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https://de.wikipedia.org/wiki/Livia%20Drusilla
Livia Drusilla
Livia Drusilla (* 30. Januar 58 v. Chr.; † 29 n. Chr. in Rom), meist nur kurz Livia genannt, war die langjährige dritte Ehefrau des römischen Kaisers Augustus. Nach dessen Tod wurde sie Iulia Augusta genannt und trug als erste Römerin den kaiserlichen Titel Augusta. Von ihrem Enkel, Kaiser Claudius, nach ihrem Tod zur Göttin erhöht, wurde sie ab 42 n. Chr. Diva Augusta genannt. Im Jahr 38 v. Chr. heiratete Livia Drusilla unter Umständen, die viele Römer als skandalös empfanden, den Triumvirn Gaius Caesar, den späteren Augustus, der damals nach Marcus Antonius der zweitmächtigste Mann Roms war. Damit rückte sie ins Zentrum der militärischen und politischen Auseinandersetzungen jener Zeit. Der Aufstieg des jungen Caesar Oktavian vom Triumvir zum Princeps und damit mächtigsten Mann des römischen Reiches war auch ihr eigener. Dass die Ehe 52 Jahre bis zum Tode des Augustus hielt, war für die damalige Zeit außergewöhnlich, zumal Livia wegen einer mit schweren Komplikationen verbundenen Frühgeburt Augustus’ Wunsch nach einem Kind nicht erfüllen konnte. Daher war, auch wenn die Eheschließung von politischen Motiven bestimmt gewesen sein mag, für ihren Bestand gegenseitige Zuneigung und Respekt ausschlaggebend. Trotz oder wegen des stürmischen Beginns ihrer Verbindung war Livia auf ihren guten Ruf als Ehefrau und vorbildliche Mutter bedacht. Im Rahmen der augusteischen Propaganda der wiederhergestellten Republik wirkte sie seit 27 v. Chr. geradezu als lebende Inkarnation gesellschaftlicher und moralischer Erneuerung. Augustus würdigte diese Rolle durch Ehrungen, vor allem 9 v. Chr., und räumte ihr politischen Einfluss ein, denn er pflegte wichtige Fragen der Politik mit ihr zu besprechen und ihren Rat einzuholen. Von Livia stammen vier Kaiser ab: Sie war die Mutter des Tiberius, die Großmutter des Claudius, die Urgroßmutter Caligulas und die Ururgroßmutter Neros. Leben Herkunft und Familie Am dritten Tag vor den Kalenden, dem Monatsbeginn, des Februar 58 v. Chr. wurde Livia in Rom als Tochter des Marcus Livius Drusus Claudianus und der Alfidia geboren. Im Geburtsjahr Livias zählte der Januar noch 28 Tage, so dass sie wohl am 27. Januar zur Welt kam. Im Jahr 45 v. Chr. reformierte Caesar den römischen Kalender und fügte dem Januar drei Tage hinzu. Livia aber datierte ihren Geburtstag nicht neu, sondern blieb bei der Formulierung „am dritten Tag vor den Kalenden“. Dieser fiel nun im neuen Kalender auf den 30. Januar, der ihr offizielles Geburtsdatum wurde. Livias Vater, Marcus Livius Drusus Claudianus, war ein gebürtiger Claudier und stammte aus dem alten patrizischen Geburtsadel. Vermutlich als Heranwachsender war er von Marcus Livius Drusus dem Jüngeren, dessen Ehe kinderlos geblieben war, in die Familie der Livier adoptiert worden. Diese waren zwar keine Patrizier, sondern Senatoren plebeischer Herkunft. Aber sie gehörten ebenso wie die Claudier zu den politisch aktiven Nobilitätsfamilien der Republik, die über Jahrhunderte zahlreiche Amtsträger gestellt hatten. So hatte sich Livias Großvater als Volkstribun im Jahr 91 v. Chr. zum Ziel gesetzt, den italischen Bundesgenossen Roms das römische Bürgerrecht zu verschaffen. Nach der Adoption führte Livias Vater den Namen seines Adoptivvaters Marcus Livius Drusus und fügte den Beinamen Claudianus an, der auf seine patrizische Herkunft hinwies. Wie es allgemein üblich war, erhielt seine Tochter, die nach der Adoption geboren wurde, den Familiennamen des neuen Geschlechts als Name: Livia, mit dem Beinamen in der zärtlichen Koseform Drusilla. Livias Mutter Alfidia gehörte der landstädtischen Munizipalaristokratie an. Claudianus dürfte sie wohl spätestens im März 59 v. Chr. nicht zuletzt wegen ihres Reichtums geheiratet haben. Nach Caesars Tod 44 v. Chr. schloss sich Claudianus der Partei der Caesarattentäter an, trat 43 v. Chr. offen für Decimus Brutus ein und wollte ihm das Kommando über zwei Legionen verschaffen. Wegen dieser Parteinahme und um sein großes Vermögen einzuziehen setzten die Triumvirn Octavian, Marcus Antonius und Lepidus Ende Oktober 43 v. Chr. Claudianus auf die berüchtigten Proskriptionslisten. Mit ihnen erklärten sie ihre politischen Gegner als Staatsfeinde für vogelfrei und konfiszierten ihren Besitz zu Gunsten der eigenen Kriegskassen, um den Bürgerkrieg gegen die Caesarmörder erfolgreich beenden zu können. Claudianus blieb nur die Flucht in die Ostprovinzen, wo er sich dem Heer der Caesarmörder unter Befehl des Marcus Brutus und Gaius Cassius anschloss. Hochzeit mit Tiberius Claudius Nero 43 v. Chr. Unter diesen schwierigen Umständen verheiratete er sein einziges Kind, Livia, mit Tiberius Claudius Nero, einem entfernten Verwandten. So konnte er seiner Tochter wenigstens einen Teil seines Vermögens in Form einer Mitgift übertragen. Livia war gerade 15 Jahre alt, während Claudius Nero wegen der an die Ämterlaufbahn gebundenen Altersstufen mindestens 26 Jahre älter als seine Frau gewesen sein muss. Noch bevor Livia ihr erstes Kind zur Welt bringen konnte, beging ihr Vater Selbstmord: Zwei Monate vor ihrer Niederkunft war es im September 42 v. Chr. zur Doppelschlacht von Philippi gekommen, in der die Heere der Caesarmörder den Triumvirn Marcus Antonius und Octavian unterlagen. In seiner Verzweiflung über die Niederlage und ohne Hoffnung auf eine Zukunft stürzte sich Claudianus in seinem Zelt ins Schwert. Am 16. November 42 v. Chr. brachte Livia auf dem Palatin, der bevorzugten Wohngegend der republikanischen Aristokratie in Rom, ihren ersten Sohn zur Welt. Er erhielt den gleichen Namen wie sein Vater, Tiberius Claudius Nero. Scheidung von Tiberius Claudius Nero und Hochzeit mit Octavian (39 v. Chr.) Livias Ehemann hatte sich zunächst wie sein Vater den Caesarmördern angeschlossen, vollzog dann aber eine Kehrtwende und erwies sich den Triumvirn als nützlich. So vermied er, auf die Proskriptionsliste gesetzt zu werden, und schaffte im Jahr 42 v. Chr. sogar den Sprung in ein Prätorenamt. In dieser Funktion setzte er ganz auf Marcus Antonius, den mächtigsten Mann im Triumvirat, und unterstützte im Perusinischen Bürgerkrieg dessen Ziele. Nach der Niederlage der Parteigänger des Antonius floh Claudius Nero mit Livia und ihrem zweijährigen Sohn Tiberius vor dem siegreichen Octavian 40 v. Chr. zu Sextus Pompeius nach Sizilien, dann nach Griechenland zu Marcus Antonius. In Sparta fand die Familie schließlich Aufnahme und für einige Zeit eine sichere Zuflucht, denn die Spartaner gehörten zur Klientel der Claudier und waren der Familie des Claudius Nero zu Hilfeleistungen verpflichtet. In der zweiten Hälfte des Jahres 39 v. Chr. konnte Livia mit ihrem Gatten und ihrem Sohn nach Rom zurückkehren, nachdem die Triumvirn sich untereinander versöhnt und mit Sextus Pompeius im Vertrag von Misenum Frieden geschlossen hatten. Es spricht einiges dafür, dass Livia und Octavian am 23. September 39 v. Chr. in dessen Haus zum ersten Mal zusammentrafen. Der Triumvir ließ in diesem Jahr mit großem Aufwand seinen 24. Geburtstag feiern, weil er ihn mit dem Fest der Bartschur verband. Aus diesem Anlass veranstaltete er in aller Öffentlichkeit ein Bankett. Als er bei diesem Fest Livia begegnete, verliebte er sich in sie. Kurz zuvor hatte er nach kaum einjähriger Ehe seiner zweiten Frau Scribonia den Scheidungsbrief zustellen lassen. Skandalös daran war, dass er genau an dem Tag bei ihr eintraf, als das erste gemeinsame Kind, Iulia, geboren wurde. In seinen „Memoiren“ rechtfertigte sich Augustus später damit, dass er sich zur Scheidung entschlossen habe „durch und durch angeekelt von ihrem verkommenen Charakter.“ Im Oktober 39 v. Chr. bat Octavian Claudius Nero, sich von Livia scheiden zu lassen, obwohl diese mit einem zweiten Sohn, Drusus, im sechsten Monat schwanger war. Das schloss eine Heirat mit einem anderen Mann nach den gültigen Regeln aus. Doch Octavian setzte eine Sondererlaubnis des Priesterkollegiums der Pontifices durch. Claudius Nero zögerte nicht, zu gehorchen, und übernahm anlässlich der Hochzeit sogar die Rolle des Brautvaters, als er die knapp 20-jährige Livia dem jungen Bräutigam zuführte. Der Termin der Hochzeit ergibt sich eindeutig aus der literarischen Überlieferung. Dagegen legen Inschriften dieses Ereignis auf den 17. Januar 38 v. Chr. fest, drei Tage nach der Geburt des Drusus, die Sueton in der Biographie des Kaisers Claudius auf den 14. Januar datiert. Dabei handelt es sich um einen offiziellen Termin, den erst Kaiser Claudius zum Festtag beschließen ließ, „weil auch der Geburtstag seines Großvaters (Marcus) Antonius auf denselben Tag falle“. Das war nach Ausweis der kaiserlichen Kalender (Fasti Praenestini) der 14. Januar. Mit dem tatsächlichen Datum der Eheschließung und der Geburt des Drusus hat er nichts zu tun. In Wirklichkeit muss Drusus im dritten Monat nach der Hochzeit geboren worden sein. Historisch glaubwürdig ist also nur die literarische Überlieferung. Danach muss die Hochzeit drei Monate früher, als im Festkalender offiziell angegeben, stattgefunden haben, also Mitte bis Ende Oktober 39 v. Chr. Später wurde dann das offizielle Hochzeitsdatum auf den 17. Januar 38 v. Chr. festgelegt. Octavian soll Livia, so Tacitus, „aus Lust auf ihre Schönheit“ begehrt haben. Und Sueton betont eine Nuance sachlicher, dass Octavian zwar „Livia ihrem Gatten Tiberius Nero wegnahm, als sie schon schwanger war“, aber „sie auf einzigartige Art und Weise und mit einzigartiger Treue liebte und schätzte.“ Eine leidenschaftliche Liebesbeziehung mag in der Tat die entscheidende Triebfeder gewesen sein. Doch allein erklärt dieses Motiv nicht, weshalb Octavian Livia so überstürzt heiraten wollte. Es muss noch ein politisches Kalkül hinzugekommen sein: Bei dieser Scheidung und Wiederverheiratung hat der Frontwechsel des früheren Antonius-Anhängers Claudius Nero zu Octavian eine bedeutsame Rolle gespielt. Die Heirat verstärkte enorm Octavians Basis in der alten Aristokratie. Von „Brautraub“, wie Tacitus suggeriert, kann keine Rede sein, da Augustus Claudius Nero gebeten hatte, ihm Livia abzutreten. Dass ihr erster Ehemann bei der Hochzeit anwesend war und eine wichtige Rolle bei der Zeremonie spielte, untermauert, dass er der Bitte entsprochen hatte, um sich dem starken Mann in Rom zu verpflichten. Sein früheres Engagement gegen Octavian im Perusinischen Krieg machte ihn jetzt gefügig. Es war ihm klar geworden, dass man hohe Staatsämter ohne Zustimmung der Triumvirn nicht erlangen konnte. So ist es sicher kein Zufall, dass Livias Großcousin Appius Claudius Pulcher im Jahr 38 v. Chr. Konsul wurde. Andererseits war Octavian an der Hochzeit sehr gelegen; denn er wollte sich, nachdem er die Rachepflicht für seinen ermordeten Adoptivvater Caesar erfüllt hatte, mit der alten republikanischen Aristokratie aussöhnen. Die neuen Bündnispartner legten größten Wert auf die öffentliche Demonstration, dass alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Um sich und Livia zu entlasten, ließ Octavian Drusus, der in seinem Haus geboren wurde, dem leiblichen Vater übergeben, der ihn sofort als seinen Sohn anerkannte. Als Claudius Nero einige Zeit später starb, wurde Octavian auf Grund seines Testamentes Vormund seiner beiden Söhne und nahm sie in seinem Haus auf. Offensichtlich im Propagandakampf der Jahre 33 und 32 v. Chr. ließ Antonius verbreiten, „Drusus sei ein Sohn aus einem ehebrecherischen Verhältnis mit seinem Stiefvater (= Caesar Octavian)“. Dass dies nur ein Gerücht war, betont Sueton ausdrücklich. Er fügt hinzu, fest stehe nur, dass sofort der Spottvers die Runde machte: „Mit denen es das Glück gut meint, die haben sogar ein Dreimonatskind.“ Er zitiert ihn in Griechisch, so dass er nur im griechischen Sprachraum des Ostens, über den der Triumvir Antonius herrschte, in Umlauf gebracht worden sein kann. Als historisch gesicherte Tatsache berichtet Sueton lediglich, dass „Livia Drusus im dritten Monat nach der Heirat mit Augustus – zu diesem Zeitpunkt war sie bereits schwanger – zur Welt gebracht hat“. Damit führt er das Gerücht ad absurdum. Die Ehefrau eines Triumvirn (38 bis 27 v. Chr.) Livia und Octavian im Umbruch von der Republik zur Monarchie: Vom Zweiten Triumvirat zum Duovirat (43–36 v. Chr.) Die Triumviratszeit war eine Epoche des Übergangs von der Adelsrepublik zur Monarchie. Am 27. November 43 v. Chr. erhielt der Triumvirat „zur Neuordnung des Staates“ durch die Lex Titia eine gesetzliche Grundlage. Das Gesetz übertrug den Triumvirn zur wirksamen Bekämpfung des Staatsnotstandes zunächst auf fünf Jahre (42 bis Ende 38 v. Chr.) diktatorische Befugnisse, die lediglich durch das Kollegialitätsprinzip, das heißt den Zwang, alle Entscheidungen einstimmig zu treffen, eingeschränkt waren. Der Triumvirat wird als eine „Dreier-Diktatur“ definiert, weil das Volk mit der Lex Titia die gesamte Gewalt über die Res publica und das römische Weltreich in die Hände der Triumvirn gelegt und sich damit selbst entmachtet hatte. Aufgrund dieser Machtkonzentration ihrer Männer rückten die Frauen der Triumvirn weit stärker in die Öffentlichkeit, als das bisher für die weiblichen Angehörigen der republikanischen Adelshäuser der Fall war. Als Gattin des nach Marcus Antonius zweitmächtigsten Triumvirn erlangte Livia eine politisch-gesellschaftliche Sonderstellung. Im Vertrag von Tarent 37 v. Chr. wurde das Triumvirat um weitere fünf Jahre von Anfang 37 bis Ende 33 v. Chr. verlängert und zumindest Octavian hat sich vom Volk in Rom durch Gesetz diese zweite Laufzeit legalisieren lassen. Am 3. September 36 errang Octavian bei Naulochos einen vollständigen Sieg über Sextus Pompeius und eroberte Sizilien. Als sein Kollege Lepidus ihm die Insel streitig machte, erreichte Octavian durch geschickte Agitation, dass dessen Truppen zu ihm überliefen. Lepidus wurde seine Triumviralgewalt durch Volksbeschluss aberkannt. Sein Anteil an der Triumviralgewalt wurde auf die beiden verbliebenen Triumvirn übertragen. Das Reich zerfiel jetzt in zwei Hälften: Im Osten regierte Antonius, der Westen war ganz in der Gewalt Octavians. Der Gatte Livias hatte an Macht und Einfluss zu Marcus Antonius aufgeschlossen. Ehrungen, die ihm Senat und Volk von Rom beschlossen, dienten der Überhöhung dieser persönlichen Stellung: So wurden ihm die Sacrosanctitas eines Volkstribunen und das Recht, auf der Volkstribunenbank zu sitzen, übertragen. Beide Rechte lassen ihn in besonderer Weise für das Wohl der breiten Masse der Bevölkerung verantwortlich erscheinen. Sie weisen bereits auf die Amtsgewalt der Volkstribunen voraus, die seit 23 v. Chr. eine zentrale Rechtsbasis für Augustus' Macht im Staate bilden sollte. Im gleichen Maß wurde die Sonderstellung Livias und Octavias, der Schwester Octavians und Ehefrau des Triumvirn Marcus Antonius, ausgebaut: Auf Veranlassung oder mit Duldung Octavians wurden ihnen 35 v. Chr. folgende Sonderrechte verliehen: Durch Beschluss des concilium plebis (= plebiscitum) die gleiche sacrosanctitas, d. h. „Heiligkeit“, wie sie die Volkstribunen besaßen, nur losgelöst von deren Amt. Die römische Plebs, die den Volkstribunen schützte, sollte wie im Falle Octavians einen Angriff auf Livia oder Octavia als Angriff auf sich selbst werten. Losgelöst vom Amt des Volkstribunen sollte die „Heiligkeit“ Octavians und nun auch Livias sowie Octavias in dieser neuen Form die Unantastbarkeit und religiöse Weihe des Monarchen und seines Hauses symbolisieren; denn erstmals war dem Diktator Caesar 44 v. Chr. dieses Sonderrecht zuerkannt worden. Beide Frauen wurden von der Vormundschaft befreit und erhielten völlige Freiheit, ihre eigenen Angelegenheiten selbstständig und eigenverantwortlich zu regeln. Dieses Privileg bedeutete eine große Auszeichnung, da es Livia und Octavia über den Status einer üblichen Matrona, das heißt verheirateten Frau, weit hinaushob. Es wurde ihnen männliches Bewusstsein von Verantwortung attestiert. Außerdem waren sie rechtlich den hoch angesehenen Vestalinnen gleichgestellt. Diese genossen das Privileg, weil sie für die staatliche Gemeinschaft der Römer einen unschätzbaren Dienst leisteten. Statuen von ihnen sollten im öffentlichen Raum aufgestellt werden. In dieser Weise waren Frauen bis dahin nach römischer Tradition nicht im öffentlichen Raum geehrt worden; denn die Ehrung musste von Senat und Volk von Rom beschlossen werden, die sie zumeist höheren Magistraten für Verdienste um den Staat zukommen ließen. Besonders bedeutsam an diesen Vorrechten ist, dass Octavian die Frauen seiner Familie überhaupt in Ehrungen einbezog, die eigentlich ihm allein als siegreichem Feldherrn über Sextus Pompeius und Lepidus zukamen. Damit meldete er bereits dynastische Ansprüche an, die im hellenistischen Königtum wurzelten, für Rom aber etwas völlig Neues darstellten. Hier kündigte sich in der Tat eine Entwicklung an, wie die herrschende Familie bald allein das gesamte Volk repräsentierte und schließlich an seine Stelle trat. 33 v. Chr. starb ihr erster Ehemann Tiberius Claudius Nero. Ihr gemeinsamer Sohn, der neunjährige Tiberius, veranstaltete Leichenspiele – Gladiatorenkämpfe –, für die Livia die Kosten trug, obwohl offiziell Tiberius als Veranstalter der Spiele auftrat. Tiberius und Drusus verließen das Haus des Vaters und wechselten in den Haushalt ihrer Mutter und ihres Stiefvaters Octavian, denn Nero hatte Octavian testamentarisch als Vormund seiner Söhne eingesetzt. Livias Beitrag zur Leichenfeier verdeutlicht noch einmal die Sonderrolle, die sie in der Triumviratszeit spielte. Er zeigt zum einen, dass sie unter allen Umständen die Karriere ihrer Söhne fördern wollte, zum anderen illustriert er die familiäre Loyalität und Integrität des Hauses, welche die Propaganda Octavians als Gegenbild zur Illoyalität des Antonius gegenüber Octavia und den mit ihr gezeugten Kindern herausstellte. Erstmals wird deutlich, wie stark die Rolle Livias auf die domus zentriert war, wie sie dann im Prinzipat prägend wurde. Die „Kaisergattin“ des Princeps Augustus (30 v. bis 14 n. Chr.) Livia und der Umbruch vom Duovirat zum Principat (36 v. bis 27 v. Chr.) Die beiden Frauen der Triumvirn Octavian und Antonius, Livia und Octavia, standen seit der Entmachtung des Lepidus 36 v. Chr. im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Ihre 35 v. Chr. noch gleichrangige Sonderstellung wich bald darauf einer absoluten Vorrangstellung Livias und des iulisch-claudischen Hauses gegenüber den Frauen aller übrigen republikanischen Adelshäuser. Diese Wende trat ein, als es Octavian gelang, mit dem Sieg über Antonius und die ägyptische Königin Kleopatra VII. am 1. August 30 v. Chr. den letzten Bürgerkrieg zu beenden und unangefochtener Herrscher im Römischen Reich zu werden. Bereits 36 v. Chr. hatte sich Antonius faktisch von Octavia zu Gunsten seiner neuen Geliebten, der ägyptischen Königin Kleopatra, getrennt und damit den Bruch zwischen den beiden Triumvirn vorweggenommen. Octavia verweigerte zwar die Scheidung, wie es ihr Bruder von ihr verlangte, und zwang ihn damit, formal den Triumvirat fortzusetzen. Die Ehrungen von 35 v. Chr. nahm sie aber an. Ende 33 v. Chr. lief das Triumvirat ab, doch behielten beide Triumvirn die – nun vom Amt abgelöste – Triumviralgewalt bei, indem jeder den anderen beschuldigte, für den weiter bestehenden akuten Notstand verantwortlich zu sein. Im Jahr 32 v. Chr. ließ sich Antonius in aller Form von Octavia scheiden. Er schickte Bevollmächtigte nach Rom, die ihr die übliche Scheidungsformel – „Du magst Deine Sachen mitnehmen“ – überbrachten. Diese Brüskierung seiner römischen Ehefrau führte, als Octavian noch dazu den skandalösen Inhalt des Testaments des Antonius mit seinen Klauseln zu Gunsten der Kleopatra und ihrer gemeinsamen Kinder publizierte, zu einem jähen Stimmungsumschwung der öffentlichen Meinung in Rom (consensus universorum) und ließ die Strategie von 35 v. Chr. zu einem vollen Erfolg werden. Die römische Plebs wertete jetzt den Angriff auf die „sakrosankte“ Octavia als Angriff auf sich selbst und beschloss mit einem Gesetz, Antonius die Triumviralgewalt abzuerkennen, während Octavian mit dem Krieg gegen Kleopatra beauftragt wurde. Damit war er seit Mitte 32 v. Chr. alleiniger Inhaber der Triumviralgewalt. Sie war von nun an eine reine Diktaturgewalt, da automatisch der Anteil des ausgeschiedenen Triumvirn dem übrig gebliebenen zuwuchs. Am 1. August 30 v. Chr. beendete Octavian mit dem Sieg über Antonius und Kleopatra die Bürgerkriege und erfüllte damit den wichtigsten Auftrag der Lex Titia von 43 v. Chr. In den Jahren 29 und 28 v. Chr. stellte er schrittweise die Ordnung des Staates wieder her, um dann am 13. Januar 27 v. Chr. die wiederhergestellte Res publica aus seiner triumviralen Ein-Mann-Potestas in die Souveränität von Senat und Volk von Rom zu entlassen. Auf Drängen der Senatoren und des Volks von Rom, im Interesse des inneren Friedens die Leitung des Staates weiterhin zu übernehmen, erklärte er sich nach einer angemessenen Phase des Zögerns bereit, die Verantwortung für die gefährdeten und noch nicht völlig befriedeten Provinzen des römischen Reiches zu übernehmen, und ließ sich zu diesem Zweck ein zeitlich befristetes, aber bis zu seinem Lebensende immer wieder verlängertes Imperium proconsulare von Senat und Volk von Rom gesetzlich erteilen. Es wurde 23 v. Chr. durch zusätzliche Sonderrechte erweitert, nachdem Octavian das Konsulat niedergelegt hatte. Die zeitliche Befristung dieses sogenannten Imperium proconsulare maius und die Notwendigkeit, es immer wieder von Senat und Volk gesetzlich verlängern zu lassen, blieben unberührt. Darin kam der republikanische Charakter der neuen Ordnung zum Tragen. Sie manifestierte sich auch im Konsulat, das Octavian von 31 v. Chr. bis 23 v. Chr. Jahr für Jahr an der Seite eines Kollegen bekleidete. Im letzten Satz des Kapitels 34 seines Tatenberichts stellt Augustus zusammenfassend seine Sicht über das Wesen des Prinzipats dar: „Seit dieser Zeit (27 v. Chr.) überragte ich alle übrigen an sozialer Ansehensmacht (Auctoritas), an Amtsgewalt (Potestas) aber besaß ich nicht mehr als die anderen, die auch ich im Amt zu Kollegen hatte.“ Die Verfassungswirklichkeit einer Monarchie bestand also seit 27 v. Chr. darin, dass Augustus der „Princeps schlechthin“ war, der wegen seiner Verdienste um den Staat alle übrigen Bürger an persönlicher Geltung, sozialer Ansehensmacht und charismatischer Ausstrahlung überragte. Diese Macht symbolisiert der Beiname Augustus, der ihm am 16. Januar 27 v. Chr. verliehen wurde. Er bedeutet nach Cassius Dio, dass sein Träger sich über Menschliches erhebt und dem Göttlichen nahesteht. Im Kontrast dazu sieht Augustus seine magistratische Amtsgewalt stehen. Mit Ausnahme des Konsulats bekleidete Augustus keine weiteren republikanischen Ämter und bekam Jahr für Jahr einen neuen Kollegen von der Volksversammlung (Comitia Centuriata) zugewählt, der ein Veto gegen seine Entscheidungen hätte einlegen können. Dennoch verschweigt Augustus, dass er Amtsgewalten wie das Imperium proconsulare und seit 23 v. Chr. die lebenslange tribunicia potestas kumulierte, die vom Amt losgelöst und dadurch mit dem republikanischen System unvereinbar waren. Und doch wird in der Übertragung und Verlängerung dieser Amtsgewalten durch Gesetz von Senat und Volk von Rom ein Stück Souveränität der Träger der alten Res publica (= Senatus populusque Romanus, SPQR) sichtbar. So könnte man den Prinzipat des Augustus seit 27 v. Chr. als faktische Monarchie in den Rechtsformen der Republik definieren. In diesem Spannungsverhältnis von Monarchie und erneuerter Republik agierte Augustus und er wünschte sich das auch von Livia. Sie tat ihm den Gefallen und füllte ihre neue Rolle vorbildlich aus. Dadurch leistete sie einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des neuen Herrschaftssystems. Livias Bild auf Münzen In diesem Zusammenhang gewinnt der Befund an Bedeutung, dass im Westen keine Münzen mit dem Porträt Livias vor der Regierungszeit des Tiberius existieren. Daraus kann geschlossen werden, dass Augustus seine Ehefrau nicht wie Antonius Kleopatra öffentlich präsentieren wollte, sondern sie nach dem Sieg über Ägypten auf eine außeröffentliche Rolle festlegte, die dem Ideal der Matrone, das heißt der ehrbaren römischen Ehefrau der Republik, entsprach. Anders stellt sich die Situation im Osten des römischen Reiches dar. In Ägypten wird Livia zu Lebzeiten des Augustus auf Münzen abgebildet. Da das Nilland seit 1. August 30 v. Chr. aufgrund seines Sonderstatus als römische Provinz unter der persönlichen Gerichtsbarkeit des Princeps stand, hat Augustus ohne Zweifel persönlich Münzen mit dem Bild Livias autorisiert. Sie übernimmt im Osten allgemein und in Ägypten speziell die übliche Funktion einer Königin bzw. Pharaonin. Ab etwa 19 v. Chr. erscheint Livia regelmäßig auf Bronzemünzen, die für Ägypten geprägt wurden mit der Umschrift Liouia Sebastou. Das entspricht der griechischen Variante der lateinischen Formel Livia Augusti und bedeutet „Livia, Ehefrau des Augustus“. Livia wird auf diesen Münzen in der Ikonographie einer ptolemäischen Königin porträtiert und verschiedenen Göttinnen wie z. B. der Fruchtbarkeitsgöttin Ceres angeglichen. Auch in den Städten Kleinasiens wird Livia auf Münzen häufig im hellenistischen Doppelporträt mit Augustus zusammen als Königspaar abgebildet und bereits zu dessen Lebzeiten als Augusta tituliert. Eine Angleichung an weibliche Gottheiten, z. B. an Vesta oder Demeter, ist hier ebenfalls üblich. Auf einer Prägung aus Thessalonike in der Provinz Makedonien wird Livia ausdrücklich als „Göttin Livia“ bezeichnet. Livias Schicksal und Rolle in der Zeit nach 30 v. Chr. war mit dem Problem der Nachfolge im augusteischen Haus unmittelbar verbunden. Das enthüllt erneut die monarchische Struktur des Prinzipats. Sueton verdanken wir die Nachricht, dass sich Augustus sehnlichst Kinder von Livia wünschte, aber keine von ihr bekam. Nur eines habe sie geboren, aber es kam zu früh und war nicht überlebensfähig. Vielleicht ist die Tatsache, dass Livia dem Augustus keinen Nachfolger gebar, ein Grund, warum sie vor Ende der Herrschaft des Augustus nicht auf Münzen des Westens erscheint. Wo es aber den üblichen Kommunikationsformen wie in Alexandrien und den Poleis des Ostens entsprach, ließ Augustus seine Frau auf Münzen in der Position einer göttlich verehrten hellenistischen Königin abbilden. Statuen und Porträts: Die äußere Darstellung Livias als Kaisergattin und Mutter In ungewöhnlich großer Zahl sind Statuen mit dem Porträt Livias gefunden worden. Schon die Fülle dokumentiert ihre herausragende Bedeutung für die Herrscherfamilie. Außerdem dienten sie dazu, aller Welt zu zeigen, wie Augustus Livia als höchste weibliche Repräsentantin dieser Familie ins Bild gesetzt sehen wollte, um den dynastischen Anspruch seines Hauses optimal zu propagieren. Bildnisse, die zu Lebzeiten des Augustus entstanden, zeigen Livia mit einer Zopffrisur, dem sogenannten Nodus. Sie ist besonders gut auf dem hier zuerst abgebildeten Porträt der Livia, dem „Albani-Bonn-Typ“ aus schwarzem Basalt (27 v. Chr. – 14 n. Chr.), Louvre Paris, zu erkennen. Der erste uns bekannte Bildnistyp Livias mit einer solchen Frisur, der „Marbury Hall-Typ“, dürfte um 15 v. Chr. entstanden sein, als Livia Mitte 40 war. Das zweite offizielle Porträt vom „Fayum-Typ“ der Ny Carlsberg Glyptotek, Kopenhagen (4–14 n. Chr.) ist im Unterschied zu diesem alterslos gestaltet. Wie die neue Staatsordnung des Augustus ewig bestehen soll, so wurden auch die Bilder der Herrscherfamilie alterslos gestaltet und Livias Porträt dem ihres Ehemannes angeglichen. Während die Physiognomie auf dynastischen Ambitionen des Herrscherpaares und damit die monarchische Struktur des Prinzipats schließen lässt, weisen dagegen Frisur und Tracht des Liviaporträts in die altehrwürdige Tradition der Republik. Beide Elemente sollen die Matrone, die sittenstrenge aristokratische Ehefrau der alten Adelsrepublik, charakterisieren und sind der Ideologie der wiederhergestellten Republik geschuldet. Zum Bild der römischen Matrone gehört der mütterliche Zug, da es ihre vornehmste Aufgabe war, dem Ehemann legitime Kinder zu gebären. Diesen Aspekt betont besonders die Monumentalstatue aus dem Louvre-Museum von Paris, die Livia mit Nodusfrisur und der traditionellen Matronentracht der lebenspendenden Göttin Ceres mit Ährenbündel und Füllhorn angleicht. Es hat viel für sich, die Statue wegen des betont mütterlichen Aspekts des Liviaporträts mit der Adoption des Tiberius durch Augustus im Jahr 4 n. Chr. zu verbinden, als man Livia zur Reichsmutter zu stilisieren begann. Eine Entstehung bereits 9 v. Chr. ist aber nicht auszuschließen. Fragmente von Selbstzeugnissen Livias Nicht nur die Porträts, sondern auch Fragmente ihrer denkwürdigen Aussprüche bestätigen, dass Livia ihre Rolle als ideale Ehefrau vollkommen ausfüllte. Als sie in späteren Jahren gefragt wurde, wie sie einen so starken Einfluss auf Augustus gewonnen habe, antwortete sie, sie habe dies dadurch erreicht, dass sie selbst peinlich auf ein sittlich einwandfreies Benehmen gesehen, gerne alle seine Wünsche erfüllt, sich nicht in seine Angelegenheiten gemischt und vor allem den Anschein erweckt habe, als höre und merke sie nichts von seinen Liebesgeschichten. Die sexuellen Eskapaden soll sich Augustus mit Duldung, ja, wie überliefert wird, sogar mit Beihilfe seiner Frau, geleistet haben. In einem Brief nimmt sein Schwager Marcus Antonius das Liebesleben Octavians vor 32 v. Chr. aufs Korn: Was hat dich denn so verändert? Dass ich die Königin (= Kleopatra VII.) penetriere? Sie ist meine Frau. Habe ich jetzt damit angefangen oder schon vor neun Jahren? Und du, penetrierst du nur Drusilla? Wahrhaftig, wenn du diesen Brief liest, hast du sicher Tertulla oder Terentia oder Rufilla oder Salvia Titisenia oder sie alle penetriert. Oder macht es einen Unterschied, wo und bei welcher du Erektionen bekommst? Augustus’ Liebschaften mit verheirateten Frauen, darunter der Gattin des Maecenas, leugneten auch seine Freunde nicht. Sie entschuldigten sie mit politischen Zwecken, d. h. Spionagezwecken. Davon kann aber keine Rede mehr sein, wenn der Kaiser bis in seine letzten Tage sich an Jungfrauen vergriff, die ihm teilweise sogar Livia persönlich vermittelt haben soll. Ungeachtet der Eskapaden ihres Mannes wollte sich Livia als Vorbild der treuen Ehefrau dargestellt wissen und von anderen wahrgenommen werden. Dem von ihr gezeichneten Bild entspricht genau der Eintrag in der spätrepublikanischen Spruchsammlung des Publilius Syrus (85): „Eine sittsame Frau beherrscht den Gatten durch Gehorsam“. Und im Jahr 9 v. Chr., als Livia und Augustus fast 30 Jahre glücklich verheiratet waren, preist der aus Alexandria stammende Philosoph Areios unmittelbar nach dem Tod des Drusus in einer Trostschrift dessen Mutter Livia mit den Worten: „Deines Mannes immer gegenwärtiger Begleiter, dem nicht nur, was in die Öffentlichkeit dringt, bekannt ist, sondern auch alle verborgeneren Regungen eurer Seelen.“ In dem Lob der mustergültigen Ehefrau und Mutter wird wohl eigenes Naturell aufscheinen, doch wird es von Augustus mitgeprägt worden sein. Die Privilegien Livias von 9 v. Chr. Zu Beginn dieses Jahres 9 v. Chr. ehrte Augustus Livia durch Privilegien, die ihre Mutterrolle stärker betonten: Im Rahmen seiner Ehe- und Sittengesetze verlieh er ihr das ius trium liberorum, eine von ihm neu geschaffene Auszeichnung, die Müttern von drei lebendgeborenen Kindern zustand. Das gleiche Privileg erkannte er auch den Vestalinnen zu. Dieses Recht befreite Livia von der Vormundschaft durch einen Tutor und von Strafen für Kinderlosigkeit. Sie war schon 35 v. Chr. von einem Vormund befreit worden, jetzt wurde das Privileg erneuert und mit der Erfüllung der Geburtsnorm im Sinne der augusteischen Ehegesetze begründet. Auch wurden ihr erneut Statuen zugebilligt. Das war nach wie vor eine außergewöhnliche Ehre, nur dass ihr jetzt die Statuen aufgrund ihrer Verdienste gesetzt wurden. Sie bestanden darin, zwei Söhne geboren und aufgezogen zu haben, die jetzt große militärische Erfolge in Germanien (Drusus) und Pannonien (Tiberius) errungen hatten. Die Ehrenbeschlüsse des Jahres 9 v. Chr. wurden nicht als Reaktion auf den Tod des Drusus, wie es Cassius Dio nahelegt, gefasst, sondern mit der feierlichen Weihung der Ara Pacis am Geburtstag Livias verbunden. Das war zu Beginn des Jahres. Im gleichen Jahr brach sich Drusus bei der Rückkehr von seinem erfolgreichen Feldzug an die Elbe bei einem Sturz vom Pferd den Unterschenkel. Er starb 30 Tage später gegen Ende des Jahres. Die Ehrungen für Livia und das Janusgesicht des augusteischen Prinzipats Mit den Ehrungen wollte Augustus Livia als segenspendende Mutter erfolgreicher Feldherrn und zugleich als vorbildliche Kaisergattin, als mater patriae (= „Mutter des Vaterlandes“) und femina princeps (= „weiblicher Princeps“) auszeichnen. Den erneuten Prestigezuwachs spiegelt der erwähnte Porträttypus der Monumentalstatue der Livia als segenspendende Göttin Ceres wider. Es ist daher nicht auszuschließen, dass er im Rahmen ihres neuen Statuenprivilegs bereits in diesem Jahr eingeführt wurde und nicht erst 4 n. Chr. Die Privilegien des Jahres 9 v. Chr. verdeutlichen den Januskopf des Prinzipats: Einerseits bewegen sie sich im Rahmen der Ehe- und Sittengesetze, mit denen Augustus die Ideologie der wiederhergestellten Republik bedient. Zum anderen wird die Wirklichkeit der Monarchie deutlich hinter der republikanischen Fassade sichtbar; wenn nämlich Augustus die Ara Pacis Augustae am 30. Januar einweihen ließ, so verfolgte er damit zweifellos eine dynastische Absicht, weil der 30. Januar Livias Geburtstag war. Zwar wird jeder Anschein einer Erhöhung des Augustus, die der Tradition der Res publica widersprach, vermieden. Aber die Reliefbilder und besonders der große Prozessionsfries, auf dem der Princeps und seine Angehörigen beim Gründungsopfer dargestellt sind, machen dennoch den Friedensaltar zum eindrucksvollsten Denkmal der neuen Dynastie. Zugleich mit der Ara Pacis wurde auch das Solarium Augusti geweiht. Es war die größte Sonnenuhr und der größte Kalender aller Zeiten, ein Denkmal für den Sonnengott Sol, das westlich der Ara Pacis errichtet worden war. Als Zeiger der Sonnenuhr diente ein Obelisk, etwa 30 m hoch, der eigens aus Heliopolis in Ägypten herangeschafft worden war. Er steht heute vor dem Italienischen Parlament. In das Pflaster der wohl elliptischen Anlage wurden die Monatslinien sowie die Tage und Stunden in Bronze eingelassen. Der Boden des Liniennetzes bedeckte eine Fläche von 160 × 75 m, größer als es die des Augustusforums war. Einbezogen in das Liniennetz war die Ara Pacis und das Mausoleum des Augustus. Das Liniennetz war so ausgerichtet, dass die Ara Pacis genau auf der Linie der Tagundnachtgleiche, der Herbst-Äquinoktien, lag. Der Schatten der Spitze des Obelisken fiel am Abend dieses Tages, am 23. September, genau in den Eingang des Altars und verwies auf den Geburtstag des Augustus, dem der Friedensaltar geweiht worden war. Schon mit der Geburt, so die Aussage des Monuments, war von den Göttern vorherbestimmt, dass er die Bürgerkriege beenden und nach dem Sieg über Antonius und Kleopatra der Welt den Frieden bringen werde. Auch die Linie der Wintersonnenwende war von zwei Punkten aus mit dem Friedensaltar verbunden. Der Zeitpunkt dieser Sonnenwende war der Beginn des Sternzeichens des Steinbocks (Capricornus) und fiel mit dem Zeitpunkt der Empfängnis des Augustus zusammen. So sind das Solarium Augusti wie die Ara Pacis zwei zentrale Bestandteile eines Bautensystems, das eindeutig dynastisch-monarchische Vorstellungen betont. Bestätigt wird dieser Eindruck dadurch, dass beide Bauten an Livias Geburtstag eingeweiht wurden. Edmund Buchner, dessen Forschungsergebnisse zur Sonnenuhr inzwischen allerdings teilweise angezweifelt werden, fasst ihre Bedeutung so zusammen: „Mit Augustus beginnt also – an Solarium und Ara Pacis ist es sichtbar – ein neuer Tag und ein neues Jahr: eine neue Ära des Friedens mit all seinen Segnungen, mit Fülle, Üppigkeit und Glückseligkeit. Diese Anlage ist sozusagen das Horoskop des neuen Herrschers, riesig in seinen Ausmaßen und auf kosmische Zusammenhänge deutend.“ Livias politischer und finanzieller Einfluss als Mater familias Augustus verwehrte Livia nicht, politischen Einfluss auf seine Entscheidungen auszuüben. Er führte mit ihr Gespräche von gewichtigem Inhalt, und zwar anhand von Aufzeichnungen aus seinem Notizbuch, um auf Grund der Umstände nicht zu viel oder zu wenig zu sagen. Livia hatte ferner das Recht, ihr großes Vermögen ohne Vormund selbstständig zu verwalten. Zu ihren ausgedehnten Besitzungen gehörte ein Bergwerk in Gallien, in dem eine besondere Art von Kupfer abgebaut wurde. Ihren Sklaven und Freigelassenen stiftete sie ein Columbarium, d. h. eine große Grabanlage mit Nischen zur Aufnahme der Aschenurnen. Das Totenhaus enthält über 1000 Urnen. Mindestens 90 Personen konnten identifiziert werden, die zweifelsfrei zu Livias Personal gehörten und mit etwa 50 verschiedenen Tätigkeiten betraut waren. Freigelassene und Sklaven des Kaiserhauses sprachen vor 14 n. Chr. dezidiert von der domus Caesarum et Liviae. Auch in den literarischen Quellen erscheinen die Haushalte von Augustus und Livia getrennt. Das bedeutet, dass Livia die direkte Aufsicht über ihren Haushalt und eine eigene Haushaltsorganisation hatte. Ihr städtischer Haushalt bestand aus einer Dienerschaft von etwa 150 Bediensteten. Bemerkenswert ist ein Bautrupp in ihren Diensten, der für keine andere Kaiserin nachweisbar ist. Vielleicht war sie am lukrativen stadtrömischen Baugeschäft beteiligt. Außerdem besaß Livia eine prächtige Landvilla in Prima Porta rund 12 km nördlich von Rom mit dem Namen „zu den Hennen“ (ad Gallinas). Den Namen erklärt die Legende so: Als Livia gleich nach ihrer Hochzeit mit Augustus ihr Landgut besuchte, flog ein Adler an ihr vorüber mit einem weißen Huhn, das einen Lorbeerzweig im Schnabel hielt, und ließ es, so wie er es geraubt hatte, in ihren Schoß fallen. Livia entschloss sich, das Federvieh aufzuziehen und den Zweig einpflanzen zu lassen; später brütete die Henne so viele Küken aus, dass die Villa noch zur Zeit Suetons „Zu den Hühnern“ hieß. Der Name weist auf die Geflügelzucht der Kaiserin hin. Sie züchtete auf dem Gut weiße Hühner, denen man magische Bedeutung zumaß. Aus dem Zweig aber wuchs ein so üppiger Lorbeerstrauch, dass die Kaiser, wenn sie dabei waren, einen Triumph zu feiern, dort die Lorbeerzweige pflücken gingen. Im letzten Lebensjahr des Kaisers Nero schlug ein Blitz in das Heiligtum der Kaiser ein und riss der Statue des Augustus sein Zepter aus den Händen. Am 20. April 1863 wurde im Park dieser Villa tatsächlich eine monumentale Statue mit „leeren“ Händen gefunden, die mit einem eindrucksvollen und historisch bedeutsamen Panzerrelief geschmückt ist: Die berühmte, bis heute am besten von allen Standbildern des ersten Princeps erhaltene Augustusstatue von Prima Porta. Ihr immenser Reichtum versetzte Livia in die Lage, durch Freigebigkeit – ganz wie Augustus – Dankbarkeit und Anhänglichkeit zu gewinnen. Zugleich lässt sich deutlich das Streben nach ökonomischer Unabhängigkeit erkennen. Doch hütete sie sich, ihren Reichtum nach außen durch Verschwendung oder üppigen Lebenswandel zur Schau zu stellen. Ihre zurückhaltende Lebensführung glich ganz der des Augustus. Wein und Salat ihrer bescheidenen Tafel waren stadtbekannt. Und der Princeps trug Gewänder, die unter Aufsicht seiner Frau im eigenen Haus hergestellt worden waren. Sie wollte dem Ideal der altrömischen mater familias, wie es Augustus’ Erneuerungsprogramm und der Ideologie der wiederhergestellten Republik entsprach, so nahe wie möglich kommen. Livias Bautätigkeit Livia ließ auf eigene Kosten verfallene Tempel in Stand setzen. Sie konzentrierte sich auf Heiligtümer von Gottheiten des Frauenlebens und ließ die Tempel der Fortuna muliebris und der Bona Dea wiederherstellen. Sie rundete damit die Bemühungen ihres Mannes ab, die zahlreichen Sakralbauten Roms wiederherzustellen, die in den Wirren der Bürgerkriege vernachlässigt und dem Verfall preisgegeben worden waren. In seinem Tatenbericht rühmt sich Augustus, er habe in seinem sechsten Konsulat (28 v. Chr.) mit Ermächtigung durch den Senat alle zu diesem Zeitpunkt verfallenen Heiligtümer, insgesamt 82 an der Zahl, in Stand gesetzt. Beide waren davon überzeugt, dass nur durch Rückbesinnung auf die Götter die Weltherrschaft Roms garantiert und der Niedergang durch den Wiederaufbau der Tempel aufgehalten werden könnte. Im Januar 7 v. Chr. weihte Livia zusammen mit Tiberius eine prächtige Säulenhalle, die nach ihr als Stifterin Porticus Liviae benannt wurde. Der Park, den sie umschloss, wurde ein beliebter Erholungsort für die Städter. Dort hatte sie einen Tempel für Concordia, die Göttin der Eintracht, erbauen lassen. Nach dem Zeugnis Ovids baute und weihte Livia den Tempel als öffentliches Zeugnis ihrer harmonischen Ehe mit Augustus. Der Dichter hat den entscheidenden Aspekt ihrer Baupropaganda wiedergegeben. Außerdem merkt er an, dass sie durch eine aufwendige Ausstattung auf die Bedeutung des Tempels aufmerksam machen wollte. Der Tempel wurde am 11. Juni geweiht. Es war das Fest der Mater Matuta, an dem auch deren Tempel am Forum boarium und das Heiligtum der Fortuna Virgo geweiht worden waren. Mit der Wahl des Weihedatums verband Livia Concordia mit den beiden Gottheiten der Heirat und der Familie. So wurde zwei alten Tempeln und Kulten des Frauenlebens erneut Aufmerksamkeit geschenkt, wodurch auch Livias Heiligtum an Bedeutung gewann. Dass Livia den Kult der Concordia, der Göttin des Familienlebens, so sehr am Herzen lag, entsprang ihrem Engagement für Ehe und Familie. Durch ihre Bautätigkeit unterstützte sie die Gesetzgebung ihres Mannes zu Ehe und Geburtenrate. Deutlicher als im Falle des Concordia-Tempels hat Ovid in seinem Bericht über die Erneuerung des Tempels der Bona Dea auf dem Aventin Livias Absichten hervorgehoben. Danach habe die Frau des Augustus das Heiligtum wiederhergestellt, um dem Vorbild ihres Mannes nachzueifern. Das beweist, dass Ovid diese Maßnahme in den größeren Zusammenhang des augusteischen Programms der Sittenerneuerung eingeordnet wissen wollte. Zu diesem Programm passt sehr gut, dass sie den Tempel der Fortuna Muliebris, der Göttin für Frauen und das Familienleben, restaurieren ließ; denn diese Göttin war mit dem Ideal der pudicitia, der ehelichen Treue, untrennbar verbunden. Livia in der Rolle der vorbildlichen Kaisergattin (matrona) Die Rolle der Kaisergattin füllte Livia vorbildlich aus, indem sie die Politik ihres Mannes mit Rat und Tat, soweit es von ihm gewünscht war, unterstützte. Sie begleitete ihn auf allen Reisen, so in den Orient 30/29 v. Chr. und 16 v. Chr. nach Gallien. Im privaten, aber auch öffentlich-repräsentativen Raum verkörperte Livia die sittenstrenge römische Matrona, ohne in Roms öffentlichem Leben politische Ambitionen zu entfalten. In diesem Urteil sind sich die antiken Autoren einig: Valerius Maximus bescheinigt ihr insbesondere Keuschheit in der Öffentlichkeit (pudicitia). Der Dichter Ovid streicht ihren moralischen Lebenswandel heraus. Seneca beschreibt sie als eine Frau, die ihren Ruf aufs sorgfältigste hütete, und Velleius betont, dass sie „in Herkunft, Sittsamkeit und Gestalt die glänzendste der Römerinnen“ war. Auch Tacitus, der insgesamt in seinem Werk von ihr ein negatives Bild zeichnet, muss zugeben, dass ihr Betragen untadelig war. Doch rügt er an ihr, dass sie im Hinblick auf ihren eigenständigen Haushalt den Wirkungskreis einer altrömischen Matrone entscheidend überschritt, indem sie sich als zu leutselig erwies. Ihrer Rolle als Matrone entsprach, dass sie am Schicksal der Mitglieder des Kaiserhauses lebhaft Anteil nahm: Nach dem tragischen Tod ihres Sohnes Drusus 9 v. Chr., der sie schwer traf, nahm sie seine Familie in ihr Haus auf. Von 6 v. Chr. bis 2 n. Chr. bangte Livia um ihren erstgeborenen Sohn Tiberius, der sich nach einem Zerwürfnis mit Augustus nach Rhodos ins freiwillige Exil zurückgezogen hatte. Als dann 4 n. Chr. Augustus seinen Stiefsohn adoptierte und zu seinem Sohn machte, muss Livia sehr erleichtert gewesen sein. Ihre Mutterrolle wurde durch die Entscheidung des Augustus neu akzentuiert und weiter aufgewertet: Sie sollte von nun an nicht mehr allein als Gattin des Princeps und Mutter eines erfolgreichen Generals gelten, sondern auch als Mutter eines künftigen Princeps. Obwohl sie an der politischen Karriere des Tiberius sehr interessiert war, waren Gerüchte, sie habe andere mögliche Nachfolger wie Lucius und Gaius Caesar oder Agrippa Postumus ausschalten lassen, ja sogar für den Tod ihres Gatten Augustus 14 n. Chr. gesorgt, unsinnig und haltlos. Wenn überhaupt, war Livia allenfalls in die Ermordung des Agrippa Postumus, des 12 v. Chr. nachgeborenen Sohnes des Agrippa von der Tochter des Augustus, Iulia, verstrickt. Des Princeps Tod 14 n. Chr.: Livia als Erbin des verstorbenen und Priesterin des vergöttlichten Augustus Am 19. August 14 n. Chr., gut einen Monat vor seinem 76. Geburtstag, verstarb Augustus in den Armen Livias mit den Worten: Livia, gedenke in deinem weiteren Leben unserer Ehe und sei gegrüßt! Sie setzte die sterblichen Überreste ihres Gatten in seinem Mausoleum auf dem Marsfeld bei. Kurz zuvor war das Testament eröffnet worden, dessen letzte Fassung Augustus am 3. April 13 v. Chr. teils eigenhändig geschrieben, teils auf sein Diktat hin von zwei Freigelassenen hatte aufsetzen und bei den Vestalinnen hinterlegen hat lassen. In diesem Testament hatte Augustus für Livia vorgesorgt: Zwei Drittel der Erbschaft sollten Tiberius, ein Drittel ihr zufallen. Um ihr einen Teil seines Vermögens gesetzlich zukommen zu lassen, hatte Augustus noch zu Lebzeiten vom Senat beschließen lassen, dass seine Frau von der Lex Voconia befreit wurde. Dieses Gesetz aus dem Jahre 169 v. Chr. verbot jedem Mitglied der ersten Zensusklasse, eine Frau als Erbin einzusetzen. Davon hatte Augustus im Rahmen seiner Ehegesetzgebung einige Frauen durch Senatsbeschluss entbinden lassen. Der Dispens war in jedem Einzelfall nötig, um für die Frauen der Oberschicht, die gleichzeitig das ius liberorum hatten, die gesetzliche Möglichkeit zu schaffen, Erbin zu werden. Ohne den Dispens durch den Senat hatte das ius liberorum keinerlei rechtliche Relevanz für eine Erbeinsetzung. Zu den Frauen, die auf diese Weise zusätzlich privilegiert wurden, gehörte nun auch Livia, die 9 v. Chr. das Ehrenrecht des ius trium liberorum erhalten hatte. Mit ihrem Anteil am Vermögen des Augustus stieg sie zur reichsten Frau Roms auf. Mit großem Engagement erreichte sie beim Senat, dass Augustus am 17. September 14 n. Chr. offiziell zum Gott erhöht wurde. Sie selbst wurde Priesterin des Divus Augustus. Dass eine Frau Priesterin eines männlichen Gottes werden konnte und ihm zu Ehren Opfer vollzog, war einmalig in Rom. Livia baute damit ihre einzigartige Stellung durch diesen Prestigegewinn weiter aus. In der Öffentlichkeit spiegelte er sich in dem Recht wider, dass ihr fortan ein Liktor zustand, der ihr bei allen öffentlichen Anlässen mit dem Rutenbündel vorausschritt. Dieses Ehrenrecht genossen bisher allein die Vestalinnen, die Priesterinnen der Vesta. Der abgebildete Marmorkopf zeigt das Liviaporträt nach dem Tode des Augustus mit neuer Frisur im Typus der Göttin Ceres, 14–42 n. Chr. Ein Kennzeichen des Cerestypus sind die am Hals herabhängenden Wollschnüre, die sog. vittae, die zugleich eine verheiratete Frau charakterisieren. Es war das völlig neu gestaltete Bildnis der Livia, das nicht nur in der Frisur, sondern auch in den Gesichtsproportionen dem klassischen griechischen Götterbild des 5. Jahrhunderts v. Chr. angenähert wurde. Das neue Bild sollte im ganzen römischen Reich die veränderte Rolle Livias als Witwe und Priesterin des vergöttlichten Gatten bekannt machen. Es fehlt freilich ein offizieller Prototyp des neuen Bildnisses, da Tiberius sich weigerte, die Rolle Livias unter seinem Principat zu institutionalisieren. Das Manko gleichen Gemmen aus, die privat in Auftrag gegeben wurden. Eine geschnittene Steingemme mit erhaben gearbeiteter Darstellung aus der Zeit 14–29 n. Chr., jetzt Kunsthistorisches Museum Wien, hat Livia als Priesterin des Divus Augustus verewigt: Das Bild der Gemme zeigt sie mit Attributen der Göttin Ceres (Ährenbündel und Mohn) und der großen orientalischen Muttergottheit Kybele (Mauerkrone), der Magna Mater der Römer. Auf der rechten Hand hält sie den Porträtkopf des vergöttlichten Ehemanns. Livia wird hier mit zwei bedeutenden Muttergottheiten identifiziert. Die „Kaisermutter“: Livia als Iulia Augusta in der Regierungszeit ihres Sohnes Tiberius (14 bis 29 n. Chr.) Livia wurde auf Grund des Testamentes des Augustus etwa am 3. oder 4. September 14 n. Chr. in die julische Familie adoptiert und erhielt den Augusta-Titel. Ihr offizieller Name lautete fortan Iulia Augusta. Sie war die erste Frau, welche die weibliche Form des Ehrennamens Augustus führte. Nach der Adoption wurde die politisch-gesellschaftliche Sonderstellung, die Livia bereits als „Kaisergattin“ besessen hatte, zusätzlich durch die Auszeichnung als „Kaisermutter“ des neuen Princeps Tiberius aufgewertet. Das entsprach ganz und gar der dynastischen Absicht des Augustus. Doch wurde dieser Sonderstatus nie institutionalisiert und mit politischem Einfluss ausgestattet. Kaiserin Livia und Kaiser Tiberius Andererseits hatte sie schon zu Lebzeiten des Augustus im Osten des römischen Reiches göttliche Verehrung erhalten, die nach dessen Tod und ihrer Erhebung zur Augusta auch im Westen immer mehr um sich zu greifen begann. So wurde sie in Antequaria (Anticaria) in der südspanischen Provinz Baetica als genetrix orbis (= Gebärerin des Erdkreises) kultisch verehrt. Livia tat alles, um durch Ehrungen das Ansehen des vergöttlichten Augustus zu stärken. Der griechische Historiker Cassius Dio spricht in diesem Kontext von ihr als einer Autokratrix („Selbstherrscherin“), indem er den lateinischen Kaisertitel Imperator in das weibliche Geschlecht umwandelt und ins Griechische überträgt. Pontius Pilatus, der Präfekt von Iudaea, in dessen Amtszeit bekanntlich Jesus gekreuzigt wurde, ließ noch in Livias Todesjahr Münzen prägen, auf deren Vorderseite die Umschrift Tiberius Caesar zu lesen war und auf der Rückseite analog für Livia: Iolia Kaisaros, „Iulia (des) Caesar“. Die Formulierung zeigt, dass Kaiserin Livia als gleichrangig mit Kaiser Tiberius eingeschätzt wurde. In der Tat drang Livia mit ihren Aktivitäten immer stärker aus dem privaten Bereich auch in den öffentlichen Raum vor. Den Höhepunkt ihrer Macht erreichte sie 22 n. Chr. Als Priesterin des Augustus weihte sie am 23. März jenes Jahres nach Auskunft des Festkalenders aus Praeneste beim Marcellustheater dem Divus Augustus ein Standbild: „Eine Statue für den vergöttlichten Augustus, den Vater, ließen Iulia Augusta und Ti(berius) Caesar am Theater des Marc[ellus] aufstellen.“ Der Eintrag in den Kalender beweist, dass es sich dabei nicht mehr um eine private Weihung handelte. Und er enthielt einen schweren Affront gegenüber Tiberius. Livia nutzte seine Abwesenheit von Rom aus und setzte ihren eigenen Namen vor den ihres Sohnes, des regierenden Princeps. Kein Wunder, dass Tiberius sehr verstimmt war; denn der Hierarchie des Kaiserhauses hätte jene Reihenfolge entsprochen, die ein Jahr später von den Städten der Provinz Asia korrekt eingehalten wurde. Sie beantragten durch ihren Provinziallandtag einen Tempel für Tiberius, seine Mutter (Livia) und die Gottheit des römischen Senats. Tiberius stimmte für diese Provinz seiner göttlichen Verehrung an erster und der seiner Mutter an zweiter Stelle zu. Im Jahr 25 n. Chr. beantragte der Provinziallandtag der spanischen Provinz Hispania ulterior beim Senat, nach dem Vorbild der Provinz Asia einen Tempel für Tiberius und seine Mutter errichten zu dürfen. Als darüber im Senat beraten wurde, lehnte Tiberius mit einer Grundsatzrede den Antrag der Spanier ab. Dies begründete der Kaiser damit, dass seine Zustimmung zur Errichtung eines Tempels für ihn in der Provinz Asia nach dem Vorbild des Augustus nur eine Ausnahme gewesen sei. Er gehe davon aus, dass zwar die einmalige Annahme solcher Ehren Verständnis gefunden habe, „sich aber in allen Provinzen in Standbildern der Götter verehren zu lassen, ehrgeizig und überheblich sei.“ Keinem Senator wird die Kritik entgangen sein, die Tiberius, ohne ihren Namen ausdrücklich zu erwähnen, an seiner Mutter übte: In ihrem „Ehrgeiz“ fördere sie die Tendenz, flächendeckend im ganzen römischen Reich als Göttin verehrt zu werden. Es drängt sich der Eindruck auf, dass Tiberius zahlreiche weitere Anträge, ihm einen Kult einzurichten, abschlägig beschied, weil sie auch Livia einschlossen. Jedenfalls lehnte er in seiner Antwort an die Stadt Gytheion/Achaia, die ihm und Livia Götterbilder und Altäre bereitstellen wollte, dies für seine Person ab und merkte gleichzeitig sarkastisch an, Livia werde sich selbst entscheiden und äußern. Als man vorschlug, der Monat September solle nach ihm in Tiberius und der Monat Oktober nach Livia in Livius umbenannt werden, lehnte Tiberius erneut ab, um nicht eine Gleichrangigkeit mit seiner Mutter akzeptieren zu müssen. Sein Argument, das er auch sonst ständig im Munde führte, war, dass man „die Ehrungen für Frauen maßvoll begrenzen müsse“. Das entsprach seiner Denkart, da er auch für seine Person übermäßige Ehren ablehnte. Die Mehrheit der Forscher interpretiert die Quellen dahin, dass die herrschsüchtige Livia eine unerträgliche Last für die Regierungszeit des Tiberius dargestellt habe. Doch übersehen die genannten Autoren, welch großen Vorteil Tiberius besonders in den ersten zehn Jahren seiner Regierungszeit, als sein Prinzipat noch nicht gefestigt war und den Führungswechsel überstehen musste, von dem Ansehen Livias und ihrem geschickten Umgang mit alten und neuen Freunden der kaiserlichen Klientel bezog. Da Schutz und die Hilfe des Patrons erst auf Bitten des Klienten aktiviert werden konnten, musste der Patron zugänglich sein, damit dieses System gegenseitiger Unterstützung funktionierte. Augustus hatte aus gutem Grund seinem Adoptivsohn, dessen menschenscheues und abweisendes Wesen ihm gut bekannt war, die populäre Livia zur Seite gestellt. Nur durch sie konnte das wichtige System der Binnenbeziehungen zwischen Menschen, Parteiungen und dem Kaiserhaus weiterhin aufrechterhalten und so der noch labile Prinzipat des Tiberius gefestigt werden. In zwei Stufen versuchte Tiberius die Macht seiner Mutter zu beschränken. Zunächst nahm er ihr „jeden Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten, überließ ihr jedoch die Leitung der häuslichen Geschäfte“, wie Cassius Dio berichtet. Spätestens seit 26 n. Chr., als sich Tiberius auf Dauer nach Capri zurückzog und den Prätorianerpräfekten Seian mit der Verwaltung des römischen Reiches betraute, begann die zweite Etappe von Livias Entmachtung: Indem sich Tiberius dem Einfluss seiner Mutter entzog, wurde auch ihre Macht schwer erschüttert. Sueton analysiert diese Strategie wie folgt: „Weil er sich durch seine Mutter Livia eingeengt fühlte, da sie seiner Ansicht nach einen gleich großen Anteil an der Machtausübung (potentia) beanspruchte, vermied er ein häufiges Zusammentreffen mit ihr und längere Gespräche unter vier Augen, damit es nicht so aussehe, als werde er durch ihre Ratschläge regiert“. Livias Tod 29 n. Chr. Als Livia drei Jahre später im Alter von 86 Jahren in Rom starb und im Augustusmausoleum beigesetzt wurde, weigerte sich Tiberius, Capri zu verlassen und an der öffentlichen Bestattung teilzunehmen. So tief ging der Bruch zwischen Mutter und Sohn, dass Tiberius sogar die offizielle Erhöhung Livias zur Gottheit, die der Senat vorgeschlagen hatte, verweigerte. Suetons Schilderung lässt sich kaum noch an Dramatik überbieten: „Jedenfalls hat er seine Mutter während der ganzen drei Jahre, die sie nach seinem Weggang noch lebte, nur einmal an einem Tag und auch da nur für sehr wenige Stunden gesehen. Als sie bald darauf erkrankte, machte er sich nicht die Mühe, sie zu besuchen. Und als sie dann gestorben war, nährte er die Hoffnung, er werde kommen, verbot dann aber, als ihr Leichnam, durch mehrtägige Verzögerung entstellt und in Verwesung übergegangen, schließlich beigesetzt worden war, ihre Erhebung zur Gottheit.“ Diva Augusta: Livias langer Weg zur Vergottung durch ihren Enkel Kaiser Claudius (17. Januar 42 n. Chr.) Erst Claudius, Enkel des Tiberius C. Nero und der Livia, dritter Kaiser nach Augustus, ließ ihr knapp ein Jahr nach seinem Herrschaftsantritt am 17. Januar 42 n. Chr. göttliche Ehren zuerkennen. Nur über seine Großmutter Livia war Claudius mit Augustus verbunden. Mit der offiziellen Vergottung Livias konnte er, der als erster Princeps nicht Sohn oder Enkel eines vergöttlichten Herrschers war, an der sakralen Weihe des Kaiserhauses Anteil gewinnen. Mit Absicht legte er daher den Termin für diesen Staatsakt auf den offiziellen Hochzeitstag von Livia und Augustus. Er ließ aus diesem Anlass Münzen prägen mit der Umschrift: Divus Augustus – Diva Augusta und stellte Livia damit dezidiert an die Seite ihres Gatten und ersten Kaisers. Dementsprechend lautete der offizielle Name des Tempels, in dem die Kultbilder des Kaiserpaares untergebracht waren, templum Divi Augusti und Divae Augustae („Tempel des vergöttlichten Augustus und der vergöttlichten Augusta“). Er ordnete ferner an, dass künftig der Opferdienst für sie durch die Vestalinnen verrichtet werden und die Frauen bei ihrem Namen schwören sollten. Livia wurde folglich mit der Göttin Vesta identifiziert, die sie bereits zu Lebzeiten auf einer Inschrift von Lampsakos verkörpert hatte. Außerdem wurden Livia am Tag ihrer Vergöttlichung als weitere Ehrung beim Circusumzug ein von Elefanten gezogener Wagen, so wie Augustus einen besaß, zugebilligt. Elefanten zu besitzen, war ein Vorrecht nur der Kaiser. Die Dickhäuter wurden dressiert und in einem Gehege zwischen Laurentum und Ardea gehalten. Sie wurden bei Triumphzügen und Circusspielen verwendet. Im vorliegenden Fall fuhren die Standbilder von Augustus und Livia auf einem von Elefanten gezogenen jeweils gleichartigen Wagen in den Circus. Zur Diva Augusta erhöht, hatte Livia postum die größtmögliche Ehrung erreicht und war ihrem ebenso vergotteten Gatten Augustus nunmehr völlig gleichgestellt. Als Göttin war Livia nicht mehr nur Tochter, Ehefrau oder Mutter, sondern erlangte endlich einen eigenen Status. Historische Bedeutung Livias Livia, die erste und bedeutendste Kaiserfrau im römischen Weltreich Als Livia Drusilla – vermutlich im Oktober 38 v. Chr. – den Triumvirn C. Caesar heiratete, trat sie aus dem Schatten der Zweitrangigkeit als Frau des Tiberius Claudius Nero. Als Gattin des nach Antonius zweitmächtigsten Mannes im Staat rückte sie ins Zentrum der militärischen und politischen Auseinandersetzungen jener Zeit. Der Aufstieg des jungen Caesar Oktavian vom Triumvirn zum Princeps und damit mächtigsten Mann des römischen Reiches war auch ihr eigener. Dass die Ehe 52 Jahre bis zum natürlichen Tode des Augustus halten sollte, ist für die damalige Zeit außergewöhnlich, denn in den aristokratischen Kreisen wurden Ehen meist nicht auf Lebenszeit geschlossen, sondern waren ein bewährtes Mittel, um kurzlebige politische Bündnisse personal abzusichern. Die lange Dauer der Ehe ist umso bemerkenswerter, als Livia Augustus' Wunsch nach einem Kind wegen einer mit schweren Komplikationen verbundenen Frühgeburt nicht erfüllen konnte. So muss bei allen politischen Motiven der Eheschließung auch gegenseitige Liebe und tiefer Respekt im Spiel gewesen sein. Zeitlebens war Livia auf ihren guten Ruf als Ehefrau und vorbildliche Mutter bedacht. Im Rahmen der augusteischen Propaganda der wiederhergestellten Republik wirkte sie seit 27 v. Chr. geradezu als lebende Inkarnation gesellschaftlicher und moralischer Erneuerung. Augustus würdigte diese Rolle durch Ehrungen, vor allem 9 v. Chr., und räumte ihr politischen Einfluss ein, denn er pflegte wichtige Fragen der Politik mit ihr zu besprechen und ihren Rat einzuholen. Wenn Kaiser Caligula später Livia Odysseus im Unterrock titulierte, so setzt das ein außergewöhnliches Maß an politischen und geistigen Fähigkeiten bei ihr voraus. Livia behielt auch in kritischen Situationen einen kühlen Kopf, wo Augustus bisweilen hitzig reagierte. Sie scheint ein reiner Verstandesmensch gewesen zu sein, was Kaiser Caligula, den Nachfolger des Tiberius, zu seinem bissigen Bonmot veranlasste. Antike Beurteilung Livia, Gattin des ersten römischen Kaisers Augustus und Mutter seines Nachfolgers Tiberius, war die erste und wohl bedeutendste Kaiserin Roms. Dennoch haben die antiken Autoren von keiner anderen Frau aus den Familien der aristokratischen Elite Roms ein so widersprüchliches und zwiespältiges Bild gezeichnet wie von ihr: Das Urteil schwankt zwischen zwei Polen, die gegensätzlicher nicht sein können: Skrupellose Intrigantin und Machtpolitikerin, die auch vor Giftmord nicht zurückschreckt. Oder: Verkörperung des Ideals der vorbildlichen Gattin und stets um das Wohl ihrer leiblichen Kinder wie Stiefkinder bemühten (Stief-)Mutter. Das negative Bild geht vor allem auf den Geschichtsschreiber Cornelius Tacitus zurück, der auch dem Prinzipat des Augustus kritisch gegenüberstand (siehe auch Senatorische Geschichtsschreibung). Es findet sich in Spuren aber auch bei Cassius Dio und dem römischen Kaiserbiographen Gaius Suetonius Tranquillus. Das positive Urteil über Livias Leben vermitteln vor allem die Quellen der augusteischen Zeit. Es wirkt bruchstückhaft noch in die spätere Überlieferung des Cassius Dio und Sueton hinein. Forschungsgeschichte Durch die ambivalente Quellenlage pendeln die Urteile der modernen Forschung über Livia im gleichen Maße zwischen diesen beiden Polen: So reihte sie der Sachbuchautor Helmut Werner in seinem Werk: Tyranninnen. Grausame Frauen der Weltgeschichte 2005 in die Galerie jener Frauengestalten ein, die durch ihre Blutrünstigkeit und Machtbesessenheit Geschichte schrieben. Zur gleichen Zeit hat der Dramatiker Rolf Hochhuth in seiner historischen Erzählung: Livia und Julia. Demontage der Geschichtsschreibung Livia als (Gift-)Mörderin an sieben potentiellen Nachfolgern ihres Gatten zu entlarven versucht. Sie habe nie das Ziel aus den Augen verloren, ihren nach dem Tod des Drusus nunmehr einzigen leiblichen Sohn Tiberius gegen die leiblichen Erben des Augustus als Nachfolger durchzusetzen. Hochhuth machte Octavian statt Claudius Nero zum Vater von Livias zweitem Sohn Drusus und folgerte: Livia habe sich mit ihrem ersten Ehemann Claudius Nero abgesprochen, sich zu Octavian ins Bett zu legen und von ihm schwängern zu lassen; denn sie hätten konspirativ den Plan gefasst, an „Octavian Rache zu nehmen, an den Mördern ihres Vaters, indem sie dessen Enkel Tiberius an den Enkeln des Kaisers vorbei den Weg zum Thron freimacht....frei mordet“. Nach Hochhuth war Livia der düstere Racheengel ihres Ehemanns Claudius Nero – dazu ausersehen, die leiblichen Erben des Augustus zu vernichten. Zu der Verbreitung der negativen Beurteilung trug Robert Graves in seiner fiktiven Autobiographie des Kaisers Claudius bei. Graves hat die Charakteristik Livias für mehrere Generationen regelrecht auf die Rolle der Giftmörderin und vom Ehrgeiz zerfressenen Potentatin zementiert, in deren Händen die wahre Macht der res publica restituta zusammenläuft: „Augustus herrschte über die Welt, aber Livia herrschte über Augustus.“ In die gleiche Richtung weist das negative Urteil von Golo Mann. Er charakterisierte sie als „die ewige Stiefmutter, den Blick auf ihren großen Hätschelhans Tiberius gerichtet, ohne Liebe und Gnade für ihre Stiefkinder.“ Der renommierte englische Althistoriker Sir Ronald Syme übertrug in seinen Standardwerk zur Römischen Revolution seine fast schon persönliche Abneigung gegen den ersten Princeps auf dessen dritte Ehefrau und degradierte sie zu einer befehlsgewohnten Karrieremacherin, die mit Hilfe einer eng gefassten Clique den Staat regiert und deren ehrbares öffentliches Auftreten in größtmöglichem Widerspruch zu ihren geheimen Aktivitäten gestanden haben soll. Vor dieser furchteinflößenden Frau gab es für Augustus kein Entkommen, so der englische Althistoriker. Syme lieferte bei seiner Einschätzung wohl die einprägsamste Analyse der Verbindung zwischen Livia und Octavian im Jahr 39 v. Chr. „Die Ehe mit Livia Drusilla war ein politisches Bündnis mit den Claudiern, wenn auch nicht dies allein. Die kalte Schönheit mit den schmalen Lippen, der dünnen Nase und dem entschlossenen Blick hatte in vollem Maße die politischen Fähigkeiten zweier Häuser geerbt, der Claudii und der Livii, die in Rom über Macht aus eigenem Recht verfügten. Sie beutete ihre Klugheit zu ihrem eigenen und ihrer Familie Vorteil aus. Augustus unterließ es nie, ihren Rat in Staatsgeschäften einzuholen. Es lohnte sich, ihn zu haben, und sie verriet nie ein Geheimnis.“ Anderseits wurden schon früh günstige Urteile über Livia gefällt. Ein positives Liviabild entwickelte bereits Joseph Aschbach 1864: „Livia wußte sich allmählich mit dem ganzen Geiste seiner (Augustus’) Politik und Regierung so innig vertraut zu machen, dass er in ihr den lebendigen Ausdruck von dem, was er selbst wollte und erstrebte, erkannte und der geistige Verkehr mit ihr ihm unentbehrlich ward.“ Im gleichen Tenor urteilte Jochen Bleicken in seiner Augustusbiographie von 1998, wenn er Livia als mustergültige Ehefrau und Mutter ihrer eigenen und der ihr anvertrauten fremden Kinder charakterisiert und wörtlich fortfährt: „Sie hatte dieselbe Fähigkeit zur Durchsetzung und dieselbe Konsequenz in der Praxis des Alltagslebens wie Augustus in der Politik … Augustus und Livia scheinen als Ehepartner in einer über 50jährigen Ehe durch gegenseitige Achtung und Anpassung einander ähnlicher geworden zu sein. Wir wissen von keinem schweren Zerwürfnis, wozu gewiß nicht zuletzt die sittenstrenge Haltung Livias beigetragen hat, die sich nicht erlaubte, was sie dem Gatten nachsah.“ Angesichts dieser widersprüchlichen Quellenlage und der davon abhängigen Rezeption in der Moderne ist es unmöglich, eine Biographie Livias zu schreiben, die der Wirklichkeit entspricht. Es fehlen völlig Selbstzeugnisse Livias, die einen Einblick in ihre eigene Gedankenwelt geben und es gestatten würden, neben der äußeren Geschichte ihrer politischen und gesellschaftlichen Rolle auch ihre innere geistige und moralische Entwicklung zu berücksichtigen. Fast das gesamte Material über Livia stammt aus historiographischen Texten, die von Männern verfasst wurden und ganz unterschiedliche Konzepte über das Ideal weiblichen Lebens und die öffentliche Rolle von Frauen widerspiegeln. Oftmals zielen ihre Darstellungen über Livia gar nicht wirklich auf sie als Frau, sondern benutzen sie als Medium, um indirekt über den Princeps und den Prinzipat ein Urteil zu fällen. Es ist daher äußerst schwer, Realität und Fiktion voneinander zu trennen. Zuletzt hat daher die Alt- und Kulturhistorikerin Christiane Kunst in der neuesten Biographie zu Livia von 2008 „Das Leben der öffentlich sichtbaren oder, anders gesagt, der für die Öffentlichkeit sichtbar gemachten Person fast ausnahmslos als Livias Leben“ dargestellt. Mit Verweis auf die schwierige Quellensituation und -armut schreibt Kunst eine Geschichte Livias eingebettet in eine kulturgeschichtliche Analyse des Frauenbildes dieser Epoche. Ursachen für Livias „gebrochene“ Biographie in den antiken Quellen und in der modernen Rezeption Das positive Urteil über Livia, das die zeitgenössische Überlieferung prägte, schlug in der nachaugusteischen Geschichtsschreibung, vor allem bei Tacitus, in das entgegengesetzte Bild einer skrupellosen Machtpolitikerin und Giftmörderin um. Das Fascinosum dieser Frauengestalt reicht bis in die moderne Gegenwart. Es wurde 1973 von Golo Mann, 2005 von Helmut Werner und dem Dramatiker Rolf Hochhuth rezipiert. Zu den Tatsachen von großer historischer Bedeutung gehört, dass Livia bis zu ihrem Tod 29 n. Chr. im Zentrum der Macht des römischen Reiches stand: die ersten Jahre als Ehefrau des Triumvirn Octavian, dann an der Seite des 30 v. Chr. zur Alleinherrschaft gelangten Princeps Augustus und schließlich als Mutter des zweiten Herrschers, ihres Sohnes Tiberius. Es waren ihre direkten Nachkommen, die sämtliche Herrscher der julisch-claudischen Dynastie stellten und zum Teil noch in ihrem Haushalt aufgewachsen waren. Einer von ihnen, ihr Enkel Claudius und vierter Princeps, ließ sie zur Göttin erheben, um auf diese Weise seine Verbundenheit mit dem ebenfalls vergöttlichten Augustus zum Ausdruck zu bringen und seine Herrschaft dynastisch zu legitimieren. Augustus war der Schöpfer des Prinzipats, der die Alleinherrschaft eines alle anderen an Charisma und sozialer Ansehensmacht überragenden Princeps mit republikanischen Traditionen und Rechtsformen verband. Die Koppelung von Tradition und Innovation sollte den Prinzipat den alten aristokratischen Eliten und dem Volk erträglich machen. Das war ein langfristiges Vorhaben, das auch nach dem Tod des Augustus 14 n. Chr. noch nicht abgeschlossen war. Livia stand während ihrer ganzen Ehe mit Augustus im Zentrum dieser politischen Entwicklung. An ihrer Person entwickelte sich die Definition der künftigen Rolle der Kaisergattin in Rom. Nach dem Tod des Augustus trat sie als Mutter des Nachfolgers für 15 Jahre noch stärker ins Rampenlicht der Politik. Den Höhepunkt ihrer Macht erreichte sie um 22 n. Chr. Das führte in den folgenden Jahren bis zu ihrem Tod zu Konflikten zwischen Mutter und Sohn, nicht zuletzt, weil auch die Position der Kaiserwitwe und Kaisermutter im frühen Prinzipat noch nicht geklärt war. Das war alles in allem ein äußerst brisantes politisches Problem; denn in der Verfassungswirklichkeit war der Prinzipat eine Militärmonarchie, in der Verfassungsform und Rechtstheorie aber beharrten Augustus und auch Tiberius darauf, dass die Republik wiederhergestellt sei. Da war kein Platz für die Existenz einer Kaiserin, weder in Gestalt der Kaisergattin noch jener der Kaisermutter; denn beide Funktionen hätten den dynastisch-monarchischen Charakter des Prinzipats enthüllt. In krassem Gegensatz zu dieser offiziellen Politik, die faktische Position des Herrschers hinter einer republikanischen Fassade zu verhüllen, stand nun das Bemühen des Augustus, seinem Prinzipat dennoch eine dynastische Erbfolge zu implantieren. Man kann an den öffentlichen Ehrenbeschlüssen des Augustus für seine Frau einen wichtigen Tatbestand ablesen: Livias staatspolitische Bedeutung stieg in dem Maße, in dem es immer wahrscheinlicher wurde, dass der älteren claudischen Linie, die keine Blutsverwandtschaft mit Augustus für sich beanspruchen konnte, die Nachfolge im Prinzipat zufallen würde. So bestand Livias alle anderen Frauen überragende politische Funktion in Propaganda und Selbstdarstellung des frühen Prinzipats vor allem darin, dass sie die dynastische Legitimation des neuen Herrschaftssystems verkörperte. In den Ehrungen der Jahre 35 v. Chr. und vor allem 9 v. Chr. honorierte Augustus einerseits Livias Verdienste, weil sie ganz im Sinne seiner Sitten- und Ehegesetzgebung das republikanische Ideal der altrömischen aristokratischen Ehefrau und Mutter vorlebte. Wenn er aber im gleichen Jahr die Ara Pacis und das Solarium Augusti im Nordteil des Campus Martius am Geburtstag Livias, dem 30. Januar, weihte, so galt diese Ehrung Livia als Trägerin der dynastischen Legitimation der Monarchie. Livia als lebende Inkarnation traditioneller Werte und Moralvorstellungen der wiederhergestellten Republik und die gleiche Livia als Verkörperung dynastisch-monarchischer Bestrebungen – das enthüllt den unauflösbaren Widerspruch ihrer öffentlichen Position und musste zwangsläufig zu einer „gebrochenen“ Biographie führen; denn je größer vor allem in der Zeit nach dem Tod des Augustus ihre Bedeutung als Trägerin der dynastische Legitimation eines monarchischen Systems wurde, umso mehr wurde sie Zielscheibe der antimonarchischen Geschichtsschreibung und als machtbesessene Intrigantin und Giftmörderin diffamiert. Nach dem Grundsatz: Viel Feind, viel Ehr bestätigt das negative Liviabild der nachaugusteischen Geschichtsschreibung eher das positive der augusteischen Zeit anstatt es zu widerlegen: Livia war und bleibt die erste und bedeutendste aller römischen Kaiserinnen. Ihre bis heute auch in zahlreichen Statuen, Münzen und Inschriften nachwirkende weltgeschichtliche Bedeutung besteht darin, dass sie dem frühen Prinzipat auch ein weibliches Gesicht verlieh und einen wesentlichen Beitrag zur Festigung des von Augustus begründeten Prinzipats leistete. Quellen Cassius Dio: Römische Geschichte. Übersetzt von Otto Veh, Artemis-Verlag, Zürich 1985, (englische Übersetzung) Helmut Freis (Hrsg. und Übers.): Historische Inschriften zur römischen Kaiserzeit von Augustus bis Konstantin, I. Inschriften aus der Zeit der julisch-claudischen Dynastie a) Historische Ereignisse. 2. Feiertage des Kaiserhauses, Fasti Praenestini. 2. durchgesehene Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994, ISBN 3-534-08586-8 (Texte zur Forschung Band 49). Gaius Plinius Secundus: Naturkunde: lateinisch – deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Joachim Hopp und Wolfgang Glöckner. 37 Bände. Zürich u. a. 1990–2004, ISBN 3-7608-1618-5. 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Kalevala
