Supreme Council of Antiquities die Untersuchungen an der zweiten Bootsgrube aufgenommen. Im Juni 2013 begann die Bergung des Bootes. Die östlichen Bootsgruben Nördlich und südlich der Überreste des Totentempels liegt jeweils eine über 50 m lange und 7 m breite Bootsgrube parallel zur Ostseite der Pyramide, in einem Abstand von 23,60 m (nördliche Grube) und 24,60 m (südliche Grube). Diese sind seit unbekannter Zeit geöffnet und es fanden sich keine Spuren der darin deponierten Boote. Lediglich in der nördlichen wurde ein Schulterfragment einer Granitstatue des Königs sowie ein Bruchstück eines Kalksteinblockes mit einer Teilinschrift entdeckt. Vermutlich stammt es aus dem Totentempel oder Aufweg. Die beiden Gruben sind größer als jene an der Südseite der Pyramide und sind die größten bekannten Bootsgruben innerhalb ägyptischer Pyramidenbezirke überhaupt. Die Strukturen am Boden deuten an, dass sie bis zu einer gewissen Höhe mit Steinblöcken aufgemauert waren und rechteckige Innenräume bildeten. Die Bootsgrube am Aufweg Etwa 45 m östlich der Pyramide, parallel zum Aufweg findet sich eine weitere, 21,70 m lange und 4,25 m tiefe, Bootsgrube. Sie unterscheidet sich klar von den anderen. Über eine Treppe gelangt man zu einer bootsförmigen Vertiefung im Felsuntergrund. Vielleicht wurde hier eine „Kultbarke“ oder die Barke, mit der die Königsmumie zur Begräbnisstätte transportiert wurde, deponiert. Darin wurden der Kopf einer Löwenstatue, mit Gold beschlagene Holzfragmente und ein Seil gefunden. Es ist nicht klar, ob diese zur ursprünglichen Bootsbestattung gehörten, da die Gruben in späterer Zeit auch zu Grabanlagen umfunktioniert wurden. Steinblöcke an den Seitenmauern deuten an, dass die Grube ebenfalls mit Kalksteinblöcken abgedeckt und zugemauert wurde. Bootsgruben der Königinnenpyramiden Erstmals sind unter Cheops auch bei Königinnenpyramiden Bootsbestattungen belegt. An der Südseite der Pyramide G I-a liegt eine 22,7 m lange, 4,35 m breite und 4,70 m tiefe Bootsgrube, die offenbar zu dieser Königinnenpyramide gehört. Erst in den 1950er Jahren wurde an der Südwestecke der Pyramide G I-b eine weitere Bootsgrube entdeckt. Die darin gefundenen Reste von Ziegelmauerwerk stammen vermutlich von einer späteren Bestattung. Möglicherweise entstand diese Bootsgrube in einer späteren Bauphase als jene der Pyramide G I-a. Sie liegt zwischen den beiden Pyramiden G I-b und G I-c. Ihre eine Seite ragt über 6 m über die Westkanten der beiden Pyramiden hinaus. Vielleicht wurde sie aufgrund des unebenen Geländes an der Südseite der Pyramide G I-c an deren Nordwestecke errichtet. Möglicherweise wurde auch die Stellung der Königin, die in G I-b bestattet wurde, posthum aufgewertet, was eine Bootsbestattung notwendig machte. Interpretationen Die Bedeutung der Königsboote ist noch unklar. Nach Jaroslav Černý waren die vier Boote an den Ost- und Westseiten dazu bestimmt, dass der König nach allen vier Himmelsrichtungen ins Jenseits fahren konnte. Die fünfte Grube enthielt das Boot, mit welchem die Königsmumie zur Grabstätte gebracht wurde. Für Walter Bryan Emery und Selim Hassan dienten sie dem König, um im Gefolge des Sonnengottes Re über den Himmelsozean zu fahren. Abu Bakr meint, dass sie den verstorbenen Pharao bei verschiedenen Wallfahrten und anderen feierlichen Anlässen an die heiligen Orte Ägyptens bringen sollten. Ebenso unklar ist, warum die Boote zerlegt wurden. Vielleicht mussten alle Gegenstände, die mit der Bestattung des Königs in Berührung kamen, durch ihre Demontage „neutralisiert“ werden, da sie als „machtgeladen“ galten. Kultpyramide (G I-d) 1992 entdeckte Zahi Hawass 25,50 m südöstlich der Cheops-Pyramide die Überreste der Kultpyramide. Solche Nebenpyramiden waren spätestens seit der Meidum-Pyramide von König Snofru Teil des Standardprogramms königlicher Grabanlagen. Da sie stets südlich der Königspyramiden lagen, wurden sie auch als „Südgräber“ bezeichnet. Offenbar hatten sie eine wichtige kultische Funktion, die noch nicht geklärt werden konnte. Die 21,75 m breite Pyramide ist bis auf die untersten Steinlagen abgetragen worden. Das T-förmige Kammersystem unterscheidet sie deutlich von jenen der königlichen Gemahlinnen. Die Innenwände sind in der Art eines Zelts oder Baldachins nach innen geneigt. Diese Form entspricht den Galerien unter der Ostseite der Djoser-Pyramide. Der wichtigste Befund ist das Pyramidion der Kultpyramide aus Tura-Kalkstein. Friedhöfe Östlich und westlich der Großen Pyramide entstanden klar geplante Mastaba-Friedhöfe. Im Ostfriedhof wurden die näheren Verwandten des Cheops und im Westfriedhof hohe Beamte und Würdenträger bestattet. Durch dieses Privileg konnten die Bestatteten in die Vorstellungswelt des königlichen Jenseits miteinbezogen werden und erhielten über den im königlichen Totentempel abgewickelten Verehrungskult die notwendigen Opfergaben. Aufbau, Ausrichtung und Ausstattung der einzelnen Privatgräber waren ein Abbild der damaligen hierarchischen Gesellschaft. Während Cheops Regierungszeit wurden in den beiden Friedhöfen insgesamt 77 Grabanlagen gebaut und in späterer Zeit um zahlreiche Gräber erweitert. Eine weitere Reihe von Mastabas wurde während der 6. Dynastie südlich der Cheops-Pyramide angelegt. Der Westfriedhof setzte sich in der Grundplanung aus den drei unabhängigen Gräberfeldern G 1200, G 2100 und G 4000 und der alleinstehenden Mastaba G 2000 zusammen. Die regelmäßige Anordnung der einzelnen Mastabas deutet darauf hin, dass er von einer staatlichen Baubehörde konzipiert wurde. Offenbar wurden die Mastabas den Eigentümern als Rohbauten ohne Verkleidung überlassen und diese übernahmen die weitere Ausschmückung. Der Ostfriedhof (Nekropole G 7000), östlich der Cheops-Pyramide, war für nahe Familienangehörige und unmittelbare Nachkommen bestimmt. Er setzt sich aus sechs nordsüdausgerichteten Gräberreihen zusammen. Der Pyramide am nächsten liegen die drei Königinnenpyramiden, danach folgen acht große Grabanlagen insbesondere für die Söhne des Cheops (Bauefre, Chufuchaef, Horbaef, Hordjedef, Kawab und Minchaef). Diese gruppieren sich in vier Reihen zu je zwei Mastabas und als östliche Begrenzung die große Mastaba des Anchhaf, einem Sohn des Snofru und damit wohl ein Bruder oder Halbbruder des Cheops. Königinnenpyramiden Etwa 56 m östlich vor der Königspyramide stehen drei Nebenpyramiden für die Königinnen, die heute (von Nord nach Süd) mit G I-a bis G I-c bezeichnet werden. Cheops war der erste ägyptische König, der zweifelsfrei Nebenpyramiden als Grabmäler errichten ließ. Zwar baute auch schon sein Vorfahre Snofru Nebenpyramiden, aber jene der Knickpyramide erwies sich als Kultpyramide und über