Das Kalevala [] ist ein von Elias Lönnrot im 19. Jahrhundert auf der Grundlage von mündlich überlieferter finnischer Mythologie zusammengestelltes Epos. Es gilt als finnisches Nationalepos und zählt so zu den wichtigsten literarischen Werken in finnischer Sprache. Das Kalevala trug maßgeblich zur Entwicklung des finnischen Nationalbewusstseins bei und hat auch über Finnland hinaus Wirkung entfaltet. Die erste Fassung des Werkes erschien im Jahr 1835. Der Titel ist abgeleitet von Kaleva, dem Namen des Urvaters des besungenen Helden, und bedeutet so viel wie „das Land Kalevas“. Der Standardtext des Kalevala besteht aus 22.795 Versen, die in fünfzig Gesängen vorgestellt werden. Inhalt Überblick Das Kalevala ist eine Zusammenstellung verschiedener Überlieferungen und gibt ein breites Spektrum von Heldensagen und Mythen wieder. Der hauptsächliche Erzählstrang handelt zunächst vom Werben um die Tochter von Louhi, der Herrscherin des Nordlandes (Pohjola), und ist eingebettet in einen Konflikt zwischen dem Volk von Kalevala und dem von Pohjola um den Sampo, einen mythischen Gegenstand, der seinem Besitzer Wohlstand zu verschaffen verspricht. Pohjola kann mit Teilen von Lappland identifiziert werden. Für den Sampo, ein magisches Gerät, das Gold, Getreide und Salz herstellt, sind unterschiedliche Interpretationen vorgeschlagen worden. Daneben gibt es mehrere weitere Handlungsstränge, zum Beispiel die Sage von Kullervo, der unwissend seine eigene Schwester verführt, oder die christliche Legende von Marjatta, also der Jungfrau Maria. Zu den Überlieferungen im Kalevala gehören auch ein Mythos zur Schöpfung der Erde und weitere andere Entstehungsmythen, so der des Eisens. Der wichtigste Protagonist des Kalevala ist der alte und weise Sänger Väinämöinen. In ihm verbinden sich die Züge eines Sagenhelden, eines Schamanen und einer mythischen Gottheit. Andere zentrale Figuren sind der Schmied Ilmarinen und der streitbare Frauenheld Lemminkäinen. Manche Inhalte des Kalevala weisen Parallelen zu Mythen aus anderen Kulturräumen auf. So erinnert Kullervo an den griechischen Ödipus-Mythos. Die Geschichte des von seiner Mutter aus dem Fluss des Todes zurück ins Leben erweckten Lemminkäinen zeigt starke Parallelen zum ägyptischen Osiris-Mythos. Das Kalevala unterscheidet sich von anderen Sagenzyklen durch seine auf das einfache Volk gerichtete Perspektive. Auch zeichnen sich die Helden des Kalevala weniger durch kriegerisches Geschick als durch Wissen und Sangeskunst aus. Inhalt nach Gesängen Erster Väinämöinen-Zyklus 1. bis 2. Gesang: Das Kalevala beginnt mit den Anfangsworten des Dichters. Es folgt ein Schöpfungsmythos, in dem geschildert wird, wie die Welt aus dem Ei einer Tauchente entsteht, nachdem Ilmatar dieses zerbricht. Außerdem gebiert Ilmatar Väinämöinen. 3. bis 5. Gesang: Um sein Leben nach einem verlorenen Sangeswettkampf zu retten, verspricht Joukahainen Väinämöinen seine Schwester Aino als Frau. Aino, die sich von dem alten Mann abgestoßen fühlt, wehrt Väinämöinens Annäherungsversuche ab und ertränkt sich. 6. bis 10. Gesang: Väinämöinen reist ins Nordland (Pohjola), mit der Absicht, um die Nordlandstochter zu werben. Unterwegs erschießt Joukahainen aus Rache Väinämöinens Pferd und dieser stürzt ins Meer. Dort rettet ihn ein Adler und trägt ihn ins Nordland. Um nach Hause zu kommen, verspricht Väinämöinen Louhi, der Herrscherin des Nordlandes, der Schmied Ilmarinen werde ihr den Sampo schmieden. Als Belohnung wird dem Schmied die Nordlandstochter versprochen. Nach seiner Heimkehr zaubert Väinämöinen Ilmarinen ins Nordland, wo er den Sampo schmiedet, aber er muss ohne die versprochene Braut zurückkehren. Erster Lemminkäinen-Zyklus 11. bis 15. Gesang: Lemminkäinen raubt Kyllikki von „der Insel“ (Saari) als seine Braut. Er verlässt Kyllikki, reist ins Nordland und bittet Louhi um die Hand ihrer Tochter, worauf diese ihm drei Aufgaben aufträgt. Nachdem er den Elch von Hiisi erlegt und den Hengst von Hiisi aufgezäumt hat, soll er den Schwan auf dem Fluss des Totenreichs Tuonela erschießen. Am Fluss tötet ihn ein Hirte und wirft den zerstückelten Leichnam in den Fluss. Lemminkäinens Mutter erfährt durch ein Zeichen vom Tod ihres Sohnes, fischt die Stücke seines Körpers mit einer Harke aus dem Fluss und erweckt ihn wieder zum Leben. Zweiter Väinämöinen-Zyklus 16. bis 25. Gesang: Väinämöinen beginnt mit dem Bau eines Bootes, um ins Nordland zu segeln und erneut die Nordlandstochter zu freien. Auf der Suche nach den dafür erforderlichen Zaubersprüchen besucht er erfolglos das Totenreich und erfährt sie schließlich im Bauch des toten Riesen und Zauberers Antero Vipunen. Ilmarinen erfährt durch seine Schwester Annikki von Väinämöinens Plänen und reist ebenfalls ins Nordland. Die Nordlandtochter wählt Ilmarinen. Ilmarinen besteht mit ihrer Hilfe die ihm gestellten übernatürlichen Aufgaben: er pflügt den Schlangenacker, fängt den Bären von Tuoni, den Wolf von Manala und den großen Hecht im Fluss des Totenreiches. Ilmarinen heiratet die Nordlandtochter. Zweiter Lemminkäinen-Zyklus 26. bis 30. Gesang: Lemminkäinen ist erbost darüber, dass er nicht auf die Hochzeit eingeladen wurde, und reist ins Nordland, wo er den Herrn des Nordlandes tötet. Er muss fliehen und versteckt sich auf der Insel, wo er sich mit den Frauen vergnügt, bis die eifersüchtigen Männer ihn vertreiben. Bei seiner Heimkehr findet er sein Haus niedergebrannt vor. Er begibt sich auf einen Rachezug ins Nordland, muss aber unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehren. Kullervo-Zyklus 31. bis 36. Gesang: Untamo besiegt nach einem Streit seinen Bruder Kalervo und tötet dessen ganzes Geschlecht außer einer schwangeren Frau, die Kullervo gebiert. Untamo verkauft Kullervo als Sklaven an Ilmarinen. Ilmarinens Frau lässt ihn als Hirten arbeiten und behandelt ihn schlecht. Aus Rache treibt Kullervo die Kühe in den Sumpf und stattdessen eine Herde Raubtiere nach Hause. Ilmarinens Frau wird von den wilden Tieren getötet. Kullervo flieht aus dem Haus des Ilmarinen und findet seine totgeglaubten Eltern. Ohne sie zu erkennen, verführt er unwissentlich seine Schwester. Als sie das erfährt, ertränkt sich die Schwester in einer Stromschnelle. Kullervo zieht zum Haus des Untamo, um Rache zu nehmen. Er tötet dort alle und kehrt nach Hause zurück, wo keiner mehr am Leben ist. Kullervo begeht Suizid, indem er sich in sein Schwert stürzt. Ilmarinen-Zyklus 37. bis 38. Gesang: Ilmarinen trauert um seine tote Frau und schmiedet sich eine neue Frau aus Gold. Die goldene Braut ist aber kalt und Ilmarinen verwirft sie wieder. Darauf wirbt er erfolglos um die jüngere Tochter des Nordlands. Nach seiner Heimkehr erzählt er Väinämöinen über den Wohlstand, den der Sampo den Menschen im Nordland verschafft. Dritter Väinämöinen-Zyklus 39. bis 43. Gesang: Väinämöinen, Ilmarinen und Lemminkäinen segeln nach Nordland, um den Sampo zu rauben. Auf der Reise tötet Väinämöinen einen riesigen Hecht und baut aus seinem Kiefer eine Kantele. Mit seinem Kantelespiel schläfert er die Nordländer ein. Väinämöinen und seine Gefährten fliehen mit dem Sampo. Nachdem sie erwacht ist, verwandelt sich Louhi in einen Riesenadler und macht sich mit ihrem Heer zur Verfolgung auf. Beim Kampf zerbricht der Sampo. 44. bis 49. Gesang: Louhi schickt Krankheiten und einen Bären nach Kalevala; sie versteckt die Sterne und raubt das Feuer. Väinämöinen und Ilmarinen erlangen die Sterne und das Feuer wieder zurück. Marjatta-Zyklus 50. Gesang: In einer Abwandlung des Neuen Testaments wird geschildert, wie Marjatta (Maria) von einer Preiselbeere schwanger wird. Väinämöinen verurteilt das vaterlose Kind zum Tode, aber das Kind setzt sich gegen Väinämöinen durch und wird zum König von Karelien. Väinämöinen reist mit seinem Boot ab. Das Epos endet mit den Schlussworten des Dichters. Sprache und Stil Versmaß Das im Kalevala verwendete Versmaß fand bei allen Arten der finnischen Volksdichtung sowie bei Sprichwörtern u. Ä. Verwendung. Heute wird es gemeinhin als Kalevala-Versmaß bezeichnet. Ähnliche Versmaße findet man bei den Esten und anderen ostseefinnischen Völkern. Man geht davon aus, dass es über 2.000 Jahre alt ist. Seit Veröffentlichung des Kalevala kommt bis heute das Kalevala-Versmaß auch in der finnischen Kunstdichtung zum Einsatz. Das Kalevala-Versmaß unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von den Versmaßen der indogermanischen Sprachen. Es handelt sich um einen trochäischen Vierheber, d. h. jeder Vers besteht aus vier Trochäen, also insgesamt acht Silben. Dabei wird ein Trochäus als Abfolge von Hebung und Senkung aufgefasst. Die Grundregel des Kalevala-Versmaßes besagt Folgendes: Die Anfangssilbe eines Wortes muss lang sein, wenn sie in der Hebung eines Versfußes steht. Im Beispielvers sind die betreffenden Silben unterstrichen: Vaka | vanha | Väinä|möinen In der Senkung muss die Anfangssilbe eines Wortes kurz sein. tietä|jä i|än i|kuinen Ergänzend gelten vier Zusatzregeln: Im ersten Versfuß ist die Länge der Silben frei. Er kann auch manchmal (in rund 3 % der Verse des Kalevala) aus drei oder selten sogar vier Silben bestehen. Ein einsilbiges Wort darf nicht am Ende eines Verses vorkommen. Ein viersilbiges Wort darf nicht in der Mitte eines Verses stehen. (Gilt nicht für zusammengesetzte Wörter.) Die letzte Silbe eines Verses darf keinen langen Vokal enthalten. Die Verse teilt man in „normale“ Verse, in denen die Wortbetonungen (die im Finnischen stets auf der Anfangssilbe eines Wortes liegen) und Vershebungen zusammenfallen, und „gebrochene“ Verse, bei denen mindestens eine betonte Silbe in einer Senkung steht. Etwa die Hälfte der Kalevala-Verse sind gebrochen. Dieser Kontrapunkt zwischen Wort- und Versrhythmus ist charakteristisch für das Kalevala-Versmaß. Normale Verse weisen eine Mittelzäsur auf. Lange Wörter tendieren dazu, am Ende des Verses zu stehen. Bei der Übertragung des Kalevala ins Deutsche oder andere Akzentsprachen wird das auf Längen und Kürzen beruhende System durch ein akzentuierendes Versmaß ersetzt. Dabei besteht ein Trochäus aus einer Folge von einer betonten und einer unbetonten Silbe (Beispiel: Väinä|möinen | alt und | weise || er, der | ew'ge | Zauber|sprecher.) Stilmittel Die beiden wichtigsten Stilmittel des Kalevala sind Alliteration (Stabreim) und Parallelismus. Beide entstanden aus der Notwendigkeit, die mündlich übermittelte Dichtung leicht erinnerbar zu machen. Alliteration bedeutet, dass zwei oder mehr Wörter eines Verses mit demselben Laut anfangen (Beispiel Vaka vanha Väinämöinen „Väinämöinen alt und weise“). Man unterscheidet „schwache“ Alliteration, bei der zwei Wörter mit demselben Konsonanten oder beide mit einem Vokal anlauten, und „starke“ Alliteration, bei der zwei Wörter mit derselben Folge von Konsonant und Vokal oder mit demselben Vokal beginnen. Dieses Stilmittel kommt im Kalevala äußerst oft vor: Über die Hälfte der Verse weist eine starke, rund ein Fünftel eine schwache Alliteration auf. Endreime gibt es dagegen nicht. Der Parallelismus kann in verschiedenen Formen auftreten. Meist wird der Inhalt eines vorangegangenen Verses im Nachvers mit anderen Worten wiederholt. Dabei hat jedes Wort des Nachverses eine Entsprechung im vorangehenden Vers. Diese Entsprechung kann synonym (gleichbedeutend), analog (gleichartig) oder auch antithetisch (gegensätzlich) sein. Der Parallelismus kann auch innerhalb eines Verses vorkommen, teils umfasst er aber auch längere, nach demselben Schema aufgebaute Passagen. Im Kalevala kommt der Parallelismus in noch größerem Maße zum Einsatz als in der Volksdichtung, was wohl mit Elias Lönnrots Wunsch zusammenhängt, einen möglichst großen Teil des von ihm gesammelten Materials zu verwerten. Beispiele für den Parallelismus: Lähe miekan mittelöhön, / käypä kalvan katselohon „Lass die Schwerter uns beschauen, / lass uns jetzt die Klingen messen“ (synonym) Kulki kuusisna hakona, / petäjäisnä pehkiönä „Wandert wie ein Zweig der Fichte, / treibt wie dürres Reis der Tanne“ (analog) Siitä läksi, ei totellut „Gehet dennoch, nichts beachtend“ (antithetisch) Textbeispiel Anfangsverse des Kalevala (1:1–9) Werkgeschichte Das Kalevala geht auf die uralte mündlich tradierte finnische Volksdichtung zurück. Die Zusammenstellung der Lieder zu einem zusammenhängenden Epos stammt jedoch aus dem 19. Jahrhundert und ist ein Kunstprodukt von Elias Lönnrot. Lönnrot selbst war ausgehend von Friedrich August Wolfs Theorie zur Homerischen Frage von der (inzwischen obsoleten) Ansicht überzeugt, dass die vielen Einzellieder, die er auf seinen Reisen in Karelien aufgezeichnet hatte, einst ein zusammenhängendes Epos gebildet hatten, das es zu rekonstruieren gelte. Er fügte die von ihm gesammelten Lieder zusammen und veränderte teilweise die Zusammenhänge, um sie zu einer logischen Handlung zu verknüpfen. 33 % der Verse des Kalevala sind wörtlich aus den gesammelten Aufzeichnungen übernommen, 50 % sind geringfügig von Lönnrot bearbeitet, 14 % der Verse schrieb er selbst analog zu vorhandenen Versen und 3 % erfand er frei. Insgesamt kann man das Kalevala als sein magnum opus bezeichnen. Finnische Volksdichtung Die gemeinsame Tradition der mündlich überlieferten Volksdichtung findet sich im gesamten ostseefinnischen Sprachraum, also in Finnland, Karelien, Estland und dem Ingermanland. Man geht davon aus, dass diese Art der Dichtung bereits vor 2500 bis 3000 Jahren entstand. Die „Runen“ (finnisch runo) genannten Lieder wurden nach bestimmten, recht einfachen Melodien gesungen, teilweise begleitet von einer Kantele. In Gegenden, in denen die Tradition der Volksdichtung noch lebendig war, kannte die Mehrzahl der Menschen zumindest einige Lieder. Daneben gab es wandernde Runensänger, die ein großes Repertoire an Runen auswendig vortragen konnten. Die Volksdichtung war bis ins 16. Jahrhundert in ganz Finnland verbreitet. Nach der Reformation verbot die lutherische Kirche die „heidnischen“ Runen, und die Tradition versiegte nach und nach in West- und Mittelfinnland. Im orthodoxen, zu Russland gehörigen Ostkarelien konnte sich die Volksdichtung länger halten. Die Tradition blieb bis ins frühe 20. Jahrhundert lebendig, heute gibt es nur noch wenige alte Menschen, die die alten Lieder beherrschen. Die finnische Volksdichtung wird in drei Hauptzweige eingeteilt: Epik, Lyrik und Beschwörungen. Die Epik umfasst unterschiedlich alte Schichten. Die älteste Schicht sind mythische Runen, die etwa die Schöpfung der Erde behandeln. Entstehungsmythen wie die Entstehung des Eisens haben ihren Ursprung im Schamanismus der vorchristlichen Periode, d. h. der Zeit vor dem 12. Jahrhundert. Während des Mittelalters entstand die Heldendichtung und Balladen sowie – nach der Bekehrung der Finnen – Legenden mit christlicher Thematik. In späterer Zeit behandelten die Epen historische Ereignisse wie den Mord am Bischof Heinrich von Uppsala, der als Schutzpatron Finnlands Kernbestandteil der finnischen Nationalmythologie ist, oder die Kriege zwischen dem Schwedischen Reich und Russland. Zur Lyrik gehören Runen zu besonderen Anlässen (z. B. Hochzeit, Erlegung eines Bären), Lieder, die im Alltag (z. B. bei der Feldarbeit) gesungen wurden, Liebeslyrik und Elegien. Die Beschwörungslieder stammen aus der vorchristlichen Magie. Durch Zaubersprüche versuchte man etwa die Heilung von Krankheiten oder Jagdglück zu beschwören. Die Handlung des Kalevala beruht auf einer Zusammenstellung verschiedener epischer Themen, daneben sind an passenden Stellen lyrische oder magische Runen eingearbeitet. Entstehung des Epos Bereits im 17. Jahrhundert waren vereinzelte Lieder aufgezeichnet worden, aber ein wirkliches wissenschaftliches Interesse an der finnischen Volksdichtung entstand erst Ende des 18. Jahrhunderts. Unter anderem Henrik Gabriel Porthan, der bedeutendste finnische Humanist seiner Zeit, zeichnete Volkslieder auf und veröffentlichte 1766–1778 das Werk De Poësi Fennica („Über die finnische Dichtung“). Den Gedanken, aus den aufgezeichneten Runen ein Epos nach dem Vorbild der Ilias und Odyssee oder dem Nibelungenlied zu schaffen, formulierte 1817 als Erster der Fennomane Carl Axel Gottlund (ähnlich schon 1808 August Thieme). Die Erfüllung dieser Aufgabe sollte schließlich dem Philologen und Arzt Elias Lönnrot zukommen. Zwischen den Jahren 1828 und 1844 unternahm er insgesamt elf Reisen hauptsächlich nach Karelien, um Quellenmaterial zu sammeln. Dabei zeichnete er große Mengen an Material von Runensängern wie Arhippa Perttunen auf. Die Dörfer, die Lönnrot besuchte, (u. a. das 1963 in Kalewala umbenannte Uchta (Uhtua) sowie Woknawolok (Vuokkiniemi) und Ladwaosero (Latvajärvi)) gehörten damals wie heute zu Russland. 1834 veröffentlichte Lönnrot anhand des von ihm gesammelten Materials das aus 5052 Versen bestehende Runokokous Väinämöisestä („Runensammlung über Väinämöinen“), eine Art „Proto-Kalevala“. Es markiert einen Wendepunkt in Lönnrots Werk. Während er sich zuvor wissenschaftlich-textkritisch mit dem Material auseinandergesetzt hatte, stand nun erstmals die künstlerische Intention im Vordergrund. 1835–1836 veröffentlichte Elias Lönnrot die sogenannte „Alte Kalevala“, die 32 Runen mit 12.078 Versen umfasste. Die durch zahlreiches Material ergänzte, mit 50 Runen und 22.795 Versen fast doppelt so lange „Neue Kalevala“ erschien im Jahre 1849 und gilt heute als Standardtext. Als „Schwesterwerk“ des Kalevala gilt die Gedichtssammlung Kanteletar. Sie wurde 1840 von Elias Lönnrot auf Grundlage desselben Quellenmaterials veröffentlicht, aus dem er auch das Kalevala zusammengestellt hatte. Ausgaben Die erste Version von Lönnrots Kalevala erschien 1835–1836 in zwei Bänden unter dem Titel Kalewala, taikka Wanhoja Karjalan Runoja Suomen kansan muinoisista ajoista („Kalevala, oder alte Runen Kareliens über altertümliche Zeiten des finnischen Volkes“). Als „Geburtstag“ des Epos gilt der 28. Februar 1835, der Tag, an dem Elias Lönnrot das Vorwort des ersten Bandes unterzeichnete. Am 28. Februar wird heute in Finnland der Kalevala-Tag gefeiert. Das „neue Kalevala“ erschien 1849 mit dem schlichten Titel Kalevala. Seitdem ist das Epos in dutzenden verschiedenen finnischsprachigen Ausgaben erschienen. Daneben wurden zahlreiche Kurzfassungen, Versionen für den Schulunterricht, Prosa-Nacherzählungen und Adaptionen für Kinder herausgegeben. Das Kalevala ist in 51 Sprachen, darunter auch Plattdeutsch, Latein und so exotische wie Fulani, übersetzt worden. Bedeutung Als nationales Symbol Die Bedeutung, die das Kalevala für die finnische Kultur und das Nationalgefühl der Finnen gehabt hat, ist ungleich größer als bei den meisten anderen Nationalepen. Die politische Dimension des Kalevala wird teils so hoch eingeschätzt, dass behauptet wird, Finnland sei gerade durch das Kalevala zu einer selbstständigen Nation geworden. Zum Erscheinungszeitpunkt des Kalevala war in Finnland, angefacht durch die in Europa aufgekommene Idee des Nationalismus, eine neue finnische Identität im Entstehen. Das Kalevala trug maßgeblich zu deren Entwicklung bei. Eine eigenständige finnische Schriftkultur hatte es bis dahin nicht gegeben, doch mit der Existenz eines Nationalepos im Range von Edda, Nibelungenlied oder Ilias sahen sich die Finnen in die Schar der Kulturvölker aufgenommen. Bestärkt wurde diese Ansicht durch die Aufmerksamkeit, die dem Kalevala auch im Ausland zuteilwurde. Die finnische Nationalbewegung wollte die fehlende Geschichte des Landes ausgleichen, indem sie das Kalevala als historisches Zeugnis über die „Urzeit des finnischen Volkes“ zu interpretieren versuchte. Zugleich stärkte die Veröffentlichung des Kalevala die Rolle der finnischen Sprache, die zuvor nicht als Literatursprache verwendet worden war. 1902 wurde sie neben dem Schwedischen als Amtssprache eingeführt. Das „nationale Erwachen“ Finnlands hatte seinerseits einen Anteil an der Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit im Jahr 1917. Im heutigen Finnland Bis heute ist der Einfluss des Kalevala im finnischen Gesellschaftsleben spürbar. Bekannte Abschnitte des Kalevala werden oft zitiert; so kann eine schwere Aufgabe in Anspielung auf die Taten des Ilmarinen als „Pflügen des Schlangenackers“ bezeichnet werden. Vornamen wie Väinö, Ilmari, Tapio oder Aino gehen auf die Charaktere des Epos zurück. Zahlreiche Unternehmen haben Namen mit einem Bezug zur Kalevala-Thematik gewählt: So gibt es ein Finanzunternehmen „Sampo“, ein Versicherungsunternehmen „Pohjola“ und eine Eiscrememarke „Aino“. Die Firma Kalevala Koru, einer der bekanntesten Schmuckhersteller Finnlands, verdankt Namen und Existenz dem Epos; mit dem Erlös eines Vereines der „Kalevala-Frauen“, aus dem der Schmuckhersteller hervorging, sollte ein Denkmal für die im Kalevala erwähnten Frauen finanziert werden. Neubaugebiete wie Kaleva in Tampere oder Tapiola in Espoo wurden nach Begriffen aus dem Kalevala benannt. Rezeption Das Kalevala hat die finnische Kultur in nicht zu unterschätzender Weise geprägt und wurde zur Inspiration für zahlreiche Künstler. Dass die wichtigsten Werke zum Kalevala erst Ende des 19. Jahrhunderts, also viele Jahrzehnte nach Erscheinen des Epos, entstanden, hängt damit zusammen, dass die Kunst in Finnland zu Zeiten Lönnrots noch in den Kinderschuhen steckte. Die zwei Jahrzehnte zwischen 1890 und 1910 gelten als „goldenes Zeitalter“ der finnischen Kunst. Während dieser Zeit entstand die als Karelianismus bekannte Begeisterung für das Kalevala und ihren Ursprungsort Karelien. Fast alle bedeutenden finnischen Künstler dieser Epoche unternahmen Reisen nach Karelien und ließen sich vom Kalevala inspirieren. Literatur Der im Kalevala-Versmaß geschriebene Gedichtzyklus Helkavirsiä (1903–1916) von Eino Leino verbindet den Karelianismus mit dem europäischen Symbolismus. Auch der Schriftsteller Juhani Aho beschäftigte sich u. a. in seinem Roman Panu (1879) mit dem Kalevala. Aleksis Kivi schrieb das Theaterstück Kullervo, das 1885 uraufgeführt wurde. Ebenfalls eine Theater-Adaption des Kullervo-Zyklus ist Paavo Haavikkos Kullervon tarina (1982). Auch außerhalb Finnlands hat das Epos Einfluss ausgeübt. In Estland sammelte Friedrich Reinhold Kreutzwald Volksdichtung und schuf nach dem Vorbild des Kalevala das estnische Nationalepos Kalevipoeg. Der Amerikaner Henry Wadsworth Longfellow übernahm für sein auf indianischen Legenden beruhendes episches Gedicht The Song of Hiawatha das Kalevala-Versmaß. J. R. R. Tolkien verarbeitete in seinem Werk zahlreiche Einflüsse aus dem Kalevala. Bildende Kunst Väinämöinen befestigt die Saiten an seiner Kantele (1851) des Schweden Johan Blackstadius ist das erste Kalevala-Gemälde. In der Folgezeit beschäftigte sich R. W. Ekman, der führende finnische Künstler seiner Zeit, mit der Thematik. Für die nächsten Jahrzehnte versiegte aber die Kalevala-Kunst. Erst in den 1880er Jahren erlebte sie mit dem Entstehen einer neuen Künstlergeneration und dem Aufkommen des Karelianismus eine Renaissance. Die bekanntesten Gemälde zum Kalevala stammen von Akseli Gallen-Kallela. Seine Illustrationen genießen in Finnland einen hohen Bekanntheitsgrad und prägen die Vorstellung von dem Nationalepos. Während sein Anfangswerk dem Realismus zuzurechnen ist, wurde er später vom Symbolismus und Jugendstil beeinflusst. Seine wichtigsten Werke sind Die Verteidigung des Sampo (1895), Joukahainens Rache, Lemminkäinens Mutter (beide 1897) und Kullervos Fluch (1899). Auch Pekka Halonen, ein weiterer bedeutender Vertreter des Karelianismus, beschäftigte sich mit dem Kalevala, wenn auch nur am Rande. Emil Wikström nimmt im Bereich der Bildhauerei eine ähnliche Rolle ein wie Gallen-Kallela in der Malerei. Der Architekt Eliel Saarinen entwarf für die Weltausstellung 1900 in Paris den finnischen Pavillon, den Gallen-Kallela mit Deckenfresken mit Szenen aus dem Kalevala ausgestaltete. Das Nationalmuseum (1911) und der Hauptbahnhof (1919) in Helsinki, beide ebenfalls von Saarinen entworfen, sind Beispiele für die nationalromantische, vom Kalevala inspirierte finnische Architektur jener Epoche. Saarinen plante auch ein Kalevala-Haus, das als eine Art Stätte des finnischen Kulturerbes gedacht war, aber nie realisiert wurde. Der Fotograf I. K. Inha bereiste 1894 Karelien, um auf Elias Lönnrots Spuren das Leben in den Dörfern, in denen das Kalevala entstanden war, zu dokumentieren. Seine Porträt- und Landschaftsaufnahmen sind in vielen Veröffentlichungen zur finnischen Volksdichtung verwendet worden. Die erste Kalevala-Verfilmung war die finnisch-sowjetische Koproduktion Sampo (1959). 1982 entstand der vierteilige Fernsehfilm Rauta-aika. Musik Die ersten bedeutenden Orchesterwerke zum Thema Kalevala komponierte in den 1880er-Jahren Robert Kajanus. Der Komponist Jean Sibelius wurde durch Kajanus’ Einfluss zum Karelianismus geführt. 1892 komponierte er nach einer Karelien-Reise die Sinfonie Kullervo. Zwischen 1893 und 1895 folgte die Lemminkäinen-Suite, in der die sinfonische Dichtung Der Schwan von Tuonela enthalten ist. Weitere bekannte Kalevala-Werke von Sibelius sind die sinfonischen Dichtungen Pohjolas Tochter (1906) und Tapiola (1926). Leevi Madetoja schuf 1913 die sinfonische Dichtung Kullervo op. 15. Von den zeitgenössischen finnischen Komponisten hat unter anderem Einojuhani Rautavaara in seinem Werk Der Raub des Sampo (1982) die Kalevala-Thematik aufgegriffen. 1992 wurde die Oper Kullervo von Aulis Sallinen in Los Angeles uraufgeführt. Die finnische Metal-Band Amorphis veröffentlichte mehrere erfolgreiche Alben, deren Texte auf dem Kalevala beruhen: Tales from the Thousand Lakes (1994), Eclipse (2006), worin der Kullervo-Zyklus vertont wird, Silent Waters (2007), das den ersten Lemminkäinen-Zyklus erzählt, Skyforger (2009), sowie The Beginning of Times (2011). Ebenfalls beschäftigen sich die finnischen Folk-Metal-Bands Ensiferum und Turisas mit diesem Thema. Film 1959 erschien als finnisch-sowjetische Koproduktion der Film „Sampo“ (dt. Fassung: „Das gestohlene Glück“). Der Film erzählt mit damals üblichem Pathos und Naivität den Kampf der Kalevala-Helden gegen die Hexe Louhi. Die eingesetzten filmischen Stilmittel erinnern an sowjetische Filme „zur moralischen Nachbereitung“ des Krieges (Großer Vaterländischer Krieg) wie Ilja Muromez (Mosfilm 1956). Insofern gibt der Film mehr Auskunft über die Verhältnisse zu seiner Entstehungszeit als über das Kalevala-Epos, macht den Zuschauer jedoch gut mit den Personen bekannt. 1985 lief im Fernsehen der DDR der vierteilige Film "Die eiserne Zeit" nach Motiven des Kalevala-Epos, der anschaulich die Problematik dieses Werkes darstellte. „Jade-Krieger“ (deutscher Titel, finnisch: „Jade Soturi“) ist eine 2008 erschienene finnisch-chinesische Produktion, die auf der Mythologie des Kalevala aufbaut. Theater Das Theaterstück Zaubermühle der Autorin Katrin Lange beruht auf Motiven des Kalevala. Die Uraufführung fand am 21. Januar 2015 im Schnawwl-Theater Mannheim statt. Populärkultur Der amerikanische Comiczeichner Don Rosa veröffentlichte 1999 den Donald-Duck-Comic The Quest for Kalevala (deutscher Titel Die Jagd nach der Goldmühle), in dem Dagobert Duck versucht, den Sampo zu finden und dabei zahlreichen Figuren des Kalevala (u. a. Väinämöinen und Louhi) begegnet. Eine Bilderbuch-Adaption für Kinder ist die 1992 erschienene Koirien Kalevala („Hunde-Kalevala“) des finnischen Kinderbuch-Autors Mauri Kunnas. In beiden Werken werden Szenen aus Akseli Gallen-Kallelas Kalevala-Illustrationen nachgezeichnet. Der finnische Spieleentwickler Nolla Games veröffentlichte 2019 ihr Debutspiel Noita in dem man viele Elemente der Kalevala, wie zum Beispiel das Sampo oder die aus Hechtknochen gefertigte Kantele, wiederfindet. Quellen Literatur Textausgaben / Hörbücher / Bearbeitungen Kalevala. VEB Hinstorff Verlag Rostock, 1968 (nach der deutschen Übertragung von Anton Schiefner und Martin Buber; Neubearbeitung und Nachwort von Wolfgang Steinitz; Illustrationen von Bert Heller) Kalevala. Das finnische Epos des Elias Lönnrot. Aus dem finn. Urtext übertragen von Lore Fromm und Hans Fromm. Mit einem Nachw. von Hans Fromm. Marix Verlag, Wiesbaden 2005, ISBN 3-86539-013-7. Elias Lönnrot: Kalevala. Das finnische Nationalepos (Hörbuch), 4 CDs mit Illustrationen von Carola Giese. Verlag Michael John, 2015, ISBN 978-3-942057-57-8. Kalewala. Das finnische Epos von Elias Lönnrot. Übers. und mit einem Nachw. von Gisbert Jänicke. Jung und Jung, Salzburg/Wien 2004, ISBN 3-902144-68-8 (neue Übersetzung). Inge Ott: Kalevala. Die Taten von Väinämöinen, Ilmarinen und Lemminkäinen. Neu erzählt von Inge Ott. Mit Illustrationen von Herbert Holzing. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1978, 1981, 1989, ISBN 3-7725-0697-6 (Prosa-Nacherzählung). Kalewala, das National-Epos der Finnen, nach der zweiten Ausgabe ins Deutsche übertragen von Anton Schiefner. J. C. Frenckell & Sohn, Helsingfors 1852. Kalevala. Das Nationalepos der Finnen. Hinstorff, Rostock 2001, ISBN 3-356-00792-0 (Teilausgabe). Pertti Anttonen, Matti Kuusi: Kalevala-lipas. Suomalaisen Kirjallisuuden Seura, Helsinki 1999, ISBN 951-746-045-7. Kalewala. Markus Hering liest aus dem finnischen Epos von Elias Lönnrot. Jung und Jung, Wien 2005, ISBN 3-200-00474-6 (Hörbuch nach der Übersetzung von Gisbert Jänicke; Musikzusammenstellung von Peter Kislinger; 4 Audio CDs). Tilman Spreckelsen: Kalevala. Eine Sage aus dem Norden, nacherzählt von T. S. und illustriert von Kat Menschik. Verlag Galiani Berlin, Berlin 2014, ISBN 978-3-86971-099-0. Sekundärliteratur Christian Niedling: Zur Bedeutung von Nationalepen im 19. Jahrhundert. Das Beispiel von Kalevala und Nibelungenlied. Köln 2007, ISBN 978-3-939060-05-5. Harald Falck-Ytter: Kalevala. Erdenmythos und Menschheitszukunft. Mellinger Verlag, Stuttgart 1993, ISBN 3-88069-301-3. Wilhelm von Tettau: Ueber die epischen Dichtungen der finnischen Völker, besonders die Kalewala. Erfurt: Villaret 1873. Kalevala. Das finnische Epos des Elias Lönnrot. Reclam, Stuttgart 1989, ISBN 3-15-010332-0 (deutsche Ausgabe). Elemér Bakó: Elias Lönnrot and his Kalevala, 1985, Bibliography, Library of Congress. Weblinks Volltext des Kalevala in englischer Übersetzung Library of Congress – Hörbeispiel Vaka vanha Vainamoinen = Steady old Vainamoinen vorgetragen von John Soininen 1939 in Berkley, Kalifornien Literarisches Werk Literatur (Finnisch) Literatur (19. Jahrhundert) Epos Finnische Mythologie Mythographie Namensgeber für einen Asteroiden (Mythologie) Literatur als Namensgeber für einen Asteroiden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gibson%20Les%20Paul
Gibson Les Paul
Die Les Paul (vor allem von deutschsprachigen Gitarristen auch „Paula“ genannt) ist eine E-Gitarre. Sie wird seit 1952 vom US-amerikanischen Unternehmen Gibson hergestellt. Unter Leitung des Gibson-Präsidenten Ted McCarty in Zusammenarbeit mit dem Musiker Lester William Polsfuss (Künstlername Les Paul) als Antwort auf die Instrumente des Konkurrenten Fender entwickelt, stellte die Les Paul als erste Solidbody-E-Gitarre von Gibson zunächst einen Exoten im Programm des Instrumentenherstellers dar. Trotz schleppender Verkaufszahlen und vorübergehender Produktionseinstellung im Jahr 1961 wurde die Les Paul im Verlauf der 1960er Jahre durch ihren warmen, druckvollen Klang schnell zum Hauptinstrument von Künstlern wie Jimmy Page, Jeff Beck und – zumindest in früheren Jahren – Eric Clapton. Nach Wiederaufnahme der Produktion im Jahr 1968 entwickelte sich die Les Paul zum erfolgreichsten Instrument von Gibson. Sie wird bis heute hergestellt und gilt neben der Fender Stratocaster und der Fender Telecaster als Klassiker unter den E-Gitarren. Geschichte Der junge Musiker und Erfinder Les Paul suchte in den 1930er Jahren nach Wegen, um die Nachteile der zu der Zeit üblichen E-Gitarren zu überwinden. Diese waren oft akustische Instrumente, die nachträglich mit einem elektrischen Tonabnehmer versehen wurden. Der Nachteil dieser Konstruktion ist das Entstehen von unschönen Rückkopplungen bei höheren Lautstärken durch das Mitschwingen des hohlen Korpus. Aus diesem Grund modifizierte Les Paul seine eigene Jazzgitarre stark: Er sägte den Korpus der Länge nach in der Mitte auseinander, montierte Hals, Steg, Saitenhalter und die Elektronik auf einen rechteckigen Holzklotz und fügte an den Seiten des Klotzes die Korpushälften wieder an. So erhielt er ein Instrument, welches optisch noch einer akustischen Gitarre ähnelte, in der Mitte jedoch massiv gebaut war. Diese Gitarre erzeugte keinen akustischen Ton mehr, hatte dafür einen klaren elektrischen Ton ohne Rückkopplungen. Nachdem Les Paul diese „The Log“ (der Klotz) genannte Gitarre erfolgreich bei Liveauftritten gespielt hatte, stellte er sie 1946 der Firma Gibson in der Hoffnung vor, den Instrumentenbauer zu einer Serienproduktion zu bewegen. Gibson-Präsident Maurice Berlin lehnte Les Pauls Erfindung mit dem Kommentar, man werde keinen solchen „Besenstiel mit Tonabnehmern“ bauen, jedoch ab. Kurz darauf erzielte der kalifornische Radiotechniker Leo Fender mit seiner neu entwickelten Solidbody-E-Gitarre „Fender Broadcaster“ (im Frühjahr 1951 umbenannt in Telecaster) erste kommerzielle Erfolge. Der neue Gibson-Präsident Ted McCarty entschied, dass Gibson ebenfalls eine massive E-Gitarre ins Programm nehmen müsse, und erinnerte sich an Les Paul und seine „Klotz“-Gitarre. Les Paul und McCarty wurden sich schnell einig, dass eine „Les Paul Gitarre“ entwickelt werden sollte. Wie diese Entwicklung im Detail ablief, ist umstritten: Der Musiker und Hobbyerfinder Les Paul behauptet, er habe fast alle Details der Gitarre mit bestimmt. Die Techniker von Gibson sollen einige seiner Designwünsche falsch umgesetzt haben, u. a. die Brücke/Trapez-Saitenhalter-Kombination und die Ahorndecke. Auch die Farbgebung (Gold bzw. später auch Schwarz) gehe auf ihn zurück. Ted McCarty behauptet, die Gitarre sei bereits zuvor in den Gibson-Werkstätten entwickelt worden und Les Paul habe schon bei den ersten Verhandlungen verschiedene Prototypen als Muster erhalten. Nach McCartys Darstellung habe Les Paul lediglich die Brücke/Trapez-Saitenhalter-Kombination und die goldene bzw. schwarze Lackierung der beiden ersten Modelle (Standard und Custom genannt) vorgeschlagen. Ted McCarty entschied sich für eine gewölbte Decke, da sich das Instrument so deutlich von den flachen Brettgitarren der Marke Fender abhob und Fender zum damaligen Zeitpunkt nicht über die Technologie verfügte, eine solche Gitarre zu kopieren. Sicher ist, dass Les Paul und McCarty bei einem Treffen ca. 1950/1951 einen Vertrag schlossen, der den Bau der Gitarre unter dem Namen Les Pauls möglich machte. Das Patent der Gitarre wurde später auf McCarty angemeldet, Les Paul erhielt das Patent für den Saitenhalter. Im Jahr 1952 erschienen die ersten Modelle der Les Paul auf dem Markt. Diese waren mit zwei P90-Single Coil Tonabnehmern ausgestattet und hatten eine gewölbte Ahorn-Decke, die in der Farbe Gold lackiert war. Daher die inoffizielle Bezeichnung „Gold Top“. Die Farbe Gold sollte laut Les Paul Luxus und Wertigkeit ausdrücken. Im Kontrast zu diesem Anspruch kamen die ersten Modelle mit Konstruktionsfehlern in die Läden: Die Brücke/Trapez-Saitenhalter-Kombination war für die Gitarre zu hoch, weshalb die Saiten in der Regel unter der Brücke hindurch geführt werden mussten – daher konnten die Saiten nicht mit dem Handballen gedämpft werden. Erst im Jahr 1953 wurde dies durch eine veränderte Brücke (das sog. Stud- oder Stop-Tailpiece) behoben. Außerdem war der Halsansatzwinkel anfangs zu klein gewählt worden, weshalb bei diesen frühen Modellen heute oft der Hals neu eingesetzt wird, um sie besser spielbar zu machen. Neben dem Les Paul (Standard-)Modell mit der goldfarbenen Ahorndecke erschien im Jahr 1954 die Les Paul Custom, ein optisch aufgewertetes Modell in der Farbe Schwarz mit vergoldeten Metallteilen und Ebenholz-Griffbrett, welches den Beinamen „Black Beauty“ und „wegen der flachen Bundstäbchen“ auch den Spitznamen „fretless Wonder“ (Bundloses Wunder) erhielt. Die Custom besaß am Hals den neuen „Alnico“-Singlecoil Tonabnehmer und eine neue Brücken-/Saitenhalterkombination, die aus Saitenhalter (Stop-Tailpiece) und Brücke (Tune-O-Matic) bestand. Seit 1955 wird diese Konstruktion auch auf den meisten anderen Modellen angewendet. Die Les Paul Custom hatte eine gewölbte Decke aus Mahagoni statt aus Ahorn. Im Jahr 1957 wurde die Les Paul mit den von Gibson-Mitarbeiter Seth Lover neu entwickelten Humbucker-Tonabnehmern ausgestattet. Die Tonabnehmer trugen zu Beginn der Produktion einen Aufkleber „Patent Applied For“ (Patent beantragt), um Nachahmer abzuschrecken. Diese unter Musikern „PAF“ genannten Tonabnehmer gelten bei Sammlern als sehr begehrt. Anstelle der Gold Top wurden ab 1958 das Modell Standard mit einer transparent lackierten Decke in „Sunburst“ angeboten; eine Lackierung, bei der die Farbe von einem dunklen Rot oder Braun am Deckenrand zu einem nahezu transparenten Honiggelb in der Mitte der Decke verläuft. Dies sollte die traditioneller eingestellten Jazz-Gitarristen ansprechen. Dennoch blieben die Verkaufszahlen insgesamt eher enttäuschend. Am meisten von allen Les Paul Modellen verkauften sich die Schülermodelle Les Paul Junior bzw. Les Paul Special, vor allem in den Jahren 1958 und 1959, nachdem sie zu Double-Cut-Modellen (mit zwei Cutaways) modifiziert worden waren. Im Jahr 1961 wurde die Les Paul wegen zurückgehender Verkaufszahlen durch die „Gibson SG“ ersetzt, welche bis 1963 den Namen „Les Paul SG“ trug. Da Les Paul die Form der „SG“ nicht gefiel und sein Vertrag bei Gibson 1962 auslief, zog er sich zurück. Der Name „Les Paul SG“ wurde zu „SG“ gekürzt, welches für „Solid Guitar“ (massive Gitarre) stehen sollte. In späteren Interviews erinnerte sich Les Paul, dass neben der ungeliebten neuen Form der „SG“ die anstehende Scheidung von seiner Ehefrau und Duopartnerin Mary Ford ebenfalls Grund für seinen Rückzug gewesen ist. Les Paul befürchtete hohe Zahlungen an seine Noch-Ehefrau und war an einer lukrativen Vertragsverlängerung mit Gibson nicht interessiert. Höhere Einnahmen hätten für Les Paul auch höhere Unterhaltszahlungen bedeutet, weshalb sich Les Paul zu dieser Zeit nahezu komplett aus dem Musikbusiness zurückzog. Nachdem die Les Paul in den 1960er Jahren zur Kultgitarre des aufstrebenden Bluesrock wurde, entschied man sich bei Gibson im Jahr 1967 zur Wiederaufnahme der Produktion. Da Les Paul nun geschieden war, stimmte er einer Erneuerung des Vertrages zu, die ersten Gitarren der Neuauflage erschienen zu Beginn des Jahres 1968. Seitdem ist die Les Paul in verschiedenen Versionen ununterbrochen im Programm von Gibson. Konstruktion Der Korpus der Les Paul ist dem der akustischen Gitarre nachempfunden, jedoch mit einem Cutaway am Korpus. Wesentliches Konstruktionsmerkmal der Les Paul ist ein Korpus, der aus einer Mahagoni-Basis besteht und mit einer gewölbten Decke aus Ahornholz versehen ist. Bei der Custom war die gewölbte Decke ursprünglich aus Mahagoni gefertigt. Der Mahagoni-Hals ist in den Korpus eingeleimt. Die Mensur der Gitarre beträgt 628 mm (24,75″). Für den Klang sorgen bei der Les Paul gewöhnlich zwei Humbucker. Einige Modelle (Les Paul Custom, Les Paul Artisan) haben einen mittleren dritten Humbucker. Verwaltet werden die Tonabnehmer von je einem Ton- und einem Lautstärkeregler. Geschaltet werden die beiden Humbucker über einen dreistufigen Schalter, der entweder den Hals-, den Brücken- oder beide Pickups einschaltet. Gemäß dem Sprachgebrauch der 1950er Jahre ist der Schalter nach dem erzeugbaren Klang der Gitarre, d. h. „Treble“ für den höhenreichen Brücken-, „Rhythm“ für den dunkleren Halstonabnehmer, beschriftet. Verschiedene Modelle der Les Paul (Junior, 54’ Goldtop und teilweise Special) besitzen statt der Humbucker ein oder zwei Single-Coil-Pickups des Typs P90. Dieser liefert einen dynamischeren, helleren Ton als die Humbucker, bleibt dabei jedoch dennoch recht „fett“ im Ton und ist daher vor allem bei Blues- und Rock-’n’-Roll-Musikern beliebt. Dieser Typ erlebt in den letzten Jahren eine Renaissance. Modelle Gibson hat in seiner Firmengeschichte eine nahezu unüberschaubare Vielzahl von Modellen herausgebracht, die sich in Konstruktion und Ausstattung zum Teil stark voneinander unterscheiden. Häufig fanden die drei Kategorien Standard, Custom und Studio Verwendung. Standard Die Les Paul Standard entspricht weitgehend dem Modell des Jahres 1958. Dies bedeutet: Massiver Mahagoni-Korpus mit Ahorndecke, Mahagonihals mit Griffbrett aus Palisander, zwei Humbucker-Tonabnehmer mit Chromkappen, einfache cremefarbene Einfassung (Binding) von Korpusoberseite und Griffbrett, Perloid-Griffbretteinlagen in Trapezdesign und verchromte Metallteile. Die Standard wurde 1976 eingeführt, um das wachsende Interesse an Modellen der Phase 1958–1961 zu befriedigen. Zuvor bot Gibson zwar schon ähnliche Modelle an, Puristen bemängelten jedoch immer wieder die zum Teil unglücklichen Detaillösungen. Falsche Abmessungen und Dimensionen, ungewohnte Farbkombinationen, eine mehrteilige „Sandwich“-Bauweise des Korpus zur Materialeinsparung und die allgemein schlechte Verarbeitungsqualität schreckten bei den Vorgängermodellen zunächst ab. Seit 2008 wird die Standard mit sogenannten Tonkammern geliefert, Ausfräsungen im Korpus, die Ton und Gewicht verbessern sollen. Weiterhin wurde die traditionelle Elektrik durch eine Platine ersetzt, welche durch die getönte Plexiglasabdeckung sichtbar ist. Zudem wurde das Halsprofil verändert. Custom Die Custom entspricht weitgehend der Standard, ist jedoch vor allem optisch aufgewertet: Mehrfach beige/schwarz gestreifte Einfassung von Korpusober- und Unterseite sowie der Kopfplatte mit Stechpalmenintarsien, goldfarbene Metallteile, Griffbrett meist aus Ebenholz (bei aktuellen Modellen aus Richlite, einem Papier-Harz-Verbundwerkstoff) und Griffbretteinlagen aus blockförmigen Perlmutt. Da die Custom das Spitzenmodell der regulären Produktion darstellt, werden immer wieder Ausstattungsvarianten angeboten, die sich nur auf diesen Gitarren finden. Dazu gehören u. a. ein dritter Humbucker, die Ausstattung mit einem Bigsby-Vibrato oder die Verwendung von Farbkombinationen, die so auf anderen Gitarren nicht zu finden sind. Teilweise verzichten die Modelle auf die typische Ahorndecke und weisen unter ihrer deckend schwarzen Lackierung einen Korpus aus massivem Mahagoni auf. Studio Die Studio entspricht weitgehend der Standard, ist jedoch vor allem optisch schlichter gehalten. Im Gegensatz zu den anderen Modellen fehlt die cremefarbene Einfassung von Korpus und Griffbrett, das „Gibson“-Logo auf der Kopfplatte ist nur aufgedruckt und die verwendeten Hölzer besitzen meist nur eine unspektakuläre Maserung. Bei einigen Modellen der Studio besaßen die Griffbretter lediglich Punkteinlagen anstatt der sonst üblichen trapezförmigen Einlagen. Die Studio wurde 1983 eingeführt, um ein preisgünstiges Modell anbieten zu können. Die Namensgebung spielt darauf an, dass im Tonstudio, wo außer den Toningenieuren keine Zuschauer anwesend sind, auf optischen Zierrat verzichtet werden kann. Im Vergleich zur Les Paul Standard fehlt die Einfassung am Griffbrett und am Korpus. Genau darin sehen viele Musiker jedoch den Reiz: Die Signature-Gitarren von Gary Moore und Joe Perry (Aerosmith) basierten auf der Studio. Durch den anhaltenden kommerziellen Erfolg ist die Studio die einzige neu entwickelte Modellinie, die sich seit ihrer Einführung ununterbrochen im Programm befindet. Classic Die Classic ist eine modernisierte Version der Les Paul Standard, welche mit Keramik-Tonabnehmern (oder P90-Tonabnehmern) und einem 60's-slim-taper-Halsprofil bestückt ist. Durch diese Eigenschaften eignet sie sich eher für Genres, in denen höhere Verzerrungen und schnellere Bespielbarkeit des Halses erwünscht sind. Erkennungsmerkmale sind die Tonabnehmer ohne Chromabdeckung, ein Pickguard mit 1960-Gravur sowie gelbe Inlays. Traditional Die Traditional wird seit 2008 mit den traditionellen Merkmalen der vorhergehenden Les Paul Standard gefertigt. Sie ist mit den „Classic 57“-Tonabnehmern im Vergleich zum 490 (bzw. 490R) etwas weniger aggressiv ausgestattet (mit Covern) und hat einen vollmassiven Mahagonikorpus. Die Traditional war die erste Gitarre aus Gibsons Serienfertigung, die mit dem in Deutschland entwickelten computergesteuerten PLEK-Verfahren zur Abrichtung der Bünde behandelt wurde. Reissue Wegen der großen Nachfrage stellt Gibson nach etlichen Kleinserien-Modellen (1959 Kalamazoo, Heritage 80 Series) seit Mitte der 80er Jahre Nachbauten der sehr beliebten frühen Modelle (insbesondere Baujahr 1959) her. 1993 wurde der Gibson Custom Shop gegründet, der unter anderem auch die Standard-Reissues herstellt (Nachbauten der Modelle, die von 1952 bis 1960 gebaut wurden). Diese Instrumente wurden mit den Jahren im Detail immer wieder verändert. Die aktuellen Modelle (2013) unterscheiden sich von der Standard-Serie durch einen massiven Mahagonikorpus (ohne Tonkammern), historisch korrekte Elektronik (Bumblebee-Kondensatoren und CTS-Potentiometer), historisch korrekt platzierte Kluson-Style Mechaniken, historisch korrekt geformte Griffbretteinlagen, die ABR-1-Brücke (im Gegensatz zur Nashville-Tune-O-Matic) und zahlreiche andere, teilweise minimale, Unterschiede (Trussrod-Cover-Position, Farbe und Dicke der Einfassung, verwendeter Leim, Länge des Halszapfens …). Seit Beginn der Produktion bis heute wurden die Modelle immer wieder in ihren Spezifikationen verändert, um dem Original genauer zu entsprechen (Halsprofil, Positionierung der Mechaniken, Lackierung …). 2003 wurden bei einigen Gitarren Griffbretter aus dem historisch korrekten Rio-Palisander verbaut, was bei den Folgemodellen wieder eingestellt werden musste, da Rio-Palisander (Dalbergia nigra) unter Artenschutz steht. Die Baureihe 'True Historic' stellt den Höhepunkt dieser Entwicklung dar. Custom Shop Preislich am oberen Ende der Gibson-Les-Paul-Modelle stehen die Modelle des „Custom Shop“, hochwertige handgearbeitete Sonderanfertigungen und Kleinserien aus Gibsons traditionell arbeitender Werkstatt. Custom Shop ist keine durchgehende Modellserie, sondern ein Sammelbegriff der verschiedenen Sondermodelle. Dazu gehören u. a. die Reissue-Modelle (Nachbauten verschiedener Gitarren aus Gibsons Historie) sowie Gitarren der Signature-Reihe (Gitarren, die für einen bestimmten Künstler maßgeschneidert werden, oder Gitarren, die 1:1-Kopien bekannter Künstler darstellen und in kleiner Auflage in den Handel gelangen). Der Custom Shop bietet aktuell mehrere Serien von Reissues an, die im Wesentlichen in folgende drei Kategorien zusammengefasst werden können: VOS – Vintage Original Spec Die Instrumente dieser Serie weisen eine bespielte, leicht gebrauchte Optik auf. Murphy Aged „Aged“ steht dabei für eine künstliche Alterung und „Murphy“ für Tom Murphy, einen Mitarbeiter von Gibson und Pionier, was künstliche Alterung bei Gitarren betrifft. Collectors Choice Hierbei handelt es sich um exakte Nachbauten von berühmten Vintage-Gitarren (z. B. Goldie, Sandy, The Beast, Rosie …). Die Collectors Choice (kurz CC genannt) gilt als die höchste und teuerste Serie von Gibson. Weitere Modelle In der Geschichte von Gibson wurden verschiedene weitere Modelle der Les Paul hergestellt, die wegen ihrer Kurzlebigkeit zum Teil nur noch Sammlern und Experten bekannt sind. Modellreihen, die zumindest eine gewisse Verbreitung fanden, sind: Junior Um auch im unteren Preissegment vertreten zu sein, erscheinen seit 1954 verschiedene Instrumente mit den Namen Junior auf dem Markt. Diese Gitarren besitzen einen dünneren Mahagonikorpus ohne Ahorndecke und einfache Griffbretter mit Punkteinlagen. Es ist nur ein einzelner P-90-Tonabnehmer am Steg vorhanden. Weiterhin fehlt den meisten Modellen das Binding um Korpus und Griffbrett. Ab 1958 wurde die Single Cut Les Paul Junior durch die Double Cut Les Paul Junior ersetzt. Das Modell Junior wird unter anderem von Billie Joe Armstrong verwendet. Special Als Modell zwischen der Standard und Junior kam die Special 1955 auf dem Markt. Sie entspricht vom Korpus und Finish her der Junior, besitzt aber einen zweiten P-90-Tonabnehmer am Hals. Smartwood Mit der „Smartwood“-Reihe versucht Gibson, „Les Pauls“ aus ökologisch unbedenklichen Hölzern anzubieten. Um das umweltfreundliche Image zu unterstreichen, verzichten die Gitarren ähnlich der Studio auf optische Verzierungen. Personal und Recording Um den vielfältigen Ideen des Musikers und Erfinders Les Paul gerecht zu werden, erschienen die Modelle Les Paul Personal und Les Paul Recording. Diese Gitarren wurden von 1969 bis mindestens 1972 gebaut und unterschieden sich besonders in der Elektronik stark von den herkömmlichen Modellen: In Zusammenarbeit mit Les Paul wurden spezielle Tonabnehmer konstruiert, mit welchen die Instrumente direkt an Mischpult oder Tonbandgerät angeschlossen werden konnten. Weiter besaßen die Gitarren erweiterte Schaltungsmöglichkeiten, um eine Vielzahl von Klängen zu erzeugen. Da die Instrumente mit herkömmlichem Gitarrenequipment nur eingeschränkt funktionierten, blieben sie kommerzielle Misserfolge. Ungeachtet dessen spielte Les Paul bis zu seinem Tod eine Personal bei seinen Konzerten. Deluxe Von 1969 bis 1984 wurde die Les Paul Deluxe hergestellt. Ihr sogenannter Pancake-Korpus bestand aus zwei Schichten Mahagoni mit einer Schicht Ahorn dazwischen und trug eine Ahorndecke. Die Seiten und die Rückseite der Deluxe waren transparent lackiert, wie die Standard war sie mit einer Korpuseinfassung versehen. Als Tonabnehmer kamen, wie bei der Gibson Firebird, Mini-Humbucker aus der Fertigung der eben übernommenen Firma Epiphone zum Einsatz. Ende der Siebziger begann Gibson die Deluxe mit Hälsen aus Ahorn zu versehen, das Pete-Townsend-Signaturmodell trägt einen Ahornhals. Doublecut Mit der Les Paul Doublecut (auch Les Paul DC) versuchte Gibson, den Gitarren der Hersteller Paul Reed Smith und Hamer Konkurrenz zu machen. Die Double Cut entspricht in der Ausstattung den übrigen Modellen, verfügt aber über einen Korpus mit zwei nahezu symmetrischen Cutaways und ähnelt damit der Gibson ES-335. Bislang erwiesen sich diese Gitarren nur als mäßig erfolgreich. Robot Guitar Mit der Robot Guitar (engl. für Roboter-Gitarre) in Les-Paul-Form brachte Gibson als erste Firma serienmäßig Gitarren auf den Markt, die mit der automatischen Stimmelektronik der deutschen Firma Tronical ausgerüstet waren. Hauptmerkmal ist der eingebaute Prozessor zum automatischen Stimmen der Saiten. Eine limitierte Stückzahl wurde seit dem 7. Dezember 2007 in ausgewählten Geschäften verkauft, der allgemeine Verkaufsstart lag auf Anfang 2008. Die Robot Guitar gab es auch in anderen Formen (SG, Flying V, Explorer und die neue Firebird X mit verbesserter Technik). Im Zuge einer Rückbesinnung auf den Markenkern verzichtet Gibson 2019 auf Gitarren mit dieser Technik. BFG 2007 entwickelte Gibson das Modell BFG, das in drei Finishes: Gold, Red und Black lieferbar ist. Die Gitarre besticht durch ein sehr „rohes“ Finish, wodurch von Anfang an eine junge Zielgruppe aus dem Hard- und Heavybereich angesprochen werden sollte. Keine Lackierung, grobe Oberfläche, 3D-Fräsung. Auf Details wie Trussrod-Cover, Pickup-Rähmchen und Griffbretteinlagen wurde bei dieser Gitarre verzichtet. Das Aussehen erinnert an eine stark benutzte Gitarre. Das Design und die Konstruktion dieser Gitarre wurde immer kontrovers diskutiert, 2018 gab es eine modifizierte Neuauflage. HD.6X-Pro Digital Les Paul Die Digital Les Paul ist eine spezielle Edition einer Les Paul, die mit 6-fach-Tonabnehmern und einem digitalen Mischpult ausgestattet ist. Auf diese Weise lassen sich die Saiten einzeln ein- und ausblenden sowie das Klangbild variieren. Die Gibson Les Paul in der Musik Die Les Paul ist vor allem in den Versionen mit Humbucker-Tonabnehmern für ihren warmen, vollen Klang berühmt geworden. Aus diesem Grund wird sie bis heute bevorzugt in jenen Stilistiken eingesetzt, in denen dieser Klang gefordert wird. Zu Beginn der Produktion 1952 wurden „Les Pauls“ besonders von Blues- und Jazzmusikern eingesetzt. Neben dem Namensgeber Les Paul selbst setzte u. a. John Lee Hooker eine „Goldtop“ ein. Mit Aufkommen der britischen Bluesrock-Welle in den 1960ern wurde die Les Paul zur Kultgitarre. Vor allem Eric Claptons Gitarrenarbeit auf dem John-Mayall-Album Blues Breakers sowie Claptons weitere Bands (Yardbirds, Cream) machten die Les Paul berühmt. Jimmy Page benutzte bevorzugt Les Paul-Gitarren bei Liveauftritten von Led Zeppelin. Pete Townshend von The Who spielte sowohl die Les Paul als auch das Nachfolgemodell „SG“. George Harrison von den Beatles benutzte eine Les Paul während der Aufnahmen der Band in den Jahren 1968 und 1969. Diese Gitarre, eine nachträglich rot lackierte „Goldtop“, ist – gespielt von Eric Clapton – unter anderem auf dem Klassiker While My Guitar Gently Weeps zu hören. Paul McCartney besitzt eine seltene Linkshänder-Les Paul aus dem Jahr 1960, die er bis heute regelmäßig bei Livekonzerten einsetzt. In den USA begannen Gitarristen wie Michael Bloomfield, Neil Young, Robby Krieger, Pat Travers und Duane Allman die Les Paul wiederzuentdecken. Aufgrund dieses nachträglichen Booms entschloss sich Gibson, die Les Paul erneut ins Programm zu nehmen. In den 1970ern wurde die Les Paul besonders im Bereich der Rockmusik eingesetzt. Bekannte Namen sind u. a. Steve Hackett von Genesis, Marc Bolan, Jimmy Page von Led Zeppelin, Carlos Santana, John Fogerty von Creedence Clearwater Revival, Peter Frampton, Gary Moore, Peter Green, Paul Kossoff von Free, Ace Frehley von KISS und Billy Gibbons von ZZ Top. Jeff Beck ist auf dem Cover seines Albums Blow By Blow mit der schwarzen Les Paul zu sehen, die er für die Aufnahmen benutzt hat. Als exemplarisch für den dichten, warmen Ton, den die Les Paul erzeugt, wird oft der Song Money for Nothing von den Dire Straits genannt. Mark Knopfler, Gitarrist der Dire Straits, ist bekannt dafür, dass er kein Plektrum benutzt. Nach eigenen Angaben spielt er deshalb bei Stücken, die „rockig“ klingen sollen und daher eigentlich den Anschlag mit dem Plektrum verlangen, eine Les Paul. In den 80er Jahren war die Les Paul zunächst weniger populär, es ist die große Zeit der 'Super-Strats’ mit Humbuckern und stimmstabilerem Tremolo, besonders beliebt bei Bands des „Hair-Metal“-Genres. Für ein (zweites) Comeback der Les Paul sorgte vor allem der Gitarrist Slash (Guns n’ Roses). Das Album Appetite For Destruction (1987) markierte die stilprägende Rückkehr zum charakteristischen Rock-Sound der klassischen Kombination von Les Paul Gitarre und Marshall Amp. In den 1990ern wurde der druckvolle Klang der Gitarre von Hard-Rock- und Heavy-Metal- sowie Punk-Rock-Gitarristen entdeckt. Beispiele sind Mike Ness (Social Distortion), Björn Gelotte von In Flames, Slash von Guns N’ Roses, Zakk Wylde (u. a. Ozzy-Osbourne-Band), Kirk Hammett und James Hetfield von Metallica, bis hin zu Paul Landers von Rammstein. Auch der experimentelle Gitarrist Buckethead wechselte von Spezialanfertigungen der Marke Jackson zur Les Paul. Modelle anderer Hersteller Neben Gibson selbst bietet die zum Gibson-Konzern gehörende Firma Epiphone seit 1988 verschiedene Les Paul-Gitarren an. Die Modellpalette reicht dabei von günstigen Einsteigerinstrumenten mit Sperrholz-Korpus, geschraubten Hälsen und vereinfachter Elektronik bis hin zu hochwertigen Kopien aus der japanischen „Elitist“-Serie, die in Hölzern und Ausstattung den Gibson-Instrumenten entsprechen. Um die besonders im asiatischen Raum stark vertretenen Sammler zu befriedigen, stellte Gibson in Japan exakte Kopien historischer Les Paul-Modelle her. Diese Gitarren wurden unter dem Namen Orville (Name des Firmengründers Orville H. Gibson) angeboten und fanden nur selten den Weg nach Europa. Aufgrund der Beliebtheit der Les Paul werden von verschiedenen anderen Herstellern ebenfalls Kopien angeboten. Da Gibson von jeher starken Wert auf seine Urheberrechte legt, gibt es mittlerweile eine Reihe von Gerichtsprozessen, mit denen Gibson exakte Kopien zu verhindern versucht. Berühmt geworden sind zum einen die Prozesse gegen den japanischen Hersteller Ibanez in den 1970ern sowie der im Jahr 2005 vorläufig beigelegte Rechtsstreit mit dem Gitarrenbauer Paul Reed Smith. Um Plagiatsvorwürfen durch allzu exakte Kopien der Les Paul zu entgehen, ersannen verschiedene Hersteller leichte Variationen im Design der Instrumente. Am weitesten ging man dabei bei den Gitarren der qualitativ hochwertigen Marken Tokai sowie Burny: Der Firmenname Tokai und der Modellname Love Rock wurde so auf die Kopfplatte geschrieben, dass aus einiger Entfernung scheinbar die Worte Gibson und Les Paul zu lesen sind. Burny verwendete in dieser Art zunächst sogar die Schriftzüge Burny und Les Paul und änderte diese dann in Burny Super Grade ab. Unter den Markennamen Greco, Edwards und Fresher wurden ebenfalls von japanischen Herstellern Kopien angeboten. Inzwischen bieten sehr viele Hersteller stark an der Les Paul orientierte Modelle an. Diese unterscheiden sich meist durch die Form der Kopfplatte vom Original, oft sind auch die Rundung der Korpusdecke, die Form des Halsansatzes, die Griffbrett-Einlagen, die Anzahl und Anordnung der Regler oder die verwendeten Holzsorten anders. Beispiele hierfür sind die Cort Classic Rock, Chapman ML2, ESP Eclipse, FGN Neo Classic, Harley Benton SC, Ibanez ART, Jackson Monarkh, Maybach Lester, Prestige Heritage, PRS SC594, Schecter Solo. Literatur Tony Bacon: Die große Gibson Les Paul Chronik. Ein halbes Jahrhundert Rockgeschichte . PPVMEDIEN, Bergkirchen 2015, ISBN 978-3-95512-113-6. Tony Bacon: 50 Years of the Gibson Les Paul. Hal Leonhard 2002, ISBN 0-87930-289-5 Tony Bacon, Paul Day: Das Gibson Les Paul Buch. Köln 1994, ISBN 3-931082-00-8 Tony Bacon, Dave Hunter: Totally Guitar – The definitive guide. London 2004, ISBN 3-86150-732-3 Tony Bacon: Gitarren – Alle Modelle und Hersteller. London / Wien 1991, ISBN 3-552-05073-6 George Gruhn, Walter Carter: Elektrische Gitarren & Bässe – Die Geschichte von Elektro-Gitarren und Bässen. PPV, Bergkirchen 1999, ISBN 3-932275-04-7 Yasuhiko Iwanade: The Beauty Of The Burst. Hal Leonhard 1999, ISBN 0-7935-7374-2 Gitarre & Bass. Sonderausgabe Gibson. Diverse Autoren. Musik Media, Ulm 2002. Gitarre & Bass. Sonderausgabe Stromgitarren. Diverse Autoren. Musik Media, Ulm 2004. Nikki Kamila: Der Papa der Paula – Les Paul wird 90. In: Gitarre und Bass. Musik Media, Ulm 2005,9, S. 80–84. Weblinks gibson.com/ epiphone.com YouTube: Les Paul Aufnahmen von Les Paul mit seiner Gitarre in den 1950ern Einzelnachweise Les Paul
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https://de.wikipedia.org/wiki/Confessio%20Augustana
Confessio Augustana
Die (lateinisch für „Augsburger Bekenntnis“, Abkürzung CA oder AB) oder Augsburger Konfession ist die erste offizielle Darstellung von Lehre und Praxis der Wittenberger Reformation mit weitreichender Ausstrahlung auf den gesamten Protestantismus. Sie wurde von Philipp Melanchthon und Mitarbeitern in zwei inhaltlich ungefähr übereinstimmenden Sprachversionen verfasst, nämlich in Latein und Frühneuhochdeutsch. Das Vorwort wurde deutsch verfasst und ins Lateinische übersetzt. Anlass für die Abfassung war das Ausschreiben zum Augsburger Reichstag von 1530, in dem Kaiser Karl V. alt- und neugläubige Reichsstände aufforderte, ihre Positionen darzulegen. Die neugläubigen, der Wittenberger Reformation zugewandten Reichsstände stellten ihre Position in der Confessio Augustana dar. Diese wurde am 25. Juni 1530 von Kurfürst Johann von Sachsen und weiteren neugläubigen Reichsständen als ihr Bekenntnis an den Kaiser übergeben. Dieser ließ eine Entgegnung (Confutatio) von führenden altgläubigen Theologen verfassen und in seinem Namen auf dem Reichstag verlesen. Die neugläubigen Reichsstände wurden aufgefordert, diese Widerlegung der Confessio Augustana anzuerkennen. Andernfalls werde das Wormser Edikt vollzogen. Die Confessio Augustana warb um die kaiserliche Akzeptanz für die Änderungen des kirchlichen Lebens, die in den Territorien der Unterzeichner vorgenommen worden waren. Durchgängig wird deshalb versucht, die eigene Lehre und Praxis in Übereinstimmung mit der lateinisch-westkirchlichen Tradition darzustellen; man habe nur einige neuere Fehlentwicklungen korrigiert. Scharf distanziert sich Melanchthon als Verfasser dagegen von anderen reformatorischen Bewegungen (Täufer, Ulrich Zwingli). Das eigentliche Ziel, den Kaiser für die Änderungen des kirchlichen Lebens in einigen deutschen Territorien zu gewinnen, wurde mit der Confessio Augustana nicht erreicht. Aber sie wurde zur Lehrgrundlage des protestantischen Defensivbündnisses unter Führung von Hessen und Kursachsen (Schmalkaldischer Bund). In dieser Funktion war sie sehr erfolgreich: Die reformatorische Theologie Wittenberger Prägung dominierte mittels der Confessio Augustana den Protestantismus im Heiligen Römischen Reich; der Einfluss Zwinglis wurde auf die Schweiz begrenzt. Die textliche Unschärfe, die durch Vorhandensein zweier nicht identischer Sprachversionen von Anfang an gegeben war, verstärkte sich durch aktualisierende Fortschreibungen. Den Bekennern der Confessio Augustana wurde 1555 im Augsburger Reichs- und Religionsfrieden Toleranz zugesichert. Um als „Augsburger Religionsverwandte“ zu gelten und diesen Schutz zu genießen, nahmen auch Landesherren reformierter oder calvinistischer Prägung die Confessio Augustana an; sie konnten das tun, weil die lateinische Version von 1540/42 (Variata) dem reformierten Abendmahlsverständnis entgegenkommt. Einige europäische Kirchen lutherischer Tradition tragen den Namenszusatz „Augsburgischen Bekenntnisses“ (Abkürzung: A. B.). Entstehung Verortung der Confessio Augustana in der kirchlichen Tradition Bekenntnistexte wurden Ende der 1520er Jahre wichtig, als die Reformatoren und ihre Unterstützer aus dem Rahmen der bisherigen Kirchenorganisation heraustraten und eigene Kirchentümer aufbauten. Das erste Dekret des Codex Iustinianus forderte von allen Völkern im Imperium Romanum, der Religion zu folgen, die der Apostel Petrus den Römern vermittelt hatte. Diese Kontinuitätslinie sah die Amtskirche durch die Abfolge der Päpste als Nachfolger Petri gewahrt. Die Reformatoren sahen sich dagegen in der Nachfolge der apostolischen Lehre. Die Confessio Augustana gibt sich also deshalb so traditionell, weil sie den Nachweis zu führen sucht, dass von ihren Bekennern die authentische und alte kirchliche Tradition weitergeführt wird. Das Traditionserbe, an das die Confessio Augustana positiv anknüpft, ist offensichtlich auch bei dem Griechischprofessor Melanchthon als Hauptautor ganz lateinisch-westkirchlich. Man sieht das daran, dass die Augustana die Trinitätslehre des Nicaeno-Constantinopolitanum bejaht – aber um diese Lehre in Worte zu fassen, die lateinischen Formulierungen aus dem (Pseudo-)Athanasianum übernimmt. Dieser Text hatte in der abendländischen Kirche des Mittelalters einen hohen Bekanntheitsgrad; beispielsweise rezitierten Kleriker das Athanasianum an jedem Sonntagmorgen im Stundengebet. Augustinus von Hippo ist der am häufigsten zitierte Kirchenvater in der Confessio Augustana. Die weiteren Autoren der Alten Kirche, die als Autoritäten genannt werden, sind: Ambrosius von Mailand, Cyprian von Karthago, Johannes Chrysostomos, Cassiodor, Irenäus von Lyon, Hieronymus, Gelasius und Gregor der Große. Einzig Chrysostomos war ein Theologe des griechischen Ostens. Autoren der Scholastik zitiert Melanchthon in der Augustana grundsätzlich nicht als Autoritäten. Mit Jean Gerson, Pius II. und Nikolaus von Kues soll nur belegt werden, dass Reformanliegen schon früher und nicht erst von den Reformatoren formuliert wurden. Interessanterweise weist die Confessio Augustana sprachliche Berührungen mit mittelalterlichen Konzilstexten auf, ohne dass das kenntlich gemacht würde: mit dem Innocentianum des 4. Laterankonzils (1215) und dem Decretum pro Iacobitis des Konzils von Ferrara-Florenz (1439). Im Bereich des Kirchenrechts respektiert die Augustana die Kanones der altkirchlichen Konzilien ebenso wie die von diesen Konzilien beschlossenen Lehrentscheidungen. Achtmal begründet Melanchthon in der Confessio Augustana die Änderung oder Abschaffung von Riten mit Zitaten des Decretum Gratiani. Mit dem Decretum Gratiani akzeptierte die Confessio Augustana auch den Jurisdiktionsprimat des Papstes, der z. B. von Ordensgelübden dispensieren kann. Sowohl den Gehorsam, den man dem Bischof im Allgemeinen schulde, als auch den Widerstand gegen seine Anordnungen leitete Melanchthon aus dem Decretum Gratiani ab. Der katholische Theologe Bernhard Dittrich fasst daher zusammen: „Die Sammlung von Rechtsvorschriften der alten Kirche gilt den Konfessoren als Waffe gegen die mittelalterliche römische Kirche.“ Melanchthons Vorlagen Ältere Bekenntnistexte nutzte Philipp Melanchthon bei der Abfassung der Augustana als Vorlagen: vor allem die Schwabacher Artikel und die Marburger Artikel. Die 17 Schwabacher Artikel hatte Melanchthon im Sommer 1529 in Wittenberg verfasst. Nach der Protestation zu Speyer loteten die Protestanten Möglichkeiten eines politischen Bündnisses aus, für das eine religiöse Grundlage benötigt wurde. Während Philipp von Hessen ein möglichst breites Bündnis von Wittenbergern, Oberdeutschen und Schweizern anstrebte, gab es in Kursachsen, Brandenburg-Ansbach und Nürnberg eine davon abweichende Konzeption. Demnach war volle theologische Übereinstimmung Voraussetzung. Der evangelische Theologe Notger Slenczka erläutert: „Nach diesem Modell sollte theologische Einheit also nicht hergestellt, sondern festgestellt werden – und wenn sie nicht bestand, war eben auch kein politisches Bündnis möglich.“ Am 3. Oktober 1529 hatten sich Repräsentanten von Kursachsen und Brandenburg-Ansbach in Schleiz auf die Annahme der Schwabacher Artikel geeinigt. Der Text der Schwabacher Artikel wurde den Abgesandten der Reichsstädte Ulm und Straßburg am 19. Oktober 1529 auf dem Schwabacher Tag vorgelegt. Um dem Bündnis beizutreten, sollten sie den Text so akzeptieren, wie er war. Sie entschieden sich dagegen. Im Unterschied zur Confessio Augustana enthalten die Schwabacher Artikel keine Verwerfungen der Täuferbewegung; ihr Gegner ist Zwingli. Die von Martin Luther verfassten 15 Marburger Artikel sind von den Schwabacher Artikeln literarisch abhängig und halten das Ergebnis des Marburger Religionsgesprächs (1. bis 3. Oktober 1529) fest. Philipp von Hessen hatte seinen politischen Einfluss geltend gemacht, um Wittenberger, Oberdeutsche und Schweizer (Ulrich Zwingli aus Zürich und Johannes Oekolampad aus Basel) zu theologischen Gesprächen an einen Tisch zu bringen. Die von ihm gewünschte Einheit scheiterte am Dissens zwischen Luther und Zwingli in der Abendmahlslehre; damit war auch das politische Bündnis erst einmal gescheitert. Aber bis auf den strittigen Abendmahlsartikel (der ans Ende der Marburger Artikelreihe rückte) wurde in Marburg ein sehr weitgehender Konsens hergestellt. Luther kam in den Formulierungen der Marburger Artikel seinen theologischen Gegnern ungewöhnlich weit entgegen. Seine eigene Position verliert dadurch an Schärfe. Besondere Probleme werfen die sogenannten Torgauer Artikel auf. Nachdem das kaiserliche Ausschreiben zum Augsburger Reichstag in Kursachsen eingegangen war, forderte Johann von Sachsen am 14. März 1530 die vier Wittenberger Theologen Martin Luther, Philipp Melanchthon, Johannes Bugenhagen und Justus Jonas auf, Stellungnahmen zu den durchgeführten Kirchenreformen zu erarbeiten und sie ihm am 20. März 1530 in seiner Residenz in Torgau vorzustellen. Karl Eduard Förstemann veröffentlichte 1833 einige Aktenstücke, die er den Beratungen in Torgau zuordnete, und prägte dafür die Bezeichnung Torgauer Artikel. Notger Slenczka hält mit der älteren Forschung daran fest, dass unter den von Förstemann edierten Aktenstücken ein erster Entwurf (Sigel E) und dessen Überarbeitung (Sigel A) in den Kontext der Torgauer Beratungen gehörten; der Verfasser sei wahrscheinlich Melanchthon. Er bezeichnet sie als Torgauer Artikel, mit der Erläuterung, dass es sich nicht (wie Schwabacher und Marburger Artikel) um ein Lehrbekenntnis handelt, sondern um Gutachten zu kirchlichen Reformmaßnahmen, die in die Vorgeschichte der Confessio Augustana gehören. Nachdem Gottfried Seebaß grundsätzliche Skepsis formuliert hatte, betonen einige Kirchenhistoriker, es gebe „kein Dokument, das man eindeutig als Torgauer Artikel identifizieren könnte.“ Luthers Anteil Luther reiste 1530 mit der Delegation seines Landesherrn zum Augsburger Reichstag, blieb aber in Coburg, der südlichsten kursächsischen Stadt, zurück. Er war ja geächtet; die näher bei Augsburg gelegene Reichsstadt Nürnberg wagte es nicht, ihn aufzunehmen und damit den Zorn des Kaisers auf sich zu ziehen. Die kursächsische Delegation traf am 15. April in Coburg ein; in der Nacht vom 23. auf den 24. April wurde Luther auf die oberhalb der Stadt liegende Veste gebracht. Erst danach reiste Kurfürst Johann von Sachsen mit seinen Begleitern weiter Richtung Augsburg. So bleiben einige gemeinsame Tage in Coburg, in denen Luther und Melanchthon sich absprechen konnten. Luther verfasste auf der Veste Coburg, wo er bis zum 4. Oktober lebte, neben anderen Werken auch Schriften, die ähnliche Themen wie die Confessio Augustana berühren und ungefähr die gleiche Position vertreten: Vermahnung an die Geistlichen versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg: WA 30 II, S. 268–356; Offener Mahnbrief an Kardinal Albrecht von Mainz: WA 30 II, S. 397–412; Von den Schlüsseln (= der bischöflichen Binde- und Lösegewalt): WA 30 II, S. 428–507; WA 30 III, S. 584–588. Luther unterstützte somit publizistisch Melanchthons Tätigkeit in Augsburg. Der evangelische Theologe Wilhelm Maurer meint, dass Luther und Melanchthon in Coburg vorab ein „Einigungsprogramm“ für die Frage der bischöflichen Jurisdiktion (Artikel 28 der Augustana) festlegten; Luther habe im April in Coburg „nicht nur Melanchthons künftige persönliche Haltung, sondern auch CA 28 und damit die ganze Augustana sanktioniert und den Gang ihrer Verhandlungen vorherbestimmt.“ Noch weiter ging Karl Knaake, der 1863 annahm, in Coburg hätten die beiden „die Anordnung des ganzen und des Einzelnen in dem Bekenntnisse besprochen“, so dass sich Melanchthon in seinen Augsburger Briefen an Luther auf dieses gemeinsame Konzept beziehen konnte. Diese Vermutungen sind unbewiesen. Gunther Wenz betont, dass man „keine direkten Beiträge Luthers zu bestimmten Formulierungen des Bekenntnisses oder seiner Vorformen“ im Text aufzeigen könne. Er spricht daher allgemeiner von einem „Einfluss“ Luthers auf die inhaltliche Konzeption der Augustana, den Luther vor allem durch früher von ihm verfasste Schriften ausgeübt habe. Melanchthon nutzte beispielsweise bei Abfassung der Schwabacher Artikel eine Lutherschrift des Jahres 1528: Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis: WA 26, S. 261–509. Anfang Mai 1530 zirkulierte in Augsburg ein Coburger Druck der Schwabacher Artikel mit dem Titel Bekenntnis Martini Luthers auf dem itzigen angestellten reichstag einzulegen. Nachdem der altgläubige Theologe Konrad Wimpina eine Entgegnung geschrieben hatte, stellte Luther in der Vorrede die Entstehungsgeschichte der Schwabacher Artikel richtig, bekräftigte aber, dass er dem Inhalt zustimme. Damit gab Luther sozusagen den Lehrartikeln der Confessio Augustana, die von den Schwabacher Artikeln literarisch abhängig sind, von der Veste Coburg aus seinen Segen. Die brieflichen Äußerungen Luthers während des Reichstags lassen sich nach Wenz so zusammenfassen, dass er den Text der Confessio Augustana (bzw. ihrer Vorstufen) billigte, eine Revision nicht anstrebte und seine Briefpartner mahnte, zu diesem Text in den Verhandlungen nun auch wirklich zu stehen und ihn nicht diplomatisch zu „neutralisieren.“ Kennzeichnend ist ein Brief Luthers vom 29. Juni: Melanchthon hatte ihm die Endfassung der Augustana geschickt und gefragt, wie viel der Gegenpartei in Verhandlungen nachgegeben werden könne. Luther antwortete, er verstehe die Frage nicht: „Für meine Person ist in dieser Apologie [= der CA] mehr als genug nachgegeben worden.“ Die Confessio Augustana war also nach Luthers Meinung so „nachgiebig“ formuliert, dass man in Verhandlungen keinesfalls weitere Zugeständnisse machen könne. Volker Leppin betont, dass Johann von Sachsen die kursächsische Diplomatie auf dem Reichstag nicht Luther überlassen wollte, der sich wie ein biblischer Prophet verstanden und durch seine Unberechenbarkeit ein Risiko dargestellt habe. Schon am 18. Januar 1529 wurden Luthers politische Schriften unter Vorzensur gestellt, bei den Vorbereitungen zum Reichstag wurde er als einer von vier Sachverständigen angefragt und somit in ein Team eingebunden. In Augsburg setzte der Kurfürst auf Melanchthon. Abfassung und Redaktion im Mai/Juni 1530 Am 2. Mai 1530 traf die kursächsische Delegation in Augsburg ein. Im Gepäck hatte sie die Schwabacher Artikel und weitere Dokumente, darunter die Marburger Artikel und (nach älterer Forschungsmeinung) die Torgauer Artikel. In Augsburg erfuhr Melanchthon, dass der altgläubige Theologe Johannes Eck eine Zusammenstellung kontextloser, aus seiner Sicht ketzerischer Sätze verschiedener Reformatoren veröffentlicht hatte, die 404 Artikel zum Reichstag zu Augsburg. Eck schlug eine Disputation über diese Artikel vor, also ein „ritualisiertes, agonales Streitgespräch zwischen Gelehrten“, und stellte sich als altgläubiger Disputator zur Verfügung. Dazu kam es dann nicht, aber die Wittenberger waren aufgeschreckt. Melanchthon wusste seit der Leipziger Disputation 1519, dass Eck ein sehr schwerer Gegner sein würde. Seine 404 Artikel stellten die Wittenberger vor die Alternative, diese missverständlichen Zitate entweder vor dem Kaiser zu verteidigen oder sich geschlagen zu geben. Das Gegenmittel sei es, die eigene Lehre im Zusammenhang darzustellen, schrieb Melanchthon in einem Brief an Luther (11. Mai 1530). Er begann deshalb in Augsburg mit der Arbeit an einer kursächsischen Bekenntnisschrift, die den Arbeitstitel Apologie bekam: die embryonale Confessio Augustana mit ihrer charakteristischen Zweiteiligkeit von Lehrartikeln (Artikel 1–13) und Abwehr von Ecks Kritik (ab Artikel 14). Melanchthon legte die mitgebrachten Texte zugrunde, besprach sich aber mit anderen in Augsburg anwesenden Theologen, so dass das Ergebnis zwar weitgehend von Melanchthon formuliert war, doch den Charakter eines Gemeinschaftswerks hatte. Als wichtigster Mitarbeiter Melanchthons gilt Johannes Brenz aus Schwäbisch Hall, der zur brandenburg-ansbachischen Delegation gehörte. Weiterhin werden der hessische Hofprediger Erhard Schnepf, Justus Jonas und Georg Spalatin aus der kursächsischen Delegation sowie der Augsburger Urbanus Rhegius als Mitarbeiter genannt. Mitte Mai erfuhr Johann von Sachsen, dass die Mission des Sondergesandten Hans von Doltzig gescheitert war und dem Kaiser die ihm lateinisch vorgelegten Schwabacher Artikel missfielen. Für die kursächsische Delegation waren diese Artikel ein Text, mit dem man sich identifizierte und von dem man inhaltlich nicht lassen wollte. Wenn man die Schwabacher Artikel aber auf dem Reichstag dem Kaiser noch einmal präsentieren wollte, war es nötig, sie in einen neuen „Aggregatzustand“ (Wilhelm Maurer) zu überführen. Der Text der Schwabacher Artikel ging daher stark umformuliert in die Confessio Augustana ein. Richard Cahill betont, dass Melanchthon erst jetzt in mehreren Artikeln der Confessio Augustana Verdammungen der Täuferbewegung hinzufügte: damit habe er die Gemeinsamkeit mit der kaiserlichen Politik betont. Am 15. Juni zog Karl V. festlich in Augsburg ein. Der politische Druck, den der Kaiser danach auf die protestantischen Stände ausübte, ließ sie zusammenrücken. Kurfürst Johann von Sachsen gestattete, dass andere ihre Unterschrift unter die von Melanchthon vorbereitete Bekenntnisschrift setzten, zunächst Markgraf Georg von Brandenburg-Ansbach und am 18. Juni die Nürnberger Städteboten. Die neun Tage im Juni bis zur Verlesung der deutschen Fassung der Confessio Augustana vor dem Kaiser und Überreichung der lateinischen und deutschen Dokumente waren durch intensive Textarbeit gekennzeichnet. Die abschließende Beratung fand am 23. Juni statt; am Folgetag sollte sie dem Kaiser überreicht werden. Der sächsische Kurfürst, der Landgraf von Hessen, der Markgraf von Brandenburg-Ansbach, die Herzöge Ernst und Franz von Lüneburg sowie die Städteboten von Nürnberg und Reutlingen nahmen daran teil, außerdem zwölf Theologen und weitere Gelehrte. Aber der Text stand noch nicht. Es war noch so viel Redaktionsarbeit zu leisten, dass man den Kaiser um einen zeitlichen Aufschub bat, den dieser aber ablehnte. Aus anderen Gründen wurde sie dann doch auf den 25. Juni verschoben. So wurde dann bis in die Nacht auf den 25. unter Zeitdruck am Text gearbeitet. Melanchthon selbst scheint bis zuletzt am lateinischen Text gefeilt zu haben, ohne diese Änderungen in der deutschen Version nachzutragen. Die redaktionellen Prozesse anhand der erhaltenen 27 deutschen und 17 lateinischen Handschriften nachzuvollziehen, ist sehr komplex; es ist nicht einmal in jedem Fall möglich, Handschriften, die vor der Verlesung entstanden sind, von solchen, die erst nach der Verlesung entstanden, sicher zu unterscheiden. Wilhelm Maurer vermutet vorsichtig, dass deutsche und lateinische Entwürfe in dem Theologen- und Juristenkreis um Melanchthon und den kursächsischen Kanzler Brück von Hand zu Hand gingen und von mehreren Personen mit Änderungen versehen wurden. Dabei sei keine gemeinsame theologische oder politische Tendenz dieser Änderungen erkennbar. Aufbau und Inhalt Die Confessio Augustana wurde in zwei Sprachversionen überreicht. Deutsch (Frühneuhochdeutsch) war die Sprache der unterzeichnenden Fürsten und Städtevertreter, mit der sie sich an die in Augsburg versammelten Reichsstände als Publikum wandten. Lateinisch war die Sprachversion, mit der die Protestanten sich an den Kaiser und seinen Beraterstab wandten. Denn in diesem Stab beherrschten viele kein Deutsch, aber alle Latein. Karl V. selbst war in einem burgundisch-romanischen Umfeld aufgewachsen, er sprach Französisch und war imstande, Latein schriftlich und mündlich zu verstehen. Die Confessio Augustana ist Teil einer Diskussion, was hier nur exemplarisch gezeigt werden kann: Melanchthon als Hauptverfasser warb um Zustimmung zu den reformatorischen Veränderungen, die die Unterzeichner bereits durchgeführt hatten. Von Seiten der altgläubigen Reichsstände und ihrer Theologen kam die Confutatio als differenzierte, insgesamt ablehnende, in vielen Punkten aber auch zustimmende Antwort. Bedeutende altgläubige Theologen des Reichs, im Folgenden als Confutatoren bezeichnet, gaben hier ihre Einschätzung reformatorischer Theologie, bevor das Konzil von Trient seine Beschlüsse fasste. (In Trient lag die Confessio Augustana nachweislich vor, als dort über Rechtfertigungs- und Sakramentenlehre verhandelt wurde.) Melanchthon antwortete darauf wiederum mit der Apologie der Confessio Augustana. Zunächst musste er sich mit Notizen behelfen, die bei der Verlesung der Confutatio entstanden waren. Der Kaiser nahm diese Apologie aber nicht mehr entgegen. Später bekam Melanchthon eine Kopie der Confutatio in die Hände. Die Lektüre veranlasste ihn, die Apologie weitgehend neu zu schreiben. Noch später überarbeitete er die Confessio Augustana, damit sie besser zur Apologie passte. Interessant ist auch, welche Protestanten nicht bei dieser Diskussion mitmachen durften, während über sie geredet wurde: Zum einen Zwingli in Zürich und von ihm beeinflusste Theologen in Oberdeutschland (teilweise in Augsburg durch ein eigenes Bekenntnis repräsentiert, die Confessio Tetrapolitana). Zweitens die Täufer, die durch das Wiedertäufer-Mandat des Reichstags zu Speyer 1529 mit der Todesstrafe bedroht waren. Die Wiedertäufer werden von der Confessio Augustana ohne Einschränkungen verurteilt, es gibt keinen Versuch zur Verständigung mit ihnen. Gegen die Täuferbewegung richten sich explizit die Artikel 5, 9, 12, 16 und 17. Dem Folgenden liegt der 1530 in Augsburg überreichte lateinische Text zugrunde. Das Original ist nicht erhalten, aber vor seiner Zerstörung wurden Abschriften angefertigt. Sie bildeten die Grundlage für die Rekonstruktion des lateinischen Textes durch Heinrich Bornkamm, der ihn dann in modernes Deutsch übersetzte. Vorwort Melanchthon verfasste mehrere Entwürfe für das Vorwort. Anfangs war er optimistisch, dass der Kaiser ein unparteiischer Schiedsrichter in Religionsfragen sein wolle. Doch wurde der kursächsischen Delegation Mitte Mai klar, dass Karl V. den Evangelischen nicht entgegenkommen würde. Nun galt es, die Reformation als harmloses Reformprojekt darzustellen. Der Vorworts-Entwurf der Handschrift Na wirkt untertänig, fast flehend. Aber in der Vorrede, die letztlich überreicht wurde, herrscht ein anderer Ton, und sie hat einen anderen Verfasser: Der kursächsische Kanzler Gregor Brück schrieb den frühneuhochdeutschen Text. Er suchte einerseits das Wohlwollen des kaiserlichen Adressaten. Daher betonte er, dass die Evangelischen anders als die Gegenseite die gewünschten Texte schon vorbereitet hätten und sich auf das von Karl V. angeregte Schlichtungsverfahren einließen. Aber es galt auch, Handlungsfreiheit zu bewahren für den Fall, dass der Kaiser eine den Unterzeichnern ungünstige Entscheidung fällte. Brück hielt die Option offen, gegebenenfalls an ein künftiges Konzil zu appellieren. Maurer schreibt: „Hier tritt die politische Seite der Bekenntnisbildung so deutlich hervor wie sonst nirgends.“ Implizit gab Brücks Vorrede dem Kaiser zu verstehen, dass die protestantischen Stände ein Dekret des Kaisers bzw. des Reichstags in der Religionsfrage nicht anerkennen würden. Justus Jonas übersetzte Brücks Vorrede ins Lateinische. Hauptartikel des Glaubens Articuli fidei praecipui Positive Darstellung der eigenen Lehre Artikel 1: Gott (CA I. De Deo) Artikel 2: Die Erbsünde (CA II. De peccato originis) Artikel 3: Der Sohn Gottes (CA III. De filio Dei) Artikel 4: Die Rechtfertigung (CA IV. De iustificatione) Artikel 5: Das kirchliche Amt (CA V. De ministerio ecclesiastico) Artikel 6: Der neue Gehorsam (CA VI. De nova oboedientia) Artikel 7: Die Kirche (CA VII. De ecclesia) Artikel 8: Was ist die Kirche? (CA VIII. Quid sit ecclesia?) Artikel 9: Die Taufe (CA IX. De baptismo) Artikel 10: Das Mahl des Herrn (CA X. De coena domini) Artikel 11: Die Beichte (CA XI. De confessione) Artikel 12: Die Buße (CA XII. De poenitentia) Artikel 13: Der Sakramentsempfang (CA XIII. De usu sacramentorum) Artikel 1–6: Trinität, Christologie, Rechtfertigung Der 1. Artikel der Confessio Augustana fordert, die Trinitätslehre des Nicaeno-Konstantinopolitanum „ohne jede Einwendung“ zu glauben. Akzeptanz oder Ablehnung dieses altkirchlichen Glaubensbekenntnisses war ein beliebter Lackmustest, um Rechtgläubige und Häretiker zu unterscheiden. Die Unterzeichner der Confessio Augustana machten so gleich im 1. Artikel klar, dass sie sich als Teil der katholischen Kirche sahen. Der Artikel beschreibt dann die Trinität mit Formulierungen, die an das Athanasianum anklingen. Artikel 1 schließt mit einem Ketzerkatalog, der altkirchliche Verdammungsurteile übernimmt, beiläufig die Muslime als Leugner der Trinität erwähnt und auch im Blick hat, dass es im 16. Jahrhundert Antitrinitarier gab, die hier als „Samosatener neuester Art“ bezeichnet werden. Wer genau gemeint ist, bleibt unklar. Die Ketzernamen gelten als zeitlose Typen falscher Lehre. Bedenkt man, dass die Zwinglianer ein Hauptgegner der Confessio Augustana sind, so ist auffällig, dass sie nicht mit einer altkirchlichen Ketzergruppe identifiziert werden. Aus Sicht der altgläubigen Confutatoren hatten die Unterzeichner der Confessio Augustana den elementaren Häresietest mit den Festlegungen in Artikel 1 bestanden, ihr trinitarisches Bekenntnis „muss anerkannt werden“ (acceptanda est). Johann Eck hatte in den 404 Artikeln Luther einer häretischen Trinitätslehre verdächtigt; darauf bestand er nun nicht mehr. Die Artikel 2 bis 4 bilden eine Dreiergruppe: Die Erbsündenlehre und die auf dieser aufbauende Rechtfertigungslehre rahmen die Christologie. Gunther Wenz notiert, dass die Augustana keinen Artikel über die Schöpfung enthält, sondern sofort auf die Erbsünde zu sprechen kommt. Das Sündersein des Menschen sei in der reformatorischen Theologie so radikal gedacht, dass der Mensch nicht abgesehen von der Erbsünde als gute Schöpfung Gottes wahrgenommen werde. Die Erbsünde betrifft nach dem Sündenfall alle Menschen, die „im natürlichen Zusammenhang der Fortpflanzung mit Sünde geboren“ sind – diese traditionell gehaltene Formulierung in Artikel 2 soll Jesus Christus von der Erbsünde ausschließen. Sie äußere sich darin, dass die Menschen „ohne Gottesfurcht, ohne Vertrauen auf Gott und mit Begierde“ lebten. Die Confessio Augustana betont, dass die Erbsünde wirklich Sünde sei. Das geht gegen Autoren der Scholastik, aber auch gegen Zwingli, der die Erbsünde als eine Art Krankheit verstand. Wer wie die „Pelagianer und andere“ meint, der Mensch könne „durch eigene Kräfte seiner vernünftigen Natur vor Gott gerechtfertigt werden“, entwerte die von Jesus Christus bewirkte Erlösung. Die katholischen Confutatoren problematisierten, dass die päpstliche Bulle Exsurge Domine unter den Irrtümern Luthers die Lehre aufgeführt hatte, die Begierde (concupiscentia) verbleibe im Säugling auch nach der Taufe; die Confessio Augustana drücke sich hier missverständlich aus. In der Apologie suchte Melanchthon zu belegen, dass Artikel 2 nur die Erbsündenlehre der Alten Kirche von scholastischen Verharmlosungen gereinigt habe. In den Vergleichsgesprächen während des Augsburger Reichstags und dann auf dem Wormser Religionsgespräch 1541 erläuterte die evangelische Seite diesen Erbsündenartikel den katholischen Gesprächspartnern so, dass diese zustimmten. Der christologische Artikel 3 schließt sich eng an das altkirchliche Dogma an. Er bekennt die Jungfrauengeburt mit Formulierungen des Athanasianums, bejaht die orthodoxe Zweinaturenlehre und referiert Kreuzigung, Höllenfahrt Christi, Auferstehung, Himmelfahrt Christi und dessen Regentschaft über die Erde bis zur Wiederkunft im Endgericht nach dem Apostolischen Glaubensbekenntnis. Originell ist, wie Zweinaturenlehre (Person Christi) und Versöhnungslehre (Werk Christi) miteinander verschränkt sind; hier werden unpolemisch Grundlagen für die Rechtfertigungslehre gelegt. Die Augustana hält fest: Jesus Christus (wahrer Mensch und wahrer Gott) versöhne die Menschen mit Gott; es handle sich um ein innertrinitarisches Geschehen, bei dem Gott sich selbst gegenübertrete, also Subjekt und Objekt der Versöhnung sei. Artikel 3 war so formuliert, dass die Confutatoren problemlos zustimmen konnten. Der heikle Punkt ist dabei das Thema Inkarnation. Denn die Akzentsetzungen in der Inkarnationslehre wirken sich in anderen Artikeln aus, vor allem im Verständnis des Abendmahls (Artikel 10). Der Konflikt zwischen Luther und Zwingli in der Abendmahlsfrage brachte ans Licht, dass sie auch in der Christologie verschiedener Meinung waren. Melanchthons Leistung in der Augustana liegt darin, dass er die reformatorische Rechtfertigungs- und Abendmahlslehre von einer Christologie her dachte, die im Rahmen der westkirchlichen Tradition blieb. Der Rechtfertigungsartikel 4 baut auf dem Erbsündenartikel auf. Es ist vorausgesetzt, dass die Sünde den Menschen völlig bestimmt und er deshalb zu seiner Rechtfertigung vor Gott (coram Deo) nichts beitragen kann. Menschliche Verdienste kommen daher nicht in Betracht; die Menschen werden „ohne ihr Zutun gerechtfertigt um Christi willen durch den Glauben.“ Der Glaubensbegriff wird an dieser Stelle der Confessio Augustana noch nicht erläutert, sondern nur, dass der Glaube in der Überzeugung des Menschen bestehe, dass ihm Gott um Christi willen die Sünden vergeben habe: „Diesen Glauben erkennt Gott als Gerechtigkeit vor sich an (imputat).“ Der Gedanke der „Anerkennung, Anrechnung“ (imputatio) ist typisch für Luthers Rechtfertigungslehre und kommt aus der Tradition des Ockhamismus, in der Luther ausgebildet worden war. Die altgläubige Kritik der Confutatoren klingt in ihrer Behandlung von Artikel 4 nur an und wird bei Artikel 6 entfaltet. Die Überschrift von Artikel 5 ist irreführend. Es geht primär nicht um das kirchliche Amt, sondern um die Bedeutung der Gnadenmittel (Wort und Sakrament). „Damit wir diesen Glauben erlangen, ist das Amt [von Gott] eingesetzt, welches das Evangelium verkündigt und die Sakramente darreicht.“ Mit Evangelium ist an dieser Stelle die Rechtfertigungslehre gemeint. Hintergrund des 5. Artikels ist die Auseinandersetzung der Wittenberger Reformation mit Täufern und Spiritualisten (den von Luther so genannten „Schwärmern“). Subjektiv machten diese die Erfahrung, vom Heiligen Geist innerlich geleitet zu werden. Dagegen betonte Luther, dass Wort und Sakrament dem Menschen von außen dargeboten werden. Artikel 6 erklärt: „Jener Glaube muß gute Früchte hervorbringen, man muß die von Gott gebotenen guten Werke tun, weil Gott es will“ – aber nicht, um sich die Rechtfertigung damit zu verdienen. Das gute Tun ist nach Artikel 6 eine Folge der Rechtfertigung, die allerdings eintreten „muß.“ Das ist mehr Melanchthons Anliegen als dasjenige Luthers. Der Mensch soll sich von Gott die guten Werke inhaltlich vorgeben lassen. Man soll sich nicht selbst fromme Werke ausdenken, um Gott zu gefallen. Die Confutatoren betonten, dass im Neuen Testament insgesamt Rechtfertigung und gute Werke nicht so strikt getrennt seien, wie es die Reformatoren mit Berufung auf Paulus darstellten. Es sei „die durch Gottes Gnade ermöglichte und nach Gottes Gnade als zureichend erkannte Liebe, die die Rechtfertigung vor Gott erlangt.“ Artikel 7: Kirchenbegriff Der Kirchenartikel 7 ist das Zentrum des ersten Teils der Confessio Augustana. „Es gibt eine heilige christliche Kirche, die immer bleiben wird. Die Kirche aber ist die Versammlung der Heiligen, in der (in qua) das Evangelium rein gelehrt wird und die Sakramente recht verwaltet werden. Und zur wahren Einheit der Kirche ist es genug, daß man übereinstimme in der Lehre des Evangeliums und der Verwaltung der Sakramente.“ Im Apostolischen Glaubensbekenntnis wird die Kirche als „Gemeinschaft der Heiligen“ (communio sanctorum) bezeichnet. Der Begriff communio sanctorum wurde im Mittelalter in zwei verschiedenen Bedeutungen gebraucht: Gemeinschaft der Christen, gemeinsame Teilhabe an den heiligen Dingen (sancta), besonders den Sakramenten. Melanchthons Formulierung in der Augustana „Versammlung der Heiligen“ (congregatio sanctorum) betont die erste Bedeutung. Diese Formulierung war das einzige, was die altgläubigen Confutatoren 1530 in Augsburg an Artikel 7 beanstandeten. Sie sahen darin eine Geringschätzung der Institution Kirche zugunsten eines spiritualistischen Kirchenbegriffs. In seiner Apologie verwies Melanchthon auf Artikel 8; die sichtbare Kirche, zu der nicht nur Heilige gehören, werde nicht vergleichgültigt. Die äußere Verfasstheit der Kirche ist in der Confessio Augustana weniger wichtig als in der katholischen Theologie – das hatten die Confutatoren zutreffend bemerkt. Liturgische Traditionen oder die Organisationsform der Kirche sind freigestellt; hier kann Vielfalt herrschen. „Um es ganz klar zu sagen: wir haben in Art. 7 eine Definition von Kirche vor uns, die hinreichend sein will, dabei aber ohne jeden Bezug zum bischöflichen Amt auskommt“, kommentiert Notger Slenczka. Er folgert aus der Zentralstellung von Artikel 7: Die Confessio Augustana sei kein Glaubensbekenntnis in dem Sinn, dass die Unterzeichner sich damit zur Trinitätslehre, Christologie oder Rechtfertigungslehre in den hier vorgelegten Formulierungen bekannten. Die unterzeichnenden Fürsten und Städtevertreter verpflichteten sich vielmehr, die Rahmenbedingungen für die rechte Wortverkündigung und Sakramentenspendung in ihren Territorien bzw. Städten zu schaffen und damit „Kirche“ zu ermöglichen. Artikel 8–13: Sakramente Die Überschrift von Artikel 8 ist nachträglich und irreführend. Es geht nicht um das Wesen der Kirche, sondern um die Gültigkeit der von „Heuchlern und Schlechten“ gespendeten Sakramente. Das Oberthema Sakramente spannt einen Bogen von Artikel 8 bis Artikel 13. Artikel 8 wehrt den Vorwurf des Donatismus ab: Wenn unwürdige evangelische Geistliche Wort und Sakrament spenden, so sind diese Gnadenmittel trotzdem wirksam „wegen der Anordnung und des Befehls Christi.“ Die Confutatoren erkannten Artikel 8 ohne Einschränkungen als rechtgläubig an. Artikel 9 betont, dass die Kindertaufe heilsnotwendig sei, und verdammt die „Wiedertäufer“, weil sie das bestreiten. Die gemeinsame Front mit den Altgläubigen gegen die Täuferbewegung war Melanchthon offenbar so wichtig, dass die inhaltliche Bestimmung der Taufe, wie sie in den Schwabacher Artikeln stand, einfach ausfällt. Diese Tauflehre hätte Ansatzpunkte für die altgläubige Kritik geboten, und das wollte man offenbar nicht riskieren. In der Confessio Augustana kommt also nur ein kleines Segment der lutherischen Tauflehre zur Sprache. Für ein Gesamtbild kann man die Ausführungen im Großen Katechismus hinzunehmen und hier besonders den Gedanken, dass ein Christ täglich aus der Taufe leben solle. „Die aphoristische Kargheit der Taufaussagen in der Augustana hat zu Explikationen ermuntert, aber auch Zweifel geschürt“, bemerkt Juha Pihkala zur Wirkungsgeschichte. Dass die altgläubigen Confutatoren des Augsburger Reichstags den Artikel 9 problemlos als rechtgläubig anerkannten, habe Vertreter der lutherischen Frühorthodoxie fragen lassen, ob Artikel 9 ein „Trojanisches Pferd“ sei, mit dem die Lehre von der Wirksamkeit des Sakraments allein durch die vollzogene Handlung (ex opere operato) in die lutherische Kirche zurückkehre – zumal vom Glauben des Empfängers hier nichts verlaute. Artikel 10 behandelt das Thema Abendmahl, das innerprotestantisch Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen war. „Leib und Blut Christi sind im Abendmahl wahrhaft gegenwärtig und werden denen, welche (es) genießen, ausgeteilt“ – wer anders darüber denkt, wird „abgelehnt“, aber nicht verdammt: hier machte Philipp von Hessen seinen politischen Einfluss geltend, um den Bruch mit den Schweizern und Oberdeutschen zu vermeiden. Der deutsche Text ist allerdings schärfer formuliert. Artikel 10 betont die Realpräsenz (und den Konsens mit den Altgläubigen), erläutert aber nicht, warum sie Lutheranern wichtig ist: dafür ist man auf Artikel 13 verwiesen. Wilhelm Maurer konstatiert in Artikel 10 eine lapidare Kürze, die über die Behauptung der Realpräsenz kaum hinausgehe, in einer Sprache, die „mehr verhüllt als erklärt.“ Er zieht gleichzeitige Aussagen Luthers hinzu, um dessen damalige Lehre über das Abendmahl darzustellen, und stellt fest: Wenn man Artikel 10 mit Luthers Abendmahlstexten vergleicht, „so kann man nur betrübt feststellen, wie wenig seine genuinen Sakramentsgedanken in die von Melanchthon inaugurierte Entwicklung Eingang gefunden hatten.“ Die altgläubigen Confutatoren waren mit Melanchthons Abendmahlslehre in Artikel 10 der Augustana einverstanden: „Denn sie bekennen, dass in dem Sakrament nach ordnungsgemäßer Konsekration wesentlich und wahrlich zugegen sei der Leib und das Blut Christi.“ Es solle aber noch erwähnt werden, dass auch unter der Gestalt des Brotes der ganze Christus empfangen werde. Und die Formel „wirklich und wesentlich“ (vere et realiter) sei nützlich, um den Unterschied gegenüber Zwingli und den Straßburgern noch klarer zu markieren. In seiner Apologie der Confessio Augustana kam Melanchthon diesem Wunsch bereitwillig nach: Christus sei im Abendmahl „wahrhaft und wesentlich“ (vere et substantialiter) gegenwärtig. Konsens bestehe in diesem Punkt nicht nur mit der römischen, sondern – wie man neuerdings erfahren habe – auch mit der griechischen Kirche. In der Göttlichen Liturgie bete ja der orthodoxe Priester, „daß der Leib Christi infolge der Wandlung des Brotes (mutato pane) entsteht.“ Dem lutherischen Kirchenhistoriker Leif Grane geht diese Gleichsetzung lutherischer, katholischer und orthodoxer Eucharistiefeier in der Apologie zu weit: Melanchthon habe die theologischen Unterschiede bewusst verschleiert. Nach Taufe und Abendmahl wird in Artikel 11 die Beichte thematisiert. Diese Reihenfolge legt nahe, dass Melanchthon die Buße zu den Sakramenten rechnete. Die Confessio Augustana hält an der Privatbeichte fest. Alle Sünden zu bekennen sei unmöglich und darum auch nicht Bedingung für die Absolution. Die traditionelle Aufgliederung des Bußsakraments in Reue des Herzens (cordis contritio), mündliches Bekenntnis (oris confessio), Absolution und vom Priester festgelegte Genugtuung (satisfactio pro peccatis) wird in Artikel 12 zugunsten eines neuen Bußverständnisses aufgegeben. Die Absolution ist in der Confessio Augustana als Evangeliumsverkündigung zu verstehen. Die Buße besteht nach Artikel 12 aus zwei Teilen: dem Erschrecken im Gewissen über die Sünde (= contritio) und dem durch die Absolution geweckten Glauben. Gute Werke „müssen“ folgen, wie in Artikel 6 dargelegt. Die Verwerfungen des 12. Artikels richten sich gegen Anschauungen einzelner Täufer wie Hans Denck, wonach der durch die Taufe neu geborene Mensch nicht sündige. Beiläufig werden auch die altkirchlichen Novatianer als Ketzer verurteilt. Das Gewicht liegt aber auf der dritten Verwerfung, die jenen gilt, die die traditionelle katholische Bußlehre weiterhin predigen, weil sie „uns anweisen, die Gnade durch unsere Genugtuungswerke zu verdienen.“ In Abgrenzung zu Zwingli betont Artikel 13, die Sakramente seien mehr als bloße „Erkennungszeichen“ (notae professionis), an denen man die Christen von anderen Leuten unterscheiden kann. Vielmehr seien sie von Gott eingesetzt, um den Glauben zu stärken. Durch die Sakramente werden dem, der sie gläubig empfängt, Gottes Verheißungen „dargeboten und vor Augen gehalten.“ Die Sakramentenlehre der Confessio Augustana begibt sich in einen hermeneutischen Zirkel: Die Sakramente erfordern den Glauben des Empfängers – und sie bewirken ihn. Die Confutatoren waren mit dem Sakramentsverständnis der Artikel 5 und 13 weitgehend einverstanden, präzisierten aber den Glauben des Sakramentsempfängers als einen „in der Liebe wirksamen“ Glauben und wünschten eine klare Aussage zur traditionellen Siebenzahl der Sakramente. In der Apologie antwortete Melanchthon darauf, die Zahl oder Zählung der Sakramente könne unterschiedlich sein. Christus habe drei Sakramente im engeren Sinn eingesetzt: Taufe, Abendmahl und Absolution (Bußsakrament); auf diese Handlungen beziehe sich jeweils ein Gebot und eine Verheißung der Bibel. In einem weiteren Sinn könnte beispielsweise die Ehe als Sakrament bezeichnet werden, dann aber auch das Gebet, das Almosengeben und anderes mehr. Wichtiger als solche Definitionsfragen schien ihm, dass die Sakramente im Glauben empfangen werden und nicht allein durch die vollzogene Handlung (ex opere operato) wirken. Auseinandersetzung mit Kritik Artikel 14: Die kirchliche Ordination (CA XIV. De ordine ecclesiastico) Artikel 15: Die Kirchengebräuche (CA XV. De ritibus ecclesiasticis) Artikel 16: Die weltlichen Angelegenheiten (CA XVI. De rebus civilibus) Artikel 17: Die Wiederkunft Christi zum Gericht (CA XVII. De reditu Christi ad iudicium) Artikel 18: Der freie Wille (CA XVIII. De libero arbitrio) Artikel 19: Die Ursache der Sünde (CA XIX. De causa peccati) Artikel 20: Glaube und gute Werke (CA XX. De fide et bonis operibus) Artikel 21: Die Heiligenverehrung (CA XXI. De cultu sanctorum) Die Artikel 14 bis 21 sind Auseinandersetzungen mit Kritikpunkten, die der führende altgläubige Theologe Johannes Eck in seinen 404 Artikeln vorgebracht hatte. Deshalb treten hier thematische Dopplungen zu den Lehrartikeln im engeren Sinn (den Artikeln 1 bis 13) auf. Die Artikel 14 bis 21 haben insgesamt die Tendenz, die Wittenberger Reformation von anderen reformatorischen Bewegungen zu unterscheiden, die abgelehnt werden (Täufer, Zwinglianer). Die kritische Distanzierung von der katholischen Kirche findet dagegen vorwiegend in den Artikeln 22 bis 28 statt. Artikel 14: Ordination Im christlichen Gottesdienst darf nach Artikel 14 nur die Person predigen und die Sakramente spenden, die dazu „rechtmäßig berufen“ wurde (rite vocatus). Eck rechnete die Verwerfung des Weihesakraments und die Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Getauften zu den lutherischen Ketzereien. Von diesem allgemeinen Priestertum schweigt die Confessio Augustana. Leitend ist das Bestreben, das eigene Ordinationsverständnis so zu präsentieren, dass es von altgläubiger Seite nicht pauschal zurückgewiesen werden konnte. Wilhelm Maurer betont, dass für Luthers Theologie die Berufung zum kirchlichen Amt unabdingbar war (niemand könne sich selbst dazu ermächtigen), ihre rechtliche Form sei dagegen unerheblich. Dies konnte vor Ort unterschiedlich geregelt sein, man konnte sich auf eine freie Stelle auch selbst bewerben. Die bisherige sakramentale Priesterweihe lehnte Luther ab. Die Confutatoren akzeptierten Artikel 14 unter der Bedingung, dass „rechtmäßig berufen“ heiße: in Übereinstimmung mit dem Kirchenrecht berufen. In der Apologie der Confessio Augustana gibt es deshalb weitere Präzisierungen Melanchthons: Die Ordination erfolgt unter Handauflegung; richtig verstanden könnte sie als Sakrament bezeichnet werden. Die Ordinierten spenden Wort und Sakrament an Christi Statt und repräsentieren Christus gegenüber der Gemeinde. Artikel 15: Kirchliche Traditionen In Artikel 15 heißt es, es sei sinnvoll, kirchliche Traditionen weiter zu pflegen, wie etwa das Kirchenjahr mit seinen Festen. Aber man dürfe die Gläubigen nicht damit unter Druck setzen, dass man von der Befolgung solcher Traditionen das Seelenheil abhängig macht. Andererseits gebe es auch kirchliche Traditionen, die im Gegensatz zum Evangelium (= der Rechtfertigungslehre) stehen; diese müssten abgeschafft werden. Artikel 15 nennt dafür zwei Beispiele: die Klostergelübde (vgl. Artikel 27) und die Fastengebote (vgl. Artikel 26). Sie haben gemeinsam, dass sie ein asketisches Leben als christliches Ideal propagieren. Artikel 16–17: Verhältnis zum Staat Artikel 16 nimmt gegenüber dem gesellschaftlichen Leben eine durchweg positive Haltung ein. Christen können in der staatlichen Verwaltung, in der Justiz, im Militär, im Wirtschaftsleben tätig sein und Familien gründen. Die Unterzeichner „verurteilen die Wiedertäufer, welche den Christen diese weltlichen Geschäfte verbieten.“ Auch hier setzt sich Melanchthon mit Kritikpunkten Ecks auseinander. Dass die evangelische Ethik die staatliche Ordnung untergrabe, war wenige Jahre nach dem Bauernkrieg ein gefährlicher Vorwurf, der entsprechend deutlich zurückgewiesen wird. Wilhelm Maurer zeigt auf, dass Melanchthon sich in diesem Artikel selbst zitiert, nämlich sein 1528 veröffentlichtes Gutachten gegen die Wiedertäufer (Adversus anabaptistas iudicium). Täuferische Praxis besteht nach Melanchthon darin, Übernahme von obrigkeitlicher Verantwortung und Gehorsam gegenüber der Obrigkeit zu verweigern, Gericht- und Schwertgewalt der Obrigkeit abzulehnen, in Gütergemeinschaft ohne Privateigentum sowie Grundbesitz zu leben, Reichtum als Sünde zu verurteilen, von der Obrigkeit gesetztes Wirtschaftsrecht und Familienrecht abzulehnen, ein Ideal der Vollkommenheit zu pflegen, das dem Klosterleben vergleichbar sei. Daraus folgt nach Maurer, dass alles, was Artikel 16 positiv über die Stellung des Christen zur Obrigkeit aussagt, der Abgrenzung gegenüber der Täuferbewegung dient. Auf dem Reichstag 1530 war es politisch klug, die ideologische Gemeinsamkeit mit der antitäuferischen Politik Habsburgs und Bayerns zu betonen. Aber auch davon unabhängig hatte Melanchthon keinerlei Verständnis für die Täufer und befürwortete ihre Verfolgung. Polemik gegen Täufer findet man in Melanchthons Unterricht der Visitatoren und in seinem Römerbriefkommentar. Sie richtet sich gegen die platonische Idee der Gütergemeinschaft und die Utopie einer gewalt- und herrschaftsfreien Gesellschaft. In Artikel 16 begegnet die Formulierung, es sei erlaubt „nach dem Recht Krieg zu führen“ (iure bellare). Kriterien zur Unterscheidung zwischen gerechten und ungerechten Kriegen gibt es nicht. In Artikel 17 grenzt sich die Confessio Augustana erneut von der Täuferbewegung ab, indem sie die ewige Trennung zwischen Gläubigen und Gottlosen lehrt und Vorstellungen eines Gottesreichs auf Erden ablehnt. In der Täuferbewegung wurde die Lehre von der Allversöhnung aufgegriffen, die schon in der Alten Kirche ihre Vertreter hatte. Der historische Anlass für Artikel 17 war die Hinrichtung des Augsburger Täufers Augustin Bader am 30. März 1530 in Stuttgart. Die von Bader geleitete kleine Gruppe erwartete für das Jahr 1530 „die Türkenherrschaft und danach ein spiritualistisch verstandenes tausendjähriges Reich in Gütergemeinschaft unter seinem eben geborenen Sohn als Messias.“ Artikel 18–20: Ethische Konsequenzen der Rechtfertigungslehre In Auseinandersetzung mit Ecks Kritik formulierte Melanchthon in Artikel 18 Luthers Lehre vom unfreien Willen so um, dass sie für altgläubige Gesprächspartner akzeptabel war. Im Bereich der bürgerlichen Gesetze und der Moral hat der Mensch demnach so viel Willensfreiheit, dass er Gesetze einhalten und anständig leben kann: „Aber er hat nicht die Kraft, ohne den Heiligen Geist die Gerechtigkeit Gottes, also die geistliche Gerechtigkeit zu wirken.“ Diese Kraft entsteht, wenn der Mensch innerlich durch das Wort den Heiligen Geist empfängt. Wilhelm Maurers Kritik an Artikel 18 fällt deutlich aus: Melanchthons Formulierungen „stehen nicht auf der Höhe von Luthers Willens- und Gnadenlehre;“ man solle nicht, wie Melanchthon es hier tut, über die Grenze zwischen menschlichem und göttlichem Willen nachgrübeln. Sein Hinweis auf die relative Freiheit des Menschen, politisch und ethisch richtig zu handeln, trage für das Thema nichts aus. Melanchthon wehrte in Artikel 19 den Vorwurf ab, die Evangelischen machten Gott zur Ursache der Sünde und lehrten einen Determinismus. Eck hatte entsprechende Formulierungen in Melanchthons Römerbriefkommentar zitiert – und er hätte auch bei Luther fündig werden können. Artikel 19 betont dagegen: Der böse menschliche Wille sei die Ursache der Sünde; dieser Wille sei nicht von Gott geschaffen. Der Artikel dringt nicht tiefer in die Problematik ein und befasst sich nicht mit der Prädestination. Artikel 20 wurde von Melanchthon erst spät verfasst, als der größte Teil der Confessio Augustana schon fertig war. Er kommentiert Artikel 6 und geht auf die Befürchtung ein, die evangelische Ethik wirke sich negativ auf das praktische Christenleben aus. Melanchthon argumentierte psychologisch, nur die evangelische Lehre bringe den unruhigen Gewissen Trost. Der christliche Glaube sei außerdem die Voraussetzung für ein moralisches Leben, „Philosophen“ seien aus sich heraus nicht imstande, ehrbar zu leben. Die Confutatoren widersprachen der in den Artikeln 4, 6 und 20 enthaltenen Rechtfertigungslehre grundsätzlich. Sie verstanden Rechtfertigung als einen fortdauernden Prozess „in der Logik des Verhältnisses von Verdienst und Lohn“, vertieften aber den Verdienstgedanken: Das Verdienst Christi (sein Leiden am Kreuz) ermögliche erst das Verdienst des Christen. Das Verdienst des Christen sei nichts, was der Mensch selbständig erbringen könnte, sondern ein Geschenk Gottes; das geringe Verdienst entspreche nicht dem großen Lohn, sondern Gott erkenne es aus reiner Gnade an. Melanchthon hatte erhebliche Schwierigkeiten, die reformatorische Rechtfertigungslehre gegen diese differenzierte Kritik der Confutatoren zu verteidigen; man sieht das daran, dass er fast ein Jahr brauchte, bis diese drei Artikel in der Apologie eine Form hatten, mit der er zufrieden war. Artikel 21: Heiligenverehrung Die Heiligenverehrung wird nicht unter den Missbräuchen thematisiert (ab Artikel 22), sondern als Teil der gemeinsamen christlichen Tradition. Man soll der Heiligen gedenken, weil sie Vorbilder christlichen Glaubens und Lebens seien. Aber die Anrufung der Heiligen wird ausgeschlossen; Jesus Christus allein sei nach biblischem Zeugnis „Mittler, Versöhner, Hohepriester und Fürbitter“. Schlusswort zum ersten Teil Melanchthon fasste zusammen, die Artikel 1–21 zeigten, dass die evangelische Lehre keineswegs „von der allgemeinen und von der römischen Kirche, wie wir sie aus den Kirchenschriftstellern kennen“ abweiche. Der Ketzervorwurf sei haltlos. „Der ganze Meinungsunterschied betrifft einige wenige bestimmte Mißbräuche, welche sich ohne sichere Autorität in den Gemeinden eingeschlichen haben.“ Der hier erhobene Anspruch besagt, dass die Confessio Augustana bis ins 11./12. Jahrhundert (Frühscholastik) im Einklang mit der kirchlichen Tradition sei. Die von den evangelischen Fürsten und Stadträten durchgeführten Reformen betreffen demnach spätmittelalterliche Fehlentwicklungen, die man korrigiert habe. Artikel, in denen die abgeschafften Missbräuche behandelt werden Articuli in quibus recensentur abusus mutati Artikel 22: Die beiden Gestalten des Abendmahls (CA XXII. De utraque specie) Artikel 23: Die Priesterehe (CA XX III. De coniugo sacerdotum) Artikel 24: Die Messe (CA XXIV. De missa) Artikel 25: Die Beichte (CA XXV. De confessione) Artikel 26: Der Unterschied der Speisen (CA XXVI. De discrimine ciborum) Artikel 27: Die Mönchsgelübde (CA XXVII. De votis monasticis) Artikel 28: Die kirchliche Gewalt (CA XXVIII. De potestate ecclesiastica) Die Artikel 22–28 sind gemeint, wenn in der Fachliteratur von „spänigen“ (= rechtlich umstrittenen) Artikeln der Augustana die Rede ist. Artikel 22–25: Laienkelch, Priesterehe, Messe und Beichte Artikel 22 enthält die reformatorische Zentralforderung des Laienkelchs. Dem Stiftungswort Christi gemäß soll beim Abendmahl allen Kommunikanten Brot und Wein gereicht werden. belegt, dass das auch zur Zeit des Paulus in der Christengemeinde von Korinth so verstanden wurde. Ein kirchengeschichtlicher Durchgang zeigt, dass die Austeilung von Brot und Wein an die Laien in der Kirche jahrhundertelang üblich war. Dass den Laien nur die Hostie und nicht der Kelch gereicht wird, sei eine „Gewohnheit, die nicht so sehr alt ist.“ Hier gibt es in der Confessio Augustana eine Ergänzung aus aktuellem Anlass: Vor Beginn des Augsburger Reichstags hatten sich die protestantischen Reichsstände geweigert, an der Fronleichnamsprozession teilzunehmen. Melanchthon erläutert in der Augustana, dass die Prozession nur mit der geweihten Hostie die Einheit des Altarsakraments (Brot und Wein) zerreiße. Das widerspreche den biblischen Einsetzungsworten, und daher „ist es bei uns Sitte, die bisher übliche Prozession zu unterlassen.“ Aus der Perspektive des modernen katholischen Kirchenhistorikers beobachtet Erwin Iserloh, dass Melanchthon die Gegenwart Christi in den eucharistischen Elementen nicht auf die Kommunion beschränkt und die Verehrung der Hostie auch nicht explizit verwirft. Die altgläubigen Confutatoren bestritten nicht, dass es eine jahrhundertelange Praxis des Laienkelchs gab, brachten aber Belege dafür, dass schon früh nur die Hostie ausgeteilt worden sei, beispielsweise bei der Krankenkommunion. Aus praktischen Gründen (Gefahr, den Wein zu verschütten und Schwierigkeit, ihn aufzubewahren) sei der Laienkelch unüblich geworden. Er sei aber freigestellt geblieben, bis die Häretiker ihn forderten – dann erst habe die Kirche ihn verboten. In den Ausschussverhandlungen des Augsburger Reichstags zeigte sich dann nach Iserloh eine unnachgiebigere Haltung der protestantischen Seite. Diese vermied ein klares Ja zu der Lehre, dass mit der Hostie der ganze Christus empfangen werde (Konkomitanz). Der Laienkelch sollte nicht nur erlaubt sein, er war für sie unverzichtbar. In der Apologie argumentierte Melanchthon dann, dass die Sorge, den Wein zu verschütten, nur vorgeschoben sei. Der katholischen Kirche gehe es vor allem darum, dass „der Pfaffenstand heiliger scheine gegen dem Laienstand“, weil nur der Priester am Altar aus dem Kelch trinken dürfe. Artikel 23 nennt zwei Argumente für die Priesterehe: Die Ehe sei eine von Gott eingesetzte Ordnung, und die negativen Folgen des Pflichtzölibats seien offensichtlich. Artikel 24 befasst sich mit der Heiligen Messe. Sie sei in den evangelischen Gemeinden keineswegs abgeschafft, betonte Melanchthon, sie werde vielmehr ehrfürchtig mit „fast allen“ traditionellen Zeremonien gefeiert. Es gebe lediglich aus pädagogischen Gründen einige deutsche statt der lateinischen Gesänge. Die Bischöfe, die dies missbilligten, werden darauf verwiesen, dass sie in der Vergangenheit untätig blieben, als die Privatmessen immer mehr zunahmen. Hier hätten sie eingreifen müssen. Die Bevölkerung lebte nämlich in dem „Irrwahn, … die Messe sei ein Werk, dessen Vollzug schon die Sünden der Lebenden und der Toten tilge.“ Dagegen setzten die Wittenberger Reformatoren das ihrer Ansicht nach schriftgemäße Verständnis der Messe: Sie sei „dazu eingesetzt, daß der Glaube in den Empfängern des Sakraments sich an die Wohltaten erinnere, welche er durch Christus empfängt, und so das erschrockene Gewissen aufrichte und tröste.“ Das sei auch die Lehre der Alten Kirche gewesen. Die Confutatoren verwahrten sich dagegen, dass die Messe in der Volkssprache gefeiert werden müsse; die Andacht sei bei der lateinischen Messe größer, weil die Aufmerksamkeit sich dabei nicht auf einzelne Worte richte, sondern auf den Sinn der Handlung. Richtig informierte Katholiken behaupteten auch nicht, dass die Messe Sünden tilge. Dazu sei vielmehr das Bußsakrament da. (Die Confutatoren dachten hier vor-tridentinisch, denn gerade das, was sie als Missverständnis sahen, wurde durch das Konzil von Trient zur verbindlichen Lehre der katholischen Kirche.) Christus werde in der Messe als sakramentale Opfergabe dargebracht; die Messe sei daher mehr als nur eine Erinnerung an das Opfer Christi. Sie vermehre die Gnade und spende Trost. Die Confutatoren konnten nicht nachvollziehen, warum die Zunahme der Privatmessen ein Problem darstellte, und fragten: „Hält man eine gemeinsame Messe für gut, um wieviel nützlicher sind dann mehr Messen?“ Abschließend forderten sie die Protestanten auf, ganz zur traditionellen Form der Messe zurückzukehren. Artikel 25 behandelt die Einzelbeichte. Sie finde in lutherischen Kirchen vor dem Gang zum Abendmahl statt. Die Absolution wird als besondere Wohltat herausgestellt. Es sei dafür nicht erforderlich, dem Priester alle Sünden zu bekennen, weil eine solche unerfüllbare Bedingung die Menschen im Zustand der Angst und Unsicherheit halte. Artikel 26–27: Askese – Fastenregeln und Klosterleben Gegen die kirchlichen Fastenregeln bzw. gegen das Ideal des christlichen Asketen überhaupt wird in Artikel 26 eingewandt: Diese Vorschriften lenken von den Zentralthemen Gnade und Rechtfertigung ab. Wenn die asketische Lebensform als Ideal dargestellt wird, so entwertet das das alltägliche Leben der Laien (Beispiele hier: Kindererziehung, Beruf, Regierung eines Staates). Viele seien mit den asketischen Regeln überfordert und kämen dadurch in Gewissensprobleme. Melanchthon entwarf in Artikel 27 ein Bild davon, wie Klöster eigentlich sein sollten: „Vormals waren sie Schulen der heiligen Wissenschaft und der anderen Wissenschaften, und man nahm aus ihnen Geistliche und Bischöfe.“ Historisch gesehen ist das falsch. In der Regula Benedicti als klassischer abendländischer Klosterregel heißt es zwar im Vorwort, der Verfasser wolle „eine Schule für den Dienst des Herrn gründen.“ Aber das ist offensichtlich eine Metapher für das Klosterleben. Der zitierte Satz aus Artikel 27 liest sich wie ein Programm für die Umwandlung der Klosteranlagen in Schulen, die evangelische Landesherren der Reformationszeit mehrfach durchführten. Das Leben von Mönchen und Nonnen wird in Artikel 27 als Werkgerechtigkeit kritisiert; den Ordensleuten einen „Stand der Vollkommenheit“ (status perfectionis) zuzuschreiben, entwerte das Leben der einfachen christlichen Laien. Leif Grane fasst zusammen, dass vom Klosterleben wenig übrig bleibt, wenn alle in Artikel 27 angemahnten Missbräuche abgestellt würden: nur ein Gemeinschaftsleben ohne bindende Gelübde, ohne Rückzug aus der Welt und ohne elitären Anspruch. Beiläufig erkennt dieser Artikel an, dass es Zölibatäre geben könne, die „durch eine besondere Gnadentat Gottes ausgesondert“ seien. Die Confutatoren wiesen Artikel 27 gänzlich und vehement zurück. Unter ihnen waren mehrere Ordensleute, die die eigene Lebensform biblisch begründet sahen. Aus Klöstern waren im Lauf der Jahrhunderte viele Heilige hervorgegangen, damit war aus Sicht der Confutatoren eindeutig, dass diese Lebensform mit dem Beistand der göttlichen Gnade gelingen konnte. Sie stellten klar: Niemand ist durch den Klostereintritt im Stand der Vollkommenheit, sondern er strebt dies im Kloster an. Artikel 28: Bischöfliche Jurisdiktion Im abschließenden Artikel 28 der Confessio Augustana geht es um das Bischofsamt, implizit auch um das Papstamt. Vorausgesetzt ist in Melanchthons Argumentation eine Sondersituation, wie sie sich im Heiligen Römischen Reich seit dem 11./12. Jahrhundert herausgebildet hatte. Bischöfe hatten als geistliche Würdenträger zugleich politische Macht. Als Beispiel kann hier der Kardinal-Erzbischof Albrecht von Mainz gelten: ein Angehöriger des Hochadels, humanistisch gebildet, Kunstmäzen und auf dem Augsburger Reichstag von 1530 als Reichserzkanzler eine Schlüsselfigur. Seine kirchlichen Spitzenämter erlangte er, weil sein älterer Bruder Joachim I. von Brandenburg eine Territorialpolitik betrieb, in der Albrechts Erzbistümer Bausteine waren. Gegen Fürstbischöfe wie ihn richtete sich seit dem Spätmittelalter massive Kritik. Sie wurden am Maßstab des Hirten und Seelsorgers gemessen und schnitten schlecht ab. In diese Bischofskritik reiht sich auch der lange Artikel 28 ein; besonders ausführlich widmet er sich Fehlentwicklungen der bischöflichen Jurisdiktion. Mit anderen Worten: Artikel 28 arbeitet sich an einem Bischofsamt ab, das es seit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches (1806) nicht mehr gibt. Artikel 28 fordert, geistliche und weltliche Macht des Bischofs zu trennen. Die Zwei-Reiche-Lehre ist dabei vorausgesetzt. Insofern der Bischof weltliche Macht habe, habe er sie als Beamter, nicht als Bischof. Seine geistliche Macht bestehe in Evangeliumspredigt, Absolution und Sakramentsverwaltung. Er könne Ordnungen des kirchlichen Lebens erlassen, die die Gemeinden um des Friedens willen befolgen sollten; diese dürften aber nicht als heilsnotwendig dargestellt werden. Wenn bischöfliche Anordnungen dem Evangelium (= der Rechtfertigungslehre) widersprächen, hätten die Gemeinden das Recht, sich dem Bischof zu widersetzen. Die ganze Argumentation war für die Confutatoren unannehmbar. Sie gingen darum auch nicht auf die einzelnen Argumente ein, sondern referierten die mittelalterliche Lehre vom Bischofsamt. In der Apologie bedauerte Melanchthon, dass die altgläubige Seite sich auf die „Verteidigung klerikaler Standesrechte“ konzentriert habe. Während des Augsburger Reichstags von 1530 bot die Gruppe um Kursachsen mehrfach an, die geistliche Jurisdiktion altgläubiger Bischöfe unter bestimmten Bedingungen anzuerkennen, wenn im Gegenzug Laienkelch, Priesterehe und evangelische Messe zugestanden würden. Dieses Kompromissangebot scheiterte. Gunther Wenz betont, dass Artikel 28 zwar stark von der historischen Situation in Augsburg 1530 geprägt sei, aber trotzdem Impulse für evangelisches Kirchenrecht und evangelische Kirchenverfassung biete, auch könnten Eingriffe des Staates in die evangelische Kirche auf dieser Basis kritisiert werden. Melanchthons Argumentation setzte voraus, was zu seiner Zeit kanonistische Mehrheitsmeinung war: Die Bischofsweihe habe keinen sakramentalen Charakter, der Vorrang des Bischofs vor dem Priester sei rein rechtlicher Art. Dass der Priester Luther in den 1530er Jahren Bischöfe weihte, war in zeitgenössischer Perspektive „ein kirchenrechtlicher Übergriff, aber kein theologischer Unfug“ (Otto Hermann Pesch). Für heutige römisch-katholische Theologie und damit für das ökumenische Gespräch sind Luthers Ordinationen aber ein schwerwiegender Bruch, denn das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) lehrt, „dass [nur] durch die Bischofsweihe die Fülle des Weihesakraments übertragen wird“ (Lumen gentium 21,2). Unterzeichner Die frühneuhochdeutsche Version der Confessio Augustana wurde am 25. Juni 1530 Kaiser Karl V. und den Kurfürsten des Reichs vom sächsischen Kanzler Christian Beyer in der Kapitelstube des bischöflichen Palasts vorgetragen und dem kaiserlichen Sekretär Alexander Schweiß anschließend zusammen mit der lateinischen Ausfertigung übergeben. Unterzeichner der lateinischen Version waren folgende Reichsstände: Johann, Herzog zu Sachsen, Kurfürst Georg, Markgraf von Brandenburg-Ansbach Ernst, Herzog von Lüneburg Philipp, Landgraf von Hessen Hanns Friedrich, Herzog von Sachsen Franz, Herzog von Braunschweig-Lüneburg Wolfgang, Fürst von Anhalt-Köthen Bürgermeister und Rat von Nürnberg Rat von Reutlingen Mitte Juli, während des Reichstags, traten noch die Reichsstädte Windsheim, Heilbronn, Kempten (Allgäu) und Weißenburg im Nordgau dem Bekenntnis bei. Textgeschichte Rekonstruierte Urtexte (= BSLK, 1930) Keines von beiden Dokumenten, die am 25. Juni 1530 übergeben wurden, ist erhalten. Was aus dem deutschsprachigen Exemplar wurde, nachdem Schweiß es entgegengenommen hatte, ist unbekannt. Das lateinische Exemplar gelangte ins kaiserliche Archiv zu Brüssel. Die Urkunde blieb dort, bis Philipp II. sie 1569 nach Spanien bringen ließ, wo sie offenbar zerstört wurde. Wenn man versucht, den Text des lateinischen und des deutschen Dokuments zu rekonstruieren, steht man vor dem Problem, dass diese Texte bis kurz vor der Übergabe redigiert wurden. Die Unterzeichner brachten eigene Exemplare der Texte mit nach Hause; fraglich ist aber, wie sie sich zur letztlich überreichten Textform verhalten. Heinrich Bornkamm, der für den Text der Confessio Augustana in der Edition der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (BSLK) verantwortlich war, stützte seine philologische Rekonstruktion auf Exemplare der Confessio Augustana aus katholischem bzw. kaiserlichem Besitz und argumentierte, dass die Empfänger sich grundsätzlich nur mit den überreichten Texten und nicht mit den Entwürfen befasst hätten. Der Leiter des Brüsseler Archivs, Viglius Zuichemus, hielt es in den 1560er Jahren für sinnvoll, Abweichungen der Protestanten von der ursprünglichen Confessio Augustana nachweisen zu können. Er ließ Abschriften des Originals anfertigen, damit sie mit protestantischen Augustana-Drucken verglichen werden konnten. Zwei besonders hochwertige Textzeugen für die lateinische Fassung der Confessio Augustana wurden im 20. Jahrhundert entdeckt. Beide sind Abschriften notariell beglaubigter Kopien des Originals im Brüsseler Archiv, die mit großer Sorgfalt unabhängig voneinander hergestellt wurden und bis auf Kleinigkeiten übereinstimmen: Hü, unbeglaubigte und undatierte Kopie aus dem Besitz des Petrus Canisius (Bonifatiuskloster Hünfeld); V, 1568 für den Nuntius Melchior Biglia in Wien hergestellte und beglaubigte Kopie (Vatikanisches Archiv, Arm. I tom. 2f. 93). Sie sind den vier Augustana-Handschriften aus bischöflichem Besitz überlegen, weil diese, wohl noch während des Augsburger Reichstags, von einer mangelhaften Vorlage (nicht dem Augustana-Urtext selbst) relativ flüchtig kopiert wurden. „Das Studium der zahlreichen […] Verbesserungen zeigt sehr anschaulich, wie viel Glanz Melanchthon seinem Werk noch durch die letzte Überarbeitung aufzusetzen verstanden hat. So haben wir gegenüber dem Textus receptus [= dem traditionellen, weit verbreiteten Text] des Konkordienbuchs […] eine in vielen Punkten schönere Textform vor uns,“ stellt Bornkamm fest. Die Rekonstruktion des frühneuhochdeutschen Textes ist problematischer. Bornkamm stützte sich auf ein Dokument aus dem Mainzer Erzkanzlerarchiv (Sigel: Mz), von dem Kurfürst August von Sachsen 1576 eine Kopie erhielt. Das Original sei freilich nie dem Erzkanzler übergeben worden, sondern ebenso wie das lateinische Pendant in der kaiserlichen Hofkanzlei aufbewahrt worden, aber früh verschollen. Bornkamm vermutete, die Handschrift Mz sei eine Abschrift aus der kaiserlichen Kanzlei für die Erzkanzlei. Die Lutheraner des späten 16. Jahrhunderts waren aber im guten Glauben, diese Handschrift sei das 1530 überreichte Original. Die Textfassung der Kopie Augusts von Sachsen galt als „unveränderte“ deutsche Confessio Augustana (Invariata). Daher wurde sie ins deutsche Konkordienbuch übernommen und entfaltete eine entsprechende Wirkungsgeschichte. Vergleicht man die Handschrift Mz und den frühneuhochdeutschen Text in den BSLK, so sieht man, dass Bornkamm bei seiner Textrekonstruktion Rechtschreibung und Zeichensetzung deutlich modernisiert hat. Bornkamms philologische Rekonstruktionen der Confessio-Augustana-Urtexte frühneuhochdeutsch und lateinisch gewannen durch ihre Aufnahme in die „Jubiläumsausgabe“ der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche 1930 (von ihm selbst überarbeitet 1950) eine sehr weite Verbreitung und liegen auch mehreren Ausgaben in modernem Deutsch zugrunde: Bornkamm selbst besorgte eine Übersetzung des lateinischen Textes. Eine Arbeitsgruppe des Kirchenamtes der VELKD unter Leitung von Günther Gaßmann erstellte 1978, also vor dem Jubiläumsjahr 1980, eine „revidierte Fassung“ des deutschen Textes: „Heute unverständliche Stellen mußten neu ausgesagt werden.“ Einen offiziellen Status hatte dieser Text in der VELKD nicht. Horst Georg Pöhlmann legte 1986 im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD eine „Ausgabe für die Gemeinde“ der lutherischen Bekenntnisschriften vor. Bei seiner Eindeutschung der Augustana (unter „Zuhilfenahme“ der Textrevision von 1978) galt ihm die frühneuhochdeutsche Textfassung der BSLK als „ursprünglicher Originaltext.“ Melanchthons Ersteditionen von 1531 (= BSELK, 2014) Im 21. Jahrhundert ist die Zurückhaltung gegenüber der Rekonstruktion verlorener Texte mit philologischen Mitteln gewachsen. Deshalb gehen Gottfried Seebaß und Volker Leppin, die für die Confessio Augustana in der Neuedition der lutherischen Bekenntnisschriften (BSELK) verantwortlich zeichnen, einen anderen Weg. Sie legen die lateinischen und frühneuhochdeutschen Ersteditionen zugrunde, die 1531 in der Offizin von Georg Rhau in Wittenberg gedruckt wurden. Melanchthon wollte mit diesen Ausgaben die „vagabundierende Texttradition […] korrigieren“ und dem Text der Confessio Augustana die Apologie als deren autorisierten Kommentar beigeben. Den Unterschied dieser Ersteditionen zu den 1530 in Augsburg übergebenen Texten stuft Leppin als sehr erheblich ein. Man hatte dem Kaiser Texte übergeben, die auf Verständigung mit der altgläubigen Seite zielten. Aber sie hatten keine Anerkennung gefunden. Nun gingen Texte in den Druck, die für die „innere Selbstverständigung des reformatorischen Lagers“ gedacht waren und keine diplomatischen Rücksichten mehr nahmen. Besonders deutlich wirken sich die gegenüber den BSLK veränderten Editionsrichtlinien der Neubearbeitung bei Artikel 20 aus. Die überreichte frühneuhochdeutsche Textfassung lässt sich relativ sicher durch Vergleich mehrerer Handschriften aus protestantischem Besitz erschließen, deren wichtigste (Sigel: Mar) wohl von Philipp von Hessen oder seinen Räten nach Marburg mitgebracht wurde. Davon weicht der Text der Erstedition 1531 erheblich ab, in dem Melanchthon sich mit den Einwänden der altgläubigen Confutatoren auseinandersetzt. Näher am Reichstagsgeschehen ist man also mit der Marburger Handschrift. Die deutsche Neuausgabe der Augustana von 1533 berücksichtigte die umfangreichen Erläuterungen zur Rechtfertigungslehre in der Apologie und passte Artikel 4 und 20 entsprechend an. Auf dem Schweinfurter Tag (30. März bis 9. Mai 1532) legte der Straßburger Reformator Martin Bucer dar, die Reichsstadt Straßburg gehe konform mit der Confessio Augustana; damit meinte er wahrscheinlich die Textfassung, die 1533 gedruckt wurde und als Confessio Augustana variata prima bezeichnet wird. Melanchthons lateinische Edition von 1540/42 (CA Variata) Mit der Wittenberger Konkordie wurde am 28. Mai 1536 eine aus politischen Gründen wünschenswerte innerprotestantische Verständigung der Wittenberger und der oberdeutschen Theologen in der Abendmahlsfrage erreicht, die auch Luther mittrug. Melanchthon änderte den lateinischen Augustana-Text danach so, dass er den erreichten Konsens widerspiegelte (sogenannte Confessio Augustana variata secunda, oft auch nur als Confessio Augustana Variata bezeichnet). Hier die viel diskutierte Textänderung: 1530: „Vom Abendmahl des Herrn lehren sie: Leib und Blut Christi sind im Abendmahl wahrhaft gegenwärtig und werden denen, die (es) genießen, ausgeteilt.“ (De coena Domini docent, quod corpus et sanguis Christi vere adsunt et distribuantur vescentibus in coena Domini.) 1540: „Vom Abendmahl des Herrn lehren sie: Mit Brot und Wein werden Leib und Blut Christi denen, die (es) genießen, im Abendmahl wahrhaft dargereicht.“ (De coena Domini docent, quod cum pane et vino vere exhibeantur corpus et sanguis Christi vescentibus in coena Domini.) Offiziellen Rang hatte diese lateinische Textfassung im Raum des Schmalkaldischen Bundes nach Einschätzung von Wolf-Dieter Hauschild aber nicht. Hauschild widerspricht damit der älteren Forschung, insbesondere Wilhelm Maurer, und argumentiert: Anders sei nicht zu verstehen, dass die protestantische Delegation zum Wormser Religionsgespräch (1541) mit dem Text von 1531 anreiste und ihre altgläubigen Diskussionspartner damit verwirrte, dass sie dort eine „neue Confession und Apologia“ (die von 1540) überreichte, aber auch alte, gebrauchte Drucke des Textes (von 1531) zur Verfügung stellte. Die Präsidenten des Religionsgesprächs erklärten die Versionsunterschiede für unerheblich, und die altgläubigen Teilnehmer befassten sich danach ausschließlich mit dem Text von 1531. Hauschild nimmt an, dass Melanchthon persönlich die Textfassung von 1540 einbrachte. Die nächste Bearbeitung des lateinischen Textes 1542 wird als variata tertia gezählt. Wolf-Dieter Hauschild schreibt: „Wenn man sich in den politischen Verhandlungen und in den theologischen Diskussionen auf das dem Kaiser überantwortete Augsburgische Bekenntnis berief, dann hatte man entweder die deutsche Textform von 1533 oder die lateinische von 1540 bzw. 1542 zur Hand.“ Nach dem Ende des Schmalkaldischen Bundes mit der Niederlage in der Schlacht bei Mühlberg 1547 kehrten viele Drucker zu Melanchthons lateinischer Erstedition von 1531 zurück; diese Version war ab 1561 vorherrschend. Rezeptionsgeschichte Schmalkaldischer Bund Das militärische Defensivbündnis der Protestanten, der Schmalkaldische Bund, machte die Confessio Augustana zu seiner Bekenntnisgrundlage. In der Anfangsphase (bis 1532) wurde dabei erklärt, die Augustana stimme mit der Confessio Tetrapolitana inhaltlich überein. Die Unterzeichner der Tetrapolitana waren zunehmend bereit, die Augustana zu übernehmen, so dass 1535 die Zustimmung zur „raynen lehr und connfession zu Augsburg“ Bedingung wurde, um dem Bund beizutreten – und daran scheiterte beispielsweise der Beitritt Englands. Reichsrechtliche Anerkennung der „Augsburgischen Konfessionsverwandten“ In der politischen Pattsituation des Passauer Vertrages wurde den Reichsständen, die „der Augsburgischen Konfession verwandt“ waren, 1552 zugesichert, dass sie nicht militärisch angegriffen werden würden und ihr Besitzstand gewahrt bleiben sollte. Der Abschied des Augsburger Reichstages von 1555 bestätigte diese Regelung. Dadurch erhielt sie verfassungsrechtlichen Rang. Aber weder 1552 noch 1555 wurde festgelegt, welche Textfassung der Confessio Augustana damit gemeint sei. Diese Unschärfe prägte die weitere Rezeptionsgeschichte. Johannes Calvin erkannte die Confessio Augustana Variata von 1540/42 als Grundlagentext des deutschen Protestantismus an und behauptete 1555 im Abendmahlsstreit mit dem Hamburger Lutheraner Joachim Westphal, die zwischen ihm selbst und Heinrich Bullinger erzielte Übereinstimmung in der Abendmahlslehre (Consensus Tigurinus) stehe im Einklang mit der Variata. Bullinger lehnte zwar die Variata ab, aber Calvin riet den Reformierten im Reich dazu, sie anzunehmen – wohlgemerkt nur denen im Reich und nicht generell. Dass die Confessio Augustana in der Deutschschweiz auf Ablehnung stieß, war auch eine Folge davon, dass Bullinger sich in der Tradition Zwinglis sah, dessen Lehren in der Confessio Augustana mehrfach abgewiesen wurden. Der Naumburger Fürstentag 1561 sollte Klarheit bringen, welche Augustana-Fassung maßgeblich sei. Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz plädierte für die Ausgabe von 1540/42, da diese „sehr gute und christliche Erklärungen“ enthalte. Damit meinte er vor allem Artikel 10, welcher die in der Abendmahlsfrage gefundenen Konsensformulierungen der Wittenberger Konkordie enthielt. Nach gelehrten Kollationierungen der vorhandenen Drucke (die einen ungeahnten Umfang von Textvarianten ans Licht brachten) erklärte der Fürstentag die Erstdrucke von 1531 für verbindlich, aber mit einer Erläuterung zu Kapitel 10. Die Fassung von 1540/42 (Variata) blieb zulässig, da sie „eine stattlichere und ausführlichere Wiederholung des Originals“ sei. Kaiser Maximilian II. forderte die evangelischen Reichsstände 1566 auf, klarzustellen, ob Friedrich III. ein Augsburgischer Konfessionsverwandter sei. Dieser behauptete, sich an der Confessio Augustana von 1540 zu orientieren. Die evangelischen Stände kritisierten die Abendmahlslehre der Kurpfalz. Sie zogen daraus aber nicht die vom Kaiser gewünschte Konsequenz, die Kurpfalz aus dem Lager der Augsburgischen Konfessionsverwandten auszuschließen. 1580, 50 Jahre nach der Übergabe der Confessio Augustana, erschien das (frühneuhochdeutsche) Konkordienbuch im Druck, das die innerlutherischen Streitigkeiten beilegen sollte. Die Vorrede versichert, dass dies kein neues Bekenntnis sei, sondern eine Erläuterung und Bekräftigung der Confessio Augustana. Besonders wird betont, dass das Konkordienbuch den authentischen, 1530 in Augsburg vorgelesenen Text der Confessio Augustana ohne spätere Verfälschungen enthalte. In den Auseinandersetzungen zwischen Theologen, die sich als echte Erben Luthers (Gnesiolutheraner) sahen, und Anhängern Philipp Melanchthons (Philippisten), wurde die Ablehnung der Variata und Rückgriff auf die Invariata, den vermeintlichen Urtext, zum Kennzeichen lutherischer Rechtgläubigkeit. Die reformierten Landesherren sahen die Gefahr, dass die Konkordienformel als lutherisches Einheitsbekenntnis den Protestantismus spalten werde und sie selbst den Status als Augsburgische Religionsverwandte verlieren könnten. Pfalzgraf Johann Casimir lud Delegierte reformierter Kirchen aus mehreren europäischen Staaten (England, Frankreich, Polen, Ungarn, der Schweiz und den Niederlanden) im September 1577 zu einem Konvent nach Frankfurt, auf dem ein gesamteuropäisches Bekenntnis in der Tradition der Confessio Augustana Variata erarbeitet werden sollte. Das Projekt scheiterte am Widerstand der Züricher, die an der Confessio Helvetica Posterior als Einheitsbekenntnis festhielten, das bereits von anderen reformierten Kirchen übernommen worden war. Die von Zürich und Genf herausgegebene Sammlung reformierter Bekenntnisschriften von 1581 (Harmonia Confessionum Fidei, Orthodoxarum et Reformatarum Ecclesiarum) enthielt unter anderem die Confessio Augustana Variata. Diese Harmonia Confessionum Fidei wurde von der hugenottischen Nationalsynode in Vitré 1583 offiziell angenommen. Am Ende des Dreißigjährigen Krieges war in den Osnabrücker Friedensverhandlungen 1645 bis 1648 wieder die Frage umstritten, ob ein reformierter Landesherr als Augsburgischer Konfessionsverwandter gelten konnte. Die Kurpfalz hatte ihr politisches Gewicht verloren. An ihrer Stelle hatte das Kurfürstentum Brandenburg eine Führungsposition unter den calvinistischen politischen Akteuren des Reichs erlangt. Hier galt die Confessio Sigismundi von 1618, die sich „zu der augspurgischen Confeßion, so anno 1530 Keyser Carolo V […] übergeben, und nachmals in etlichen Puncten nothwendig übersehen und verbessert worden“ bekannte. Dem brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm das Recht zuzugestehen, die Religion seiner katholischen oder lutherischen Untertanen bestimmen zu dürfen, war aber weder im Sinn Kaiser Ferdinands III., noch entsprach es den Interessen Schwedens, der wichtigsten protestantischen Großmacht. Friedrich Wilhelm verzichtete auf das ius reformandi und erhielt im Gegenzug die Anerkennung als Augsburgischer Konfessionsverwandter. Die Confessio Augustana schuf so eine formale Gemeinsamkeit lutherischer und reformierter Reichsstände, die 1653 einen politischen Zusammenschluss bildeten, das Corpus Evangelicorum. Wolf-Dieter Hauschild schreibt: „Die Verfassungsjuristen halfen seit Anfang des 17. Jahrhunderts mit der klugen Distinktion aus, daß sensu theologico [= theologisch verstanden] als CA-Angehörige nur die Lutheraner, jedoch sensu politico [= politisch verstanden] auch die Reformierten als derartige gelten könnten.“ Geltung in den evangelischen Landeskirchen seit dem 19. Jahrhundert Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reichs endete 1806 die politische Relevanz der Confessio Augustana in den deutschen Staaten; sie blieb aber Referenztext für die neu entstehenden Landeskirchen, genauer: Sie wurde in dieser kirchlichen Relevanz im 19. Jahrhundert neu entdeckt. Denn für viele Theologen des 18. Jahrhunderts, gleich ob Pietisten oder Aufklärer, hatten die Bekenntnistexte des 16. Jahrhunderts kein großes Gewicht. Sie waren Teil von Kirchenordnungen der Reformationszeit, die formaljuristisch weiter galten, ohne dass man sich damit befassen musste. In den Umbrüchen des frühen 19. Jahrhunderts war die Bekräftigung der Confessio Augustana eine Möglichkeit, die eigene kirchliche Identität in der Reformationszeit verankern zu können. Der neue Zuschnitt der Landeskirchen führte zu konfessionell gemischten evangelischen Bevölkerungen (Lutheranern und Reformierten). Es kam zu Bekenntnisunionen. Für die Evangelische Landeskirche in Nassau regelte die Unionssynode in Idstein 1817, die neue „evangelisch-christliche Kirche“ gründe sich auf die Bibel, das Apostolische Glaubensbekenntnis und die Confessio Augustana – in welcher Textfassung, blieb unbestimmt. Ähnlich behandelte die Unionsurkunde der Vereinigten Evangelisch-protestantischen Kirche im Großherzogtum Baden 1821 die Bibel als Grundlage und die Confessio Augustana als deren sachgerechte Auslegung, ohne zum Text der Augustana eine Angabe zu machen. Die Vereinigungsurkunde der bayerischen Pfalz wollte allein die Bibel als Grundlage und alle Bekenntnisschriften außer Kraft setzen, aber das lutherische Münchener Oberkonsistorium erkannte dies nicht an. So hieß es seit 1821, die Bekenntnisschriften der Reformation ständen in der Vereinigten Protestantisch-Evangelisch-Christlichen Kirche der Pfalz „in gebührender Achtung“, seien aber keine Lehrnorm. 1853 beschloss die pfälzische Generalsynode, die Confessio Augustana in der Fassung von 1540 sei die gemeinsame Lehrnorm dieser Unionskirche. Im 19. Jahrhundert gab es Bestrebungen, einen Bund der zahlreichen evangelischen Landeskirchen zu schaffen, um ihre Kooperation zu verbessern. Die Deutsche Evangelische Kirchenkonferenz schlug vor, der Referenztext aller Landeskirchen in dem projektierten Bund solle die gemeinsame Confessio Augustana werden. Das scheiterte aber am Widerspruch der Lutheraner. Der Wittenberger Kirchentag von 1848 empfahl „eine zeitgemäße Erneuerung des ehemaligen Corpus Evangelicorum“, die Augustana spielte dafür keine Rolle mehr. Das Thema Confessio Augustana war im frühen 20. Jahrhundert vom konfessionellen Luthertum besetzt. Kennzeichnend ist die Meinung Karl Barths, der 1923 erklärte, die Reformierten hätten sich in früheren Jahrhunderten nur aus pragmatischen Gründen in den „heilsamen Schatten“ der Confessio Augustana gestellt; es könne keine Rede davon sein, dass die Variata eine reformierte Bekenntnisschrift sei. Die Grundordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) schrieb 1948 die Bekenntnisdifferenz fest: „Für das Verständnis der Heiligen Schrift wie auch der altkirchlichen Bekenntnisse sind in den lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen und Gemeinden [der EKD] die für sie geltenden Bekenntnisse der Reformation maßgebend.“ Heutige Geltung als evangelische Bekenntnisschrift In der Lehrgrundlage des Lutherischen Weltbundes hat die Confessio Augustana (Invariata) eine hervorgehobene Bedeutung. Der Weltbund bezeichnet die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testament als „Quelle und Norm“ des kirchlichen Lebens und die drei altkirchlichen Bekenntnisse (Apostolikum, Nicaeno-Konstantinopolitanum, Athanasianum) sowie die lutherische Bekenntnisse, insbesondere die unveränderte Augsburgische Konfession und Luthers Kleinen Katechismus, als eine „zutreffende Auslegung des Wortes Gottes.“ Kleiner Katechismus und Confessio Augustana sind hier besonders genannt, weil sie in allen Kirchen des Weltbunds anerkannt werden. In der Verfassung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) heißt es ähnlich: „Die Grundlage der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche ist das Evangelium von Jesus Christus, wie es in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments gegeben und in den Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, vornehmlich in der ungeänderten Augsburgischen Konfession von 1530 und im Kleinen Katechismus Martin Luthers bezeugt ist.“ Die Generalsynode der VELKD stieß 2005 auf Anregung des Münchner Systematikers Gunther Wenz eine Debatte darüber an, ob die Confessio Augustana in der Evangelischen Kirche in Deutschland als „Grundbekenntnis“ anerkannt werden könne. Daraufhin beauftragte der Rat der EKD im April 2006 die Kammer für Theologie mit der Ausarbeitung eines Gutachtens. Das im November 2008 einstimmig beschlossene Votum empfahl, die Confessio Augustana nicht als Bekenntnis in die Grundordnung der EKD aufzunehmen. Dieser Empfehlung stimmte der Rat der EKD im Februar 2009 zu. Das Votum und die im Verlauf der Debatte gehaltenen Referate wurden als EKD-Text veröffentlicht. Die altkonfessionelle Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche bindet sich in ihrer Grundordnung an die lutherischen Bekenntnisschriften, „weil in ihnen die schriftgemäße Lehre bezeugt ist“, nämlich die drei altkirchlichen Bekenntnisse, „die ungeänderte Augsburgische Konfession und ihre Apologie“, die Schmalkaldischen Artikel, Luthers Kleiner und Großer Katechismus und die Konkordienformel. Confessio Augustana im ökumenischen Dialog Dialog mit dem Patriarchat von Konstantinopel im 16. Jahrhundert Der Tübinger Philologe Paul Dolscius übersetzte die Confessio Augustana als Übungstext ins Griechische. Nachträglich wurde diese Privatarbeit von Melanchthon so überarbeitet, dass sie 1559 Joasaph II., dem Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, übersandt werden konnte. Der Patriarch sollte damit einen authentischen Eindruck von der Wittenberger Reformation erhalten. In mehreren Kapiteln (4–6, 12, 20, also in der Rechtfertigungslehre, aber nicht im Abendmahlsartikel) liegt die lateinische Variata zugrunde. Der Zentralbegriff Rechtfertigung (lateinisch iustificatio) stammte aus der westkirchlichen Tradition, so dass Melanchthon das griechische Äquivalent (δικαιοποιια dikaiopoiia) als humanistisches Kunstwort neu prägte. Eine Antwort des Patriarchen ist nicht bekannt. Zwischen 1573 und 1581 gab es einen Briefwechsel zwischen Tübinger lutherischen Theologen und dem Patriarchen Jeremias II. Die Tübinger Martin Crusius und Jakob Andreae baten ihn, die Rechtgläubigkeit der (griechischen) Confessio Augustana zu überprüfen. Jeremias II. antwortete am 15. Mai 1576 mit einer ausführlichen Einschätzung der einzelnen Artikel. Kritik äußerte er am Filioque und an der Frage des menschlichen freien Willens und damit der Rechtfertigung sola gratia, sola fide, per solum Christum. Die reformatorische Ablehnung der Anrufung der Heiligen, der Bilderverehrung und des Mönchtums war für ihn nicht nachvollziehbar. In den Auseinandersetzungen in der Sakramentenlehre und um das Verhältnis von Schrift und Tradition teilte er den lutherischen Standpunkt ebenfalls nicht. Daran änderte sich auch durch weitere Tübinger Schreiben nach Konstantinopel nichts mehr; der Patriarch brach den Briefwechsel schließlich als sinnlos ab. Römisch-katholische Anerkennung der Confessio Augustana Durch zwei Seminare 1958/59 in Freising und 1960/61 in Bonn regte Joseph Ratzinger die Beschäftigung römisch-katholischer Theologen mit der Confessio Augustana an. Vinzenz Pfnür, ein akademischer Schüler Ratzingers, promovierte 1970 über die Rechtfertigungslehre der Confessio Augustana und ihre Rezeption in der zeitgenössischen katholischen Theologie. Pfnür schlug 1975 vor, „das Augsburgische Bekenntnis als Zeugnis kirchlichen Glaubens durch die katholische Kirche anzuerkennen.“ Damit löste er vor dem Jubiläumsjahr 1980 eine lebhafte ökumenische Diskussion aus. Ratzinger bejahte auf einem Vortrag in Graz 1976 grundsätzlich die damit gewiesene ökumenische Aufgabenstellung und erläuterte 1978: Katholische Anerkennung der Augustana setze ihre evangelische Anerkennung voraus, „nämlich Anerkennung dessen, daß hier Kirche als Kirche lehrt und lehren kann.“ 1980 veröffentlichte die internationale Gemeinsame römisch-katholische/evangelisch-lutherische Kommission das Dokument Alle unter einem Christus. Als Ergebnis einer gemeinsamen Interpretation der Augustana wurde festgehalten, dass sie „als Ausdruck unseres gemeinsamen Glaubens wiederentdeckt“ werden könne. Auch der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen in Deutschland beschäftigte sich 1979/80 bei zwei Tagungen mit der Confessio Augustana und ihrem ökumenischen Potential. Zu einem offiziellen Akt der Anerkennung kam es nicht, weil ein Bündel an Problemen eine kirchenamtliche Anerkennung seinerzeit verhinderten. So die Frage nach der Textgestalt der Augustana, welche anzuerkennen wäre, nach der Stellung der Augustana im Kontext der anderen lutherischen Bekenntnisschriften (die Apologie und vor allem die Schmalkaldischen Artikel formulieren deutliche Abgrenzung zur römischen Kirche). 2019 hielt der römisch-katholische Fundamentaltheologe Tobias Licht eine kirchenamtliche Anerkennung angesichts der „inhaltlichen Disparatheit zwischen Konsensfähigem und Erläuterungs- bzw. Korrekturbedürftigem“ dieses historischen Textes für unrealistisch. Wünschenswert sei jedoch eine offizielle Wertschätzung seitens der römisch-katholischen Kirche für Melanchthons Versuch, 1530 die Einheit des reformatorischen Glaubens mit der abendländischen kirchlichen Tradition durch die Confessio Augustana zum Ausdruck zu bringen. Die evangelische Systematikerin Friederike Nüssel hob die Tragfähigkeit des ökumenischen Ansatzes der Confessio Augustana auch für einen weiteren Kontext hervor. Lutherische Stellungnahmen zur Gültigkeit der in der Confessio Augustana ausgesprochenen Verurteilungen Gegenüber Kirchen reformierter Tradition Mit der Unterzeichnung der Leuenberger Konkordie von 1973 haben die lutherischen Landeskirchen in Deutschland, wie die meisten anderen lutherischen Kirchen in Europa, festgestellt, dass die in der Confessio Augustana enthaltenen Verwerfungen in Hinblick auf das Abendmahl (Artikel 10) auf die gegenwärtige Lehre der reformierten Kirchen nicht zutreffen. Die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche hat die Leuenberger Konkordie nicht unterzeichnet, da an der lutherischen Lehre vom Heiligen Abendmahl, der Christologie und der Prädestination nicht festgehalten werde. Die Evangelische Kirche in Österreich, die sich aus einer lutherischen und einer reformierten Kirche zusammensetzt, bezeichnet die Confessio Augustana als „die zusammenfassende Grundschrift der reformatorischen Lehre;“ die in mehreren Artikeln ausgesprochenen Verurteilungen „wollen das Evangelium vor Entstellungen bewahren, richten sich aber nicht gegen den persönlichen Glauben bestimmter Menschen.“ Gegenüber Kirchen täuferischer Tradition Im Kontext des Augustana-Jubiläumsjahrs 1980 fragte der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden die VELKD an, wie diese sich zu den Verwerfungen der „Wiedertäufer“ in der Confessio Augustana stelle. Die Ergebnisse des darauf folgenden ökumenischen Dialogs wurden 1981 veröffentlicht. Der baptistisch-lutherische Dialog auf Weltebene thematisierte 1990 die von der Confessio Augustana ausgesprochenen Verurteilungen des Täufertums nur knapp. Er benannte die Folgen, die daraus für die moderne baptistische Bewegung entstanden: Diskriminierung und rechtliche Schwierigkeiten. Die lutherische Seite unterschied in diesem Dialog zwischen dem weiterhin bestehenden Dissens in der Frage der Taufe (Artikel 9) und den übrigen Verwerfungen, die heutige Baptisten nicht mehr treffen und auch im 16. Jahrhundert auf viele Täufer nicht zutrafen. Grundsätzlich empfiehlt der baptistisch-lutherische Dialog, „zwischen einer legitimen Ablehnung einer Lehre und einer illegitimen Verurteilung einer Person“ zu unterscheiden und schlägt vor, das in künftigen Ausgaben der lutherischen Bekenntnisschriften deutlich zu machen. Von 1989 bis 1992 fanden Gespräche zwischen der VELKD und der Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland statt. Die lutherischen Mitglieder der Gesprächskommission legten am 19. Dezember 1992 eine Stellungnahme zu den gegen die „Wiedertäufer“ gerichteten Verwerfungen der Confessio Augustana vor. Im Einzelnen: Artikel 5: Der Spiritualismus-Vorwurf trifft die Mennoniten nicht. Artikel 9: Die Verwerfung im lateinischen Text des Artikels trifft die Mennoniten nicht. Denn auch „die Kinder mennonitischer Eltern werden sichtbar der Gnade Gottes anvertraut.“ Der im deutschen Text des Artikels erhobene Vorwurf, Täufer lehrten, „dass die Kindertaufe nicht richtig sei,“ trifft auf heutige Mennoniten nicht zu. Sie halten für sich zwar an der Gläubigentaufe fest, bestreiten aber nicht Gottes Handeln bei der Kindertaufe. Artikel 12: Mennoniten lehren nicht, dass Gläubige sündenfrei lebten. Die Täufer des 16. Jahrhunderts kritisierten die lutherische Formel des Simul iustus et peccator. Heutige Lutheraner „bemühen sich auch um Heiligung des Lebens in der Nachfolge Jesu“ und nehmen damit ein täuferisches Anliegen auf. Artikel 16: Die Verwerfung der Täufer wegen ihres Rückzugs aus dem gesellschaftlichen Leben trifft die Mennoniten der Gegenwart nicht mehr „in demselben Maße“ wie die Täufer der Reformationszeit. Das Täufertum habe sich weiterentwickelt, die strenge Trennung von der Welt, etwa bei den Schweizer Brüdern, sei nicht mehr allgemein kennzeichnend. Heutige Mennoniten übernehmen gesellschaftliche Verantwortung. „Waffengewalt im Dienst und Auftrag einer staatlichen Instanz aufgrund von Rechtstiteln“ sind für sie allerdings problematisch; die lutherische Zwei-Reiche-Lehre lehnen sie ab. Artikel 16: Ein Leben in Gütergemeinschaft ist für Mennoniten nicht kennzeichnend. Der Beitritt zur Gemeinde impliziert nicht den Abbruch sozialer Beziehungen. Artikel 17: Mennoniten lehren nicht die Allversöhnung. Die lutherischen Mitglieder der Gesprächskommission bewerteten die Täuferverfolgung des 16. Jahrhunderts „als ein schuldhaftes Geschehen, das unsere Beziehung zu den mennonitischen Geschwistern belastet und für das wir um Vergebung bitten.“ Während der lutherisch-mennonitische Dialog in Deutschland so zu dem Ergebnis kam, dass alle Verwerfungen von 1530 die heutigen Mennoniten nicht mehr träfen, stellten andere nationale Dialoge in Frankreich und den Vereinigten Staaten dies nur für Artikel 5, 12 und 17 fest und sahen bezüglich Artikel 9 und 16 weiteren Klärungsbedarf. Auf der 11. Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds in Stuttgart baten die Delegierten am 22. Juli 2010 in einem Schuldbekenntnis um Vergebung für die Täuferverfolgung durch lutherische Obrigkeiten und mit der Unterstützung lutherischer Theologen vor allem im 16. Jahrhundert, für das Verdrängen der Täuferverfolgung in späterer Zeit und für irreführende Darstellung des Täufertums in kirchlichen Publikationen. Repräsentanten der Mennonitischen Weltkonferenz nahmen diese Vergebungsbitte an. Confessio Augustana und politische Ethik Als Text des 16. Jahrhunderts ist die Confessio Augustana offensichtlich „vor-demokratisch“. Artikel 16 und 28 lassen sich so verstehen, dass die Regierenden unmittelbar von Gott beauftragt seien und dass es nur Gott zustehe, ihr Regierungshandeln zu beurteilen und sie dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Ernst Troeltsch folgerte daraus, „daß dies die Kirche Augsburgischen Bekenntnisses gleichgültig gemacht habe gegenüber autoritären […] Regierungen;“ erst recht gilt das nach Einschätzung von George W. Forell und James F. McCue für die Akzeptanz der NS-Diktatur seitens lutherischer Christen. Aus pazifistischer Sicht wird besonders der Umgang der lutherischen Kirchen mit Artikel 16 der Confessio Augustana kritisiert, denn darin wird ausdrücklich Krieg als legitimes Mittel dargestellt (siehe auch gerechter Krieg). Auch in der Stellungnahme der lutherischen Landeskirchen von 1992 wurde die Kritik am Pazifismus der Täufer der damaligen Zeit nicht zurückgenommen. Durch lutherische Konfessionskirchen wurden später Kriege als undiskutierbares Staatsrecht zum Schutz einer göttlichen Ordnung gerechtfertigt, wobei sie sich u. a. auf die Confessio Augustana beriefen. Die wachsende Zerstörungskraft der Kriege führte unter Lutheranern im 20. Jahrhundert dazu, die Rede vom „gerechten Krieg“ zu überdenken. So gibt es innerhalb des Luthertums ein breites Spektrum von Meinungen, darunter einige, die täuferischer Friedensethik nahekommen. Allerdings ist Pazifismus in Mennonitengemeinden die vorherrschende Position und in lutherischen Kirchen nicht. Trotzdem „ist es für Lutheraner nicht länger möglich, andere Christen ohne Umschweife, einfach auf der Basis von Artikel XVI, zu verurteilen, wenn sie die Anwendung von tödlicher Gewalt ablehnen.“ Der Internationale Versöhnungsbund rief 2019 die in Dresden tagende EKD-Synode auf, die in Artikel 16 enthaltene Verdammung einer christlichen pazifistischen Position zu widerrufen. Diese sei im 16. Jahrhundert falsch gewesen und im 21. Jahrhundert ein Skandal. Die EKD-Synode bat daraufhin „die zuständigen Gremien der EKD, in der weiteren friedensethischen Arbeit die Ergebnisse der theologischen Auslegung von CA 16 durch die Gliedkirchen und die gliedkirchlichen Zusammenschlüsse aufzunehmen.“ Gedenktag der Augsburgischen Konfession Der 25. Juni, Tag der Übergabe der Confessio Augustana, war einer von mehreren Terminen des Reformationstags im evangelischen Kirchenjahr, bevor sich der Tag des (vermeintlichen) Thesenanschlags Luthers als Termin für Jubelfeiern durchsetzte. Zur Feier des 100. Jahrestages der Confessio Augustana im Jahre 1630 ließ Kurfürst Johann Georg I. in Sachsen ein dreitägiges „Jubelfest“ feiern. Dazu prägte die Münzstätte Dresden verschiedene Jubiläumsmünzen in Silber und Gold als Achteltaler, Vierteltaler, Halbtaler, Taler sowie Dukaten und Mehrfachdukaten. Felix Mendelssohn Bartholdy komponierte anlässlich des 300. Jahrestages der Confessio Augustana 1830 seine 5. Sinfonie op. 107, die deswegen den Beinamen „Reformations-Sinfonie“ trägt. Der „Gedenktag der Augsburgischen Konfession“ am 25. Juni hat ein Proprium im Evangelischen Gottesdienstbuch, das 1999 in den meisten Gliedkirchen der EKD eingeführt wurde; das biblische Motto der Confessio Augustana wird darin aufgenommen: „Ich rede von deinen Zeugnissen vor Königen und schäme mich nicht.“ () Die liturgische Farbe ist rot. Als Lesungen sind aus dem Alten Testament , und , als Epistel und als Evangelium (vor der Perikopenrevision nur bis Vers 30) vorgesehen. Ergänzt wird das Proprium um das Leitwort , den Tagespsalm sowie um die Tageslieder „Es ist das Heil uns kommen her“ (EG 342) und „Ist Gott für mich, so trete“ (EG 351). (Vor der Perikopenrevision statt EG 351 „Kommt her, des Königs Aufgebot“ (EG 259).) Historische Drucke (Auswahl) Erstausgabe, lateinisch: CONFESSIO FIDEI || exhibita inuictiss. Imp. Carolo V. || Caesari Aug. in Comicijs || Augustae || Anno || M. D. XXX. || Addita est Apologia Confessionis. Beide, Deudsch || und Latinisch. || Psalm 119. || Et loquebar de testimonijs tuis in con=||spectu Regum, & non confundebar, Wittenberg: Georg Rhau 1531 (). Erstausgabe, frühneuhochdeutsch: Confessio odder Be=||kantnus des Glau=||bens etlicher Fürsten || und Stedte: Uber=||antwort Keiserlicher || Maiestat: || zu Augspurg. || Anno M. D. XXX. || Apologia der Confessio. Wittenberg: Georg Rhau 1531 (Exemplar in der Universitätsbibliothek Heidelberg, Sig. Sal. 108,7; Zuordnung zu einer im VD 16 verzeichneten Wittenberger Ausgabe von 1531 „aufgrund abweichender Erkennungslesarten und Exemplarzuordnungen nicht möglich“) Confessio Augustana variata prima: Confessio || odder Bekantnus || des Glaubens etlicher Für=||sten vnd Stedte / Vberantwort || Keiserlicher Maiestat / auff || dem Reichstag ge=||halten / || zu Augspurg / || Anno M.D.XXX. || Apologia der Confessio / || mit vleis emendirt. Wittenberg: Georg Rhau 1533 (). CONFESSIO FI=||DEI EXHIBITA INVICTISS. || IMP: CAROLO V. CAESARI AVG. || in Comiciis Augustae. ANNO || M. D. XXX. || ADDITA EST APOLOGIA || Confessionis. || Psalm. 119. || Et loquebar de testimonijs tuis in conspectu Regum, || & non confundebar. || M. D. XXXV. Augsburg: Alexander Weißenhorn 1535 (). Confessio Augustana variata secunda (= „die Variata“): CONFESSIO || FIDEI EXHIBITA || INVICTISS. IMP. CAROLO || V. Caesari Aug. in Comicijs || AVGVSTAE. || ANNO. M. D. XXX. || Additia est Apologia Confessi=||onis diligenter recognita. || PSALMO. CXIX. || Et loquebar de testimonijs tuis in || conspectu Regum, et non con=||fundebar. Wittenberg: Georg Rhau 1540 (). Confessio Augustana variata tertia: CONFESSIO || FIDEI EXHIBITA IN=||VICTISS. IMP. CAROLO V. || Caesari Aug. in Comicijs || AVGVSTAE. || ANNO. M. D. XXX. || Addita est Apologia Confeßionis || diligenter recognita. || Psalm. 119. || Et loquebar de testimonijs tuis || in conspectu Regum, || et non || confundebar. Wittenberg: Georg Rhau 1542 (). Literatur Textausgaben Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930. Vandenhoeck & Ruprecht, 11. Auflage Göttingen 1992. ISBN 3-525-52101-4. (= BSLK) Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hrsg. von Irene Dingel. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, ISBN 978-3-525-52104-5. (= BSELK) Confessio Augustana Variata. Das protestantische Einheitsbekenntnis von 1540. Speyer 1993, ISBN 3-925536-51-5. Fachlexika Kommentare Leif Grane: Die Confessio Augustana. Einführung in die Hauptgedanken der lutherischen Reformation. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1980, ISBN 3-525-03263-3; 6. Auflage UTB 1400, 2006, ISBN 3-8252-1400-1 (Original dänisch 1959). Wilhelm Maurer: Historischer Kommentar zur Confessio Augustana. Gütersloher Verlags-Haus, Gütersloh 1976/78, Band 1: ISBN 3-579-04148-7, Band 2: ISBN 3-579-04201-7. Gunther Wenz: Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 2 Bände. De Gruyter, Berlin/New York 1996, ISBN 3-11-015239-8. Artikel und Monographien Heinrich Bornkamm: Der authentische lateinische Text der Confessio Augustana (1530). 2. Auflage. Winter, Heidelberg 1980. ISBN 3-533-01690-0. Johannes Ehmann: Zwischen Konfession und Union. Zur Diskussion über die Vereinbarkeit von Heidelberger Katechismus und Augsburger Bekenntnis. 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Das Augsburgische Bekenntnis (1530); frühneuhochdeutsch-lateinisch, Textfassung nach Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (BSLK) auf der Website Fachbereich Weltanschauungsfragen.Informationen zu religiösen und weltanschaulichen Strömungen der Erzdiözese München und Freising (pdf; 307 kB) Die Augsburger Konfession – Confessio Augustana (CA) in modernem Deutsch; Auszug aus der Publikation Unser Glaube der VELKD, Neubearbeitung 2013 Anmerkungen Bekenntnisschrift der evangelisch-lutherischen Kirche Reformation (Deutschland) Christentumsgeschichte (Augsburg) Philipp Melanchthon Religion 1530
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https://de.wikipedia.org/wiki/Zervixkarzinom
Zervixkarzinom
Das Zervixkarzinom (), auch Kollumkarzinom (von ) oder Gebärmutterhalskrebs genannt, ist ein bösartiger (maligner) Tumor des Gebärmutterhalses (Cervix uteri). Es ist weltweit der vierthäufigste bösartige Tumor bei Frauen. Histologisch handelt es sich in der Mehrheit der Fälle um ein Plattenepithelkarzinom. Die häufigste Ursache für ein Zervixkarzinom ist eine Infektion mit bestimmten Typen des humanen Papillomvirus (HPV). Das Zervixkarzinom verursacht zunächst keine Schmerzen, nur gelegentlich treten leichte Schmierblutungen auf. Erst wenn der Tumor größer wird und mit Geschwürbildung zerfällt, kommt es zu fleischwasserfarbigem, süßlich riechendem Scheidenausfluss. Im Frühstadium ist die vollständige Entfernung der Veränderung durch eine Konisation ausreichend. Im fortgeschrittenen Stadium werden die Entfernung der ganzen Gebärmutter mit umliegendem Gewebe und manchmal auch weiterer Organe notwendig. Eine Untersuchung zur Früherkennung ist der Pap-Test. Eine Impfung mit einem HPV-Impfstoff verhindert eine Infektion durch die zwei häufigsten Hochrisiko-HPV-Typen und verringert damit das Risiko der Entstehung eines Zervixkarzinoms. Epidemiologie Das Zervixkarzinom ist weltweit der vierthäufigste bösartige Tumor bei Frauen und der siebthäufigste insgesamt. Im Jahr 2012 erkrankten weltweit 528.000 Frauen, etwa 266.000 starben daran. In der weltweiten Todesursachenstatistik 2005 der gynäkologischen Malignome steht besonders das in das umgebende Gewebe hineinwuchernde (invasive) Zervixkarzinom damit auf Rang eins, mit einer Sterblichkeit (Letalität) von über 60 Prozent. Häufigkeit Die Häufigkeit (Inzidenz) beim Gebärmutterhalskrebs unterscheidet sich weltweit erheblich. Sie lag beispielsweise 2002 in Finnland bei 3,6 und in Kolumbien bei jährlich 45 Neuerkrankungen pro 100.000 Frauen. In Deutschland lag sie 1979 bei noch circa 35, sank 2002 dann auf 13,3 und bis 2019 auf 9,2. Früher der häufigste Genitalkrebs der Frau, konnte durch Früherkennungsuntersuchungen und HPV-Impfungen bis 2008 die Häufigkeit in Mitteleuropa auf zirka 25 Prozent aller Genitalkarzinome gesenkt werden. Entsprechend zeigt die Häufigkeit zervikaler Krebsvorstufen eine steigende Tendenz, sie liegt etwa beim 50- bis 100-fachen der Inzidenz invasiver Zervixkarzinome. 2019 erkrankten in Deutschland circa 4.575 Frauen neu an einem Zervixkarzinom. Nach Stand 2022 sterben jährlich etwa 1.600 daran, 30 Jahre vorher waren es noch mehr als doppelt soviele; die 5-Jahres-Überlebenswahrscheinlichkeit nach der Diagnose eines invasiven Gebärmutterhalstumors liegt bei 65 %. Erkennungsalter Das Zervixkarzinom wird am häufigsten im Alter von 45 bis 55 Jahren diagnostiziert, Vorstufen können schon bei 20- bis 30-jährigen Patientinnen auftreten. Das mittlere Alter bei der Erstdiagnose des Zervixkarzinoms sank in den letzten 25 Jahren um 14 Jahre und liegt derzeit bei etwa 52 Jahren. In der Altersverteilung findet man einen Gipfel zwischen dem 35. und 54. Lebensjahr sowie einen weiteren Anstieg ab dem 65. Lebensjahr. 2003 zeigte die Erkrankungshäufigkeit eine veränderte Altersverteilung, weil die Diagnose deutlich häufiger bei Frauen in einem Alter zwischen 25 und 35 Jahren gestellt wurde als bei Frauen, die über 65 Jahre alt waren. Die Erkrankung kann auch in der Schwangerschaft auftreten. Die Häufigkeit beträgt hier 1,2 pro 10.000 Schwangerschaften. Ursachen Etwa 97 % der Gebärmutterhalskarzinome sind assoziiert mit dem humanen Papillomvirus (HPV). Eine Infektion mit den HP-Viren Typ 16 und Typ 18 liegt dabei am häufigsten vor. (s.S3 Leitlinie Zervixkarzinom von 2014) Weitere Faktoren wie Rauchen, genitale Infektionen, die Langzeiteinnahme von oralen Kontrazeptiva, eine hohe Zahl an vorangegangenen Geburten (hohe Parität) sowie die Suppression des Immunsystems stehen in der Diskussion, bei Hochrisiko-HPV-Infektionen die Krebsentstehung zu fördern. Weitere prädisponierende Faktoren sind unter anderem der frühzeitige Beginn des Sexualverkehrs, hohe Promiskuität sowie mangelnde Sexualhygiene beider Partner und niedriger sozialer Status. Genetische Faktoren können ebenfalls einen Risikobeitrag leisten. Bekannt sind aber auch einige Erkrankungen bei teilweise sehr jungen Frauen ohne erkennbare Risikofaktoren. Eine der ersten wurde bereits 1887 beschrieben. Durch Intrauterinpessare wird das Risiko für Gebärmutterhalskrebs nach einer großen Metaanalyse aus dem Jahr 2011 nicht erhöht, sondern verringert. HPV-Infektion Die auch Kondyloma-Viren genannten Erreger wurden früher zur Familie der Papovaviridae gezählt. Es sind kugelförmige, unbehüllte, doppelsträngige DNA-Viren (dsDNA; aus der Gruppe der Papillomaviridae), von denen insgesamt zirka 200 verschiedene Typen bekannt sind. Die meisten davon sind für den Menschen relativ harmlos, können aber unangenehme Feigwarzen im Genitalbereich verursachen. Die Typen 16 und 18 können bei 70 Prozent der Zervixkarzinome, der zervikalen intraepithelialen Neoplasien und den Adenokarzinomen in situ nachgewiesen werden. Außerdem treten sie auch häufig beim Analkarzinom auf. Die Typen 6 und 11 sind für eher gutartige (d. h. nicht metastasierende oder invasiv wachsende) Tumoren wie Genitalwarzen verantwortlich und finden sich auch bei anderen Tumoren, wie z. B. bei Papillomen im Oropharynx. Außer diesen wurden aber bereits noch mindestens 18 weitere HP-Virentypen in Gebärmutterhalstumoren entdeckt. Nach dem heutigen Wissensstand kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch andere Typen krankheitserregend (pathogen) sind. Für alle genannten HP-Virenarten ist im Gegensatz zum Beispiel zu den Influenza-Viren allein der Mensch der Haupt- oder Reservoirwirt. Die Viren haben sich dem menschlichen Organismus angepasst. Eine Schädigung ihres Reservoirwirts hat für sie keinen vorteilhaften Effekt, da sie ja zur eigenen Vermehrung auf diesen angewiesen sind. Die dennoch von diesen Viren beim Reservoirwirt ausgelösten Gebärmutterhalskarzinome sind letztlich nur Nebeneffekte der Infektion. Die Infektion mit diesen Viren findet meist im Jugendalter durch Kontaktinfektion beziehungsweise Schmierinfektion bei den ersten Sexualkontakten statt. Anschließend können diese Viren jahrelang inaktiv bleiben. Allerdings ist auch ohne Sexualkontakt eine Infektion möglich, beispielsweise während der Geburt. Hier kann es beim Säugling sehr selten durch die HPV-Typen 6 und 11 zu Wucherungen (Larynxpapillome) am Kehlkopf kommen. Eine Übertragung anderer HPV-Typen auf diesem Weg scheint möglich. Eine Übertragung durch anderen Körperkontakt, wie zwischen Händen und Genitalien, scheint ebenfalls möglich. Andere Übertragungswege, wie über Schwimmbäder oder kontaminierte Toiletten, werden diskutiert, konnten aber bislang nicht nachgewiesen werden. Wenn es den Viren gelungen ist, in die Basalzellen (in tiefen Zellschichten von Epithelien auf oder in der Nähe der Basalmembran liegende Zellen) des Gebärmutterhalses einzudringen, bringen sie diese dazu, ihr Virenerbgut herzustellen, was sie – wie alle Viren – selbst nicht können. Die Zellen müssen daher auch zur Teilung angeregt bzw. im Teilungszustand gehalten werden, damit sie das Virenerbgut herstellen können. Und genau bei diesem Vorgang treten folgende Fehler auf: Die Erregerviren schalten die Kontrollmoleküle der Gebärmutterhalszellen aus, die gewöhnlich eine Zellteilung begrenzen bzw. bei einem fehlerhaften Teilungsvorgang die Zelle in den programmierten Zelltod (Apoptose) schicken können (p53 und pRB). Die Tumorbildung setzt noch zusätzlich den Einbau des Virusgenoms in das Genom der Wirtszelle voraus. Dieser Vorgang ereignet sich spontan (zufällig), er ist nicht enzymatisch gesteuert. Dies allein genügt in der Regel noch nicht für die Tumorbildung, begünstigt aber weitere Schädigungen, die letztlich zur Tumorbildung führen. Sobald die Tumorzellen die Basalmembran durchbrochen haben, können sie mit dem Blut oder der Lymphflüssigkeit in andere Körperregionen gelangen, sich dort vermehren und dadurch sogenannte Tochtergeschwülste (Metastasen) erzeugen. Normalerweise erkennt ein gesundes und abwehrstarkes Immunsystem derartig veränderte Zellen und tötet sie ab. Etwa 70 Prozent der infizierten Patientinnen haben nach zwei Jahren das jeweilige Virus eliminiert. Allerdings gelingt es den betreffenden Erregern bei manchen Frauen, auf eine noch nicht bekannte Weise das Immunsystem zu überwinden. Bei Hochrisiko-HPV-Typen ist dies bei etwa jeder zehnten Infektion der Fall. Man spricht in solchen Fällen von einer persistierenden Infektion, wenn die Viren länger als 6 bis 18 Monate nachweisbar sind. Eine solche ist nach heutiger Kenntnis Voraussetzung für die virusbedingte Entstehung von Krebs. Sind bei einer Frau 18 Monate nach der Erstdiagnose der HPV-Infektion noch Hochrisikotypen nachweisbar, ist die Wahrscheinlichkeit, an Gebärmutterhalskrebs zu erkranken, für die Frau etwa 300-mal so hoch wie für eine nicht (mehr) infizierte Frau. Bei den betreffenden Frauen kann dann innerhalb von 10 bis 20 Jahren nach der Infektion ein Gebärmutterhalskrebs entstehen. Dieser Zusammenhang erklärt auch, warum dieser Krebs derzeit besonders bei Frauen im Alter von 35 bis 40 Jahren festgestellt wird und in letzter Zeit eine deutliche Tendenz zum jüngeren Alter zeigt. Es passt zu der in modernen Gesellschaften bestehenden Tendenz zu früherer sexueller Aktivität und der durchschnittlich größeren Zahl von Sexualpartnern. Rauchen Rauchen stellt einen unabhängigen Risikofaktor für die Entstehung eines Zervixkarzinoms dar. Hochrisiko-HPV-infizierte Raucherinnen haben ein höheres Erkrankungsrisiko als Hochrisiko-HPV-infizierte Frauen, die nie geraucht haben. Dabei ließ sich insbesondere ein erhöhtes Risiko für Plattenepithelkarzinome nachweisen, nicht für Adenokarzinome. Das Risiko ist offenbar abhängig von der Zahl der pro Tag gerauchten Zigaretten und dem Alter, in dem mit dem Rauchen begonnen wurde, und besteht auch bei ehemaligen Raucherinnen weiter. Krebserregende Abbauprodukte des Tabakrauchs ließen sich in der Gebärmutterhalsschleimhaut nachweisen. HPV-Infektionen bleiben bei Raucherinnen länger bestehen, so dass es hier öfter zu persistierenden Infektionen kommt. Andere Genitalinfektionen Es besteht der Verdacht, dass eine zusätzliche Infektion des Genitalbereichs mit anderen sexuell übertragbaren Erregern wie Chlamydien und Herpes simplex 2 zur Krebsentstehung beitragen kann, wenn bereits eine Infektion mit Hochrisiko-HPV besteht. Entstehung Die Erkrankung entsteht durch Veränderungen von Zellen und schließlich Gewebestrukturen stufenweise aus einer sogenannten Zervikalen intraepithelialen Neoplasie (englisch Cervical Intraepithelial Neoplasia) (CIN I bis III). Dabei gelten die dysplastischen Zellveränderungen bei CIN I und II als rückbildungsfähig. CIN III stellt dagegen eine obligate Präkanzerose dar. Das heißt, mehr als 30 Prozent entwickeln sich innerhalb von fünf Jahren in eine Krebserkrankung. Dabei werden unter CIN III wegen des gleichen biologischen Verhaltens die hochgradige Dysplasie und das Carcinoma in situ (CIS) zusammengefasst. Krankheitsverlauf/Symptome Es entwickeln sich nur bei 2 bis 8 Prozent der HPV-infizierten Frauen Zellveränderungen, die ein Vorstadium für eine Krebserkrankung darstellen, oder sogar anschließend ein Karzinom. Zervixkarzinome bilden sich in der Regel völlig unauffällig und ohne Schmerzen. Nur gelegentlich können mehr oder minder leichte Schmierblutungen auf ein solches Geschehen hinweisen. Erst wenn der Tumor größer wird und unter Geschwürbildung zerfällt, kommt es zu fleischwasserfarbigem, süßlich riechendem Scheidenausfluss, unregelmäßigen Blutungen und Kontaktblutungen beim Geschlechtsverkehr. Unbehandelt wächst der Tumor in Harnblase, Mastdarm und andere Strukturen des kleinen Beckens wie die Harnleiter ein, beschädigt oder zerstört diese gar und führt dadurch zu Folgeerscheinungen, wie einer Stauung der Nieren oder Lymphödemen der Beine. Außerdem kann es zu Metastasen in anderen Körperregionen kommen, weil sich Tumorzellen über die Lymphgefäße (lymphogen) und den Blutkreislauf (hämatogen) im Körper verteilen und an einem anderen Ort ansiedeln und vermehren können. Eine Schwangerschaft beeinflusst den Krankheitsverlauf nicht. Auch für die Kinder besteht keine direkte Gefahr. Jedoch kann es bei einer natürlichen Geburt des Kindes zu Wucherungen am Kehlkopf kommen. Untersuchungsmethoden Die Diagnose eines Zervixkarzinoms kann nur durch histologische Untersuchung von Gewebestücken gestellt werden. Diese werden entweder durch eine gezielte Probenentnahme aus einem bei der Kolposkopie auffälligen Bereich am Muttermund, eine Konisation nach wiederholt auffälligem Pap-Test oder eine Ausschabung bei Verdacht auf eine im Gebärmutterhalskanal befindliche Veränderung gewonnen. Bei nachgewiesenem Karzinom sind zur Stadienbestimmung eine Röntgenuntersuchung der Lunge, eine Sonografie durch die Scheide, eine Sonografie beider Nieren und der Leber, eine Zystoskopie und Rektoskopie zum Ausschluss oder Nachweis eines Tumoreinbruchs in Harnblase oder Enddarm notwendig. Ab dem Stadium FIGO IB2 wird zur Feststellung der Tumorausdehnung eine Kernspintomographie (MRT) empfohlen, da diese in Ergänzung zur Tastuntersuchung geeignet ist, die Größe des Tumors im kleinen Becken, die Beziehung zu den Nachbarorganen und die Eindringtiefe zu bestimmen. Pathologie Die Mehrheit aller invasiven Zervixkarzinome sind Plattenepithelkarzinome (80 Prozent), gefolgt von den Adenokarzinomen (5–15 Prozent). Bevorzugter Entstehungsort ist die sogenannte Transformationszone, in welcher das Plattenepithel der Portio auf das Zylinderepithel des Zervix trifft. Andere Tumorformen, wie Adenokankroide, adenosquamöse und mukoepidermoide Karzinome, sind selten. Als Besonderheit treten, ebenfalls selten, sogenannte Gartnergangkarzinome auf. Sie gehen vom Gartnerschen Gang, einem kleinen Teil des rückgebildeten Wolffschen Ganges, aus. Da sich dieser Tumortyp in der Tiefe entwickelt und erst im Verlauf in den Gebärmutterhalskanal durchbricht, hilft die übliche Früherkennung hier nicht. Sarkome der Gebärmutter können sehr selten auch die Zervix befallen. Eine Sonderstellung nehmen dabei die Müllerschen Mischtumoren ein, bei denen karzinomatöse und sarkomatöse Komponenten im gleichen Tumor auftreten. Auch sie befallen eher den Gebärmutterkörper als die Zervix. Die Tumortypisierung erfolgt nach der WHO-Klassifikation, die Stadieneinteilung vor einer Operation klinisch nach der FIGO-Klassifikation. Nach einer operativen Behandlung erfolgt die Stadieneinteilung nach der pTNM-Klassifikation, welche eine histologische Beurteilung durch einen Pathologen einschließt und in der Stadienbezeichnung durch ein vorangestelltes kleines p angezeigt wird. Der Differenzierungsgrad des Krebsgewebes wird nach der UICC (Union Internationale Contre le Cancer) beurteilt. Anmerkungen: Die Klassifikation der UICC und der FIGO wurden für das T- und M-Stadium angeglichen. Die FIGO verwendet kein Stadium 0 (= Tis). Das N-Stadium (Lymphknotenbefall) ist nur in der Klassifikation der UICC (TNM) enthalten. Hierin sind als regionäre Lymphknoten (LK) definiert: parazervikale LK parametrane LK hypogastrische LK an den Arteriae iliacae internae LK an den Arteriae ilicae communes LK an den Arteriae ilicae externae praesakrale LK laterale sakrale LK Paraaortale und inguinale LK (Leisten-LK) sind nach TNM-Klassifikation der UICC nicht regionär. Bei Befall besteht ein Stadium M1. Die Figo-Klassifikation von 2019 definiert befallene, regionäre Lymphknoten nunmehr als Stadium IIIC. Im Gegensatz zur TNM-Klassifikation der UICC werden hierbei paraortale Lymphknoten bis zur linken Vena ranalis als regionäre Lymphknoten und nicht als Fernmetastasen gewertet. Dabei definieren befallene pelvine Lymphknoten das Stadium IIIC1 und befallene paraortale Lymphknoten das Stadium IIIC2. Behandlung Die Therapie des Zervixkarzinoms und seiner Vorstufen richtet sich nach dem jeweiligen Stadium: Behandlung der Krebsvorstufen Eine Zervikale intraepitheliale Neoplasie (CIN) I kann über maximal 24 Monate im Abstand von sechs Monaten regelmäßig zytologisch und kolposkopisch beobachtet werden, wenn die Veränderungen im äußeren Bereich der Portio gut zu kontrollieren sind. Dabei können sich die Veränderungen zurückbilden oder weiterentwickeln. Voraussetzung dafür ist die sichere Diagnose durch Probeentnahme und histologische Untersuchung. CIN I im Inneren des Gebärmutterhalses (intrazervikaler Sitz, nicht gut beobachtbar) sollten bald mit einer Konisation behandelt werden. Eine Verlaufskontrolle und damit eine Verschiebung der Behandlung ist auch bei der CIN II und III in einer Schwangerschaft möglich, um die Lebensfähigkeit des Kindes abzuwarten. Außerhalb einer Schwangerschaft sollte bei einer CIN II, die über zwölf Monate bestehen bleibt, und bei der CIN III eine Operation durchgeführt werden. Beim Carcinoma in situ ist nach vollständiger Entfernung der Veränderung durch eine Konisation oder – im Falle einer abgeschlossenen Familienplanung – nach kompletter Gebärmutterentfernung (Hysterektomie) keine weitere Behandlung nötig. Bei unvollständiger Entfernung besteht die Möglichkeit einer erneuten Konisation. Eine Konisation kann bei strenger Indikationsstellung auch in der Schwangerschaft durchgeführt werden. Bei einem Carcinoma in situ mit vollständiger Entfernung der Veränderungen durch die Konisation kann die Schwangerschaft ausgetragen werden, das Risiko einer Frühgeburt ist dann erhöht. Eine normale Geburt ist möglich. Sechs Wochen nach der Geburt sollte dann eine erneute kolposkopische und zytologische Kontrolle erfolgen. Behandlung des Gebärmutterhalskrebses Im Stadium FIGO IA1 kann, wie bei den Krebsvorstufen, eine Konisation ausreichend sein, wenn der Tumor vollständig entfernt wurde und noch Kinderwunsch besteht, wobei dabei das Risiko für eine Zervixinsuffizienz oder auch eine Zervixstenose in der Schwangerschaft erhöht ist. Ohne Kinderwunsch sollte eine einfache Gebärmutterentfernung erfolgen. Bei Lymphgefäßeinbrüchen ist eine zusätzliche pelvine Lymphknotenentfernung angezeigt. In den Stadien IA2, IB, IIA, IIB ist eine erweiterte Hysterektomie (radikale Hysterektomie) und systematische pelvine, stadienabhängig gegebenenfalls eine paraaortale Lymphonodektomie (Entfernung aller an der Aorta gelegenen Lymphknoten) angezeigt. Hier kommt bislang die Wertheim-Meigs-Operation als Standardtherapie zum Einsatz. Bei Plattenepithelkarzinomen können bei jungen Frauen die Eierstöcke erhalten bleiben. Liegt ein Adenokarzinom vor, wird wegen einer höheren Metastasierungswahrscheinlichkeit in die Eierstöcke eine Entfernung auch bei jungen Frauen empfohlen. Je nach histologischem Befund ist nach der Operation eine Strahlentherapie oder Radiochemotherapie nötig. Die Klassifikation nach Piver, oder auch Rutledge-Piver, unterscheidet fünf Grade der Radikalität einer Hysterektomie beim Gebärmutterhalskrebs. Sie wurde nach den amerikanischen Gynäkologen M. Steven Piver und Felix Rutledge benannt. Als Alternativen stehen heute an Zentren die Totale mesometriale Resektion (TMMR) mit einer nervenschonenden Präparationstechnik (gezieltes Freilegen) in anatomisch-embryonalen Entwicklungsgrenzen und Verzicht auf eine anschließende Bestrahlung bei dennoch gleichen bzw. sogar besseren Überlebensdaten, die laparoskopisch assistierte vaginale radikale Hysterektomie (LAVRH) mit nervenschonender vaginaler Radikaloperation und laparoskopischer Lymphknotenentfernung sowie die laparoskopische radikale Hysterektomie (LRH) mit vollständiger laparoskopischer Präparation zur Verfügung. Bei noch bestehendem Kinderwunsch kann in den Stadien IA2 und IB1 mit Tumoren < 2 cm über eine radikale Trachelektomie nach Dargent mit Lymphonodektomie und damit ein Erhalt der Fruchtbarkeit nachgedacht werden, wenn es sich um ein Plattenepithelkarzinom handelt, die Lymphknoten tumorfrei sind und keine weiteren Risikofaktoren vorliegen. Diese Verfahren stellen derzeit keine Routine dar, sie können jedoch sowohl durch Schonung der für die Harnblasen- und Darmentleerung verantwortlichen Nerven, wie eine Vermeidung einer Nachbestrahlung nach der Operation bei der TMMR, oder dem Erhalt der Fruchtbarkeit bei der Trachelektomie, den Patientinnen Vorteile bieten. In den Stadien III und IV ist eine primäre kombinierte Strahlentherapie oder besser eine simultane Radiochemotherapie erforderlich. Bei einem zentralen Tumorsitz mit Blasen- und/oder Rektuminfiltration ist auch im Stadium IV eine Operation in Form einer Exenteration möglich, wenn die Beckenwand tumorfrei ist. Behandlung in der Schwangerschaft Im Stadium IA1 mit vollständiger Entfernung der Veränderungen durch eine Konisation kann die Schwangerschaft, wie bei der CIN III, ausgetragen und das Kind auf vaginalem Weg geboren werden. Sechs Wochen nach der Geburt ist eine kolposkopische und zytologische Kontrolle notwendig. In den Stadien IB bis IIA sollte bei einer frühen Schwangerschaft die entsprechende chirurgische Behandlung durchgeführt werden und damit die Schwangerschaft abgebrochen werden. Ist die Schwangerschaft bereits weiter fortgeschritten, ist eine baldige Geburt des Kindes mittels Schnittentbindung und anschließender radikaler Hysterektomie mit Lymphknotenentfernung anzuraten. Behandlung des Rezidivs Die Behandlung des Zervixkarzinomrezidivs ist abhängig vom Befund und der vorangegangenen Behandlung. Eine Operation beim zentralen, also in Beckenmitte gelegenen Rezidiv ist möglich, meist im Sinne einer radikalen Hysterektomie nach früherer Strahlenbehandlung oder Exenteration nach bereits erfolgter Gebärmutterentfernung. Nicht vorbestrahlte Patientinnen können eine Strahlentherapie erhalten. Die Wertigkeit einer Radiochemotherapie beim Rezidiv ist noch nicht endgültig geklärt. Bei bereits vorbestrahlten Patientinnen mit Beckenwandrezidiv bestehen eingeschränkte kurative Behandlungsansätze in speziellen Therapieverfahren: operativ (Lateral erweiterte endopelvine Resektion, LEER) sowie die intraoperative Radiotherapie (IORT) oder die Kombination von beiden (Combined operative radiotherapy, CORT). Vorbeugung Primäre Prävention Die primäre Prävention besteht in einer Vermeidung von Risikofaktoren, wie genitalen Infektionen, häufigem Partnerwechsel und Rauchen. Seit dem Jahr 2006 besteht die Möglichkeit einer Impfung der Frau gegen einige der krebsauslösenden HP-Viren. Auch die Benutzung von Kondomen sowie die Zirkumzision des Mannes führen zu einer Senkung des Infektions- und damit des Krebsrisikos. Anders als bei anderen sexuell übertragbaren Erkrankungen, die einen zusätzlichen Risikofaktor darstellen, bietet das Kondom jedoch keinen sicheren Schutz vor Infektion. Impfung 2006 wurde ein erster HPV-Impfstoff zugelassen, das von Sanofi Pasteur MSD auf Grundlage von Forschungsergebnissen des Deutschen Krebsforschungszentrums und des amerikanischen National Institute of Health entwickelte Gardasil (quadrivalenter Impfstoff = wirksam gegen die vier HPV-Typen 6, 11, 16 und 18). 