die Funktion jener der Meidum-Pyramide ist nichts bekannt. Die Königinnenpyramiden waren nicht Teil des Königsbezirks und hatten keine Verbindung zum Aufweg und Totentempel. Es waren selbständige Anlagen als Teil der Nekropole G 7000, die des Weiteren acht Mastabas enthält und als königliche Familiennekropole gedacht war. Die räumliche Aufteilung der Grabanlagen entspricht offenbar dem verwandtschaftlichen Grad der dort Bestatteten zum König. Bei den Pyramidenanlagen von Chephren und Mykerinos lagen die Königinnenpyramiden jeweils im Süden. Die Platzwahl des Cheops für diese Pyramiden im Osten wurde schon damit erklärt, dass eine südliche Lage zwecks Anlieferung des Baumaterials von Osten nicht möglich war. Deshalb musste die südliche Seite wegen der Transportrampe von den Steinbrüchen frei bleiben. Peter Jánosi erklärt die Lage aber primär mit der Verbindung zur Nekropole G 7000. Die Zuordnung der Pyramiden zu einzelnen Königinnen oder Prinzessinnen bleibt rein hypothetisch und basiert vor allem auf der Annahme, dass die östlich davon liegenden Mastabas Auskunft über die in der jeweiligen Pyramide bestatteten Personen zulassen. Eine Datierung der drei Pyramiden ist nur sehr eingeschränkt möglich. Als frühester Zeitpunkt für den Baubeginn wird die Fertigstellung des ersten Drittels der Königspyramide angenommen, damit der ungehinderte Ablauf der Arbeiten an dieser garantiert war. Wenn auch Zahi Hawass in den 1990er Jahren die Basen der drei Pyramiden freigelegt hat, wurde bisher keine exakte Vermessung der Anlagen vorgenommen. Für die Basismaße werden durchschnittliche Werte von 44 bis 48 m angegeben. Die Neigungswinkel entsprechen mehr oder weniger jenen der Cheops-Pyramide, woraus theoretische Höhen von 29 bis 30,5 m resultieren, was etwa einem Verhältnis von 1:5 zur Königspyramide entspricht. G I-a Die Königinnenpyramide G I-a wird meist der Königin Meritites I. zugeordnet. Östlich davon liegt die Mastaba des Kawab (G 7110-7120), in der ein Relieffragment mit dem Namen dieser Frau gefunden wurde. Eine heute verschwundene Stele, die Auguste Mariette in der Nähe der Cheops-Pyramide fand und von der er vermutete, dass sie auch aus der Mastaba des Kawab stammte, nennt ebenfalls eine Meritites. So kann man davon ausgehen, dass die Mutter des Kawab Meritites hieß. Von der Annahme ausgehend, dass zwischen den Bestatteten der Pyramiden und den Mastabas dahinter ein verwandtschaftliches Verhältnis bestand, erfolgte nun die Zuordnung der Pyramide zu Meritites, letztlich bleibt diese aber Spekulation. Aufgrund der Fundsituation und Interpretation der Schachtanlage G 7000x wird sie heute auch der Hetepheres zugeordnet. Der Pyramidenkern setzte sich ursprünglich aus drei oder vier Stufen aus gelbgrauem Kalkstein zusammen. Von der Verkleidung sind nur kleine Reste erhalten geblieben. Der Eingang in der Nordwand befindet sich leicht östlich der Nordsüdachse und etwas über der Basis. Der absteigende Korridor knickt ungefähr unter dem Mittelpunkt der Pyramidenbasis nach rechts ab und führt in die Grabkammer. Diese wurde aus dem Fels geschlagen und mit Kalksteinquadern verkleidet. Ein Sarkophag wurde nicht gefunden. An der Ostwand lag einst ein kleiner Totentempel, von dem sich nur geringfügige Reste erhalten haben. Sein Zentrum bestand aus einer nordsüdlich ausgerichteten Kapelle. In der Westwand wurden neben zwei Scheintüren auch zwei Nischen angebracht, deren Bedeutung noch nicht befriedigend geklärt werden konnte. George Andrew Reisner und Peter Jánosi vermuteten in der südlichen Nische die Hauptkultstätte, da sie in der Regel größer zu sein pflegte und hinter ihr in der unterirdischen Kammer der Sarkophag lag. Die nördliche Nische hätte sich dann auf den „zweiten“ Eingang bezogen, das heißt auf die Mündung des Schachtes, der in die unterirdische Kammer führte. G I-b Die Architektur der Pyramide G I-b gleicht in hohem Maße G I-a. Auch in ihr wurden keine Überreste einer Bestattung entdeckt. Aus der Kultkapelle dieser Pyramide sind Relieffragmente und Teile einer Königinnentitulatur erhalten, der Name der Eigentümerin ist jedoch nicht bekannt. Für sie gibt es keine entsprechende Mastaba gegenüber, die eine Zuordnung zulässt, denn den drei Königinnenpyramiden stehen nur zwei Mastabas gegenüber. Durch die Nähe zur Mastaba des Kawab wurde diese Pyramide ebenfalls schon der Meritites I. zugeschrieben. G I-c Auch die Pyramide G I-c gleicht in der Architektur den vorangegangenen. Allerdings blieb ihre Verkleidung laut Reisner unvollendet. Den größten Unterschied weist der Totentempel auf: Reisner zufolge war er während der Regierung des Schepseskaf eilig aus Lehmziegeln errichtet worden. Auguste Mariette fand 1858 in den Ruinen des Totentempels die „Inventar-Stele“, auch Stele der Tochter des Cheops genannt (Ägyptisches Museum Kairo, JE 2091). Auf dieser Stele wird eine Königstochter namens Henutsen erwähnt. Die Stele stammt jedoch aus der 26. Dynastie. Zwar ist der Name im Alten Reich häufiger belegt, es finden sich aber keine zeitgenössischen Belege, die den Namen mit einer Gemahlin oder Tochter des Cheops in Verbindung bringen. Trotzdem geht sie vielleicht auf ein historisches Vorbild zurück. Auf der Inschrift fehlt ein Königinnentitel, das lässt aber nicht unbedingt den Schluss zu, dass Henutsen nur eine Prinzessin war. In der Mastaba des Chaef-Chufu (G 7130-7140) östlich davon ist dieser mit seiner Mutter dargestellt, deren Name ist aber nicht erhalten. Die Pyramide steht auf ungünstigem Untergrund und musste vermutlich deshalb näher an G I-b herangerückt werden als vorgesehen. Ebenfalls sprechen Merkmale in der Architektur dafür, dass sie im ursprünglichen Bauprojekt nicht mit eingeplant war, sondern erst später hinzugefügt wurde. Es wurde schon vermutet, dass es sich bei Chaef-Chufu um den späteren Chephren handelte, der bei der Inthronisierung seinen Geburtsnamen änderte. Wenn Henutsen nun die Mutter des Chephren war, wäre dies eine Erklärung dafür, dass diese Pyramide erst später, nämlich nach der Regentschaft von Cheops Nachfolger Djedefre, unter Chephren gebaut wurde. Dies würde durchaus den unterschiedlichen Baubefund dieser Pyramide im Vergleich zu den beiden anderen erklären. Der kleine Totentempel lag bereits am Ende des Mittleren Reiches in Trümmern. Während der 18. Dynastie wurde er rekonstruiert und vergrößert und in der 21. und 26. Dynastie weiter umgebaut. Die Tempelanlage trug als Isis-Kultstätte nun die Bezeichnung „Tempel der Isis, Herrin der Pyramide“ und wurde zum Ziel von Pilgern, die hierher kamen, um die Göttin und ihr Gebärvermögen zu verehren. Grab der Hetepheres I. (G 7000x) Das Schachtgrab der Hetepheres I. mit der