2007 wurde in der Europäischen Union ein bivalenter Impfstoff (wirksam gegen die zwei HPV-Typen 16 und 18) von der Firma GlaxoSmithKline unter dem Handelsnamen Cervarix zugelassen. 2016 folgte die Zulassung eines 9-valenten Impfstoffes, Gardasil 9, der gegen die HPV-Typen 6, 11, 16, 18, 31, 33, 45, 52, und 58 gerichtet ist. Die Hochrisiko-HPV-Typen 16 und 18 sind weltweit für etwa 70 % aller Zervixkarzinome bei der Frau verantwortlich. Die Papillomaviren vom Typ 6 und 11 sind primär verantwortlich für die Entstehung von Genitalwarzen (Feigwarzen). Alle derzeit zugelassenen Impfstoffe beugen der Entwicklung zervikaler intraepithelialer Neoplasien vor. Eine bereits bestehende HPV-Infektion kann nicht behandelt bzw. beseitigt werden. Ebenso wenig können die Folgen einer solchen Infektion, wie beispielsweise Gebärmutterhalskrebs oder dessen Vorstufen, mittels einer Impfung behandelt werden. Die Vorsorgeuntersuchung zur frühzeitigen Erkennung des Gebärmutterhalskrebses (Pap-Test) wird auch für geimpfte Frauen weiterhin empfohlen, da die Impfung nur gegen einen Teil der Papillomaviren wirksam ist. Nach einer Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses von September 2018 übernehmen alle gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland die Kosten der Impfung bei Mädchen und Jungen im Alter zwischen 9 und 17 Jahren. Analoges wird auch in Österreich und in der Schweiz gemacht. Bei Männern bzw. Jungen wird eine Impfung empfohlen, da Krebserkrankungen des Penis, des Anus und des Mundes HPV-bedingt auftreten können; hierbei werden jährlich 600 Anal- und mindestens 250 Peniskarzinome sowie mindestens 750 Karzinome in der Mundhöhle bzw. im Rachen als Neuerkrankungen registriert. Darüber hinaus ist eine Übertragung trotz Kondomnutzung beim Geschlechtsverkehr, bei orogenitalen Sexualpraktiken eine Transmission in die Mundhöhle oder den Oropharynx möglich. Beschneidung des Mannes Eine 2011 veröffentlichte Studie an 18 beschnittenen und 39 unbeschnittenen ugandischen Männern zeigte, dass es eine negative statistische Korrelation gab zwischen der Beschneidung des Mannes und dem Risiko der Frau, mit HP-Viren infiziert zu werden. Für die geringere Rate an HPV-Infektionen scheint die deutliche Verringerung der Schleimhautfläche verantwortlich zu sein, die anfälliger für kleinste Verletzungen und Infektionen ist als Haut oder dickere Epithelien, wie auf der Eichel des Penis. Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2007 konnte nach einer Literaturanalyse jedoch keinen Zusammenhang nachweisen. Allerdings bestehen Zweifel an der Korrektheit letzterer Studie und damit auch deren Aussage. Sekundäre Prävention (Früherkennung von Krebsvorstufen) Die Früherkennung des Zervixkarzinoms in Form einer Screening-Untersuchung ist eine sogenannte sekundäre Prävention durch Erkennung von Vorstufen eines Karzinoms durch Abstrichuntersuchungen (Pap-Test). In Deutschland sind die Mindestanforderungen für das Screening gesetzlich durch den Gemeinsamen Bundesausschuss geregelt. Ab dem 20. Lebensjahr steht Frauen die Untersuchung einmal jährlich zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung zur Verfügung. Die zytologische Abstrichentnahme erfolgt unter Spiegeleinstellung gezielt, möglichst unter kolposkopischer Kontrolle, von der Portiooberfläche sowie aus dem Zervikalkanal (mit einem Spatel oder einer kleinen Bürste). Ist bei der Spekuloskopie oder Kolposkopie vom makroskopischen Erscheinungsbild der Verdacht einer Veränderung vorhanden, sollte eine engmaschige Wiederholung der Abstrichuntersuchung durchgeführt werden. Bei wiederholt verdächtigen Befunden ist die Diagnostik um eine histologische Probenentnahme zu erweitern. Bei immunsupprimierten Frauen wird zu zwei Früherkennungsuntersuchungen der Zervix im Jahr, alle zwei Jahre mit zusätzlichem Nachweis von Papillomviren, geraten. Während der Pap-Test bei einmaliger Durchführung etwa die Hälfte der Krebsfälle oder direkten Krebsvorstufen übersieht, können mit der Kombination aus Pap-Test und Virusnachweis fast alle Krebsvorstufen erkannt werden. 2017 empfahl die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe daher unter Berücksichtigung neuer Studien in ihrer Leitlinie zum Zervixkarzinom die Durchführung eines HPV-Tests auch bei unauffälligem Pap-Test. Zum 1. Januar 2020 startete daraufhin in Deutschland das Programm zur Früherkennung des Zervixkarzinoms, das bei Frauen ab 35 Jahren alle drei Jahre einen Kombinationsabstrich (Co-Test) aus Pap- und HPV-Test vorsieht. Bei unauffälligem Ergebnis wird der Co-Test nach drei Jahren wiederholt, jährliche Abstriche sind in diesem Fall nicht vorgesehen. Bei Nachweis eines Hochrisiko-HPV-Typs wird der Test nach einem Jahr wiederholt, bei wiederholtem HPV-Nachweis oder höhergradigen Zellveränderungen im Pap-Abstrich wird eine Kolposkopie mit Entnahme histologischer Proben durchgeführt. Für Frauen zwischen 20 und 34 wird weiterhin jährlich ein Pap-Test durchgeführt, da in dieser Altersgruppe der HPV-Test eine deutlich geringere Aussagekraft hat. Die Screening-Programme auf Gebärmutterhalskrebs unterscheiden sich in den Mitgliedsländern der Europäischen Union hinsichtlich der empfohlenen Zeitintervalle, der eingeschlossenen Altersgruppen und der Organisation des Screenings. In Deutschland werden die Befunde nach der Münchner Nomenklatur II klassifiziert, während in englischsprachigen Ländern meist die Bethesda-Klassifikation zum Einsatz kommt. Eine international verbindliche Klassifikation gibt es derzeit nicht. Heilungsaussicht Bei den Krebsvorstufen CIN I und II ist eine vollständige spontane Rückbildung möglich. Nach einer Behandlung des CIN III und Carcinoma in situ ist von einer vollständigen Heilung auszugehen. Allerdings kann es zu einem erneuten Auftreten solcher Veränderungen kommen. Das Risiko dafür scheint erhöht, wenn eine HPV-Infektion nach einer Konisation weiter besteht. Die Prognose des invasiven Zervixkarzinoms ist abhängig von Stadium, Differenzierungsgrad, Lymphknotenbefall, der Tumorart und der Behandlung. Dabei haben Adenokarzinome eine etwas schlechtere Prognose als Plattenepithelkarzinome. Auch eine alleinige Strahlentherapie ist mit einer etwas schlechteren Prognose im Vergleich zur operativen Behandlung verbunden. Insgesamt liegt die 5-Jahres-Überlebensrate in Deutschland bei ca. 69 %, die 10-Jahres-Überlebensrate bei etwa 65 %. Geschichte 1878 beschrieben der Pathologe Carl Ruge und der Gynäkologe Johann Veit den Gebärmutterhalskrebs erstmals als eigenes Krankheitsbild. Bis dahin hatte man zwischen Gebärmutterhals- und Gebärmutterschleimhautkrebs (Endometriumkarzinom) nicht unterschieden. So hatte der deutsche Frauenarzt Adolf Gusserow 1870 als Erster ein Adenokarzinom (Adenoma malignum) des Gebärmutterhalses beschrieben. Er veröffentlichte die Erkenntnisse in seiner Arbeit Ueber Sarcome des Uterus. Der österreichische Gynäkologe Walther Schauenstein entwickelte 1908 die bis heute gültige These der stufenweisen Pathogenese des Zervixkarzinoms. Seine Arbeit zu histologischen Untersuchungen bei atypischem Plattenepithel an der Portio war eine der ersten Beschreibungen des Oberflächenkarzinoms der Zervix. Erste Gebärmutterentfernungen bei Krebserkrankungen der Gebärmutter auf vaginalem und abdominalem Weg wurden 1813 von Konrad Johann Martin Langenbeck in Kassel und 1822 von Johann Nepomuk Sauter in Konstanz durchgeführt. Die erste wissenschaftlich fundierte und reproduzierbare einfache Entfernung einer von Krebs befallenen Gebärmutter mittels eines Bauchschnittes führte am 30. Januar 1878 Wilhelm Alexander Freund in Breslau aus. Der Eingriff war jedoch damals noch sehr riskant. Am 12. August 1879 gelang dem Chirurgen Vincenz Czerny in Heidelberg die Hysterektomie durch die Scheide. Da die Ergebnisse besser waren als bei der Freundschen Operation, wurde in der Folgezeit die vaginale Operation bevorzugt. Karl August Schuchardt führte 1893 in Stettin die erste erweiterte vaginale Gebärmutterentfernung durch, die 1901 von dem Wiener Gynäkologen Friedrich Schauta, später von Walter Stoeckel an der Charité in Berlin und Isidor Alfred Amreich in Wien weiterentwickelt wurde. Der österreichische Gynäkologe Ernst Wertheim entwickelte 1898 eine radikale Operationsmethode über einen Bauchschnitt, die später der Amerikaner Joe Vincent Meigs weiterentwickelte. Zu den Pionieren der Strahlenbehandlung des Zervixkarzinoms mit Radium gehört seit 1911 Albert Döderlein. Erich Burghardt, ein österreichischer Gynäkologe, trug mit seinen Untersuchungen wesentlich zur Verminderung der operativen Radikalität bei Frühstadien des Zervixkarzinoms bei, das heißt zur Verkleinerung der Operation bei gleichen Heilungsergebnissen. Hans Hinselmann, ein deutscher Gynäkologe, entwickelte 1925 mit der Kolposkopie das erste Verfahren zur Früherkennung des Gebärmutterhalskrebses. 1928 erarbeitete der griechische Arzt George Nicolas Papanicolaou mit dem Pap-Test ein weiteres Verfahren zur Frühdiagnostik dieses Tumors. Besondere Verdienste um die Einführung der Zytologie in Verbindung mit der Kolposkopie als Früherkennungsmethode erwarb sich Ernst Navratil, ein österreichischer Gynäkologe. Am 9. Februar 1951 wurden bei einer 31-jährigen Patientin Zervixkarzinomzellen vom Muttermund entnommen, die später in Zellkulturen vermehrt und bis heute zu Forschungszwecken genutzt werden. Die Zellen wurden, nach der Patientin benannt, als HeLa-Zellen bezeichnet. 1971 erfolgte die Einführung des Zervixkarzinomscreenings als Programm in der Bundesrepublik Deutschland. 1974 veröffentlichte Harald zur Hausen erste Berichte über eine mögliche Rolle von Papillomviren beim Zervixkarzinom, wofür ihm 2008 der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin verliehen wurde. Seit den 1990er Jahren kommt es durch die Einführung neuer Operationstechniken, wie der Trachelektomie oder der Totalen mesometrialen Resektion des Uterus und der Möglichkeit der Lymphknotenentfernung mittels einer Laparoskopie, zu einer stärkeren Individualisierung der operativen Therapie des Zervixkarzinoms mit teilweise bewusst reduzierter, teilweise verbesserter Vollständigkeit (Radikalität) der chirurgischen Karzinomentfernung. Ziel dieser Entwicklung ist, behandlungsbedingte Probleme, wie Blasen- oder Darmentleerungsstörungen durch Nervenschädigungen, oder Folgen einer bislang häufigen Strahlentherapie nach vorangegangener Operation zu vermeiden. In einigen Fällen kann sogar die Erfüllung eines Kinderwunsches ermöglicht werden. 2006 wurde der erste Impfstoff gegen einige Typen von Papillomaviren, der Hauptursache des Gebärmutterhalskrebses, zugelassen. Literatur Harald zur Hausen: Infections causing human cancer. Wiley-VCH, Weinheim 2006, ISBN 3-527-31056-8. Manfred Kaufmann, Serban-Dan Costa, Anton Scharl (Hrsg.): Die Gynäkologie. 2., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Springer, Berlin u. a. 2006, ISBN 3-540-25664-4. Willibald Pschyrembel, Günter Strauss, Eckhard Petri (Hrsg.): Praktische Gynäkologie. 5., neubearbeitete Auflage. Walter de Gruyter, Berlin u. a. 1991, ISBN 3-11-003735-1. Dirk Schadendorf, Wolfgang Queißer (Hrsg.): Krebsfrüherkennung. Allgemeine und spezielle Aspekte der sekundären Prävention maligner Tumoren. Steinkopff, Darmstadt 2003, ISBN 3-7985-1392-9. Heinrich Schmidt-Matthiesen, Gunther Bastert, Diethelm Wallwiener (Hrsg.): Gynäkologische Onkologie. Diagnostik, Therapie und Nachsorge – auf der Basis der AGO-Leitlinien. 7., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Schattauer, Stuttgart u. a. 2002, ISBN 3-7945-2182-X. Karl-Heinrich Wulf, Heinrich Schmidt-Matthiesen, Hans Georg Bender (Hrsg.): Klinik der Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Band 11: Spezielle gynäkologische Onkologie. Teilband 1. 4. Auflage. Urban & Fischer, München 2001, ISBN 3-437-21900-6. Weblinks (PDF; 1,03 MB) Tumorzentrum München Gebärmutterhalskrebs: Das Zervixkarzinom, Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), Heidelberg. 16. Juni 2006. Zuletzt abgerufen am 4. September 2014. Gebärmutterhalskrebs-Früherkennung: Ein Abstrich bietet Sicherheit – Krebsvorstufen früh erkennen und rechtzeitig behandeln, Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), Heidelberg. 11. Mai 2010. Zuletzt abgerufen am 4. September 2014. Informationen und Aufklärung über Gebärmutterhalskrebs und HPV der ZERVITA Informationen zu Gebärmutterhalskrebs vom Zentrum für Krebsregisterdaten im Robert Koch-Institut Einzelnachweise Erkrankung der Gebärmutter Bösartige Tumorbildung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Eisvogel
Eisvogel
Der Eisvogel (Alcedo atthis) ist die einzige in Mitteleuropa vorkommende Art aus der Familie der Eisvögel (Alcedinidae). Er besiedelt weite Teile Europas, Asiens sowie das westliche Nordafrika und lebt an mäßig schnell fließenden oder stehenden, klaren Gewässern mit Kleinfischbestand und Sitzwarten. Seine Nahrung setzt sich aus Fischen, Wasserinsekten (Imagines und Larven), Kleinkrebsen und Kaulquappen zusammen. Der Bestand hat in den letzten Jahren wieder zugenommen und die Art wird derzeit in Europa als dezimiert, aber im gesamten Verbreitungsgebiet als wenig bedroht eingestuft. Der Eisvogel war 1973 und 2009 Vogel des Jahres in Deutschland, 2000 in Tschechien, 2005 in Belgien, 2006 Vogel des Jahres in der Schweiz, 2009 in Österreich und 2011 in der Slowakei. Beschreibung Körperbau und Gefieder Eisvögel haben eine Körperlänge von etwa 16 bis 18 cm und wiegen 35 bis 40 g. Die Flügelspannweite beträgt etwa 25 cm. Er hat wie alle Vertreter der Gattung einen kurzen und gedrungenen Körper mit kurzen Beinen, kurzen Schwanzfedern und breiten Flügeln. Der große Kopf mit dem etwa 4 cm langen, spitzen Schnabel sitzt an einem kurzen Hals. Die Oberseite wirkt je nach Lichteinfall kobaltblau bis türkisfarben; auf dem Rücken befindet sich ein leuchtend blauer Streifen, der besonders beim Abflug auffällt. Oberkopf, Flügeldecken, Schultern und Schwanzfedern sind dunkelblaugrün bis grünblau gefärbt, wobei sich an den Kopffedern azurblaue Querbänder und an den Flügeldecken azurblaue Spitzen befinden. Bis auf die weiße Kehle ist die Unterseite beim Altvogel rostrot bis kastanienbraun gefärbt. Die Kopfzeichnung ist durch rotbraune Ohrdecken, scharf abgesetzte weiße Halsseitenflecken und einen blaugrünen oder blauen Bartstreif charakterisiert. Auf der Stirn befindet sich vor jedem Auge ein kastanienbrauner Fleck, der von vorn gesehen weiß erscheint. Zur Brutzeit sind die Füße orangerot. Das Männchen hat einen schwarzen Schnabel, der an der Unterseite leicht aufgehellt sein kann. Das Weibchen zeigt einen orangefarbenen Unterschnabel, dessen Färbung sich mindestens von der Basis bis zum vorderen Drittel erstreckt. Beim Männchen hat das Gefieder der Oberseite meist einen blauen Grundton mit großen und zahlreichen azurblauen Flecken auf dem Oberkopf, das Weibchen ist oberseits eher blaugrün gefärbt. Die Jungvögel haben oberseits dunkelbraun gefärbte Füße. Das Gefieder ist matter und die Oberseite grünlicher als bei Altvögeln. Die Brustfedern haben fast immer grünliche oder graue Spitzen. Der Schnabel ist ziemlich kurz und schwarz und zeigt einen hellen Fleck an der Spitze. Von Ende August bis Mitte November werden in der Mauser die Schwungfedern abschnittsweise in einer festgelegten Reihenfolge gewechselt. In Mitteleuropa werden in dieser Zeit meist nur drei Viertel aller Federn erneuert, so dass die Mauser im darauf folgenden Sommer fortgesetzt wird. Bei diesjährigen Jungvögeln werden in der Jugendmauser das Kleingefieder und manchmal auch die Schwanzfedern gewechselt. Stimme Der kurze, scharfe Ruf des Eisvogels klingt wie „tiht“ oder „ti-it“, das bei Erregung zu „tih-tih“ oder „tit-tit-tit“ abgewandelt wird. Bei Erregung klingen die Rufe fast stimmlos „krrikrrtkrrt“. Zur Balz sind Eisvögel besonders ruffreudig und wandeln ihre Rufe geringfügig ab. Das klingt wie „tiet-tiet“, „tit-tieh“, „tjii-tit-tit“ oder ähnlich. Entgegen falscher Beschreibungen tragen Eisvögel keinen Gesang mit verschiedenen Rufen, Pfiffen und Rollern vor. Die Bettelrufe der Jungen bestehen aus einem durchdringenden, lang andauernden „rrüerrüerrüe“. Ein Altvogel mit Futter meldet sich am Höhleneingang manchmal mit einem rauen „kreh“. Zur Verständigung mit den flüggen Jungen verwenden Eisvögel Frage-Antwort-Rufe. Altvögel kündigen sich mit einem kurzen „tieht“ an und Jungvögel antworten mit „tschik“. Verbreitung und Lebensraum Der Eisvogel besiedelt weite Teile Europas, Asiens, das westliche Nordafrika und teilweise Australien. Isolierte Populationen finden sich im östlichen Indonesien und in Melanesien. Zu den nicht von Eisvögeln besiedelten Regionen zählen Island, Nordschottland, Nordskandinavien und Sibirien. In Hochgebirgsregionen und Wüsten kommt diese Vogelart ebenfalls nicht vor, da Eisvögel während des ganzen Jahres offenes Süßwasser benötigen. In Mitteleuropa ist der Eisvogel mit wenigen Ausnahmen ein Standvogel. In vielen anderen Gebieten wie nordeuropäischen, osteuropäischen und zentralasiatischen Populationen kann der Anteil von Zugvögeln groß sein. Zugrouten und Überwinterungsplätze sind jedoch nicht hinreichend erforscht. Der Eisvogel lebt an mäßig schnell fließenden oder stehenden, klaren Gewässern mit Kleinfischbestand. Diese sollten von einem ausreichenden Angebot an Sitzwarten und möglichst auch von Gehölzen gesäumt sein. Es werden Flüsse, Bäche, Seen und auch vom Menschen geschaffene Gewässer wie Altwässer, Tümpel, Gräben, Kanäle, Teichanlagen, Talsperren und Abgrabungen genutzt. Außerhalb der Brutzeit kann er sich sogar am Meer aufhalten. Als Brutplätze dienen Steilufer oder große Wurzelteller umgestürzter Bäume mit dicker Erdschicht. Auch vom Menschen geschaffene Hohlwege und Gruben werden genutzt. Nahrung und Nahrungserwerb Der Eisvogel ernährt sich von Fischen, Wasserinsekten und deren Larven, Kleinkrebsen und Kaulquappen. Er kann Fische bis neun Zentimeter Länge mit einer maximalen Rückenhöhe von zwei Zentimeter verschlingen. Bei langgestreckten, dünnen Arten verschiebt sich die Höchstgrenze auf zwölf Zentimeter Körperlänge. Die Jagdmethode des Eisvogels ist das Stoßtauchen: Von einer passenden Sitzwarte über dem Wasser oder nahe am Wasser wird der Stoß angesetzt. Wenn er eine mögliche Beute entdeckt, dann stürzt er sich schräg nach vorn-unten kopfüber ins Wasser und beschleunigt dabei meist mit kurzen Flügelschlägen. Die Augen bleiben beim Eintauchen offen und werden durch das Vorziehen der Nickhaut geschützt. Ist die Wasseroberfläche erreicht, wird der Körper gestreckt und die Flügel werden eng angelegt oder nach oben ausgestreckt. Bereits kurz vor dem Ergreifen der Beute wird unter Wasser mit ausgebreiteten Flügeln und Beinen gebremst. Zur Wasseroberfläche steigt er zuerst mit dem Nacken auf, wobei er den Kopf an die Brust gepresst hält. Schließlich wird der Schnabel mit einem Ruck aus dem Wasser gerissen und der Vogel startet entweder sofort oder nach einer kurzen Ruhepause zum Rückflug auf die Sitzwarte. Im Allgemeinen dauert ein Versuch nicht länger als zwei bis drei Sekunden. Wenn ein geeigneter Ansitz fehlt, kann der Eisvogel aber auch aus einem kurzen Rüttelflug tauchen. Nicht jeder Tauchgang ist erfolgreich, er stößt des Öfteren daneben. Der Eisvogel benötigt zur Bearbeitung der Beute in der Regel einen dicken Ast, eine starke Wurzel oder eine andere, möglichst wenig schwingende Unterlage. Kleinere Beute wird mit kräftigem Schnabeldrücken oft sofort verschlungen. Größere Fische werden auf den Ast oder die Wurzel zurückgebracht, dort totgeschüttelt oder auf den Ast oder die Wurzel geschlagen, im Schnabel „gewendet“ und mit dem Kopf voran verschluckt, da sich andernfalls die Schuppen des Fisches im Schlund sträuben würden. Der Eisvogel schluckt seine Beute in einem Stück. Unverdauliches, wie Fischknochen oder Insektenreste, wird etwa ein bis zwei Stunden nach der Mahlzeit als Gewölle herausgewürgt. Fortpflanzung Die meisten Eisvögel leben in einer monogamen Brutehe. Vor allem in Jahren mit hoher Dichte leben einige Männchen in Bigamie mit zwei Weibchen, die, zeitlich überlappend, bis zu mehreren Kilometern voneinander entfernt brüten. Nach dem Schlüpfen der Jungen füttert das Männchen die parallel verlaufenden Bruten im Wechsel. Dabei sind auch Schachtelbruten möglich. Zwischen Februar und März streifen Eisvögel laut rufend die Gewässer entlang. Wenn sie einen möglichen Partner gefunden haben, finden ausgedehnte Verfolgungsflüge knapp über dem Wasserspiegel statt, auch mitten durch den Wald bis über die Baumkronen. Sehr selten sind mehrere Vögel beteiligt. Danach werden mögliche Brutplätze meist durch Männchen besetzt. Balz und Paarung Zur Balz trägt das Männchen kleine Fische herbei, um sie dem Weibchen mit einer Verbeugung zu überreichen, das sie rufend und mit zitternden Flügeln entgegennimmt. Die Balzfütterung stärkt die Paarbindung und dient auch der Beurteilung des Partners. Manchmal sitzen die Vögel nun gemeinsam auf einem Ast vor einem möglichen Brutplatz und rufen abwechselnd. Während der Bauzeit der Höhle finden zahlreiche Balzfütterungen und gegen Ende auch Kopulationen statt. Zur Paarung nimmt das Männchen nach einer Beuteübergabe eine Imponierstellung ein, bei der es mit angelegtem Gefieder aufgerichtet sitzt und die Flügel nach vorn sinken lässt. Dann fliegt das Männchen hinter das Weibchen, das seine Paarungsbereitschaft oft durch Rufe anzeigt und sich fast waagrecht auf den Ast oder die Wurzel legt, und landet auf dem Rücken der Partnerin. Nun greift das Männchen mit dem Schnabel in die Nackenfedern des Weibchens und hält, während der einige Sekunden dauernden Begattung, flügelschlagend das Gleichgewicht. Nachher wird meist gemeinsam gebadet. Begattungen können mit oder ohne vorangehende Balzfütterung mehrmals am Tag stattfinden. Bruthöhle An einer lotrechten oder leicht nach vorn geneigten Steilwand aus Lehm oder festem Sand, die unbewachsen, trocken und im Innern frei von hinderlichen Wurzeln ist, wird möglichst im oberen Abschnitt mit dem Schnabel eine Höhle gegraben. Die im Innern leicht ansteigende Nisthöhle mit einem Kessel am Ende ist 40 bis 80 Zentimeter lang, im Querschnitt hochoval und etwa acht Zentimeter hoch. Der Kessel hat einen Durchmesser von 17 Zentimeter und ist ungefähr zwölf Zentimeter hoch. Im weichen Sand sind, im Gegensatz zu hartem Lehm, Höhlenlängen von bis zu 100 Zentimeter möglich. Zu Beginn des Höhlenbaus sitzt das Brutpaar vor einer Steilwand, bis das Männchen plötzlich losfliegt und kurz im Rüttelflug vor einer geeignet erscheinenden Stelle verharrt, um mit dem Schnabel in die Erdwand zu hacken. Danach kehrt es auf den Ast oder die Wurzel zurück, um sich Erdreste vom Schnabel zu reiben und arbeitet danach weiter. Bald beteiligt sich auch das Weibchen, und nach einiger Zeit haben sich beide auf eine Stelle für die Anlage der Höhle geeinigt, so dass sie nun abwechselnd das Loch vergrößern. Nachdem ein Halt für die Krallen entstanden ist, kann jeweils mehrmals zugehackt werden. Meist hält dabei einer der beiden Vögel Wache. Wurde der Tunnel bereits ein Stück weit in die Wand getrieben, wird die freigegrabene Erde mit den Krallen nach hinten gescharrt und rückwärts aus der Röhre geschoben. Erst wenn der Kesselbau begonnen hat, kann der Eisvogel mit dem Kopf voraus aus der Höhle kommen. Stellt ein Stein oder eine Wurzel ein Hindernis dar, wird das Problem entweder mit einer Krümmung der Röhre umgangen oder an anderer Stelle gänzlich neu begonnen. Der Bau einer Bruthöhle kann zwei bis drei Wochen dauern. Fertiggestellte Höhlen werden zur Markierung mit weißen Kotspritzern gekennzeichnet. Manchmal werden von einem Brutpaar mehrere Röhrenansätze oder fertige Höhlen gebaut. Oft werden auch alte, noch intakte Bruthöhlen nach einer Säuberung erneut bezogen. Dabei ist es unwichtig, ob das Brutpaar selber oder ein anderes die Höhle angelegt hat. Häufig werden auch unvollendete Höhlen aus vorangegangenen Jahren fertiggestellt. Gegen Ende März oder Anfang April haben die meisten Brutpaare dann eine geeignete Höhle bezogen. Eiablage und Brutpflege Die Eiablage findet vormittags statt. Jeden Tag wird ein Ei gelegt. Die Eier sind weiß, glatt, fast kugelrund und zeigen in den ersten Tagen ein zartes Rosa. Danach färbt sich die Oberfläche porzellanweiß. Das Gewicht eines Eies liegt bei 4,4 Gramm. Hin und wieder sitzt ein Altvogel neben dem unvollständigen Gelege. Das Weibchen legt in Mitteleuropa sechs bis acht Eier, selten mehr, und bebrütet diese im Wechsel mit dem Männchen erst, wenn das Gelege vollständig ist. Der brütende Vogel, nachts meist das Weibchen, sitzt mit dem Kopf zum Ausgang. Zur Brutablösung ruft der ankommende Partner vor der Steilwand kurz, worauf der brütende Vogel die Höhle verlässt. Die Brutzeit dauert 19 bis 21 Tage. Die Jungen schlüpfen vorwiegend am selben Tag, und nachdem alle geschlüpft sind, bleiben die Eierschalen meist am Eingang des Brutkessels oder in der Höhle liegen. Manchmal werden sie auch aus der Höhle entfernt und vor der Steilwand oder über Wasser fallen gelassen. Von allen begonnenen Bruten gehen 30 bis 40 Prozent verloren. Ein Großteil der Verluste entsteht durch Hochwasser. Dabei werden manche Bruthöhlen durch starke Regenfälle überflutet oder zum Einsturz gebracht. Zudem ist das Gewässer durch mitgeführte Boden- und Lehmteilchen stark getrübt und vom Regen aufgewühlt, so dass der Fischfang beträchtlich erschwert wird und die Brut aufgrund von Nahrungsmangel verhungert. Ältere Jungvögel können allerdings kurze Mangelperioden überstehen. Eine ungünstig angelegte Nisthöhle kann von Füchsen, Wieseln, Waschbären, Ratten, Mäusen oder Maulwürfen von oben oder von vorn ausgeraubt werden. Dabei werden Eier und jüngere Jungvögel sowie meist auch der hudernde oder brütende Altvogel erbeutet. Eine Brut kann auch bei zwei- bis dreistündigen Störungen durch Menschen verloren gehen, da es die Altvögel danach längere Zeit nicht wagen, wieder in die Röhre zu schlüpfen. Nach einem Brutverlust werden wenige Tage später erneut sechs bis sieben Eier gelegt. Entwicklung der Jungen Nach dem Schlüpfen sind die Jungen nackt und blind. Während ein Altvogel hudert, fängt der andere für die Fütterung zunächst Insekten und später vier bis fünf Zentimeter lange Fische. Wenn ein Küken gefressen hat, rotieren die Nestlinge einen Platz weiter, so wird eine gleichmäßige Ernährung aller Küken sichergestellt. Nach acht Tagen zeigen sich an Brust, Rücken und Flügeln die ersten bläulichen Federkiele. Etwa am zehnten Tag öffnen sich die Augen. Nun wird lediglich noch nachts gehudert. Vierzehn Tage nach dem Schlüpfen sind die Jungen befiedert, wobei die Federn noch von einer durchscheinenden Hülle umgeben sind. Nach drei Wochen ist das Gefieder bis auf kleinere Bereiche am Kopf weitgehend von den Hüllen befreit. Ende Mai bis Mitte Juni fliegen die Jungen 23 bis 28 Tage nach dem Schlüpfen aus. Sie haben dabei ein Gewicht von etwa 42 Gramm. Die Jungvögel verlassen die Bruthöhle oft aus eigenem Antrieb am frühen Morgen oder am Vormittag, meistens alle am selben Tag in einem Zeitraum von wenigen Minuten bis zu einigen Stunden. Manchmal erfolgt das Ausfliegen aber auch in Schüben an zwei aufeinander folgenden Tagen. Die Jungvögel halten sich danach in der Umgebung reglos auf Sitzplätzen auf, die oft im dichten, schattigen Geäst liegen. Die Eltern, vor allem das Männchen, versorgen sie mit Fischen, führen sie dabei aber stückweise von der Bruthöhle weg. Anfangs bekommen sie die Nahrung gereicht, später fliegen sie den Altvögeln entgegen. Zudem beginnen sie bald, das Fischen zu lernen. Nach ein bis zwei Tagen werden sie energisch und laut rufend von den Altvögeln aus dem Revier vertrieben. Gefahr droht ihnen von Sperber und Habicht, eventuell auch vom Waldkauz. Im Juni bis Juli folgt nach einer verkürzten Balz eine zweite Brut, deren Ablauf sich nicht wesentlich von der ersten unterscheidet. Je nach Brutbeginn fliegen die Jungvögel in der Zeit von Mitte Juli bis Anfang August aus. Auch Schachtelbruten mit Überschneidungen von fünf bis zehn Tagen sind möglich. Einige Brutpaare beginnen meist verschachtelt noch eine dritte Brut, so dass deren Junge Ende August bis Ende September flügge werden. Sehr selten kommen Viertbruten vor, bei denen die Jungvögel im Oktober ausfliegen. Ringfundanalysen und Populationsstudien ergaben, dass der Eisvogel eine hohe Sterblichkeitsrate aufweist. So sterben ungefähr 80 Prozent der Jungvögel zwischen dem Verlassen der Bruthöhle und der folgenden Brutsaison. Zudem sterben etwa 70 Prozent der Altvögel im Verlauf eines Jahres. Wenige Exemplare werden drei Jahre alt. Ausnahmen mit einem Alter von fünf Jahren sind sehr selten. Der hohen Sterblichkeit steht jedoch jährlich eine hohe Reproduktionsrate gegenüber. Wanderungen Während die Altvögel meistens auch außerhalb der Brutsaison in ihren Revieren bleiben, streifen die selbstständigen Jungvögel auf der Suche nach einem geeigneten Gebiet ungefähr von Juli bis Mitte Oktober umher. Die Wanderungen können wenige bis 1000 Kilometer umfassen. Dabei legen Weibchen meist größere Entfernungen zurück als Männchen. Die Jungen aus Zweit- und Drittbruten legen häufig längere Wanderungen zurück. Haben sie ein Revier für den Winter gefunden, wird es in Hinblick auf die Gewässer und die Umgebung erkundet. Auf die Eignung als Brutrevier in der nächsten Brutsaison wird es unter anderem durch Besuche in Brutrevieren anderer, noch späte Bruten aufziehender Vögel, beurteilt. Ab November stellen sie größere Ortsbewegungen ein und nehmen in Erwartung des kommenden Winters von knapp 40 Gramm im Spätsommer auf 44 bis 46 Gramm zu. Verhalten Der Eisvogel ist ein territorialer Einzelgänger. Er ist standorttreu und tagaktiv. Oft sitzt er lange Zeit still auf einem niedrig über dem Wasser hängenden Ast. Bei der Begegnung zweier Individuen wird zunächst gedroht. Dabei sitzt der Eisvogel hoch aufgerichtet, gestreckt, mit angelegtem Kleingefieder und nach vorn sackenden Flügeln. Oft wird auch der Schnabel geöffnet. Die Kehlfedern sind eng angelegt. Zur Verstärkung der Drohung verbeugt sich der Eisvogel ganz langsam vor dem Gegner, wobei der Kopf einen vertikalen Kreisbogen beschreibt oder langsam von einer Seite zur anderen gedreht wird. Die stärkste Drohung besteht darin, dass der Vogel die Flügel ausbreitet und sich in voller Größe zeigt. Bei Drohduellen sitzen die Rivalen steif und dünn im Profil gegenüber, wobei manchmal kurze, von erregten Rufen begleitete Verfolgungsflüge stattfinden. Die Dauer kann mehrere Stunden betragen, in denen offensichtliche Gefahren kaum bemerkt werden. Vermutlich testen sie sich dabei in Bezug auf Ausdauer, Kraft und Belastbarkeit. Mit der Aufgabe des schwächeren Vogels endet das Duell. In Ausnahmefällen reicht das Drohen nicht aus und es kommt zum Kampf. Dabei versucht ein Eisvogel, den anderen vom Ansitz zu stoßen oder in den Nacken zu beißen. Wenn dies nicht gelingt, fassen sich die Rivalen gegenseitig am Schnabel und zerren sich hin und her, flattern zu Boden oder fallen ins Wasser. Meist enden die Kämpfe ohne ernsthafte Verletzungen. Zum Schluss flieht der Unterlegene. Der Sieger bleibt zurück oder verfolgt den Gegner noch ein kurzes Stück. Selbstständige Jungvögel aus früheren Bruten desselben Jahres besuchen oft (etwa ab Juni) die Brutsteilwand. Manchmal werden diese aus fremden Bruten stammenden Besucher von den Altvögeln energisch verjagt, bei anderen Gelegenheiten aber ignoriert oder geduldet. Sie zeigen ein starkes Interesse an Bruthöhlen, insbesondere solchen mit Nestlingen, und beteiligen sich nachweislich zumindest teilweise intensiv an der Fütterung (Bruthilfe). Außerhalb der Brutsaison können sich an einem bestimmten Gewässerabschnitt mit ausreichendem Nahrungsangebot mehrere Eisvögel ohne gegenseitiges Drohen aufhalten. Greifvögeln entkommt der Eisvogel oft, indem er zunächst laut rufend flach über dem Wasser fliegt und plötzlich aus vollem Flug einen Tauchstoß ausführt, so dass der Jäger über ihn hinwegfliegt und damit seine Beute verloren hat. Bestand und Gefährdung Bestandsentwicklung Die Population des Eisvogels in Europa macht weniger als die Hälfte des weltweiten Bestandes aus. Nach Angaben der IUCN ist diese mit weniger als 160.000 Paaren relativ klein und nahm zwischen 1970 und 1990 mäßig ab. Obwohl die Art zwischen 1990 und 2000 grundsätzlich weitgehend stabil war und stabilen, fluktuierenden oder steigenden Trends in großen Teilen Europas unterliegt, gilt die Population als noch nicht erholt, da sie die Stufe vor dem Schwinden noch nicht erreicht hat. Konsequenterweise wird sie vorläufig in Europa als dezimiert () geführt. Der Eisvogel ist gemäß den §§ 7 Abs. 2 Nr. 14 lt. c), 54 Abs. 2 Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) in Verbindung mit § 1 Satz 2 Bundesartenschutzverordnung (BArtSchV) eine in Deutschland streng geschützte Art. Der Eisvogel war 2009 zum zweiten Mal nach 1973 Vogel des Jahres in Deutschland und 2006 Vogel des Jahres in der Schweiz. Gefährdung und Schutz Die Größe des Brutbestands wird wesentlich von der Winterstrenge bestimmt. Harte Winter mit länger andauernden Kälteeinbrüchen können regional zu drastischen Bestandseinbrüchen (bis zu 90 Prozent) führen, da die meisten Fischgewässer zufrieren und an eisfreien Gewässern Eisperlen zum Verlust der Flugfähigkeit oder zum Anfrieren auf dem Ansitz führen können. Durch die hohe Fortpflanzungsrate des Eisvogels können diese Verluste innerhalb weniger Jahre wieder ausgeglichen werden. Früher wurde der Eisvogel von Binnenfischern stark bejagt. Im 19. Jahrhundert etwa galten die Federn als begehrter Schmuck für Damenhüte. Auch zur Herstellung von künstlichen Fliegen für Angler wurden tausende Vögel getötet. Heute ist er durch die Vernichtung seines Lebensraums bedrängt, da fast alle europäischen Flüsse und auch Bäche in der Vergangenheit ausgebaut oder reguliert, die Tümpel zugeschüttet und die Feuchtgebiete trockengelegt wurden. Durch diese Maßnahmen hat sich das Nahrungsangebot sowie die Zahl der Ansitze und ruhigen Buchten verringert. Zudem verhindern abgeschrägte, befestigte Böschungen die Entstehung von Uferabbrüchen. Vereinzelte Renaturierung hat daran nichts Wesentliches geändert. Auch verschmutztes und saures Wasser entzieht dem Eisvogel die Nahrungsgrundlage. Die zur Beseitigung des Brutplatzmangels vom Menschen geschaffenen künstlichen Steilwände, teilweise auch mit künstlichen Bruthöhlen, wurden erfolgreich angenommen. Der Erhalt naturnaher, von künstlichen Eingriffen unabhängiger Fluss- und Bachlandschaften stellt das wichtigste Kriterium für den Schutz des Eisvogels dar, so dass er bei Naturschutzorganisationen als Flaggschiffart für die weniger bekannten Arten dieses Lebensraums steht. Das Logo des Naturschutzverbandes Landesbund für Vogelschutz in Bayern e. V. zeigt ein Exemplar mit ausgebreiteten Schwingen. Systematik Externe Systematik Zwischen den westafrikanischen Vertretern der Gattungen Alcedo, Ispidina und Myioceyx sowie zwischen den Gattungen Alcyone und Ceyx wurde schon 1934 eine sehr nahe Verwandtschaft angenommen. Folglich musste die übliche Einteilung in Alcedininae und Halcyoninae aufgegeben werden, so dass die auf Fischnahrung spezialisierten Eisvögel keine geschlossene Gruppe mehr bildeten. Man nahm mehrere Entwicklungslinien (Ispidina – Alcedo, Halcyon – Ceryle und andere) an, da ihre gemeinsamen Merkmale konvergent sind. Die Phylogenie der Familie der Eisvögel (Alcedinidae) wurde 2006 durch den Vergleich mitochondrialer und nukleärer DNA-Sequenzen von 38 repräsentativen Arten rekonstruiert. Innerhalb der Gattung Halcyon ist die Phylogenie gut erforscht und erlaubt Einblicke in allgemeine Beziehungen. Demnach unterstützt sie die Trennung von Todiramphus und Halcyon. Außerdem sind Todiramphus und Syma genauso Schwestergattungen wie Halcyon und Pelargopsis. Somit ist die Vereinigung oder Beibehaltung dieser Gruppen eine eher subjektive Entscheidung. Die geläufigen Begrenzungen zwischen den Gattungen Ceyx und Alcedo scheinen demnach keine natürlichen Gruppen darzustellen, wobei die Beziehungen innerhalb der Alcedinidae noch nicht vollständig aufgeklärt sind. Interne Systematik Nach ITIS gibt es sieben Unterarten: A. a. atthis Nominatform Verbreitung: Brütet in Nordwestafrika und Süditalien bis Bulgarien, gelegentlich in der Türkei, Irak und Iran und häufiger in Afghanistan, Nordwestindien (nördliches Xinjiang) und Sibirien von Omsk bis Krasnojarsk. Überwintert in Ägypten, Nordwestsudan, Jemen, Oman und Pakistan. Aussehen: Krone grünlicher, Kinn und Kehle weiß, Unterseite blasser rostfarben als A. a. ispida; ein wenig größer, besonders der Schnabel. A. a. bengalensis Verbreitung: Südasien und Ostasien: Indien (außer dem Nordwesten und Süden) bis Malaiische Halbinsel, Indochina, Hainan, China, Korea, Japan, von Sachalin bis zum Baikalsee und östliche Mongolei. Überwintert in Sumatra, Java, Borneo, Nordsulawesi, Sula-Inseln, Halmahera und die Philippinen. Aussehen: Heller und kleiner als A. a. ispida A. a. floresiana Verbreitung: Kleine Sunda-Inseln, Bali, bis Timor und Wetar Aussehen: wie A. a. taprobana aber dunkleres blau; gleiche Größe wie A. a. bengalensis. A. a. hispidoides Verbreitung: Sulawesi, Molukken, den Inseln von Westneuguinea, an dem Küsten Neuguineas vom Sepik bis Aora. Aussehen: Dunkler als A. a. floresiana, Blau-Purpurne Töne am hinteren Hals und Rumpf, Ohren blau. A. a. ispida Verbreitung: Brütet von Südnorwegen, Irland und Spanien bis nach Westrussland, bis etwa nach Sankt Petersburg und Rumänien. Überwintert südlich bis Südportugal und Irak. A. a. salomonensis Verbreitung: Salomonen bis San Cristoval. Aussehen: Mehr Purpurtöne, Ohren blau. A. a. taprobana Verbreitung: Sri Lanka und Indien, südlich der Kaveri. Aussehen: Unterseite hellblau, nicht grünblau, gleiche Größe wie A. a. bengalensis Andere Quellen erkennen noch zwei weitere an: Alcedo a. japonica lebt auf Japan, Taiwan und Sachalin. Alcedo a. pallasii besiedelt Zentralasien. Eisvogel und Mensch Etymologie und Benennung Im Jahr 1758 bezeichnete Carl von Linné den Eisvogel als Alcedo ispida. Der lateinische Name Alcedo ist abgeleitet vom griechischen Halkyon, was so viel wie „die auf dem Meer Brütende“ bedeuten kann. Die genaue Namensherkunft wird in der griechischen Mythologie beschrieben: Die um ihren Gemahl Keyx trauernde Alkyone und er selbst waren nach ihrem Tod von einem barmherzigen Gott in Eisvögel verwandelt worden. Jeden Winter trägt nun die Eisvogelhenne ihren toten Partner zu Grabe. Danach baut die Henne ein Nest, das sie auf den Wellen treiben lässt. Hinein legt sie die Eier und brütet ihre Küken aus. Nestbau und Brüten geschieht in den halkyonischen Tagen, das sind die je sieben windarmen Tage vor und nach der Wintersonnenwende. Zur Herkunft des deutschen Namens gibt es mehrere Theorien. So lässt sich der Name wahrscheinlich vom althochdeutschen eisan ableiten, was schillern oder glänzen bedeutet und auf das glänzend-farbige Gefieder des Vogels bezogen ist. Wenige Autoren beziehen den Namen tatsächlich auf das Eis, indem sie einen Bezug zu seinem Aufenthalt an zugefrorenen Gewässern, dem Abeisen oder zu toten Tieren im Eis herstellen. Andere beziehen sich auf die „eisblauen“ Rückenfedern oder seine leichtere Auffindbarkeit bei Eis und Schnee. Zuletzt gehen einige Autoren davon aus, dass der Name ursprünglich „Eisenvogel“ bedeutet haben sollte, da die Rückenfedern des Vogels stahlblau oder die Unterseite rostrot gefärbt sei. Früher waren einige Synonyme, die heute selten benutzt werden, in Gebrauch: Uferspecht, Wasserspecht, Blauspecht, Wasserhähnlein, Königsfischer oder regional auch Eisenkeil. In englischsprachigen Ländern heißt er Kingfisher und bei den Schweden Kungsfiskare. Als weiterer Name wird die Bezeichnung Sankt-Martins-Vogel oder Martinsfischer in Frankreich, Spanien und Italien verwendet. Der Asteroid des inneren Hauptgürtels (8975) Atthis ist nach dem Eisvogel benannt, (wissenschaftlicher Name: Alcedo atthis). Zum Zeitpunkt der Benennung des Asteroiden am 2. Februar 1999 befand sich der Eisvogel auf der niederländischen Roten Liste gefährdeter Vögel. Mythologie, Sage und Aberglaube Die alten Griechen und Römer gingen tatsächlich von einem auf dem offenen Meer schwimmenden Nest aus. Plutarch dachte, es bestünde aus ineinander verflochtenen, kleinen Fischgräten und Plinius der Ältere berichtet in seiner Naturalis historia um 70 nach Christus von einem schwammähnlichen, nicht durch Eisen zerschlagbaren Nest. Selbst noch im 19. Jahrhundert hielt man die halkyonischen Tage für die Brutzeit des Eisvogels. Auf Grund der griechischen Sage um Keyx und Alkyone überdauerte der Glaube an die Gattenliebe und die Treue des Eisvogels bis mindestens ins 19. Jahrhundert hinein. So ging der Naturforscher Conrad Gessner 1669 davon aus, dass das Weibchen beim Tod des Männchens einen Trauergesang anstimmen würde. Er soll Macht und Reichtum, Frieden und Schönheit verheißen. Zudem gilt er als Glücksbringer. Zuletzt soll er den Fischern reichen Fang und den Schiffern eine gute Reise ermöglichen. Nach einer französischen Sage wurde der damals noch grau gefärbte Eisvogel von Noah der Taube nachgeschickt. Er sollte erkunden, ob sich die Wasser der Sintflut zurückgezogen hätten. Da er auf seinem Flug einem Sturm ausweichen musste, flog er so hoch, dass die Oberseite die Farbe des Himmels annahm und die Unterseite von der Sonne rot gebrannt wurde. Als der Bote Bericht erstatten wollte, konnte er die Arche nicht mehr finden, so dass er noch heute die Gewässer nach Noah suchend abstreift. Im Aberglauben wurden Talismane von Eisvogelfedern und -bälgen gegen Blitzschlag eingesetzt. Das am Hals getragene getrocknete Herz sollte vor Gift und schwerer Not schützen. Mumifizierte Vögel dienten als Mittel zur Mottenabwehr und an einem Faden aufgehängt auch als Kompass und Wetterfahne. Sich widersprechenden Theorien zufolge sollte der Schnabel immer nach Norden oder in Windrichtung zeigen. Paracelsus nahm an, dass der Eisvogel nach seinem Tod nicht verfaule, so dass der Naturforscher Balthasar Sprenger 1753 einen bestätigenden Artikel darüber abfasste. Heraldik Der Eisvogel ist als gemeine Figur ein Wappentier in der Heraldik. Lyrik und Roman Auch in der Literatur tritt der Eisvogel in Erscheinung. In Amy Clampitts impressionistischer Gedichtsammlung Eisvogel sind dem Liebesgedicht Eisvogel (Kingfisher) durch veränderte Gesten des sich entfremdeten Liebespaars und seiner Ortswechsel lediglich mittelbar die Seelenlage zu entnehmen. Die Menschenwelt wird zu einer „unbewohnbaren Landschaft“ umgedeutet. In Uwe Tellkamps Roman Der Eisvogel erschießt Wiggo Ritter, ein junger, angesehener Philosoph, der seine Arbeit an der Berliner Universität verloren hat, seinen Freund, den Exzentriker Mauritz Kaltmeister alias „Eisvogel“, Besitzer eines die Wahrnehmung irritierenden Eisvogel-Gemäldes und Begründer der elitären, hierarchischen Terrororganisation „Cassiopeia“. Der früher auch als Eisenkeil bezeichnete Eisvogel ist namensgebend für Alois Brandstetters Roman Die Zärtlichkeit des Eisenkeils. Literatur Urs N. Glutz von Blotzheim: Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 9. Columbiformes – Piciformes. Aula-Verlag, Wiesbaden 1994, ISBN 3-89104-562-X. David Boag: The Kingfisher. Blandford Press, Poole 1982. Alfred Brehm: Tierleben. 4. neu bearbeitete Auflage von Otto zur Strassen. 1922. Bertel Bruun, Hakan Delin, Lars Svensson: Der Kosmos Vogelführer. 10. Auflage. Franckh-Kosmos Verlag, Stuttgart 1993, ISBN 3-440-06753-X. Margret Bunzel-Drüke, Joachim Drüke: Eisvögel. Faszinierende Meisterfischer in bedrohten Lebensräumen. G. Braun Verlag, Karlsruhe 2003, ISBN 3-7650-8143-4. Margret Bunzel: Der Eisvogel (Alcedo atthis) in Mittelwestfalen. Studien zu seiner Brutbiologie, Nahrung und Siedlungsbiologie. Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Dissertation, 1987. Rosemary Eastman: The Kingfisher. Collins, London 1970. Paolo Fioratti: Kingfisher. HarperCollins, London 1992, ISBN 978-0-00-219957-5. Charles Hilary Fry, Kathie Fry: Kingfishers, Bee-Eaters, & Rollers. Princeton, New Jersey 1992, 1999, ISBN 0-691-04879-7. Lensing, Helmut/Nerger, Erhard, Der Eisvogel (Alcedo atthis L.) – Der „fliegende Edelstein“ im Emsland und in der Grafschaft Bentheim, in: Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte (Hrsg.), Emsländische Geschichte 26, Haselünne 2019, S. 16–40. Werner Zöller: Eisvögel – viele Jahre beobachtet. Karlsruhe 1985. Thomas Wendt: Europäische Vögel – Arten, Unterbringung, Haltung, Fortpflanzung, Aufzucht, Fütterung; Arndt-Verlag, Bretten 2022, ISBN 978-3-945440-88-9. Weblinks Der Eisvogel bei NABU mit Klangbeispiel Factsheet auf BirdLife International Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch) Federn des Eisvogels Einzelnachweise Eisvögel Vogel des Jahres (Deutschland) Vogel des Jahres (Schweiz) Wikipedia:Artikel mit Video Vogel als Namensgeber für einen Asteroiden Vogel des Jahres (Österreich)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Uxmal
Uxmal
Uxmal (IPA: []) bezeichnet die Ruinen einer ehemals großen und kulturell bedeutenden Stadt der Maya in Mexiko. Der Name Uxmal kommt möglicherweise von „ox-mal“, was in der yukatekischen Mayasprache „dreimal“ bedeutet. Die Ruinenstadt liegt in der leicht welligen Karstlandschaft Puuc (mayathan pu'uk) auf der Halbinsel Yucatán im gleichnamigen mexikanischen Bundesstaat, etwa 80 Kilometer südlich von Mérida. Die Stadt erlebte ihre Hochblüte am Ende des Späten Klassikums im 9. und frühen 10. Jahrhundert n. Chr., wurde aber bereits ein bis zwei Jahrhunderte später völlig verlassen. Die Bauten werden von der „Pyramide des Zauberers“ (= „Piramide del Mago“) überragt, die wie die meisten Gebäude in Uxmal während der Besiedlung der Stadt immer wieder umgebaut und erweitert wurde. Mächtigstes einzelnes Gebäude ist der auf einer hohen Plattform gelegene sogenannte Gouverneurspalast. Uxmal ist heute eine der meistbesuchten Ruinenstätten der Maya und bietet durch Restaurierungen von Gebäuden einen guten Einblick in das originale Aussehen der Stadt. Geschichte Nach kolonialzeitlichen Chroniken und archäologischen Erkenntnissen Nach verschiedenen kolonialzeitlichen Quellen, insbesondere staatlichen Erhebungen (Relaciones Geográficas) aus dem Jahr 1581 und den Chilam-Balam-Büchern, die auf autochthonen Traditionen aufbauen, waren es ein Hun Uitzil Chac oder ein Ah Cuitok Tutul Xiu, beide aus der Familie der Xiu, die sich in Uxmal ansiedelten. Als Zeitpunkt hierfür wird (im Códice Pérez) ein K'atun 2 Ajaw genannt, der nach dem Maya-Kalender alle rund 256 Jahre wiederkehrt. Entsprechend dem archäologischen Befund kommt hierfür allenfalls ein Zeitraum von 731 bis 751 n. Chr. in Frage. Damit verbunden wird die Annahme, dass die Xiu als Einwanderer vermutlich aus dem Raum des heutigen Staates Tabasco nach Yucatán kamen. Die Angabe im Códex Pérez widerspricht ferner der wörtlich übereinstimmenden Aussage mit einer anderen Zeitangabe im Chilam-Balam-Text von Tizimín, weshalb die Datierung nicht als authentisch angesehen werden darf. Wegen dieser Diskrepanzen sind Alter, Erbauer, Bewohner und Herrscher der Stadt Uxmal aus historischen Quellen weiterhin nicht verlässlich zu identifizieren. Der einzige aus zeitgenössischen Hieroglyphen-Inschriften bekannte Herrscher von Uxmal ist Chan Chak K'ak'nal Ajaw. Unter ihm wurde die Stadt prächtig ausgebaut und in die heute (nach den Ausgrabungen und Restaurierungen) sichtbare Form gebracht. Die Inschriften, die sich auf ihn beziehen, stammen aus dem kurzen Zeitraum zwischen den Jahren 895 und 907. Bereits einige Jahrhunderte vorher war Uxmal eine wichtige Stadt gewesen. Im frühen 10. Jahrhundert wurde die Errichtung großer Steinbauten eingestellt. Eine beträchtliche Zahl an (wegen ihres Grundrisses „C-förmig“ genannten) Bauten mit Wänden und Dächern aus Holz und Palmblättern zeigt jedoch, dass Uxmal danach noch für einige Zeit von einer allerdings geringeren Bevölkerung bewohnt wurde. Die politische Macht und wirtschaftlichen Bedingungen reichten jedoch nicht mehr zur Errichtung oder Fortführung des Baus monumentaler Bauwerke aus. Wann die letzten ständigen Bewohner die Stadt verließen, lässt sich nicht bestimmen. In Uxmal hat sich damit derselbe Prozess abgespielt, wie im gesamten Puuc-Gebiet, allerdings mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung. Später legten in Uxmal (wie auch in anderen Orten des Puuc-Gebietes) gelegentliche Besucher Opfergaben im Schutt zusammenfallender Bauten nieder. Nach den späten Berichten verlegten die Xiu die Hauptstadt ihres Fürstentums von Uxmal nach Maní, wo die Familie bis in die Gegenwart ansässig ist. All diesen Berichten ist gemeinsam, dass sie viele Jahrhunderte nach dem Ende der Stadt Uxmal abgefasst oder in die heute bekannte Form gebracht wurden. Im Jahr 1536 n. Chr. (nach der Cronica de Oxkutzcab aus dem Jahr 1538) war eine Gruppe von Xiu-Pilgern, die am Heiligen Cenote von Chichén Itzá für ein Ende einer Dürreperiode Opfer ausführen wollten, von den Cocom, die sich aus Chichén Itzá ableiten, im Schlaf getötet worden. Dies könnte als Vergeltung für ein viel früher von den Xiu an den Cocom in Ich Paa verübtes Massaker angesehen werden. All diese verstreuten Hinweise sprechen für lang andauernde und eher konfliktträchtige Beziehungen zwischen Uxmal und Chichén Itzá. Forschungsgeschichte Bei einer Inspektionsreise des spanischen Franziskaners Alonso Ponce im Jahre 1588 lag die Stadt längst in Ruinen. Sein Sekretär, Ciudad Real, gibt eine verhältnismäßig detaillierte Schilderung. Die erste moderne Beschreibung stammt von Jean Frédéric Maximilien de Waldeck (seine Verbindung mit dem gleichnamigen deutschen Adelshaus ist unbestätigt), der Uxmal 1835 besuchte. Durch Waldecks Bericht angeregt, unternahm der nordamerikanische Entdeckungsreisende John Lloyd Stephens, begleitet von Frederick Catherwood als Zeichner und Architekt, zwei ausgedehnte Reisen durch Mittelamerika. Auf diesen besuchte er auch Uxmal und beschrieb zahlreiche Ruinen, die Catherwood illustrierte. Die von Stephens verfassten Berichte machten die mittelamerikanischen Ruinen – und darunter an wichtiger Stelle Uxmal – bei den Interessierten in Nordamerika und Europa bekannt. Von ihm entnommene Kunstwerke aus den Bauten gingen später bei einem Brand in New York zugrunde. Stephens Schilderungen regten unter anderem den Franzosen Désiré Charnay zu Forschungsreisen an, auf denen er zahlreiche Fotografien aufnahm, sowie den Österreicher Baron Emmanuel von Friedrichsthal, der seinen Bericht aber nicht veröffentlichte. Ebenfalls von Stephens angeregt wurde Teobert Maler. Er unternahm ab 1886 ausgedehnte archäologische Forschungsreisen auf der Halbinsel Yucatan. In Uxmal nahm er nur zahlreiche, dokumentarisch hervorragende Fotos auf. Eine architektonische Untersuchung, die auch Uxmal einschloss, unternahm bald nach ihm William Herny Holmes. Dessen Zeichnungen sowie von Maler zur Verfügung gestellte Aufzeichnungen und Fotografien verwendete der deutsche Gelehrte Eduard Seler in einer Buchpublikation über Uxmal. Maler beriet auch Sylvanus G. Morley vor dessen Besuch in Uxmal 1907, bei dem dieser erste zuverlässige Vermessungen unternahm. 1927 hatten in Uxmal, wie eine kurze Studie von Federico Mariscal zeigt, noch keine Ausgrabungen und Restaurierungen stattgefunden, der Besuch selbst war schwierig. Erst 1930 unternahm Frans Blom sehr detaillierte Vermessungen im Nonnenviereck, auf deren Grundlage eine naturgetreue Reproduktion für die Weltausstellung in Chicago 1933 angefertigt wurde, die jedoch nicht erhalten blieb. In diesem Zusammenhang wurde durch Robert H. Merrill die erste präzise und einigermaßen komplette Kartierung der wichtigsten Ruinengruppen durchgeführt. Die frühesten Restaurierungen unternahm nach 1936 im Auftrag des mexikanischen Bildungsministeriums (Secretaría de Educación Pública) José A. Erosa Peniche, dessen Dokumentation Grundlage einer ausführlichen Darstellung durch Ignacio Marquina wurde. Gleichzeitig, jedoch unabhängig, studierte Harry Pollock zahlreiche Baukomplexe außerhalb des Zentrums von Uxmal. 1941 führte Sylvanus Morley kleinere Grabungen an den Fassaden der Hauptpyramide aus. Neben den seit den 1940er Jahren andauernden Maßnahmen zur Restaurierung und Stabilisierung der Bauten durch das INAH fanden nur wenige forschungsbezogene Untersuchungen statt: Eine Analyse der Stadtanlage und der Monumentalarchitektur leistete George F. Andrews. Jeff Kowalski veröffentlichte in seiner 1981 abgeschlossenen Dissertation eine architektonisch-kunstgeschichtliche Abhandlung zum Gouverneurspalast, die darüber hinaus eine umfassende Darstellung der kulturgeschichtlichen Rolle Uxmals umfasst. Ergänzt wird diese Abhandlung durch eine Studie von Alfredo Barrera Rubio anhand der Ausgrabungen der nördlichen Plattformkante des Gouverneurskomplexes. Kowalski, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts als die unbestrittene Autorität für die Kulturgeschichte Uxmals gelten kann, hat ferner ein in Uxmal völlig aus dem Rahmen fallendes Gebäude ausgegraben, die Rundpyramide. Im Rahmen seiner weit gespannten Dokumentation von Maya-Inschriften hat Ian Graham zwei Teilbände über Uxmal veröffentlicht, die die erste vollständige Kartierung der Stadt enthalten (die südliche Ausdehnung, die Graham in seine Kartierung einbezogen hatte, wurde nicht mit veröffentlicht). Die modernen archäologischen Arbeiten in Uxmal hatten vor allem zum Ziel, die Ruinenstätte dem Tourismus zugänglich zu machen und den Verfall der am besten erhaltenen Gebäude aufzuhalten. Diese Aufgabe war spätestens 1970 abgeschlossen. Seither nimmt die notwendigerweise stärker hypothetische Rekonstruktion von stark zerfallenen Gebäuden einen immer größeren Stellenwert ein. Der größte Teil von Uxmal ist jedoch weiterhin von dichtem Wald bedeckt und nicht für Besucher zugänglich. Außerhalb der archäologischen Zone liegen auf dem Gelände unmittelbar benachbarter Hotels weitere, teilweise freigelegte Ruinen. Die alte Stadt erstreckte sich weit ins Umland: die offizielle Festlegung des Gebietes von Uxmal durch das INAH umfasst eine Fläche von mehr als 10 Quadratkilometern. Forschungsproblematik Die Geschichte von Uxmal ist so gut wie unbekannt. Die archäologischen Forschungen sind, trotz einer großen Leistung auf dem Gebiet der Konservierung und Rekonstruktion, nur oberflächlich gewesen. Dies zeigt sich schon allein darin, dass selbst bei kleineren Arbeiten an seit langer Zeit rekonstruierten Bauten, die aus technischen Gründen etwas tiefer gehen, immer wieder ältere Kulturschichten entdeckt werden. Wichtigster Erkenntnisweg ist bisher immer noch die Architekturgeschichte, genauer die Abfolge der Bau- und Dekorationsstile und deren (hypothetische) Entwicklung. Da Bauten der letzten Stilphase, des „Späten Uxmal-Stils“, nur hier anzutreffen sind, bildet Uxmal den Angelpunkt dieses Forschungszweiges. Die wenigen Hieroglypheninschriften haben bisher kaum Erkenntnisse über die politischen und sozialen Verhältnisse erbracht. Außerdem beschränken sie sich praktisch nur auf die Zeit der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert. Die Berichte aus der Kolonialzeit erwähnen Uxmal regelmäßig, sie sind aber lapidar in ihren Aussagen und werden als wenig authentisch eingeschätzt. So spricht der Códice Pérez andeutungsweise von einer politischen Verbindung mit Chichén Itzá und Mayapán, wobei es sich auch hier offenbar um eine spätere Interpolation handelt. Eine derartige politische Verbindung, die unter dem Namen „Liga von Mayapán“ immer wieder in der modernen Literatur erwähnt wird, ist allein schon aus archäologischen Gründen kaum vorstellbar, da die beiden letzteren Städte nicht gleichzeitig existierten. Dennoch sind einzelne Übereinstimmungen in der Ikonographie nicht zu leugnen, wie die Darstellung gefiederter Schlangen oder toltekische Trachtelemente und Bewaffnung, die nicht zum Kanon der Maya-Darstellungen gehören. In der archäologischen Literatur wird ferner kontrovers diskutiert, wie lange sich Uxmal und Chichén Itzá zeitlich überschnitten haben und welche Auswirkungen dies auf die Entwicklung von Chichén Itzá gehabt haben mag. Offen ist ferner die Frage, welche politische Machtsphäre Uxmal zur Zeit seiner Hochblüte beherrscht haben mag. Ob der „Sacbé“ nach Nohpat und Kabah hierfür als Indiz gelten kann, wird kontrovers diskutiert. Geologie und Ökologie Uxmal liegt auf rund 50 Metern Meereshöhe, in einer leicht welligen Karstlandschaft, die im Norden und Süden in 10 Kilometer Entfernung von je einer um ungefähr 100 bis 150 Meter höheren Geländestufe begrenzt wird. In dieser grundsätzlich wasserlosen Landschaft bildeten sich aus dem Verwitterungsmaterial des Kalksteins tiefe, für die autochthone Landwirtschaft gut nutzbare Böden aus. In unterschiedlich großen flachen Senken, insbesondere um Uxmal, führte die Sedimentierung zur natürlichen Abdichtung, so dass sich das oberflächig abfließende Regenwasser sammeln und bis weit in die Trockenzeit überdauern konnte. Diese Aguadas wurden von den Maya noch künstlich erweitert und an den tiefsten Stellen mit brunnenartigen Wassersammlern versehen. Die günstige Wasserversorgung stellte einen wichtigen Standortvorteil für die Stadt dar. Im 19. Jahrhundert wurden die Aguadas zur Vermeidung von Malaria weitgehend trockengelegt. Zusätzlich sind in Uxmal, wie in der gesamten Region, zahlreiche Zisternen zu finden. Der Grundwasserspiegel liegt in einer Tiefe von rund 65 Metern und war mit den technischen Möglichkeiten der Maya unerreichbar. Die Region von Uxmal ist von einem zumeist laubabwerfenden Trockenwald mit maximalen Baumhöhen von 15 Metern bedeckt, bei dem es sich durchgehend um einen Sekundärbewuchs handelt, der das Ergebnis kontinuierlicher Rodung zum Zweck der Anlage von Feldern im Milpa-System ist. Der jährliche Niederschlag liegt bei 900 mm, allerdings mit erheblichen Schwankungen, die mittlere Jahrestemperatur bei 26 °C. Touristische Erschließung In Uxmal ist das Zentrum der alten Stadt weitgehend restauriert worden. Der Eindruck, den der Besucher erhält, entspricht dem Zustand der Stadt im 10. Jahrhundert, als die ersten Verfallserscheinungen an den Monumentalbauten auftraten. Damals waren die ursprünglich mit weißem Stuck ausgekleideten und völlig freien Flächen der Höfe bereits teilweise mit Bewuchs bedeckt, zwischen dem zahlreiche niedrige Bauten aus vergänglichem Material standen (siehe C-förmige Gebäude). Die in den 1980er-Jahren gepflanzten Bäume südlich des Nonnenvierecks und auf der Plattform des Gouverneurspalastes geben jedoch ein verfälschtes Bild. Der größte Teil von Uxmal ist heute von Wald bedeckt und nicht für Besucher zugänglich. Die Gründe sind einerseits die Gefahr durch die überall verstreuten Zisternenöffnungen, andererseits das Risiko der Beschädigung archäologischer Reste. In Uxmal besteht im Besucherzentrum ein kleines Museum. Ferner wurde eine abendliche Licht- und Tonschau eingerichtet. 1996 wurde Uxmal als Kulturdenkmal in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen. Am 30. März 2015 wurde die Gedenkstätte in das Internationale Register für Kulturgut unter Sonderschutz der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten aufgenommen. Bauformen in Uxmal Insgesamt sind die Bauten von Uxmal weitgehend regellos über das Gelände verstreut. Sie reichen bis in eine Entfernung von ein bis zwei Kilometer vom Zentrum, insbesondere nach Süden. Die einfachen Wohnbauten der bäuerlichen Bevölkerung erstrecken sich weit darüber hinaus. Die frühesten Bauten sind kleine Gebäude in frühen Formen des Puuc-Stils, sie finden sich konzentriert in der Nord-Gruppe. Nach einzelnen eher zufälligen Funden zu schließen befinden sich unter oder im Kern späterer Bauten oft frühe Konstruktionen, oder diese wurden überhaupt in alter Zeit abgerissen. Die zugänglichen und für den Tourismus restaurierten Bauten gehören den späten Varianten des Puuc-Stils, vor allem dem Späten Uxmal-Stil an, der in das späte 9. und frühe 10. Jahrhundert datiert wird. Eine exaktere naturwissenschaftliche Datierung scheitert daran, dass dabei die Ungenauigkeit insbesondere der Kalibrierung (Eichung anhand von Baumringdaten, allerdings in anderen Erdregionen, und deren Schwankungen auf Grund von natürlichen Veränderungen) größer ist als die angenommene Dauer der Stilphasen. Nur wenige datierte Inschriften geben genauere Anhaltspunkte (siehe unten). Entscheidend für die Einordnung in Phasen des Puuc-Stils ist in erster Linie die Gestaltung der Fassaden und ihres Steindekors, die deshalb hier ausführlicher dargestellt werden, zusammen mit bautechnischen Einzelheiten. Aus der vermutlichen Entwicklung der Dekorformen von einfacheren zu immer komplexeren hat zuerst Pollock die Stilabfolge entwickelt. Gegen Ende der Besiedlungszeit von Uxmal trat, wie auch in den anderen Städten des Puuc, eine soziale Veränderung ein, die sich in einer veränderten Nutzung der Steinbauten ausdrückt: Die breiten, mehrfach geteilten Eingänge, die bei manchen Gebäuden fast die gesamte Front eingenommen haben und sie so für repräsentative Aufgaben, jedoch kaum für Wohnzwecke geeignet machten, wurden zugemauert. Nur ein schmaler Eingang blieb bestehen. Daraus ist zu schließen, dass die Bauten nicht mehr in ihrer repräsentativen Funktion, sondern als Wohnungen genutzt wurden. Entsprechend wurden sogar Durchgänge zu Innenräumen umgestaltet. Beispiele hierfür finden sich in der Vogel-Plaza. Es gibt in Uxmal wie in der gesamten Region Bauten, deren Konstruktion abgebrochen wurde (z. B. Gipfelgebäude der Casa de la Vieja). Palastkomplexe Charakteristisch für die Stadtanlage von Uxmal sind große Höfe, die auf drei Seiten von erhöht stehenden lang gestreckten Palastbauten (mit jeweils zwei parallelen Reihen von Räumen) begrenzt werden. Die vierte Seite wird entweder von einem erhöht errichteten Gebäude oder einer massigen Pyramide eingenommen, auf deren Anhöhe ebenfalls ein kleiner palastartiger Bau stand. Teilweise sind die Hofkomplexe auch hintereinander gestaffelt wie im Komplex des Taubenhauses. C-förmige Gebäude In Uxmal finden sich außerdem viele sogenannte C-förmige Gebäude. Die Bezeichnung macht die Verlegenheit der Archäologie mit diesen Bauten deutlich. Sie besitzen nur Rück- und Seitenwände, die Front ist offen, dort befanden sich manchmal Steinsäulen, die von anderen Gebäuden entnommen worden waren und die das aus vergänglichem Material bestehende Dach getragen haben müssen; meist waren die Träger aber aus Holz. Entlang der Rückwand ist immer eine unterschiedlich breite gemauerte Bank vorhanden, die manchmal von weiter nach vorne ragenden Teilen unterbrochen ist. Die Funktion dieser Bauten ist unklar. Für eine Verwendung als Wohnbauten spricht wenig, da sie durch die lang gestreckte Form ohne geschlossene Frontwand weder Schutz vor dem Wetter bieten noch eine Privatsphäre gewährleisten. Eindeutig ist nur, dass sie, wo immer sie vorkommen, in die späteste Besiedlungsphase gehören. In Uxmal liegen die C-förmigen Gebäude vor allem in den Höfen der Palastgruppen. Eine Ansammlung dieser Bauten ist zwischen der Plattform des Gouverneurspalastes und der Adivino-Pyramide freigelegt worden. Dort finden sich aber auch solche C-förmigen Gebäude, die Seitenräume haben, in einem Fall sogar mit einem gemauerten Gewölbe. C-förmige Gebäude finden sich in einem weiten Gebiet vom Petén in Guatemala bis in das nördliche Yucatán, beispielsweise in Ek Balam und Culubá. Sie scheinen Vorformen für die lang gestreckten Säulenhallen in Chichén Itzá und Mayapán zu sein. Stadtanlage Charakteristisch für Uxmal sind die großen, annähernd quadratischen Plätze, die auf allen Seiten von lang gestreckten Gebäuden im klassischen Puuc-Stil und einer nur hier auftretenden späten Variante (dem Späten Uxmal-Stil) eingerahmt wurden. Die Plätze sind nord-südlich ausgerichtet. Die moderne Gestaltung mit zahlreichen Schatten spendenden Bäumen (gepflanzt nach 1980) gibt nicht die originale Situation wieder, die von mit weißem Stuckboden versehenen großen Plätzen geprägt war. Man geht davon aus, dass auf dem Gelände der Stadt, deren Kernzone von einer niedrigen Mauer umgeben war, etwa 25.000 Menschen lebten. Die gesamte besiedelte Fläche ringsum wird auf 10 km² geschätzt. Uxmal war mit der südöstlich gelegenen Stadt Kabah durch eine breite, gebahnte Sacbé über die bisher archäologisch nicht untersuchte und nicht zugängliche mittelgroße Stadt Nohpat verbunden, allerdings ist der Ausgangspunkt dieser Straße vermutlich nicht im Zentrum von Uxmal selbst, sondern in einer kleinen Ruinengruppe im Osten. Wichtige Gebäudekomplexe Die zentralen Bauten von Uxmal (alle Namen stammen aus neuerer Zeit und haben keine Beziehung zur tatsächlichen Funktion der Bauten) liegen, mit ca. 17° Abweichung im Uhrzeigersinn von den Himmelsrichtungen orientiert, auf einem Areal von 0,5 km². Der zentrale Teil von Uxmal war von einer niedrigen Mauer mit zahlreichen Unterbrechungen umgeben, bei der es sich nicht um ein Verteidigungsbauwerk gehandelt haben kann. Vermutlich wurde mit dieser Mauer ein bestimmter Bezirk symbolisch abgegrenzt. Der Komplex des Gouverneurspalastes Große Plattform Der Komplex umfasst mehrere Bauten auf einer sehr großen gemeinsamen Plattform von 185 × 164 Metern, die sich über dem leicht welligen Gelände zwischen 7 und 14 Meter hoch erhebt. Im Körper dieser Plattform verborgen ist eine natürliche Erhebung, durch die das aufzuwendende Baumaterial verringert wurde. Die Außenseite der Plattform war in 6 bis 7 Stufen gegliedert und setzte auf einer etwas größeren aber niedrigen Plattform auf, durch die die Unebenheit des Geländes ausgeglichen wurde. Die Ecken der eigentlichen Plattform bestanden aus sehr großen, abgerundeten Steinblöcken. Auf die Plattform führten von Norden zwei Treppen: eine, die direkt auf den nördlichen Eingang des Schildkrötenhauses zielte und eine weitere, die die Oberfläche der Plattform ungefähr vor dem Gouverneurspalast erreichte. Ein weiterer Aufgang bestand von der Westseite hinter dem so genannten Alten „Chenes“-Tempel. Ob unmittelbar östlich der Hauptpyramide eine weitere Treppe bestand, ist noch nicht geklärt. Gouverneurspalast (Palacio del Gobernador) Der Gouverneurspalast, ein Gebäude von 100 Meter Länge, steht etwas westlich der Mitte der beschriebenen großen Plattform auf einer weiteren, kleineren, langen und schmalen Plattform von rund 109 Meter Länge, zu der von Osten eine 40 Meter breite Treppe hinaufführt. Der Bau ist in drei Teile gegliedert, die ursprünglich durch zwei gedeckte Torbauten verbunden waren, welche später teilweise vermauert und zu kleinen Räumen umgestaltet wurden. Die 14 verschieden großen Räume sind in zwei parallelen Reihen angeordnet. Die hinteren Räume liegen, wie es die Regel ist, etwas höher. Dazu kommen je drei Räume an den äußersten Ecken, die nicht dieses Muster aufweisen. Zwei von ihnen sind die einzigen, die durch einen Eingang an der Schmalseite des Gebäudes (der Nord- und der Südseite) zu betreten sind. Der zentrale Raum der Hauptfassade ist eindeutig auch hier der wichtigste, denn er ist durch drei Eingänge ausgezeichnet und auf ihn ist auch der Fassadendekor (siehe weiter unten) ausgerichtet. Alle Räume beeindrucken durch ungewöhnliche Höhe sowohl der unteren Wandfläche bis zum Gewölbeansatz, auch des Gewölbes selbst. Alle Türen besaßen zwei Türbalken aus Chicozapote-Holz, die erst bei der Restaurierung durch solche aus Beton ersetzt wurden. Die mit Hieroglyphen skulptierten Türbalken des mittleren Eingangs hat Stephens herausgenommen, sie sind später in New York verbrannt. Die intensive Verwendung dieses gegen Termiten sehr widerstandsfähigen Holzes macht deutlich, dass damals nahe Uxmal ausreichende Bestände dieses heute nur mehr in mehreren hundert Kilometern entfernten Gebieten vorkommenden Baumes vorhanden gewesen sein müssen. Die äußeren Türeingänge wurden ähnlich wie bei den Gebäuden des Nonnenvierecks durch eine etwas größere vorgesetzte Türöffnung mit einem weiteren Holzbalken gleichsam eingerahmt. Die ungewöhnlich dicke Rückwand (2,5 bis 3 Meter) hat frühe Entdeckungsreisende dort vergeblich nach versteckten Schätzen suchen lassen. Auf der Terrasse neben dem Gebäude befindet sich die Steinfigur aus zwei miteinander verschmolzenen Jaguaren die einen zweiköpfigen Jaguarthron darstellt und dem Herrscher als Sitzplatz diente. Die Fassadengliederung hält sich an die Regeln des Späten Uxmal-Stils, ist aber hier besonders aufwändig. Der Gebäudesockel besteht aus drei Elementen, zwei glatten Bändern, die ein weiter innen liegendes Band einrahmen, das abwechselnd glatte Flächen und Gruppen von vier niedrigen Säulchen aufweist. Die untere Wandfläche ist glatt, sie wird nach oben hin durch das mittlere Gesims begrenzt, das einfach gehalten ist und aus drei Elementen besteht: ein glattes Band, das oben und unten von entgegengesetzt vorspringenden Bändern mit schrägem Querschnitt eingerahmt wird. An den Ecken ragen aus dem mittleren Band große vollplastische Schlangenköpfe heraus. Die obere Wandfläche trägt allen Dekor des Gouverneurspalastes. Das bildliche Programm ist sehr komplex und kann hier nicht im Einzelnen beschrieben werden. Es besteht aus einer vielfachen Kombination der folgenden Elemente: Stufenmäander, das heißt eckige Spiralen mit einer seitlichen Stufenreihe, die zum Beginn der Spirale führt. Diese Stufenmäander treten links- und rechtsorientiert auf, jeweils spiegelbildlich zueinander. Zwischen ihnen finden sich Felder mit Rauten-Gittermuster. Die Stufenmäander sind nur scheinbar in zwei horizontalen Registern (horizontalen Reihen) angeordnet, tatsächlich ist ihre Höhe weniger als die Hälfte der oberen Wandfläche, so dass über oder unter ihnen noch Platz bleibt. Dieser Platz wird durch eine Kette von Chaak-Masken eingenommen, die teils horizontal, teil treppenartig schräg angeordnet sind. Über dem Mitteleingang befinden sich, offenbar später vor Gitterfeldern angebracht, acht horizontale glatte Streifen (ähnlich wie beim Ostgebäude des Nonnenvierecks), auf denen zu beiden Enden flache Schlangenköpfe aufsitzen. Auf den Bändern befinden sich in Verlängerung der Schlangenköpfe, etwas zurückliegend, höhere Bänder, die mit Scheinhieroglyphen (Zeichen, die zwar wie Hieroglyphen aussehen, aber nicht echten Zeichen entsprechen und deshalb natürlich keinen Inhalt wiedergeben) geschmückt sind. Eine neunte Reihe ist kaum erkennbar in die an dieser Stelle horizontale Reihe der Masken eingefügt, allerdings ohne das horizontale Band, das hier mit den weit vorstehenden Nasen der Masken kollidiert wäre. Im Zentrum dieser Bänder-Schlangen ragt ein hoher Feder-Kopfschmuck auf, unter dem die Figur eines Würdenträgers beinahe verschwindet, die auf einem Thron sitzt. Der Thron ist in einem halbkreisförmigen Bogen eingepasst, aus dem wiederum nach beiden Seiten Schlangenköpfe ragen. Das obere Gesims ist eigenartig gestaltet: über einem schrägen Band verläuft ein schmales Band, um das sich ein gleich schmales abwechselnd davor und dahinter windet. Der obere Abschluss wird durch ein hohes, vorkragendes Band gebildet. Die Schmalseiten des Gouverneurspalastes tragen dasselbe Dekor von Stufenmäandern und Gitterfeldern, die Rückseite nur Gitterfelder. Schildkrötenhaus (Casa de las Tortugas) Das wegen seines Dekors im oberen Gesims so genannte Schildkrötenhaus ist ein typisches klassisches Gebäude des Puuc-Stils. Es liegt auf der großen Terrasse des Gouverneurspalasts wenige Meter nördlich des Palastes auf einem später angefügten Teil der großen Plattform. Zum Schildkrötenhaus führt von Norden eine große Treppe auf die Plattform hinauf. Der Grundriss des Gebäudes ist klar gegliedert: An beiden Schmalseiten und der Südseite befinden sich je zwei hintereinander angeordnete Räume, der jeweils äußere hat drei Eingänge, der innere einen. Die Inneren Räume liegen um eine Stufenhöhe höher. An der Nordseite befindet sich nur ein Eingang, der zu einem einzigen länglichen Raum führt. Die Fassaden weisen die übliche Gliederung auf: über einem einfachen Sockelgesims aus einer hohen, leicht vorgeschuhten Steinreihe erhebt sich eine glatte Wandfläche bis in die Höhe der Türbalken, die ursprünglich aus Holz waren. Das mittlere Gesims besteht aus drei Elementen: einem glatten Band in der Mitte und nach außen ein nach oben und ein nach unten und außen vorkragendes Band. Die obere Wandfläche weist Säulchen auf, das obere Gesims ist ähnlich dem mittleren, wobei die vorkragenden Bänder höher sind. Auf dem mittleren Band sitzen die erwähnten Schildkröten. Die Bauqualität ist ausgezeichnet, sie erinnert in vielen Details an den Gouverneurspalast. Das Gebäude wurde in seinem eingestürzten Mittelteil um 1968 rekonstruiert. C-förmiges Gebäude südöstlich des Gouverneurspalastes Auf der Plattform des Gouverneurspalastes befindet sich, genau wie in den meisten Gebäudekomplexen, ein so genanntes C-förmiges Gebäude. Das Gebäude beim Gouverneurspalast ist das größte bekannte Gebäude dieses Typs, es ist nicht ausgegraben, aber trotzdem gut als solches zu erkennen, da es so gut wie nicht von Schutt eines (hier nicht existierenden) Gewölbes überdeckt ist. Die Reihe von unbehauenen Steinen an der Rückseite (im Bild rechts) stammt von der die Rückwand entlanglaufenden Bank und dem niedrigen Mauersockel, auf dem eine Wandkonstruktion aus Holz aufgesetzt haben dürfte. Auf der Vorderseite fehlt entsprechender Schutt: hier war das Gebäude offen, das anzunehmende Dach ruhte auf hölzernen Stützen. Die Lage dieses C-förmigen Gebäudes ist ungewöhnlich. Üblicherweise finden sie sich in kleinen Gruppen oder paarweise im Inneren oder der Mitte von Höfen, während das Gebäude hier die Plattform vor dem Gouverneurspalast eher einrahmt. Dies könnte – zusammen mit dem rechtwinklig dazu verlaufenden Gebäude, das als im nächsten Abschnitt beschrieben wird – auf eine andere Funktion oder Zeitstellung hinweisen. Säulenhalle östlich des Gouverneurspalastes Gegenüber dem Gouverneurspalast auf derselben großen Plattform befindet sich ein lang gestrecktes nicht freigelegtes Gebäude, dessen aus dem Schutt herausragende Säulenstümpfe auf ein Gebäude ähnlich dem Südgebäude der Vogelplaza hindeuten. Es wird vermutet, dass es sich um einen Portikus mit drei dahinter liegenden Räumen gehandelt hat. Die obere Fassade scheint mit Säulchen und ik-Elementen dekoriert gewesen zu sein. Gebäude nördlich der Plattform des Gouverneurpalastes Dicht am nördlichen Fuß der Plattform, auf der der Gouverneurspalast steht, wurde ein kleines Gebäude ausgegraben und vollständig rekonstruiert, das durch aus Steinblöcken gemauerte Säulen auffällt, die den Eingang teilen. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden die seitlichen Eingänge durch unsauberes Mauerwerk verschlossen. Im Schutt des Innenraumes fand sich ein Gewölbedeckstein, der ungewöhnlich gut erhalten ist (in der Rekonstruktion wurde er durch eine Nachbildung ersetzt). Ältere Bauten westlich des Gouverneurspalastes Auf halber Höhe der großen Plattform des Gouverneurspalastes befindet sich ein breiter Absatz, auf dem zwei Bauten stehen, die später von der Plattform eingeschlossen und teilweise halb überdeckt wurden. Sie sind deshalb zeitlich früher als die Errichtung der Plattform und das auf ihr in unmittelbarer Nähe stehende Schildkrötenhaus einzuordnen. Der Absatz ist über eine breite Treppe von dem der Hauptpyramide vorgelagerten Hof zu erreichen. Das südliche der beiden Gebäude besteht aus zwei Reihen von jeweils drei Räumen in ost-westlicher Richtung, von denen der mittlere, von dessen etwas vorspringender Vorderwand nur kleine Reste erhalten sind, eine Fassadengestaltung im Chenes-Stil besaß. Das nördliche Gebäude hat ebenfalls zwei Reihen von drei Räumen, deren Eingänge nach Westen orientiert sind. Nach den auf der Rückseite erhaltenen Resten der Fassade handelt es sich um einen Bau im klassischen Säulchen-Stil. Ballspielplatz (Juego de Pelota) Der Ballspielplatz liegt zwischen den Plattformen des Nonnenvierecks im Norden und des Gouverneurspalastes im Süden, er ist ungefähr nach Nord-Süd ausgerichtet. Wie bei allen spätklassischen Ballspielplätzen wird er aus zwei massiven Mauerblöcken gebildet, zwischen denen zwischen niedrigen Bänken die Spielgasse (34 Meter × 10 Meter) verläuft, in der das eigentliche Spiel stattfand. Die seitlichen Mauerblöcke, die 7,4 Meter hoch sind, dienten hauptsächlich als die Reflexwand, von der der auf sie treffende Ball zurück in die Spielgasse geleitet wurde. Die Reflexwände waren dementsprechend glatt gehalten. In der Mitte jeder Seite war ein steinerner Ring eingelassen (von dem in Uxmal nur Reste erhalten sind). Das Ziel des Ballspiels war, mit dem Ball aus massivem Kautschuk durch den Ring zu treffen, wobei der Ball nur mit der Hüfte gespielt werden durfte. Beide Ringe waren mit einer nur mehr teilweise erhaltenen Inschrift versehen, auf der die (rekonstruierten) Daten des (umgerechnet auf den julianischen Kalender) 9. Januar 905 enthalten sind. Die seitlichen Bänke wiesen auf ihrer oberen Kante plastisch ausgeführte Klapperschlangenkörper auf. Auf der oberen Fläche der beiden seitlichen Mauerblöcke standen Gebäude mit dreigliedrigen Eingängen, zu denen von außen Treppen hinaufführten. Diese Gebäude sind weitgehend zerstört. Pyramide des Zauberers (Pirámide del Adivino) Die Ruinenzone von Uxmal wird von der Pyramide des Zauberers dominiert, einer Pyramide mit rechteckigem Grundriss, deren Ecken weiträumig abgerundet sind. Der Körper der Pyramide ist mit grob bearbeiteten Steinen verkleidet, die heute sichtbare Verkleidung ist zu einem großen Teil das Ergebnis von Arbeiten zur Stabilisierung des Bauwerkes. An der Pyramide lassen sich mindestens fünf Bauphasen unterscheiden. Die traditionelle Bezeichnung der einzelnen Bauteile als „Tempel“ sagt nichts über die tatsächliche Funktion aus. Tempel I Der älteste Bauteil ist ein ursprünglich selbständiges Gebäude, das die östliche Begrenzung des Vogelhofes bildet – dessen Randbebauung damals aber noch nicht vollständig existierte. Bei dem sogenannten Tempel I handelt es sich um ein typisches Gebäude im klassischen Puuc-Stil, das aus zwei parallelen Reihen von jeweils 5 Räumen besteht, wobei die hintere (östliche) Reihe durch die Räume der westlichen Reihe zugänglich war. An jedem Ende lag ein quer verlaufender Raum. Der mittlere Eingang kam später unter der westlichen Treppe zu liegen und ist heute nicht mehr sichtbar. Ein Teil der Räume wurde vermutlich bei der Errichtung der letzten Phase der Pyramide aus Stabilitätsgründen mit Geröllstein-Mauerwerk verfüllt. Die Türen hatten Türbalken aus jeweils zwei Holzbalken, die nur noch an einer Stelle erhalten geblieben sind. Von einem der Balken existiert eine Radiokarbondatierung auf 740–760 n. Chr. (Labor-Nummer Hei 15505, Vertrauensintervall 1 Sigma, entspricht 68 % Wahrscheinlichkeit, dass das Fällungsdatum des Baumes in den genannten Zeitraum fällt). An den Ecken befinden sich eingesetzte dicke Ecksäulen. Die Gestaltung der Fassade besteht aus einem Sockel von drei Elementen: zwischen zwei glatten Bändern zieht sich eine Reihe von niedrigen Säulchen, die mit glatten Flächen abwechseln, um das gesamte Gebäude. Die untere Wandfläche ist glatt aus gut geschnittenen Verkleidungssteinen. Zwischen den Türen und den Türen und Ecken befinden sich drei Felder mit je drei Säulchen, die über die ganze Höhe der unteren Wand reichen. Die Säulchenfelder der Wand korrelieren nicht mit denen des Sockels. Das mittlere Gesims ist ungewöhnlich stark und vielfältig dekoriert. Es besteht aus übergroßen monolithischen Elementen, deren Schauseite nach unten und außen vorkragt. Der untere Rand ist mit einfach gestuften zapfenartigen Elementen in Form des „ik“-Symbols (ähnlich einem „T“ mit drei gleich langen Balken) geschmückt, die Schauseite trägt in Flachrelief figürliche Motive, Ranken, Fische, Flechtbänder, gekreuzte Langknochen und einzelne kurze Hieroglyphentexte. Über diesem untersten Element folgt eine durchgehende Reihe von gekröpften Säulchen, darüber ein weiteres Band, das an flach liegende Säulchen erinnert, die regelmäßige Einschnitte um ihren Umfang haben. Die obere Wandfläche ist glatt, wurde aber über den Eingängen von großen, doppelt übereinander gesetzten Chaac-Masken mit den charakteristischen Rüsseln durchbrochen. Über dem unter der späteren Treppe perfekt erhaltenen mittleren Eingang befand sich die vollplastische Darstellung der Reina de Uxmal (Königin von Uxmal), tatsächlich das teilweise tätowierte Gesicht eines Priesters, das aus dem Rachen einer stilisierten Schlange hervorkommt. Diese Figur wurde bei den Restaurierungsarbeiten entfernt. Darüber befinden sich zwei große, perfekt erhaltene Rüsselmasken, die seit den letzten Restaurierungen nicht mehr sichtbar sind, da der Durchgang aus Stabilitätsgründen verschlossen wurde. Das obere Gesims ist nicht mehr in originaler Lagerung erhalten, aus den im Schutt gefundenen Elementen ist an eine ähnliche Gestaltung wie bei dem mittleren Gesims zu denken. Tempel II Der erste Abschnitt der eigentlichen Pyramide wurde im zweiten Bauabschnitt errichtet. Sie hat ihren Mittelpunkt etwas östlich der Rückfassade des ersten Gebäudes, das sie zum Teil überdeckte, und erreichte eine Höhe von 22 Meter. Aus Gründen der Stabilität wurden dessen hintere Räume teilweise mit Steinmauerwerk angefüllt. Diese erste Pyramide trug auf ihrer Plattform ein nach Osten gerichtetes Gebäude, das aus einem Portikus besteht, der von 8 Säulen getragen wird (die Zahl ist hypothetisch, da die Ausgrabung im Inneren der späteren Pyramide nicht bis zu den Enden des Gebäudes reichte). Der Zugang zu diesem Gebäude erfolgte von der Ostseite über eine breite Treppe. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde der lang gestreckte Raum des Portikus durch zwei Quermauern, die jeweils eine der Säulen einschlossen, in drei Räume geteilt, die dadurch die Gestalt von Eingängen erhielten, welche von jeweils 2 Säulen getragen wurden. Die Fassade zu den Seiten der Säulenreihe ist glatt. Über der Rückwand des Gebäudes ragte ein Dachkamm auf, der aber auch zu Tempel III gehört haben kann, und der durch eine bei den Ausgrabungen geschaffene Öffnung im Boden des Tempels V sichtbar ist. Tempel III An die Rückwand dieses Gebäudes wurde später ein kleines, aus zwei hintereinander liegenden Räumen gebildetes und nach Westen gerichtetes Gebäude angefügt (Tempel III), zu dem eine nur mehr in Spuren erkennbare Treppe führte. Die rückwärtige Hälfte des vorderen Raumes und der hintere wurden zu einem späteren Zeitpunkt zugemauert, um die Stabilität für den darüber liegenden Tempel V zu erhöhen. Der Tempel wurde von späteren Bauten vollkommen überdeckt, er ist nur durch einen modernen Tunnel von der Mitte der Osttreppe zu erreichen. Die Fassade dieses Gebäudes weist ein zweigliedriges mittleres Gesims und ein dreigliedriges oberes Gesims auf, die dem im Puuc-Stil Üblichen entsprechen. Aus der nach innen geneigten oberen Wandhälfte wie dem oberen Gesims ragen Steinzapfen zur Befestigung einer nicht mehr erhaltenen Stuckdekoration. Tempel IV Um und über dem Tempel III und diesen nach vorne erweiternd wurde das so genannte Chenes-Gebäude errichtet, zu dem eine Treppe von der Vogel-Plaza führt, die über die Fassade des untersten Gebäudes hinweggeht und diese teilweise überdeckt. Der Zugang zum mittleren Raum des Tempel I wurde durch einen überwölbten Durchgang freigelassen (er ist heute zugemauert). Zur Gewichtsreduktion wurde auch über dem Dach des Tempels I ein Gewölbe errichtet, das keine weitere Funktion hatte. Die Treppe weist an ihren Rändern eine durchgehende Kette von Masken des Regengottes Chaac auf. Das Gebäude überrascht durch eine Fassade und einen Eingang im Stil der Chenes-Drachenmaul-Eingänge, die eigentlich im Chenes und Río Bec Gebiet heimisch sind. Der Innenraum ist sehr hoch, der Ansatz des Gewölbes liegt über 4 Meter hoch. Der Eingang wurde von zwei Holzbalken getragen. Tempel V Das jüngste und am höchsten gelegene Gebäude mit drei schmalen Räumen in Nord-Süd-Richtung liegt unmittelbar über dem Tempel II auf dem Niveau des oberen Abschlusses des Dachkamms (der nach Ausgrabungen durch eine Falltür sichtbar ist). Es entstanden eine neue, steilere Treppe auf der Ostseite, durch die der Tempel II vollständig überdeckt wurde, sowie zwei seitlich an dem Chenes-Gebäude vorbeiführende Treppen auf der Westseite. Das Gebäude ist bemerkenswert, weil es sich den beiden Hauptseiten der Pyramide mit den beiden Treppen zugleich zuwendet. Der mittlere Raum hat seinen Türeingang nach Westen, die beiden Räume am nördlichen und südlichen Ende Eingänge nach Osten, die zunächst auf eine schmale Plattform führen, zu der man über die breite Treppe in der Mitte gelangt. Die Fassade der Westseite steht auf einem Sockel, bei dem zwei glatte Bänder ein eingesenktes Band aus Säulchen einrahmen. Die untere Wandfläche besteht zu beiden Seiten des einzigen Einganges aus zwei Feldern mit schräg über Kreuz gesetzten gezähnten Steinen (chimez), in deren Mitte jeweils eine vollplastische Steinfigur befestigt war, von der nur noch Reste erhalten sind. Seitlich anschließend sind die Wandflächen glatt. Das mittlere Gesims besteht aus einem vorstehenden glatten Band, eingerahmt von zwei schräg nach außen vorragenden Bändern. Die obere Wandfläche weist vier einzeln stehende Mäander auf, vor denen ein rechteckiger Zapfen aus der Mauer ragt, der vermutlich eine Figur getragen hat. Das obere Gesims ist gleich wie das mittlere gestaltet, nur etwas höher. Die Fassade der Ostseite trägt deutlich weniger Verzierung. Die untere Wandhälfte ist glatt und von der oberen durch das übliche dreibändrige Gesims getrennt. Über die obere Wandfläche lässt sich wegen der starken Zerstörung nicht viel sagen: in Verlängerung der Mittellinie der Osttreppe befindet sich hier ein plastisches Abbild eines traditionellen Hauses mit Palmblattdach. Das Besteigen der Pyramide, die bei einem Hurrikan in Mitleidenschaft gezogen wurde, ist aus Gründen der Stabilität nicht mehr gestattet. Nur das unterste Gebäude ist für Besucher zugänglich. Vogelplatz (Plaza de los Pájaros) Der Hof liegt zwischen der Pyramide des Zauberers und dem Nonnenviereck. Der Name kommt vom Fassadendekor des südöstlichen Gebäudes, der Vögel zeigt. Der Hof wird von vier Gebäuden begrenzt. Das Gebäude im Osten blieb als einziges stehen. Bis auf einen kleinen Rest des westlichen Gebäudes waren die anderen drei völlig zusammengestürzt und wurden von 1988 bis 1994 rekonstruiert. In der Mitte des Hofes steht ein konischer Altarstein. Die Abfolge der Errichtung der Bauten wird folgendermaßen rekonstruiert: Auf einer frühen Plattform wurde zuerst das östliche Gebäude errichtet, danach das nördliche und südliche Gebäude, schließlich die beiden Teile des westlichen Gebäudes. Als letztes wurden die beiden mittleren Räume vor die Fassade des Westgebäudes gesetzt. Westgebäude Im Westen befindet sich ein komplexes Gebäude mit einem überwölbten Durchgang in der Mitte (zumindest wurde er in dieser Weise rekonstruiert). Die nördliche und die südliche Hälfte des Gebäudes sind gleich ausgelegt: jeweils drei Räume mit einfachen Eingängen. Die Fassade entspricht dem klassischen Puuc-Stil. Der Sockel besteht aus einer einfachen Steinreihe, die unteren Wandflächen sind glatt. Das mittlere Gesims besteht aus drei Gliedern: einem nach unten-außen vorkragenden Band, darüber eine ununterbrochene Reihe von niedrigen Säulchen und ein drittes, glattes Band. Die obere Wandhälfte wird aus Säulchen gebildet, die in der Mitte eine in Stein nachgeahmte Bindung aufweisen. Das oberer Gesims besteht aus vier Elementen: von unten ein glattes Band, ein tiefer liegendes Band aus niedrigen Säulchen, wieder ein glattes Band, und darüber der übliche Abschluss aus hohen, schräg nach oben-außen vorkragenden Steinen. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde den mittleren Räumen ein Anbau vorgesetzt. Die Anbauten weisen drei Eingänge auf, die ursprünglich mit hölzernen Türbalken überspannt waren. Im Schutt dieser Eingänge wurden 22 kleine Inschriftenelemente gefunden, die jedoch keinen lesbaren Text enthalten, sondern nur Pseudohieroglyphen. Das mittlere Gesims der Fassade besteht gleich dem älteren Gebäudeteil aus drei Elementen, die aber anders dekoriert sind. Das untere, vorkragende Band ahmt die Enden von Palmblättern nach, das mittlere zeigt das ’’chimez’’-Muster, das unterschiedlich interpretiert wird und vielleicht die Klappern von Klapperschlangen darstellt. Das dritte Element geht in die obere Wandfläche über, die die Reihen von Palmblättern der traditionellen Dachbedeckung abbildet. Auf diese sind mehrere steinerne Vögel gesetzt, die dem Gebäude und dem Hof den Namen gegeben haben. Den Abschluss nach oben bildet das obere Gesims, das dem des älteren Gebäudes gleicht, nur dass die oberste Steinreihe wieder ein Palmblatt-Relief zeigt. An den Ecken ragt aus der Säulchenreihe ein steinerner, weit aufgerissener Reptil-Rachen hervor. Die seitlichen Eingänge zu dem vorspringenden Raum, aber auch einige andere sind in späterer Zeit schmaler gemacht worden, offenbar um die ursprünglich eher repräsentativen Zwecken dienenden Bauten für Wohnzwecke besser nutzbar zu machen. Die Fassadengestaltung im Bereich des gewölbten Durchganges ist unbekannt und war auch aus Elementen im Schutt nicht zu erschließen, was Zweifel an der Rekonstruktion rechtfertigt. Nord-, Süd- und Ostgebäude Das Nordgebäude besteht aus zwei hintereinander gelegenen Reihen von Räumen parallel zur Fassade. Zu den beiden seitlichen Räumen führten jeweils drei Eingänge. Später wurden die seitlichen dieser Eingänge zugemauert. Der mittlere Eingang besitzt drei Säulen. Die Rekonstruktion der Fassade ist hypothetisch und beruht auf der üblichen Gestaltung von Fassaden unter Berücksichtigung der im Schutt gefundenen Elemente. Das südliche Gebäude wird von einem langen, von 13 Säulen getragenen Portikus gebildet, hinter dem drei Räume in gleicher Richtung liegen. Im Portikus befindet sich nahe dem Durchgang zum mittleren hinteren Raum eine gemauerte Sitzplattform. Die Rekonstruktion der Fassade ist hypothetisch. Aus dem Schutt des vollkommen eingestürzten Gebäudes wurden zahlreiche Steinzapfen geborgen, so dass die Annahme berechtigt ist, die obere Wandfläche sei glatt gewesen und aus ihr ragten (allerdings kaum so wahllos verteilt und so weit herausstehend wie in der Rekonstruktion) die Steinzapfen heraus, die einem tiefen Dekor aus plastischem Stuck Halt geben sollten. Im Osten des Hofes liegt das langgestreckte untere Gebäude des Tempel I der Zauberer-Pyramide, das im Abschnitt zur Pyramide beschrieben ist. Haus des Leguans (Casa de la Iguana) Das Gebäude liegt südlich der Vogelplaza und besteht aus einem lang gestreckten Portikus, der auf seiner Westseite von 11 Säulen getragen wird. Das Gebäude war völlig zusammengefallen und wurde vollständig rekonstruiert. Über seine Fassade und andere Einzelheiten lassen sich deshalb keine gesicherten Aussagen machen. Nonnenviereck (Cuadrángulo de las Monjas) Die vier heute vollständig rekonstruierten Palastbauten des Nonnenkloster-Vierecks liegen um einen versenkten, rechteckigen Hof. Der Hauptzugang ist von Süden, wo außerhalb des Vierecks der stark zerstörte Ballspielplatz liegt, über eine breite Treppe und einen Tordurchgang durch das südliche Gebäude. Die Architektur des Nonnenvierecks repräsentiert am besten die späte Uxmal-Variante des Puuc-Stils. Zwei bemalte Gewölbedecksteine aus dem Komplex des Nonnenvierecks tragen Daten für die Jahre 906 und 907 und bilden damit die letzten in der ganzen Puuc-Region erhaltenen, zuverlässig lesbaren Daten. Südgebäude Das Südgebäude liegt auf dem Niveau des inneren Hofes. Es besteht aus zwei identischen, spiegelbildlich gestalteten lang gestreckten Gebäuden (80 Meter), deren Hauptteil zwei Reihen von jeweils vier Räumen aufweist, die nach dem Innenhof und der Außenseite (Norden und Süden) geöffnet sind. Die Gebäude sind durch einen Torbogen verbunden, der den Zugang zum Innenhof von der großen Südtreppe gewährleistet. Dies ist der einzige monumental und repräsentativ gestaltete Zugang zum gesamten Komplex. An den äußeren Enden der beiden Teilgebäude finden sich etwas zurückgesetzt zwei kleine, zweiräumige Gebäude, die nur vom Innenhof zugänglich sind und später errichtet wurden. Die obere Wandhälfte zeigt zwei, miteinander in Verbindung stehende Motive: Auf der nach innen gewandten Fassade findet sich über jedem der Eingänge die Darstellung einer Hütte mit Palmblattdach mit Masken des Regengottes, aus denen Rauch oder Wolken aufsteigen. Die Flächen zwischen den Hütten sind mit Gitterwerk und glatten Flächen mit Gruppen von drei Säulchen mit einer mittigen Bindung verziert. Die Fassade der Außenseite ist weitgehend abgefallen, aus den nahe der Westecke erhaltenen Resten kann man entnehmen, dass sie ähnlich der Fassade der Innenseite gestaltet war. Das mittlere und das obere Gesims sind strukturell gleich: zwei geböschte Bänder rahmen ein glattes, vorspringendes ein. Das obere Gesims ist deutlich höher. Ostgebäude Das östliche und das westliche Gebäude sind gegenüber dem Hof um mehrere Treppenstufen erhöht. Das Gebäude verfügt über 14 Innenräume, die in einem komplexen Grundriss ausgelegt sind. Im Prinzip handelt es sich um zwei identisch gestaltete parallele Reihen von 7 Räumen, denen aber nur 5 Eingänge nach außen (bzw. in die Vorderräume) entsprechen, weil von dem vorderen wie dem hinteren Mittelraum nach jeder Seite ein Seitenraum abgehen. Die beiden Mittelräume sind größer als alle anderen. Die Rückseite und die Schmalseiten sind relativ schlicht gehalten: über einer völlig glatten unteren Wandfläche zeigen die oberen Wandflächen einen Wechsel von ebenfalls glatten Flächen und Feldern mit Gittermuster. An den Ecken sind vierfache Kaskaden von Chaac-Masken zu sehen. Die Frontseite zeigt ein Dilemma: Wegen des großen Mittelraumes mit seinen Seitenkammern ist der Abstand zwischen dem mittleren Eingang und den Seiteneingängen sehr groß. Um dieses Ungleichgewicht nicht auf den Fassadendekor zu übertragen, wurden die obere Wandfläche in sieben annähernd gleich lange Abschnitte geteilt: sechs, von denen die jeweils beiden äußeren den Eingängen entsprechen, und zwei über dem glatten Wandteil zu beiden Seiten des mittleren Einganges zeigen ein identisches Motiv aus (von unten nach oben in ihrer Länge zunehmenden) parallelen doppelköpfigen Schlangen, aus deren Mitte oben ein Eulen-Gesicht mit großem Federschmuck herausragt, das heute zumeist fehlt. Über dem mittleren Eingang sind übereinander drei Masken des Chaac angeordnet. Dort ist das obere Gesims unterbrochen und durch drei parallele Schlangen ersetzt, ganz ähnlich denen über den anderen Eingängen. Der Sockel besteht aus drei Elementen, das mittlere mit abwechselnden Gruppen von vier niedrigen Säulchen und glatten Flächen wird eingerahmt von zwei glatten Bändern. Das mittlere Gesims besteht aus vier Elementen, einem Band aus einer kontinuierlichen Folge von niedrigen Säulchen, einrahmt von zwei glatten Bändern, und darüber ein schräg vorspringendes Band. Das obere Gesims ist beinahe identisch, wobei das oberste Band stark überhöht ist. Vor dem Säulchenband sitzen in Abständen steinerne Rosetten. Westgebäude Das Gebäude im Westen des Hofes hat sieben Eingänge die jeweils in einen Raum und aus diesem in einen dahinter liegenden führen. Insofern ist der Grundriss der am wenigsten anspruchsvolle des Nonnenvierecks. Die Eingänge weisen ein Charakteristikum des späten Uxmal-Stils auf: um den eigentlichen Eingang befindet sich außen ein in Höhe und Breite größerer Eingang, der gleichsam einen Rahmen bildet. Die nach dem Hof zu gerichtete Fassade ist die komplexeste des Nonnenvierecks. Sie weist in der oberen Wandfläche (die untere ist glatt) das komplexeste Bildprogramm des Nonnenvierecks auf. Über dem mittleren Eingang befindet sich ein Thron mit überdimensionalem Feder-Baldachin. Auf dem Thron sitzt eine sehr kleine Figur eines Würdenträgers, offenbar fortgeschrittenen Alters. Der Hintergrund wird von kostbaren Federn gebildet. Aus diesem zentralen Bild ziehen sich zwei immer wieder ineinander verwundene Schlangenleiber, die mit Federn besetzt sind und die Idee des Quetzalcoatl bzw. Kukulkan anzudeuten scheinen. Sie rahmen und gliedern die restliche Fassade. Über den benachbarten Eingängen findet sich dasselbe Motiv, aber offensichtlich mit geringerer Bedeutung. Dann folgen nach den Enden zu Kaskaden von Masken des Chaac und schließlich die schon vom Südgebäude bekannten Motive des Hauses mit Palmblatt-Dach und Chaac-Maske. An den Ecken die üblichen übereinander gestaffelten Chaac-Masken. In den Feldern zwischen den Eingängen wechseln sich Hintergründe mit Gittermuster und chimez Motiven ab, vor denen menschliche und tierische Gestalten vollplastisch herausragen. Am auffälligsten sind nahe dem zweiten Eingang von Norden ein Kopf und ein mit Rasseln besetztes Ende der gewaltigen Schlangen. Aus dem geöffneten Schlangenmaul schaut ein menschliches Gesicht hervor. Es wird vermutet, dass diese Schlangen später der bereits vollendeten Fassade hinzugefügt wurden. Die dreigliedrigen Gesimse sind einfach, ohne besondere Schmuckelemente, abgesehen von Rosetten, die in Abständen aus dem mittleren Band des oberen Frieses herausragen. Die Rückseite des Gebäudes ist weitgehend zerstört und bisher nicht rekonstruiert worden. Sie zeigte in zwei Registern abwechselnd Gittermuster und Stufenmäander. Nordgebäude Das Nordgebäude steht auf einer besonders hohen Plattform, die vor der nach Süden gerichteten Hauptfassade sehr breit gehalten ist. Zu ihr führt in der Mitte vom Hof her eine 30 Meter breite Treppe, die auf beiden Seiten von je einem Gebäude begrenzt ist, das auf dem Niveau des Hofes steht. Diese Gebäude sind identisch gestaltet aber unterschiedlich groß: Sie bestehen aus zwei Räumen, von denen der vordere durch einen Portikus zum Hof hin offen ist. Der Unterschied besteht in der Anzahl der gemauerten Pfeiler des Portikus: vier beim westlichen Gebäude, nur zwei beim östlichen. Nur die Fassade des westlichen Gebäudes ist erhalten: Über einem dreigliedrigen Sockel mit eingezogenem mittleren Band, in dem sich Säulchen mit glatten Flächen abwechseln, folgt eine glatte Wandfläche. Die Pfeiler sind mit Sockel und Kapitell ausgestattet und wie diese reliefiert. Das mittlere Gesims ist viergliedrig, mit geböschtem Band unten, zwei glatten Bändern und oben wieder ein gegenläufig geböschtes Band. In der oberen Wandfläche dominieren die Flächen mit gekreuztem Gitter aus Chimez-Steinen, in die über jedem der Teileingänge kleinere Felder mit einem Mäander-ähnlichen Motiv eingefügt sind. Die Ecken tragen einfache Chaac-Masken. Die obere Wandfläche ist relativ niedrig, weil die Gebäudehöhe durch das Niveau der Plattform vor dem eigentlichen Nordgebäude beschränkt war. Das obere Gesims ist dreigliedrig mit glatten, oben und unten geböschten Bändern, wobei aus dem mittleren Band in Abständen Rosetten herausragen. Das eigentliche Nordgebäude besteht aus zwei Reihen von elf Räumen, wobei die hintere Reihe nur durch die vorderen Räume zugänglich ist. An den beiden Schmalseiten befinden sich ebenfalls zwei hintereinander liegende Räume, so dass die Gesamtzahl der Räume 26 mit 13 Außeneingängen beträgt. Die Nordfassade besitzt keine Eingänge. Der mittlere Eingang der Südfassade ist breiter als alle anderen. Wie beim Ost- und Westgebäude sind auch hier die Eingänge in der beschriebenen Rahmenform gestaltet. Das Gebäude weist eine komplexere Entstehungsgeschichte als die anderen des Nonnenvierecks auf: Der älteste Bau verfügte nicht über die vier seitlichen Räume. Der ältere Bau hatte zu dem eine andere Fassade, die aber abgerissen wurde und über deren dekorative Inhalte nichts bekannt ist (an der Nordfassade wurde bei den Rekonstruktionsarbeiten an einer kleinen Stelle der Durchblick zur unteren Wandfläche und zum mittleren Gesims der älteren Fassade freigelassen). Anschließend wurden in einer weiteren Bauphase die seitlichen Räume angefügt. Schließlich wurde das gesamte Gebäude mit einer neuen Fassade ummantelt. In dieser Form ist das Nordgebäude das jüngste des Nonnenvierecks. Das Bildprogramm vereinigt Motive aus den Fassaden der anderen Teile des Nonnenvierecks. Der Sockel besteht aus einem Band mit abwechselnd glatten Teilen und Gruppen von drei Säulchen, eingerahmt von zwei glatten Bändern. Die untere Wandfläche ist überall glatt. Einfach gehalten ist auch das mittlere Gesims aus drei Elementen, von denen das mittlere ein glattes Band ist, das oben und unten geböschte Bänder begleiten. Herausragendes und gliederndes Element sind die hohen Kaskaden von Chaac-Masken, die zusammen mit den ähnlich gestalteten Eck-Kaskaden die Dachfläche erheblich überragen. Ihre ursprüngliche Anzahl ist ungewiss, da die Fassade nur teilweise hinreichend gut erhalten war. Über einigen der Eingänge befinden sich Darstellungen von traditionellen Maya-Häusern, deren First verschiedengestaltige doppelköpfige Schlangen bilden. Ein Vergleich mit den Rauchwolken des Herdfeuers, die aus den Häuserdarstellungen des Südgebäudes hervorkommen, lässt eine symbolische Gleichsetzung vermuten. Vor einem dieser Häuser ist die vollplastische Darstellung zweier Jaguare angebracht, deren Schwänze ineinander verwunden sind, ein Motiv, das ähnlich an anderen Stellen in Uxmal anzutreffen ist. Zwischen den Kaskaden und den Häusern wechseln in zwei Registern schräg gestellte Chimez-Steine rings um zentrale Rhomben mit großflächigen Stufenmäandern ab. In diesen Feldern finden sich aus der Fassadenfläche herausragende Figuren, so die (unvollständige) eines gebundenen Gefangenen und die einer Eule mit menschlichem Gesicht. Über jedem zweiten Eingang ist eine hohe, vierfach Kaskade von Chaac-Masken angebracht. Die Gestaltung der Fassaden an den Schmalseiten des Nordgebäudes ist, abgesehen von den Eck-Kaskaden, nicht bekannt. Die Rückseite des Gebäudes ist einfacher gehalten. In regelmäßiger Folge wechseln sich glatte Flächen mit solchen mit schrägem Gitter ab. In allen glatten Flächen ragten über dem mittleren Gesims steinerne Podeste aus der Wand heraus, auf der sich in einem Fall ein Teil einer männlichen Figur mit entblößtem Genitalien erhalten hat. Auf der Höhe des Kopfes dieser Figuren weist die Fassade ein exakt gearbeitetes rundes Loch auf, in das – wie für verschiedene ähnlich gestaltete Monumente der weiteren Region vermutet wird – anstatt des aus Stein gearbeiteten Kopfes ein Schädel eines Getöteten eingesetzt war. Das obere Gesims des gesamten Gebäudes besteht im Prinzip aus drei Gliedern: zwei glatten Bändern, die eine kontinuierliche Reihe von niedrigen Säulchen einrahmen. Das üblicherweise darüber befindliche schräg vorkragende Band ist hier so weit überhöht, dass eigentlich von einer eigenen Wandfläche gesprochen werden muss, zumal die Schräglage kaum noch ausgebildet ist. Annex-Gebäude Die beiden als Annex bezeichneten, lang gestreckten Gebäude, verlaufen parallel zum Ostgebäude des Nonnenvierecks und etwas östlich zu diesem. Es handelt sich um zwei identische Gebäude, die ursprünglich durch einen schmalen Durchgang getrennt waren, der (ähnlich wie beim Gouverneurspalast) später geschlossen und mit einem Gewölbe überdeckt wurde. Die Gleichartigkeit der beiden Bauten verdeckt die Baugeschichte: als erstes wurde das südliche Gebäude errichtet, danach folgte das nördliche, im Zusammenhang mit dessen Errichtung wurde der Verbindungsbogen zum südlichen Gebäude gebaut, der später durch eine Querwand unpassierbar gemacht und zu einem halboffenen Innenraum umgestaltet wurde, ähnlich wie es bei den beiden Verbindungsbögen am Gouverneurspalast der Fall ist. Die beiden Gebäude sind identisch angelegt, sie bestehen aus zwei unüblich langen Räumen. Der vordere der Räume war durch drei Eingänge zu betreten, die durch Mauerscheiben getrennt waren, zum hinteren führt ein einfacher Eingang. Die Qualität der Bauausführung ist außerordentlich hoch, was sich auch in der sehr großen Spannweite der Gewölbe erkennen lässt. Sie beträgt beim hinteren Raum des nördlichen Gebäudes 4,1 Meter, beim südlichen sogar 4,35 Meter, was die größte Spannweite eines Raumes im gesamten Mayagebiet sein dürfte. Bemerkenswert ist auch die Konstruktionsweise der Außenwände des südlichen Gebäudes, die nicht wie sonst aus einem Kern aus Schüttmauerwerk und nicht tragenden Verkleidungssteinen besteht, sondern aus über die gesamte Breite der Mauer reichenden massiven Steinblöcken, die beinahe im Läuferverband gesetzt sind. Die charakteristischen Verblendsteine fehlen, ebenso die aus mehreren Steinblöcken gesetzten Türpfosten. Es scheint sich hier um ein Experiment gehandelt zu haben, das sich nur noch (aber weniger qualitätvoll ausgeführt) im Gebäude 6 der Nordgruppe findet, aber sonst nicht weiter verfolgt wurde. Fassaden Die Wandflächen sind glatt, aus der oberen Wandhälfte des südlichen Gebäudes, die nur auf der Rückseite teilweise erhalten ist, stehen zahlreiche Zapfen oder Sockel für Dekorationselemente aus Stein oder Stuck heraus, von denen sich keine Spuren erhalten haben. Die drei Friese wiesen jeweils drei Elemente auf. Der mittlere Fries zeigt ein hervorstehendes glattes Band und zwei schräge Bänder darüber und darunter. Der obere Fries ist gleich gestaltet aber höher. Zeitstellung Aus dem eigenartigen Mauerwerk, das ebenfalls in einem Gebäude der Nordgruppe auftritt, kann man folgern, dass die beiden Bauten annähernd gleichzeitig errichtet wurden. Für die Nordgruppe wird angenommen, dass sie früh in der Geschichte von Uxmal entstanden ist. Das Annex-Gebäude dürfte ähnlich früh zu datieren sein, weil der Durchgang nur einen Sinn ergab, solange der Monjas-Komplex noch nicht existierte. Da durch die Errichtung des Monjuas-Komplexes der Durchgang nur auf die hohe hintere Plattformwand des Monjas-Ostgebäudes führte, konnte er ohne Nachteil zugemauert werden. Für eine frühe Zeitstellung spricht ferner die Innenbemalung, die in den Ecken in kleinen Resten erhalten ist. Sie besteht aus einer tiefroten Ausmalung der Wandflächen des Gewölbes und der unteren Wandteile, wobei unter dem Ansatz des Gewölbes ein horizontales Band von großen schwarzen Hieroglyphenzeichen auf hellem Grund verlief. Dies ist ein Kennzeichen von Proto-Puuc und frühen Puuc-Bauten, wo dieses Band aber vorzugsweise an der Außenwand zu finden ist. Die höchst fragmentarische Erhaltung schließt eine Lesung völlig aus. Hauptpyramide (Pirámide Mayor) Die nach ihrem Volumen größte Pyramide von Uxmal, nahe der Rückseite des Gouverneurspalastes, ist ein isoliert stehendes Bauwerk mit annähernd quadratischem Grundriss von 80 Meter Seitenlänge. Ursprünglich entstand sie als Pyramide mit einem Gebäude auf der oberen Plattform, zu dem an der Nordseite eine breite Treppe hinaufführte. Dieses Gebäude hatte fünf Räume in der hinteren Raumreihe und drei davor. Der Zugang zu den drei mittleren Räumen der hinteren Reihe erfolgte durch die vorgelagerten Räume über den Rüssel einer übergroßen Chaac-Maske. Die Räume wurden bereits in alter Zeit aus Stabilitätsgründen mit Schuttmauerwerk angefüllt, nur der zentrale vordere Raum wurde bei der Freilegung vom Schutt befreit. An den drei übrigen Seiten befand sich nur ein Raum. Die Fassade war überaus reich dekoriert. An der Nordseite war die gesamte untere Wandfläche mit drei Reihen von Stufenmäandern gestaltet, die durch schmale Darstellungen ineinander verschlungener Schlangen getrennt sind. Zwischen den einzelnen Stufenmäandern sind in Flachrelief ausgeführte Darstellungen von Papageien angeordnet. Von der oberen Wandhälfte ist nichts erhalten. Die Ecken dieses Gebäudes werden durch drei übereinander gestaffelte Chaac-Masken gebildet. Die Fassaden der anderen Seiten sind nur durch kleinräumige Explorationsgrabungen von 1941 bekannt. Dort wechseln, diesmal in der oberen Wandhälfte, große Stufenmäander mit einem Muster aus schräg gestellten Kreuzen ab. Die untere Wandhälfte ist dort unverziert. Das mittlere Gesims besteht aus einem glatten Mittelband und darüber und darunter schrägen, nach außen geböschten Steinplatten. In einer späteren Phase wurde die Pyramide bis auf das Niveau des Gebäudedaches erhöht und dabei wurden die Fassaden aller vier Seiten überdeckt und alle Räume verfüllt. Dies und weitere Indizien deuten darauf hin, dass auf der neuen Oberfläche ein großes Gebäude geplant war, das aber nicht zur Ausführung gelangte. Erste Grabungen wurden 1941 durchgeführt. Die große Treppe und die nördliche Fassade wurden um 1969 freigelegt und rekonstruiert. Bei Erhaltungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Erneuerung der Anlagen für die Licht- und Ton-Schau wurde 2009 an der Nordseite eine ältere Fassade entdeckt, die dem Frühen Klassikum zugeordnet wird. Diese ältere Fassade wurde aus Gründen der Stabilität wieder verschlossen. Der Komplex des Taubenhauses Dieser Komplex mehrerer großer Bauten ist der westlichste des Zentrums von Uxmal. Er ist sehr stark zerstört, seit 2000 ausgeführte umfangreiche Rekonstruktionsarbeiten am nördlichsten (tiefsten) Teil geben einen ungefähren Eindruck des früheren Aussehens. Der Komplex dürfte, nach Qualität und Art der Steinbearbeitung, einer relativ frühen Phase in der Baugeschichte von Uxmal angehören und hat mehrere Umbauten erfahren. Er gliedert sich in vier große Höfe, die der „Südpyramide“ im Norden vorgelagert sind. Der nördlichste Hof wird von drei langen Gebäuden gebildet, nur die Nordseite des Hofes ist bis auf eine niedrige Plattform unbebaut. Die beiden Gebäude an der Ost- und der Westseite des Hofes sind stark zerstört, sie hatten zwei Reihen von Räumen, die sich zu den beiden Seiten öffneten. Nur das südliche Gebäude, das ebenfalls weitgehend zerstört war, besteht aus einer einzigen Reihe von Räumen und lehnt sich mit seiner Rückwand an die im Süden anschließende Terrasse an. Diese Terrasse wurde vom Hof über eine Treppe erreicht, die die Fassade des Gebäudes in der Mitte überspannte, aber einen Durchgang zum mittleren Raum frei ließ. Der von der Terrasse gebildete freie Raum ist relativ schmal und wird auf seinen Seiten nicht von langen Gebäuden begrenzt, vielmehr besteht auf der Ostseite ein direkter Übergang zur Terrasse am Fuß der Hauptpyramide. Im Süden grenzt diese Terrasse an eine weitere, auf der sich das Taubenhaus befindet. Taubenhaus (Edificio de las Palomas) Das wegen der großen Zahl von schlitzförmigen Öffnungen im Dachkamm so genannte „Taubenhaus“ besteht aus zwei parallelen Reihen von Räumen, die aber nicht völlig symmetrisch angelegt sind: die Südseite hat weniger Räume als die Nordseite. In der Mitte befindet sich ein überwölbter Durchgang, der die Verbindung zum nächsten (südlichen) Hof herstellt. Der gut erhaltene Dachkamm, der aus zwei horizontalen Registern besteht, ruht auf der dickeren Rückwand der beiden Raumreihen, zugleich also der Mittelwand des Gebäudes. Das untere Register besteht aus einer glatten Mauerfläche, die von hochkant stehenden rechteckigen „Fenstern“ durchbrochen ist. Das obere Register ist in dreieckige, giebelartige Sektoren gegliedert, die vermutlich sieben Reihen von niedrigen „Fenstern“ aufwiesen. Die Funktion aller dieser Fenster ist die Verringerung des Windwiderstandes. In der Mitte jedes dieser Giebel befindet sich in der untersten „Fenster“reihe eine glatte Fläche mit einem herausstehenden Zapfen, auf dem sich eine Figur befunden hat, die aber nirgends erhalten ist. Auch über die restliche Fläche des Dachkammes sind Zapfen zur Befestigung von Figuren oder Ornamenten aus Stuck verteilt. Über die Fassaden des Gebäudes sind keine Aussagen möglich, da die Frontwände beider Seiten nicht erhalten sind. Die Südpyramide Südlich an das Taubenhaus schließt ein weiterer Hof an. Er hatte außer dem Taubenhaus im Norden Bauten an seiner West- und Südseite, von denen nur kleine Spuren sichtbar sind, während er im Osten von der Hauptpyramide begrenzt wurde. Der Bau an der Westseite des Hofes wies eine einfache Fassade auf, die in den Gesimsen und der oberen Wandfläche Säulchen zeigte. Das Südgebäude hatte ursprünglich zwei Reihen von Räumen nach beiden Seiten und einen Durchgang in der Mitte, entsprach also in seinem Grundriss weitgehend dem Taubenhaus. Ein Dachkamm scheint im Gegensatz dazu nicht vorhanden gewesen zu sein. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde der Durchgang von Süden her durch eine Terrasse blockiert, die bis auf die Dachhöhe des Gebäudes reichte. Die dadurch nicht mehr zugänglichen Räume wurden mit Schutt angefüllt und über dem Durchgang eine Treppe errichtet, die auf die Terrasse führte. Auf dieser Terrasse steht die Südpyramide, die den gesamten Komplex beherrscht. Zur Plattform auf ihrer Spitze führte eine lange Treppe hinauf. Das Tempelgebäude, von dem zwei Reste gewölbter Räume erhalten sind, war, wie die Pyramide selbst relativ schmal, es hatte drei Räume in einer Reihe und einen weiteren, deutlich schmaleren hinter dem Mittelraum, ein Grundriss, der auf die weit im Süden gelegene Chenes-Region verweist. Die Mauern sind relativ dick und zum Teil mit ungewöhnlich großen Steinen verkleidet. Die Wand der Vorderseite reichte höher als das Dachniveau und bildete vermutlich einen Dachkamm. Auf der Südseite der Pyramide befand sich eine Reihe von Räumen, die nur in Spuren zu erkennen sind. Der gesamte Komplex wurde bisher nicht ausgegraben oder archäologisch untersucht. Grupo del Cementerio Es handelt sich um einen der für Uxmal typischen Hofkomplexe. Die ihn auf drei Seiten begrenzenden Gebäude standen auf hohen Plattformen. Das südliche Gebäude war vermutlich in der Mitte durch einen gewölbten Durchgang unterbrochen, zu dem von Süden eine Treppe hinaufführte. Gegenüber diesem Zugang befindet sich die Pyramide, die deutlich höher als die anderen Plattformen ist, auf der Südseite eine Treppe aufwies und auf deren Oberfläche sich ein Gebäude aus einem Raum befunden hat. Westgebäude Erhalten ist nur ein Teil der Bauten auf der Westseite des Hofes. In der Mitte steht ein lang gestrecktes Gebäude mit ursprünglich drei Eingängen vom Hof her. Vor dem größeren mittleren Eingang befindet sich eine breite Eingangsplattform. Die Eingänge führen in einen langen, nicht weiter unterteilten Raum. Die beiden seitlichen Eingänge wurden mit Mauerwerk aus sekundär verbauten Steinen, aber in geringer baulicher Qualität verschlossen. Außerdem existiert ein Eingang an der Südseite, ein recht seltenes Element in der Architektur der Region. Ursprünglich besaßen die Eingänge hölzerne Türbalken, diese wurde in moderner Zeit gegen Türbalken aus Beton ausgetauscht. Die Fassade des Gebäudes zeigt die Charakteristika der frühen Puuc-Architektur: Das mittlere Gesims über den Türen besteht aus zwei Elementen, einem Band mit schräg nach unten vorkragendem Profil und einem glatten Band darüber. Das obere Gesims besteht ebenfalls aus einem glatten Band und darüber den hohen, nach oben vorkragenden Abschlusssteinen. Dieses Gesims ist über dem zentralen Eingang und den Ecken unterbrochen. Dort ragen Steinzapfen aus der Fassade, die überlebensgroße Figuren (aus Stuck?) gehalten haben dürften. Auf dem Dach befindet sich ein noch teilweise erhaltener Dachkamm, eine schmale Mauer mit Durchbrüchen, die vermutlich mit Stuckfiguren verkleidet war. Die beiden seitlichen Gebäude waren weniger als halb so groß wie das mittlere und hatten ebenfalls drei Eingänge. Das nördliche dieser Gebäude ist völlig zusammengestürzt, vom südlichen steht die Rückwand. Die erhaltenen Bauteile zeigen, dass die beiden seitlichen Bauten dieselbe Fassadengestaltung aufwiesen wie das zentrale Gebäude. Plattformen Im Hof befinden sich drei (vermutlich ursprünglich vier) niedrige Plattformen, die an den Außenwänden Dekor mit gekreuzten Langknochen und Totenschädeln sowie Schilden tragen. Die Ikonographie dürfte auf Kämpfe der Herrscher von Uxmal hindeuten, die in diesen Monumenten gefeiert wurden. Drei der Plattformen weisen oberhalb des beschriebenen Dekors lange Bänder mit Hieroglypheninschriften auf, deren Datumsangaben jedoch nicht einzuordnen sind. In einem Textstück ist im Zusammenhang mit der Erwähnung eines „Sternenkrieges“ ein Namenszeichen zu finden, das sich auf die Region von Xcalumkin bezieht. Rundpyramide (Pirámide Circular) Im westlichen Teil von Uxmal wurde in den 1990er Jahren eine niedrige, runde Pyramide ausgegraben. Eigentlich handelt es sich um ein auf einer gestuften runden Plattform von ungefähr 18 Metern Durchmesser und knapp 2,5 Metern Höhe gelegenes, ebenfalls rundes Gebäude mit einem Eingang von Norden, zu dem eine nur mehr schlecht erhaltenen Treppe hinaufführt. Das Gebäude hatte eine Außenmauer von maximal 1 Meter Höhe, auf der eine Wand- und Dachkonstruktion aus vergänglichem Material gestanden haben muss. Intensive Brandspuren zeigen, dass das Gebäude durch Feuer zerstört wurde. Später wurden, wie an vielen anderen Ruinen des Puuc-Gebietes, im Schutt des Gebäudes kostbare Opfergaben niedergelegt. Der Vergleich mit ähnlichen Konstruktionen an anderen Orten und die Bauweise zeigen, dass die Rundpyramide sehr spät in der Geschichte von Uxmal errichtet wurde, und dass sie mit den zahlreichen C-förmigen Gebäuden in Zusammenhang steht, von denen eines unmittelbar an sie angebaut wurde. Haus der Alten Frau (Casa de la Vieja) Ungefähr 80 Meter südöstlich der Plattform des Gouverneurspalastes befindet sich der bisher nicht weiter freigelegte und rekonstruierte Komplex, der aus einer Pyramide und mehreren Bauten besteht. Die Pyramide, die einst eine Treppe auf ihrer Westseite besaß, hatte auf ihrer Spitze eine Plattform mit einem vermutlich größeren Gebäude, das vielleicht aus zwei Reihen von je drei Räumen bestanden hat. Eine genauere Aussage hierzu ist unmöglich, weil bisher keine Ausgrabungen stattgefunden haben und weil zumindest der mittlere und südliche Teil des Gebäudes nicht über niedrige Mauern hinaus gekommen ist und nie fertig gestellt wurde. Auf halber Höhe der Pyramide an ihrer Nordwestflanke steht das eigentliche „Haus der Alten Frau“, das zu dem frühen Puuc-Stil gehört und somit zu den ältesten erhaltenen Gebäuden zählt. Es hat den Anschein, dass dieses Gebäude auf einer eigenen kleineren Pyramide steht, die älter als die große, dahinter liegende ist. Das Gebäude, dessen nördliche Hälfte eingestürzt ist, hatte zwei hintereinander liegende Räume, die durch einen Eingang im Westen zu betreten waren. Die äußere und die innere Tür waren mit Holzbalken überdeckt. Bemerkenswert ist der noch teilweise erhaltene Dachkamm, der auf der Schauseite (nach Westen) zahlreiche herausstehende Zapfen zur Befestigung von Stuckfiguren aufweist. Vermutlich wurde für den Dachkamm eine zweite Dachoberfläche konstruiert, die rund 14 cm über der ersten liegt. Ob dies ein technisch bedingter Arbeitsschritt war oder der Dachkamm erst später aufgesetzt wurde, ist nicht zu entscheiden. Gebäude 14N2 Unmittelbar nördlich der Pyramide der Alten Frau befindet sich auf derselben niedrigen Terrasse ein weitgehend zerstörtes Gebäude, das aus drei Räumen besteht. Auf dem an dessen Rückseite angefügten Kern aus Bruchstein befindet sich ein zweites Stockwerk mit einem einzigen Raum, zu dem von Westen her eine Treppe führt, die die Fassade des Erdgeschoßes überspannt. Vom Durchgang unterhalb der Treppe entlang der Fassade führt der Eingang zum mittleren Raum. Der den Eingang überspannende Holzbalken ist noch an Ort und Stelle erhalten. Phallus-Tempel (Templo de los Falos) Dieses Gebäude liegt rund 450 Meter südlich des Gouverneurspalastes, der Zugang führt über einen Waldweg der beim „Haus der Alten Frau“ beginnt. Der Weg durchquert mehrere stark zerfallene, kleine Gebäudegruppen. Der Phallus-Tempel, der so nach den in Phallus-Form ausgeführten Wasserspeiern im oberen Gesims benannt ist, liegt am südlichen Rand einer großen, gestuften Plattform. Konsolidierungen haben bisher keine stattgefunden. Das Gebäude dürfte ursprünglich aus fünf Räumen bestanden haben, die nach Norden, zum Zentrum von Uxmal, ausgerichtet waren. Hinter dem mittleren Raum liegt ein weiterer Raum, ein Bauplan der für die Chenes-Region charakteristisch ist. Erhalten ist nur ein Teil der Rückwand, einschließlich der des zusätzlichen Raumes. Die Fassade der Rückwand weist glatte Wandflächen auf, das mittlere und das obere Gesims sind identisch gehalten, und weisen ein glattes mittleres Band auf, darüber und darunter schräg nach außen gerichtete Bänder. In das obere Band des oberen Gesimses ist der namensgebende Phallus eingelassen, der durch eine auf der Oberseite ausgeführte Rinne Wasser von der Dachfläche ableiten konnte. Nicht zugängliche Gebäude Chimez-Tempel (Chanchimez) Der nach einem Detail seiner Dekoration so benannte Tempel liegt genau 400 Meter südsüdwestlich des Gouverneurspalastes, bereits außerhalb des Mauergürtels in dichtem Wald. An dem Gebäude haben bisher keine Grabungsarbeiten oder Konsolidierungen stattgefunden. Das Gebäude liegt am südlichen Rand einer großen Plattform, die an der Nordseite vermutlich ein lang gestrecktes Gebäude mit einem Durchgang in der Mitte hatte, zu dem man vom Zentrum von Uxmal aus über eine breite Treppe gelangte. Es handelt sich um einen nicht ganz symmetrischen Bau mit insgesamt 10 Räumen, der um einen massiven Block aus Steinmaterial auf drei Seiten angeordnet ist. Die Hauptseite mit 6 Räumen ist nach Norden, zum Zentrum von Uxmal, gerichtet, drei Räume nach Westen und zwei nach Osten. Einer der Räume der Frontseite hat keinen Eingang von außen, sondern durch den seitlich daneben liegenden Raum. Über die Fassade führt eine Treppe zum Dachniveau, auf dem sich ein Bau mit langem Säulenportikus und drei dahinter liegenden Räumen befindet, der weitgehend zerstört ist. Unter der Treppe gewährt ein die Fassade entlangführender gewölbter Durchgang den Zugang zum mittleren Raum des Erdgeschosses. Die Eingangstür besitzt einen gut erhaltenen Türbalken aus Chicozapote-Holz, der noch in Funktion ist. Die Fassade des Erdgeschosses ist teilweise erhalten und vollständig rekonstruierbar. Der Sockel besteht aus drei Elementen, von denen das hohe mittlere ein ununterbrochenes Flechtbandmotiv zeigt. Auch die Steine des oberen Bandes sind reliefiert. Die untere Wandfläche zeigt große Stufenmäander, zwischen denen senkrechte Reihen von auf der Spitze stehenden Quadraten verlaufen. Das mittlere Gesims weist drei Bänder auf, von denen das untere nach unten und außen schräg vorkragt und das etwas vertiefte mittlere aus abwechselnd schräg gestellten gezähnten Steinen besteht, die wegen ihrer Form chimez (Tausendfüßler) genannt werden. Das obere Band ist glatt. Die obere Wandfläche besteht aus Säulchen die zweimal das Bildungsmotiv aufweisen. Das obere Gesims besteht aus vier Elementen: einem nach unten und außen schräg vorkragenden Band, das hier aus zwei Steinreihen gebildet wird, einer eingesenkten Reihe von niedrigen Säulchen, einer Wiederholung des unteren Elements, aber nur aus einer Steinreihe bestehend, und den nach außen und oben schräg vorkragenden Abschlusssteinen. Vom stark zerstörten Obergeschoss ist nur das Sockelgesims bekannt, dessen mittleres Element aus niedrigen Säulchen gebildet wird, die in Gruppen zu dreien stehen. Auf der Mittelwand des Gebäudes im Obergeschoss befand sich ein Dachkamm. Die Rückseite des Komplexes wurde nicht genutzt. Dem Gebäude ist im Norden eine große Terrasse vorgelagert, die das leicht nach Süden ansteigende Terrain ausgleicht. Nordgruppe (Grupo Norte) Die Nordgruppe liegt 200 Meter nordnordwestlich des Nonnenvierecks auf erhöhtem Gelände. Sie ist von der an Uxmal vorbeiführenden Hauptstraße aus gut zu erkennen. Um mindestens drei Höfe sind mehr als ein Dutzend meist stark zerstörter Gebäude angeordnet. Nach Bauweise und Grundrissen handelt es sich um einen der ältesten erhaltenen Teile von Uxmal. Bisher sind in der Nordgruppe keine Grabungen und Konsolidierungen durchgeführt worden. Die Gruppe ist gegenwärtig nicht offiziell für Besucher zugänglich. Inschriften Erstaunlich für die Größe und offensichtliche Bedeutung von Uxmal ist die kleine Anzahl von erhaltenen Inschriften, die ein eindeutig ausgedrücktes Datum enthalten. Diese wurden ausschließlich unter der Herrschaft des einzigen namentlich bekannten Herrschers von Uxmal, Chaak, errichtet, genau so wie die Mehrzahl der grandiosen Bauten. In Uxmal sind keine Daten in der absolut präzisen Langen Zählung erhalten, die Daten sind entweder als Kalenderrunde ausgedrückt, oder als Ende einer Periode der Langen Zählung, ohne diese jedoch vollständig und damit eindeutig zu bezeichnen. Die Fähigkeit, Hieroglypheninschriften zu lesen oder richtig zu schreiben, war offenbar in dieser Region und zu dieser Zeit bereits erheblich begrenzt. Dies erklärt die Ausführung einer Reihe von Pseudo-Hieroglyphen in Uxmal im Vogelviereck (wie auch an anderen Orten außerhalb Uxmals), die (auf die ebenfalls meist nicht schriftkundigen Betrachter in alter Zeit) den Eindruck einer Inschrift machen sollten, aber eindeutig nicht lesbar sind. Ungefähr ein halbes Dutzend weiterer Stelen, die alle auf der nicht öffentlich zugänglichen Stelenplattform (westlich des Nonnenvierecks) versammelt sind sowie einige weitere Monumente tragen mehr oder weniger eindeutig Daten im Ajaw-Stil, die sich auf den Namen eines K'atun (Kalenderzyklus von ca. 20 Jahren Dauer) beziehen. Sie fallen in den Zeitraum von 810 bis 928. Die Stelen sind so stark erodiert, dass die meist nur kurzen nicht-kalendarischen Texte nicht mehr lesbar sind, die anderen Monumente tragen überhaupt nur das eine Zeichen, das als Kalenderangabe interpretiert wird. Gewölbedecksteine sind nicht skulptiert, sondern bemalt, wobei die Bemalung auf dünnem Stuckuntergrund oft abgeblättert ist. Y = Datum in der yukatekischen Rechnungsweise, die von der Standardform um einen Tag differiert. Werte in eckigen Klammern sind ebenso wie die Entsprechungen im Gregorianischen Kalender errechnet. Schrägstriche trennen alternative Lesungen und Berechnungen undeutlich erhaltener Inschriften. Siehe auch Übersicht der Maya-Ruinen Literatur Jeff Karl Kowalski: The House of the Governor. A Maya palace at Uxmal, Yucatan, Mexico. University of Oklahoma Press, Norman 1987, ISBN 0-8061-2035-5. Frank Leinen: Jean Frédéric Waldecks Forschungsreise nach Uxmal und die Unüberwindbarkeit der kulturellen Distanz. In: Teresa Pinheiro, Natascha Ueckmann (Hrsg.): Globalisierung avant la lettre. Reiseliteratur vom 16. bis zum 21. Jahrhundert. LIT Verlag, Münster 2005, ISBN 3-8258-8749-9, S. 91–114. H. E. D. Pollock: The Puuc. An architectural survey of the hill country of Yucatan and northern Campeche, Mexico. Peabody Museums of Archaeology and Ethnology, Cambridge, Mass. 1980, ISBN 0-87365-693-8. Eduard Seler: Die Ruinen von Uxmal. (= Abhandlungen der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Nr. 3). Verlag der Königl. Akademie der Wissenschaften, Berlin 1917 Weblinks Uxmal bei indianer-welt.de Seite mit vielen Bildern von Uxmal (und anderen Maya-Ruinen) (englisch) animierte 3D-Rekonstruktion auf Uxmal-3D.com (englisch) Einzelnachweise Archäologischer Fundplatz im Bundesstaat Yucatán Ort der Maya Welterbestätte in Amerika Welterbestätte in Mexiko Weltkulturerbestätte Präkolumbisches Mesoamerika Kulturgut unter Sonderschutz
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https://de.wikipedia.org/wiki/Holomorphe%20Funktion
Holomorphe Funktion
In der Mathematik sind holomorphe Funktionen (von „ganz, vollständig“ und „Form, Gestalt“) komplexwertige Funktionen (Abbildungen von komplexen Zahlen in komplexe Zahlen), die in der Funktionentheorie, einem Teilgebiet der Mathematik, untersucht werden. Eine komplexwertige Funktion mit Definitionsbereich heißt holomorph, falls sie an jeder Stelle von komplex differenzierbar ist. Die aus der Schulmathematik bekannten Rechenregeln zum Ableiten vormals reeller Funktionen gelten dabei weiterhin für komplexe Funktionen, obgleich der Holomorphiebegriff viel weitreichendere Konsequenzen nach sich zieht. Anschaulich bedeutet Holomorphie, dass sich die betroffene Funktion an jeder Stelle „fast“ wie eine aus mathematischer Sicht leicht zu verstehende (komplexwertige) lineare Funktion verhält. Erstmals eingeführt und studiert wurden holomorphe Funktionen im 19. Jahrhundert von Augustin-Louis Cauchy, Bernhard Riemann und Karl Weierstraß, obgleich sich die Terminologie der Holomorphie erst im 20. Jahrhundert flächendeckend durchsetzte. Besonders in älterer Literatur werden solche Funktionen auch „regulär“ genannt. Aufgrund ihrer breiten Anwendungsmöglichkeiten zählen sie zu den wichtigsten Funktionstypen innerhalb der Mathematik. Durch die Möglichkeit der Linearisierung in jedem Punkt ihres Definitionsbereichs können für holomorphe Funktionen , wobei die Menge der komplexen Zahlen bezeichnet, sehr fruchtbare Resultate hervorgebracht werden. Anschaulich kann die mathematische Rechenvorschrift in der Nähe jedes Wertes ihres Definitionsbereichs sehr gut durch die lineare Funktion angenähert werden. Die Annäherung ist dabei so gut, dass sie für die lokale Analyse der Funktion bzw. der Rechenvorschrift ausreicht. Das Symbol bezeichnet dabei die komplexe Ableitung von in . Auch wenn diese Definition analog zur reellen Differenzierbarkeit ist, zeigt sich in der Funktionentheorie, dass die Holomorphie eine sehr starke Eigenschaft ist. Sie produziert eine Vielzahl von Phänomenen, die im Reellen kein Pendant besitzen. Beispielsweise ist jede holomorphe Funktion bereits beliebig oft differenzierbar und lässt sich lokal in jedem Punkt in eine Potenzreihe entwickeln. Das bedeutet, dass man die betreffende Funktion in ihrem Definitionsbereich lokal durch Polynome annähern kann, also unter Verwendung nur der vier Grundrechenarten, wobei zur Konstruktion dieser Polynome nur die Ableitungen der Funktion in einem einzigen Punkt, dem Entwicklungspunkt, benötigt werden. Besonders bei transzendenten holomorphen Funktionen, wie Exponentialfunktionen, trigonometrischen Funktionen (etwa Sinus und Kosinus) und Logarithmen, aber auch bei Wurzelfunktionen, ist dies eine sehr nützliche Eigenschaft, etwa dann, wenn man diese Funktionen und ihre Ableitungen im Entwicklungspunkt gut versteht. Dabei ist zu beachten, dass die genannten Funktionen natürliche Fortsetzungen von den reellen in die komplexen Zahlen besitzen. Hintergrund der Begriffsstärke der Holomorphie ist, dass die Differenzierbarkeit im Komplexen auf einer offenen „Fläche“ statt nur einem offenen Intervall gelten muss. Dabei müssen beim Grenzübergang zum Differentialquotienten unendlich viele Richtungen (alle Kombinationen aus Nord, Ost, West und Süd) betrachtet werden – eine höhere Anforderung als nur die beiden Richtungen „positiv“ und „negativ“ auf dem reellen Zahlenstrahl. Im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts wurde darauf aufbauend im Rahmen der Funktionentheorie ein eigener Rechenkalkül für holomorphe Funktionen entwickelt. Während Begriffe wie Ableitung, Differenzenquotient und Integral weiterhin existieren, kommen zusätzliche Eigenschaften zum Tragen. Dies betrifft das Abbildungsverhalten holomorpher Funktionen, zusätzliche Techniken in der Integrationstheorie oder auch das Konvergenzverhalten von Funktionenfolgen. In vielen Teilgebieten der Mathematik bedient man sich der starken Eigenschaften holomorpher Funktionen, um Probleme zu lösen. Beispiele sind die analytische Zahlentheorie, in der über holomorphe Funktionen auf Zahlen rückgeschlossen wird, sowie die komplexe Geometrie oder auch die theoretische Physik. Besonders im Rahmen der Theorie der Modulformen nehmen holomorphe Funktionen eine wichtige Position ein, wobei tiefe Verbindungen zur Darstellungstheorie und zu elliptischen Kurven aufgebaut werden können. Gleich zwei Millennium-Probleme der Mathematik, die Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer und die Riemannsche Vermutung, drehen sich um das Nullstellenverhalten gewisser holomorpher Funktionen. Einführung Komplexe Zahlen Komplexe Zahlen erweitern den Bereich der reellen Zahlen durch Hinzunehmen sog. imaginärer Zahlen. Diese sollen die Eigenschaft haben, algebraische Gleichungen zu lösen, die im Reellen nicht lösbar sind. Ein Beispiel ist die quadratische Gleichung . Sie hat keine reelle Lösung, da das Quadrat einer reellen Zahl stets nicht-negativ ist. Fügt man jedoch den reellen Zahlen eine imaginäre Zahl mit der Eigenschaft hinzu, so kann die obige Gleichung gelöst werden. Während die reellen Zahlen eine Zahlengerade aufspannen, breiten die komplexen Zahlen eine Ebene aus. Jede komplexe Zahl ist von der Form mit reellen Zahlen und . Geht man Schritte in „reelle Richtung“ und Schritte in „imaginäre Richtung“, so wird die komplexe Zahl mit dem Punkt in der Euklidischen Ebene identifiziert. Dabei wird als Realteil und als Imaginärteil von bezeichnet. Eine wichtige Eigenschaft komplexer Zahlen ist, dass man mit ihnen, wie im Falle der reellen Zahlen, rechnen kann. Damit ist gemeint, dass Plus, Minus, Mal und Geteilt auch für komplexe Zahlen definiert ist. Um dies umzusetzen, ist lediglich das Beherrschen der reellen Rechenregeln sowie die Regel vonnöten. Die Addition wird in Real- und Imaginärteil separat ausgeführt, also zum Beispiel , und beim Multiplizieren müssen die Klammern verrechnet werden: Dabei entsteht der Term beim Ausmultiplizieren aus dem Produkt . Auch die Division ist möglich, etwa dadurch, den Nenner durch passendes Erweitern und die dritte binomische Formel reell zu machen: Somit bilden auch die komplexen Zahlen eine Zahlenstruktur, in der algebraisch gerechnet werden kann. Man sagt auch, dass die Menge der komplexen Zahlen , genau wie die reellen Zahlen , einen Körper bilden. Komplexe Funktionen Die Holomorphie ist eine Eigenschaft komplexer Funktionen. Dabei stellt eine Funktion ganz allgemein eine Beziehung zwischen zwei Mengen und über eine Abbildungsvorschrift her. Funktionen müssen die Regel erfüllen, dass jedem Element aus genau ein Element in zugeordnet wird. Einige Beispiele reeller Funktionen lassen sich direkt auf die komplexen Zahlen übertragen. Dazu zählt etwa die quadratische Funktion . Reelle Funktionen induzieren Tabellendaten der Form , wobei die Eingabewerte den Definitionsbereich von durchlaufen. Die Analogie zu einer Tabelle entsteht dadurch, dass Daten und in Zeilen- oder Spaltenform zusammengestellt werden können. Es ist jedoch nicht möglich, alle Werte einer reellen Funktion in eine Tabelle einzutragen, da es zum Beispiel bereits nicht möglich ist, alle Werte aufzulisten. Alle nicht leeren, echten Intervalle der reellen Zahlen sind überabzählbar. Daher ist die Darstellung einer reellen Funktion anhand eines Schaubildes üblich. Dabei macht man sich zunutze, dass der Definitionsbereich ein Teil eines Zahlenstrahles ist, ebenso der Wertebereich. Ergo sammeln sich die Informationen zu Punkten in einer zweidimensionalen Ebene. Hebt man diese in der Ebene hervor, bekommt man einen Überblick über das Verhalten einer reellen Funktion. Für komplexe Funktionen ist die Situation anders. Hier ist bereits der Eingangsbereich eine Fläche. Von daher müsste ein Schaubild nach Art reeller Funktionen vierdimensional sein, was nicht verständlich darstellbar ist. Ein Weg, komplexe, insbesondere holomorphe, Funktionen darzustellen, bedient sich eines Farbschlüssels. Einer komplexen Zahl wird je nach „Himmelsrichtung“ eine Farbe zugeordnet, wobei der Ursprung, also die Null, den Orientierungspunkt bildet. Zusätzlich wird mit der Helligkeit des Farbtons die Größe im Sinne des Abstands zum Ursprung visualisiert. Dabei bedeutet „dunkel“ nahe bei Null, und „hell“ nahe bei „Unendlich“. Die Darstellung komplexer Funktionen durch Kolorierung ist besonders zur Hervorhebung von Null- oder Polstellen sowie anderer Singularitäten einer Funktion üblich. Die Software Wolfram Mathematica bietet seit Version 12 ein entsprechendes Werkzeug an. Im Englischen trägt eine solche Art der Visualisierung die Bezeichnung domain coloring. Diese wurde von Frank Farris geprägt. Es gab viele frühere Verwendungen von Farbe zur Visualisierung komplexer Funktionen, typischerweise die Zuordnung von Argumenten (Phasen) zu Farbtönen. Larry Crone verwendete die Methode in den späten 1980er Jahren. Die Technik der Verwendung kontinuierlicher Farbe zur Abbildung von Punkten des Definitionsbereiches in die Zielmenge wurde 1999 von George Abdo und Paul Godfrey verwendet, und farbige Raster wurden in Grafiken von Doug Arnold benutzt, die er auf 1997 datiert. Menschen, die farbenblind sind, können jedoch Schwierigkeiten haben, solche Diagramme zu interpretieren, wenn sie mit Standard-Farbkarten erstellt werden. Dieses Problem kann möglicherweise durch die Erstellung alternativer Versionen unter Verwendung von Farbkarten behoben werden, die in den Farbraum passen, der für Menschen mit Farbenblindheit erkennbar ist. Zum Beispiel kann eine Farbkarte, die auf Blau/Grau/Gelb basiert, für Menschen mit vollständiger Deuteranopie besser lesbar sein als das herkömmliche Schaubild, das auf Blau/Grün/Rot basiert. Von reeller zu komplexer Differenzierbarkeit Da mit komplexen Zahlen im Wesentlichen genau wie mit reellen Zahlen gerechnet werden kann, stellt sich die Frage, inwieweit sich die reelle Analysis, mit Begriffen wie Funktionen, Ableitung oder auch Integral, auf die komplexen Zahlen ausweiten lässt. Im Reellen ist eine Funktion in einem Punkt differenzierbar, wenn sie dort linearisiert werden kann. Das bedeutet, dass sie sich um herum sehr ähnlich zu einer linearen Funktion verhält. Es gilt also für sehr kleine Werte die Approximation , wobei man mit auch erhält. Um die Begriffe „Linearisierung“, „sehr ähnlich“ und „Approximation“ präzise zu fassen, bedient man sich des Konzepts des Grenzwertes. Demnach ist in genau dann differenzierbar, wenn der Differentialquotient existiert, der auch als Ableitung von an der Stelle bezeichnet wird. Da bei der Berechnung dieses Quotienten nur die Grundrechenarten Addition, Subtraktion und Division verwendet werden, stellt sich die Frage nach einem Analogon im Komplexen. Da die komplexen Zahlen diese Rechnungen auch zulassen, kann die Bedingung existiert eins zu eins übernommen werden. Der entscheidende Unterschied ist hier aber, dass bei der Berechnung des komplexen Differenzenquotienten das kleiner werdende eine komplexe Zahl sein kann. Es kann sich also aus jeder Richtung in der komplexen Ebene genähert werden. Im Gegensatz dazu sind im Reellen nur endlich viele, nämlich zwei, Richtungen möglich, von links () und von rechts (). Für das Verständnis der komplexen Differenzierbarkeit ist essentiell, den Definitionsbereich der komplexen Funktion auch geometrisch wahrzunehmen. Eingabewerte in die Funktion sind somit nicht bloß komplexe Zahlen, sondern auch Punkte einer Ebene. Auf dieser Ebene ist ein Abstandsbegriff definiert, also können Punkte „nah“ und „weit weg“ zu anderen Punkten liegen. Erst diese Vorstellung erlaubt die Formulierung des für die Differenzierbarkeit essentiellen Lokalitätsbegriffs: Eine in einem Punkt komplex differenzierbare Funktion sieht an Punkten sehr nahe zu einer linearen Funktion „sehr ähnlich“. Genau diese Aussage wird durch den Differentialquotienten analytisch präzisiert. Nach Umformung des Differentialquotienten erhält man wobei der Fehler in dieser Annäherung „viel kleiner“ ist als der „kleine“ Wert . Veranschaulichung Zum Holomorphiebegriff Ist eine komplexe Funktion in ihrem Definitionsbereich holomorph, bedeutet dies, dass sie in jedem Punkt komplex differenzierbar ist. Wegen der ohnehin restriktiveren Bedingung der komplexen (statt nur reellen) Differenzierbarkeit, gepaart mit deren Gültigkeit für alle Punkte auf einer Fläche statt nur eines Intervalls (einer Linie), ist die Holomorphie eine sehr starke Eigenschaft. Analytische Motivation Ein zentrales Problem der Analysis besteht darin, „komplizierte“ Funktionen zu studieren. Dabei bedeutet „kompliziert“ zum Beispiel, dass die Rechenvorschrift nicht aus einer endlichen Abfolge aus Anwendungen der vier Grundrechenarten besteht. Eine in diesem Sinne „einfache“ Vorschrift wäre: Nimm die Eingangszahl mal Zwei, dann das Ergebnis plus Eins, multipliziere dies mit sich selbst, teile dann alles durch die Drei. In Kurzform: . Jedoch lassen sich sehr viele Phänomene in der Natur nicht so einfach beschreiben. Die Mathematik ist demnach bestrebt, Analyseverfahren nichttrivialer Funktionen zu entwickeln. Solche Verfahren kommen zum Beispiel dann zum Einsatz, wenn Änderungsraten bei Naturgesetzen oder Bilanzen in der Wirtschaft erstellt werden müssen. Eine Möglichkeit besteht darin, die Funktion zunächst sehr stark einzuschränken, also nur Eingabewerte aus einem sehr „kleinen“ Vorrat einzusetzen. Klein bedeutet in diesem Kontext, dass die betrachteten Eingabewerte sehr nahe beieinander liegen. Soll eine Funktion etwa um 0 herum studiert werden, würden Werte wie 0,000001 möglicherweise noch in Betracht gezogen, möglicherweise aber nicht mehr 1, geschweige denn 100. In diesem Kontext nennt man die 0 auch den Entwicklungspunkt. Phänomene wie die Holomorphie besagen nun, dass betroffene Funktionen in sehr kleinen Bereichen deutlich verständlicheren Funktionen sehr stark ähneln. Diese verständlicheren Funktionen sind Vorschriften, die sich nur aus den vier Grundrechenarten zusammensetzen. Hinter diesem Prinzip steckt eine gewisse Form der „Stetigkeit“: Wurde eine holomorphe Funktion im Punkt 0 gut verstanden, so lässt sich daraus schon auf ihr Verhalten in z. B. 0,000001 schließen, und das nur anhand der vier Grundrechenarten. Präziser wird die Annäherung über Polynome realisiert, also Ausdrücke wie , und ganz allgemein Eine holomorphe Funktion kann also um jeden Wert ihres Definitionsbereichs durch Anwendung der Grundrechenarten entwickelt werden. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei hinreichend „komplizierten“ Funktionen nur um eine Näherung handelt. Eine zentrale Eigenschaft der Holomorphie ist aber, dass für solche komplizierten Funktionen beliebig lange Polynomketten, also addierte -Terme, zur Annäherung gefunden werden können. Je länger diese Terme sind, desto besser. Lässt man diesen Prozess gegen Unendlich streben, ist die Annäherung in den umliegenden Punkten perfekt, es herrscht also Gleichheit. In diesem Sinne sind also holomorphe Funktionen, zumindest lokal, gerade „unendlich lange Polynome“. Obwohl dabei unendlich viele Terme addiert werden, kann Konvergenz vorliegen, wenn das Funktionsargument nahe genug am Entwicklungspunkt liegt. Wählt man zum Beispiel den Entwicklungspunkt 0 und für die Koeffizienten die Dezimalstellen der Kreiszahl , also so gilt Für Werte wird dann „erst recht“ endlich sein. Dabei bezeichnet die Euklidische Länge der Zahl in der Ebene, was dem Abstand zum Punkt 0 entspricht. Diesem Gedanken folgend kann man zeigen, dass Potenzreihen entweder überall oder innerhalb von Kreisscheiben konvergieren. Dennoch kann es sein, dass im Falle der Potenzreihen nicht immer Holomorphie auf ganz vorliegt. Ein Beispiel ist die Funktion , die an der Stelle nicht komplex differenzierbar (ja nicht mal definiert) ist. Jedoch liegt Holomorphie im Bereich aller mit vor, und es gilt mit der geometrischen Reihe Demnach ist Holomorphie stets zunächst nur eine lokale Eigenschaft. Es folgen einige Beispiele für holomorphe Funktionen. Eine in der Schule behandelte Funktion, die sich im Allgemeinen nicht durch nur endlichfache Anwendung der vier Grundrechenarten berechnen lässt, ist der Sinus, also die Vorschrift . Hier wird die Vorschrift im Reellen zunächst nicht über eine Zahlenrechnung, sondern geometrisch erklärt. Zur Länge eines Kreisbogens soll die zugehörige gerade Strecke gefunden werden, die den Endpunkt des Bogens mit der Grundachse verbindet, analog beim Kosinus (siehe Bild). Alle betrachteten Strecken haben Längen, im Verhältnis zur Einheit dimensionslos, also entspricht dies einer Abbildung von Zahlen auf Zahlen. Krumme Kreislinien („komplizierte Strecken“) werden auf ungleich lange gerade Linien („einfache Strecken“) abgebildet, was vermuten lässt, dass sich diese Umrechnung nicht in einfacher Weise mit den vier Grundrechenarten darstellen lässt. Es zeigt sich jedoch, dass der Sinus eine holomorphe Funktion ist, weshalb eine Annäherung durch einfache Terme möglich ist. Es gilt zum Beispiel für sehr kleine Werte von Dies entspricht einem „Studium“ der Sinusfunktion in oben erklärtem Sinne, da die komplizierte Sinusfunktion durch eine einfache Abbildung angenähert wurde. Dabei war der Entwicklungspunkt 0, in der Tat ist wegen die Annäherung hier perfekt, doch auch für umliegende Werte ist sie brauchbar. Es gilt zum Beispiel und . Für eine exakte Berechnung erhält man für den Sinus wobei die Fakultät bezeichnet und das Summenzeichen. Die Formel erweitert sich auf alle komplexen Zahlen und setzt den Sinus dort als Funktion fort, wobei dort keine geometrische Interpretation über Dreiecke mehr zur Verfügung steht. Für das lokale Verständnis holomorpher Funktionen werden Polynome herangezogen, jedoch ist die Frage entscheidend, wie man auf die Koeffizienten dieser Polynome schließt, also auf die Zahlen vor den Termen . Dafür werden die komplexen Ableitungen der Funktionen am Entwicklungspunkt benötigt. Genau gesagt gilt eine Formel, die in der Mathematik Taylorreihe genannt wird: Hier ist eine Zahl, die nahe am Entwicklungspunkt liegen sollte. Dies lässt sich zum Beispiel an der Wurzelfunktion demonstrieren, etwa um den Punkt . Diese ist dort holomorph, man hat die Ableitungen und . Also gilt mit der Taylor-Formel die Approximation für komplexe Zahlen , die nahe an liegen. Der Ausdruck auf der rechten Seite kann, wie oben, durch Anwendung nur der vier Grundrechenarten schnell berechnet werden. Er stimmt nach Einsetzen von exakt mit dem Funktionswert überein, doch auch in der näheren Umgebung von ist die Annäherung noch sehr genau. Man hat etwa und es gilt für den exakten Wert . Da Holomorphie eine Eigenschaft komplexer Funktionen ist, gilt die Annäherung auch für nicht-reelle Zahlen in der Nähe von 25. Für erhält man zum Beispiel als Näherung für , und es gilt rückwirkend . Bedeutung Die Stärke des Holomorphiebegriffs stützt sich auf folgende Säulen. Einfache Handhabung der Taylorpolynome: Durch die Eigenschaft einer holomorphen Funktion, durch Polynome, also Summen von Termen , lokal beliebig gut angenähert werden zu können, ist das Betreiben von Analysis für diesen Funktionstyp besonders einfach. So können etwa sowohl Ableitungen als auch Stammfunktionen der einzelnen Ausdrücke schnell bestimmt werden. Weiß man, dass die Ableitung von ist, so kann man aus bereits folgern. Dies ermöglicht es, komplizierte Ableitungen oder Stammfunktionen erneut durch Polynome anzunähern und lokal zu beschreiben. Jede Ableitung ist holomorph: Ist eine Funktion holomorph, so auch wieder ihre komplexe Ableitungsfunktion. Wie in einer Kettenreaktion kann gefolgert werden, dass jede holomorphe Funktion bereits unendlich oft komplex differenzierbar ist. Zu dieser Aussage gibt es im Reellen überhaupt keine Entsprechung. So gibt es etwa reelle Funktionen, die zweimal, aber nicht dreimal differenzierbar sind. Gleichmäßige Approximation: Die lokale Approximation durch die Polynome erfolgt nicht „willkürlich“, sondern gleichmäßig. Zum Beispiel soll eine holomorphe Funktion auf einer Kreisfläche inklusive Rand bis auf einen Fehler von durch Polynome angenähert werden. Es soll also gelten. Nach Abbruch einer gewissen Schranke im Grad des Polynoms gilt dann für jeden Wert aus der Kreisfläche . Die Annäherung vollzieht sich also nicht unkontrolliert, sondern breitet sich mit „gleicher Geschwindigkeit“ auf Flächen aus. Die untere Bildserie illustriert diese Gleichmäßigkeit bei der Approximation des Sinus um den Nullpunkt anhand seiner Taylorpolynome Bereits im Fall ist um die Null (schwarzer Punkt im Zentrum) eine lokale Ähnlichkeit zu sehen. Erkennbar ist dies an der Farbverteilung und Intensität, die um das Zentrum herum (ganz linkes Bild) sehr ähnelt, etwa „gelb in Nord-Ost“. Zu beachten ist, dass der ausgesuchte Fehler immer größer als 0 sein muss und die Approximation in der Nähe des Entwicklungspunktes grundsätzlich besser ist. Diese Eigenschaft der gleichmäßigen Konvergenz ist in der Mathematik enorm nützlich. Sie erlaubt es zum Beispiel, dass es bei der Ausführung nichttrivialer Prozesse, wie Ableiten, Integrieren oder unendliches Summieren holomorpher Funktionen, die Reihenfolge vertauscht werden darf. Im Falle unendlich vieler Terme ist dies mathematisch nicht trivial. Beispielsweise erhält man unter Kenntnis der Stammfunktionen von für die Logarithmusfunktion : Aus der geometrischen Reihe kann also die Taylorreihe der Logarithmusfunktion in der Nähe von 1 bestimmt werden. In der Umformung wurde der Prozess „die Summe wird integriert“ durch „die integrierten Terme werden summiert“, ersetzt. Dies entspricht der Vertauschung , was wegen der gleichmäßigen Konvergenz der Taylorreihe aber erlaubt ist. Wenige Daten reichen aus: Die Regel, dass zwei Punkte eine „Gerade“, also eine lineare Funktion eindeutig bestimmen, gilt auch im Komplexen. Weiter sind es drei Punkte für quadratische Funktionen, vier Punkte für kubische Funktionen, und so weiter. Da holomorphe Funktionen lokal wie „unendlich lange Polynome“ aussehen, besagt dies heuristisch, dass auch hier „verhältnismäßig wenige“ Funktionswerte ausreichen sollten, die Funktion eindeutig zu charakterisieren. Stimmen zwei holomorphe Funktionen auf einer Menge von Zahlen überein, die sich einer Zahl beliebig stark annähern, und gilt auch Gleichheit in , dann sind diese schon lokal identisch. Sie sehen also um den Punkt herum absolut gleich aus. Die Bedingung der Übereinstimmung in unendlich vielen Zahlen wirkt zunächst schwach, es ist jedoch zu beachten, dass es möglich ist, diese Stellen wie aufzulisten. Im Gegensatz dazu kann der Definitionsbereich einer holomorphen Funktion niemals aufgelistet werden, da es sich dabei um zu viele Zahlen handelt. Dazu müssen zwei verschiedene Unendlichkeitsstufen unterschieden werden, nämlich Abzählbarkeit und Überabzählbarkeit. Besonders in Definitionsbereichen, in denen es möglich ist, jeden Punkt durch einen Weg „zu Fuß zu erreichen“, ohne dabei die Fläche zu verlassen, entpuppt sich Holomorphie als sehr stark. Hier genügt die Kenntnis der Funktion in einem lokalen „Ballungsraum“ , um die Funktion im gesamten Bereich eindeutig zu charakterisieren. Würde eine Funktion etwa jedem Punkt des deutschen Festlandes – hier kann man zu Fuß jeden Ort von jedem Startpunkt aus erreichen, ohne Deutschland zu verlassen – einen komplexen Wert zuordnen, und wäre diese überall holomorph, so reichte die Kenntnis im Ballungsraum Hamburg aus, um ihr Verhalten in München oder Passau zu rekonstruieren, obwohl diese Orte weit weg liegen. Einordnung der Anwendungsmöglichkeiten Berechnung reeller Integrale Bedeutsam sind holomorphe Funktionen auch in Anwendungen für reelle Integrale. Es lassen sich einige wichtige Integrale berechnen, ohne eine Stammfunktion angeben zu müssen. Dazu zählt zum Beispiel , und es ist zu beachten, dass zu keine geschlossene elementare Stammfunktion angegeben werden kann. Integrale wie das obige spielen eine Rolle in der Wahrscheinlichkeitstheorie, hier im Kontext mit der Gaußschen Normalverteilung. Geschlossene Formeln für unendliche Reihen In der Analysis, die sich mit Grenzwerten von Funktionen oder Zahlenfolgen beschäftigt, treten auch Reihen auf. Diese sind spezielle Folgen, und werden durch unendliche Summen ausgedrückt. Wenn die Summanden schnell genug klein werden, hat die betroffene Reihe einen Grenzwert. Ein Beispiel ist Mit holomorphen Funktionen können in manchen Fällen Grenzwerte weit komplizierterer Reihen bestimmt werden. Beispiele sind (siehe auch Basler Problem), (siehe auch Apéry-Konstante), aber auch Identitäten wie zum Beispiel die für alle gültige Transformation Es bezeichnen dabei die Eulersche Zahl und die Kreiszahl. Die letzte Identität geht auf den Mathematiker Carl Gustav Jacobi zurück und hat weitreichende Konsequenzen in der Zahlentheorie. So kann mit ihr etwa gezeigt werden, dass sich jede positive ganze Zahl als Summe von vier Quadratzahlen schreiben lässt, zum Beispiel ist , siehe auch Satz von Jacobi. In der Zahlentheorie Holomorphe Funktionen treten in der Zahlentheorie besonders dann in Erscheinung, wenn eine Folge von Zahlen studiert werden soll. Eine Folge ist wie eine Tabelle, wobei den Zahlen jeweils Zahlen zugeordnet werden. Berühmte Beispiele für Folgen sind die Folge der Quadratzahlen , die Folge der Primzahlen oder auch die Fibonacci-Folge Möchte man eine Zahlenfolge mit analytischen Mitteln, also holomorphen Funktionen, untersuchen, kann es helfen, die zugehörige Potenzreihe zu betrachten. Wie oben gesehen, handelt es sich dabei um eine um 0 holomorphe Funktion, zumindest dann, wenn die nicht zu schnell anwachsen. Es kann gezeigt werden, dass durch die eindeutig festgelegt ist, und umgekehrt. Das bedeutet, dass die erzeugte Funktion gewissermaßen charakteristisch für die Zahlenfolge ist, sie also Eigenschaften der Folge „kodieren“ sollte. Im Allgemeinen ist es jedoch schwer oder nahezu unmöglich, daraus exakte Informationen zu erhalten. Allerdings kann in einigen Fällen das Wachstumsverhalten der für größer werdende ermittelt werden. Historisches Beispiel ist die Analyse der Partitionsfunktion . Diese ordnet einer natürlichen Zahl die Anzahl der Möglichkeiten zu, diese als Summe kleinerer natürlicher Zahlen zu schreiben. Wegen gilt . Die Folge der Partitionen wächst schnell an. So gilt bereits und Lange Zeit galt ein „geschlossenes Verständnis“ dieser Folge als unerreichbar. Godfrey Harold Hardy und Srinivasa Ramanujan studierten intensiv die von den Partitionen (formal setzt man ) erzeugte holomorphe Funktion Für jede komplexe Zahl mit ist diese Reihe im Grenzwert endlich (siehe oberes Bild). Es ist keine holomorphe Fortsetzung in den Bereich möglich, dieser Bereich ist in Grau gehalten. Hardy und Ramanujan konnten das Verhalten der Funktion nahe an der Kreislinie mit Radius 1 und Mittelpunkt 0, wo also Konvergenz endet, detailliert beschreiben, und rekonstruierten aus ihren Analysen die asymptotische Schätzformel die prozentual immer genauer wird, wenn anwächst. Es bezeichnet dabei die natürliche Exponentialfunktion, die Kreiszahl und die Quadratwurzel von 3. In der Algebra Viele Anwendungen machen sich die starken Eigenschaften holomorpher Funktionen zu Nutze. So kann zum Beispiel anhand logischer Argumente, die sich auf die grundlegenden Eigenschaften der Holomorphie gründen, bewiesen werden, dass jede in allen komplexen Zahlen holomorphe Funktion, die global beschränkt ist, bereits konstant sein muss. Interessanterweise ist die analoge Aussage im Reellen falsch. So ist zum Beispiel die Funktion in ganz differenzierbar und außerdem beschränkt (da der Nenner niemals kleiner und der Zähler niemals größer als 1 wird), aber ganz offensichtlich keine konstante Funktion . Für reelle Eingaben beschränkte Funktionen wie der Sinus, die überall komplex differenzierbar sind, müssen folglich durch Eingabe beliebiger komplexer Werte über alle Grenzen hinauswachsen. Es gilt zum Beispiel Mit Hilfe dieser Aussage kann man logisch begründen, dass jede Gleichung der Form mit und , eine komplexe Lösung besitzt. Das Argument kann exemplarisch am Beispiel nachvollzogen werden. Die Funktion ist, da sie ein Polynom ist, holomorph für alle komplexen Zahlen. Wegen der Quotientenregel ist auch ihr Kehrwert komplex differenzierbar an Punkten mit , da sonst durch 0 geteilt wird. Geht man davon aus, dass die Gleichung nicht lösbar ist, so ist ebenfalls auf ganz holomorph. Da als Polynom aber in jeder Richtung für wachsende langfristig beliebig anwächst, kann man folgern, dass beschränkt ist. Damit ist es als global holomorphe Funktion konstant. Das ist offenbar falsch, somit ist ein Widerspruch gefunden, und die Gleichung muss über den komplexen Zahlen lösbar sein. Dieses Resultat wird auch als der Fundamentalsatz der Algebra bezeichnet. In der theoretischen Physik Auch in der theoretischen Physik treten holomorphe Funktionen auf. Ein Anwendungsgebiet betrifft die sogenannte Stringtheorie. Der Ausgangsgedanke dieser Theorie entspringt der „klassischen“ Quantenfeldtheorie (QFT). In der QFT sind die grundlegenden Objekte Teilchen. Während sie sich durch den Raum ausbreiten und miteinander interagieren, beschreiben sie einen Graphen, der als Feynman-Diagramm bezeichnet wird. Diese Diagramme dienen also der Veranschaulichung von Wechselwirkungen zwischen Teilchen, die unsere bekannte Welt aufbauen. In der Stringtheorie sind die grundlegenden Objekte 1-dimensional (Linien bzw. Strings) und nicht 0-dimensional (Punkte bzw. Teilchen). Sie können sich durch den Raum ausbreiten und interagieren, genau wie Punktpartikel, aber anstatt einen Graphen aufzufächern, fächern sie eine Oberfläche auf. Diese Oberflächen können mit Hilfe der Theorie der Riemannschen Flächen beschrieben werden. Das sind zweidimensionale Strukturen im Raum, die lokal wie eine flache Ebene aussehen, deren Koordinaten sich also durch komplexe Zahlen beschreiben lassen. Auf diesen Ebenen können holomorphe Funktionen definiert werden. Diese helfen dabei, alle möglichen Flächen eines Typs zu charakterisieren, wobei nur „geschlossene Flächen mit Henkeln“ interessant sind. Obwohl etwa verschiedene Tori (Donuts), Flächen vom Geschlecht 1, aus Sicht der Topologie („Theorie der Formen“) nicht zu unterscheiden sind, können sie als Riemannsche Flächen aufgefasst in eine sehr große Schar verschiedener Klassen unterteilt werden. In diesem Sinne „ungleiche“ Riemannsche Flächen können allgemein durch sogenannte Moduli unterschieden werden. Anschaulich sind Moduli Parameter, in etwa Zahlen, die ohne Doppelungen alle Riemannschen Flächen eines Geschlechts bis auf „holomorphe Äquivalenz“ auflisten. Alle Riemannschen Flächen mit ihren zugehörigen Moduli zu konstruieren, ist ein schwieriges mathematisches Problem. Untersuchungen der Stringwechselwirkungen liefern jedoch deutliche Hinweise darauf, dass die sogenannten world-sheets (dt.: „Weltblätter“) der wechselwirkenden Strings genau diese Konstruktion wiedergeben. Bei world-sheets handelt es sich um Einbettungen von Strings in die Raumzeit. Historisches zum Begriff Die Redeweise „holomorph in (einer offenen Menge) “ für „komplex differenzierbar in allen Punkten in “ hat sich in der deutschen Literatur erst in den letzten Jahrzehnten etabliert. Etwa noch bei Marvin Knopp war der Begriff „regulär“ bzw. „analytisch“ üblich. Letzterer wird jedoch in manchen Lehrbüchern bis heute konsequent verwendet, etwa bei Eberhard Freitag. Das Wort „holomorph“ wurde im Jahr 1875 von den Mathematikern Charles Briot und Jean-Claude Bouquet im Rahmen ihres Werkes „Théorie des fonctions elliptiques“ eingeführt. Dabei handelt es sich um das erste Lehrbuch zur Funktionentheorie. Allerdings tauchte „holomorph“ erst in der zweiten Auflage auf; in der ersten Auflage verwendeten sie noch die