Bezeichnung G 7000x ist Teil des Ostfriedhofs der Cheops-Pyramide (Nekropole G 7000) und liegt unweit der Nordostecke der nördlichen Königinnenpyramide G I-a. Die ägyptische Königin Hetepheres I. war vermutlich die Gemahlin des Snofru und Mutter des Cheops. Das Grab wurde 1925 von Mitarbeitern des Ägyptologen George Andrew Reisner entdeckt. Ein Schacht führt über 27 m tief zu einer Kammer, die noch weite Teile der Grabausstattung der Königin enthielt. Die organischen Materialien der Funde waren schon vergangen und nur noch Staub und kleinste Bruchstücke blieben übrig. Der Boden des ganzen Raumes war mit Goldblech angefüllt, das von den mit Gold beschlagenen Möbeln stammte, die hier einst deponiert waren. Es war jedoch möglich, in aufwändiger Arbeit, viele Gegenstände wieder zu rekonstruieren. Berühmt wurde das Grab durch den Stil und Reichtum der königlichen Grabausstattung. Es ist die besterhaltene Grabausstattung einer Königin des Alten Reiches. Das Grab war allerdings nicht unberaubt. Der Alabaster-Sarkophag wurde leer vorgefunden, dafür war der versiegelte Kanopenkasten mit den Eingeweiden noch intakt. Bis heute wurde für diese Fundumstände noch keine befriedigende Erklärung gefunden. Sicherlich war es nicht das reguläre Grab der Königsmutter. Möglicherweise handelt es sich um ein verstecktes Grab (Cachette) zum Schutz vor Grabräubern oder um ein Notgrab. G I-x In einer T-förmigen Vertiefung, die sich 7,5 m östlich der Pyramide G I-a befindet, vermutete Reisner den Beginn der Errichtung einer Nebenpyramide, die er als G I-x bezeichnete. Auch Lehner hält die Grube für den Eingang einer unvollendeten Pyramide. Seiner Meinung nach bildeten G 7000x und G I-x Bestandteile desselben unvollendeten Grabkomplexes der Königin Hetepheres I. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde die Mumie mit einer komplett erneuerten Grabausstattung in eine neue Grabanlage überführt. Ihre ursprünglichen Grabbeigaben blieben in der Felsenkammer von G 7000x zurück. Die Zuordnung der beiden Vertiefungen zu ein und demselben Grabmonument bleibt sehr spekulativ. Der Plan der Substruktur des angeblichen Pyramidenkomplexes G I-x und G 7000x würde sich fundamental von denen anderer Königinnenpyramiden dieser Zeit unterscheiden. Zudem gibt es keine Belege für die Existenz einer Pyramide über G I-x. Zumindest scheint es in der Nekropole G 7000 verschiedene Planänderungen gegeben zu haben. Bearbeitungen des gewachsenen Felsens „Trial Passages“ An der Nordseite des Aufwegs, etwa 87,50 m von der Ostseite der Cheops-Pyramide und 43,50 m von der Ost-West-Achse entfernt, wurden schmale Korridore in den Fels gehauen. Diese Trial Passages (in etwa „Versuchspassagen“) sind eine Art Modell der wichtigsten Teile des Korridorsystems der Cheops-Pyramide. Der Fels wurde sorgfältig bearbeitet, und fehlerhafte Stellen wurden sogar mit Mörtel ausgebessert. Die Korridore sind ziemlich exakt nord-süd ausgerichtet und sind in Schnitt und Ausrichtung gleich wie die Korridore in der Cheops-Pyramide, nur in einem verkleinerten Maßstab von etwa 1:5. Sie imitieren den absteigenden Korridor, den aufsteigenden Korridor, den unteren Teil der großen Galerie und andeutungsweise den horizontalen Gang zur Königinnenkammer. Bei der großen Galerie werden der mittlere Gang und die seitlichen Bänke wiedergegeben, und sogar die Verengung am Anfang des absteigenden Korridors, die die Blockiersteine fixiert, wurde nachgebildet. Bei der „Trial Passage“ verengt sich der Korridor jedoch in der Länge und in der Höhe, beim realen Gang tritt sie nur seitlich in Erscheinung. Den einzigen Unterschied zum realen Befund in der Pyramide stellt ein vertikaler Schacht dar, der dort, wo der absteigende und aufsteigende Korridor zusammentreffen, nach oben führt. Im Schnitt gleicht er dem Luft- oder Fluchtschacht, bis jetzt konnte aber kein Gegenstück in der Pyramide nachgewiesen werden. In der Nähe der Trial Passages wurden Stufen in den Fels geschnitten. Petrie meinte, dass sie dazu dienten, das Mauerwerk anzugleichen. Es konnten aber keine Überreste von Mauerwerk an dieser Stelle gefunden werden. Größtenteils werden die Trial Passages als ein Modell gedeutet, das die Architekten der Pyramide anlegten, um plastisch und praktisch die charakteristischen Punkte der inneren Passagen zu definieren. Möglicherweise wollten sie mit dem Modell die Gangblockierung ausprobieren. Heute können sie jedoch nicht mehr weiter untersucht werden, da sie zur Müllverbrennung genutzt wurden und nun komplett aufgefüllt sind. „Narrow Trench“ Nördlich der Trial Passages gibt es den sogenannten Narrow Trench (in etwa „schmaler Einschnitt“ – auch Trench Cut genannt). Dieser ist 7,40 m lang, im Norden 27 cm und im Süden 44 cm tief und durchschnittlich 71 cm breit. Am südlichen Ende ist der Einschnitt sorgfältig bearbeitet, am nördlichen Ende ist er vertikal in den rauen Fels geschnitten. Offenbar ist er sorgfältig nord-süd-orientiert und liegt somit parallel zu den „Trial Passages“. Anscheinend steht er mit diesen irgendwie in Verbindung, denn auch die Länge ist fast identisch mit dem vertikalen Schacht der Trial Passages. „Bedrock Cuttings“ In der Umgebung der Cheops-Pyramide gibt es zahlreiche als Bedrock Cuttings (in etwa „Felsboden-Einschnitte“) bezeichnete Bearbeitungen des gewachsenen Felsens, deren mögliche Zusammenhänge bisher nur teilweise untersucht wurden. Maragioglio und Rinaldi wiesen auf eine Reihe von rundlichen oder rechteckigen Löchern hin, mit Seitenlängen von 35 bis 65 cm und Tiefen von 40 bis 60 cm. Diese wurden entlang aller vier Pyramidenseiten aus dem gewachsenen Felsen herausgearbeitet. Bevor das Hofpflaster verlegt wurde, wurden sie mit Steinen und Mörtel verfüllt. Daneben erwähnten die beiden Forscher weitere Löcher, die rund und nur wenige Zentimeter tief sind, isoliert oder in Gruppen vorkommen und kein ersichtliches Muster aufweisen. Georges Goyon führte weitere Untersuchungen durch und Mark Lehner kam schließlich zum Ergebnis, dass die Lochreihen ein 3 m von der Pyramidenbasis entfernt liegendes Quadrat um die Pyramide formten. Die Distanzen zwischen den einzelnen Löchern betragen zwischen 3,4 und 4 m. An den Stellen, an denen der gewachsene Fels exponiert lag, wurden die Löcher demnach bei der Nivellierung wieder verwischt. Somit müssten sie zur Konstruktion der ersten Einmessung des Geländes gehört haben. Eine Reihe von vier kleinen Löchern beschreibt eine Linie, die 2,5 m westlich des nördlichen Endes des Trench Cut beginnt und etwa 10 m östlich der „Großen Galerie“ der „Trial Passages“ endet. Ihre unregelmäßigen Abstände betragen zwischen 3,32 und 7,90 m. Laut Mark Lehner scheint es südlich und westlich der Trial Passages noch viele weitere solcher Löcher und Einschnitte auf der Felsoberfläche zu geben. Der Bau der Pyramide Steinbrüche und Steinbearbeitung Der meiste Stein für den Bau der Pyramide wurde vor Ort gebrochen. Der größte Anteil des Materials für das Kernmauerwerk stammt aus dem Hauptsteinbruchgebiet etwa 300 m südlich des Grabmals. Heute ist der Steinbruch eine riesige, hufeisenförmige Plateaulücke, die bis zu 30 m unter der ursprünglichen Oberfläche liegt. Eine petrographische Analyse von Gesteinsproben hat gezeigt, dass auch Steinmaterial von einem Abbaugebiet an der Abbruchkante östlich der Pyramide, von einem Abbaugebiet im südöstlichen Bereich des Plateaus und ein kleiner Teil von einem unbestimmten Abbaugebiet stammte. Wertvolle Hinweise auf die antiken Steinbruchtechniken liefert das dreieckige Felsgebiet zwischen dem Hauptsteinbruch des Cheops und dem Sphinx. Hier wurde der Fels nicht so gründlich abgebaut wie im Hauptsteinbruch, weshalb von den Steinbrucharbeitern stehen gelassene Blöcke noch erkennbar sind. Felsrechtecke von der Größe kleiner Häuser, die so breite Korridore trennen, dass heute ganze Touristengruppen durchmarschieren können, werden durch schmalere Rinnen unterteilt, die gerade so breit waren, dass ein Arbeiter, der sich mit dem Pickel den Weg bahnte, darin stehen konnte. An einigen Stellen sind die Blöcke fast losgelöst vom Fels stehen geblieben. Die überlieferten Kupferwerkzeuge, Bearbeitungsspuren auf den Steinoberflächen, unvollendete Monumente und Tests zur Härte der Kupferwerkzeuge haben gezeigt, dass die ägyptischen Steinmetze weichere Gesteine mit Kupferwerkzeugen bearbeiten konnten, härtere jedoch nur mit Steinwerkzeugen. Die beiden Gruppen teilen sich zwischen Kalkstein, Sandstein und Alabaster auf der einen und Granit, Quarzit und Basalt auf der anderen Seite. Neben den zahlreichen Kupferwerkzeugen, die Archäologen fanden, konnten in den Abdeckblöcken der südlichen Bootsgruben kleine Fragmente von korrodiertem Kupfer nachgewiesen werden, bei denen es sich offensichtlich um abgebrochene Kanten der Kupferwerkzeuge handelt. Um den Pyramidenmantel aus feinstem Tura-Kalkstein zu glätten, wurden nur rund 8 mm breite Meißel eingesetzt. Die Granitblöcke dagegen wurden mit 4–7 kg schweren, birnenförmigen Doleritschlegeln bearbeitet, die aber immer runder wurden, je öfter sie der Steinmetz benutzte. Mit kleineren, manchmal zwischen zwei Holzstöcke geklemmten Steinen wurde die Feinarbeit verrichtet. Der Granit musste mit einem Material bearbeitet werden, das mindestens so hart war wie Quarz, das härteste der Minerale, aus denen es sich zusammensetzt. Für die äußere Formgebung der Platten und des Granitsarkophags wurden deshalb Kupfersägen und Kupferbohrer in Verbindung mit einem Schleifgemisch aus Wasser, Gips und Quarzsand eingesetzt. Das Kupfer diente lediglich der Führung, der Quarzsand besorgte das eigentliche Schneiden. Getrocknete Überreste des vom Kupfer grüngefärbten Gemischs sind noch in den Einschnitten an den Blöcken des Totentempels erkennbar. Die Aushöhlung des Sarkophags erfolgte durch den Einsatz von Röhrbohrern aus Kupfer, wie sie aus verschiedenen Darstellungen aus dem Alten Reich bekannt sind. Baurampen Die Art der Rampe, die für die Konstruktion der Cheops-Pyramide notwendig war, war Gegenstand unzähliger Studien. Viele berücksichtigen jedoch nicht, dass es gerade für diese Pyramide kaum Anhaltspunkte gibt, aus denen ein eindeutiges Bild über die Art der verwendeten Rampen rekonstruiert werden kann, dass aber solche Rampen von einigen anderen Pyramiden gut belegt sind. Diese Überreste zeigen, dass die Ägypter nicht für jede Pyramide das gleiche Rampensystem verwendeten. Genauso, wie es keine Standardpyramide gab, gab es keine Standardmethode für den Bau einer Pyramide, und gerade die größten bieten zugleich die größte Variationsbreite bezüglich der Baumethoden. Aus der 3. und frühen 4. Dynastie sind unter anderem die folgenden Rampen belegt: Bei der unvollendeten Sechemchet-Pyramide in Sakkara führt von den Steinbrüchen westlich der Pyramide eine Rampe lotrecht über die riesige Umfassungsmauer bis über die erste Stufe der Pyramide. Mit der Pyramide von Sinki entdeckten Günter Dreyer und Nabil Swelim gewissermaßen eine Momentaufnahme vom Bau einer kleinen Stufenpyramide, bei der vier Rampen von allen Seiten gegen die Pyramide führten. Bei der Meidum-Pyramide sind Überreste einer Schleifpiste oder möglicherweise Rampe erhalten geblieben, die von Südwesten her offenbar direkt über die Nebenpyramide führte und auf die höheren Pyramidenlagen der Westseite projiziert, und eine weitere Rampe kommt von Osten her. An der Roten Pyramide von Dahschur befinden sich Überreste von zwei Baustraßen aus kompakten Steinsplittern und Mergel, die von den südwestlich gelegenen Steinbrüchen her sehr nahe an die Pyramide heranführen. Von Osten her kommen zwei weitere Rampen aus weißen Kalksteinsplittern, über die vielleicht die Verkleidungssteine herangeschafft wurden. In der Nähe der Cheops-Pyramide wurde eine riesige Rampe ausgegraben, die von den Steinbrüchen westlich der Sphinx auf das Pyramiden-Plateau führt, bis östlich der Königinnenpyramiden. Die sorgfältig aus Lesesteinen konstruierte Rampe ist 5,4 bis 5,7 m breit, enthielt zwei parallele Mauerzüge und war mit Mörtel bestrichen. Die Rampe ist auf einer Länge von 80 m erhalten geblieben. Die heute entfernte Auffüllung enthielt Siegelabdrücke mit dem Namen Cheops. Vermutlich diente die Rampe der Lieferung der Gesteine auf das Plateau, möglicherweise aber nicht für die Pyramiden, sondern für eine Mastaba der späten 4. Dynastie (Mastaba G 5230). Mark Lehner schlug vor, dass der Felsaushub nordwestlich der Cheops-Pyramide die Position der Hauptrampe anzeigen könnte, die von den Steinbrüchen zur eigentlichen Pyramidenrampe hinaufführte, deren Fuß er in dieser Ecke der Pyramide vermutete. Lage und Form dieser Rampe waren Ausgangspunkt einiger neuerer Theorien zur Konstruktion der Pyramide. Für Dieter Arnold bleiben all diese Theorien jedoch umsonst, da keine Spuren von eigentlichen Pyramidenrampen erhalten geblieben sind. Die Frage nach der Form der Rampe gab Anlass zu den unterschiedlichsten Rekonstruktionsversuchen. Vielleicht wurde auch eine Kombination verschiedener Formen benutzt: Die gerade oder lotrechte Rampe: Viele Forscher gehen von einer gerade ansteigenden Rampe an einer Pyramidenseite aus. Umstritten ist dabei, ob sie die Seitenfläche ganz oder nur teilweise bedeckte. Die Zickzackrampe: Nach dieser Theorie soll die Rampe an einer Pyramidenseite im Zickzack hochgeführt haben. Die spiralförmige Rampe: Nach dieser Vorstellung