auf Cauchy zurückgehende Bezeichnung „synectisch“. Notation Es werden durchweg folgende Bezeichnungen verwendet: , , , und bezeichnen die natürlichen, ganzen, rationalen, reellen bzw. komplexen Zahlen. Zudem bedeutet die offene Einheitskreisscheibe. ist eine offene Menge, speziell ist ein Gebiet und die offene Kreisscheibe um mit Radius . Das Symbol bezeichnet den Rand der (offenen) Menge . Das Symbol bezeichnet ein geschlossenes Integral, also ein Integral gebildet über eine geschlossene Kurve. Komplexe Differenzierbarkeit ℂ als topologischer Raum Die Euklidische Norm induziert auf den komplexen Zahlen eine Topologie. Analog wie in gilt für die Norm . Eine Menge heißt offen, wenn jeder Punkt innerer Punkt ist. Für jedes gibt es also ein , sodass die Kreisscheibe ganz in liegt. Es gilt also Für die Definition der komplexen Differenzierbarkeit ist der Begriff der offenen Menge essentiell. Er stellt sicher, dass für jeden Punkt des Definitionsbereichs das Verhalten der Funktion in einer Umgebung dieses Punktes studiert werden kann. Definition Es sei eine offene Teilmenge der komplexen Ebene und ein Punkt dieser Teilmenge. Eine Funktion heißt komplex differenzierbar im Punkt , falls der Grenzwert existiert. Man bezeichnet ihn dann als . Bei dieser Definition ist zu beachten, dass der Limes eine Annäherung aus beliebiger Richtung in der komplexen Ebene darstellt. Äquivalent ist also, dass für jede komplexe Nullfolge , mit für alle , der Wert existiert und das Ergebnis unabhängig von der gewählten Folge ist. Zu bemerken ist, dass der Differentialquotient von allen Richtungen gebildet werden kann, da offen ist und somit um jeden Punkt aus eine umliegende Kreisscheibe auch noch in enthalten ist. Ist hinreichend klein, liegt also in , egal welches komplexe Argument besitzt. Vergleich zur reellen Differenzierbarkeit und die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen Jede komplexwertige Funktion lässt sich in der Form schreiben. Dabei sind reellwertige Abbildungen. Man sagt, dass genau dann reell differenzierbar in einem Punkt ist, wenn wobei die -Fehlerterme, siehe Landau-Symbol, für kleiner werdende gegen 0 gehen. Es gilt also für Dabei handelt es sich bei um reelle Zahlen, die sich über die partiellen Ableitungen der Funktionen und bestimmen lassen. Präziser gesagt, bilden sie die sog. Jacobi-Matrix von als Abbildung von in sich selbst aufgefasst, via Die reelle Differenzierbarkeit impliziert unter anderem, dass Differentialquotienten existieren, wenn separat die reellen Variablendifferenzen und in bzw. betrachtet werden. Die Richtungsableitungen können sich indes, je nach Gewichtung von und , unterscheiden. Bei der komplexen Differenzierbarkeit liegt insbesondere reelle Differenzierbarkeit vor, allerdings kommt hinzu, dass die Richtungsableitungen alle identisch sein müssen. Es werden also die Komponenten und zu Gunsten einer zusammenfassenden Komponente „vergessen“. Es gilt im Falle komplexer Differenzierbarkeit an einer Stelle also mit . Die Körperstruktur von erlaubt es, diesen Sachverhalt nach gewohntem Rechenverfahren in die Gleichung , wobei , umzuwandeln. Spaltet man dies nun rückwirkend in den reellen Fall auf, so ergibt sich mit und die Gleichheit: . Es folgt für die Jacobi-Matrix zwingend die Gleichheit Dies impliziert und was den Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen entspricht. Eine Funktion ist also genau dann komplex differenzierbar an einer Stelle , wenn sie dort reell stetig differenzierbar ist und zusätzlich die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen erfüllt. Es ergibt sich daraus, dass die Funktion genau dann holomorph auf ist, wenn sowohl Realteil als auch Imaginärteil überall in stetig partiell differenzierbar sind und die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen erfüllen. Holomorphie Die komplexe Differenzierbarkeit in einem einzelnen Punkt bietet noch nicht viel Struktur. Wichtig für die Funktionentheorie ist der Fall, wenn eine Funktion in ihrer Gänze komplex differenzierbar ist. Die Funktion heißt holomorph in , falls sie in jedem Punkt komplex differenzierbar ist. Ist zudem sogar , so nennt man eine ganze Funktion. In der Fachliteratur werden die Begriffe holomorph und analytisch häufig synonym verwendet. Dies hat den keinesfalls trivialen Hintergrund, dass eine in holomorphe Funktion eine in analytische Funktion ist, und umgekehrt. Die Menge der auf einer offenen Menge holomorphen Funktionen wird in der Literatur häufig mit bezeichnet. Diese Schreibweise wird etwa seit 1952 von der französischen Schule um Henri Cartan vor allem in der Funktionentheorie mehrerer Veränderlicher verwendet. Aussagen, es handele sich bei um eine Ehrung des japanischen Mathematikers Oka Kiyoshi, oder eine Reflexion der französischen Aussprache des Wortes holomorph, sind unbestätigt. Vielmehr sei die Notation laut Reinhold Remmert „rein zufällig“, und es heißt in einem Brief von Cartan an Remmert vom 22. März aus dem Jahr 1982: Ableitungsregeln Sind an einer Stelle komplex differenzierbar, so auch , und . Das gilt auch für , wenn keine Nullstelle von ist. Es gelten ferner Summen-, Produkt-, Quotienten- und Kettenregel. Winkel- und Orientierungstreue Eine komplexe Abbildung ist winkeltreu, wenn sie zwei sich in einem Punkt schneidende Geradenstücke auf wiederum zwei Geradenstücke abbildet, die sich im gleichen Winkel schneiden. So sind etwa Drehungen winkeltreue Abbildungen. Es kann gezeigt werden, dass nicht-lokalkonstante holomorphe Funktionen in, bis auf eine diskrete Teilmenge, allen Punkten ihres Definitionsbereichs winkeltreu sind. Es sind durch diese Eigenschaft im Wesentlichen sogar holomorphe Funktionen charakterisiert. Verlangt man zusätzlich noch Orientierungstreue, d. h., dass für die Funktionaldeterminante in, bis auf eine diskrete Menge, allen Punkten positiv ist, so ist bereits holomorph. Die Winkeltreue holomorpher Funktionen in einem Punkt lässt sich zudem anhand ihrer Jacobi-Matrix an der entsprechenden Stelle erklären. Dazu muss bekannt sein, dass die Abbildung nach Einschränkung ihrer Zielmenge auf ihr Bild einen Isomorphismus zwischen Körpern induziert. Wegen Eulers Formel gilt zudem für und die Relation Eine komplexe Zahl kann demzufolge als lineare Abbildung gedeutet werden, nämlich als eine Drehstreckung, wie die rechte Form als Verkettung von Skalierung und Rotationsmatrix verdeutlicht. Die Cauchy-Riemann-Gleichungen verlangen nichts anderes, als dass die Jacobi-Matrix von dieser Struktur sein soll, wobei dann mit gilt. Darin liegt die Verbindung zu konformen Abbildungen: Winkeltreue bedeutet schlicht, dass die Jacobi-Matrix eine nichtverschwindende Drehstreckung ist. In Punkten, in denen die Ableitung einer holomorphen Funktion verschwindet, liegt keine Winkeltreue vor, wie man am Beispiel der Funktion mit sieht. Im Nullpunkt werden die Winkel ver--facht. Analoga zur reellen Analysis Einige klassische Resultate der reellen Analysis besitzen Pendants im Komplexen. Mittelwertsatz Sei eine holomorphe Funktion auf einem konvexen Gebiet , und mit . Dann existieren so dass und Satz von Rolle Sei eine holomorphe Funktion auf einem konvexen Gebiet , und mit , so dass . Dann existieren so dass Regel von L'Hospital Seien holomorphe Funktionen sowie und und , sowie mit einem . Dann gilt Integrationstheorie Komplexe Kurvenintegrale Die Integrationstheorie im Komplexen unterscheidet sich in einigen Punkten von der im Reellen. Wichtigstes Merkmal ist das Problem, dass es auf einer Ebene unendlich viele Möglichkeiten gibt, sich von einem Punkt zu einem Punkt zu „bewegen“. Im Reellen gibt es (sieht man von nichtigen Rückwärtsbewegungen ab) stets nur eine Möglichkeit entlang des Zahlenstrahls. Die hohe Anzahl an Integrationswegen zwischen und zwingt dazu, den Integralbegriff zum sog. Kurvenintegral auszuweiten. Das bedeutet, dass ein Integral zunächst nicht nur von Anfangs- und Endpunkt, sondern auch von der Wahl der Kurve abhängt. Ist ein Gebiet, stetig und eine unendlich oft differenzierbare (also glatte) Kurve, so definiert man Das hintere Integral kann nun analog wie im Reellen berechnet werden, etwa durch Aufspalten in die ebenfalls stetigen Komponenten . Hinter dem Differential verbirgt sich die Umformung , die bereits andeutet, dass der Integrationsweg in kleine Intervalle mit unterteilt wird, was den anschaulichen Bogen zur klassischen Integralrechnung schließt. Integralrechnung Der Wert eines Integrals wird bei Endpunkten und im Allgemeinen nicht nur von , sondern auch von der Wahl der Kurve abhängen. Dies ist dann der Fall, wenn die Funktion nicht über eine komplexe Stammfunktion verfügt. Liegt andererseits eine solche vor, gilt und die letzte Gleichheit zeigt, dass der Wert des Integrals jetzt nicht mehr von abhängt. Analog zum Reellen zeigt es sich, dass der Begriff der Stammfunktion erneut als Umkehrung zum Ableiten gefasst werden kann. Da jedoch der Ausgangspunkt ein Gebiet ist, also eine „Fläche“, muss die Stammfunktion in ganz komplex differenzierbar, also holomorph, sein. Damit ist bereits unendlich oft komplex differenzierbar und es zeigt sich, dass notwendigerweise auch ihre Ableitung eine in holomorphe Funktion gewesen sein muss. Es zeigt sich wieder die Stärke des Holomorphiebegriffes. Aufgrund der „richtungsunabhängigen“ Existenz des Differenzenquotienten ergibt die Berechnung eines Kurvenintegrals ungeachtet der Richtungswahl immer denselben Wert. Man kann dann schreiben . Zwar muss zur Existenz einer Stammfunktion die Funktion notwendigerweise holomorph sein, jedoch ist Holomorphie nicht hinreichend für die Existenz einer Stammfunktion. Wählt man zum Beispiel und , so kann zu keine Stammfunktion gefunden werden. Hintergrund ist, dass es eine „Lücke“ in gibt, in der nicht holomorph ist und daher situationsbedingt Schwierigkeiten bereiten kann. In der Tat besitzt die Logarithmusfunktion kein global holomorphes Pendant in den komplexen Zahlen. Unter zusätzlichen Voraussetzungen an ist jedoch auch die Rückrichtung korrekt. Ganz allgemein dann, wenn ein Elementargebiet ist, besitzt jede holomorphe Funktion eine holomorphe Stammfunktion. In etwa ist jedes Sterngebiet ein Elementargebiet, d. h., es gibt einen zentralen Punkt , von dem aus jeder Punkt durch eine gerade Linie erreicht werden kann, ohne dabei zu verlassen. Beispiel für ein Sterngebiet ist das Innere eines Kreises mit irgendeinem seiner Punkte als Zentrum. Eine Stammfunktion kann dann über bestimmt werden, wobei hier als Integrationskurve die gerade Verbindungslinie zwischen und gewählt wird. Es gelten auch im Komplexen die aus der reellen Analysis bekannten Rechenregeln, wie die partielle Integration und die Integration durch Substitution. Cauchyscher Integralsatz Ist einfach zusammenhängend, also ein Elementargebiet, und ein Zyklus in , so gilt der Cauchysche Integralsatz Der Satz gilt also insbesondere dann, wenn ein Sterngebiet und ein geschlossener Weg ist. Satz von Morera Nicht jede auf einer offenen Menge holomorphe Funktion besitzt eine Stammfunktion. Allerdings kann gezeigt werden, dass jede holomorphe Funktion eine lokale Stammfunktion besitzt. Dies ist gleichzeitig ein hinreichendes Kriterium für globale Holomorphie. Es stellt zudem eine Umkehrung des Integralsatzes von Cauchy dar, wenn auch in abgeschwächter Form. Ist offen und stetig und gilt für jeden Dreiecksweg , dessen Dreiecksfläche ganz in enthalten ist, so ist holomorph. Elementare Folgerungen Mit Hilfe der Integrationstheorie holomorpher Funktionen kann etwas über die Struktur holomorpher Funktionen auf Elementargebieten ausgesagt werden. Ist auf dem Elementargebiet etwa holomorph und nullstellenfrei, existiert eine holomorphe Funktion mit der Eigenschaft . Ein solches wird auch als analytischer Zweig des Logarithmus von bezeichnet. Eine unmittelbare Folgerung ist die Aussage, dass ebenso eine -te Wurzel, mit , auf besitzt, es gibt also ein holomorphes mit . Cauchysche Integralformel Im Jahr 1831 fand Augustin-Louis Cauchy in seinem Exil in Turin eine Integralformel, die erlaubt, eine holomorphe Funktion mit Hilfe der „Randwerte ihres Definitionsbereichs“ zu rekonstruieren. Sie ist von großer Bedeutung in der Theorie holomorpher Funktionen. Formulierung Sei offen, die offene Kreisscheibe mit Radius um den Punkt und eine holomorphe Funktion. Liegt dann der Abschluss von noch ganz in , so gilt für alle die Cauchysche Integralformel Dabei wird die Integrationskurve in mathematisch positivem Sinn, also gegen den Uhrzeigersinn, einfach durchlaufen. Die (stärkere) Version für höhere Ableitungen, mit einem , lautet Dabei bedeutet die Fakultät von . Der Wert der Funktion (und jeder ihrer Ableitungen) eines Punktes in einem Gebiet hängt also nur von den Funktionswerten am Rand dieses Gebietes ab. Konsequenzen Eine Folgerung aus der Cauchyschen Integralformel ist, dass in der komplexen Ebene der Begriff der Analytizität äquivalent zur Holomorphie ist: Jede in holomorphe Funktion ist in analytisch. Umgekehrt stellt jede in analytische Funktion eine in holomorphe Funktion dar. Eine weitere Folgerung ist die Mittelwertsgleichung die unter oberen Voraussetzungen gilt. Aus dieser folgt über die Standardabschätzung für Kurvenintegrale , ein Vorläufer des Maximumprinzips der Funktionentheorie. Sie spielt zudem eine wichtige Rolle bei den Beweisen tieferer funktionentheoretischer Sätze, wie zum Beispiel des Satzes von Liouville oder des Residuensatzes. Varianten Die Cauchysche Integralformel lässt sich mannigfach umformulieren. Ist etwa holomorph in einer Umgebung von , so gilt bereits für alle wobei die Kreiskurve in mathematisch positiver Richtung den Ursprung einfach umläuft. Diese Version wird auch als Schwarzsche Integralformel bezeichnet. Des Weiteren gilt die Formel unter denselben Voraussetzungen wie oben. Erneut ist zu beachten, dass als Mittelpunkt der Kreisscheibe der Ursprung gewählt wurde. Diese Integrale lassen sich auch in Polarform schreiben. Ist holomorph auf , dann gilt für die Poissonsche Formel Diese Formel betont die Beziehung zwischen der Integrationstheorie von Cauchy und harmonischen Analysis. Potenzreihen im Kontext holomorpher Funktionen Holomorphie und Analytizität Ein zentrales Resultat der Funktionentheorie ist, dass holomorphe Funktionen analytisch sind. Das bedeutet, dass sie in jedem Punkt ihres (offenen) Definitionsbereichs in eine Potenzreihe entwickelt werden können, die in einer offenen Kreisscheibe konvergiert und dort die Funktion darstellt. Präziser gilt der Cauchysche Entwicklungssatz: Ist mit offenem , die größte Kreisscheibe um in und holomorph, so ist um in eine Taylorreihe entwickelbar, die in auf kompakten Teilmengen absolut und gleichmäßig konvergiert. Die Koeffizienten sind gegeben durch , wobei Dabei wird der Integrationsweg in mathematisch positiver Richtung einfach durchlaufen. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass für den Beweis des Entwicklungssatzes lediglich die Reihenentwicklungen der Funktionen benötigt werden (siehe auch geometrische Reihe), sowie Vertauschbarkeit von Summation und Integration. Für den Fall wurde dies bereits 1831 von Cauchy durchgeführt. Da jede holomorphe Funktion analytisch ist und umgekehrt, lassen sich Eigenschaften von Potenzreihen direkt auf holomorphe Funktionen übertragen. Dies stellt gleichzeitig den Weierstraßschen Zugang zur Funktionentheorie dar, der die Darstellbarkeit von Funktionen als Potenzreihen zum Ausgangspunkt hat. Da Potenzreihen beliebig oft komplex differenzierbar sind (und zwar durch gliedweise Differentiation), erhält man insbesondere, dass holomorphe Funktionen beliebig oft differenzierbar und alle ihre Ableitungen wiederum holomorphe Funktionen sind. Hieran erkennt man deutliche Unterschiede zur reellen Differentialrechnung. Berechnung des Konvergenzradius Der Konvergenzradius einer außerhalb ihres Entwicklungspunktes irgendwo konvergenten Potenzreihe ist definiert als die Zahl , sodass für alle konvergiert und für alle divergiert. Über das Konvergenzverhalten auf dem Rand der Kreisscheibe kann die Zahl keine Aussage treffen, es kann sehr unterschiedlich sein. Es gilt die Formel von Cauchy-Hadamard Nach dem Quotientenkriterium hat man im Falle für fast alle : Dabei darf der Wert ebenfalls durch die Limiten angenommen werden. In den Fällen bzw. ist die betroffene Funktion ganz. Restgliedabschätzung Im Falle holomorpher Funktionen kann der Satz von Taylor „effektiv“ gemacht werden. Ist innerhalb einer offenen Menge, die die Kreisscheibe enthält, holomorph, so gilt für alle Damit folgt für die Restgliedabschätzung . Ist insbesondere hinreichend klein, etwa , so kann dies vereinfacht durch ausgedrückt werden, wobei die implizite Konstante von und , aber nicht von und abhängt. Konvergenz und Holomorphiebereich Grenzen der Darstellbarkeit Die Lokalität besagt, dass es nicht sein muss, dass die Potenzreihe die Funktion in ihrem gesamten Definitionsbereich darstellt. Zum Beispiel ist mit Entwicklungspunkt 0, aber die Reihe konvergiert nur für Werte . In der Tat besitzt die Funktion zur Linken eine Singularität in und ist sonst holomorph in , weshalb der Konvergenzradius der Reihe genau ist. Obwohl also definiert ist, wird die Reihe die Funktion an der Stelle nicht mehr darstellen. Es ist bei dieser Eigenschaft von Potenzreihen auch stets auf die genaue Funktionsvorschrift zu achten. Nur weil die Reihe für solche Werte konvergiert, die nahe genug am Entwicklungspunkt liegen, heißt das nicht, dass dort die Funktion noch nach der ursprünglichen (holomorphen) Vorschrift definiert ist. Zum Beispiel stellt für mit die Reihe die holomorphe Funktion nur im Bereich dar, nicht aber in , obwohl sie dort konvergiert. Ein weiteres Beispiel ist mit . Zwar konvergiert die zugehörige Potenzreihe um mit Radius , doch stellt sie die Funktion zum Beispiel an nicht mehr dar, obwohl . Hintergrund ist die Festlegung auf den Hauptwert des Logarithmus, der entlang der negativen reellen Achse unstetig verläuft. Singuläre Punkte Es wird eine Potenzreihe mit Konvergenzradius betrachtet. Ein Randpunkt heißt singulärer Punkt, wenn es keine Umgebung von zusammen mit einer holomorphen Funktion gibt, sodass . Die Menge der singulären Punkte auf bezüglich ist stets abgeschlossen. Ist jeder Punkt in bezüglich ein singulärer Punkt, so entspricht dem Holomorphiegebiet von . Es kann außerdem gezeigt werden, dass die Menge der singulären Punkte auf dem Rand der Konvergenzkreisscheibe niemals leer ist; es gibt also stets mindestens einen singulären Punkt. Zu beachten ist, dass die Potenzreihe in jedem Punkt am Rand ihres Konvergenzbereichs durchaus konvergieren kann. Lediglich eine holomorphe Fortsetzung ist nicht um jeden Punkt des Randes möglich. Der Lückensatz Der Lückensatz liefert ein hinreichendes Kriterium dafür, dass die offene Konvergenzkreisscheibe einer Potenzreihe das Holomorphiegebiet der dargestellten holomorphen Funktion ist. Die Potenzreihe , wobei habe den Konvergenzradius . Es gebe eine feste Zahl , sodass die Lückenbedingung für alle erfüllt ist. Dann ist das Holomorphiegebiet von . Dieser Satz wurde erstmals von Jacques Hadamard im Jahr 1892 gezeigt, wobei der Beweis durch Louis Mordell 1927 stark vereinfacht wurde. Mittlerweile gibt es umfangreiche Literatur und Verallgemeinerungen zum Lückensatz. Bemerkenswerterweise besitzt jede Potenzreihe mit Konvergenzradius die „Fähigkeit“, zu einer holomorphen Funktion mit Holomorphiegebiet abgewandelt zu werden. Nach einem von Pierre Fatou vermuteten und von Adolf Hurwitz bewiesenen Satz gibt es stets eine Folge , sodass das Holomorphiegebiet besitzt. Laurent- und Fourier-Reihen Satz von der Laurententwicklung Die Laurent-Reihe verallgemeinert den Begriff der Potenzreihe dahingehend, dass auch negative Exponenten zugelassen werden. Es kann mit dem Cauchyschen Integralsatz für Sterngebiete gezeigt werden, dass sich holomorphe Funktionen auf Ringgebieten in Laurent-Reihen entwickeln lassen. Jede auf einem Ringgebiet holomorphe Funktion gestattet eine Zerlegung , wobei und holomorphe Funktionen sind. Mit der Forderung wird diese Zerlegung eindeutig. Insbesondere lassen sich holomorphe Funktionen auf Ringgebieten mit Radien und Zentrum in Laurent-Reihen entwickeln: Die Reihe konvergiert dabei absolut und lokal gleichmäßig. Eine Berechnung der Koeffizienten ist über die Formel möglich. Komplexe Fourier-Reihen Ein besonderer Fall tritt auf, wenn eine holomorphe Funktion gleichzeitig eine periodische Funktion ist. Dabei reicht es aus, die Periode 1 zu betrachten. Ist auf dem offenen Streifen holomorph und 1-periodisch, gilt also stets , so besitzt eine Fourier-Entwicklung Dies ist auf ganz absolut und lokal gleichmäßig konvergent. Eine Berechnung der Koeffizienten ist für jedes durch möglich. Entscheidend für die Herleitung der Existenz einer Fourier-Reihe auf horizontalen Streifen ist das Abbildungsverhalten der komplexen Exponentialfunktion sowie die Existenz der Laurent-Reihe. Die Entwicklung in Fourier-Reihen spielt eine große Rolle in der Theorie der Modulformen. Beispiele Beispiele für holomorphe Funktionen sind Polynome, da diese aus einfachen algebraischen Operationen (Addition und Multiplikation) gewonnen werden. Zum Beispiel ist für die Funktion der Differentialquotient Es sind diesem Prinzip folgend alle Polynome holomorphe Funktionen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es darüber hinaus noch holomorphe Funktionen gibt und wie diese aussehen. Viele im Reellen differenzierbare Funktionen, wie (außer an der Stelle 0) die Betragsfunktion, sind nicht holomorph. Zum Beispiel gilt da die rechte Seite, falls existent, keine reelle Zahl ist, die linke jedoch schon. Jede Polynomfunktion ist eine in ganz holomorphe Funktion. Die Polynomfunktionen sind gerade die Potenzreihen, deren Koeffizienten fast alle verschwinden. Als solche sind sie auch die einzigen ganzen Funktionen, die, falls nicht konstant, im unendlich fernen Punkt eine Polstelle und keine wesentliche Singularität besitzen. Exponentialfunktion Die zunächst über den reellen Zahlen definierte natürliche Exponentialfunktion besitzt eine holomorphe Fortsetzung auf ganz . Dort kann sie, wie auch im Reellen, über ihre Potenzreihe definiert werden: Sie erfüllt für alle die Funktionalgleichung und es gilt , sie ist also gleich ihrer eigenen Ableitung. Erst über den komplexen Zahlen wird die enge Beziehung zwischen der Exponentialfunktion und den trigonometrischen Funktionen sichtbar. Diese kann mittels der Potenzreihenentwicklungen und einem Vergleich der Koeffizienten hergeleitet werden und zieht wichtige Konsequenzen für die Geometrie der komplexen Zahlen und ganz allgemein in der Mathematik nach sich. Die erstmals von Leonhard Euler gefundene Beziehung, auch Eulersche Formel genannt, lautet wobei in vielen Anwendungen eine reelle Zahl ist, jedoch auch beliebige komplexe Werte annehmen darf. Daraus folgt insbesondere, dass sie als Funktion -periodisch ist. Es gilt also für alle . Logarithmus Die komplexe Exponentialfunktion ist global betrachtet nicht injektiv, weshalb sie als ganze Funktion nicht umkehrbar ist. Jedoch kann bei Einschränkung auf den Bereich die Injektivität wieder hergestellt werden. Da dieser Bereich nicht offen ist, so ist etwa kein innerer Punkt, ist es zweckmäßig, auf den offenen Streifen überzugehen. Es gilt dann das Bild der Einschränkung entspricht also genau der komplexen Ebene mit Ausnahme der nicht positiven reellen Zahlen. Als bijektive holomorphe Funktion zwischen zwei offenen Mengen ist die Umkehrfunktion, die als Hauptzweig des Logarithmus bekannt ist, wieder holomorph. Diese wird als geschrieben, und es gilt im gesamten Bereich . Der Begriff Hauptzweig motiviert sich daraus, dass die Wahl des Streifens naheliegend, aber keinesfalls eindeutig ist. Es hätte etwa auch der Streifen gewählt werden können – dies liegt in der -Periodizität der komplexen Exponentialfunktion begründet. Der komplexe Logarithmus ist wegen der Eulerschen Formel verwandt zum Hauptzweig des Arguments über die Relation . Dabei bezeichnet den reellen natürlichen Logarithmus. Daraus folgt insbesondere für reelle Zahlen und die Signumfunktion deutet an, ob sich der Limes von oben oder unten nähert. Es gilt in ganz die Ableitungsformel Trigonometrische und hyperbolische Funktionen Als Kompositionen aus Exponentialfunktionen sind Sinus und Kosinus bzw. Sinus hyperbolicus und Kosinus hyperbolicus ganze Funktionen. Exemplarisch gilt und dies ist eine ganze Funktion. Im Gegensatz dazu sind die Funktionen Tangens und Kotangens bzw. Tangens hyperbolicus und Kotangens hyperbolicus keine ganzen Funktionen, jedoch in ganz meromorph, also holomorph bis auf eine diskrete Menge von Polstellen. Zum Beispiel hat der Tangens hyperbolicus im Komplexen die Polstellenmenge . Arkus- und Areafunktionen Die Arkusfunktionen lassen sich, betrachtet um den Punkt , holomorph in die Einheitskreisscheibe fortsetzen. Man definiert etwa Der Integrand ist eine in der offenen Einheitskreisscheibe holomorphe Funktion, weshalb das Integral erneut eine holomorphe Funktion darstellt. Beliebige Potenzfunktionen Über den komplexen Logarithmus lassen sich beliebige Potenzfunktionen auch im Komplexen verstehen. Diese stellen im Allgemeinen jedoch keine ganzen Funktionen dar. Ist beliebig, so definiert man für Dies stellt als Verkettung holomorpher Funktionen eine auf dem Elementargebiet holomorphe Funktion dar. In manchen Anwendungen ist es jedoch von Vorteil, die Unstetigkeitsgerade als die positive reelle Achse zu wählen. Dann setzt man alternativ Nirgends komplex differenzierbare Funktionen In keinem komplex differenzierbar und damit auch nirgendwo holomorph sind beispielsweise die Betragsfunktion , die Projektionen auf den Realteil beziehungsweise auf den Imaginärteil , die komplexe Konjugation . Die Funktion ist nur an der Stelle komplex differenzierbar, aber dort nicht holomorph, da sie nicht in einer ganzen Umgebung von komplex differenzierbar ist. Charakterisierungen des Holomorphiebegriffs Ist offen, so sind folgende Eigenschaften komplexer Funktionen gleichwertig: Die Funktion ist in ganz einmal komplex differenzierbar. Die Funktion ist in ganz beliebig oft komplex differenzierbar. Real- und Imaginärteil erfüllen die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen und sind zumindest einmal stetig reell differenzierbar. Die Funktion lässt sich überall in lokal in eine komplexe Potenzreihe entwickeln. Die Funktion ist stetig und das Wegintegral der Funktion über einen beliebigen geschlossenen zusammenziehbaren Weg verschwindet. Die Funktion besitzt lokal eine Stammfunktion, d. h., für jedes gibt es eine Umgebung , sodass eine Stammfunktion besitzt. Die Funktionswerte im Inneren einer Kreisscheibe, deren Abschluss in liegt, lassen sich aus den Funktionswerten am Rand mit Hilfe der Cauchyschen Integralformel ermitteln. Die Funktion ist reell differenzierbar und es gilt wobei der Cauchy-Riemann-Operator ist, der durch definiert ist. Nullstellen Im Gegensatz zu beliebigen reell differenzierbaren Funktionen haben holomorphe Funktionen ein sehr kontrolliertes Nullstellenverhalten. Hintergrund ist der sog. Identitätssatz für holomorphe Funktionen, der sicherstellt, dass eine auf einem Gebiet nicht konstante holomorphe Funktion in dessen Innerem keine Werte häufen kann. Insbesondere gilt: Ist und holomorph, so ist jede der Fasern lokal endlich in , und es folgt, dass nur höchstens abzählbar viele sog. -Stellen besitzt. Von besonderem Interesse ist , also gerade die Nullstellen von . Satz von Rouché Es seien holomorphe Funktionen auf einem Elementargebiet und eine stückweise glatte geschlossene Kurve in , sodass diese jeden Punkt in deren Innerem genau einmal positiv umläuft. Es gelte für alle . Dann haben die Funktionen und keine Nullstellen auf und, mit Vielfachheit gerechnet, gleich viele Nullstellen im Innern der Kurve. Der Satz von Rouché kann auch auf meromorphe Funktionen ausgeweitet werden. Jensensche Formel Die Jensensche Formel stellt einen Zusammenhang zwischen dem Wachstum einer holomorphen Funktion auf Kreisrändern und deren Nullstellenverteilung her. Ist eine auf einem Gebiet holomorphe Funktion, sodass die Kreisscheibe enthält, und sind die Nullstellen von in (bei Vielfachheit mehrfach wiederholt), so gilt mit bereits Eine Verallgemeinerung stellt die Poisson-Jensen-Formel dar, die unter obigen Voraussetzungen für jedes mit anwendbar ist: Sie spielt eine wichtige Rolle beim Beweis des Produktsatzes von Hadamard für holomorphe Funktionen, zum Beispiel im Umfeld von L-Funktionen. Singularitäten Holomorphie einer Funktion auf einer offenen Menge ist eine starke Eigenschaft und zieht viele Konsequenzen hinsichtlich Integrationstheorie oder Abbildungseigenschaften nach sich. So strahlt die Analytizität in einem Punkt stets auf umliegende Punkte aus. Es kann die Frage gestellt werden, was ausgehend von einem bestimmten Punkt einer offenen Menge über das Verhalten einer holomorphen Funktion ausgesagt werden kann. Dabei befindet sich im Innern von und liegt damit isoliert in einer lückenlosen Menge von Punkten, auf denen ein aus analytischer Sicht sehr starkes Verhalten hat. Man bezeichnet ein solches auch als isolierte Singularität. Es ist ein wichtiges Resultat, dass die holomorphe Funktion „um herum“ nur drei verschiedene Arten von Verhalten aufweisen kann. Exemplarisch sind die Funktionen , und allesamt holomorph in , weisen aber um den Nullpunkt herum ein sehr unterschiedliches Verhalten auf. Der Typ einer Singularität lässt sich eindeutig aus den Koeffizienten der in ihr entwickelten Laurent-Reihe der Funktion ablesen. Hebbare Singularität Eine hebbare Singularität liegt vor, wenn die holomorphe Funktion um herum beschränkt ist, also „ganz normales“ Verhalten aufweist. Es ist also für alle in einer hinreichend kleinen punktierten Umgebung von in . Nach dem Riemannschen Hebbarkeitssatz kann in einem solchen Fall immer stetig, ja sogar holomorph, auf ganz fortgesetzt werden. Es gibt also eine holomorphe Funktion , die auf ganz mit übereinstimmt. Beispiele für Funktionen mit hebbaren Singularitäten sind an der Stelle , holomorphe Fortsetzung ist , oder auch an der Stelle , holomorphe Fortsetzung ist der Kardinalsinus, mit der Potenzreihenentwicklung . Polstelle Eine holomorphe Funktion hat eine Polstelle der Ordnung in , falls sie in einer Umgebung von als Quotient mit einem holomorphen mit geschrieben werden kann. Eine Polstelle beliebiger Ordnung lässt sich zudem durch das lokale Abbildungsverhalten von charakterisieren. Es hat genau dann einen Pol in , falls gilt . Das Merkmal einer Polstelle ist also, dass sich die Punkte in einer Umgebung nicht chaotisch verhalten, sondern in einem gewissen Sinne gleichmäßig gegen Unendlich streben. Ist eine Polstelle der Ordnung von , so hat die Laurent-Entwicklung von um diese notwendigerweise die Gestalt Eine solche Entwicklung ist gleichzeitig hinreichend für die Existenz eines Pols der Ordnung . Beispielsweise hat die auf holomorphe Funktion einen Pol vierter Ordnung in . Wesentliche Singularität Eine Singularität wird als wesentlich bezeichnet, wenn sie weder hebbar noch Polstelle ist. Sie lässt sich über den Satz von Casorati-Weierstraß charakterisieren, der besagt, dass eine holomorphe Funktion in jeder punktierten Umgebung einer wesentlichen Singularität jeder beliebigen komplexen Zahl beliebig nahe kommt. Zu jeder punktierten Umgebung im Definitionsbereich von und zu jedem gibt es also für alle ein mit . Alternativ lässt sich eine wesentliche Singularität an den Koeffizienten der Laurent-Reihe ablesen. Genau dann wenn um die Laurent-Reihe mit für unendlich viele besitzt, ist eine wesentliche Singularität. Meromorphe Funktionen Formal wird das Symbol definiert. Eine Abbildung heißt meromorphe Funktion, falls die Menge diskret in liegt, die Einschränkung holomorph ist und jeder der Punkte aus eine Polstelle von ist. Nimmt man also die isolierten Polstellen einer holomorphen Funktion „mit in den Definitionsbereich auf“, so spricht man allgemein auch von einer meromorphen Funktion. Der Zusammenschluss aller auf einem Gebiet meromorpher Funktionen bildet einen Körper. Dabei werden Polstellen als Kehrwerte von Nullstellen aufgefasst, wobei der Wert Unendlich mittels der stereographischen Projektion auf die Riemannsche Zahlenkugel als „Nordpol“ interpretiert werden kann, woher auch die Bezeichnung Polstelle rührt. In einigen Anwendungen ist die Voraussetzung der Holomorphie zu restriktiv. Zum Beispiel sind alle holomorphen elliptischen Funktionen zu einem beliebigen Gitter bereits konstant. Erst beim Übergang zu auf ganz meromorphen elliptischen Funktionen erhält man nichttriviale Beispiele, wie etwa die Weierstraßschen p-Funktionen. Residuenkalkül Das Residuum Ist die Funktion auf einer punktierten Kreisscheibe holomorph, so kann sie um in eine Laurent-Reihe entwickelt werden. Das Residuum bezieht sich auf den Term in dieser Reihe, der keine Stammfunktion auf besitzt, nämlich Es definiert jedoch nicht diesen Term, sondern lediglich den zugehörigen Koeffizienten, man schreibt Das Residuum ist ein Funktional, d. h. eine lineare Abbildung vom Raum der holomorphen Funktionen in die komplexen Zahlen. Residuensatz Der Residuensatz gehört zu den zentralen Sätzen der Funktionentheorie. Er besagt, dass das geschlossene Kurvenintegral einer holomorphen Funktion in einem Elementargebiet ohne eine diskrete Menge an Singularitäten nur von den isolierten Singularitäten des Integranden und den Windungszahlen der Integrationskurve abhängt. Damit wird durch ihn die Integralformel von Cauchy verallgemeinert. Da in vielen Fällen die Behandlung der isolierten Singularitäten unkompliziert ist, kann er zu einer schnellen Berechnung von Integralen beitragen, selbst wenn keine Stammfunktion gefunden werden kann. Präzise besagt der Residuensatz, dass, falls ein Elementargebiet ist, eine -elementige Teilmenge, holomorph, und eine stückweise glatte, geschlossene Kurve, dann gilt die Residuenformel wobei die Umlaufzahl von rund um bezeichnet. Der Wert des Integrals hängt also nur von den Residuen der Funktion und deren Umlaufzahl ab. Bedeutung Der Residuensatz zieht einige wichtige Folgerungen für die Funktionentheorie nach sich. Es werden ein paar in der Literatur übliche Anwendungen angeführt. Null- und Polstellen zählendes Integral Ist eine auf einem Elementargebiet meromorphe Funktion und umschließt die stückweise glatte geschlossene Kurve alle Null- und Polstellen von genau einmal in mathematisch positiver Richtung, so gilt für die Anzahl von Null- und Polstellen bzw. die exakte Formel Explizite Berechnung von Integralen Der Residuensatz kann in manchen Fällen zur Berechnung von Integralen, zum Beispiel über rationale Funktionen, dienen. Ein Beispiel ist die für ganze Zahlen gültige Formel Auch kann er zur Berechnung der Partialbruchzerlegung des Kotangens, zur Lösung des Basler Problems und zum Beweis der Formel herangezogen werden. Auch die explizite Berechnung Fresnelscher Integrale ist mit dem Residuensatz möglich. Abbildungseigenschaften Identitätssatz Es zeigt sich, dass eine holomorphe Funktion schon durch sehr wenig Information eindeutig bestimmt ist. So genügt es bereits, dass zwei auf einem Gebiet holomorphe Funktionen und auf einer Teilmenge übereinstimmen, die einen Häufungspunkt in hat, um global zu folgern. Dabei ist ein Häufungspunkt der Teilmenge , falls in jeder noch so kleinen offenen Umgebung von unendlich viele Elemente von liegen. Betont sei an dieser Stelle die Bedingung, dass sich der Häufungspunkt innerhalb des Gebietes befinden muss. Wird dies nicht gefordert, ist die obere Aussage im Allgemeinen falsch. Präziser lässt sich zeigen, dass folgende Aussagen äquivalent sind: . Die Koinzidenzmenge hat einen Häufungspunkt in . Es gibt einen Punkt , sodass für alle ganzen Zahlen die Gleichheit gilt. Beim Identitätssatz ist die Bedingung an , ein Gebiet zu sein, wichtig, da Holomorphie eine lokale Eigenschaft ist. Zum Beispiel stimmen die beiden holomorphen Funktionen und sogar auf ganz überein, sind jedoch global betrachtet nicht gleich, da . Es ist kein Gebiet, da es als disjunkte Vereinigung nicht leerer offener Mengen geschrieben werden kann. Ebenfalls wichtig ist, dass der Häufungspunkt ein Teil des Gebietes ist. So ist etwa die Funktion holomorph in und nimmt den Wert 0 für alle an, stimmt aber nicht mit der Nullfunktion überein. Es ist zu beachten, dass der Häufungspunkt 0 der Folge nicht Teil von ist. Satz von der Gebietstreue Einfach gesprochen sagt der Satz von der Gebietstreue, dass eine nicht konstante holomorphe Funktion Gebiete in Gebiete überführt. Ist ein Gebiet und holomorph und nicht konstant, so ist wieder ein Gebiet. Dieses Offenheitsprinzip ist für stetige Funktionen, bei denen lediglich Urbilder offener Mengen offen sein müssen, im Allgemeinen nicht richtig. Es scheitert beispielsweise bereits bei differenzierbaren Funktionen in den reellen Zahlen, wo der Sinus den nicht offenen Wertevorrat besitzt. Beim Beweis des Satzes von der Gebietstreue geht als wichtiger Zwischenschritt das lokale Abbildungsverhalten nichtkonstanter holomorpher Funktionen ein, siehe unten. Im Reellen scheitert die Aussage, dass eine Umgebung von 0 auf eine Umgebung von 0 abbildet, zum Beispiel ist hier stets . Als einfache Folgerungen des Satzes der Gebietstreue ergibt sich, dass eine auf einem Gebiet holomorphe Funktion , für die entweder , oder konstant ist, bereits konstant sein muss. Es existiert auch eine quantitative Version des Satzes der Gebietstreue. Lokales Abbildungsverhalten Es kann gezeigt werden, dass sich jede nichtkonstante holomorphe Funktion im Wesentlichen wie eine Potenz verhält. Genauer gesagt gilt: Ist nichtkonstant und holomorph in einem Gebiet um 0 und gilt , so existiert eine natürliche Zahl , eine kleine Umgebung um die 0, eine biholomorphe Abbildung mit , sodass für alle . Insbesondere folgt nach dem Variablenwechsel die Identität für alle . Die Zahl ist dabei eindeutig bestimmt. Insbesondere ist genau dann lokal biholomorph, wenn gilt. Maximumprinzip und verwandte Aussagen Maximum- und Minimumprinzip Eine Folgerung des Satzes über die Gebietstreue ist das sog. Maximumprinzip. Dieses sagt aus, dass eine auf einem Gebiet holomorphe Funktion , die im Innern von ein lokales Maximum bei annimmt, bereits konstant sein muss. Existiert zu also eine offene Umgebung , sodass für alle , so ist konstant. Dieses Prinzip kann auch anders formuliert werden: Jede nichtkonstante holomorphe Funktion auf einem beschränkten Gebiet mit stetiger Fortsetzung auf den Rand nimmt auf diesem ihr Maximum an. Dabei ist die Beschränktheit des Gebietes von zentraler Bedeutung. Ist nämlich unbeschränkt, so ist die Aussage in dieser Form nicht mehr gültig. Betrachtet man beispielsweise die Funktion , so gilt wobei . Damit stellt man fest, dass zwar auf dem Rand des Streifens beschränkt ist, jedoch in dessen Innerem für über alle Grenzen hinauswächst. Als Beweis des Maximumsprinzips reicht die Erkenntnis, dass nach dem Satz der Gebietstreue jeder Punkt in ein innerer Punkt ist, womit es in seiner Umgebung aber stets Punkte gibt, deren Betrag größer als ist. Verwandt zum Maximumsprinzip ist das Minimumprinzip. Ist wie oben nicht konstant und hat es ein Betragsminimum in , so muss notwendigerweise eine Nullstelle von sein. Satz von Phragmén-Lindelöf Der Satz von Phragmén-Lindelöf, von Lars Phragmén und Ernst Lindelöf im Jahr 1908 publiziert, kann als eine Erweiterung des Maximumprinzips angesehen werden. Er gibt nun ein Kriterium, mit dessen Hilfe Beschränktheit der Funktion innerhalb ihres unbeschränkten Definitionsgebiets gefolgert werden kann. Sei ein Elementargebiet und holomorph. Es gebe eine holomorphe Funktion , die keine Nullstellen hat und zudem beschränkt ist. Der Rand, einschließlich eines unendlich fernen Punktes , zerfalle in Teile , sodass für eine Konstante gilt: Für jedes ist . Für jedes und ein festes gilt . Dann gilt bereits für alle . Das Symbol bezeichnet den Limes superior. Eine andere Variante des Satzes besagt: Sei stetig auf dem Streifen und holomorph in dessen Innerem. Es gelte für alle Randwerte , also mit oder , und es gebe Konstanten und mit Dann gilt auch im Innern des Streifens. Dass der Satz für nicht mehr stimmt, zeigt das weiter oben angeführte Beispiel . Es existiert eine Variante des Satzes für Kreissektoren. Es sei dafür holomorph auf dem Kreissektor , mit stetiger Fortsetzung auf . Ferner gelte auf dem Rand von und es gebe Konstanten mit für alle . Dann gilt bereits für alle . Der Satz von Phragmén-Lindelöf hat Anwendung unter anderem in der Theorie der L-Funktionen. Mit seiner Hilfe kann deren Wachstumsverhalten im sog. kritischen Streifen analysiert werden, etwa im Rahmen des Heckeschen Umkehrsatzes. Hadamardscher Dreikreisesatz Das Verhalten der Betragsmaxima einer holomorphen Funktion auf Kreislinien innerhalb eines Ringgebiets ist konvex bezüglich der logarithmierten Radien. Ist also holomorph auf dem abgeschlossenen Ringgebiet , mit dem Ursprung als Mittelpunkt, und definiert man so gilt stets Diese als Hadamardscher Dreikreisesatz benannte Aussage ist verwandt zu Sätzen über holomorphe Funktionen auf Streifen. Ist holomorph und beschränkt auf einem Streifen , so ist die Funktion konvex. Diese Feststellung lässt sich auf den Fall höchstens polynomiell wachsender Funktionen weiter übertragen. Sei in dieser Situation durch ein Polynom beschränkt, und bezeichne zu jedem die kleinste Zahl mit für alle . Dann ist eine konvexe und insbesondere stetige Funktion auf , sofern endliche Ordnung auf dem Streifen hat. Diese Aussagen sind zum Beispiel im Umkreis der Lindelöfschen Vermutung bezüglich der Riemannschen Zeta-Funktion von Interesse. Werteverteilungen Ganze Funktionen Satz von Liouville Der Satz von Liouville besagt, dass jede beschränkte ganze Funktion bereits konstant ist. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass jede nicht-konstante ganze Funktion bereits unbeschränkt sein muss, langfristig also, im Absolutbetrag betrachtet, über alle Schranken wachsen wird. Zwar ist zum Beispiel die Funktion im Reellen beschränkt, wird aber auf ganz betrachtet beliebig anwachsen. Der Satz wurde erstmals von Joseph Liouville im Jahr 1847, damals allerdings nur im Rahmen der Liouvilleschen Sätze im Spezialfall für elliptische Funktionen, bewiesen. Der Satz von Liouville ist eine Folgerung aus der verallgemeinerten Cauchyschen Integralformel. Gilt , so folgt mittels der Standardabschätzung für Integrale für alle und Radien : Dabei entstammt der Term der Bogenlänge des kreisförmigen Integrationsweges. Durch beliebig große Wahl von folgt bereits , und da ein Gebiet ist, ist konstant. Eine einfache Folgerung des Satzes von Liouville ist der Fundamentalsatz der Algebra. Dieser besagt, dass jedes nicht-konstante Polynom über den komplexen Zahlen eine Nullstelle hat. Im Reellen gilt dies nicht, da zum Beispiel dort nie Null wird. Für den Beweis wird unter der Annahme, ein nicht-konstantes Polynom habe keine Nullstelle, gefolgert, dass eine beschränkte ganze Funktion ist, also konstant. Dies erzeugt dann einen Widerspruch. Eine Variante des Satzes von Liouville sagt aus, dass jede holomorphe Funktion konstant ist. Dabei bezeichnet die Riemannsche Zahlenkugel. Auch kann die Beschränktheitsbedingung abgeschwächt werden. Gilt stets für eine ganze Funktion , so ist konstant. Der Satz von Liouville kann ferner auf Polynome verallgemeinert werden. Eine Variante von Hadamard kommt lediglich mit dem Realteil der betrachteten Funktion aus. Ist ganz, für die reelle Zahlen und existieren mit für alle , dann ist ein Polynom dessen Grad nicht übersteigt. Eine Folgerung des Satzes von Liouville ist, dass das Bild einer nicht konstanten ganzen Funktion stets dicht in ist. Kleiner Satz von Picard Der kleine Satz von Picard stellt eine äußerst starke Verschärfung des Satzes von Liouville dar. Er sagt aus, dass jede nicht konstante ganze Funktion bis auf eine mögliche Ausnahme jeden komplexen Wert annehmen muss. Es gilt also entweder oder mit einer Zahl . Dabei kann auf den Fall der einen Ausnahme nicht verzichtet werden, da zum Beispiel die Exponentialfunktion niemals Null wird. Kreisscheiben und Ringgebiete Lemma von Schwarz Eine nützliche Anwendung des Maximumsprinzips ist der Beweis des Schwarzschen Lemmas: Ist eine holomorphe Selbstabbildung der offenen Einheitskreisscheibe mit der Fixierung des Ursprungs , so gilt für alle und insbesondere . Eine Verallgemeinerung des Schwarzschen Lemmas ist das Lemma von Schwarz-Pick. Konvexe Abbildungen, die Pólya-Schoenberg-Vermutung und der Satz von Study Eine holomorphe Funktion mit und heißt konvex, wenn sie injektiv auf ein konvexes Gebiet abbildet. Ist ihr Bild sogar ein Sterngebiet, so ist starlike („sternartig“). Es ist genau dann konvex, falls entweder starlike ist, oder für alle die Ungleichung erfüllt ist. Sind and beide konvex, so besagt eine Vermutung von Pólya-Schoenberg, dass auch konvex ist. Diese Vermutung wurde 1973 von Ruscheweyh und Sheil-Small bewiesen. John L. Lewis verwendete sie, um zu zeigen, dass jeder Polylogarithmus für eine konvexe Funktion ist. Keineswegs muss eine starlike-Funktion sämtliche geschlossenen Kurven , die Sterngebiete umschließen, in solche überführen, die ebenfalls Sterngebiete umschließen. Gegenbeispiele stammen von A. W. Goodman. Goodman zeigte jedoch, dass eine starlike Funktion diese Eigenschaft, genannt uniformly starlike, besitzt, genau dann wenn für alle . Eine wenig bekannte Anwendung des Schwarzschen Lemmas auf konvexe Funktionen führt zum Satz von Study. Ist biholomorph und das Gebiet konvex, so ist jedes der Gebiete konvex, wobei . Ist zudem ein Sterngebiet mit Zentrum , so ist für alle auch ein Sterngebiet mit Zentrum . Ist holomorph, mit und , sowie konvex, gilt bereits . Satz von Bloch Der Satz von Bloch, bewiesen 1925 von André Bloch, gibt eine Grenze für die Komplexität des Bildgebiets holomorpher Funktionen an. In der von Bloch gezeigten Version besagt der Satz, dass, wenn die offene Menge die abgeschlossene Einheitskreisscheibe enthält und eine holomorphe Funktion mit den Eigenschaften und ist, es dann eine Kreisscheibe gibt, sodass die Einschränkung injektiv ist und das Bild eine Kreisscheibe mit Radius mindestens enthält. Man kann zur Verschärfung des Satzes für eine holomorphe Funktion unter obigen Voraussetzungen das Supremum aller Radien definieren, sodass injektiv für eine Kreisscheibe ist und eine Kreisscheibe mit Radius enthält. Bildet man nun das Infimum all dieser Zahlen , wenn die obigen Eigenschaften hat, kann man die Blochsche Konstante definieren durch Der Satz von Bloch impliziert , aber die Funktion zeigt, dass auch . Es wurde bereits bewiesen, dass gilt. Dabei bezeichnet die Gammafunktion. Die Abschätzung nach oben stammt von Lars Ahlfors und Helmut Grunsky aus dem Jahr 1937. Beide vermuteten zudem, dass ihre obere Schranke sogar der wahre Wert von ist, was jedoch unbewiesen ist. Satz von Schottky Der Satz von Schottky macht eine Aussage über die Werteverteilung einer holomorphen Funktion, die zwei Werte in ihrem Bildbereich auslässt. Der Satz besagt, dass für alle Werte und eine Konstante existiert, mit folgender Eigenschaft: Ist ein Elementargebiet, das die abgeschlossene Kreisscheibe enthält, und eine beliebige holomorphe Funktion, welche die Werte 0 und 1 nicht annimmt und erfüllt, so gilt für alle . Daraus kann eine Aussage mit abgeschlossenen Kreisscheiben mit beliebigem Radius gefolgert werden. Enthält das Elementargebiet die Menge und lässt die holomorphe Funktion die Werte 0 und 1 aus, so gilt im Falle für die Konstante aus Schottkys Satz die Abschätzung für alle . Satz von Koebe Für holomorphe und injektive Funktionen mit und besagt Satz von Koebe, dass stets . Volumina von Bildern Es sei holomorph und injektiv auf dem Kreisrand . Es führe diesen auf eine geschlossene Kurve über. Der Inhalt des durch umschlossenen Gebiets ist dann Für Kreisringe gilt entsprechend für das Volumen dessen Bildes Monotonie Um Beträge holomorpher Funktionen auf Kreislinien auf Monotonie zu untersuchen, ist das Konzept der Folgendifferenzen von Bedeutung. Für reelle Zahlen setzt man , , usw. Es gilt allgemein die Formel Eine monoton fallende Nullfolge bezeichnet man als -fach monoton, falls für alle und . Ist holomorph auf der Einheitskreisscheibe , konvergiert zudem für und ist vierfach monoton, so ist eine auf dem Intervall fallende Funktion. Bohr-Radius Im Jahr 1914 konnte Harald Bohr zeigen, dass falls die Potenzreihe in der Einheitskreisscheibe konvergiert und die holomorphe Funktion in erfüllt, bereits gilt. Das sogar gilt und der größtmögliche Bohr-Radius ist, konnte unabhängig von Friedrich Wilhelm Wiener, Marcel Riesz und Issai Schur gezeigt werden. Um wesentliche Singularitäten Satz von Casorati-Weierstraß Sei ein Punkt des Gebietes . Dann ist eine wesentliche Singularität der auf holomorphen Funktion genau dann, wenn für jede in liegende Umgebung von das Bild dicht in liegt. Anders formuliert: Eine holomorphe Funktion hat genau dann in eine wesentliche Singularität, wenn in jeder Umgebung von jede komplexe Zahl beliebig genau als ein Bild von approximiert werden kann. Großer Satz von Picard Sei offen und eine wesentliche Singularität der holomorphen Funktion . Der große Satz von Picard besagt, dass dann nur zwei Fälle möglich sind: Für jede punktierte Umgebung von gilt . Für jede punktierte Umgebung von gilt mit einem geeigneten . Demnach kommt die Funktion nahe ihrer wesentlichen Singularität nicht nur jedem Wert beliebig nahe, sondern nimmt, bis auf eine mögliche Ausnahme, jeden beliebigen Wert unendlich oft an. Folgen und Reihen holomorpher Funktionen Weierstraßscher Konvergenzsatz Es sei offen und eine Folge auf holomorpher Funktionen. Wird angenommen, dass gleichmäßig auf kompakten Teilmengen gegen eine Funktion konvergiert, so besagt der Satz von Weierstraß, dass die Grenzfunktion wieder holomorph ist und man Limesbildung und Differentiation vertauschen kann. Das heißt, die Folge konvergiert ebenfalls kompakt gegen . Der Beweis des Satzes ergibt sich unmittelbar aus der Tatsache, dass sich die komplexe Differenzierbarkeit nach dem Satz von Morera durch ein Integralkriterium ausdrücken lässt und dass das betroffene Kurvenintegral stabil unter gleichmäßiger Konvergenz ist. Die Aussage über die Folge ergibt sich aus der Cauchyschen Integralformel. Der Satz kann weiter verschärft werden. Es sei ein beschränktes Gebiet und eine Folge in holomorpher Funktionen mit stetiger Fortsetzung nach , sodass die Einschränkung auf gleichmäßig konvergiert. Dann konvergiert gleichmäßig gegen eine in holomorphe Funktion, die sich stetig nach fortsetzt. Die analoge Aussage im Reellen ist falsch. Nach dem Approximationssatz von Weierstraß ist jede stetige Funktion der Grenzwert einer gleichmäßig konvergenten Folge von Polynomen. Allerdings gibt es auch einen Stabilitätssatz im Reellen, der unter Bedingungen an die Folge richtig ist. Unendliche Reihen Der Satz von Weierstraß lässt sich auf unendliche Reihen anwenden. Ist eine Folge holomorpher Funktionen, so konvergiert gegen eine holomorphe Funktion , falls sie in normal konvergiert, d. h. für jeden Punkt gibt es eine Umgebung , so dass Integralfolgen Einige holomorphe Funktionen treten als Integrale in Erscheinung. Es gilt dabei Folgendes. Es sei , eine stetige komplexwertige Funktion auf , wobei eine offene Menge bezeichnet. Ferner sei für jedes fixierte eine holomorphe Funktion. Dann ist die Funktion holomorph in . In Kombination mit dem Weierstraßschen Konvergenzsatz können damit auch Integrale mit unendlichen Grenzen behandelt werden. Ein wichtiges Beispiel ist die Gammafunktion. Die Integrale stellen nach eben genanntem Kriterium eine Funktionenfolge holomorpher Funktionen dar. Es lässt sich zeigen, dass auf Kompakta in gleichmäßige Konvergenz für vorliegt. Damit ist die Grenzfunktion eine in ganz holomorphe Funktion. Satz von Hurwitz Der Satz von Hurwitz trifft eine Aussage über das lokale Nullstellenverhalten einer holomorphen Funktionenfolge, deren Grenzfunktion wieder holomorph ist. Sei ein Gebiet und eine Folge holomorpher Funktionen mit nicht konstanter holomorpher Grenzfunktion . Es gelte zudem für ein . Dann gibt es zu jeder Kreisscheibe ein , sodass jede der Funktionen mit eine Nullstelle in hat. Mit anderen Worten, konvergiert eine Folge auf einem Gebiet holomorpher Funktionen gegen eine holomorphe Grenzfunktion mit Nullstelle, so werden fast alle Folgeglieder beliebig nahe an der Nullstelle verschwinden. Eine wichtige Folgerung des Satzes von Hurwitz betrifft Folgen injektiver holomorpher Funktionen. Besteht die konvergente Folge aus injektiven holomorphen Funktionen und ist die holomorphe Grenzfunktion nicht konstant, so ist diese wieder injektiv. Diese Aussage kann in einem gewissen Sinn umgekehrt werden: Konvergieren die holomorphen Funktionen lokal gleichmäßig gegen eine injektive (holomorphe) Funktion , so existiert zu jedem Kompaktum ein Index , so dass für alle die Einschränkungen injektiv sind. Satz von Montel Ist eine Folge holomorpher Funktionen auf lokal beschränkt, so existiert eine kompakt konvergente Teilfolge. Der Beweis dieses Satzes wird mit Hilfe des Satzes von Bolzano-Weierstraß geführt und beim Beweis des Riemannschen Abbildungssatzes verwendet. Dienlich für den Beweis ist ebenfalls folgender Hilfssatz. Ist eine beschränkte Folge auf holomorpher Funktionen, die auf einer dichten Teilmenge punktweise konvergiert, so konvergiert sie sogar in ganz , und zwar lokal gleichmäßig. Satz von Vitali Folgende Aussagen über eine im Gebiet lokal beschränkte Folge holomorpher Funktionen sind äquivalent: Die Folge ist in kompakt konvergent. Es existiert ein Punkt , sodass für alle die Zahlenfolge konvergiert. Die Menge der Konvergenzpunkte hat einen Häufungspunkt in . Satz von Carathéodory-Landau Es seien mit und eine Folge holomorpher Funktionen . Es existiere für eine Menge von Punkten in , die in einen Häufungspunkt hat. Dann konvergiert die Folge kompakt in , hat also eine holomorphe Grenzfunktion. Punktweise konvergente Folgen Die Frage, ob im Satz von Vitali die Voraussetzung der lokalen Beschränktheit durch punktweise Konvergenz ersetzt werden kann, kann negativ beantwortet werden. Gegenbeispiele liegen alles andere als auf der Hand, können aber zum Beispiel durch Runge-Theorie erzeugt werden. Jedoch zeigte William Fogg Osgood, dass im Falle punktweiser Konvergenz zumindest Holomorphie auf einer dichten Teilmenge des Gebietes vorliegen muss. Ist also eine Folge holomorpher Funktionen auf einem Gebiet , die punktweise gegen eine Funktion konvergiert, so ist auf einer dichten, offenen Teilmenge kompakt konvergent. Insbesondere ist die Grenzfunktion holomorph auf . Für den Fall, dass die Funktionen zusätzlich injektiv sind, liegt bei lediglich punktweiser Konvergenz jedoch wieder Holomorphie der Grenzfunktion im gesamten Gebiet vor. Zusammenhang mit harmonischen Funktionen Eine auf einem Gebiet zweimal stetig partiell differenzierbare Funktion mit der Eigenschaft auf ganz nennt man harmonisch. Es ist der sogenannte Laplace-Operator in Dimension 2, und alternativ gilt die Kurzschreibweise . Zwischen harmonischen Funktionen und holomorphen Funktionen existieren enge Verbindungen. Aufgrund der Tatsache, dass Real- und Imaginärteil einer holomorphen Funktion die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen erfüllen, kann man etwa zeigen, dass diese bereits harmonische Funktionen sind. Es gilt lokal sogar die Umkehrung: Zu jeder auf einem Elementargebiet harmonischen Funktion gibt es eine dort holomorphe Funktion , die diese als Realteil hat. Dies sieht man erneut mit Hilfe der Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen: Es ist die Hilfsfunktion holomorph. Da der Definitionsbereich ein Elementargebiet ist, existiert zu eine holomorphe Stammfunktion, deren Realteil bis auf eine Konstante mit übereinstimmt. Die in zum Realteil zugehörige harmonische Funktion wird als konjugiert harmonisch zu bezeichnet. Sie ist bis auf eine additive Konstante eindeutig bestimmt. Konstruktion, Approximation und Existenzaussagen Produktsatz von Weierstraß Es kann gefragt werden, ob es zu einer gegebenen Nullstellenverteilung eine ganze Funktion gibt, die diese erfüllt. So erfüllt etwa die Nullstellenverteilung . Der Produktsatz von Weierstraß, bewiesen 1876, beantwortet diese Frage. Ist eine diskrete Teilmenge, und es sei eine Abbildung mit gegeben, dann existiert eine ganze Funktion mit folgenden Eigenschaften: für alle . Mit anderen Worten gibt es zu jeder diskreten Menge und jeder „Gewichtung“ der Punkte durch natürliche Zahlen eine ganze Funktion , die ihre Nullstellen genau an den Stellen hat und deren Vielfachheit auch der entsprechenden Gewichtung entspricht. Ein bedeutendes Beispiel ist das bereits von Leonhard Euler im Jahr 1734 entdeckte Sinus-Produkt das in ganz konvergiert. Der Produktsatz kann auf beliebige Gebiete ausgeweitet werden. Ist ein Gebiet, eine Folge paarweise verschiedener Punkte in , die sich in nicht häuft, sowie eine Folge positiver ganzer Zahlen, so gibt es stets eine holomorphe Funktion , die ihre Nullstellen genau in den hat, wobei die Ordnung von genau ist. Eine wichtige Folgerung dieser Tatsache ist, dass sich jede meromorphe Funktion als Quotient zweier auf holomorpher Funktionen schreiben lässt. Satz von Mittag-Leffler Es sei eine diskrete Menge. Der Satz von Mittag-Leffler garantiert die Existenz einer auf ganz holomorphen Funktion, die bestimmte Laurent-Entwicklungen an den Stellen hat. Ist präzise zu jedem eine ganze Funktion vorgegeben mit , so gibt es eine holomorphe Funktion , deren Hauptteil in gegeben ist durch , d. h., hat in eine hebbare Singularität. Ist endlich, so ist eine Lösung des Mittag-Leffler-Problems. Für unendliche wird eine solche Reihe aber im Allgemeinen nicht mehr konvergieren. Ähnlich wie beim Produktsatz von Weierstraß kann hier jedoch mit konvergenzerzeugenden Summanden Konvergenz erzwungen werden. Satz von Runge Der Satz von Taylor besagt, dass sich holomorphe Funktionen innerhalb von Kreisscheiben gleichmäßig auf Kompakta durch Polynome approximieren lassen. Der Satz von Runge verallgemeinert dieses Resultat auf beliebige kompakte Teilmengen, wobei die Annäherung zumindest über rationale Funktionen gelingt. Ist eine kompakte Teilmenge und eine Funktion, die holomorph in einer offenen Menge ist, die vollständig beinhaltet, so ist es möglich, innerhalb von gleichmäßig durch rationale Funktionen zu approximieren. Dabei liegen alle Polstellen der außerhalb von . Der Satz von Runge existiert auch in einer Version für Polynome. Sei offen. Dann ist der Zusammenhang des Komplements (mit der auf der Riemannschen Zahlenkugel üblichen Topologie) notwendig und hinreichend für die folgende Aussage: Für jede auf holomorphe Funktion , für jedes und für jede kompakte Teilmenge gibt es ein Polynom , so dass für alle . Partialbruchzerlegungen Ist eine ganze Funktion, die für Konstanten stets die Ungleichung erfüllt, so gilt bereits Ist zusätzlich eine ungerade Funktion, ist also stets , gilt Für führt dies, nach einem Shift im Argument, zur Partialbruchzerlegung des Kotangens. Interpolation Es seien beliebige voneinander verschiedene komplexe Zahlen, eine geschlossene, injektive stetige Kurve, die sämtliche Punkte im Innern enthält. Die Funktion sei holomorph im Innern von und auf . Setzt man , so stellt das eindeutige Polynom -ten Grades dar, das an den Stellen mit übereinstimmt. Dabei wird die Integrationskurve wie üblich einmalig in mathematisch positiver Richtung durchlaufen. Ungleichungen Cauchysche Ungleichung Ist eine Potenzreihe mit Konvergenzradius , und definiert man für ein mit die Konstante , so gilt für die Koeffizienten die Abschätzung Dies ist eine unmittelbare Folgerung aus der Cauchyschen Integralformel. Diese Aussage lässt sich zu einem Abschätzungsprinzip für Ableitungen auf kompakten Mengen erweitern. Ist offen und ein Kompaktum, dann gibt es zu jeder kompakten Umgebung (es existiert um jedes eine Umgebung, die ganz in liegt) und zu jedem eine Konstante , sodass für alle . Hierbei ist die Supremumsnorm. Es ist zu beachten, dass nicht gewählt werden darf, wie das Beispiel sowie zeigt. Es kann der Fall für beliebige Ableitungen explizit gemacht werden, und zwar für beliebige Punkte innerhalb von Kreisscheiben. Ist holomorph und beschränkt, also existiert, so gilt für alle und : Die Cauchysche Ungleichung zeigt, dass das Wachstum der Taylor-Koeffizienten nicht beliebig starke Züge annehmen kann. So existiert etwa keine lokal um 0 holomorphe Funktion mit der Eigenschaft . Im Gegensatz dazu existiert zu jeder reellen Folge eine unendlich oft differenzierbare Funktion mit für alle . Borel-Carathéodory-Lemma Ist eine auf einem Gebiet holomorphe Funktion, sodass , und setze Dann gilt und für und . Gutzmersche Ungleichung Ist eine in einer Umgebung von holomorphe Funktion mit Potenzreihe mit dem Konvergenzradius , dann gilt für jedes mit die Ungleichung Die Ungleichung geht auf August Gutzmer aus dem Jahr 1888 zurück. Differenzenquotient Sei eine in holomorphe Funktion und mit . Dann gilt gleichmäßig für alle aus Dies folgt aus der Standardabschätzung für Integrale: Dabei wurde im letzten Schritt das Maximumprinzip verwendet. Die Konstante kann im Allgemeinen nicht verbessert werden, wie das Beispiel aufzeigt. Der letzte Schritt kann jedoch auch unter Verzicht der Gleichmäßigkeit weggelassen werden. Mehr noch, ist die Funktion (nur) in einer Umgebung von holomorph, so gilt immer noch Fejér-Riesz- und Hilbert-Ungleichung Ist auf der abgeschlossenen Einheitskreisscheibe holomorph, so gilt bereits Dies bleibt auch dann gültig, wenn lediglich im Hardy-Raum liegt. Insbesondere gilt dann , und die Hilbert-Ungleichung Grunsky-Ungleichungen Es sei eine injektive holomorphe Funktion auf der offenen Einheitskreisscheibe, mit sowie . Definiere Diese besitzt eine Laurent-Entwicklung um : die für konvergiert. Nun definiert man Zahlen durch Dann sagen die starken Grunsky-Ungleichungen, dass für jede endliche Folge komplexer Zahlen Die schwachen Grunsky-Ungleichungen besagen ferner, dass gilt. Lebedev–Milin-Ungleichungen Ist eine holomorphe Funktion auf einer Kreisscheibe mit . Dann ist die Verkettung mit der Exponentialfunktion wieder holomorph auf und hat dort eine Potenzreihenentwicklung Nun gelten die drei Lebedev–Milin Ungleichungen: 1. Falls , dann wobei Gleichheit genau dann gilt falls für alle mit einem komplexen . 2. Für gilt wobei Gleichheit genau dann gilt falls für alle mit einem komplexen . 3. Für gilt wobei Gleichheit genau dann gilt falls für alle mit einem komplexen . Kriterien für Konstanz Durch ihre starken Eigenschaften sind holomorphe Funktionen selten. Dementsprechend können einige Kriterien erarbeitet werden, um zu erzwingen, dass eine holomorphe Funktion bereits konstant sein muss. Klassische Kriterien Beschränkte ganze Funktionen sind nach dem Satz von Liouville konstant. Mehr noch, lässt eine ganze Funktion zwei Werte in ihrem Bildbereich aus, so ist sie nach dem kleinen Satz von Picard bereits konstant. Bildet zudem eine holomorphe Funktion eine offene Teilmenge ihres zusammenhängenden Definitionsbereichs nicht auf ein Gebiet ab, ist sie konstant. Sind entsprechend , bzw. konstant, so auch . Wachstum und Nullstellen Es sei eine auf der abgeschlossenen oberen Halbebene holomorphe Funktion mit folgenden Eigenschaften: Es existieren zwei Konstanten mit für alle mit . Es existieren zwei Konstanten , so dass für alle . Es gilt für alle . Dann gilt bereits . In diesem Sinne ist die „kleinste“ holomorphe Funktion, die an (nichtnegativen) ganzen Werten verschwindet. Unter Weglassen von Bedingung 3. kann, wenn 2. zu für abgewandelt wird, ebenfalls gefolgert werden. Verhalten am Rand der Einheitskreisscheibe Ist eine auf der Einheitskreisscheibe holomorphe Funktion, so dass für alle : Ist ferner kein singulärer Punkt von , so ist bereits . Die Annahme, dass kein singulärer Punkt ist, kann durch ersetzt werden. Obere Halbebene Invarianten Es besitze eine holomorphe Funktion auf der oberen Halbebene die folgenden Eigenschaften: Es gilt für alle , Es gilt für alle , Es ist auf beschränkt. Dann ist bereits konstant. Diese Aussage kann unter Zuhilfenahme des Maximumprinzips und der Tatsache, dass die Gruppe durch Möbiustransformation auf der oberen Halbebene operiert, erhalten werden. Allgemeiner folgt sie aus der Theorie der Modulformen bzw. der Theorie kompakter Riemannscher Flächen. Anwendungen der oberen Aussage betreffen analytische Beweise des Zwei-Quadrate-Satz und Vier-Quadrate-Satz. Lage von Nullstellen Es sei eine auf der oberen Halbebene holomorphe Funktion, die folgende Eigenschaften erfüllt: Es ist , wobei mit und . Es ist beschränkt. Dann ist bereits . Weitere Eigenschaften ganzer Funktionen Ordnung einer ganzen Funktion Die Ordnung (im Sinne einer „Wachstumsordnung“) einer ganzen Funktion, falls existent, ist definiert durch die reelle Zahl mit Es gibt Funktionen endlicher Ordnung, die nicht verschwinden, zum Beispiel usw. In gewissem Sinne sind dies bereits die allgemeinsten Beispiele, denn hat keine Nullstelle, so ist wieder ganz und es gilt mit einem . Demnach ist jede ganze Funktion ohne Nullstelle und endlicher Ordnung bereits von der Form mit einem Polynom . Ein Wachstumsgesetz kann auch an den Koeffizienten der Taylorreihe abgelesen werden. Gilt und , so gilt bereits, dass global durch eine von und abhängige Konstante beschränkt ist. Setzt man im Falle ferner für jedes , so folgt . Produktsatz von Hadamard Der Produktsatz von Hadamard stellt eine Verschärfung des Produktsatzes von Weierstraß für den Fall ganzer Funktionen mit endlicher Ordnung dar. Es bezeichnen die Nullstellen von in aufsteigender Betragsgröße sortiert, wobei . Man definiert und für Ist nun die kleinste ganze Zahl mit , so gibt es ein Polynom vom Grade höchstens , sodass Dabei ist die Nullstellenordnung von in 0. Das Produkt erstreckt sich im Falle endlich vieler Nullstellen nur über endlich viele Werte. Approximation stetiger Funktionen Die Reichhaltigkeit der Menge der ganzen Funktionen im Gegensatz zum Polynomring wird unter anderem durch folgenden Satz von Torsten Carleman aus dem Jahr 1927 deutlich: Sei eine stetige Funktion („Fehlerfunktion“). Dann gibt es zu jeder stetigen Funktion eine ganze Funktion , sodass für alle gilt Für eine solche Approximationsstärke reicht die Auswahl an Polynomen nicht aus. So ist etwa die reelle Funktion keinesfalls auf ganz durch Polynome mit Güte einer beliebigen Fehlerfunktion approximierbar. Nach einem Satz von Weierstraß ist dies jedoch auf kompakten Intervallen sehr wohl möglich. Transzendente Funktionen Für den Fall endlicher Ordnung ist die Menge der rationalen Stellen, die zwei algebraisch unabhängige ganze Funktionen annehmen können, limitiert. Es bezeichnen ganze Funktionen mit der Eigenschaft für ein (im englischen strict order ). Dabei sind mindestens zwei hiervon algebraisch unabhängig (also gehen nicht durch die vier Grundrechenarten auseinander hervor). Zudem wird verlangt, dass der Ring bezüglich des Differentialoperators sich selbst abbildet, es gibt also stets ein Polynom mit rationalen Koeffizienten, sodass Sind nun paarweise verschiedene komplexe Zahlen mit für und , gilt bereits . Eine klassische Anwendung dieses Satzes betrifft den Ring , der unter abgeschlossen ist. Dann besagt der Satz, dass keiner der Werte mit ganzen Zahlen rational sein kann, da es sonst alle Werte wären. Analoge Resultate existieren für den Fall algebraischer und nicht bloß rationaler Zahlen. Eine wichtige Anwendung dieser Theorie ist der Satz von Gelfond-Schneider. Analytische Fortsetzung Ist in einem Gebiet holomorph und entwickelt man um einen Punkt in seine Taylor-Reihe, so ist deren Konvergenzradius mindestens gleich dem Abstand von zum Rand von , er kann jedoch auch größer sein. In diesem Fall sagt man, dass über hinaus „analytisch fortgesetzt“ ist. Fortsetzung reeller Funktionen Ist eine reelle Funktion auf einem echten Intervall , so besitzt genau dann eine analytische Fortsetzung auf ein Gebiet , falls reell-analytisch ist. Eindeutigkeit der analytischen Fortsetzung Sei ein Gebiet, eine Menge mit mindestens einem Häufungspunkt in und eine Funktion. Wenn eine holomorphe Funktion existiert, die fortsetzt, d. h. , so ist diese eindeutig bestimmt. Dieses Resultat ist eine einfache, aber sehr wichtige Folgerung des Identitätssatzes für holomorphe Funktionen. Ist zum Beispiel , sowie , so besagt es, dass die Exponentialfunktion nur eine einzige Fortsetzung zu einer in ganz holomorphen Funktion besitzt. Es gilt dann Monodromiesatz Ein wichtiger Ansatz, eine zunächst lokal holomorphe Funktion auf größere Bereiche fortzusetzen, ist das Prinzip der analytischen Fortsetzung entlang einer Kurve. Ist holomorph in einem Punkt , so kann sie dort in eine Taylor-Reihe entwickelt werden. Geht man nun vom Entwicklungspunkt weg, können am Rande des Konvergenzbereichs alle Ableitungen von bestimmt werden, womit eine erneute Taylor-Entwicklung möglich wird, deren Konvergenzbereich eventuell aus dem Bereich der ursprünglichen Entwicklung hinausreicht. Verfährt man so fort, kann eventuell entlang eines Weges bis zu einem Punkt , der möglicherweise weit weg von liegt, fortgesetzt werden. Der Monodromiesatz besagt, dass wenn und durch zwei Wege und verbunden sind, die durch eine Abbildung mit stetig ineinander übergeführt werden können, sodass sich entlang jeden der Wege analytisch fortsetzen lässt, dass dann die Fortsetzungen und von entlang und in beide übereinstimmen. Schwarzsches Spiegelungsprinzip Das Schwarzsche Spiegelungsprinzip erlaubt unter gewissen Symmetrievoraussetzungen eine analytische Fortsetzung. Sei ein zu symmetrisches Gebiet, das heißt , und man setze , sowie . Dann gilt: Ist stetig, holomorph und , dann ist die durch definierte Funktion holomorph. Dabei bezeichnet die komplexe Konjugation. Holomorphiegebiete Ein Gebiet heißt das Holomorphiegebiet einer in holomorphen Funktion , wenn für jeden Punkt die Konvergenzkreisscheibe der Taylorreihe von um in liegt. Dann folgt sofort: Ist das Holomorphiegebiet von , so ist das „maximale Existenzgebiet“ von , d. h. jedes Gebiet , in dem es eine Funktion mit gibt, stimmt mit überein. Es kann eine (auf einem Gebiet) holomorphe Funktion also niemals über ihr Holomorphiegebiet hinaus analytisch fortgesetzt werden. Im Allgemeinen besagt Holomorphiegebiet aber mehr als maximales Existenzgebiet. Die geschlitzte Ebene ist z. B. das maximale Existenzgebiet der dort holomorphen Funktionen und , jedoch nicht deren Holomorphiegebiet: die Taylor-Reihen von und um haben als Konvergenzkreis, und es gilt , falls . Die Funktionen und sind „von oben und unten“ in jedem Punkt auf der negativen reellen Achse holomorph fortsetzbar, alle Randpunkte in sind aber „singulär“ für und in dem Sinne, dass keiner eine Umgebung mit einer Funktion hat, die in mit bzw. übereinstimmt. Es sind die Gebiete , bzw. die Holomorphiegebiete der Funktionen , bzw. . Der Existenzsatz für Holomorphiegebiete besagt, dass jedes Gebiet das Holomorphiegebiet irgendeiner dort holomorphen Funktion ist. Biholomorphe und schlichte Funktionen Eine Funktion, die holomorph, bijektiv und deren Umkehrfunktion holomorph ist, nennt man biholomorph. In der Literatur wird statt biholomorph gelegentlich auch der Begriff konform verwendet. Aus dem Satz über implizite Funktionen folgt für holomorphe Funktionen einer Veränderlicher schon, dass eine bijektive, holomorphe Funktion stets eine holomorphe Umkehrabbildung besitzt. Auch im Fall mehrerer Veränderlicher garantiert der Satz von Osgood die Eigenschaft, dass Bijektivität und Holomorphie automatisch Holomorphie der Umkehrabbildung impliziert. Somit kann man sagen, dass bijektive, holomorphe Abbildungen biholomorph sind. Inverse Funktion Ist eine holomorphe Funktion und gilt für ein , so ist dort lokal biholomorph. Das heißt, dass es eine Umgebung gibt, sodass die Einschränkung biholomorph ist. Zu beachten ist die Lokalität der Biholomorphie. So verschwindet die Ableitung der komplexen Exponentialfunktion – sie selbst – an keiner Stelle, jedoch ist sie nicht injektiv, da zum Beispiel . Andersherum verschwindet die Ableitung einer injektiven holomorphen Funktion an keiner Stelle ihres Definitionsbereichs. Trotz dieser Restriktion kann manchmal in einem gewissen Sinne nach unten hin quantifiziert werden, welche Kreisscheiben lokal injektiv abgebildet werden. Ist holomorph auf , und , sowie existent, bildet die Kreisscheibe biholomorph auf eine Menge ab, welche die Scheibe enthält. Für die Umkehrfunktion einer biholomorphen Funktion kann mittels des Residuensatzes eine lokal gültige Darstellung hergeleitet werden. Ist ein Gebiet, biholomorph und eine abgeschlossene Kreisscheibe, dann gilt für alle die Formel: Dieser Ansatz kann verwendet werden, um Potenzreihen lokal umzukehren. Besitzt die biholomorphe Funktion – ohne Einschränkung der Allgemeinheit gelte  – um die lokale Entwicklung mit , so geben Philip M. Morse und Herman Feshbach die folgende Reihe für die Umkehrfunktion an: mit Dabei bezeichnet das Symbol die Fakultät. Die ersten Werte sind , , und . Die lokale Umkehrung von Potenzreihen ist auch Gegenstand der Lagrangeschen Inversionsformel. Riemannscher Abbildungssatz Eine Klassifikation aller Elementargebiete liefert der Riemannsche Abbildungssatz. Dieser sagt aus, dass zwischen zwei Elementargebieten, die beide nicht ganz umfassen, stets eine biholomorphe Abbildung existiert. Somit ist jedes Elementargebiet, das nicht ganz ist, zur Einheitskreisscheibe biholomorph äquivalent. Es gibt daher aus der Sicht analytischer Abbildungen nur „zwei Typen“ von Elementargebieten, nämlich und . Es ist aber zu beachten, dass und als topologische Räume homöomorph sind über die nichtholomorphe Abbildung mit In einer Verallgemeinerung sagt der Riemannsche Abbildungssatz, dass jedes Elementargebiet in biholomorph äquivalent entweder zu , oder ganz ist. Theorem von Carathéodory Über das sog. Fortsetzungslemma kann eine Randaussage von auf dem Einheitskreis definierten biholomorphen Funktionen in ein Gebiet getroffen werden. Es kann genau dann zu einer in ganz stetigen Funktion nach fortgesetzt werden, wenn der Rand von ein geschlossener Weg ist, d. h., es gibt eine stetige Abbildung mit . Constantin Carathéodory konnte diese Aussage präzisieren: Es lässt sich genau dann zu einem Homöomorphismus von nach fortsetzen, wenn eine geschlossene Jordan-Kurve ist, also den Rand von homöomorph auf den Rand von abbildet. Automorphismen Bei Automorphismengruppen handelt es sich im Kontext holomorpher Funktionen um Kollektionen biholomorpher Selbstabbildungen. Für eine offene Menge bezeichnet die Menge aller biholomorphen Abbildungen . Die Verknüpfung der Gruppe ist hierbei durch Verkettung gegeben. Beispielsweise enthält die Gruppe als Elemente alle biholomorphen ganzen Funktionen. Die Automorphismengruppe eines Gebietes enthält wichtige Informationen über dessen Funktionentheorie. So können zwei Gebiete nur dann biholomorph äquivalent sein, wenn ihre Automorphismengruppen isomorph sind. Komplexe Zahlenebene Jeder Automorphismus von entspricht einer nichtkonstanten affin-linearen Abbildung, hat also die Form mit . Umgekehrt ist jede solche Funktion ein Automorphismus. Damit gilt Der Beweis zur Klassifikation benutzt die Tatsache, dass jeder Automorphismus eine ganze Funktion sein muss, aber in keine wesentliche Singularität haben kann, da andernfalls nach dem Satz von Casorati-Weierstraß die Umkehrfunktion nicht stetig in wäre (alternativ kann man mit dem großen Satz von Picard direkt zeigen, dass nicht injektiv sein kann). Somit besitzt einen Pol in und ist ein Polynom, das Grad 1 haben muss, da jedes höhere Polynom nach dem Fundamentalsatz der Algebra als ganze Funktion nicht injektiv ist. Gelochte Zahlenebene Setzt man , so gilt Die Gruppe ist nicht abelsch: Sie zerfällt in zwei zu isomorphe Zusammenhangskomponenten. Einheitskreisscheibe Die Automorphismengruppe der Einheitskreisscheibe hat die Gestalt Betrachtet man die Untergruppe aller Abbildungen mit der Eigenschaft , so ergibt sich, dass diese genau von der Form mit einem sind. Es handelt sich also genau um alle Drehungen. Diese Aussage kann als Vorbereitung zur Bestimmung von ganz dienen. Gelochte Einheitskreisscheibe Für gilt . Damit ist zur Kreisgruppe isomorph. Obere Halbebene Obwohl die obere Halbebene der komplexen Zahlen biholomorph äquivalent zur Einheitskreisscheibe ist, nämlich über die Abbildung , ist es von Interesse, ihre Automorphismengruppe separat anzugeben. Grund hierfür ist der Zusammenhang zur hyperbolischen Geometrie sowie zur Theorie der Modulfunktionen. Die Automorphismengruppe ist Jedes korrespondiert also zu einer Matrix und für zwei gilt genau dann, wenn für die zugehörigen Matrizen und gilt . Dabei bezeichnet die spezielle lineare Gruppe der reellen -Matrizen. Ferner sind sogar die Gruppen und zueinander isomorph vermöge . Dabei bezeichnet die -Einheitsmatrix. Starre Gebiete Bei starren Gebieten handelt es sich um Gebiete mit der Eigenschaft . Die Gruppe der Automorphismen von ist also trivial. Beispiel eines starren Gebietes ist . Asymptotische Analysis holomorpher Funktionen Definitionen und elementare Eigenschaften Eine formale Potenzreihe heißt asymptotische Entwicklung einer holomorphen Funktion auf einem Gebiet mit , falls für alle gilt So ein hat stets höchstens eine asymptotische Entwicklung. Die Existenz einer asymptotischen Entwicklung hängt empfindlich von der Art des Gebietes ab. So besitzt die Funktion für keine asymptotische Entwicklung, jedoch für jeden Kreissektor mit Hat eine holomorphe Fortsetzung in ein Gebiet mit , so entspricht die asymptotische Entwicklung der Funktion der Taylorentwicklung von um 0. Ist holomorph und für gleichmäßig auf einem Kreissektor , so folgt bereits auf . Dabei bedeutet gleichmäßig, dass für in und , wobei die -Konstante aber nicht von der Wahl des Weges von abhängt. Existenz asymptotischer Entwicklungen Folgendes Kriterium ist für die Existenz asymptotischer Entwicklungen hinreichend. Sei ein Gebiet mit , sodass es zu jedem Punkt eine Nullfolge gibt mit der Eigenschaft, dass jede Strecke in liegt. Ist dann eine in holomorphe Funktion, für die alle Limites existieren, so hat die asymptotische Entwicklung Zu beachten ist, dass die an gestellten Voraussetzungen für alle Kreissektoren um 0 erfüllt sind. Satz von Ritt Die Frage, welche Bedingungen Potenzreihen erfüllen müssen, um als asymptotische Entwicklung holomorpher Funktionen aufzutreten, hat für Kreissektoren um 0 eine einfache Antwort: Es gibt keine solchen Bedingungen. Genauer gilt der Satz von Ritt: Ist ein echter Kreissektor um 0, so existiert zu jeder formalen Potenzreihe eine in holomorphe Funktion , sodass gilt: Summenformeln In manchen Anwendungen ist es vonnöten, Summen der Gestalt für (in einem Winkelbereich) zu verstehen. Erfüllt gewisse Eigenschaften, darunter Holomorphie, kann dies bewerkstelligt werden. Im Folgenden sei stets mit einem . Es sei nun eine Funktion, die in einer Umgebung von holomorph ist, insbesondere im Ursprung. Ferner gebe es für jedes ein , so dass wenn in . Dann gilt für alle und : gleichmäßig, sofern in . Dabei bezeichnen die Bernoulli-Polynome. Die Aussage lässt sich sogar auf den Fall verallgemeinern, dass einen einfachen Pol im Ursprung mit Residuum hat. Gelten sonst alle Voraussetzungen wie oben, so gilt in dieser Situation für gleichmäßig, sofern in . Holomorphie als Bedingung in Taubersätzen Taubersätze nutzen Eigenschaften von Potenz- oder Dirichlet-Reihen, um Aussagen über das Verhalten bestimmter Summen zu erhalten. Jedoch gelten diese oft nur unter technischen Bedingungen an die Funktion, die mit der zu untersuchenden Summe zusammenhängt. Holomorphie kann dabei helfen, die Bedingungen eines Taubersatzes zu erfüllen. Dies betrifft etwa einen Taubersatz von Donald Newman, der sich auf Dirichlet-Reihen bezieht: Ist wobei , mit für alle , und lässt sich holomorph auf die Gerade fortsetzen, so gilt bereits Dieser Satz kann dazu verwendet werden, den Primzahlsatz mit einfachen funktionentheoretischen Methoden zu beweisen. Ähnliche Aussagen gelten unter abgeschwächten Bedingungen, also ohne Holomorphie auf dem Rand, wie beim Satz von Wiener-Ikehara, doch dieser ist aus analytischer Sicht schwerer zu beweisen. Zu beachten ist, dass die analoge Aussage für Potenzreihen trivialerweise gilt. Ist also konvergent für und besitzt eine holomorphe Fortsetzung auf den Rand , so ist sogar absolut konvergent. Integraltransformationen In einigen Anwendungen zu holomorphen Funktionen tauchen Integraltransformationen auf. Diese sind von der Form wobei ein bestimmter Weg in der komplexen Ebene und eine geeignete, zu transformierende Funktion ist. Es ist der für die Art der Transformation eigentümliche Integralkern. Allgemeine Holomorphieaussagen In vielen Fällen ist der Integrationsweg in einer Integraltransformation unendlich lang, weshalb neben der Leibnizschen Regel auch hier Kriterien geschaffen werden müssen, dass die Transformierte eine holomorphe Funktion ist. Dabei hilft: Es sei , eine offene Menge und eine stetige Funktion. Man bezeichnet das Integral als gleichmäßig konvergent auf Kompakta in , falls existiert und gleichmäßig auf Kompakta in konvergiert. Trifft dies nun zu, und ist zudem für jedes holomorph, so ist holomorph auf , und es gilt für alle . Holomorphie im Kontext bedeutender Integraltransformationen Fourier-Transformation Für den Fall, dass eine Funktion passende Bedingungen hinsichtlich Stetigkeit und Wachstum für erfüllt, kann ihre Fourier-Transformierte durch definiert werden. Es gilt dann die Rücktransformation Erfüllt die Wachstumsbedingung für Konstanten , so ist die Einschränkung auf einer auf dem Streifen holomorphen Funktion. Der Satz von Paley-Wiener besagt ferner, dass wenn stetig ist und für für alle (d. h. moderat abklingt), sich zu einer ganzen Funktion fortsetzt mit für und alle , genau dann wenn der Träger von im Intervall liegt. Klingen und beide moderat ab, so gilt für alle genau dann, wenn sich stetig auf die abgeschlossene obere Halbebene fortsetzt, dort beschränkt und in deren Innern zudem holomorph ist. Unter Ausnutzung, dass ihre eigene Fourier-Transformierte ist, kann zudem Folgendes gezeigt werden: Ist eine ganze Funktion mit mit , so lässt sich auch zu eine ganzen Funktion fortsetzen, und es gilt für irgendwelche . Mellin-Transformation Eng verwandt zur Fourier-Transformation ist die Mellin-Transformation, die definiert ist durch Ist stückweise stetig auf , erfüllt für und für , so ist eine im Streifen holomorphe Funktion. Für den Fall, dass für schnell abklingt (etwa exponentiell), und zudem eine asymptotische Entwicklung der Form für besitzt, lässt sich holomorph nach ganz fortsetzen mit Polen -ter Ordnung in und Hauptterm Besonders diese Eigenschaft macht die Mellin-Transformation bei der analytischen Fortsetzung von (verallgemeinerten) Dirichlet-Reihen zu einem nützlichen Werkzeug. Für eine im Streifen holomorphe Mellin-Transformierte gilt für alle die Umkehrformel wobei nach Belieben gewählt werden darf. Laplace-Transformation Ist eine stückweise stetige Funktion, so ist ihre Laplace-Transformierte definiert durch Ist für alle die Abschätzung für ein und ein , so ist eine auf der Halbebene holomorphe Funktion. Gilt zusätzlich die Entwicklung für , so folgt bereits für . Dieses Prinzip erweist sich zum Beispiel für den Beweis der Stirling-Formel, einer Approximation der natürlichen holomorphen Fortsetzung der Fakultätsfunktion durch einen geschlossenen Funktionsterm, als nützlich. Ist stückweise stetig und außerdem beschränkt, so folgt aus der holomorphen Fortsetzbarkeit von auf bereits, dass Ist nichtnegativ und nichtfallend, und ist holomorph auf , und gibt es eine Konstante , so dass auf holomorph fortgesetzt werden kann, folgt Dies ist eine „holomorphe Variante“ des Satzes von Wiener-Ikehara, der auch für stetige Fortsetzungen funktioniert, jedoch unter diesen Umständen weitaus schwerer zu beweisen ist, wobei abkürzende Beweise im holomorphen Fall von Donald Newman und Jacob Korevaar gegeben wurden, die die durch die holomorphe Struktur verfügbare Cauchysche Integralformel benutzen. Die holomorphe Variante reicht in vielen Fällen bereits aus. Es kann mit ihrer Hilfe schon der Primzahlsatz gezeigt werden. Algebraische Eigenschaften Der Ring O(D) mit Gebiet D Durch komponentenweise Addition und Multiplikation wird die Menge zu einem kommutativen Ring mit 1 (nach Zulassen einer skalaren Multiplikation sogar zu einer -Algebra). Über den Identitätssatz für holomorphe Funktionen lässt sich zeigen, dass nullteilerfrei ist. Es ist der Körper der meromorphen Funktionen gerade der Quotientenkörper von . Aus idealtheoretischer Sicht sind die Ringe schwieriger zu behandeln als zum Beispiel oder . Definiert man zu einer unendlich mächtigen, aber lokal endlichen Menge zum Beispiel das Ideal so kann man folgern, dass nicht noethersch ist, also insbesondere niemals ein Hauptidealring. Aus dem Produktsatz für allgemeine Gebiete lässt sich sogar folgern, dass nicht faktoriell ist. Nichtsdestotrotz existieren gewisse Strukturen, so kann etwa nach dem Lemma von Wedderburn die 1 erzeugt werden: Sind zwei zueinander teilerfremde holomorphe Funktionen (d. h., es gibt keine Nicht-Einheit , sodass ), so gibt es mit Daraus kann gefolgert werden, dass zumindest jedes endlich erzeugte Ideal bereits ein Hauptideal ist. Nach dem Hauptsatz der Idealtheorie in sind für ein Ideal sogar folgende Aussagen äquivalent: ist endlich erzeugt. ist ein Hauptideal. ist abgeschlossen. Dabei bedeutet Abgeschlossenheit, dass die Grenzfunktion jeder kompakt konvergenten Folge wieder in liegt. Die Sätze von Bers und Iss’sa Der Satz von Bers charakterisiert alle -Algebren-Homomorphismen zwischen -Algebren auf Gebieten holomorpher Funktionen. Es seien Gebiete. Dann besagt der Satz von Bers: Zu jedem -Algebra-Homomorphismus gibt es genau eine Abbildung , sodass für alle . Es gilt und es ist genau dann bijektiv, wenn biholomorph ist. Es ist demnach biholomorph äquivalent zu genau dann, wenn (als -Algebren). Zudem ist jeder -Algebra-Homomorphismus von selbst stetig in dem Sinne, dass wenn kompakt konvergiert, bereits kompakt konvergiert. Ausgeweitet wird dieses Resultat durch den Satz von Iss’sa, da hier sogar der Körper der in bzw. meromorphen Funktionen betrachtet wird. Ist also ein Homomorphismus von -Algebren, so gibt es ein , sodass stets . Anwendungen Holomorphe Funktionen werden systematisch im Rahmen der mathematischen Disziplin Funktionentheorie untersucht. Sie kommen zudem im Umfeld der reellen Analysis, theoretischen Physik, algebraischen Geometrie, Darstellungstheorie (im Kontext zu Modulformen), Kombinatorik, transzendenten Zahlen und analytischen Zahlentheorie zum Einsatz. Bedeutung für die Physik In der theoretischen Physik treten holomorphe Funktionen unter anderem im Kontext zu Riemannschen Flächen auf. So spielt etwa der Raum aller holomorphen Funktionen von einer Riemannschen Fläche in eine -dimensionale Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit eine wichtige Rolle in Mirror Symmetry, die in der Stringtheorie Anwendung findet. Anwendung in der Zahlentheorie Dirichlet-Reihen Wächst eine zahlentheoretische Funktion nicht zu schnell, also für eine reelle Konstante , so wird für alle komplexen Werte mit die Reihe absolut konvergieren. Man bezeichnet diesen Typ Reihe auch als Dirichlet-Reihe. Es gibt dann eine Konstante , die Konvergenzabszisse, sodass die Reihe für alle Werte bedingt konvergiert und für divergiert. Es kann gezeigt werden, dass die Reihe auf kompakten Teilmengen gleichmäßig konvergiert, womit sie eine auf der Halbebene holomorphe Funktion ist. Ähnlich wie Potenzreihen dienen Dirichlet-Reihen dazu, zahlentheoretische Funktionen zu untersuchen. Etwa kann die Holomorphie von Dirichlet-Reihen dazu verwendet werden, die Perronschen Formeln zu zeigen, um summatorische Funktionen zu studieren. Während Potenzreihen besonders in der additiven Zahlentheorie Anwendung finden, treten Dirichlet-Reihen vor allem in der multiplikativen Zahlentheorie auf. Ein wichtiges Beispiel ist die Riemannsche Zeta-Funktion die sogar auf ganz holomorph fortgesetzt werden kann. Durch ihre Verbindung zu den Primzahlen (siehe Euler-Produkt) spielt sie eine Schlüsselrolle in der analytischen Zahlentheorie. Aufgrund ihrer Holomorphie ist es möglich, exakte Informationen über Primzahlen aus ihrem Verhalten als Funktion, wie zum Beispiel der Verteilung ihrer Nullstellen, abzuleiten. Dies betrifft zum Beispiel den Primzahlsatz, der jedoch unter Annahme der Riemannschen Vermutung deutlich verbessert werden kann. Die weitaus allgemeineren L-Funktionen sind ebenso von großer Wichtigkeit in der Zahlentheorie. Dies betrifft etwa den Modularitätssatz, aber auch die Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer. Modulformen und q-Reihen Klassische Modulformen sind auf der oberen Halbebene holomorphe Funktionen , die bestimmte Transformationsgestze bezüglich Untergruppen endlichen Indexes erfüllen und ein „holomorphes Verhalten“ in den Randpunkten aufweisen, zum Beispiel durch Besitz eine Fourier-Entwicklung der Form mit einer natürlichen Zahl . Die Bedingung der Holomorphie liefert dabei eine entscheidende Zutat für die Seltenheit von Modulformen, da sie im Beweis der Valenzformel (in Form des Null- und Polstellen zählenden Integrals) eingeht. Aus dieser kann gefolgert werden, dass der Raum aller Modulformen eines festen Gewichts bezüglich einer Kongruenzuntergruppe stets endlichdimensional ist, was weitreichende Konsequenzen nach sich zieht. Kreismethode Die Kreismethode gehört zu den wichtigsten Anwendungen holomorpher Funktionen in der Zahlentheorie. Ausgangspunkt ist eine Folge ganzer Zahlen , die nicht zu schnell anwachsen, und deren Wachstumsverhalten man verstehen möchte. Betrachtet wird dann die Funktion wobei die Reihe für konvergieren, und für divergieren soll. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die mit polynomieller Geschwindigkeit wachsen oder bis auf eine Konstante kleiner als für ein sind. Über die Cauchysche Integralformel erhält man wenn der geschlossene Weg, etwa ein Kreis mit Radius , die 0 einfach in mathematisch positiver Richtung umschließt. Dabei ist es üblich, den Radius der Integrationskurve in Abhängigkeit von zu wählen, also , und für mit richtiger Konvergenzgeschwindigkeit zu fordern. Ist die Folge positiv und monoton steigend, ist davon auszugehen, dass in der Nähe von unendlich groß wird und dieses Wachstum das Verhalten an allen anderen Randpunkten dominiert. Daher sollte der Integrationsabschnitt in der Nähe von auch den ausschlaggebenden Beitrag für den Wert der liefern. Ein detailliertes Studium der Funktion in der Nähe von , aber auch ggf. anderer Randwerte, kann also zu einem Verständnis der führen. Erstmals wurde die Kreismethode von Godfrey Harold Hardy und Srinivasa Ramanujan angewandt, um die Partitionsfunktion zu untersuchen. Ihnen gelang mit ihrer Hilfe die asymptotische Schätzung Als Ausgangspunkt diente die für alle gültige, von Leonhard Euler gefundene, Identität Hans Rademacher konnte mit ähnlichen Methoden sogar eine exakte Formel für ableiten. Seine Methode nutzt die Modularität der Dedekindschen Etafunktion. Weitere Anwendungen liegen im Umfeld des Waringschen Problems und allgemein Lösungsanzahlen diophantischer Gleichungen. Komplexe Geometrie Auch in der komplexen Geometrie werden holomorphe Abbildungen betrachtet. So kann man holomorphe Abbildungen zwischen Riemannschen Flächen oder zwischen komplexen Mannigfaltigkeiten analog zu differenzierbaren Funktionen zwischen glatten Mannigfaltigkeiten definieren. Außerdem gibt es ein für die Integrationstheorie wichtiges Pendant zu den glatten Differentialformen, das holomorphe Differentialform heißt. Holomorphe Funktionen mehrerer Veränderlicher Sei eine offene Teilmenge. Eine Abbildung heißt holomorph, falls sie sich um jeden Punkt des Definitionsbereichs in eine Potenzreihe entwickeln lässt, das heißt, zu jedem gibt es einen Polykreis , sodass für alle mit von unabhängigen Koeffizienten gilt. Eine Funktion heißt holomorph in der -ten Variablen, wenn sie als Funktion von bei festgehaltenen übrigen Variablen holomorph ist. Holomorphe Funktionen sind natürlich in jeder Variablen holomorph. Für die Umkehrung siehe die untenstehenden äquivalenten Charakterisierungen. Mit dem Wirtinger-Kalkül und steht ein Kalkül zur Verfügung, mit dem man die partiellen Ableitungen einer komplexen Funktion wie bei Funktionen einer Veränderlichen behandeln kann. Für eine Funktion , offen, sind folgende Aussagen äquivalent: ist holomorph. ist stetig und holomorph in jeder Variablen (Lemma von Osgood) ist holomorph in jeder Variablen (Satz von Hartogs) ist stetig differenzierbar und genügt den Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen für . Für mehrere Dimensionen im Bildbereich definiert man Holomorphie wie folgt: Eine Abbildung , offen, heißt holomorph, wenn jede der Teilfunktionen holomorph ist. Viele Eigenschaften holomorpher Funktionen einer Veränderlichen lassen sich, teils in abgeschwächter Form, auf den Fall mehrerer Veränderlicher übertragen. So gilt für Funktionen der Cauchysche Integralsatz nicht und der Identitätssatz ist nur noch in einer abgeschwächten Version gültig. Für holomorphe Funktionen kann allerdings die Integralformel von Cauchy durch Induktion auf Dimensionen verallgemeinert werden. Salomon Bochner konnte 1944 sogar noch eine Verallgemeinerung der -dimensionalen Cauchyschen Integralformel beweisen. Diese trägt den Namen Bochner-Martinelli-Formel. Literatur Klaus Jänich: (Die ersten beiden Auflagen unterscheiden sich deutlich von den folgenden. Unter anderem fehlen ab der dritten Auflage die vier „Stern“-Kapitel zu Wirtinger-Kalkül, riemannschen Flächen, riemannschen Flächen eines holomorphen Keimes und algebraischen Funktionen.) Einzelnachweise Funktionentheorie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Taubenschw%C3%A4nzchen