wand sich die Rampe spiralförmig um die Pyramide hinauf. Dows Dunham schlug beispielsweise vor, dass insgesamt vier Rampen von je einer Ecke aus sich auf den gestuften, unverschalten Lagen im Gegenuhrzeigersinn hochwanden. Die Innenrampe: Dieter Arnold schlug dieses Modell vor, bei dem man im Gegensatz zur geraden Rampe nicht so weit außerhalb ansetzte, denn ein Teil des Anstiegs hätte im Pyramidenmauerwerk selbst gelegen. Günter Fischer führt in seiner Arbeit Der Bau der Cheops-Pyramide. Analyse und Modellentwicklung aus, dass der Bau der Cheops-Pyramide über einen Transportweg erfolgte, der auf dem Bauwerk spiralförmig nach oben geführt wird. Rainer Stadelmann nimmt eine Rampe vom Steinbruch zu einer Ecke an, die dann für den Mittelabschnitt der Pyramide an einer Seite lehnte. Über eine Vielzahl von kleinen Rampen wurde von allen vier Seiten her das Material auf den Pyramidenstumpf hochgebracht, bis eine Höhe von etwa 15 bis 20 m erreicht war. Ab einer gewissen Höhe konnten diese Rampen nicht mehr erhöht werden, ohne dass der Neigungswinkel zu steil und die Rampen zu schmal geworden wären. Deshalb schlägt Stadelmann hier eine Variante vor, die die Architektin Nairi Hampgian erarbeitet hat: Sie lässt den Kernbau stufen- oder würfelförmig hochwachsen. Während die vier Ecken schon mit Verkleidungsblöcken ausgekleidet wurden, dienten in der Mitte noch flankierende Rampen zum Transport, bis auch hier der Platz zu eng wurde. Die restlichen Steine wurden mittels Hebeln oder flaschenzugartigen Geräten über die Stufen des Würfelbaus hochtransportiert. Nach dem Heranschaffen des Pyramidions und dem Auffüllen der Ecken wurden die letzten Stufen aufgefüllt. Im sogenannten NOVA-Experiment versuchten Mark Lehner, der Steinmetz Roger Hopkins und eine Gruppe ägyptischer Maurer verschiedene Theorien zum Pyramidenbau in der Praxis nachzuprüfen, indem sie in der Nähe des Gizeh-Plateaus eine kleine Pyramide bauten. Dabei hatte Lehner die Idee, dass Rampen an der Außenfläche lehnten: „Als Fundament einer Erdaufschüttung samt Baustraße konnten Verschalungssteine dienen, die man (einzeln oder in Lagen) weiter vorstehen ließ.“ Neuere Untersuchungen von Zahi Hawass scheinen diese Theorie zu stützen: Am Fuß der Königinnenpyramiden konnte er zurückgelassene, nicht mit Bossen verzierte Verschalungssteine nachweisen, bei denen es sich tatsächlich um einen Blockvorsprung handelte. Hafenanlagen Über ein großes Hafenareal erfolgte die Versorgung der Gesteine aus den entfernten Steinbrüchen und sonstigen Materialien und Versorgungsgütern. Der Nil verlief damals vermutlich zwei bis drei Kilometer weiter westlich als heute, und so konnte ein Hafen über einen oder mehrere Kanäle an den Nil angebunden werden. Eine Hafenanlage befand sich beim Dorf Nazlet el-Sissi, unmittelbar vor dem Taltempel. 1993 konnten etwa 550 Meter weiter östlich Mauerreste ausgemacht werden, die auf die östliche Begrenzung eines Flutbeckens oder Kaimauern eines umfangreicheren Hafenkomplexes hinweisen. Somit dürfte dieser Hafen nicht nur im Rahmen der königlichen Bestattung als Landestelle und für die spätere Versorgung des Totenopferkults eine Rolle gespielt haben, sondern auch Teil der Infrastruktur beim Pyramidenbau gewesen sein. Ein weiterer Hafen lag vielleicht östlich des Gizeh-Plateaus, am Eingang des zentralen Wadis. Untersuchungen des Geländes bestätigen dessen Existenz, eine exakte Datierung war bisher aber nicht möglich. Logistisch hätte der Hafen jedenfalls eine gute Anbindung an die Steinbrüche und deren Arbeitsstätten gewährleistet. Arbeitersiedlungen Mark Lehner gräbt seit 1988 eine Arbeitersiedlung südlich der sogenannten Krähenmauer aus, Zahi Hawass ein dazugehöriges Friedhofsgelände. Obwohl eine eindeutige Datierung bisher erst in die Regierungszeiten von Chephren und Mykerinos vorgenommen werden konnte, geht man davon aus, „dass die Siedlung bereits unter Cheops im Zuge der Errichtung seines Grabmals angelegt und von den späteren königlichen Bauherren auf dem Gizeh-Plateau weitergenutzt wurde.“ Heute beläuft sich das Grabungsgelände auf 40.000 m², die Siedlung dehnt sich jedoch noch weiter in Richtung Süden aus. Die Siedlung besteht aus galerieartigen, nord-süd-orientierten, aus Lehmziegeln errichteten Komplexen, die nach symmetrischen Vorgaben geplant waren und teilweise durch Straßen voneinander getrennt wurden. Diese verlaufen von Osten nach Westen und teilen die Siedlung in Sektoren auf. Bisher konnten verschiedene Bäckereien und Produktionsstätten für Kupfer, Bier und Fisch identifiziert werden, daneben auch administrative Gebäude. Des Weiteren konnten Magazine und Wohnhäuser lokalisiert werden, darunter ein reines Wohngebiet für die Handwerker und Arbeiter. Spuren einer weiteren Arbeitersiedlung, die eindeutig in die Regierungszeit des Cheops datiert, wurden zwischen 1971 und 1975 südlich des Aufwegs der Mykerinos-Pyramide entdeckt. Man fand enorme Mengen an Siedlungsschutt, Architekturteile von Wohnhäusern, Siegelabdrücke mit den Namen von Cheops und Chephren und Keramikfragmente von Haushaltsausstattungen aus der frühen 4. Dynastie. Die Siedlung wurde offensichtlich mit dem Bau der Mykerinos-Pyramide abgetragen und an der Fundstelle aufgeschüttet. Weitere Werkstätten werden westlich der Steinbrüche (bei der Chephren-Pyramide), westlich und östlich der eigentlichen Baustelle und im Umfeld des Hafens und des Taltempels vermutet. Hemiunu, der Baumeister Baumeister der Cheops-Pyramide war wahrscheinlich Hemiunu. Er war ein Sohn des Bauleiters Nefermaat, der unter Snofru den Bau der Meidum-Pyramide leitete. Da Nefermaat ein Bruder des Cheops war, gehörte Hemiunu als Neffe zum erweiterten Familienkreis des Cheops. Er bekleidete das Amt des Wesirs und trug außerdem den Titel „Vorsteher aller Bauarbeiten des Königs“. Somit beaufsichtigte er alle Bauarbeiten an der Nekropole des Cheops. Hemiunus eigenes Grab war die Mastaba G 4000 auf dem Westfriedhof. Ausgräber entdeckten 1912 in der Statuenkammer eine lebensgroße Sitzstatue des Grabinhabers. Es ist die bislang einzige bekannte Statue dieser Art von einer Privatperson aus der Zeit des Cheops. Papyri aus Wadi al-Garf Von besonderem Interesse für die Logistik beim Bau der Cheopspyramide sind Papyrus-Fragmente, die 2013 in Wadi al-Garf entdeckt wurden, einem Hafen, der in der 4. Dynastie für den Schiffsverkehr mit der Sinai-Halbinsel genutzt wurde. Darunter befand sich ein Logbuch eines Inspektors namens Merer, der einen Arbeitstrupp leitete, der Steine vom Steinbruch Tura für den Bau der Cheopspyramide nach Giza schiffte. Vermutlich wurde das Logbuch vom Arbeitstrupp selbst geführt, um der Verwaltung über ihre Aktivitäten berichten zu können. Weitere Papyri verzeichneten tägliche oder monatliche Lebensmittellieferungen für die Arbeitstruppen und sind nicht zuletzt mit den Abusir-Papyri aus der Zeit von Neferirkare und Raneferef (5. Dynastie) vergleichbar. Diese Papyrus-Funde liefern erstmals ein „inneres“ Bild der Verwaltung des frühen Alten Reiches. Die Hafenanlage in Wadi al-Garf scheint eng mit dem Bau der Cheops-Pyramide verbunden zu sein. Möglicherweise wurde sie sogar zu dem Zweck errichtet, um aus dem Golf von Sues Kupfer herbeizuschaffen, das für die Werkzeuge beim Pyramidenbau notwendig war. Pyramidologie Unter der Bezeichnung Pyramidologie wird eine Gruppe pseudowissenschaftlicher Theorien zusammengefasst. Gegenstand vieler dieser Theorien ist es, die Abmessungen und die Anordnung der Cheops-Pyramide auf dem Plateau mit mystischen Deutungen zu unterlegen, Verknüpfungen mit anderen pseudowissenschaftlichen Theorien herzustellen (zum Beispiel dass die Erbauer Flüchtlinge aus dem versunkenen Atlantis oder Extraterrestrier waren), oder ihnen Prophezeiungen für die Zukunft zu entnehmen. Was heute als Pyramidologie eingeordnet wird, war jedoch vor dem 20. Jahrhundert teilweise anerkannte Wissenschaft, so etwa die Theorien von Charles Piazzi Smyth. Zudem stammen viele Ansichten von Berichten antiker Autoren wie Herodot. Zahlenmystik Edmé François Jomard, Teilnehmer an der Ägyptischen Expedition Napoleons, verfasste als Mitarbeiter an der Description de l’Égypte die Beschreibung der memphitischen Pyramiden. Da zu seiner Zeit die Hieroglyphenschrift noch nicht entziffert war, konnte er sich noch nicht auf schriftliche Quellen stützen und versuchte eine eher esoterische Deutung der Pyramiden, als die eines Königsgrabes. Er vertrat die Ansicht, „sie seien Schöpfungen der Wissenschaft, in denen sich Mathematik und Astronomie offenbaren könnten, in der eine Art Urelle, die ägyptische Königselle, verbaut gewesen sei und die Mysterien der Initiation in Kult und Religion stattgefunden hätten“. Der englische Buchhändler John Taylor bevorzugte statt der vermeintlichen Königselle als universales Maßsystem den Pyramidenzoll. Diese Idee wurde vom schottischen Astronomen Charles Piazzi Smyth aufgegriffen. Piazzi Smyth verbrachte 1865 mehrere Monate in Ägypten, um genaue Messungen der Cheops-Pyramide vorzunehmen, die heute noch Standard sind, wenn auch viele Schlüsse, die er daraus zog, Unsinn sind. Als Seitenlänge der Pyramide ausgedrückt in Pyramidenzoll fand er den Wert 36524, was sehr genau dem 100-Fachen der Länge des tropischen Jahres entspricht. Gleichzeitig entsprechen 500 Millionen Pyramidenzoll (= 12712,7 km) der Länge der Erdachse (= 12713,55 km). Die Höhe der Pyramide mal 109 (5813 Pyramidenzoll × 109 = 147,7978 Mio. km) entspräche der Entfernung der Erde von der Sonne (= 149,6 Mio. km). Außerdem liege die Pyramide nicht nur im Mittelpunkt eines Kreises, den die heutige Deltaküste bilde, sondern auch auf einem Meridian, der die Erdoberfläche in zwei Hälften aufteile. Aus den Maßen des Sarges lasse sich die Erddichte berechnen und die Richtung des Ausgangs-/Eingangskorridors lege ein altägyptisches Plejadenjahr fest. John Taylor meinte, dass der Böschungswinkel der Cheops-Pyramide die Kenntnis der Kreiszahl (Pi) voraussetzte. Vor allem in pseudowissenschaftlicher Literatur taucht die Theorie neuerdings wieder auf, die Erbauer hätten in den Maßen der Pyramide die Zahl (Pi) „verschlüsselt“. Die doppelte Grundseite (230,37 m) geteilt durch die Höhe (146,60 m) ergäbe ungefähr (denn 230,37 * 2 / 146,60 = 3,1428; und ist mit 3,1416 nur 0,04 % kleiner). Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass ein ganzzahliges Verhältnis der Seitenlänge (440 Königsellen) zur Höhe (280 Königsellen) = 11:7 von den Erbauern gewählt wurde und nur zufällig die Hälfte von ergibt. Die Abweichung von 11:7 zu beträgt nur 0,04 %. Die Aussage, der Errichtung des Bauwerkes habe die Absicht zugrunde gelegen, bewusst mathematische Verschlüsselungen, wie z. B. , einzubringen, ist demnach nicht nachgewiesen. Außerdem wies Ludwig Borchardt darauf hin, dass die alten Ägypter den Böschungswinkel nicht in Graden und Minuten ausdrückten, sondern sie gaben als Böschung den Rücksprung an, den die Schräge auf 1 Elle Höhendifferenz hat. Im Falle der Cheops-Pyramide ist es eine Böschung von 5½ Handbreit, das heißt ein solcher Rücksprung auf 1 Elle (= 7 Handbreit) Höhendifferenz. Die Untersuchung und Vermessung der Pyramiden von Gizeh durch William Matthew Flinders Petrie in den 1880er Jahren markiert den Zeitpunkt der Trennung zwischen den Pyramidologen und der entstehenden wissenschaftlichen Ägyptologie. Petrie unterzog die Theorien von Smyth 1880 vor Ort einer Überprüfung. Mit teilweise selbst gebauten Vermessungsinstrumenten vermaß er sowohl das Äußere als auch das Innere der Cheops-Pyramide. Das Ergebnis war so genau, dass Petries Zahlen bis heute Gültigkeit haben. Sie widersprachen aber den Theorien von Piazzi Smyth und entzogen den Spekulationen über einen Pyramidenzoll ein für alle Mal den Boden. Petrie belegte vielmehr, dass den Abmessungen der Pyramide die alte ägyptische Königselle zugrunde lag: Vielleicht weil Petries Veröffentlichung zu wissenschaftlich war, fand sie weniger Beachtung und Anton Jarolimek veröffentlichte 1885 erneut Zahlenspielereien, insbesondere nun mit dem Goldenen Schnitt, die in der Folge auch eine Reihe weiterer Ingenieure und Amateurarchäologen verfochten. Bezüglich der Zahlenmystik bemerkt Rainer Stadelmann weiter: „Diese Zahlenspielereien mit dem Goldenen Schnitt und der Zahl und die Berechnungen einer Pyramidenelle oder eines Pyramidenzolles hatten jeweils eine fatale Tendenz hin auf eine kosmische Beziehung, die Unterstellung umfassender, astronomischer Kenntnisse, eines Universalwissens, das in der Cheopspyramide verbaut und gespeichert sei und Eingeweihten gleichsam auf Abruf bereitstehe.“ Auf dieser Grundlage wurden theosophische und prophetische Deutungen zum Grundgehalt der Pyramidologie. Prä-Astronautik Erich von Däniken ist der bekannteste Vertreter der sogenannten Prä-Astronautik oder auch „Paläo-SETI-Hypothese“: Außerirdische hätten vor langer Zeit die Erde besucht und die Entwicklung der Menschheit entscheidend beeinflusst. Wegen ihrer hohen technischen Überlegenheit seien diese Astronauten von den Urmenschen für Götter gehalten worden. Vor dem Hintergrund dieser Annahme deutet von Däniken die unterschiedlichsten Hinterlassenschaften alter Kulturen als Beweise für außerirdische Besucher. Beispielsweise ist er der Ansicht, dass „primitive“ Menschen nicht ohne fremde Hilfe in der Lage gewesen seien, kulturelle Leistungen wie den Bau der Pyramiden von Gizeh zu erbringen. In seinem 1968 veröffentlichten Buch Erinnerungen an die Zukunft, einer Ansammlung von „Rätseln der Geschichte“, „löste“ er die Rätsel nicht direkt, sondern kleidete seine Antworten in Form rhetorischer Fragen, die stets darauf hinausliefen, dass die betreffenden Artefakte Zeugnis für den vorgeschichtlichen Besuch von Außerirdischen seien. Das gilt selbstverständlich auch für die Pyramiden, wobei Däniken nicht behauptet, diese seien von Außerirdischen gebaut worden. Er verweist zunächst auf eine Reihe von „Ungereimtheiten“, bedient sich dabei aber aus dem Schatz seiner pyramidologischen Vorgänger („Ist es Zufall, dass die Grundfläche der Pyramide – geteilt durch die doppelte Höhe – die berühmte Ludolfsche Zahl ergibt?