Taubenschwänzchen
Das Taubenschwänzchen (Macroglossum stellatarum), auch Taubenschwanz oder Karpfenschwanz genannt, ist ein Schmetterling (Nachtfalter) aus der Familie der Schwärmer (Sphingidae). Sein deutscher Name leitet sich vom zweigeteilten Haarbüschel am Hinterleibsende ab, das eine gewisse Ähnlichkeit mit den Schwanzfedern von Tauben aufweist. Als Wanderfalter ist das Taubenschwänzchen in fast ganz Europa bekannt. Wegen seines auffälligen Flugverhaltens, das als Schwirrflug bezeichnet wird und das dem eines Kolibris ähnelt, wird es auch Kolibrischwärmer oder Kolibrifalter genannt. Zahlreiche vermeintliche Kolibrisichtungen in Europa gehen auf Beobachtungen an dieser Schmetterlingsart zurück. Merkmale Falter Die Falter erreichen im westlichen Verbreitungsgebiet eine Flügelspannweite von 36 bis 50 Millimetern bei einer Masse von etwa 0,3 Gramm. Im östlichen Verbreitungsgebiet werden sie größer und erreichen Spannweiten von 40 bis 76 Millimetern. Der gedrungene Körper der Tiere ist besonders am Thorax behaart und hat auf der Oberseite etwa die gleiche graubraune Färbung wie die Oberseiten der Vorderflügel. Nur am Ende des Hinterleibs wird die Färbung dunkler. Dort tragen die Tiere einen braun-schwarzen, zweigeteilten vermeintlichen Haarbüschel; tatsächlich handelt es sich jedoch um verlängerte Schuppen, mit deren Hilfe Taubenschwänzchen beim Navigieren vor den Blüten ausgezeichnet steuern können. An den Seiten des Körpers befinden sich mehrere weißliche Haarbüschel, die sich – besonders von unten gesehen – von der dunkel grau und braun gefärbten Unterseite des Hinterleibs abheben. Die Unterseite von Kopf und Thorax ist hellgrau. Taubenschwänzchen haben graubraune Vorderflügeloberseiten, die mit zwei unauffälligen, schmalen, gewellten, dunkelbraunen Binden versehen sind. Diese verlaufen etwa auf Höhe der Flügeldrittel; die weiter außen gelegene Binde endet ungefähr in der Mitte des Flügels. Die deutlich kleineren Hinterflügel sind orangebraun und am Außenrand schwärzlich gerandet. Ihre Unterseite ist ähnlich wie ihre Oberseite gefärbt; am Flügelansatz entlang der gesamten Innenseite ist sie aber gelblich. Die Unterseite der Vorderflügel ist komplett braunorange. Selten kommen bei den Taubenschwänzchen helle oder dunkle Farbvarianten vor. Wie fast alle Schwärmer haben auch die Taubenschwänzchen einen langen Saugrüssel mit einer Länge von 25 bis 28 Millimetern. Die zum Ende hin kontinuierlich breiter werdenden, keulenförmigen, fein in Ringen beschuppten Fühler sind ebenso typisch für viele Arten der Familie. Die Facettenaugen sind hell, haben aber ein dunkles Zentrum und manchmal auch weitere dunkle Bereiche. Die dunkle Mitte erweckt den Anschein einer Pupille: eine „Pseudopupille“, wie sie an vielen Komplexaugen lebender Tiere beobachtet werden kann, z. T. sogar in Mehrzahl. Raupen Die Raupen werden 45 bis 50 Millimeter lang und sind variabel gefärbt. Ihre Grundfärbung ist meist grün; es gibt aber auch braune, rotbraune oder grauviolette Exemplare. Die Kopfkapsel hat dabei jeweils die gleiche Färbung wie der übrige Körper. Der Körper der Raupen ist überall fein gelblich-weiß punktiert. Sie tragen an den Seiten zwei Längslinien, eine weiße etwa auf der Körpermitte sowie eine gelbe unterhalb der braunen Stigmen. Nach oben haben beide Linien einen dunklen Hof. Die obere Linie endet kurz vor der Spitze des Analhorns, einem spitzen Horn am Hinterleibsende, das für nahezu alle Schwärmerraupen charakteristisch ist. Das Analhorn ist bei jungen Raupen rotviolett, später ist es bläulich bis blaugrau, hat eine gelbe bis orange Spitze und ist leicht dunkel gepunktet. Die Thorakalbeine sind braun, die Bauchbeine haben eine rosa gefärbte Basis, auf die ein heller und ein schwarzer Bereich folgen. Ähnliche Arten Nachtkerzenschwärmer, Proserpinus proserpina (Pallas, 1772); Der Außenrand der Flügel ist stark unregelmäßig. Die Vorderflügel sind hell, haben eine breite dunkle Binde und sind auch um den Außenrand dunkel. Die Raupen teilen keine Ähnlichkeiten. Olivgrüner Hummelschwärmer, Hemaris croatica (Esper, 1800); Die Flügel sind zur einen Hälfte olivgrün, zur anderen weinrot gefärbt. Die Hinterflügel sind kräftig siegellackrot. Der Hinterleib wird von zwei violettroten und zwei hell gelbbraunen bis olivgrünen, an den Seiten hellen Segmenten dominiert. Die Raupen sind sehr ähnlich, ihnen fehlt aber die untere Längslinie. Verbreitung und Lebensraum Gesamtverbreitung Das ganzjährige Verbreitungsgebiet der Tiere erstreckt sich über die gesamte Ost-West-Länge der Paläarktis. Die südliche Grenze verläuft dabei von Nordafrika über den Nahen Osten und Pakistan sowie entlang der Südgrenze Chinas bis nach Japan im Osten. Die nördliche Verbreitungsgrenze ist nicht exakt festlegbar, verläuft aber ungefähr vom Norden Frankreichs nach Süden, um sich südlich der Alpen weiter über Südosteuropa, die Türkei, den südlichen Teil Kasachstans und die Nordgrenze Chinas zu erstrecken. Die Grenze ist variabel, weil die Falter aktuell auf Grund der Klimaerwärmung in immer nördlicheren Gebieten erfolgreich überwintern können. Weitere Informationen über diese Ausbreitung befinden sich im Abschnitt Wanderflüge und Flugzeiten der Falter. Neben dem Totenkopfschwärmer (Acherontia atropos) ist das Taubenschwänzchen der einzige Vertreter der Schwärmer auf den Azoren, wo sehr wenige kontinentaleuropäische Arten vorkommen. Vertikale Verbreitung Die Falter findet man in allen Höhenstufen vom Meeresspiegel bis in die subalpine Vegetationszone. Die Raupen leben allerdings in geringeren Höhen, man findet sie bis in die unteren Bereiche der montanen Stufe. In den Alpen sind die Falter bis etwa 1500 Meter Seehöhe anzutreffen, die Raupen dagegen nur bis etwa 1000 Meter. Wanderflüge und Flugzeiten der Falter Taubenschwänzchen sind Wanderfalter und erschließen in den Sommer- bzw. Wintermonaten durch ihren ausdauernden Flug neue Areale. Sie kommen im Sommer in Europa bis in den hohen Norden, in Großbritannien, Island und in weiten Teilen Russlands (im Osten bis Sachalin) vor. Im Winter reicht ihre Verbreitung im Westen bis nach Gambia, in Asien vereinzelt bis in die südlichen tropischen Bereiche wie Indien und Vietnam. Die Tiere legen dabei große Distanzen zurück und können bis zu 3000 Kilometer in weniger als 14 Tagen bewältigen. In Mitteleuropa gibt es drei Zeitabschnitte, in denen die Falter häufiger als sonst beobachtet werden: Ende Juni, Mitte Juli und im August/September. Da man keine eindeutigen Abgrenzungen hinsichtlich der Generationen vornehmen kann, ist zu vermuten, dass sich zufliegende Tiere mit jenen, die sich hier entwickeln, vermischen. Dabei handelt es sich bei den ersten beiden Falterschüben um jene Tiere, die zuvor im wärmeren Süden geschlüpft sind und nach Norden fliegen. Deren Nachkommen fliegen dann erst ab Mitte August. Dazwischen ist ein eindeutiger Rückgang an gesichteten Individuen zwischen Juli und August zu erkennen. Zur kalten Jahreszeit hin verringern sich die Sichtungen naturgemäß stark. Man weiß bis jetzt noch nicht, wohin die Falter vor dem Winter verschwinden. Entweder fliegen sie zurück in den Süden, was aber nicht erwiesen ist, oder sie überwintern gut geschützt. Für diese letztgenannte Annahme sprechen zumindest vereinzelte Funde von überwinternden Faltern, denn in allen Monaten des Jahres können Falter beobachtet werden: sei es in Winterquartieren an geschützten Orten (beispielsweise in Höhlen, in hohlen Stämmen und auch in Häusern) oder an wärmeren Wintertagen beim Flug. Demnach kann als gesichert gelten, dass zumindest ein Teil der Falter auch in Mitteleuropa erfolgreich überwintert. Dies ist z. B. für Oberschwaben und die Oberrheinebene gut dokumentiert. Lebensraum Das Taubenschwänzchen kann man – wie auch andere wandernde Schwärmerarten, beispielsweise den Windenschwärmer – nahezu überall im offenen Gelände vorfinden. Einzige Voraussetzung ist das Vorhandensein genügend nektarreicher Futterpflanzen. Sie kommen sowohl in naturnahen Bereichen (z. B. Trockenrasen und Wiesen) als auch in Parks, Gärten oder in Städten an Balkonen vor, wenn dort blühende Pflanzen wachsen. Deswegen können diese auffällig fliegenden Tiere häufig beobachtet werden. Gemieden werden nur dichte Wälder. Die Eiablageplätze – und damit verbunden die Raupenvorkommen – sind seltener, da die Falter ihre Eier nur an Plätzen ablegen, an denen sowohl genügend Nektarpflanzen als auch Raupenfutterpflanzen wachsen. Dies ist notwendig, da die Weibchen während der lange andauernden Eiablage immer wieder Nektar zu sich nehmen müssen. Ideale Fortpflanzungshabitate sind warme und sonnige Wiesen oder Acker- und Waldränder mit Labkrautbewuchs und Blütenreichtum. Lebensweise Die Taubenschwänzchen sind – für Schwärmer unüblich – tagaktiv. Darüber hinaus fliegen sie auch bei Dämmerung und manchmal nachts, was vereinzelte Lichtfänge dokumentieren. Auch an stark bewölkten Tagen, bei Regen und bei Temperaturen um 10 °C sind sie aktiv. Bei Kälte vibrieren sie sitzend (Wärmezittern), und zwar im Gegensatz zu anderen Schwärmern nicht mit ausgebreiteten, sondern mit flach über dem Körper versetzten Flügeln. Sie nutzen jede sich bietende Wärmequelle; beispielsweise ruhen sie mit geöffneten Flügeln auf sonnenbeschienenen Steinen und nutzen sowohl die Sonnenstrahlen als auch die von den Steinen abgestrahlte Wärme. An sehr heißen Tagen ruhen sie während des Temperaturmaximums und fliegen bevorzugt in den frühen Morgenstunden sowie am Abend. Die Tiere versammeln sich am Abend oft zu Schlafgemeinschaften. Dazu suchen sie meist vertikale, von der Sonne aufgewärmte Felsflächen oder Ähnliches auf. Die Ansammlungen der Tiere dienen aber auch der Partnersuche. Beachtenswert ist das Erinnerungsvermögen der Falter. Sie kehren Tag für Tag an reichhaltige Nektarquellen zurück, ebenso bleiben sie ihren Ruhe- und Schlafplätzen oft ein ganzes Falterleben lang treu. Die Lebenserwartung der erwachsenen Tiere liegt bei 3–4 Monaten. Flugverhalten Taubenschwänzchen sind wie alle Schwärmer ausgezeichnete Flieger. Ihr sehr schneller und wendiger Flug ähnelt dem von Kolibris: Beim Nektarsaugen stehen sie im Schwirrflug vor den Blüten und saugen mit ihrem langen Saugrüssel, den sie bereits beim Anflug ausrollen und zielsicher in die Blütenkelche einführen. Sie gehören zu den wenigen Insekten, die auch rückwärts fliegen können. Sie können sogar kleinste Pflanzenbewegungen, die durch Wind verursacht werden, dank ihrer guten Augen perfekt durch ihren Flug kompensieren, so dass ihre Position zur Blüte immer konstant bleibt. Die Schlagfrequenz der Flügel beträgt ungefähr 70 bis 90 Schläge in der Sekunde, die Fluggeschwindigkeit beträgt bis zu 80 km/h. Nahrung der Raupen Nach Ebert ernähren sich die Raupen in Baden-Württemberg ausschließlich von vier der dort vorkommenden zwölf Labkräuter (Galium). Dabei handelt es sich um Echtes Labkraut (Galium verum), Wald-Labkraut (Galium sylvaticum), Wiesen-Labkraut (Galium mollugo) und Kletten-Labkraut (Galium aparine). Weidemann erwähnt für die Niederlande weiterhin Waldmeister (Galium odoratum) und Färberkrapp (Rubia tinctorum) als Nahrungspflanzen. Allgemein fressen die Raupen im westlichen Verbreitungsgebiet vor allem an Labkräutern, in Südeuropa und weiter südlich sowie im östlichen Verbreitungsgebiet werden hingegen Pflanzen der Gattung Färberröten (Rubia) bevorzugt. Daneben kann man vereinzelt Raupen an anderen Rötegewächsen (Rubiaceae), wie z. B. Jaubertia, aber auch an Sternmieren (Stellaria), Spornblumen (Centranthus), und Weidenröschen (Epilobium) finden. Ernährung der Falter Bedingt durch ihr Flugverhalten ist der Energieverbrauch der Falter enorm hoch. Sie benötigen bei einer Eigenmasse von ca. 0,3 Gramm jeden Tag etwa 0,5 Milliliter Nektar. Um diese Menge zu saugen, müssen entsprechend viele Blüten in kurzer Zeit angeflogen werden. Ein Taubenschwänzchen kann deshalb bei zusammengesetzten Blütenständen wie Dolden oder Rispen bis zu 100 Blüten in der Minute aussaugen. Auf den Tag gerechnet müssen je nach Nektarqualität beispielsweise 1300 bis 5000 Blüten des Roten Fingerhutes (Digitalis purpurea) oder immerhin 500 bis 2200 des Schmalblättrigen Weidenröschens (Epilobium angustifolium) angeflogen werden. Die Tiere nutzen ein großes Futterangebot so aus, dass sie kurze Wege fliegen und nacheinander die Blüten einer Pflanze mit ruckartigen Bewegungen abfliegen, um dann zur nächsten Pflanze, meist von der gleichen Art, weiterzufliegen. Die Tiere sind nicht wählerisch und fliegen die Blüten dutzender Pflanzenarten an. Dies hat den Vorteil, dass sie zu jeder Jahreszeit das vorliegende Angebot an Nektarquellen optimal ausnutzen können. Allerdings bevorzugen sie nektarreiche Blüten mit langen und schmalen Blütenkelchen (Kronröhren). Bei diesen ist die Konkurrenz anderer nektarsuchender Insekten geringer. Unter Laborbedingungen konnte man eine Vorliebe für bestimmte Farben erkennen. Die meisten Falter fliegen nach dem Schlüpfen unbeeinflusst von anderen Faktoren, also genetisch bedingt, überwiegend blaue Blüten an, vereinzelt aber auch violette und gelbe. In der Natur fliegen die Tiere aber Blüten einer weitaus größeren Anzahl an Farben an. Taubenschwänzchen lernen, an welchen Blüten sie genügend Nektar finden können, sammeln also Erfahrungen beim Blütenanflug. Bei einem Experiment wurden hungrigen Faltern zwei gelbe und zwei blaue Papierblüten angeboten, wobei nur die gelben Nektar enthielten. Anfangs flogen die Tiere instinktiv nur die blauen Blüten an und ignorierten die gelben, verzeichneten also keine Erfolge. Als man ihnen aber auch in den blauen Blüten Nektar anbot, wurden 95 % der Versuchstiere durch ihre Erfolge motiviert, ebenso die gelben anzufliegen. Bei erneutem Aufstellen von blauen Blüten ohne Nektar flogen 80 % der Falter nach 40 Blütenbesuchen nur noch gelbe Blüten an, da sie gelernt hatten, dass nur diese Nektar enthielten. Sie konnten auch nach einem erfolgten Training auf bestimmte Blüten auf andere umtrainiert werden. Der Anflug wird darüber hinaus durch einen Hintergrund, der sich stark von der bevorzugten Farbe unterscheidet, verstärkt. Aus diesen Versuchen ergab sich, dass Taubenschwänzchen hinsichtlich ihrer Lernfähigkeit anderen Schmetterlingen zwar überlegen, Honigbienen jedoch unterlegen sind. Die Anpassungsfähigkeit durch Lernen wird damit begründet, dass Taubenschwänzchen im Laufe ihres etwa viermonatigen Lebens große Distanzen über mehrere Klimazonen zurücklegen und dabei mit Vegetationsänderungen zurechtkommen müssen. Die Falter werden, genetisch determiniert, von Licht mit Wellenlängen im Bereich von 440 nm (zwischen Blau und Violett) stark angezogen, während der Bereich von 540 nm (gelb) nur schwache Anziehung ausübt. Bei Testreihen mit Licht, dessen Helligkeit variiert wurde, konnte man feststellen, dass Taubenschwänzchen drei Farbrezeptoren haben, mit denen sie das Licht im gleichen Spektralbereich sehen wie wir Menschen. Dies ist bis jetzt nur bei sehr wenigen Schmetterlingsarten nachgewiesen. Neben der Blütenfarbe spielt auch die Größe der Blüten eine Rolle. Bevorzugt werden anfangs Blüten mit etwa 30 Millimeter Durchmesser. Diese Vorliebe wird aber schon bald durch Erfahrung geändert, sodass Blüten mit einem Durchmesser zwischen 3 und 50 Millimetern angeflogen werden. Die unten angeführten Gattungen sollen einen Überblick über einen Teil der wichtigsten Nektarpflanzen geben: Klee (Trifolium) Flammenblumen (Phlox) Flieder (Syringa) Fuchsien (Fuchsia) Jasmin (Jasminum) Natternkopf (Echium) Primeln (Primula) Schneckenklee (Medicago) Sommerflieder (Buddleja) Storchschnäbel (Geranium) Tabak (Nicotiana) Veilchen (Viola) Verbenen (Verbena) Zieste (Stachys) Unter den Nektarpflanzen finden sich sowohl einige Kulturpflanzen wie Rotklee und Luzerne als auch Garten- und Balkonpflanzen wie Fuchsien, Petunien, Pelargonien, Buddleja und Phlox. Paarung und Eiablage Die Suche nach geeigneten Geschlechtspartnern findet in der Regel an den Schlafplätzen, also senkrechten Stein- oder Erdwänden, statt, die durch die Sonne aufgewärmt sind. Die Männchen fliegen diese Stellen mit hoher Geschwindigkeit ab, bis sie ein paarungsbereites Weibchen entdeckt haben. Dieses sendet zum Anlocken Pheromone aus, was man gut an den ausgestülpten Pheromondrüsen am Hinterleib erkennen kann. Haben sich zwei Partner gefunden, fliegen sie gemeinsam lebhaft umher. Die Begattung wird im Sitzen vollzogen und dauert meist weniger als eine, in Ausnahmefällen bis zu zwei Stunden. Sie sitzen dabei mit dem Körper in entgegengesetzten Richtungen und sind am Hinterleib aneinandergekoppelt. Bei Störung können die Kopulierenden ohne sich zu trennen gemeinsam fliegen. Die Weibchen begeben sich nach der Paarung auf Nektarsuche und legen erst anschließend ihre Eier ab. Dies erfolgt meist am späten Nachmittag. Sie suchen dazu geeignete, an sonnigen Plätzen stehende Pflanzen und fliegen im Schwirrflug an diese heran, um jeweils ein Ei durch Vorbiegen des Hinterleibes anzuheften. Die Pflanzen werden vor der Eiablage Ästchen für Ästchen genauestens inspiziert. Gelegt wird immer nur ein Ei pro Pflanze an junge Knospen, die noch nicht aufgeblüht sind. Insgesamt werden – mit Unterbrechungen zur Nektaraufnahme – bis zu 200 Eier auf diese Weise gelegt. Entwicklung Die Eier des Taubenschwänzchens sind nahezu kugelig (0,84 mm hoch, 0,95 mm breit) und haben eine schimmernd hellgrüne Farbe. Sie erinnern auf den ersten Blick an ungeöffnete Knospen der Futterpflanzen. Nach sechs bis acht Tagen schlüpfen die Raupen. Sie haben anfangs eine Länge von zwei bis drei Millimetern und sind leicht durchsichtig gelblich gefärbt. Gleich nach dem Schlupf beginnen die Raupen zu fressen. Sie tun dies zunächst verborgen, später offen an der Spitze der Pflanze sitzend. Sie bevorzugen keine bestimmten Fresszeiten, sondern fressen sowohl nachts als auch tagsüber. Schon bald sind sie bereit für die erste Häutung. Für die Rast und für die Häutung ziehen sich die Tiere zwischen miteinander versponnene Ästchen der Futterpflanze zurück. Erst nach der ersten Häutung haben sie die im Kapitel Merkmale der Raupe beschriebene Färbung. Diese behalten sie bis kurz vor der Verpuppung, vor der sie sich dann rotbraun-violett verfärben. Manchmal findet man die Raupen in Gesellschaft mit Raupen des Kleinen Weinschwärmers (Deilephila porcellus), der ähnliche Habitatansprüche und Futterpflanzen hat. Die früh im Jahr Anfang Juni vorliegenden Raupenfunde, bei denen die Entwicklung der Tiere weit fortgeschritten sein kann, bestätigen, dass die Falter zumindest vereinzelt in Mitteleuropa überwintern. Da zu dieser Zeit noch keine Falter aus dem Süden eingeflogen sind, kann es sich nur um Nachkommen von heimischen Faltern handeln. Raupen findet man in Mitteleuropa erstmals im Juni und im Juli. Die späteren Raupen stammen auch von Faltern, die aus dem Süden eingeflogen sind und ihre Eier vor allem im Juli legen. Die nächste Generation von Faltern erscheint dann Mitte August. Wenn die Raupe optimale Bedingungen vorfindet, ist sie nach etwa 20 Tagen ausgewachsen und bereit für die Verpuppung. Diese findet entweder hängend an den unteren Teilen der Futterpflanze oder am Boden zwischen Pflanzenteilen in einem sehr lockeren Gespinst statt. Die darin enthaltene Puppe ist etwa 30 bis 35 Millimeter lang und leicht durchsichtig, so dass man den fertigen Falter vor dem Schlupf erahnen kann. Sie ist hell ockerfarben und hat überall dunkelbraune Sprenkel. Der Bereich zwischen den Hinterleibssegmenten ist hell rotbraun gefärbt. Die Stigmen sind als dunkle Punkte seitlich zu erkennen. Der Saugrüssel sowie die Fühler sind deutlich sichtbar in der Puppenhülle integriert. Der Saugrüssel bildet an der Kopfseite der Puppenhülle eine gebogene Ausbuchtung, ist schwarz gefärbt und verläuft entrollt entlang der Bauchseite der Puppe. Auch die Augen sind gut erkennbar. Das Hinterleibsende (Kremaster) läuft spitz zu und endet mit zwei sehr eng aneinanderliegenden Stacheln. Die Puppenruhe beträgt etwa drei Wochen. Gefährdung und Schutz Das Taubenschwänzchen ist weit verbreitet und kommt häufig vor, es ist nicht gefährdet. Spezialisierte Feinde Die Raupen der Taubenschwänzchen werden von mehreren spezialisierten Parasitoiden befallen. Dabei handelt es sich im westlichen Verbreitungsgebiet um Schlupfwespen (Amblyjoppa fuscipennis und Ischnus migrator), Brackwespen (Cotesia glomeratus) und Raupenfliegen (Exorista larvarum und Oswaldia spectabilis). Aus dem östlichen Verbreitungsgebiet sind keine Parasitoide bekannt. Die Weibchen der Feinde legen ihre Eier auf den Raupen ab, in denen sich dann die geschlüpften Larven entwickeln. Die Verpuppung findet in der Regel an der Außenseite der bis dahin abgestorbenen Raupe statt. Namensgebung Das Taubenschwänzchen wurde 1758 von Carl von Linné in der 10. Auflage des Werks Systema Naturae als Sphinx stellatarum erstbeschrieben: Der Artname leitet sich ab von Stellatae, einem Synonym der Familie Rubiaceae, zu der die Nahrungspflanzen der Raupe gehören. Giovanni Antonio Scopoli beschrieb 1777 die Gattung Macroglossum. Sie enthält etwa 80 überwiegend in den Tropen und Subtropen verbreitete Arten. Belege Einzelnachweise Literatur Günter Ebert: Die Schmetterlinge Baden-Württembergs. Band 4: Nachtfalter II. Ulmer Verlag, Stuttgart 1994, ISBN 3-8001-3474-8. Manfred Koch: Wir bestimmen Schmetterlinge. Band 2: Bären, Spinner, Schwärmer und Bohrer Deutschlands. 2., erweiterte Auflage. Neumann, Radebeul/Berlin 1964, . Hans-Josef Weidemann, Jochen Köhler: Nachtfalter, Spinner und Schwärmer. Naturbuch-Verlag, Augsburg 1996, ISBN 3-89440-128-1. Weblinks www.lepiforum.de: Taxonomie und Fotos www.schmetterling-raupe.de: Weitere Fotos Moths and Butterflies of Europe and North Africa (englisch) fliegendes Taubenschwänzchen bei www.vogelstimmen-wehr.de Video: Flugverhalten und Nahrungsaufnahme von einem Taubenschwänzchen in 40 facher Zeitlupe Schwärmer Wanderfalter Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Darmst%C3%A4dter%20Madonna
Darmstädter Madonna
Die Darmstädter Madonna (auch Madonna des Bürgermeisters Meyer) ist ein Gemälde von Hans Holbein dem Jüngeren (1497–1543), entstanden 1526 in Basel. Es zeigt den Auftraggeber, den Basler Bürgermeister Jakob Meyer zum Hasen, sowohl mit seiner bereits verstorbenen als auch seiner damaligen Frau sowie mit seiner Tochter, die alle um die in der Mitte thronende Maria mit dem Jesuskind gruppiert sind. Die Bedeutung der weiteren männlichen Personen auf der linken Seite ist, wie auch die gesamte Ikonographie des Bildes, noch nicht endgültig geklärt. Das Bild gilt als Glaubensbekenntnis des katholischen, antireformatorisch eingestellten Bürgermeisters. Das Gemälde vereint Einflüsse der italienischen religiösen Renaissancemalerei mit Elementen der altniederländischen Porträtmalerei. Für die Kunstgeschichte ist es nicht nur als bedeutendes Gemälde des 16. Jahrhunderts, sondern auch als Gegenstand einer kunsthistorischen Auseinandersetzung im 19. Jahrhundert relevant, in der mit wissenschaftlich-objektivierbaren Argumenten die Echtheit des Gemäldes diskutiert und belegt wurde. Von 1852 bis 2003 im Residenzschloss Darmstadt aufbewahrt, wovon sich seine populäre Benennung ableitet, befand sich das Bild seit 2004 als befristete Leihgabe im Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt am Main. Seit Januar 2012 hängt das Gemälde in der ständigen Ausstellung Alter Meister der Sammlung Würth in der Johanniterkirche in Schwäbisch Hall. Das Gemälde ist als Kulturgut im baden-württembergischen Verzeichnis national wertvoller Kulturgüter registriert und darf daher nur als Leihgabe, jedoch nicht dauerhaft aus Deutschland ausgeführt werden. Entstehung Auftrag des Jakob Meyer zum Hasen Was dem ehemaligen Basler Bürgermeister Jakob Meyer zum Hasen einen Anlass bot, das großformatige Madonnengemälde (146,5 × 102 cm) in Auftrag zu geben, ist unbekannt. Vermutlich stand der Auftrag in Zusammenhang mit Meyers katholischer Gläubigkeit. Zum Entstehungszeitpunkt des Bildes setzte sich in Basel die Reformation durch, wahrscheinlich war Meyer daran gelegen, in dieser Situation noch einmal seinen Glauben zu betonen. Ein weiterer möglicher Grund liegt darin, dass Meyer vom nunmehr calvinistisch dominierten Rat der Stadt der Korruption und Hinterziehung öffentlicher Gelder angeklagt wurde. Zu einer Verurteilung und einem möglichen Todesurteil kam es lediglich aufgrund mangelnder Beweislage nicht. In dieser für ihn bedrohlichen Krise wollte sich Meyer eventuell demonstrativ Marias Schutz unterstellen bzw. seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Auch das genaue Entstehungsjahr ist unbekannt – man hat jedoch aufgrund bestimmter Darstellungsdetails und der urkundlich verbürgten Lebensdaten Anna Meyers, dargestellt rechts im Vordergrund, auf eine Entstehung im Jahr 1526 geschlossen. Die ungewöhnliche Rahmenform des Gemäldes legt nahe, dass das Gemälde in eine Architektur, beispielsweise der Hauskapelle des Stifters in dessen Weiherschlösschen in Gundeldingen vor den Toren Basels eingepasst war, jedoch ist nicht belegt, dass sich das Gemälde tatsächlich jemals dort befand. Stephan Kemperdick geht davon aus, dass das Gemälde als Epitaph für die Familie Jakob Meyers konzipiert und für die Aufstellung in einer Basler Kirche, möglicherweise der Martinskirche, bestimmt war, in der sich auch die Solothurner Madonna, das zweite große Madonnenbildnis Holbeins befand. Dafür spricht, dass in der Martinskirche die erste Frau Jakob Meyers und später auch die Tochter Anna und ihr Ehemann bestattet wurden. Es liegt also nahe anzunehmen, dass Meyer dort eine Familiengrabstätte plante, zumal die Kirche als Grabstätte Basler Bürger beliebt war. Vermutlich wurden beide Gemälde vor dem Bildersturm an ihre Eigentümer herausgegeben, wie dies für die Solothurner Madonna belegt ist, die an Karfreitag 1528 abgenommen und von ihrem Auftraggeber, dem Stadtschreiber Johannes Gerster, in Sicherheit gebracht wurde. Denkbar ist, dass beide Gemälde, die nicht nur eine ähnliche Form, sondern auch nahezu dieselbe Größe aufweisen, ihren Aufstellort in den Grabnischen des Seitenschiffs der Martinskirche hatten, wo auch nach der Reformation weiterhin Epitaphien angebracht wurden, die dort bis heute vorhanden sind. Infrarot- und Röntgenaufnahmen des vermutlich auf Nadelholz ausgeführten Gemäldes, die 1999 im Darmstädter Schlossmuseum angefertigt wurden, konnten zeigen, dass nur die Darstellung von Madonna und Kind der Vorzeichnung entsprechend ausgeführt wurden. An allen anderen Figuren wurden während der Entstehung des Bildes immer wieder Korrekturen der Haltung und Blickrichtung vorgenommen. Diese Untersuchungen ergaben auch, dass die Porträtzeichnungen nicht wie bisher angenommen vor dem Beginn der Arbeiten an dem Gemälde, sondern erst im Verlauf der Bildentstehung angefertigt wurden. Sie weisen Spuren einer mechanischen Übertragung der Konturen auf die Leinwand bzw. einen Zwischenkarton auf. Spätere Überarbeitung Mit bloßem Auge kann man erkennen, dass das Gemälde nachträglich weiter verändert wurde: ursprünglich fielen die langen Haare Anna Meyers, wie auf Holbeins erhaltener Kreidezeichnung, offen über die Schultern und ihre Mutter Dorothea Kannengießer trug wie die verstorbene Magdalena Bär ein breites weißes Kinnband und eine voluminöse Haube, die den Großteil des Gesichtes verdeckten. Holbein, der im Herbst 1528 aus England nach Basel zurückgekehrt war, passte mit diesem neuen Auftrag Meyers das Aussehen Annas an deren veränderten gesellschaftlichen Status an. Statt der offenen Haare wird sie nun als heiratsfähige junge Frau mit dem „Jungfernschapel“ gezeigt. Dorothea Kannengießer dagegen präsentiert sich in modernerer Tracht. Diese Überarbeitung nach nur wenigen Jahren zeigt, dass es der Familie des Auftraggebers darauf ankam, zeitgemäß und zeitnah abgebildet zu sein. Die Bildaussage wird durch die Aktualisierung der Darstellung gleichsam mit aktualisiert und erneuert. Die noch vor kurzem vertretene Auffassung, Magdalena Bär sei ebenfalls erst 1528 eingefügt und das Gemälde damit zum Memorialbild umgestaltet worden, konnte 1999 durch die Infrarot- und Röntgenaufnahmen widerlegt werden. Bildbeschreibung Aufbau Im Zentrum des Bildes steht Maria, deren Gestalt über den eigentlichen Bildrahmen hinausragt. Auf das breit rechteckige Bildformat ist ein Halbkreis aufgesetzt, dessen Durchmesser etwa der halben Breite des Rechteckes darunter entspricht. Der Mantel der Madonna bildet die äußeren Konturen einer gedachten Pyramide. Optisch wird das Bild durch den roten Gürtel Marias längs geteilt. Dabei fällt den drei Frauen auf der rechten Seite etwas mehr als ein Drittel, den drei männlichen Figuren links fast zwei Drittel des Bildraumes zu. Der Größe nach angeordnet, sind die knienden männlichen Figuren zur vorderen Mitte hin versetzt. Der Betrachter sieht die Figuren jeweils von vorn, die Gesichter Meyers und des Knaben im Dreiviertelprofil, das des Kleinkindes von vorn. Auf der Männerseite folgen die Figuren so nahezu der Bilddiagonalen. Dagegen ist auf der schmaleren Frauenseite die Hinwendung zur Mitte nur angedeutet, indem die mittlere Figur etwas nach rechts gerückt ist. Die drei Frauen sind vom Betrachter abgewandt hintereinander im Profil dargestellt. Nur Dorothea Kannengießer wendet ihren Blick ein wenig dem Betrachter zu. Durch das weiße Kleid der Anna Meyer und die ebenfalls weißen Hauben der beiden Ehefrauen Meyers wirkt diese rechte Seite insgesamt heller. Auf beiden Seiten erscheint aber jeweils die vorderste Figur am hellsten, wodurch die Tiefenwirkung des Bildes verstärkt wird. Auffällig sind neben dem roten Gürtel der rote Strumpf der Knabenfigur, der rote Rosenkranz Anna Meyers und das rote Band, das den Mantel der Madonna vor deren Brust zusammenhält. Diese scharlachroten Gegenstände beschreiben ein Dreieck, das beide Seiten des Bildes mit der Madonnengestalt verbindet. Kopf und Arme der Madonna, die das Jesuskind halten, nehmen einen eigenen fast abgetrennten Bildraum oberhalb der Knienden ein. Vervollständigt man gedanklich das Halbrund der Muschelnische, die den Kopf Marias hinterfängt, zum Kreis, so entsteht ein kreisrundes Medaillon mit Maria und dem Kind. Den Mittelpunkt dieses Kreises bildet eine einzelne Perle, die das zarte durchscheinende Untergewand knapp oberhalb der goldenen Brosche im Ausschnitt der Madonna zusammenhält. (Auf Reproduktionen ist dies kaum zu erkennen, weil der zarte Stoff die Haut durchscheinen lässt und die Perle ebenfalls den Hautton reflektiert, so dass beides auf Abbildungen mit dem Hautton verschmilzt.) Diese gedachte Kreislinie kreuzt den Knoten des roten Gürtels, der damit den Bildraum Mariens, in dem die Stifterfamilie nicht vorkommt, vom restlichen Bild abteilt. Der zum Betrachter hin ausgestreckte linke Arm des Jesuskindes lotet diesen Raum gleichsam zur Kugel aus, die durch die Muschelform im Hintergrund bereits angedeutet ist. Der Kopist Sarburgh „korrigierte“ die gestauchte Perspektive von Holbeins Komposition und verlängerte die Muschelnische nach oben hin. Dadurch ging die Kreisform in der Komposition verloren, die Perle im Ausschnitt der Madonna rückte aus dem Zentrum und verschob so auch die inhaltliche Aussage des Bildes. Dargestellte Personen und Gegenstände Das detailgetreu gemalte Bild zeigt Maria vor einer steinernen Nische, die hinter und über ihrem Kopf mit einer braunmarmorierten Muschel abschließt, welche auf zwei verzierten vorspringenden Konsolen ruht. Zu beiden Seiten der Konsolen wird der Blick oberhalb einer halbhohen Mauer auf ein kleines Stück Himmel und Äste von Feigenbäumen freigegeben. Das goldblonde Haar Marias fällt unter der goldenen perlenbesetzten Bügelkrone wellig über ihre Schultern. Sie trägt ein dunkelblaues faltenreiches unter der Brust zusammengerafftes Gewand mit weiten zweiteiligen Ärmeln. Der scharlachrote, vor dem Bauch geknotete Stoffgürtel fällt lose herab. Ein ebenfalls scharlachrotes schmales Band, befestigt an großen runden Goldknöpfen, hält den weiten dunkelgrauen Mantel, der sich um die Schultern Marias und um die neben und vor ihr knienden Personen legt, vor der Brust zusammen. An den Unterarmen trägt sie mit Bändern befestigte (genestelte) unten offene Unterärmel aus einem golden glänzenden Stoff. An den Handgelenken sind die Ärmelsäume des Untergewands sichtbar. Im Ausschnitt wird das zarte Untergewand von einer einzelnen Perle zusammengehalten. Unterhalb des weiten Gewandes schaut die mit einem schwarzen Schuh bekleidete Spitze des rechten Fußes Marias hervor. Das nackte Jesuskind sitzt auf dem angewinkelten linken Arm Marias. Es stützt seinen rechten Arm und Kopf an ihre Schulter und deutet mit dem linken ausgestreckten Arm nach vorn. Das von blonden Locken umrahmte Gesicht hat einen ernsten, geradezu leidenden Ausdruck. Marias Kopf neigt sich dem Kind zu, ihr in sich gekehrter Blick ist unter halbgesenkten Lidern nach unten gerichtet. Ihre Hände liegen lose übereinander. Zur rechten Hand der Madonna kniet hinten mit gefalteten Händen Jakob Meyer zum Hasen, davor ein etwa zwölfjähriger Knabe, der gerade im Begriff scheint, aufzustehen. Meyer trägt über einem weißen fein gefältelten Hemd einen schwarzen pelzgefütterten Mantel. Sein Blick ist auf die ausgestreckte Hand des Jesuskindes gerichtet. Der Knabe trägt ein aufwendiges braunes Gewand mit dunklem Samtbesatz an Ausschnitt und Säumen. Die quergeschlitzten Ärmel sind zusätzlich mit Goldknöpfen verziert. An dem vorgestreckten Bein trägt er einen roten Strumpf und einen schwarzen Schuh. An seinem Gürtel hängt eine grüne mit Quasten verzierte Tasche. Sein Blick ist auf einen Punkt unterhalb des Bildrandes gerichtet. Mit den Händen umfasst der Knabe von hinten ein nacktes männliches Kleinkind, das der Szene den Rücken zukehrt. Das blondgelockte stehende Kind hält sich mit der rechten Hand an dem Knaben und deutet mit der linken Hand auf eine Teppichfalte an der unteren Bildmitte. Sein Blick scheint der Geste zu folgen. Von den gegenüber angeordneten Frauengestalten korrespondieren die beiden hinteren, Meyers verstorbene Ehefrau Magdalena Bär und seine zweite Ehefrau Dorothea Kannengießer, mit Jakob Meyer. Magdalena Bär scheint ihn direkt anzublicken. Sie trägt eine weiße gefaltete Überhaube und eine das Kinn verhüllende Unterhaube sowie einen weiten gefältelten schwarzen Mantel, aus dem nur die Fingerspitzen ihrer linken Hand hervorschauen. Von ihrem Gesicht ist nur wenig sichtbar, und ihr Mantel scheint in Mantel und Gewand der Madonna überzugehen. Dorothea Kannengießer ist dagegen wie ihr Mann im Dreiviertelprofil dargestellt. Sie trägt ebenfalls eine weiße Haube, die jedoch das Gesicht freilässt. Sie trägt ein pelzgefüttertes Kleid aus schwarzem Damast mit Samtbesatz an Ärmelsäumen und Kragen, das nur ihre Fingerspitzen freigibt, die einen braunen Rosenkranz halten. Beide Frauen tragen die repräsentative Kirchgangsbekleidung ihrer jeweiligen Lebenszeit. Zuvorderst kniet Dorothea Kannengießers Tochter Anna Meyer, dargestellt im Profil, die mit einem detailgetreu ausgeführten weißen Kleid mit dunkler Stickerei und goldenen Bordüren bekleidet ist. Die geflochtenen Haare sind mit breiten Bändern, dem so genannten Jungfernschapel, am Kopf befestigt und mit Rosmarinzweigen, Nelkenblüten und roten Fransen geschmückt. Der rote Rosenkranz, den sie in der Hand hält, hängt vor ihrem Körper herab. Auffallend ist, dass die acht dargestellten Figuren keinen Blickkontakt halten, zum Teil sogar aus dem Bildraum herauszublicken scheinen. Nur Jakob Meyer selbst scheint in bewusster Beziehung zu Maria und dem Kind zu stehen, alle Figuren wirken auf seltsame Weise einsam und unbeteiligt. Über das Podest auf dem die Figuren stehen, ist ein kostbarer geometrisch gemusterter Teppich gebreitet. Zu Füßen der Madonna schlägt der Teppich eine auffällige Falte, die sich nach links zum unteren Bildrand hin aufwirft und die wirklichkeitsgetreue Malweise unterstreicht. Symbolik Die Deutung der einzelnen Bestandteile von Holbeins Komposition ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Es besteht jedoch weitgehend Konsens, dass das Gemälde als katholisches Glaubensbekenntnis Meyers im Angesicht der Reformation zu verstehen ist, das insbesondere die durch die Reformatoren angegriffene Rolle Marias im Heilsgeschehen betont. Vermutlich führte Holbein hierbei nicht nur einen Wunsch seines Auftraggebers aus, sondern stellte auch seine eigene Überzeugung dar, denn er hielt auch nach dem Basler Bildersturm im Februar 1529 weiter am alten Glauben fest und weigerte sich, der vom Rat der Stadt Basel erlassenen reformatorischen Gottesdienstordnung Folge zu leisten. Das Gemälde vereinigt Merkmale verschiedener einander durchdringender Bildtypen: Familienporträt, Stifterbild, Andachtsbild vom Typus der Schutzmantelmadonna und Sacra Conversazione, eine in Italien verbreitete Szenerie mit Maria und Heiligen vor einer Architektur. Allerdings enthält die Komposition mit der Teppichfalte ein Element der Bewegung, eine Manifestation eines Ereignisses, der diesen traditionellen, eher statischen Formen fehlt. Neben der Verehrung Mariens in der marianischen Ikonographie, mit der das Bild gleichsam aufgeladen ist, dürfte damit die Hauptaussage des Gemäldes die darin verkörperte Teilnahme der Figuren an einem aktuellen religiös motivierten Ereignis sein. Die Madonna Das Gesicht der Madonna entspricht einem Schönheitstypus, den Holbein um 1524 erstmals gebraucht und der sich auch in seiner Darstellung von Venus und Amor (1524/25) und dem fast identischen Gemälde der Lais Corinthiaca aus dem Jahr 1526 findet. Die Madonna unterscheidet sich mit ihren idealisierten Gesichtszügen deutlich von den Porträts der Stifterfamilie. Ikonographisch lehnt sich die Darstellung der Madonna an italienische Vorbilder an. Zunächst fällt der Typus der Schutzmantelmadonna ins Auge. Allerdings ist der Mantel, der sich, von den Schultern Marias herabfallend, schützend um die Stifterfamilie legt, hier nur vage angedeutet. Anders als bei dem traditionellen Bildtyp sind die Schutzsuchenden hier kaum verkleinert dargestellt. Auch legt sich der Mantel nur leicht um die Schultern Meyers und seiner ersten Frau, anstatt zeltartig über die Köpfe der Stifter ausgebreitet zu sein. Ein weiterer ikonographischer Typus der italienischen Malerei, den Holbein hier aufgreift, ist die stehende Madonna vor dem Thron oder Sacra Conversazione. Obwohl bei der Darmstädter Madonna kein Thron zu sehen ist, weist die Anordnung der Figur vor der Muschelnische große Ähnlichkeit mit früheren Darstellungen der Madonna vor dem Thron auf. Die Mitteltafel des Hauptaltars der Chiesa del Collegio Papio in Ascona von 1519 kombiniert auf verblüffend ähnliche Weise wie Holbein diesen Typus mit einer Muschelnische und einer Schutzmanteldarstellung. Es ist jedoch unklar, ob Holbein dieses Werk gekannt haben kann. Die Position Marias vor der Nische, die vielfach als beengt oder gestaucht beschrieben wurde, könnte dann damit erklärt werden, dass die Gottesmutter als gekrönte Himmelskönigin sich eben von einem in der Nische platzierten Thron erhoben hat. Auf diese im abgebildeten Moment eben schon vergangene Aktion könnten auch die Teppichfalte und die unter dem Gewand hervorragende Schuhspitze der Madonna hinweisen. Die Muschel Dass eine Muschel (Rocaille) den oberen Abschluss einer Wandnische (Ädikula) bildet, die eine stehende Figur rahmt, ist in der italienischen Renaissancemalerei häufig anzutreffen, meist als antikes Zitat. Auch Holbein hat dieses Motiv zuvor schon mehrfach (in Die Heilige Sippe, um 1519/20, und Maria mit Kind und Ritter in einer Nische um 1523/24) gebraucht. Allerdings ist die Muschel als Bildobjekt bei der Darmstädter Madonna erheblich auffälliger. Symbolisch verweist die Muschel einerseits auf das Motiv der schaumgeborenen Venus, andererseits auf einen ursprünglich heidnischen, später christlich umgedeuteten Muschel-Perle-Mythos. Danach ist Maria „die Muschel, in deren irdischem Körper die edle Perle des Erlösers Jesu Fleisch geworden ist, indem der Hl. Geist … in sie eindringt und das wunderbare Wachstum des Kleinods auslöst.“ Die Muschel weist damit sowohl auf die in der Perle verkörperte Vollkommenheit Christi als auch auf die Jungfrauengeburt hin, denn die Perle wächst in der Muschel und verlässt diese, ohne die Muschel selbst zu verändern. Vor den Mauern des himmlischen Jerusalems Rechts und links ist im Hintergrund eine Mauer zu erkennen, hinter der ein Garten mit Feigenbäumen angedeutet ist, der als hortus conclusus als Metapher für den Garten Eden, das Paradies, gelten kann. Anders als bei Darstellungen von Maria im Rosenhag oder Maria in den Erdbeeren steht die Madonna hier jedoch außerhalb des Paradiesgartens. Christl Auge interpretiert die Kombination aus Mauer, Konsolenkonstruktion und Muschelnische so, dass hier Maria symbolhaft für die porta coeli, das Tor zum Paradies stehe. Inhaltlich ergänzt wird diese Aussage durch die aus zwölf Platten zusammengesetzte Krone, die die biblische Beschreibung des himmlischen Jerusalems aufgreift. Der Feigenbaum Der Feigenbaum, dessen Zweige hinter der Mauer sichtbar werden, erinnert an den Sündenfall und die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Der Feigenbaum steht grundsätzlich für die Versuchung und bildet damit einen Gegensatz zur Rebe als Baum der Erlösung. Allerdings scheint der hier dargestellte Feigenbaum mit dünnen Ranken versehen, die an Reben erinnern. Es ist unklar, ob es sich um ein bewusst hybrid gestaltetes Gewächs handelt oder ob Holbein das genaue Aussehen von Feigenbäumen unbekannt war. Als Attribut Marias symbolisiert der Feigenbaum die neue Eva, die das Paradies wieder für die Menschen öffnen wird, eine Deutung, die durch die doppeldeutige Darstellung als Feige/Rebe unterstrichen wird. Holbein verwendet Feigenzweige jedoch später auch bei den in England entstandenen Porträts, zum Beispiel dem der Lady Guildford. Die Krone Holbeins Darstellung der Madonna verzichtet auf einen Heiligenschein und setzt ihr stattdessen eine schwere Krone auf. Die Darstellung mit Krone erhebt Maria symbolisch zur Ecclesia, zur Personifikation der Kirche. Die Kombination von Platten- und Bügelkrone findet sich allerdings auf keiner anderen Madonnendarstellung. Der Kunsthistoriker Nikolaus Meier hat darauf hingewiesen, dass die Krone der Holbein-Madonna wichtige Merkmale der Reichskrone wiedergibt. Ende des 15. Jahrhunderts kursierten in Süddeutschland sogenannte Heiltumsbüchlein mit Abbildungen der Reichskleinodien, die die genaue Zahl der Platten und das Dekor der Reichskrone variierten, jedoch durch die Merkmale Plattenkrone und Bügel die Reichskrone identifizierbar wiedergaben. Die Marienkrone ist neben einem roten Edelstein ausschließlich mit Perlen geschmückt. Der Perlenschmuck greift die für die Bildaussage konstitutive Muschelsymbolik von Maria als Gottesgebärerin auf. Die zwölf Platten zeigen zwölf Könige, ein Verweis auf die zwölf Stämme Israels und auf die Mauern und Tore des himmlischen Jerusalem. Diese Vereinigung der Verweise auf die Reichskrone als Insigne weltlicher Macht, der zugleich eine immaterielle transzendente Dimension anhaftete, mit der religiösen Ikonographie der Ecclesia kann als Zusammenfassung der politischen Haltung des Auftraggebers Jakob Meyer zum Hasen verstanden werden. Das Jesuskind Das Jesuskind kehrt dem Betrachter beinahe den Rücken zu und streckt ihm den linken Arm geradezu abwehrend entgegen. Die nach unten gerichtete Handfläche verstärkt diesen Eindruck. Möglicherweise soll damit das Sträuben des Jesuskindes gegen eine Trennung von Maria dargestellt werden, wie sie die Reformatoren propagierten, die Maria lediglich als leibliche Mutter Jesu, aber nicht mehr als Teil des Heilsgeschehens ansahen. Eine ähnlich abwehrende Haltung findet sich auf Holbeins 1528 entstandenem Gemälde für den Orgelflügel des Basler Münsters, das hierin von der 1523 entstandenen Entwurfszeichnung abweicht, bei der Maria und Kind noch innig zugewandt erscheinen. Der rote Gürtel Der in kräftigem Rot gemalte Gürtel hat, anders als bei anderen Madonnendarstellungen Holbeins, keine reale Funktion, er rafft das weite Gewand nicht zusammen, sondern hängt lose daran herab. Ganz offensichtlich bezieht sich die Darstellung auf die Legende der Gürtelspende Mariens. Danach hatte der Apostel Thomas an der Himmelfahrt Mariens gezweifelt. Die Gottesmutter erschien ihm daraufhin und überreichte ihm als Beweis für ihre leibliche Himmelfahrt ihren Gürtel. Die Betonung des Gürtels wäre damit eine Bekräftigung der assumptio Mariae, der Aufnahme Marias in den Himmel. Die ungewöhnliche und auffällige Farbe weist dagegen auf das Blut und die Passion Christi sowie auf den Tod, im Kontext der Reformation möglicherweise auch auf blutige Auseinandersetzungen um den Glauben hin. In der Bibel wird das Umgürten mehrfach mit der Verleihung göttlicher Kraft gleichgesetzt. Daneben kann die abstrahierte Form des Gürtels aber auch als Gabelkreuz gelesen werden. Das Jesuskind deutet mit einem Fuß direkt auf die Gabelung und weist damit auf seine künftige Passion hin. Der Gürtelknoten bildet das optische Zentrum der Komposition. Passion und Himmelfahrt werden damit zur zentralen Aussage des Bildes. Denkbar ist aber auch ein Verweis auf das Y-Zeichen, als Symbol für Herkules am Scheideweg, ein Thema das für die Humanisten besondere Bedeutung besaß und mehrfach in reformationskritischen Zusammenhängen gebraucht wurde. Der Knabe und das Kleinkind Der ältere Knabe wirkt „physiognomisch wie ein jüngerer Bruder der Gottesmutter“, deren Haltung er zu imitieren scheint. Jochen Sander deutet den Knaben als motivische Übernahme der Engelfigur aus der Felsgrottenmadonna Leonardo da Vincis, ein Gemälde, das Holbein vermutlich kannte und an dem er sich auch bei der Darstellung der Köpfe Marias und des Jesuskindes orientierte. Der modisch gekleidete Knabe trägt eine auffällige grüne Gürteltasche, ein gängiges Attribut des heiligen Pilgers Jakobus. Es scheint daher zumindest denkbar, dass es sich um eine Anspielung auf den Namenspatron des Stifters handelt. Diese Interpretation des Knaben als Heiligen oder Engel hält die Kostümhistorikern Jutta Zander-Seidel auch wegen dessen aufwendiger und modischer Kleidung für überzeugend. Von der Stifterfamilie hebt sich der Knabe auch durch den Zierrat an der Kleidung, der in dieser Form damals dem Adel vorbehalten war, ab. Es fällt zudem auf, dass er weder kniet noch die Hände zum Gebet gefaltet hält. Dafür, dass beide Knaben derselben Kategorie angehören (also beide gewöhnliche Menschen, oder beide Heilige sind), spricht auch, dass ein Stifter einen Heiligen nicht umarmen und stützen dürfte – dies käme eine Umkehrung ihrer Rollen gleich. Traditionell wurden der Knabe im braunen Gewand und das nackte Kleinkind als früh verstorbene Söhne Meyers gedeutet. In der neueren Fachliteratur wird das nackte Kleinkind jedoch als Johannesknabe gedeutet, also eine Darstellung Johannes des Täufers als Kind. Geht man davon aus, dass das Gemälde als Altarbild konzipiert war, dann würde die deutende Geste des Johannesknaben auf die Gaben der Eucharistie auf dem Altartisch hinweisen. Das Kind ist wie die Madonna und das Jesuskind idealisiert dargestellt. Auch hier ist eine Referenz Holbeins an Leonardo da Vincis Felsgrottenmadonna plausibel, wo ebenfalls Jesus und Johannes als Knaben dargestellt sind. Damit wäre Holbeins Gemälde die erste gemalte Darstellung des in Italien schon früher gängigen Motivs der Madonna mit Jesus und Johannes nördlich der Alpen. Ein anderer neuer Ansatz geht davon aus, dass es sich bei den beiden Knaben, die im Bildvordergrund wie Pendants zu Anna Meyer dargestellt sind, um Meyers Söhne handelt, und greift damit die traditionelle Deutung wieder auf. Aus Unterlagen der Kaufmannszunft "Zum Schlüssel", in die sich Meyer einkaufte, geht hervor, dass er versuchte, auch seinen 1504 geborenen Sohn ebenfalls aufnehmen zu lassen. Da bei Meyers Tod als Erben nur Dorothea Kannengießer und Anna Meyer genannt werden, war dieser Sohn wohl wie seine Mutter Magdalena Baer schon vor Meyer und möglicherweise auch schon vor Entstehung des Gemäldes verstorben. Dies könnte die sehr stilisierte und weniger lebensnahe Darstellung des älteren Knaben erklären. Bei dem nackten Kleinkind könnte es sich um einen weiteren, zwar getauften, aber kurz nach der Geburt verstorbenen Sohn, ein nach damaligem Verständnis "unschuldiges Kindlein" handeln, was die Nacktheit der Darstellung erklären würde. Diese Deutung passt zu der Annahme, dass es sich bei dem Gemälde um ein Grabdenkmal handelte: mit seiner Handgeste verweist das Kind auf das darunterliegende Grab. Die Teppichfalte Vordergründig dient der kostbare Orientteppich der Nobilitierung der Madonna. Dass er sich über die volle Breite des Bildes erstreckt, bezieht die Stifterfamilie in den intimen Raum der Madonnenszene mit ein. Die überaus realistische Malweise des Teppichs zieht schon für sich genommen den Blick des Betrachters auf sich. Der „Kunstgriff“ Holbeins, den Teppich unterhalb der Füße der Madonna eine lange schräg nach links verlaufende Falte schlagen zu lassen, führt den Blick des Betrachters noch weiter, hin zur Bildmitte und zu dem zentralen Gürtel der Madonna. Daneben bringt die Teppichfalte ein Moment der Bewegung ins Bild, als hätten sich die links Knienden Personen eben erst dort niedergelassen und dabei den Teppich aufgeworfen, oder als wäre die Madonna eben von ihrem Thron aufgestanden und hätte mit der unter dem Gewand sichtbaren Fußspitze den Teppich vorgeschoben. Christl Auge interpretiert die augenfällige Teppichfalte dagegen als abstrakte Schlangendarstellung, also als Verkörperung des Bösen, auf die das nackte Kleinkind, das sie als Verkörperung der Seele deutet, hinweist. Den Teppich selbst deutet sie als Zeichen der Bedrohung durch die Türken. Eine Teppichfalte erscheint als Motiv auch in Holbeins späterem, ebenfalls symbolisch aufgeladenen Gemälde Die Gesandten (1533). Orientteppiche wurden in Europa schon im Mittelalter geschätzt, seit dem 14. Jahrhundert werden sie auf italienischen, seit dem 15. Jahrhundert auch auf niederländischen Gemälden wiedergegeben. Die dargestellten Teppiche stammen meist von anatolischen Knüpfern. Das Teppichmuster wurde 1877 von Julius Lessing umgezeichnet und mit erhaltenen Originalen verglichen. Obwohl er keinen originalen Teppich mit identischem Muster finden konnte, gelang es ihm, aufgrund stilistischer Unterschiede in der Darstellung nachzuweisen, dass die Dresdner Fassung des Gemäldes die jüngere, die Darmstädter Version mit ihrem streng geometrischen Teppichmuster hingegen die ältere und damit originale war. Aufgrund von Lessings Vergleichen etablierte sich der Begriff Holbein-Teppich für derartige mittelalterliche Orientteppiche. Der Rosenkranz Der Rosenkranz ist eng mit dem Glaubensbekenntnis verknüpft, mit dem jedes Rosenkranzgebet beginnt. Die rote Farbe des Rosenkranzes, den Anna Meyer in der Hand hält, entspricht der Farbe des Gürtels und stellt damit die Verbindung zwischen Gebet und Passion her, die den sogenannten „schmerzhaften Rosenkranz“ ausmacht, der im Bild wohl dargestellt ist. Unterhalb der Hände Anna Meyers sind die drei einzelnen Perlen zu sehen, die den eigentlichen Kranz mit dem Kreuz, an dem das Kranzgebet beginnt, verbinden. Anna Meyer hält also gerade das Kreuz in der Hand, ihr Glaubensbekenntnis ist damit im Bild festgehalten. Nach der Legende hat Maria selbst den heiligen Dominikus den Rosenkranz zu beten gelehrt. Luther griff die Rosenkränze scharf an: „sie und ihre Frucht werden am meisten von denen vermaledeiet, die mit viel Rosenkränzen sie benedeien“. Möglicherweise besteht der rote Rosenkranz aus roten Korallen, sie galten als Schutz vor bösen Geistern und Krankheiten. Auch Annas Mutter Dorothea Kannengießer hält einen, wenn auch zurückhaltender gefärbten Rosenkranz. Ob Magdalena Bär ebenfalls einen Rosenkranz hält, lässt sich nicht erkennen, ihre Handhaltung deutet aber darauf hin. Als Medium des Glaubens verbinden die Rosenkränze das persönliche Glaubensbekenntnis gerade auch der Marienverehrung der dargestellten Frauen mit dem Symbolgehalt des Gemäldes. Bildgattung Die Darmstädter Madonna lässt sich keiner Bildgattung eindeutig zuordnen. Anders als um 1500 bei Stifterbildnissen noch üblich, sind die Stifter hier nicht winzig klein dargestellt, der Kontrast zur Madonna ergibt sich nur aus der knienden Haltung der Stifter neben der aufrecht stehenden Madonna. Eine vergleichbar ungewöhnliche Einbeziehung eines Stifters in die Darstellung göttlichen Geschehens zeigt aber beispielsweise Joos van Cleves Triptychon mit der Beweinung Christi von 1524. Zugleich funktioniert das Gemälde auch als Familienporträt und weist damit auf die symbolisch mit Accessoires aufgeladenen Porträts, die Holbein später in England anfertigen wird, hinaus. Gegen die Einordnung als Altarbild sprechen ebenfalls die prominent und lebensgroß dargestellten Stifterfiguren. Hauptfunktion des Gemäldes dürfte die eines Andachtsbildes oder Epitaphs sein, wobei die im 15. Jahrhundert noch verbreiteten traditionellen Bildtypen der Schutzmantelmadonna und der italienischen Sacra Conversazione jeweils nur angedeutet sind: Der Schutzmantel streift den Stifter nur lose, und auch hier fehlt der traditionelle Größenunterschied zwischen schützender Madonna und winzigen Schutzsuchenden. Anders als bei der traditionellen Sacra conversazione steht die Madonna nicht im Zentrum einer Konversation mit Heiligen, sondern bezieht sich direkt auf die Stifter selbst. Für ein Epitaph finden sich vergleichbare Gestaltungen deutscher und niederländischer Epitaphien und Memorialgemälde, die Stifterfiguren in hervorgehobener Position mit Figuren oder Szenen der Heilsgeschichte kombinieren. In der Funktion als Epitaph wäre das Gemälde, vermutlich mit einer weiteren Tafel um Namen und Sterbedaten der dargestellten Personen ergänzt, für die Kirche, in der die Stifter bestattet waren bzw. werden sollten, bestimmt gewesen. Die im 19. Jahrhundert vermutete Funktion als Votivbild gilt inzwischen als widerlegt. Einordnung in das Werk Holbeins Bei Holbeins Ankunft in Basel im Jahr 1515 bestand dort noch ein Markt für katholisch-religiöse Bildnisse. Mit dem Aufkommen der Reformation in der Stadt um 1520 dürfte die Nachfrage nach solchen Bildthemen zwar deutlich abgenommen haben, trotzdem sind die meisten und gerade auch die großformatigen Tafelbilder, die Holbein in der Basler Zeit vor seinem ersten Englandaufenthalt im Herbst 1526 anfertigte, religiösen Themen gewidmet. Holbein nahm dabei Aufträge aus beiden konfessionellen Lagern an. Hauptsächlich handelte es sich dabei jedoch um (katholische) Altarbilder, von denen viele dem Bildersturm 1529 zum Opfer fielen. Gerade die besonders bekannten religiösen Werke Holbeins aus dieser Zeit, die Solothurner Madonna, die Darmstädter Madonna und Der Leichnam Christi im Grabe sind jedoch in ihrer Funktion unklar. Wie bei der Darmstädter Madonna ist auch bei der 1522 entstandenen Solothurner Madonna zwar der Auftraggeber, nicht aber der Aufstellungsort bekannt. Beide Gemälde sind in ihren Maßen und der besonderen nach oben aus einem Rechteck ausgreifenden Form sehr ähnlich und wurden lange Zeit für Altarbilder gehalten, während inzwischen auch die Funktion von Epitaphen, also Gedächtnisbildern, oder eine Doppelfunktion plausibel erscheint. Anders als bei dem späteren Gemälde für Jakob Meyer zeigt das Solothurner Bild Maria und das Kind auf einem Thron sitzend, während rechts und links davon die Heiligen Martin und Ursus stehen. Die Stifter sind nur in Form ihrer Wappen auf einem Teppich präsent, der sich auch auf diesem Gemälde zu Füßen der Madonna befindet. Das Gemälde entspricht damit dem Bildtyp der Sacra Conversazione. Die Darmstädter Madonna ist dagegen mit ihren vielfältigen ikonografischen Bezügen weitaus komplexer angelegt. Die fast zeitgleich mit der Solothurner Madonna entstandene Christusdarstellung ist in Format und Drastik der Darstellungsweise innerhalb des Werkes Holbeins einzigartig. Diese beiden ungewöhnlichen Gemälde – Christus im Grabe und die Darmstädter Madonna – lassen vermuten, dass Holbein seinen Auftraggebern hier selbst thematische und ikonografische Vorschläge unterbreitete. Mit der endgültigen Übersiedlung nach England 1532 verschiebt sich der Schwerpunkt von Holbeins Schaffen hin zur Porträtmalerei, religiöse Themen treten in den Hintergrund. Geschichte des Gemäldes Die Madonna auf dem Kunstmarkt Nach dem Tod Jakob Meyers erbte seine Tochter Anna das Gemälde. Das Bild blieb bis 1606 im Familienbesitz, dann verkauften die Nachkommen Anna Meyers das Gemälde für 100 Goldkronen an den Basler Diplomaten Johann Lukas Iselin. Nach dessen Tod 1626 erwarb der Amsterdamer Kunsthändler Michel Le Blon, der schon mehrere Werke Holbeins besaß, das Gemälde für 1000 Imperiales. Vermutlich um auf dem Kunstmarkt mehr Profit zu erzielen, ließ Le Blon das Gemälde von Bartholomäus Sarburgh kopieren. Auch Remigius Faesch II, ein Nachkomme Anna Meyers, bat Sarburgh um Kopien der Abbildungen von Anna Meyer und dem Knaben. Faesch besaß Holbeins Doppelporträt von Meyer und seiner zweiten Ehefrau und wollte mit den Kopien möglicherweise seine Ahnengalerie vervollständigen. Le Blon verkaufte das Original für 3000 Gulden an den Bankier Johannes Lössert in Amsterdam. Die Kopie ging ebenfalls an einen Amsterdamer Bankier, der das Gemälde um 1690 einem venezianischen Gläubiger übereignete. Dieser wiederum vermachte das Bild dem Cavaliere Zuane Dolphin (auch: Dolfino), wo es dann von Absolventen der Grand Tour gerne besichtigt wurde. 1743 erwarb König August III. von Sachsen und Polen die inzwischen berühmt gewordene Kopie von Dolphin. Diese Fälschung gelangte so unter dem Namen Holbein’sche Madonna in die Dresdner Gemäldegalerie. Das Original ging von Lössert an Jakob Cromhout und wurde 1709 zusammen mit dessen Gut versteigert. Danach gelangte es in den Besitz der Herzöge von Lothringen und von dort an den Kunsthändler Alexis Delahante. 1822 stellte Delahante das Gemälde im Salon seines Schwagers, des Komponisten Gaspare Spontini, in Berlin aus. Prinz Wilhelm von Preußen, Bruder des preußischen Königs Friedrich Wilhelms III., kaufte das Gemälde als Geburtstagsgeschenk für seine Frau, Prinzessin Marianne von Hessen-Homburg. Das Gemälde befand sich dann zunächst im Berliner Stadtschloss, in dessen Grünen Salon es hing, bis es 1852 nach Darmstadt überführt wurde, nachdem Prinzessin Elisabeth von Preußen, die den Prinzen Karl von Hessen-Darmstadt geheiratet hatte, das Kunstwerk geerbt hatte, das damit in den Familienbesitz der Großherzöge von Hessen und bei Rhein überging. Ein Versuch, das Gemälde im Jahr 1919 für das Kunstmuseum Basel zu erwerben, blieb trotz des angebotenen Kaufpreises von 1 Mio. Schweizer Franken erfolglos. Das Haus Hessen verweigerte auch eine Leihgabe für die Ausstellung anlässlich der 400-Jahrfeier des Holbeinschen Wirkens in Basel 1923. Von Darmstadt wurde das Gemälde während des Zweiten Weltkrieges 1943 nach Schloss Fischbach in Schlesien ausgelagert und so vor der Zerstörung beim Brand des Darmstädter Schlosses 1944 bewahrt. Im Februar 1945 gelangte das Kunstwerk, nachdem es knapp einer weiteren Auslagerung nach Dresden unmittelbar vor den Luftangriffen auf Dresden entgangen war, zusammen mit anderen nach Osten ausgelagerten Kunstwerken nach Coburg, von wo es im Dezember 1945 von seinen hessischen Eigentümern unter abenteuerlichen Umständen zurück nach Schloss Wolfsgarten bei Darmstadt geholt werden konnte. 1967 schmückte eine Reproduktion der Dresdner Kopie des Gemäldes die Privaträume des Schurken Blofeld im Film James Bond 007 – Man lebt nur zweimal. Original und Fälschung: Der Dresdner Holbeinstreit Im 19. Jahrhundert kam es zum Streit, welche der beiden Fassungen, die in der Gemäldegalerie in Dresden gezeigte oder die im Darmstädter Schloss aufbewahrte, das originale Werk sei. Dabei wurde das Dresdner Gemälde, das sich später als Kopie herausstellte, von den Zeitgenossen und auch von damaligen Künstlern vielfach als das schönere, vollendetere angesehen. Der Kopist hatte, als er im 17. Jahrhundert Holbeins Gemälde kopierte, einige Veränderungen vorgenommen, die dem Zeitgeschmack des 19. Jahrhunderts immer noch mehr zu entsprechen schienen als Holbeins Original. Es kam zum großen Streit unter Künstlern, Kunsthistorikern und dem kunstinteressierten Publikum. Eine eigens ausgerichtete Holbeinausstellung 1871 in Dresden sollte dem Publikum Gelegenheit bieten, sich seine Meinung zu bilden und in bereitgestellten Alben niederzuschreiben. Zwar war die Beteiligung gering, doch gilt dies als die erste empirische Untersuchung im Bereich der psychologischen Ästhetik. Gegen die Meinung von Publikum und Künstlern setzten sich schließlich die Kunsthistoriker mit ihrer Auffassung durch, das Darmstädter Gemälde sei das Original. Die Untersuchungen mittels Röntgen und Infrarot bestätigten später den auch mit bloßem Auge erkennbaren Befund, dass das Darmstädter Gemälde mehrfach verändert wurde und dabei mit den erhaltenen Kreidestudien korrespondierte, während das Dresdner Bild nur die letzte Fassung des Darmstädter Bildes wiedergibt. In der Folge schrieb Emil Major 1910 das Dresdner Gemälde dem Maler Bartholomäus Sarburgh zu und datierte die Entstehung auf zwischen 1635 und 1637. Raffael und Holbein: Bedeutung im 19. Jahrhundert Die Betrachtung der Madonna in Dresden, damals das weitaus berühmtere Exemplar, stand unter dem Vorzeichen des Vergleichs mit Raffaels Sixtinischer Madonna, die, ebenfalls in der Dresdner Gemäldegalerie ausgestellt, zur Diskussion der Unterschiede und jeweiligen Vorzüge geradezu einlud. Der Direktor der Dresdner Galerie Julius Schnorr von Carolsfeld hatte 1855 die Gleichrangigkeit der deutschen und italienischen Malschulen propagiert und dies am Beispiel der Holbein’schen und der Sixtinischen Madonnen festgemacht. Holbein verdrängte nun als „Raffael des Nordens“ Albrecht Dürer von der Position des berühmtesten deutschen Künstlers. Im Dresdner Holbeinstreit wurde deshalb die Verteidigung der Echtheit der Dresdner Fassung, die ja als Raffael ebenbürtig eingeschätzt worden war, auch zur national motivierten Aufgabe. Aber selbst nachdem die Dresdner Madonna als Kopie erkannt war, musste sie trotzdem weiter für diese Vergleiche herhalten. Sigmund Freud zog im Dezember 1883 nach einem Besuch in der Dresdner Gemäldegalerie das Fazit: Nach einer im 19. Jahrhundert gängigen, inzwischen aber verworfenen, Interpretation lag der Darstellung eine Legende vom Kindertausch zugrunde: Ein Elternpaar habe für sein krankes Kind gebetet, da sei Maria mit ihrem Sohn auf dem Arm erschienen, habe das Jesuskind abgesetzt und stattdessen das kranke Kind in ihren Arm genommen, von wo es den Eltern zum Abschied zuwinkte. Diese Deutung wurde vor allem an dem Kontrast zwischen dem leidenden Gesichtsausdruck des Jesuskindes und dem fröhlicheren Kleinkind im Vordergrund festgemacht. Teilweise wurde sogar angenommen, es handle sich bei dem kranken Kind um ein Kind des Bürgermeisters, und das Gemälde sei ein Votivbild. Darmstadt und Frankfurt: Der Hessische Museumsstreit Abgesehen von der Evakuierung während des Zweiten Weltkriegs befand sich das Gemälde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Darmstadt und erhielt dadurch die Bezeichnung "Darmstädter Madonna" – wohl auch in Abgrenzung zu Holbeins zweitem großen Marienbildnis, der Solothurner Madonna. Ab 1965 wurde es dort im Schlossmuseum Darmstadts gezeigt. Aus dem Besitz der Erben der hessischen Großherzöge ging es 1997 in das Eigentum der Hessischen Hausstiftung über. Im Jahr 2003 kam das Gerücht auf, die Stiftung wolle das kostbare Gemälde veräußern, um damit Erbersatzsteuer zu bezahlen. Schließlich gab Heinrich Donatus Prinz von Hessen im Juli 2003 bekannt, das Gemälde werde dauerhaft als Leihgabe an das Städelsche Kunstinstitut in Frankfurt gegeben, weil dieses sich immer mehr zur „hessischen Staatsgalerie“ entwickle. Daraufhin kam es zum Streit zwischen den politischen und kulturellen Institutionen in Darmstadt und Frankfurt am Main, die jeweils das Gemälde auf Dauer in ihrer Stadt halten wollten. Im September 2003 konnte der Streit beigelegt werden. Die Hessische Hausstiftung erklärte, „dass die Madonna nach der Ausstellung im Städel, Frankfurt, in die Stadt Darmstadt zurückkehrt. […] Dort soll die Holbein-Madonna nach Abschluss der Renovierung des Landesmuseums ihren Dauerausstellungsplatz finden.“ Das Städel zeigte sodann im Frühjahr 2004 eine Ausstellung mit dem Titel „Der Bürgermeister, sein Maler und seine Familie“, in dessen Mittelpunkt die Madonnendarstellung stand. Erstmals sollte in der Ausstellung auch die Dresdner Kopie neben dem Original gezeigt werden, die dann jedoch aus konservatorischen Gründen nicht ausgeliehen wurde. Ankauf durch die Sammlung Würth, Umzug nach Schwäbisch Hall Die Hessische Hausstiftung kündigte den Leihvertrag aus dem Jahr 2003 zum Ende des Jahres 2010. Das Gemälde blieb zunächst im Städel, ein Ankauf von staatlicher Seite scheiterte jedoch trotz eines Gebotes von 40 Mio. Euro. Die Hessische Hausstiftung verkaufte das Gemälde im Juli 2011 daraufhin zu einem ungenannten Preis, der bei rund 50 Mio. Euro liegen soll, an den Unternehmer und Kunstsammler Reinhold Würth. Es wäre damit eines der am teuersten verkauften Gemälde überhaupt. Seit Januar 2012 ist das Gemälde im Chor der Johanniterkirche in Schwäbisch Hall ausgestellt. Von Januar bis Juli 2016 wurde es im Rahmen einer Holbein-Ausstellung im Berliner Bode-Museum gezeigt. Von August bis November 2016 war es als zentrale Leihgabe zur Eröffnungsausstellung Europa in der Renaissance im neuen Erweiterungsbau des Landesmuseums Zürich zu sehen. „Madonnenkinder“ Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die letzten Nachfahren des Hessen-Darmstädtischen Fürstenhauses, Prinz Ludwig (1908–1968) und seine Frau, Prinzessin Margaret (1913–1997), die „Darmstädter Madonna“ für einen sozialen Zweck zur Verfügung gestellt: Sie liehen das Gemälde an das Kunstmuseum Basel aus und bekamen dafür im Gegenzug die Möglichkeit, jährlich 20 erholungsbedürftige Darmstädter Kinder vier Wochen lang nach Davos zu schicken. Für die Kinder, die an diesen Ferienaktionen teilnehmen konnten, bürgerte sich der Begriff „Madonnenkinder“ ein. Organisiert wurden die Ferien vom Darmstädter DRK, dem Prinzessin Margaret eng verbunden war. Damit die Kinder wussten, wem sie ihre Reise zu verdanken hatten, erhielten sie bei ihrer Abreise eine von Prinzessin Margaret handsignierte Postkarte mit dem Bild der „Darmstädter Madonna“, und bei jeder Anreise war ein Zwischenstopp in Basel zur Besichtigung des Holbein-Gemäldes obligatorisch. Reinhold Würth und der Darmstädter Oberbürgermeister Jochen Partsch ermöglichten den Madonnenkindern ein Wiedersehen mit der „Darmstädter Madonna“ im Oktober 2012 in Schwäbisch Hall, eine erneute Reise fand im August 2015 statt. Michael Kibler griff die Geschichte der Madonnenkinder im Jahr 2005 für einen Roman auf. Literatur Stephan Kemperdick, Michael Roth: Holbein in Berlin: Die Madonna der Sammlung Würth mit Meisterwerken der Staatlichen Museen zu Berlin. Ausstellungskatalog Staatliche Museen zu Berlin. Berlin, 2016, ISBN 978-3-7319-0327-7. Bernhard Maaz: Hans Holbein d.J. Die Madonnen des Bürgermeisters Jacob Meyer zum Hasen in Dresden und Darmstadt: Wahrnehmung, Wahrheitsfindung und -verunklärung. Swiridoff-Verlag, Künzelsau 2014, ISBN 978-3-89929-289-3. C. Sylvia Weber (Hrsg.): Die Madonna des Bürgermeisters Jacob Meyer zum Hasen von Hans Holbein d. J. Swiridoff-Verlag, Künzelsau 2012, ISBN 978-3-89929-237-4. Hans Holbeins Madonna im Städel. Der Bürgermeister, sein Maler und seine Familie. Ausstellungskatalog, Petersberg 2004, ISBN 3-937251-24-3. (Dieser Ausstellungskatalog enthält neben Originalbeiträgen auch fünf bereits zuvor in Zeitschriften erschienene Beiträge. Zahlreiche großformatige Abbildungen). Oskar Bätschmann, Pascal Griener: Hans Holbein d. J. Die Darmstädter Madonna. Original gegen Fälschung. Fischer, Frankfurt am Main 1998. (Kurze Einführung in Geschichte und Deutung des Gemäldes). Christl Auge: Zur Deutung der Darmstädter Madonna. Lang, Frankfurt am Main 1993. (= Dissertation, ausführliche Analyse des Gemäldes). Günther Grundmann: Die Darmstädter Madonna. Eduard Roether, Darmstadt 1959. 2. erweiterte Auflage: Die Darmstädter Madonna. Der Schicksalsweg des berühmten Gemäldes von Hans Holbein d.J. Eduard Roether, Darmstadt 1972. Theodor Gaedertz: Hans Holbein der Jüngere und seine Madonna des Bürgermeisters Meyer. Mit den Abbildungen der Darmstädter und der Dresdener Madonna. Bolhoevener, Lübeck 1872. Gustav Theodor Fechner: Ueber die Aechtheitsfrage der Holbein’schen Madonna: Discussion und Acten. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1871. (Zeitgenössische Dokumentation des Dresdner Holbeinstreits Digitalisat) Georg Haupt: Der Darmstadter Museumsstreit. Eine Verteidigungsschrift. Jena, Diederichs 1904. Michael Kibler: Madonnenkinder, Societätsverlag, Frankfurt am Main, 2011, ISBN 978-3-7973-1004-0 Weblinks Einzelnachweise Marienbildnis Gemälde (16. Jahrhundert) Sammlung Würth Kunst (Basel) Gemälde von Hans Holbein dem Jüngeren Kunsthalle Würth
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rockwell%20B-1
Rockwell B-1