“). Der Kern ist jedoch: „Wer ist einfältig genug, zu glauben, dass die Pyramide nichts als das Grab eines Königs sein sollte?“ Das ist ein bei den Vertretern parawissenschaftlicher Pyramidentheorien in ähnlicher Form immer wieder auftauchender Satz. Letzten Endes legt Däniken nahe, der Pyramidenbau sei eine Form der imitatio dei („Nachahmung Gottes“ bzw. in diesem Fall „Nachahmung der Götter“), wobei als Götter außerirdische Astronauten anzunehmen seien, die sich, um die Jahrtausende einer interstellaren Reise zu überstehen, in eine dem Tod ähnliche Form des Winterschlafs versetzen ließen. Die Beobachtung der Auferweckung von anscheinend Toten hätte dann die vorzeitlichen Herrscher Ägyptens dazu gebracht, sich mit krisenfesten materiellen Gütern versehen in „quasi atombombensicheren“ Gebäuden (den Pyramiden) mumifiziert einlagern zu lassen, in der Hoffnung, gleich den Astronautengöttern auch aufzuerstehen. Bereits nach dem ersten kommerziellen Erfolg der Bücher Dänikens Ende der 1960er Jahre gab es Publikationen, die die Unhaltbarkeit seiner Behauptungen erläuterten. Als Autor steht Däniken außerhalb der Wissenschaftsgemeinde von Archäologie, Anthropologie und Geschichtswissenschaft, die Dänikens Arbeiten wegen ihrer Unhaltbarkeit überwiegend ignorieren. Wichtige Kritikpunkte an den prä-astronautischen Theorien sind: Unterschätzung der geistigen und kulturellen Schaffenskraft der Menschen früherer Epochen: Das Eingreifen hochtechnisierter Außerirdischer oder unbekannter alter Hochkulturen in die bekannte kulturelle Entwicklung erinnert dabei frappierend an religiöse Schöpfungsmythen, so auch die Theorien heutiger Kreationisten oder des „Intelligent Design“, demzufolge ein Aufstieg des Menschen aus eigener biologischer und kultureller Kraft nicht möglich war, sondern erst durch das Eingreifen einer höheren Macht erfolgreich stattfand. Vernachlässigung des wissenschaftlichen Reduktionsgedankens: Bei einem Vorhandensein mehrerer Erklärungsmöglichkeiten müsste im Anliegen des Sparsamkeitsprinzips der Wissenschaftstheorie (Ockhams Rasiermesser) die Theorie mit der einfachsten Annahme auch die am besten passende sein. Der Aufbau der Prä-Astronautik als grenz- oder pseudowissenschaftliches Teilgebiet: Die Existenz von Lehrkörpern, Seminaren und (überwiegend populärwissenschaftlichen) Vorträgen, (ebenfalls überwiegend populärwissenschaftlichen) Publikationen oder die Ausschreibung von Förder- und Forschungspreisen geben ihr den Anschein einer seriösen Wissenschaft. Abgesehen davon kommt es aber selten zu Überschneidungen mit den etablierten Wissenschaften. Die außerkontextuelle Betrachtung von Texten und Einzelobjekten: Viele Theorien beziehen sich fast ausschließlich auf die Cheops-Pyramide und vernachlässigen den Kontext der Pyramiden-Entwicklung. Literatur Allgemein Horst Beinlich: Mit Richard Lepsius auf die Cheops-Pyramide. Röll, Dettelbach 2010, ISBN 978-3-89754-375-1. Günter Fischer: Der Bau der Cheops-Pyramide. Analyse und Modellentwicklung. Mons, Dresden 2019, ISBN 978-3-946368-07-6. Georges Goyon: Die Cheopspyramide. Geheimnis und Geschichte. Weltbild, Augsburg 1990, ISBN 3-89350-080-4. Michael Haase: Das Rätsel des Cheops. Die letzten Geheimnisse der großen Pyramide von Giza. Knaur, München 2001, ISBN 3-426-77439-9. Michael Haase: Das Vermächtnis des Cheops. Die Geschichte der Großen Pyramide. Herbig, München 2003, ISBN 3-7766-2346-2. Michael Haase: Eine Stätte für die Ewigkeit. Der Pyramidenkomplex des Cheops aus baulicher, architektonischer und kulturhistorischer Sicht. von Zabern, Mainz 2004, ISBN 3-8053-3105-3. Zahi Hawass: Die Schätze der Pyramiden. Weltbild, Augsburg 2003, ISBN 3-8289-0809-8, S. 122–129. Ian Lawton, Chris Ogilvie-Herald: Giza: The Truth. The People, Politics and History Behind the World’s Most Famous Archaeological Site. Virgin Publishing, London 1999, ISBN 0-7535-0412-X. Christian Hölzl (Hrsg.): Die Pyramiden Ägyptens. Brandstätter, Wien 2004, ISBN 3-85498-360-3. Peter Jánosi: Die Pyramiden. Mythos und Archäologie. Beck, München 2004, ISBN 3-406-50831-6. Bernhard Kerres: Cheops. In der Mitte der Pyramide. Esefeld & Traub, Stuttgart 2018, ISBN 978-3-9818128-1-7 (Rezension bei FeRA). Vito Maragioglio, Celeste Rinaldi: L’Architettura Delle Piramidi Menfite Parte IV La Grande Piramide di Cheope. 2 Bände (= L’architettura delle piramidi menfite. Band 4). Tip. Artale, Torino 1965 (Band 1: Testo. PDF; 19,9 MB; Band 2: Tavole. PDF; 33,4 MB). Mark Lehner: Geheimnis der Pyramiden in Ägypten. Orbis, München 1999, ISBN 3-572-01039-X. Frank Müller-Römer: Der Bau der Pyramiden im Alten Ägypten. Utz, München 2011, ISBN 978-3-8316-4069-0. Erhard Oeser: Cheops Geheimnis. Die wissenschaftliche Eroberung Ägyptens. von Zabern, Darmstadt/ Mainz 2013, ISBN 978-3-8053-4632-0. John Romer: The Great Pyramid. Ancient Egypt Revisited. Cambridge University Press, Cambridge 2007, ISBN 0-521-87166-2. Torsten Sasse und Michael Haase: Im Schatten der Pyramiden. Spurensuche im alten Ägypten. Econ, München 2000, ISBN 3-612-26681-0. Rainer Stadelmann: Die großen Pyramiden von Giza. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1990, ISBN 978-3-201-01480-9. Rainer Stadelmann: Die ägyptischen Pyramiden. Vom Ziegelbau zum Weltwunder (= Kulturgeschichte der Antiken Welt. Band 30). 3., aktualisierte und erweiterte Auflage, von Zabern, Mainz 1997, ISBN 3-8053-1142-7, insbesondere S. 105–127 (online; PDF; 66,7 MB). Miroslav Verner: Die Pyramiden (= rororo-Sachbuch. Band 60890). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1999, ISBN 3-499-60890-1. Bootsgruben Nancy Jenkins: The Boat Beneath the Pyramid King Cheops’ Royal Ship. Holt/ Rinehart & Winston, Orlando 1983–01, ISBN 0-03-057061-1, (online; PDF; 43,6 MB). Paul Lipke: The Royal Ship of Cheops. A Retrospective Account of the Discovery, Restoration an Reconstruction. British Archaeological Reports, Oxford 1984, ISBN 0-86054-293-9. Mohammad Zaki Nour et al.: The Cheops Boats. General Organization for Govt. Print. Offices, Cairo 1960 (online; PDF; 93,1 MB). Sakuji Yoshimura, Hiromasa Kurokochi: Ein Schiff für die Ewigkeit. Die bisherigen Forschungen am zweiten Boot des Königs Cheops. In: Sokar. Nr. 25, 2. Halbjahr 2012, S. 6–17 (aus dem Englischen von Christine Mende). Weitere Detailfragen Dieter Arnold: Zur Zerstörungsgeschichte der Pyramiden. Ein Vortrag. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Kairo (MDAIK). Band 47, 1991, S. 21–27. Jürgen Brinks: Die Stufenhöhen der Cheops-Pyramide – System oder Zufall? In: Göttinger Miszellen. Band 48, Göttingen 1981, S. 17–24. Josef Dorner: Das innere System der Cheopspyramide – Überlegungen zu den geplanten Massen. In: Ägypten und Levante. Band 10, 2000, S. 37–44. Josef Dorner: Die Absteckung und astronomische Orientierung ägyptischer Pyramiden. (Dissertation, Fakultät für Bauingenieurwesen und Architektur der Universität Innsbruck) Innsbruck 1981. Georges Goyon: Les inscriptions et graffiti des Voyageurs sur la Grande Pyramide. Société Royale de Géographie, Kairo 1944. Georges Goyon: La chaussée monumentale et le temple de la vallée de la pyramide de Khéops. In: Le Bulletin de l’Institut français d’archéologie orientale. Band 67, 1969, S. 49–69. (Online) Georges Goyon: Quelques observations effectuées autour de la pyramide de Khéops. In: Le Bulletin de l’Institut français d’archéologie orientale. 67, 1969, S. 71–86. (Online) Michael Haase: Brennpunkt Giza. Die Schachtsysteme der Cheops-Pyramide. In: Sokar. Nr. 5 (2. Halbjahr 2002), S. 3–13. (online; PDF; 1,4 MB). Michael Haase: Der Serviceschacht der Cheops-Pyramide. Bemerkungen zur Konstruktion des Verbindungsschachtes zwischen Großer Galerie und absteigendem Korridor. In: Sokar. Nr. 9 (2. Halbjahr 2004), S. 12–17. (online; PDF; 1,1 MB). Zahi Hawass: The Discovery of the Satellite Pyramid of Khufu (GI–d). In: Peter Der Manuelian (Hrsg.): Studies in Honor of William Kelly Simpson. Band 1, Boston 1996. (online; PDF; 4,5 MB) Zahi Hawass: The Programs of the Royal Funerary Complexes of the Fourth Dynasty. In: David O’Connor, David P. Silverman: Ancient Egyptian Kingship. Leiden 1994, S. 221–262. (online). Zahi Hawass: The Discovery of the Harbors of Khufu and Khafre at Giza. In: Catherine Berger, Bernard Mathieu (Hrsgg.): Études sur l’Ancien Empire et la nécropole de Saqqâra dédiées à Jean-Philippe Lauer. Montpellier 1997, S. 245–256, (online; PDF; 8,3 MB). Peter Jánosi: Die Entwicklung und Deutung des Totenopferraumes in den Pyramidentempeln des Alten Reiches. In: Rolf Gundlach, Matthias Rochholz (Hrsg.): Ägyptische Tempel – Struktur, Funktion und Raumprogramm (= Akten der Ägyptologischen Tempeltagungen in Gosen 1990 und in Mainz 1992.). Hildesheim 1994, S. 143–162, (online; PDF; 9,2 MB). Peter Jánosi: Die Pyramidenanlagen der Königinnen: Untersuchungen zu einem Grabtyp des Alten und Mittleren Reiches. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1996, ISBN 3-7001-2207-1, S. 125. Peter Jánosi: Giza in der 4. Dynastie. Die Baugeschichte und Belegung einer Nekropole des Alten Reiches. Band I: Die Mastabas der Kernfriedhöfe und die Felsgräber. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2005, ISBN 3-7001-3244-1, (Online; PDF; 9,3 MB) Lásló Kákosy: The Plundering of the Pyramid of Cheops. In: Studien zur altägyptischen Kultur. Band 16, 1989, S. 145–169. Jean Kerisel: Le conduit sud de la chambre de la reine dans la pyramide de Chéops In Bulletin de la Société Francaise d’Egyptologie. Band 127, 1993, S. 38–44. Jean Kerisel: Pyramide de Khéops. Dernières recherches. In: Revue d’Egyptologie. Band 44, 1993, S. 33–54. Dietrich Klemm, Rosemarie Klemm: The Stones of the Pyramids. Provenance of the Building Stones of the Old Kingdom Pyramids of Egypt. de Gruyter, Berlin/ New York 2010, insbesondere S. 82–89. Mark Lehner: The Pyramid Tomb of Hetep-heres, and the Satellite Pyramid of Khufu. von Zabern, Mainz 1985, ISBN 3-8053-0814-0, (online; PDF; 57,8 MB). Mark Lehner: The Development of the Giza Necropolis. The Khufu Project. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Kairo. Band 41, 1985, S. 109–143, (online; PDF; 11,4 MB). Mark Lehner: Some Observations on the Layout of the Khufu and Khafre Pyramids. In: Journal of the American Research Center in Egypt. Band 20, 1983, S. 7–25. Rainer Stadelmann, Rudolf Gantenbrink: Die sogenannten Luftkanäle der Cheopspyramide. Modellkorridore für den Aufstieg des Königs zum Himmel. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Kairo. Band 50, 1994, S. 285–294. Pierre Tallet: Les papyrus de la Mer Rouge I, Le <<Journal de Merer>> (Papyrus Jarf A et B) (= Mémoires publiés par les membres de l'Institut Français d’archéologie orientale du Caire. [MIFAO] Band 136). Institut français d’archéologie orientale, Kairo 2017, ISBN 978-2-7247-0706-9. Dokumentarfilme Terra X; Tatort Ägypten: Geheimnis der großen Pyramide. TV-Dokumentation, Auf: ZDF vom 28. September 2003, 45 Min. Weltwunder Cheops-Pyramide. Denkmal für die Ewigkeit. Dokumentation von Melita Akdogan für National Geographic Channel, 2013. 44 Min. gesendet am 22. März 2014 auf ZDFinfo (online auf youtube.com). Roman Max Eyth: Der Kampf um die Cheopspyramide. Eine Geschichte und Geschichten aus dem Leben eines Ingenieurs. 2 Bände. Winter, Heidelberg 1902–1906; Neuausgabe: Hess, Ulm 1958. Siehe auch Welterbe in Ägypten Liste von Pyramiden Liste der höchsten Bauwerke ihrer Zeit Weblinks Museum of Fine Arts, Boston: Sehr umfangreiche Homepage: Fotos, Dokumentationen und Bibliographie mit online verfügbarer Literatur zu Gizeh, interaktive Satellitenbilder und Panoramaaufnahmen, Informationen zu Ausgrabungen Mark Lehner: The Lost City of the Pyramids. In: The Lost City of the Pyramids. In: Ancient Egypt Research Associates (AERA). Informationen zur Ausgrabung in der Arbeitersiedlung in Giza. Rudolf Gantenbrink, Stephen Bellness: The Upuaut Project. Official Web Page Dokumentation der Gantenbrink-Expedition mit 3D-Modellen, Abbildungen, Plänen Die Große Pyramide des Königs Cheops in Giza. Ausführliche Informationen zur Cheops-Pyramide Auf: benben.de; zuletzt abgerufen am 22. Januar 2016. Pierre Tallet: Ouadi el-Jarf (Egypte) In: Orient & Mediterranée; zuletzt abgerufen am 9. Dezember 2018. Informationen zu den Papyrus-Funden in Ouadi al-Garf, die besonders für die Logistik beim Bau der Cheops-Pyramide von Interesse sind. Spektrum.de: Der Bautrupp von König Cheops 3. Oktober 2022 Einzelnachweise Weltwunder der Antike Ägyptische Pyramide 4. Dynastie (Ägypten) Erbaut im 26. Jahrhundert v. Chr. Forschungsprojekt des Deutschen Archäologischen Instituts Nekropole von Gizeh