Die Rockwell B-1 Lancer („Lancier“), seit der Übernahme von Rockwell International durch Boeing auch Boeing B-1 genannt, ist ein überschallschneller strategischer Langstreckenbomber, der von der United States Air Force seit 1986 eingesetzt wird. Die Entwicklung des Flugzeugs begann bereits Mitte der 1960er-Jahre, jedoch wurde die B-1A nie in Dienst gestellt, das Projekt wurde 1977 gestoppt. Erst 1981 wurden die alten Pläne wieder aufgegriffen und zur heutigen B-1B Lancer modifiziert. Die ersten Maschinen wurden 1986 übernommen und flogen unter anderem Einsätze über Jugoslawien, Afghanistan und dem Irak. Wesentliches äußeres Merkmal des Flugzeuges sind die Schwenkflügel. Geschichte Planung Anfang der 1960er-Jahre suchte die United States Air Force nach einem Nachfolger für den Boeing-B-52-Bomber, nachdem Robert McNamara das XB-70-Programm 1961 beendet hatte. 1962 begann die Konzeption des sogenannten Supersonic Low Altitude Bomber ( für Überschall-Tiefflugbomber). Ein Jahr später folgte unter dem Decknamen Project Forecast eine Strategieplanung, welche die Nützlichkeit der bemannten Bomber im Vergleich zu see- und landgestützten Interkontinentalraketen einschätzen sollte. Die Nützlichkeit der Bomber bestätigte sich vor allem wegen der Möglichkeit, einen einmal gegebenen Einsatzbefehl zu widerrufen, und so wurden vier Programme zur Planung eines Bombers aufgelegt, nämlich Extended Range Strategic Aircraft ( für Strategisches Flugzeug mit verbesserter Reichweite), Low Altitude Manned Penetrator, Advanced Manned Penetrator und Advanced Manned Penetrating Strategic System. Daraus entwickelte sich 1965 das Advanced Manned Strategic Aircraft (AMSA) ( für Fortgeschrittenes bemanntes strategisches Flugzeug), an dem die Flugzeughersteller Boeing, North American Rockwell sowie General Dynamics beteiligt waren. Dieses Projekt sollte einen Bomber hervorbringen, der durch feindliche Flugabwehr hindurch den feindlichen Luftraum erreichen konnte, was vor allem durch Hochgeschwindigkeitsflüge in niedrigen Höhen erreicht werden sollte. Die Vorstellung der Unantastbarkeit hochfliegender Bomber, die auch der XB-70 zugrunde lag, hatte sich bereits Anfang der 1960er-Jahre als überholt erwiesen. Der Abschuss von Francis Gary Powers’ Lockheed U-2 1960 über der Sowjetunion zeigte, dass Höhe allein keinen Schutz mehr vor Flugabwehrraketen darstellte. Der zukünftige bemannte Bomber musste sein Ziel vielmehr tieffliegend erreichen, um dem Radar zu entgehen. Schließlich rief die Air Force Ende 1969 die Industrie auf, konkrete Entwürfe für einen solchen Bomber vorzulegen. Im Juni 1970 wurde Rockwells Vorschlag angenommen und ein Vertrag über fünf B-1-Prototypen geschlossen, der kurze Zeit später auf vier Flugzeuge verringert wurde. Testflüge Nach einigen durch die Air Force veranlassten Änderungen am ursprünglichen Aussehen und vor allem an der Avionik (nach Bewertung des Mock-Ups im Oktober 1971 gab es insgesamt 297 offiziell festgehaltene Änderungswünsche) begann die Produktion der ersten B-1A in Rockwells Werk in Palmdale, Kalifornien. Der Rollout der Maschine mit der Nummer 74-0158 erfolgte am 26. Oktober 1974, etwa ein Jahr nach dem geplanten Termin. Der erste Flug am 23. Dezember 1974 dauerte 78 Minuten und führte die B-1 auf die Edwards Air Force Base. In den folgenden Monaten gab es weitere Testflüge, am 10. April 1975 durchbrach das Flugzeug zum ersten Mal die Schallmauer. Die zweite Maschine (74-0159) wurde vor allem am Boden getestet, während die dritte (74-0160) ihren Jungfernflug kurz nach dem Rollout am 1. April 1976 hatte. 74-0159 hob das erste Mal am 14. Juni ab und nahm fortan an den Flugtests in Edwards teil. Das Aus für die B-1A Am 1. Dezember 1976 empfahl der Defence System Acquisition Review Council ( für Rat zur Klärung der Beschaffung von Verteidigungstechnologie) zunächst die Anschaffung von 244 Bombern, die Kosten wurden im Haushalt 1978 festgeschrieben. Im Zuge der SALT-Rüstungsbegrenzungsgespräche reduzierte das Pentagon diese Zahl ein halbes Jahr später auf 150. Als schließlich bekannt wurde, dass der Kostenrahmen von 100 Mio. US-Dollar pro Einheit gesprengt werden würde, erklärte der damalige US-Präsident Jimmy Carter am 30. Juni 1977 das Aus für die B-1A; am 6. Juli wurden die Verträge aufgelöst. Dies wird nicht nur den hohen Kosten und den Abrüstungsgesprächen zugeschrieben, sondern auch dem Aufkommen von in der Luft gestarteten Marschflugkörpern, welche die Aufgaben der B-1 erfüllen konnten, ohne Piloten und wertvolle Maschinen dem feindlichen Feuer auszusetzen. Nach Aussage von Ben Rich, dem damaligen Leiter der Lockheed Skunk Works, gab es noch einen weiteren gewichtigen Grund, der aufgrund von Geheimhaltung aber erst später bekannt werden sollte. 1977 war auch das Jahr, in dem die streng geheime Lockheed Have Blue zum ersten Mal flog. Es war der Durchbruch bei der Entwicklung von Tarnkappenflugzeugen (Stealth), der in den 1980er Jahren in der zunächst geheimen Indienststellung des ersten Stealth-Kampfflugzeugs F-117 resultierte. Nachdem die Carter-Regierung von Lockheed über diese Fortschritte in Kenntnis gesetzt worden war, konnte sie nicht zulassen, dass bei der Einführung eines neuen strategischen Bombers Milliarden von Dollar in veraltete Technik gesteckt wurden. Die B-1A hätte beim Eindringen in einen gut verteidigten Luftraum eine viel zu geringe Überlebenschance gehabt, während ein Stealthbomber in dieser Hinsicht nahezu unverwundbar schien. Im Jahr 1979 haben die USA begonnen, jenen Stealthbomber zu entwickeln: Advanced Technology Bomber (ATB), später bekannt als Northrop B-2. Fortsetzung als Forschungsprogramm Trotz des formellen Aus für die Produktion der B-1A gingen Testflüge der Prototypen ebenso wie der bereits begonnene Bau der vierten Maschine im Rahmen eines Forschungs- und Entwicklungsprogramms weiter. Das vierte Modell (76-0174) hob schließlich am 14. Februar 1979 erstmals ab. Bereits im Oktober des vorangegangenen Jahres hatte der zweite Prototyp mit Mach 2,2 einen neuen Geschwindigkeitsrekord für die B-1 aufgestellt. Als das Forschungsprogramm im April 1981 endete, hatten die vier Flugzeuge insgesamt fast 1.900 Flugstunden in 350 Flügen absolviert. Die B-1B geht in Serie Ab 1980 suchte die Air Force wiederum nach einer neuen Generation von Bombern, welche die B-52 ersetzen konnte. Nachdem mehrere Alternativen verworfen worden waren, kündigte der neue US-Präsident Ronald Reagan am 2. Oktober 1981 schließlich an, dass die Air Force 100 Modelle einer überarbeiteten B-1, die als B-1B firmierte, erhalten sollte. Äußerlich der B-1A sehr ähnlich, hatte sich vor allem das Profil der B-1 geändert: Sie war vorgesehen als Tiefflugbomber; für größere Nutzlast und Reichweite wurde Geschwindigkeit geopfert – außerdem wurden bei der B-1B neue Erkenntnisse der Tarnkappentechnik in den Entwurf eingearbeitet. Die ersten Einsatzmodelle sollten 1986 ausgeliefert werden. Äußerlich nahezu unverändert, wurde vor allem die maximale Waffenzuladung erhöht sowie die Avionik verbessert. Kaum zu sehen ist die radikale Vereinfachung der Triebwerkseinläufe. Während bei der B-1A ein aufwendiges Verstellsystem verwendet wurde, um die Triebwerke in der weiten Flugenveloppe jeweils ausreichend mit Verbrennungsluft zu versorgen, wurde der gesamte Verstellmechanismus bei der B-1B entfernt und durch einen einfachen S-förmigen Einlauf ersetzt, der jedoch nur bis zu einer geringen Überschallgeschwindigkeit verwendet werden kann. Der S-förmige Einlauf verhindert die direkte Sicht auf die vorderen Kompressorschaufeln des Triebwerks. Zusammen mit radarabsorbierenden Beschichtungen sorgt dies dafür, dass eindringende Radarstrahlen sich totlaufen und nicht zurückgeworfen werden. Dafür wurden die B-1A-Prototypen Nr. 2 und 4 zu B-1B-Prototypen umgewandelt, jedoch ging 74-0159 (Prototyp 2) am 29. August 1984 verloren, als die Besatzung beim Schwenken der Tragflächen den Treibstoffförderrechner übersteuerte und sich der Schwerpunkt dadurch aus dem zulässigen Bereich verschob. Die Maschine wurde flugunfähig und stürzte ab. Dabei verlor Rockwells Chefpilot Doug Benefield sein Leben, da die Rettungskapsel mit der Besatzung zwar abgesprengt wurde, jedoch das Fallschirmsystem nicht ordnungsgemäß arbeitete. Auf das Programm hatte das Unglück allerdings wenig Auswirkungen, da die erste „echte“ B-1B (82-0001) bereits am 4. September 1984 ihren Rollout hatte und sechs Wochen später zum Jungfernflug abheben konnte. Die beiden noch existierenden B-1A-Prototypen stehen heute im Strategic Air Command & Aerospace Museum in Ashland, Nebraska und im Wings Over the Rockies Air and Space Museum in Denver, Colorado. Bau Am 20. Januar 1988 unterzeichnete die USAF den Vertrag zur Serienfertigung der B-1B mit dem Hersteller Rockwell International. Es wurden insgesamt 100 B-1B gebaut, der Stückpreis lag bei etwa 200 Mio. US-Dollar. Damit war das Programm mit 20 Mrd. US-Dollar Gesamtbudget das bis dahin kostenintensivste Programm der Air Force. Bemerkenswert ist dies vor allem, da die Produktion des Northrop B-2 bereits beschlossen war und die B-1B nur als Zwischenlösung dienen sollte. Gebaut wurde die B-1 in Palmdale, wobei etwa 60 % der Arbeit auf Rockwell entfielen, während den Rest Zulieferer leisteten. Dies führte zu dem Vorwurf, der Entwurf habe nur deshalb den US-Kongress passieren können, weil sich viele Abgeordnete Zuliefererverträge für Unternehmen in ihren Wahlbezirken versprachen. Gegenwart und Zukunft Ab 1995 wurden zwölf B-1B aus dem Dienst der Air Force zurückgezogen und den Air National Guards von Georgia und Kansas zugeteilt. 2002 wurden diese Verbände aufgelöst und die Bomber wieder unter Befehl der Air Force gestellt. Mit noch 93 aktiven Einheiten (die restlichen Bomber gingen bei Unfällen verloren) zur Jahrtausendwende wurden der Air Force die Kosten für die Unterhaltung der Flotte zu hoch. Ab 2002 wurden daher insgesamt 24 Einheiten im Aerospace Maintenance and Regeneration Center eingelagert, um die gesparten Gelder für Modernisierungsprojekte verwenden zu können. Zehn der Flugzeuge wurden konserviert, die restlichen 14 wurden als Ersatzteilspender zum Ausschlachten freigegeben. Acht Einheiten wurden zusätzlich zur Ausstellung in Museen außer Dienst gestellt. Als die restlichen 60 Bomber über Afghanistan und dem Irak gute Leistungen zeigten, wurde entschieden, sieben der inaktiven Flugzeuge wieder der aktiven Flotte zuzuordnen. Im September 2016 waren noch 62 Maschinen im aktiven Dienst. Im Mai 2006 wurde eine B-1B erstmals auf der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung (ILA) in Berlin ausgestellt. Weil ein Konzept für einen neuen strategischen Bomber (B-3) bisher nur im Anfangsstadium existiert, wird die Flotte der B-1-Bomber noch bis weit ins 21. Jahrhundert hinein im Arsenal verbleiben und zusammen mit den noch aktiven B-52H und der geringen Stückzahl an gebauten B-2A Spirit die gesamte Langstreckenbomberflotte bilden. So plante die Air Force, die Anzahl an aktiven B-1 bis 2037 auf über 60 Einheiten zu halten. Hochrechnungen aus dem Jahr 1999 zeigten, dass das Lebensdauerende der am schnellsten verschleißenden Teile, deren Ersatz unwirtschaftlich ist, bei der gegenwärtigen geringen Auslastung im Jahr 2038 erreicht sein wird. Im Sommer 2023 waren noch 44 Stück im Einsatz. Im Oktober 2015 erhielt Northrop Grumman den Auftrag zur Entwicklung eines neuen Langstreckenbombers B-21 Raider (LRS-B), der ab 2025 sowohl die B-1B als auch die B-2 ersetzen soll. Hierbei wurde zugunsten besserer Tarnkappeneigenschaften die Fähigkeit zum Überschallflug aufgegeben. Besatzung Die B-1B wird von vier Besatzungsmitgliedern geflogen, die auf Schleudersitzen des Typs ACES II sitzen. Über den Sitzen wird dazu beim Ausstieg eine Luke aufgesprengt. In der B-1A bestand das Rettungssystem noch aus einer absprengbaren Kapsel, die das gesamte Cockpit vom Rumpf abtrennte und an Fallschirmen zu Boden gehen ließ. Dieses System wurde aufgegeben, da sich einzelne Schleudersitze als zuverlässiger erwiesen und sowohl günstiger als auch leichter waren. Der Einstieg in den Bomber erfolgt über eine Leiter, die sich direkt hinter dem Bugfahrgestell befindet. Im Cockpit sitzen der auch als Kommandant fungierende Pilot sowie sein Copilot nebeneinander. Der Defensive System Officer (DSO) und der Offensive System Officer (OSO) sitzen hinten in einer separaten Kabine. Der OSO sitzt rechts und ist verantwortlich für die Radaranlage, die Navigation und den Bombenabwurf. Der DSO auf der linken Seite steuert die Störanlagen und ist für den Einsatz der Radar- und Infrarot-Täuschkörper (engl.: Chaffs, Flares) verantwortlich. Das Cockpit und die Kabine für die System Officers sind durch einen Gang getrennt; zwischen den beiden Kabinen befindet sich eine Chemietoilette. Die Besatzungen nennen die Bomber eher selten mit dem offiziellen Beinamen Lancer ( für Ulan), verbreiteter ist Bone infolge eines früheren Druckfehlers mit fehlendem Bindestrich (BONE). Einheiten Derzeit (Stand Februar 2012) setzen zwei Geschwader der US Air Force mit je zwei Staffeln sowie zwei einzelne Staffeln die B-1 ein. Standorte sind die Dyess Air Force Base in Abilene (Tailcode DY), Texas sowie die Ellsworth Air Force Base in Rapid City in South Dakota (Tailcode EL): Dyess Air Force Base 7th Bomb Wing: 9th Bomb Squadron 28th Bomb Squadron 77th Weapons Squadron 337th Test and Evaluation Squadron Ellsworth Air Force Base 28th Bomb Wing 34th Bomb Squadron 37th Bomb Squadron Die vier Staffeln der Bombergeschwader sind dabei Einsatzstaffeln, die in Krisengebiete verlegt werden können, die 337th Test and Evaluation Squadron führt die Ausbildung der Besatzungen durch. Alle Staffeln sind seit Oktober 2015 dem Air Force Global Strike Command (AFGSC) unterstellt. Technik Rumpf Der Rumpf der B-1B hat eine Länge von 44,81 Metern und besteht hauptsächlich aus Aluminium- und Titan-Legierungen sowie Glasfaser-Verbundmaterialien. An Rumpfklappen, den Flügelwurzelverkleidungen sowie den Triebwerkseinlässen wurde radarabsorbierendes Material verwendet, das einfallende Radarstrahlen nicht zurückwirft, sondern absorbiert. Vor dem Cockpit sind am Rumpfbug die kleinen Canard-ähnlichen Hilfssteuerflächen des automatischen Böen-Unterdrückungssystems angebracht, die im Tiefflug Windböen ausgleichen und so für einen ruhigeren Flug sorgen, der auch zu einer geringeren Strukturbelastung führt. An den schwenkbaren Tragflächen gibt es siebenteilige Vorflügel und sechsteilige Auftriebsklappen, die auch als Querruder angesteuert werden. Die Flügelfläche beträgt 181,2 m². Die Schwenkflügel haben bei maximaler Pfeilung von 67,5° eine Spannweite von 23,84 Metern. Diese Pfeilung wird bei Hochgeschwindigkeitsflügen und im Tiefflug verwendet, um den Luftwiderstand und die Böenlast zu verringern. Die minimale Pfeilung von 15° entspricht einer Spannweite von 41,67 Metern und wird bei Start und Landung sowie im Sparflug verwendet. Die Landeklappen können nur bei Pfeilung unter 20° eingesetzt werden. Weitere mögliche Winkel sind 25°, 45° und 55°. Ein Wechsel der Pfeilung verändert die Position des Auftriebspunktes; um diesen nicht zu weit vom Schwerpunkt des Flugzeuges zu entfernen, wird durch Umpumpen von Treibstoff in andere Tanks die Trimmung automatisch nachgeführt. Das Seitenleitwerk ist 10,36 Meter hoch, das als Pendelruder ausgelegte Höhenleitwerk hat eine Breite von etwa 13 Metern. Die Höhen- sowie Seitenruder sind dabei über dem eigentlichen Rumpf angebracht. Das Fahrwerk besteht aus einem Doppelrad am Bug und zwei Fahrwerksstützen mit je vier Rädern hinten. Das Bugfahrwerk wird in voller Länge nach vorn eingefahren. Das Hauptfahrwerk wird nach hinten und zur Mitte hin in zwei Buchten zwischen den Triebwerksgondeln eingefahren. Antrieb Die vier Mantelstromtriebwerke vom Typ General Electric F101-GE-102 sind in zwei Gondeln außen am Flugwerk angebracht. Sie liefern je 64,94 Kilonewton Schub „trocken“ und 136,92 kN mit Nachbrenner. Beim Einsatz des Nachbrenners erreicht die B-1B Geschwindigkeiten von Mach 1,2 (1.328 km/h) in großen Höhen oder Mach 0,95 (1.120 km/h) im Tiefflug. Das maximale Startgewicht liegt bei 216 t. Um die Radarsignatur des Bombers zu verkleinern, sind die Lufteinlässe der Triebwerke so konstruiert, dass feindliches Radar nicht direkt die Verdichterschaufeln des Triebwerks erreichen kann, was das Echo deutlich reduziert und eine Identifizierung erschwert. Die Triebwerke erzeugen über drei Generatoren mit einer Leistung von je 115 kVA elektrischen Strom für den Betrieb der elektrischen Geräte an Bord. Über zwei an Bord befindliche Hilfstriebwerke („Auxiliary Power Units“) kann eine B-1 auch von vorgeschobenen Basen ohne Infrastruktur eingesetzt werden. Diese können im Falle eines Alarmstarts über einen Schalter am Bugfahrwerk angelassen werden, damit sie bereits im Betrieb sind, wenn die Besatzung ihre Plätze einnimmt. In den Innentanks können ungefähr 166.000 Liter Treibstoff mitgeführt werden, wodurch eine Reichweite von etwa 12.000 km ermöglicht wird. Außerdem kann jeder der drei Waffenschächte einen zusätzlichen Tank mit einer Kapazität von 11.500 Litern aufnehmen. Extern können weitere sechs Tanks mit einer Kapazität von je 3.500 Litern angebracht werden. Somit kann die B-1B maximal 221.500 Liter Treibstoff mitführen. Darüber hinaus kann die B-1 auch in der Luft betankt werden. Der dafür benötigte Einfüllstutzen befindet sich auf der Nase vor den Cockpitfenstern. Avionik Das AN/APQ-164-Radargerät (Hersteller: Westinghouse Electric) befindet sich in der Nase des B1-Bombers. Es ist ein Radarsystem mit passiver elektronischer Strahlschwenkung, was aufgrund verringerter ungewollter Abstrahlung von Radarleistung die Aufspürbarkeit gegenüber normalen Radargeräten erheblich reduziert. Das Radar ist für Zielsuche, Zielverfolgung, Waffensteuerung sowie Geländeverfolgung geeignet und kann auch als abbildendes Synthetic Aperture Radar verwendet werden. Die Navigation erfolgt über ein Trägheitsnavigationssystem, bei neueren Versionen auch über das Global Positioning System. Die defensive Avionik an Bord besteht aus dem AN/ALQ-161 der Eaton Corporation. Das System umfasst Radarerfasser und -störer, mit dem der DSO Radarstrahlen feindlicher Flugzeuge und Bodenstationen aufspüren und daraufhin – speziell auf das Radargerät abgestimmt – stören kann. Die Sensoren hierfür sind im Heck und in den Flügelwurzeln angebracht, damit eine 360°-Abdeckung gewährleistet ist. Gegen anfliegende Raketen kann ein Störkörper hinter dem Flugzeug hergeschleppt werden, der für die angreifende Rakete ein Ziel bietet und so die Rakete vom Bomber ablenkt (AN/ALE-50). Das gesamte ALQ-161-System wiegt (ohne Bedienelemente) etwa 2.500 kg und beansprucht im Betrieb eine elektrische Leistung von 120 kW. 2009 begann die Nachrüstung des „Fully Integrated Data Link“-Kommunikationssystem, das den Link-16-Standard um ein Protokoll zur Satellitenkommunikation erweitert. Derzeit wird auch das Sniper-ATP in die B-1B-Flotte integriert. Es handelt sich hierbei um einen externen Behälter, der Bodenziele mit einem FLIR- oder Bildsensor erfassen, identifizieren und verfolgen kann, um so Zieldaten für präzisionsgelenkte Bomben zu ermitteln. Bewaffnung Die B-1 verfügt über drei Waffenschächte mit einer Länge von jeweils 4,57 m. Als Primärbewaffnung waren ursprünglich Marschflugkörper vom Typ AGM-86 ALCM, AGM-69 SRAM-Kurzstreckenraketen sowie nukleare Freifallbomben vorgesehen. Um auch die großen AGM-86-Marschflugkörper unterbringen zu können, waren die beiden vorderen Waffenschächte durch ein bewegliches Schott getrennt. Zusätzlich können am Rumpf acht Außenlaststationen montiert werden. Mit diesen kann die B-1 128 500-Pfund-Bomben vom Typ Mk. 82 transportieren. Die maximale Waffenzuladung der B-1B ist mit 60.781 kg fast doppelt so hoch wie die der B-52; die B-1B führt bis zu 34.019 kg ihrer Waffen in drei internen Waffenschächten mit, in denen sie sowohl freifallende Bomben als auch präzisionsgelenkte Munition in Revolvermagazinen transportieren kann. Jedes der Magazine hat eine Kapazität von 28 500-Pfund-Bomben des Typs Mk. 82 oder 30 Streubomben oder 12 Mk.-65-Seeminen. Als Präzisionsmunition lassen sich (seit einer Modernisierung ab dem Jahr 1998) 30 Streubomben mit Windeinflusskorrektur (WCMD: Wind Corrected Munitions Dispenser) oder 24 mittels Joint Direct Attack Munition (JDAM) aufgerüstete Bomben mitführen, alternativ 24 GBU-27-Paveway- oder 12 AGM-154-Joint-Standoff-Weapon-(JSOW)-Gleitbomben. Darüber hinaus können bis zu 24 Marschflugkörper vom Typ AGM-158 JASSM mitgeführt werden. Die Verwendung der acht externen Außenlaststationen wurde bis 2002 durch den Abrüstungsvertrag START ebenso untersagt wie das theoretisch mögliche Mitführen von nuklearen Bomben und Raketen, wie der AGM-69 SRAM, in den Waffenschächten. Seit der Kündigung von START arbeitete die Air Force daran, das extern montierte Sniper Advanced Targeting Pod-System, das der Besatzung verbesserte Zieldaten liefert, außer an der F-15, F-16 und der A-10 auch an der B-1 nutzen zu können, es ist seit Sommer 2008 einsatzbereit und kam erstmals im August jenes Jahres in Afghanistan zum Einsatz. An den Außenlastträgern angebrachte Waffen vergrößern den Radarquerschnitt und damit die Sichtbarkeit des Bombers für feindliches Radar. Dies macht die konstruktiven Maßnahmen, die zur Verringerung der Radarsichtbarkeit ergriffen wurden, weitgehend wirkungslos und stellt daher eine operative Einschränkung dar. Selbstschutzsysteme Da man sich nicht allein auf die Tarneigenschaften der B-1B verlassen wollte, ist diese mit zusätzlichen aktiven Störsystemen ausgestattet. Hierzu wurde mit dem AN/ALQ-161 ein eigens auf die Maschine abgestimmtes System entwickelt. Mit einem Gewicht von 2,5 Tonnen und über 120 Modulen zählt es zu den leistungsfähigsten Selbstschutzsystemen seiner Art und ist darauf ausgelegt, auch stärkste Radarsysteme zu stören, wobei dies durch den geringen Radarquerschnitt der Maschine noch zusätzlich erleichtert wird. Einzelne Komponenten des Systems werden regelmäßig modernisiert, eine Komplett-Erneuerung wurde allerdings aus Budgetgründen nicht umgesetzt. Darüber hinaus verfügt die B-1B über acht AN/ALE-49-Dispenser für je zwölf MJU-23-A/B-Infrarottäuschkörper. Der MJU-23-A/B-Täuschkörper zählt mit einer Bruttomasse von 1,770 kg zu den weltweit größten pyrotechnischen Scheinzielen. Die zylindrische Wirkladung aus Magnesium/Teflon/Viton allein wiegt etwa 1,474 kg. Im Gegensatz zu anderen westlichen Plattformen sind die Dispenser an der Oberseite des Bombers hinter der Kanzel angebracht und gestatten damit den Verschuss nach oben. Eine ähnliche Anbringung der Täuschkörper-Dispenser ist von Flugzeugen des ehemaligen Warschauer Pakts wie beispielsweise der MiG-29 oder Su-27 bekannt. Am Heck ist außerdem ein Doppler-Radar vom Typ AN/ALQ-153 installiert, welches die Besatzung vor von hinten anfliegenden Lenkwaffen und Flugzeugen warnt, auch wenn diese keine Radaremissionen aussenden. Ebenfalls am Heck ist ein AN/ALE-50-System nachgerüstet worden. Bei Gefahr durch radargelenkte Waffen wird an einem mehrere hundert Meter langen Kabel ein aktiver Täuschkörper ausgestoßen, der dann hinter der Maschine hergeschleppt wird. Dieser vergrößert aktiv seine eigene Radarsignatur, so dass er als Köder ein größeres und attraktiveres Ziel darstellt als die B-1B selbst, womit anfliegende Lenkwaffen effektiv abgelenkt werden. Zum Passivschutz wurden vier Radarwarnsensoren vom Typ AN/ALR-56M eingebaut. Rekorde Die B-1 stellte etliche offizielle und inoffizielle Weltrekorde auf; außerdem konnte sie mehrere Auszeichnungen erringen. Dies begann bereits 1976, als die National Aeronautic Association – die amerikanische Zweigstelle der Fédération Aéronautique Internationale – dem Projektteam der B-1A die Robert J. Collier Trophy verlieh, die jährlich für die größten Erfolge um die amerikanische Luftfahrtgemeinde vergeben wird. Nach der Indienststellung der B-1B stellte diese 1987 mehrere Weltrekorde für Geschwindigkeit, Distanz und Nutzlast auf. Am 4. Juli fand dabei Freedom Flight I statt, bei dem eine B-1B vor der Pazifikküste Kaliforniens 2000 Kilometer mit 30 t Zuladung in einer Durchschnittsgeschwindigkeit von Mach 0,9 zurücklegte und damit vier bestehende Rekorde (über 1000 und 2000 km) brach sowie 14 neue aufstellte. Am 17. September brach 86-0110 während des Freedom Flight II über die Strecke von 5000 Kilometern mit 30 t Zuladung weitere neun Rekorde und stellte ebenfalls neun neue auf. Für diese Flüge erhielt die B-1B-Flotte die Mackay Trophy, die jährlich an den „anerkennenswertesten Flug des Jahres“ verliehen wird. Am 27. und am 28. Februar sowie am 18. März 1992 stellten insgesamt drei B-1B neue Rekorde für Steigleistung auf. Dabei stiegen die Maschinen mit 10 t Nutzlast auf 3000 Meter Höhe in 1:13 Minuten (gemessen vom Zeitpunkt des Lösens der Bremsen am Boden), auf 12.000 m in 5:02 Minuten. Mit 30 t Nutzlast benötigte eine B-1B für diese Höhe 9:42 Minuten. Am 2. Juni 1995 starteten zwei B-1B mit einer Nutzlast von 15 t auf der Dyess AFB in Texas und flogen ostwärts über den Atlantik. Auf dem Flug über Italien bombardierten die Flugzeuge Übungsziele auf der Pachino Range in Italien und setzten ihren Flug über den Indischen Ozean in Richtung Japan fort, wo sie nahe der Kadena Air Base auf Okinawa wiederum Ziele bombardierten. Von dort flogen die B-1 weiter ostwärts nach Texas, wobei sie Übungsziele in Utah angriffen. Der gesamte Flug dauerte 36 Stunden, 13 Minuten und 36 Sekunden. Auf dem 20.100 Meilen langen Flug wurden die Einheiten sechsmal betankt; mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 1168 km/h stellten die Bomber neue Geschwindigkeitsrekorde in der offenen Klasse (ohne Gewichtsbeschränkung) auf, wofür den Besatzungen die Mackay Trophy verliehen wurde. 2003 stellte eine B-1B auf der Edwards Air Force Base Open House and Air Show fast 50 neue Geschwindigkeitsweltrekorde in ihrer FAI-Klasse (C-1, Group 3) auf, hier über Strecken von 3, 15, 25, 100, 250 und 1000 Kilometern. Zudem war die B-1B im März 2008 das erste Flugzeug der USAF, welches mit synthetischem Kraftstoff mit Überschallgeschwindigkeit flog. Modifikationen B-1B Aus dem Haushalt des Jahres 1993 wurde das sogenannte Conventional Mission Upgrade Program (CMUP) mit 2,7 Mrd. Dollar finanziert. Dabei ging es darum, die B-1B nach den Regularien von START II so auszurüsten, dass sie keine nukleare Fracht mehr tragen kann (START II erlaubt aber, die Bomber nach einer 90-tägigen Ankündigungsfrist wieder zu Kernwaffenträgern umzurüsten). Dies geschah in mehreren Stufen, den Blocks. Block A Block A bezeichnet die Standardversion der B-1B, mit lediglich der Fähigkeit, neben nuklearen Waffen Freifallbomben vom Typ Mk. 82 zu transportieren. Block B Bei Block B, das 1995 installiert wurde, wurde das Radar verbessert, außerdem wurden die elektronischen Gegenmaßnahmen auf eine neue Version gebracht. Block C Mit Block C, erstmals im September 1996 eingesetzt und 1997 für einsatzbereit erklärt, wurde die Unterstützung für Streubomben hinzugefügt. Block D Block D erlaubte der Besatzung der B-1B das Abwerfen von Präzisionsbomben, die mit Joint Direct Attack Munition (JDAM) ausgerüstet sind. Außerdem wurde ALE-50 installiert. Block D war auf den ersten Maschinen ab Dezember 1998 einsatzbereit. Zur Navigation unterstützte ab diesem Block ein Empfänger des Global Positioning Systems das Trägheitsnavigationssystem. Ab Frühjahr 2004 waren alle Maschinen auf Block D umgerüstet. Block E Block E umfasste Verbesserungen der Avionik, so dass JSOW und WCMD abgefeuert werden können. Mit Block E wurde auch die Fähigkeit eingeführt, verschiedene Munitionstypen gleichzeitig mitzuführen. Block F Block F bezeichnet die geplante Verbesserung der Verteidigungssysteme der Bomber. Dazu sollte unter anderem der geschleppte Täuschkörper auf eine verbesserte Version gebracht werden, mit dem Defensive Systems Upgrade Program sollten außerdem die Radarwarner modifiziert werden und das AN/ALQ-161 durch die verlässlicheren Systeme AN/ALR-56M und AN/ALQ-214 ersetzt werden. Wegen hoher Kosten wurde der gesamte Block jedoch im Dezember 2002 gestrichen. B-1R Ein von Boeing vorgeschlagenes Konzept zur umfassenden Modifikation des Flugzeugs läuft unter dem Namen B-1R und wurde im November 2004 im Air Force Magazine vorgestellt. Das R steht für regional. Das neue „Active Electronically Scanned Array“-Radar soll dem Flugzeug dann auch Luft-Luft-Kriegführung erlauben, außerdem würden die externen Waffenhalterungen die Möglichkeit erhalten, konventionelle Waffen abzuwerfen. Dies würde die Nutzlast des Bombers deutlich erhöhen und wäre in einem Krieg besonders nach Zerstörung der gegnerischen Flugabwehr nützlich, wenn die Bedeutung des Radarquerschnitts gegenüber der Nutzlast in den Hintergrund tritt. Außerdem sollen die Triebwerke gegen die der F-22 Raptor (Pratt & Whitney F119-PW-100) ausgewechselt werden, die neben der Fähigkeit zum Supercruising bei zugeschaltetem Nachbrenner auch Mach 2,2 erreichen können. Durch die neuen Triebwerke würde die Einsatzreichweite um etwa 20 % verringert werden, daher soll der Bomber auch eher regionalen Aufgaben zugeteilt werden. Ein tiefes Eindringen in den feindlichen Luftraum, wie sie auf Grund der geografischen Gegebenheiten gegen die Sowjetunion nötig gewesen wäre, wird nicht mehr möglich sein, da Luftbetankung über feindlichem Gebiet natürlich nicht möglich ist. Da aber Blockstaaten-Territorien wie die des Warschauer Paktes nicht mehr existieren, geht Boeing davon aus, dass der Bomber auch mit kleinerer Reichweite durch Luftbetankung direkt an der Grenze eines potentiellen Feindstaates alle Ziele erreichen kann. Einsatzprofil Das Einsatzprofil der B-1A sah das Eindringen in den feindlichen Luftraum in geringer Höhe mit hoher Unterschallgeschwindigkeit vor, während der Anflug entweder mit Überschall oder im Sparflug in großer Höhe geschehen sollte. Auch die B-1B ist darauf ausgerichtet, im Tiefflug in den feindlichen Luftraum einzudringen. Tiefflug bedeutet hierbei Terrainfolgeflug bis herab auf 60 Meter über dem Boden mit Geschwindigkeiten von nur knapp unter der Schallgrenze. Die Radarrückstrahlfläche ist generell geringer als bei einer B-52, hängt aber vom Einstrahlwinkel ab. Sie soll laut Janes’s All The World’s Aircraft nur etwa ein Hundertstel jener der B-52 betragen. Das GAO widersprach den Angaben teilweise, da das Verteidigungsministerium nur die Werte von vorn weitergegeben habe, aus anderen Winkeln aber ein höherer Wert zu erwarten sei. Gerade die Triebwerksgondeln sind von Radargeräten recht gut zu erfassen. Bei niedriger Flughöhe bleibt jedoch für eine einzelne SAM-Stellung keine Zeit, auf das Ziel aufzuschalten und eine Rakete zu starten, bevor das Flugzeug wieder hinter dem Radarhorizont verschwindet. Kampfeinsätze Der erste Kampfeinsatz der B-1B wurde 1998 während der Operation Desert Fox gegen Ziele im Irak geflogen. Insgesamt hoben die Bomber zu sechs Flügen ab, die Angriffe galten Kasernen der Republikanischen Garde. 1999 wurden sechs Bomber in über 100 Flügen von RAF Fairford aus im Rahmen der Operation Allied Force während des Kosovokriegs eingesetzt. Dabei warfen sie während 2 % der gesamten Flüge 20 % der gesamten Bombenlast ab. In den folgenden Jahren flogen acht B-1B von Diego Garcia aus Einsätze über Afghanistan (Operation Enduring Freedom), wobei sie in den ersten sechs Monaten 40 % der gesamten Bombenlast abwarfen. Darunter waren 3.900 JDAM, zwei Drittel der Abwürfe dieser Munitionsart. 2003 nahmen die B-1 auch an der Irak-Kriegs-Operation Iraqi Freedom teil. Sie flogen von Oman aus rund 2 % der gesamten Einsätze und warfen mit 2.100 JDAM mehr als 50 % dieses Munitionstyps ab. Zu den Hauptzielen der B-1-Bomber gehörten auch Verwaltungsgebäude in Bagdad, darunter das Hauptquartier der Baath-Partei. Am 7. April 2003 wurde ein Häuserblock in Bagdad mit vier JDAM angegriffen, weil sich dort nach Geheimdienstinformationen der irakische Diktator Saddam Hussein versteckt haben sollte. Dabei wurden zwölf Menschen getötet, während sich die angebliche Information nicht bestätigte. Bei einem Kampfeinsatz einer B-1B im afghanischen Bezirk Bala Buluk am 4. Mai 2009 auf mutmaßliche Taliban-Stellungen wurden 140 Zivilisten getötet. Vor dem Luftangriff bei Kundus am 4. September 2009 klärte eine B-1B mit Sniper-ATP die Region um die später bombardierten Tanklastwagen auf. Im März 2011 griffen B-1-Bomber der Ellsworth Air Force Base im Rahmen der Operation Odyssey Dawn Ziele in Libyen an, um die Flugverbotszone nach der Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates durchzusetzen. Seit Beginn des US-Einsatzes gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) am 8. August 2014 wurden B-1-Bomber eingesetzt, um verbündete Bodentruppen zu unterstützen. Sie flogen dabei von der Al Udeid Air Base in Katar aus. Im Februar 2016 wurden sie zurückgezogen, um Upgrades im Cockpit zu ermöglichen. Im Einsatz waren verschiedene Staffeln, die im 6-Monats-Rhythmus rotierten. Beim Luftangriff auf Damaskus und Homs am 14. April 2018 beteiligten sich zwei B-1B der 34th Bomb Squadron, die 19 Marschflugkörper vom Typ AGM-158A JASSM abfeuerten. Zwischenfälle Vom Erstflug 1974 bis August 2022 kam es mit Rockwell B-1 Lancer zu mindestens zehn Totalschäden von Flugzeugen. Bei vier davon kamen zwölf Menschen ums Leben. September 1987 Die erste verlorengegangene B-1B war 84-0052, stationiert auf der Dyess Air Force Base. Sie verunglückte im September 1987 auf einem Übungsflug bei La Junta, Colorado. Während einer Tiefflugübung kollidierte die Maschine mit einem zehn Kilogramm schweren Nashornpelikan. Dabei wurden hydraulische, elektrische sowie kerosinführende Leitungen in einer Flügelwurzel durchtrennt und ein Feuer ausgelöst. Zwei Ausbilder, die nicht in Schleudersitzen saßen, sowie der Kopilot, dessen Schleudersitz nicht auslöste, starben, als das Flugzeug am Boden zerschellte. Die drei weiteren Besatzungsmitglieder überlebten. Als Resultat verstärkte die Air Force durch Vogelschlag gefährdete Teile des Bombers. 8. November 1988 85-0063 verunglückte am 8. November 1988 auf der Dyess Air Force Base, als während eines Durchstarttrainings ein Feuer in der linken Tragfläche ausbrach und die Triebwerke dieser Seite abgeschaltet werden mussten. Die Besatzung konnte sich per Schleudersitz retten. Es wird vermutet, dass sich Treibstoff an einem Teil der Kühlanlage entzündete. Nur wenige Tage später verunglückte 85-0076 auf der Ellsworth Air Force Base, als sie etwa einen Kilometer vor der Basis beim Landeanflug mehrere Masten streifte und abstürzte. Die Besatzung konnte sich retten; die Air Force gab später bekannt, dass die Piloten die Höhenkontrolle vernachlässigt hatten, als sie den Landeanflug in starker Bewölkung planten. 30. November 1992 Am 30. November 1992 kamen alle vier Besatzungsmitglieder der 86-0106 ums Leben, als ihre B-1B südlich von El Paso, Texas während eines Tiefflugs bei Nacht einen Bergrücken rammte. Laut Air Force flog der Bomber parallel zu einem Höhenzug, mehrere Dutzend Meter unter den umliegenden Gipfeln, als er auf die Berge zudrehte. Da die Piloten das Geländefolgeradar („Terrain Following System“) deaktiviert hatten, kurz bevor das Flugzeug einschlug, geht man von einem menschlichen Fehler aus. 19. September 1997 85-0078 verunglückte am 19. September 1997 nahe Alzada, Montana, als die Besatzung während eines Tiefflugtrainings bei einem Manöver die Kontrolle über das Flugzeug verlor. Der Flugschreiber zeichnete auf, dass ein Besatzungsmitglied die Schubhebel auf Leerlauf gezogen und die Bremsklappen ausgefahren hatte. Die Maschine verlor schnell an Geschwindigkeit und kam ins Trudeln, welches die Besatzung aufgrund der niedrigen Flughöhe von etwa 600 Fuß nicht mehr beenden konnte. An Bord befanden sich zwei der erfahrensten B-1-Piloten der USAF mit über 8.000 Stunden Gesamtflugerfahrung und 2.000 Flugstunden auf der B-1. 18. Februar 1998 Am 18. Februar 1998 ereignete sich an Bord von 84-0057 ein Kurzschluss, der alle vier Triebwerke abschaltete. Das Flugzeug, dessen Triebwerke in der Luft nicht wieder gestartet werden konnten, stürzte nahe Marion, Kentucky ab, die Besatzung konnte sich mit ihren Schleudersitzen retten. 12. Dezember 2001 Während eines Kampfeinsatzes von der Insel Diego Garcia nach Afghanistan stürzte 86-0114 (Typ B-1B) am 12. Dezember 2001 in den Indischen Ozean. Der Grund blieb unklar; es wurden Fehlfunktionen des Höhenmesssystems vermutet. Alle vier Besatzungsmitglieder wurden nach einiger Zeit von einem Zerstörer der Navy, der USS Russell (DDG-59), gerettet; feindlicher Beschuss wurde als Grund für den Absturz ausgeschlossen. 30. Dezember 2004 Die gesamte B-1-Flotte erhielt vom 30. Dezember 2004 bis zum 5. Januar 2005 ein Startverbot, nachdem bei einer Maschine bei der Landung das Bugfahrwerk eingeknickt war. In den fünf Tagen wurden an allen Maschinen die Fahrwerke überprüft, aber keine Mängel festgestellt. 8. Mai 2006 Auf Diego Garcia verunglückte am 8. Mai 2006 eine B-1B bei der Landung. Da das Fahrwerk nicht ausgefahren wurde, setzte die Maschine mit dem Rumpf auf. Der Copilot wurde leicht, die drei anderen Besatzungsmitglieder nicht verletzt. Der Untersuchungsbericht der USAF führt den Fehler darauf zurück, dass der Copilot mit dem Handling des Flugzeuges sowie dem erfolgreichen Abschluss der Mission beschäftigt war und fälschlicherweise davon ausging, dass der Pilot das Fahrwerk ausgefahren hatte. Der Cockpit Voice Recorder belegte, dass die Checkliste für die Landung nicht gelesen worden war. Es entstand ein Schaden von fast acht Millionen US-Dollar am Flugzeug und etwa 15.000 US-Dollar an der Landebahn. 4. April 2008 Am 4. April 2008 wurde eine B-1 der 379th Air Expeditionary Wing beim Taxiing nach der Landung auf der Al Udeid Air Base in Katar zerstört. Beim Rollen versagten die Bremssysteme der Maschine, sodass sie nicht mehr zu steuern war. Die Maschine rammte daraufhin einen Betonwall, hinter dem Transportflugzeuge vom Typ C-130 Hercules abgestellt waren; durch mehrere Leckagen fingen die Flugzeuge Feuer, welches erst am nächsten Tag gelöscht werden konnte. Die vier Besatzungsmitglieder retteten sich über den Rumpfrücken und blieben unverletzt. 19. August 2013 Am 19. August 2013 stürzte eine B-1B des 28th Bomb Wing in der Nähe von Broadus im Bundesstaat Montana ab. Das Flugzeug befand sich auf einem Trainingsflug und kam von der Ellsworth Air Force Base. Die vier Besatzungsmitglieder konnten sich mit dem Schleudersitz retten und blieben unverletzt. 20. April 2022 Am 20. April 2022 brannte eine B-1B auf der Dyess Air Force Base in Texas aus. Während eines Routinetests an der Vorstartlinie fing das Flugzeug Feuer, welches nicht sofort gelöscht werden konnte. In Folge des Feuers ereigneten sich mehrere Explosionen, zwei Personen wurden verletzt. Nach Angaben der US-Air Force wird die Ursache des Brandes noch ermittelt und es ist noch nicht bestätigt, dass die Maschine abgeschrieben werden muss. Technische Daten Literatur Chris Bishop: Kampfflieger. Tosa Verlag, Wien 2001, ISBN 3-85492-432-1. Tom Clancy: Fighter Wing – Eine Reise in die Welt der modernen Kampfflugzeuge. Wilhelm Heyne Verlag, München 1996, ISBN 3-453-14132-6. Lindsay Peacock: B-1B Bomber. Osprey Publishing, London 1987, ISBN 0-85045-750-5 (englisch). Friedhold Weiß: Bewaffnung und Ausrüstung des US-amerikanischen strategischen Bombenflugzeugs B 1B. In: Horst Schädel (Hrsg.): Fliegerkalender der DDR 1988. Militärverlag der DDR, Berlin 1987, S. 68–73. Weblinks Die B-1 auf der Boeing-Website B-1B bei der Federation of American Scientists (englisch) B-1B auf globalsecurity.org (englisch) B-1B im Airman Magazine der US Air Force (englisch) Einzelnachweise Strategischer Bomber Vierstrahliges Flugzeug Schwenkflügelflugzeug Erstflug 1974 Militärluftfahrzeug (Vereinigte Staaten)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Austernfischer
Austernfischer
Der Austernfischer (Haematopus ostralegus) ist eine Vogelart aus der Ordnung der Wat-, Möwen- und Alkenvögel (Charadriiformes) und der Gattung der Austernfischer. Er gilt als einer der charakteristischsten Vögel der Nordseeküste. Seine größte Verbreitung in Europa hat er im Wattenmeer und dem küstennahen Binnenland der Nordsee, wo er auch die scherzhafte Bezeichnung Halligstorch trägt. Aufgrund seines schwarz-weißen Gefieders wird der Austernfischer in vielen Sprachen namentlich mit der Elster in Verbindung gebracht, so auf Finnisch als Meriharakka (See-Elster), auf Dänisch als Strandskade (Strand-Elster), auf Niederländisch als Scholekster (Schollen-Elster) oder auf Russisch als Кулик-сорока (Kulik-soroka, Schnepfen-Elster). Erscheinungsbild Ausgewachsene Austernfischer erreichen eine Körperlänge von 39 bis 44 Zentimetern und eine Flügelspannweite von 72 bis 83 Zentimetern. Im Brutkleid sind sowohl der Kopf als auch die Brust, die Körperoberseite und das Endband des Schwanzes schwarz gefiedert. Im Ruhekleid ist das Schwarz etwas dumpfer und an den Halsseiten ist ein weißes Kehlband erkennbar. Zum unverwechselbaren Erscheinungsbild des Austernfischers tragen vor allem der lange, orangerote, seitlich etwas abgeflachte Schnabel und das schwarzweiße Körpergefieder bei. Rot sind außerdem die Beine und Füße sowie die Augen. Geschlechtsdimorphismus ist nur gering ausgeprägt; im Mittel ist der Schnabel des Weibchens etwas länger als der des Männchens. Die Schnabellänge ist insgesamt das beste Merkmal zur Geschlechtsdifferenzierung. Das Körpergefieder der Jungvögel erinnert an das Ruhekleid. Die Federsäume an der Körperoberseite sind bei ihnen jedoch blass verwaschen. Ihre Beine sind außerdem von mattgrauer Farbe und sie zeigen gelegentlich an Kehle und Halsseiten weißliche Flecken. Im Flug sind beim Austernfischer neben dem weißen Hinterrücken die breiten weißen Flügelschilder und der breite schwarze Endsaum am Schwanz kennzeichnend. Stimme Austernfischer sind sehr ruffreudige Vögel. Das laute und schrille quiéwiehp ist der für sie typische Kontaktruf. Am Brutplatz lassen sie außerdem ein gellendes qui qui qui qui erklingen. Dies steigert sich gelegentlich zu einem lärmenden, schrillen Trillern, das auf- und abschwillt. Es wird auch als Pfeif- oder Trillerzeremonie bezeichnet und tritt besonders häufig auf, wenn sich Nachbarn oder revierlose Austernfischer zu sehr den Grenzen des Brutreviers nähern. Dabei gehen einer oder beide Brutvögel dem eindringenden Vogel mit gesenkten und leicht geöffneten Schnäbeln entgegen, wobei sie in hohen Tönen trillern und pfeifen und sehr erregt wirken. Verbreitungsgebiete Brutareale Austernfischer haben ein großes und disjunktes Brutareal, innerhalb dessen drei Unterarten unterschieden werden. Die Nominatform Haematopus ostralegus ostralegus brütet an fast allen europäischen Küsten von Island und der Eismeerküste bis an die Küsten des Mittelmeeres, mit einem Schwerpunkt der Verbreitung an den Küsten des Nordatlantiks und der Nordsee. Im Binnenland brütet diese Unterart außerdem in Teilen Schottlands und Irlands sowie in Schweden, den Niederlanden, in Russland und der Türkei. Während die Ostseepopulation klein ist, liegt in Mitteleuropa der Schwerpunkt der Verbreitung an der Nordseeküste und im küstennahen Binnenland. Von dort aus dringen die Vögel vor allem entlang der größeren Stromtäler von Rhein, Ems, Weser und Elbe tief ins Binnenland vor und brüten dort auch. Sobald sie flügge sind, suchen Jungvögel die Küste auf. Die Unterart Haematopus ostralegus longipes brütet in Kleinasien, Westsibirien und im südlichen Zentralrussland. Die Unterart Haematopus ostralegus osculans ist dagegen ein Brutvogel in Kamtschatka, China und an der Westküste der Koreanischen Halbinsel. Sie waren dort unter anderem vor dessen Eindeichung Brutvögel im Wattenmeer Saemangeum, das an der südkoreanischen Westküste im Mündungsbereich der Flüsse Dongjin und Mangyung liegt und mit 400 Quadratkilometern zu den größten Wattgebieten der Erde gehörte. Überwinterungsgebiete Austernfischer sind überwiegend Zugvögel. Einige der westeuropäischen Vögel bleiben jedoch in ihren Brutarealen oder zeigen nur geringfügig ausgeprägte Zugbewegungen. So sind die großen Scharen, die während des Winters im Südwesten Englands zu beobachten sind, Brutvögel im nördlichen England oder in Schottland. Die Brutvögel Südenglands überwintern ebenso wie die des Wattenmeers in den Küstenregionen, die zwischen ihrem Brutareal und der Iberischen Halbinsel liegen. Zu einem sehr geringen Teil ziehen sie jedoch auch bis nach Marokko. Die Populationen, die sich im Winterhalbjahr an der Küste Tunesiens und Libyens aufhalten, haben ihr Brutareal im nordwestlichen Mittelmeer und in der Adria. Kleine Teile der isländischen Brutpopulation bleiben auch während des Winters an der Küste Islands. Die übrigen isländischen Brutpopulationen überwintern an der Küste der Irischen See, wo sich auch die Austernfischer einfinden, die auf den Färöern brüten. Sowohl die norwegischen Brutpopulationen als auch die Vögel, die im Baltikum und in Russland brüten, überwintern im Wattenmeer der Nordsee. Die Populationen, die in Ostafrika, Arabien und im westlichen Indien überwintern, gehören der Unterart longipes an. Die Unterart onculans überwintert im südlichen China. Die südlichsten Wintervorkommen des Austernfischers liegen an der westafrikanischen Küste in Ghana. Es ist bis jetzt unbekannt, in welchen Regionen diese Vögel brüten. Mit dem Zug in die Winterquartiere beginnen die Vögel nach Ende der Brutzeit. Die europäischen Brutpopulationen starten mit ihren Wanderbewegungen ab Mitte Juli. Diese verstärken sich im August und im September. Die Rückkehr in die Brutgebiete beginnt schon Ende Januar und zieht sich bis April hin. Bei den in Zentralasien brütenden Vögeln endet die Rückkehr noch später. Die Vögel folgen auf ihrem Zug dem Küstenverlauf und sind nur ausnahmsweise im Binnenland anzutreffen. Lebensraum Der Austernfischer zeigt eine nahrungsbedingte starke Bindung an die unter Gezeiteneinfluss stehende Küste. Er bevorzugt deshalb flache Meeresküsten und Inseln, Mündungsgebiete von Strömen und Flüssen. Die zur Brutzeit genutzten Küstenabschnitte müssen ein Substrat aufweisen, das das Scharren der Nistmulde zulässt. Er brütet unter anderem auf Fels-, Kiesel- und Sandstrand sowie in Primär- und Sekundärdünen. In den Niederlanden, im Nordwesten Deutschlands und teilweise auch in Großbritannien ist er während der Brutzeit auch auf Feldern und kurzrasigen Wiesen anzutreffen, im Binnenland hält er sich fast ausschließlich auf Feuchtweiden auf. Hier brütet er bevorzugt an Seen oder breiten Flüssen mit Kiesufern. So besiedelt er unter anderem die Stromtäler von Elbe, Oder, Rhein und Ems. Auch Baggerseen in Kiesgruben passen in sein Habitatschema. Nahrung und Nahrungsbeschaffung An der Küste ernähren sich die Austernfischer in erster Linie von Muscheln, Borstenwürmern, Krebsen und Insekten. Zu den Muschelarten, die einen großen Teil seiner Ernährung ausmachen, zählen vor allem Herz-, Mies- und Baltische Plattmuscheln. Sie fressen außerdem auch Napf-, Strand- und Wellhornschnecken. Im Binnenland stellt der Regenwurm die Hauptnahrung des Austernfischers dar, der aktiv durch Wurmgrunzen erbeutet wird. Im Gegensatz zu vielen Küstenvögeln ist der Muskelmagen der Austernfischer nur wenig ausgebildet. Aufgrund der Technik beim Öffnen der Nahrung erübrigt sich für diese Vögel ein Zerdrücken der Schalentiere im Muskelmagen. Tagsüber orientiert sich der Austernfischer beim Nahrungserwerb visuell. Dabei werden tiefer im Schlick steckende Herzmuscheln wohl nicht durch den Tastsinn, sondern durch geringe Unterschiede in der Struktur und Färbung des Bodens aufgespürt. Durch Tasten orientieren sich diese Limikolen vor allem nachts und durchpflügen dabei den Boden mit dem Schnabel. Mit ihrem Tastsinn können sie sehr gut zwischen lebenden Muscheln und leeren Schalen unterscheiden. Kleine Muscheln kann ein Austernfischer vollständig verschlucken. Bei Herzmuscheln ist dies bis zu einem Durchmesser von acht Millimetern möglich, bei Miesmuscheln bis zu 12 Millimetern. Bei größeren Muscheln wird die Schale geöffnet, um an das Fleisch zu gelangen. Dabei werden zwei unterschiedliche Techniken angewendet. Hämmert der Vogel die Muschel auf, werden fest geschlossene Muscheln zunächst auf eine mitunter mehrere Meter weit entfernte und mehrmals hintereinander aufgesuchte feste Unterlage gebracht und dort mit der flachen Seite nach oben abgelegt. Dann wird mit fest verankerten Füßen, steifem Hals, senkrecht und geschlossen gehaltenem Schnabel und im Hüftgelenk wippend so lange auf die Muschel eingehämmert, bis ein Stück Schale herausbricht. Mit dem Aufhämmern wird der hintere Schließmuskel der Molluske durchtrennt. Nun kann die Muschel durch eine Vierteldrehung und leichtes Öffnen des Schnabels in der Schale aufgedrückt werden. Das Öffnen und Entleeren einer Miesmuschel dauert selten länger als 10 bis 15 Sekunden. Harte Muscheln werden gelegentlich aus mehreren Metern Höhe auf einen harten Untergrund fallen gelassen, um sie so zu öffnen. Bei der zweiten verwendeten Technik wird der Schnabel zwischen die Schalenhälften geschoben, um den Schließmuskel zu verletzen. Bei beiden Techniken wird das Muschelfleisch systematisch herausgemeißelt und freigeschüttelt, sobald die Muschel offen ist. Ein einzelner Vogel verwendet dabei immer nur eine der beiden Techniken. Sie wird von den Elternvögeln erlernt und durch Übung vervollkommnet. Die Verwendung der jeweiligen Technik führt zu unterschiedlichen Formen der Schnabelspitze, so ist die Spitze des Schnabels bei den Anhängern der ersten Technik eher stumpf, bei den Anhängern der zweiten Technik ist die Schnabelspitze spitzer. Mit etwas Übung ist dies auch im Gelände erkennbar. Verhalten An der Küste ist die Aktivität der Austernfischer ausgesprochen tideabhängig – die Tiere sind somit tag- und nachtaktiv. Ohne den Einfluss der Gezeiten sind sie im Binnenland tagaktiv. Austernfischer schwimmen gut und durchaus häufig. Trupps von mehreren Tieren sind schon in weiter Ferne vom Festland beobachtet worden. Wahrscheinlich ruhen die Vögel bei Hochwasser in dunklen Nächten auf dem Wasser. Verletzte oder noch nicht flugfähige Jungvögel fliehen vor Feinden auf das Wasser und tauchen dabei auch, wobei sie sich unter Wasser nur durch das Schlagen der Flügel fortbewegen. Bei einer Tauchtiefe von 30 bis 50 Zentimetern können die Tiere Entfernungen von bis zu 15 Metern unter Wasser zurücklegen. Außerhalb der Brutzeit sind Austernfischer sehr gesellig. Am Brutplatz hingegen können sie ausgesprochen aggressives Verhalten zeigen. Dies kann so weit gehen, dass arteigene oder artfremde Limikolen vom Brutvogel zu Tode geschüttelt oder gehackt werden. Wie eine Reihe anderer bodenbrütender Vogelarten auch, versucht der Austernfischer sich dem Nest nähernde Bodenfeinde durch Verleiten wegzulocken. Kommt ein möglicher Beutegreifer nicht zu überraschend dem Nest nahe, stiehlt sich der brütende Vogel möglichst unauffällig und unter Ausnutzen der Deckung davon, um den Räuber durch Scheinbrüten oder das Simulieren von Verletzungen vom Nest wegzulenken. Kommt Weidevieh wie Schafe oder Kühe dem Nest zu nahe, verteidigt der Austernfischer sein Nest oder seine Brut, indem er gegen diese Tiere hackt. Fortpflanzung Die meisten Austernfischer brüten zum ersten Mal im vierten Lebensjahr und können sogar in einem Alter von 36 Jahren noch sexuell aktiv sein. Austernfischer sind meist monogam, doch kommt Bigynie vor. Die Gattentreue ist sehr ausgeprägt – zu Lebzeiten beider Partner kommt es nur sehr selten zu Trennungen. Stirbt jedoch ein Partner, verpaart sich der verbleibende innerhalb von wenigen Tagen aufs Neue. Als Neststandort wählt dieser Bodenbrüter oft etwas erhöhte Sandstrände außerhalb des mittleren Tidenhochwassers. Im Binnenland werden brachliegende und bestellte Äcker bevorzugt. Wichtiger als die Beschaffenheit des Neststandortes ist jedoch die des Nahrungsbiotops. So brüten die Vögel auch schon mal in Sandgruben, auf Baustellen, im Schotterbett von Bahnlinien, auf geschotterten Flachdächern, auf Strohdächern oder auch in Korbweiden. Das Nest stellt nur eine flache Mulde ohne große Auskleidung dar, die mit dem Körper in den weichen Untergrund gedreht wird. Das Weibchen legt meistens drei Eier; größere Gelege entstehen nur durch das „Zusammenlegen“ von zwei oder mehr Weibchen. Auch bei den Austernfischern kommt es zu so genannten Mischgelegen mit anderen artfremden Watvögeln, Seeschwalben und Möwen, die auch abwechselnd von den beiden verschiedenen Arten bebrütet werden. Wie bei allen Limikolen erfolgt nur eine Jahresbrut. Wird jedoch die Erstbrut etwa durch Weidevieh oder durch Möwen zerstört, kommt es meist zu kleineren Nachgelegen. Die Brutdauer beträgt 26 bis 27 Tage; Männchen und Weibchen brüten zu gleichen Teilen. Die Jungtiere werden durch die Altvögel gefüttert. Bigynistisches Brutverhalten In einer niederländischen Studie wurden bigynistische Brutgruppen beobachtet. Das Verhältnis von monogamen Paaren zu solchen bigynistisches Gruppen beträgt etwa 1.000 zu 25. Die bigynistischen Gruppen bestehen aus einem Männchen und zwei Weibchen. Auffällig ist, dass es sowohl aggressive Brutgruppen gibt, bei denen die Weibchen miteinander konkurrieren als auch solche, bei denen sie zusammenarbeiten. Bei den aggressiven Gruppen verteidigt jeweils ein Weibchen sein eigenes Nest und das Männchen verteidigt ein kleines Revier, das die Nester der beiden Weibchen umfasst. Bei den kooperierenden Gruppen legen die beiden Weibchen ihre Eier in ein Nest, das von allen drei Vögeln verteidigt wird. Etwa sechzig Prozent der Brutgruppen zeigen aggressives Verhalten. Ihr Bruterfolg ist nicht sehr hoch und liegt unter dem monogamer Paare. Das liegt daran, dass es während der Brut ungefähr alle zwei Minuten zu aggressiven Handlungen zwischen den beiden Weibchen kommt und keines der beiden Nester ausreichend bebrütet wird. Bei den kooperativen Gruppen ist der Bruterfolg höher. Das etwas dominantere Weibchen paart sich alle drei Stunden mit dem Männchen, das leicht unterlegene Weibchen etwa alle fünf Stunden. Gleichzeitig kommt es zu Paarungsverhalten zwischen den beiden Weibchen. Trotz des kooperativen Verhaltens ist allerdings auch bei ihnen der Bruterfolg geringer als bei monogamen Paaren. Ihre Körpergröße ist nicht ausreichend, um mehr als vier Eier zu bebrüten, so dass drei bis vier Eier des gemeinsamen Geleges nicht ausgebrütet werden. Der Grund für dieses Verhalten ist bislang noch umstritten. Eine Ursache ist möglicherweise, dass die verfügbaren Brutplätze nicht ausreichen. Weibchen, die Mitglied einer solchen Brutgruppe waren, haben im Vergleich zu unverpaart gebliebenen Weibchen eine höhere Chance nächstes Jahr eine monogame Partnerschaft einzugehen. Entwicklung der Jungvögel Die Entwicklung der Jungtiere verläuft bei Brutvögeln des Binnenlands schneller als bei denen, die in Küstenregionen erbrütet werden. Die Jungvögel, die nicht an der Küste, sondern auf Äckern im Binnenland geschlüpft sind, lösen sich bis zu sechs Wochen früher von den Altvögeln, da sie schneller lernen, die Nahrung selbstständig aufzunehmen. Dies liegt sicherlich in erster Linie am unterschiedlichen Nahrungsspektrum. Hauptnahrung der jungen Austernfischer an der Küste sind Muscheln, Schnecken und Krebse, die erst „geknackt“ werden müssen, bevor sie durch das Tier verzehrt werden können, wozu ein vollentwickelter und ausgehärteter Schnabel benötigt wird. Die Jungvögel im Binnenland haben es dabei wesentlich einfacher. Ihre Hauptnahrung, der Regenwurm, kann ohne Aufwand gleich verschlungen werden. Bruterfolg, Sterblichkeit und Alter Einen Monat nach dem Flüggewerden leben noch 16 Prozent der geschlüpften Jungen. Das Durchschnittsalter der Austernfischer beträgt 14 bis 15 Jahre. In Gefangenschaft können die Austernfischer über 30 Jahre alt werden. Den Rekord bisher hält jedoch ein Tier, das 1993 tot aufgefunden wurde. Dessen Beringung aus dem Jahr 1949 in den Niederlanden zeigt ein stolzes Alter von 44 Jahren. Bestandsgröße und Bestandsentwicklung Der Austernfischer ist heute der einzige in der westlichen Paläarktis lebende Vertreter der Gattung der Austernfischer. Der früher auf den östlichen Kanareninseln La Graciosa, Lanzarote und Fuerteventura brütende endemische Kanaren-Austernfischer (Haematopus meadewaldoi) wurde in den 1940er Jahren zuletzt zuverlässig nachgewiesen und gilt seit 1968 als ausgestorben. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kam es beim Austernfischer auf Grund von Verfolgungen und Störungen an den Brutplätzen zu deutlichen Bestandsrückgängen. Der Bestand dieser Vögel hat sich seit etwa 1920 langsam erholt, nachdem erste Schutzmaßnahmen eingeleitet wurden. Seit den 1930er Jahren erfolgte entlang von Flussniederungen eine Besiedelung. Zu einer Bestandserhöhung haben unter anderem eine Ausweitung der Grünlandwirtschaft, ein Rückgang des Sammelns von Austernfischereiern, Rückgang der Bejagung, eine Zunahme der Beutetiere durch Eutrophierung sowie eine Besiedelung von Landwirtschaftsflächen beigetragen. Dies hat zum Teil zu einem teils exponentiellen Bestandsanstieg geführt. So kamen 1955 in den Niederlanden zwischen 8.000 und 12.000 Brutpaare vor. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war der Brutbestand auf 80.000 bis 130.000 Brutpaare angestiegen. Eine potentielle Gefährdungsursache besteht darin, dass 72 Prozent der zur Nominatform gehörenden Austernfischer in nur dreizehn Gebieten überwintern. Die IUCN schätzt den Gesamtbestand des Austernfischers auf 1,1–1,2 Millionen Tiere und stuft die Art als nicht gefährdet (least concern) ein. In Mitteleuropa sind die derzeitigen Bestandsschwankungen in erster Linie auf die Verfolgung, Störungen und Biotopveränderung einerseits und andererseits auf intensive Schutzmaßnahmen und Eindeichungen, die dem Austernfischer zugutekommen, zurückzuführen. Eine Gefahr für den Bruterfolg sind die auf verschiedenen Halligen in Nordfriesland sich ausbreitenden Wanderratten, die die Nester der Austernfischer plündern. Bereits geringe Rattenbestände haben hier zu großen Verlusten bei der Brut geführt, was für die Jahre 2019 und 2021 nachgewiesen ist. Regelmäßige Landunter wirken sich zwar dezimierend auf den Bestand dieser Brutfeinde aus, können aber das Problem allein nicht lösen, so dass wirksame Zusatzmaßnahmen zur Bekämpfung der Rattenbestände gefordert werden. Lediglich auf der rattenfreien Hallig Oland konnte im Frühjahr 2022 ein ausreichend hoher Bruterfolg bei Austernfischer nachgewiesen werden – nicht jedoch auf Hooge oder Langeneß. Auslöser für die Ansiedlung im Binnenland ist wahrscheinlich die Modernisierung und Intensivierung der Landwirtschaft gewesen. So geht seit Mitte der 2000er Jahre der Bestand in den Landkreisen Grafschaft Bentheim und Emsland, wo zuvor eine starke Binnenlandpopulation zu beobachten war, deutlich zurück, wobei der drastische Rückgang der Grünflächen und die stark intensivere Bewirtschaft der verbliebenen Grünlandflächen, verbunden mit erhöhtem Prädatorendruck und Störungen des Brutgeschäfts durch Spaziergänger, Hunde und Reiter, die Hauptursachen sein dürften. Wegen des Rückgangs geeigneter störungsfreier Brutflächen ist hier wie anderswo in Niedersachsen eine Zunahme von Austerfischerbruten auf Flachdächern sogar in Städten festzustellen. Zu den europäischen Ländern, in denen mehr als 20.000 Brutpaare vorkommen zählen neben den Niederlanden Deutschland, Norwegen und Großbritannien. In Mitteleuropa brüteten zu Beginn des 21. Jahrhunderts zwischen 112.000 und 168.000 Brutpaare. Der Winterbestand in Europa beträgt zwischen 900.000 und 1.100.000 Individuen. Austernfischer gelten jedoch als eine der Arten, die von den Folgen der Klimaerwärmung besonders betroffen sind. Ein Forschungsteam, das im Auftrag der britischen Umweltbehörde und der RSPB die zukünftige Verbreitungsentwicklung von europäischen Brutvögeln auf Basis von Klimamodellen untersuchte, geht davon aus, dass es beim Austernfischer bis zum Ende des 21. Jahrhunderts zu einem weitgehenden Erlöschen der Brutpopulationen in West- und Mitteleuropa kommen wird. Spitzbergen und Nowaja Semlja werden dann zwar für Austernfischer als Verbreitungsgebiet in Frage kommen, allerdings kann diese Arealausweitung im Norden nicht die prognostizierten Arealverluste im Süden kompensieren. Nationalvogel der Färöer Auf den nordatlantischen Färöern ist der Austernfischer unter dem einheimischen Namen Tjaldur ([]) der Nationalvogel, dessen jährliche Rückkehr aus den Winterquartieren am 12. März, dem Tag der Grækarismessa, von den Färingern als Frühlingsanfang gefeiert wird. In dem Lied Fuglakvæði besang der färöische Nationalheld Nólsoyar Páll im 19. Jahrhundert diesen Vogel, der seitdem das Symbol des färöischen Unabhängigkeitsstrebens ist. Diesen Status hat er seinem Verhalten zu verdanken, bei Gefahr alle anderen Tiere zu warnen. Der Austernfischer steht auf den Färöern unter strengem Naturschutz. Zehntausende Paare brüten dort. Einige Exemplare überwintern auch auf den Färöern, aber die meisten ziehen in den Süden. Die färöische Sprache kennt auch ein Wort für den Laut, den der Austernfischer von sich gibt: klipp klipp! Trivia Wegen des ähnlichen Aussehens wird der Austernfischer im Volksmund auch Friesenstorch genannt. Er ist zudem das Logo des Seevogel- und Naturschutzvereins Verein Jordsand. Der Asteroid des inneren Hauptgürtels (8442) Ostralegus ist nach dem Austernfischer (wissenschaftlicher Name: Haematopus ostralegus) benannt. Zum Zeitpunkt der Benennung des Asteroiden am 2. Februar 1999 befand sich der Austernfischer auf der niederländischen Blauen Liste wichtiger Vögel, die 1994 gemeinsam mit der niederländischen Roten Liste gefährdeter Vogelarten herausgegeben wurde. Literatur Hans-Günther Bauer, Einhard Bezzel und Wolfgang Fiedler (Hrsg.): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas: Alles über Biologie, Gefährdung und Schutz. Band 1: Nonpasseriformes – Nichtsperlingsvögel. Aula-Verlag Wiebelsheim, Wiesbaden 2005, ISBN 3-89104-647-2. Peter Colston, Philip Burton: Limicolen – Alle europäischen Watvogel-Arten, Bestimmungsmerkmale, Flugbilder, Biologie, Verbreitung. BLV, München 1988, ISBN 3-405-13647-4. Simon Delany, Derek Scott, Tim Dodman, David Stroud (Hrsg.): An Atlas of Wader Populations in Afrika and Western Eurasia. Wetlands International, Wageningen 2009, ISBN 978-90-5882-047-1 Urs N. Glutz von Blotzheim (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bearbeitet u. a. von Kurt M. Bauer und Urs N. Glutz von Blotzheim. Bd. 6: Charadriiformes. Teil 1. Aula, Wiesbaden ³1999, ISBN 3-89104-635-9. Einhard Bezzel: Vögel. BLV, München 1996, S. 170 f. ISBN 3-405-14736-0 Helmut Lensing, Der Austernfischer (Haematopus ostralegus ostralegus) in der Grafschaft Bentheim und dem Emsland, in: Studiengesellschaft für Emsländische Regionalgeschichte (Hrsg.), Emsländische Geschichte, Bd. 23, Haselünne 2016, S. 32–57. Weblinks Der Austernfischer bei der Schutzstation Wattenmeer e.V. Weitere Fotos und Informationen im Naturlexikon Live Webkamera am Nest eines Austernfischers in Norwegen Federn des Austernfischers Einzelnachweise Vogel als Namensgeber für einen Asteroiden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Havelsee
Havelsee
Havelsee [] ist eine Landstadt im Westen des Landes Brandenburg mit etwas mehr als 3000 Einwohnern. Sie ist Teil des Amtes Beetzsee im Landkreis Potsdam-Mittelmark und entstand 2002 durch den freiwilligen Zusammenschluss der Stadt Pritzerbe und der Gemeinden Fohrde, Briest und Hohenferchesar im Vorfeld der geplanten brandenburgischen Gemeindegebietsreform 2003. 2008 kam als fünfter Ortsteil das Dorf Marzahne hinzu. Namensgeber Havelsees sind die Havel und der Pritzerber See, die das Bild der Stadt weitgehend dominieren. Geographie Geographische Lage Die Stadt Havelsee hat eine Fläche von 81 Quadratkilometern. Sie erscheint dabei annähernd in Form eines Dreiecks, dessen Ecken nach Süden, Nordwesten und Osten zeigen. Der weitaus überwiegende Teil der Stadt liegt östlich der Havel, die sie aus Süden kommend in Richtung Nordwesten durchfließt. Nahezu zentral liegt der Pritzerber See. Direkte Nachbarstädte sind die Mittelstadt Brandenburg an der Havel im Süden als das Oberzentrum der Region und die Kleinstadt Premnitz im Nordwesten. Havelsee befindet sich etwa 45 Kilometer westlich der Bundeshauptstadt Berlin und fast am äußeren Rand der Metropolregion Berlin/Brandenburg. Das Havelufer nördlich des Ortsteils Pritzerbe hat eine Höhe von 28 Metern über Normalnull und ist die niedrigste Stelle des Kreises Potsdam-Mittelmark. Der höchstgelegene Punkt Havelsees befindet sich auf der Grenze zur Gemeinde Beetzsee. Diese führt über den Nordwesthang des insgesamt 89,3 Meter hohen Schwarzen Bergs auf einer Höhe von 83,9 Metern. Die Erhebung ist Teil einer Hügelkette im Osten der Stadt, die durch den Fohrder Berg (67,6 Meter), den Gallberg (68,2 Meter), den Schwarzen Berg, den Eichberg (74,7 Meter), den Mühlenberg (70,8 Meter), den Rabenberg und den Fuchsberg (77,2 Meter) gebildet wird. Zwischen den Hügeln liegen Trockentäler. Östlich der Hügelkette befindet sich das eiszeitliche Gletscherzungenbecken beziehungsweise die Schmelzwasserrinne des Marzahner Fenns. Stadtgliederung Die Stadt gliedert sich in fünf Orts- und drei Gemeindeteile. Die Ortsteile sind im Einzelnen: Briest als altes Fischerdorf an der Havel im Süden, nördlich davon Fohrde zwischen dem südlichen Ufer des Pritzerber Sees und dem Fluss, Hohenferchesar am östlichen Ufer des Sees und die ehemalige Stadt Pritzerbe zwischen dem nördlichen Seeufer und der Havel. Der Ortsteil Marzahne liegt abseits der Havel und des Sees im Osten der Stadt. Ein Gemeindeteil Havelsees ist das zur Zeit der Stadtgründung zu Fohrde gehörende Tieckow. Es liegt etwa einen Kilometer südwestlich von Fohrde. Kützkow befindet sich als einziger Teil Havelsees auf der westlichen Havelseite. Der Gemeindeteil Seelensdorf liegt im Norden im Seelensdorfer Forst. Daneben gibt es noch einzelne Wohnplätze. Namentlich benannt sind das zu Briest gehörende Kaltenhausen südlich des Dorfes und Krahnepuhl nördlich, etwa auf halbem Weg nach Tieckow. Tieckow hat circa einen Kilometer südlich des Dorfes ein altes Vorwerk, den Wohnplatz Kolonie Tieckow. Zu Fohrde gehört die an der Havel gelegene Rote Ziegelei, zu Pritzerbe der Heidehof, und bei Hohenferchesar liegt der Bruderhof. Geologie Der westliche Teil Havelsees liegt in einem Zwischenurstromtal, das in der jüngsten, der Weichsel-Eiszeit vor etwa 15.000 Jahren durch den Abfluss von Schmelzwässern entstand und für die Ablagerung fluviatiler Talsande sorgte. In dieser Urstromtalung fließt die Havel, die neue Sedimente anschwemmt. Westlich von Kützkow und nördlich von Pritzerbe gibt es zwei kleine Grundmoränenkomplexe, die von Sedimenten der alten Urstromtalung umgeben sind. Unterbrochen werden diese Sedimente an mehreren Stellen von großflächigen Moorbildungen. Nordöstlich der Linie Pritzerbe–Fohrde erstreckt sich eine Rinnenbeckenreihe mit dem Pritzerber See und weiteren kleineren Seen. Weiter nordöstlich queren Dünenzüge die flacher werdende Rinnenniederung, bis sie sich verliert. Der östliche Teil Havelsees hin zum Ortsteil Marzahne liegt auf Grundmoränenhochflächen der Nauener Platte. Von Hohenferchesar am östlichen Rande des Pritzerber Sees ansteigend, erstreckt sich die Grundmoränenplatte ostwärts und bildet schließlich eine Hügelkette mit den Stauchmoränenkuppen Fohrder Berg, Schwarzer Berg und Fuchsberg mit typischen, vorwiegend kiesigen bis feinsandigen Ablagerungen. Zwischen diesen Endmoränenkomplexen befinden sich sandige Schmelzwassersedimente der sogenannten Vorschüttphase. Östlich der Hügelkette liegt ein Gletscherzungenbecken beziehungsweise eine Schmelzwasserrinne, das Marzahner Fenn, das von Moorbildung geprägt ist. Südwestlich des Schwarzen Berges beziehungsweise südöstlich des Gallberges beginnt die nach Süden laufende glaziale Rinne Bohnenland-Görden-Rinne. Sie verläuft etwa einen Kilometer auf dem Gebiet Havelsees. Böden Im Gebiet der Stadt gibt es verschiedene Böden, wobei die westlichen Bereiche von unterschiedlichen Subtypen des Gleys dominiert werden. Im Osten des Stadtgebietes sind dagegen Braunerde- und Fahlerdeböden vorherrschend. Nördlich von Pritzerbe bis nördlich von Marzahne erstreckt sich ein breiter Streifen Podsol. Ausgedehnte Erdniedermoore gibt es an verschiedenen Stellen im gesamten Gebiet Havelsees, im Nordwesten in der Pritzerber Laake, im Osten im Marzahner Fenn, südlich und östlich des Pritzerber Sees, unmittelbar westlich Marzahnes, östlich von Briest und nordwestlich von Pritzerbe beiderseits der Havel. Flächennutzung Havelsee ist vorrangig ländlich geprägt. Fast 90 Prozent des Stadtgebietes machen Wald, Wasser und Ackerland aus, wobei mit 42,4 Prozent der größte Anteil auf landwirtschaftliche Flächen entfällt. Dabei liegt der Anteil unter dem Landesdurchschnitt von etwa 49 Prozent. Etwas über dem Landesdurchschnitt liegt mit 39,2 Prozent der Anteil an Waldflächen, der brandenburgweit 35,6 Prozent ausmacht. Das größte Waldgebiet Havelsees ist der Seelensdorfer Forst, der das gesamte nördliche Stadtgebiet einnimmt. Auch Wasserflächen haben mit 7,2 Prozent einen deutlich größeren Anteil an der Gesamtfläche als im Landesdurchschnitt des schon gewässerreichen Bundeslandes (3,4 Prozent). Ein nur geringer Flächenanteil Havelsees ist bebaut. Die Art der tatsächlichen Nutzung der Flächen in Havelsee ist in der Tabelle Flächennutzung 2012 aufgeschlüsselt. Gewässer Wichtigstes Gewässer und einziger Fluss in der Stadt ist die Havel, die den Ort von Süden kommend nach Nordwesten in einer alten Urstromtalung durchfließt. Der Fluss ist in Havelsee als Bundeswasserstraße Teil der Unteren Havel-Wasserstraße und mit der Binnenwasserstraßenklasse III klassifiziert. Die biologische Gewässergüte der Havel erreicht im Ort die Güteklasse II bis III, womit sie als kritisch belastet gilt. Bis auf ein Gebiet im Norden der Stadt in der Seelensdorfer Heide und der Pritzerber Laake, das zum Wassereinzugsgebiet des Großen Havelländischen Hauptkanals gehört, ist die Stadt direktes Einzugsgebiet der Havel. Weite an den Fluss grenzende Flächen, vor allem Bereiche nordwestlich Pritzerbes, sind als zwei- beziehungsweise zehnjährige Überschwemmungsflächen ausgewiesen. Inmitten des Stadtgebietes liegt als größter See auf einer Fläche von circa 190 Hektar der maximal 6 Meter tiefe Pritzerber See, der zur Havel entwässert. Dieser See ist ein eutrophes beziehungsweise schwach polytrophes stehendes Gewässer mit sehr flachen und vermoorten Ufern. Der südliche Bereich zwischen den Ortsteilen Fohrde und Hohenferchesar ist vollständig verlandet. Ebenso wie an der Havel sind auch am Pritzerber See ausgedehnte Uferbereiche zwei- beziehungsweise zehnjährige Überschwemmungsflächen und stehen regelmäßig unter Wasser. Der Zu- beziehungsweise Abfluss ist durch einen Damm, über den zwei Brücken zwischen Pritzerbe und Fohrde führen, eingeengt. Neben dem Pritzerber See gibt es im Stadtgebiet mehrere kleinere Seen wie den Kranepfuhl und den Weißen See. Der Weiße See nordöstlich des Pritzerber Sees ist als schwach eutrophes stehendes Gewässer beschrieben. Eine Vielzahl von Gräben durchzieht das Stadtgebiet, die in erster Linie für die Drainage von Feuchtgebieten, Mooren und Überschwemmungsflächen angelegt wurden. Die Gräben dienen teilweise auch dem Abfluss kleinerer Seen in der Stadt. Das Marzahner Fenn wird über ein Grabensystem ostwärts zu den sogenannten Erdelöchern in der Nähe Radeweges und weiter zum Beetzsee entwässert. Im Hauptgraben, dem sogenannten Russengraben, befinden sich im Stadtgebiet drei der vier Wehre dieses Systems, die der Regulierung des Abflusses dienen. Ein anderes Grabensystem führt vom Waldsee des Weißen Fenn Marzahne zum Pritzerber See und nimmt unter anderem Wasser aus den Moorflächen westlich Marzahnes und aus dem Weißen See auf. Dieses Drainagesystem wird über ein Wehr kurz vor dem Pritzerber See reguliert. Der Hauptgraben dieses Systems heißt Roter Graben. Der Bohnenländer See im Stadtgebiet Brandenburgs wird über einen Graben in die Havel südlich von Tieckow entwässert. Innerhalb von Havelsee wird das Eisengraben genannte Fließgewässer über drei Wehre gesteuert und nimmt unter anderem einen Abflussgraben aus dem Kranepfuhl auf. Ein weiteres System von Gräben, mit dem die Überschwemmungsflächen der Havel entwässert werden können, befindet sich nordwestlich von Pritzerbe. Dort steht auch das einzige Schöpfwerk der Stadt, über das höhergelegene und trockene Bereiche bewässert werden können. Die Stadtgebiete auf der westlichen Havelseite verfügen ebenfalls über ein eigenes Grabensystem zur Havel, der Abfluss aus Teilen des Seelensdorfer Forstes und der Pritzerber Laake erfolgt in Richtung des Havelländischen Hauptkanals. Im Stadtgebiet gibt es zwei ausgewiesene Trinkwasserschutzgebiete. Das erste mit dem Wasserwerk der Stadt liegt nördlich von Pritzerbe. Ein zweites Trinkwasserschutzgebiet im Süden rund um Briest erstreckt sich über die Stadtgrenze hinaus nach Brandenburg. Nachbarstädte und -gemeinden An die Stadt Havelsee grenzen im Uhrzeigersinn folgende Städte und Gemeinden: Im Westen die Gemeinde Milower Land, im Nordwesten die Stadt Premnitz, im Norden die Gemeinden Nennhausen und Märkisch Luch, die zum Landkreis Havelland gehören, im Osten die Gemeinden Beetzseeheide und Beetzsee als Teile des Landkreises Potsdam-Mittelmark und im Süden die kreisfreie Stadt Brandenburg an der Havel. Klima In der Stadt Havelsee herrscht gemäßigtes Klima. Dieses wird von Osten vom Kontinentalklima und vom Westen vom atlantischen Seeklima beeinflusst. Die deutlichen Niederschläge verteilen sich über das ganze Jahr. Ausgesprochene Trockenmonate gibt es nicht. Der durchschnittliche jährliche Niederschlag für Havelsee liegt bei 537 mm, wobei der Niederschlag im Ortsteil Briest mit 532 mm am niedrigsten, im Pritzerber Gemeindeteil Seelensdorf mit 544 mm am höchsten ausfällt. Trockenster Monat ist der Februar mit einer Niederschlagsmenge von 32 mm, wohingegen der meiste Niederschlag durchschnittlich im Juni mit 63 mm fällt. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei 9,1 °C. Der wärmste Monat im Vergleich ist der Juli mit durchschnittlichen 18,2 °C. Im Monat Januar, als kältestem Monat im Jahr, beträgt die Durchschnittstemperatur −0,2 °C. Bevölkerung Zum Zensus 2011 zählte Havelsee eine Bevölkerung von 3427 Einwohnern. Im Kreis Potsdam-Mittelmark haben nur die Städte Niemegk und Ziesar eine noch geringere Bevölkerung. Der Ausländeranteil lag bei 1,1 Prozent. 20,8 Prozent der Bevölkerung beziehungsweise 714 Einwohner zählten sich dem evangelischen, 3,4 Prozent beziehungsweise 114 absolut dem katholischen Christentum zu. Die restliche Bevölkerung wurde bei der Frage nach der Religionszugehörigkeit unter „sonstige, keine, ohne Angabe“ zusammengefasst, sodass eine Aussage zu weiteren Religionsgemeinschaften anhand dieser Daten nicht möglich ist. Am 31. Dezember 2012 hatte Havelsee eine geschätzte Bevölkerung von 3349 Einwohnern, was einem Rückgang von 2,3 Prozent entspricht. Bis in das 19. beziehungsweise 20. Jahrhundert war die regionale Mundart ein typischer brandenburgischer Dialekt, der vom größten Teil der Bevölkerung im Alltag gesprochen wurde. In der Zeit Theodor Fontanes beispielsweise wurde in der Gegend noch dieser niederdeutsche Dialekt verwendet. So wurden in vielen Worten p statt f, t statt s-Lauten und k statt des ch verwendet. Beispielsweise sprach man grot statt groß und Dörp statt Dorf. Auch bei Vokalen gab es Unterschiede wie ie und u statt der Diphthonge ei und au. So war das Haus zu dieser Zeit ein Huus. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wechselte die Sprache, von den Städten ausgehend, immer mehr vom Niederdeutschen zum Berliner Dialekt, sodass das Niederdeutsche heute um die Stadt Brandenburg fast als ausgestorben zu bewerten ist. Beispielhaft für die Sprache des 20. und 21. Jahrhunderts wird au zum o (lofen statt laufen) und z zum stimmlosen s (Ssitrone statt Zitrone) gesprochen. Typisch ist auch das häufige Umschreiben des Genitivs wie dem Gregor sein Auto. Geschichte Zeitleiste Ur- und Frühgeschichte Bereits in vorgeschichtlicher Zeit war die Gegend Havelsees von Menschen bewohnt. Anhand archäologischer Funde konnten Besiedlungen des Raums spätestens seit der mittleren Steinzeit nachgewiesen werden. So wurden im Gebiet des Pritzerber Sees zahlreiche Artefakte aus Knochen und Geweih ausgegraben, die in die jungpaläolithische beziehungsweise mesolithische Zeit datiert werden konnten. Dies waren beispielsweise eine Geweihhacke, Fischspieße, knöcherne Angelhaken und ein Schwirrgerät. Aus der jüngeren Steinzeit liegen aus der Pritzerber Gegend ebenfalls Einzelfunde vor. Aus der Bronzezeit stammt ein nordöstlich der Stadt entdecktes Hügelgrab, und anhand von Grabfunden konnte eine erste Besiedlung im Bereich des Ortsteils Briest in der Bronze- bis früheren Eisenzeit (etwa 1000 bis 800 v. Chr.) nachgewiesen werden. Weiterhin konnten bronzezeitliche Siedlungsreste bei Hohenferchesar dokumentiert werden. Eisenzeitliche Grabfelder wurden in der Umgebung des Pritzerber Sees gefunden. Auf der westlichen Havelseite bei Kützkow und in der Nähe Fohrdes wurden Gräber aus der späten römischen Kaiserzeit gefunden. Am Gallberg konnten mehrere Urnengräberfelder verschiedener prähistorischer Epochen, von der späten Bronze- bis zur späten römischen Kaiserzeit, gesichert werden. Beispielsweise fand man eines der ausgedehntesten Gräberfelder der ersten nachchristlichen Jahrhunderte des Havellandes. Es wurden neben anderem eine Urne mit einer Pferdedarstellung und als Grabbeigaben Fibeln gefunden. Große Teile der Funde befinden sich heute in einer Sammlung im Kreismuseum Jerichower Land in Genthin. In seinem Werk Germania beschrieb Tacitus die Gegend östlich der Elbe bis an die Oder als Siedlungsgebiet des suebischen Stamms der Semnonen. Bis auf wenige Restgruppen verließen die Semnonen noch vor beziehungsweise spätestens während der Zeit der Völkerwanderung ab dem 3. beziehungsweise 4. Jahrhundert ihr altes Siedlungsgebiet an der Havel in Richtung des Rheins. Ab dem 5. beziehungsweise 6. Jahrhundert kam die germanische Siedlungstätigkeit weitgehend zum Erliegen. Es liegen für diese Zeit bis ins 8. Jahrhundert nur noch wenige archäologische Funde vor. Anfang des 8. Jahrhunderts wanderten Slawen in das nach der Abwanderung der Germanen weitgehend siedlungsleere Gebiet ein. Reste germanischer Bevölkerung gingen in der slawischen Mehrheitsbevölkerung auf. Aus dieser Zeit stammen beispielsweise Silberschmuckfunde in der Gegend um Briest. Früh- und Hochmittelalter Nachdem die slawische Burg Brandenburg 20 Jahre zuvor von Heinrich I. erobert worden war, errichtete König Otto I. im Jahre 948 das Bistum Brandenburg. In diesem Zusammenhang wurde die ehemalige Stadt Pritzerbe erstmals als civitas Prizervi urkundlich erwähnt. Der Kaiser übertrug dem von ihm neu gegründeten Bistum beziehungsweise dem bischöflichen Reichsfürstentum, dem Hochstift Brandenburg, die Orte Pritzerbe und Ziesar mitsamt den umliegenden Ländereien. Da es 983 zu einem Aufstand der Slawen kam, bei dem Brandenburg mitsamt seinen umliegenden Gebieten in die Hände heidnischer Slawen zurückfiel, lebten die Bischöfe ab dieser Zeit zwar formal in kontinuierlicher Besetzung, jedoch im Exil in Magdeburg als Titularbischöfe und hatten keine Herrschaft über ihre Gebiete im Osten an der Havel. Dieser Zustand bestand fast 200 Jahre, bis 1157 Albrecht der Bär Brandenburg zurückerobern konnte. Es dauerte bis 1161, bis Pritzerbe wieder erwähnt wurde. Laut einer Bestätigungsurkunde des Kaisers Friedrich I. aus dem Jahr 1161 bildete es den Mittelpunkt eines Burgbezirks. Der Fürstbischof von Brandenburg ließ die Burg Pritzerbe zum Schutz des Verkehrs auf der Havel und der am Ostufer verlaufenden Landstraße, die Brandenburg mit Havelberg verband, im Winkel zwischen Fluss und Pritzerber See an der Stelle einer vormaligen slawischen Befestigung errichten. Diese Burg diente auch dem Sitz der Verwaltung der umliegenden Güter durch einen Vogt. Fünfundzwanzig Jahre später, 1186, wurde das Kirchdorf Hohenferchesar („Verchiezere“) gemeinsam mit Marzahne („Marzane“) erstmals urkundlich erwähnt. Der Bischof Brandenburgs bestätigte in der Urkunde dem Domkapitel umfangreichen Güterbesitz. Teile dieses Besitzes waren die zum Burgward Pritzerbe gehörende Kirche Hohenferchesars und die Kapelle Marzahnes. Letztere war eine Filialkirche von Hohenferchesar. Im Jahr 1194 übertrug der Bischof von Brandenburg dem Domkapitel nach dem Tod des Vorbesitzers Rudolf von Jerichow auch das gesamte Dorf Marzahne („Merscane“). Anfang des 13. Jahrhunderts, vermutlich im Jahre 1207 oder 1208, gab es in Pritzerbe einen ersten Kirchenbau, eine Marienkirche, die bei späteren Bränden jedoch völlig zerstört wurde. Ab dem Jahr 1216 war die Stadt neben Brandenburg und Ziesar wiederholt Bischofsresidenz. Der Ritter Daniel von Mukede wurde 1215 erstmals erwähnt, als er dem Brandenburger Domkapitel sechs Hufen Land im Dorf Marzahne „zur Unterhaltung eines ewigen Lichts“ in der Domkirche schenkte. Darauf wurde in Marzahne 1217 an der Stelle der Kapelle eine Kirche gebaut. In diesem Zusammenhang wurde Hohenferchesar, dessen Filialkirche Marzahne blieb, als im Lande Pritzerbe, „in territorio Pritzerwe“, liegend beschrieben. 1220 übereignete Daniel von Mukede ein Lehen des Grafen Siegfried von Osterburg und Altenhausen in Hohenferchesar mit vier Hufen Land dem Hospital des Domstifts Brandenburg. 1225 übertrug von Mukede in Pritzerbe vier Hufen Land und eine Wiese an das Domstift. Das Pritzerbe am See gegenüberliegende Dorf Fohrde wurde erstmals am 4. Februar 1227 als „Verden“ in einer Urkunde erwähnt. In dieser bestätigte der Bischof von Brandenburg als Lehnsherr abermals eine Schenkung, diesmal dreier Hufen Land, durch den späteren Domherren Daniel von Mukede an das Brandenburger Domhospital. Sieben Jahre später, am 27. Februar 1234, bestätigte Papst Gregor IX. urkundlich den kirchlichen Besitz in der „villa Vorden“. Spätmittelalter Das im Süden der Stadt Havelsee liegende alte Fischerdorf Briest wurde erstmals im späten 13. Jahrhundert, 1294, als „Brisitz“ urkundlich erwähnt. In der Erwähnungsurkunde überschrieb die Altstadt Brandenburg Fischereirechte auf der Havel dem Kloster Lehnin bis an das Dorf Briest. Eine deutsche Siedlung mit dem Namen Briest existierte bereits seit dem 12. Jahrhundert, lag aber wohl am gegenüberliegenden Ufer der Havel. Aufgrund von archäologischen Funden wird eine Besiedlung im Gebiet des Dorfes Tieckow spätestens für das 9. bis 12. Jahrhundert angenommen. Die erste urkundliche Erwähnung eines „Tikow“ stammt aus dem Jahr 1317, als es zusammen mit dem Dorf Weseram dem Domkapitel Brandenburg überschrieben wurde. Drei Jahre später wurde ein „Thikowe“ als villa Slavicas, als slawische Siedlung, erwähnt. Ob es sich um zwei verschiedene Tieckow, ein deutsches und ein slawisches, handelte oder ob jeweils derselbe Ort gemeint war, lässt sich nicht feststellen. Als bischöfliche Residenzstadt wurde Pritzerbe aufgegeben, nachdem im 14. Jahrhundert in Ziesar die Bischofsburg ausgebaut worden war. 1336 ereignete sich das erste dokumentierte Hochwasser in der Stadt nach einem Bruch eines Elbdeichs bei Jerichow. 1341 wurde erstmals eine Fährverbindung nach Fohrde über den Pritzerber See beschrieben. Diese hatte nach den Aufzeichnungen bereits „seit alters“ bestanden und war eine gute Einnahmequelle des Bischofs. Kützkow wurde als Cusk und später als Kuczkow in den magdeburgischen Lehnsregistern nach 1368 erstmals erwähnt. Es war zu dieser Zeit Lehnsbesitz unterschiedlicher Vasallen. In den Registern wurden unter anderem die Familien von Zille, von dem Werder und vom Rosenberg genannt. Im Landbuch Karls IV. von 1375 fanden die Dörfer Briest, Fohrde, Marzahne, Tieckow und Seelensdorf Erwähnung. Briest wurde als Fischerdorf mit 14 Hufen Land im Besitz des Lehnsherren von Sandow beschrieben. Fohrde befand sich bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts im Besitz des Bistums Brandenburg, das es zeitweise als Lehen vergab, und nicht des Domkapitels. So gehörte es 1375 zum Lehnsbesitz eines Knappen Gercke Kothe. In Marzahne („Mertzane“) gab es zu dieser Zeit 30 Hufen Land, und Claus Bochow war dort Lehnsnehmer des Domkapitels. Das Dorf Tieckow hatte 1375 12 Hufen. Der Gemeindeteil Seelensdorf wurde erstmals als Selingestorp erwähnt. Es umfasste 26 Hufen, von denen 2 zur Pfarrei und 24 den Bauern im Ort gehörten. Daneben gab es im Ort sechs Kossäten. Seelensdorf war in Lehnsbesitz der Familie von Brösigke, die ihren Sitz im heutigen Beetzseeheide, in Ketzür, hatte. Weniger bedeutend als die Verbindung über den Pritzerber See war die 1385 erstmals erwähnte und noch existierende Fährverbindung über die Havel zwischen Kützkow und Pritzerbe. Im gleichen Jahr wurde in Tieckow ein Kirchbau urkundlich erwähnt. 1393 kam Seelensdorf in den Besitz des Domkapitels Brandenburg, wurde jedoch wenig später, gegen 1400, wahrscheinlich aufgelassen und damit zwischenzeitlich eine Wüstung. Eine wichtige Ernährungsgrundlage entlang der Havel blieb die Fischerei. 1394 gab es in Pritzerbe zehn Fischer, welche die Fischereirechte für die Havel und den See gepachtet hatten. 1399 kam es in der Nähe Marzahnes zu einer Schlacht zwischen magdeburgischen und brandenburgischen Rittern, welche die Magdeburger für sich entscheiden konnten. Das Dorf Kützkow befand sich 1400 im Lehnsbesitz der Familie vom Rosenberg, ehe im weiteren Verlauf des 15. Jahrhunderts Teile vorübergehend ebenfalls zum Brandenburger Domkapitel kamen. 1417 kam es in Tieckow zur Katastrophe, als Raubritter des Erzbistums Magdeburg den Ort plünderten. Tieckow wurde eine Wüstung im Besitz des Prämonstratenserstifts „Unserer lieben Frau auf dem Berge“ auf dem Marienberg vor der Altstadt Brandenburgs. Die Stadt Pritzerbe war spätestens seit 1424 Marktort. In der Nähe der Stadt lag ein bischöfliches Jagdgebiet. Fohrde und Hohenferchesar befanden sich 1450 im Lehnsbesitz eines Lantin beziehungsweise Landin, der auch Besitzungen in Butzow im heutigen Beetzseeheide hatte. Ab 1463 gehörte Briest zum Gut beziehungsweise Amt Plaue. Letzte Lehnsnehmerin Fohrdes unter dem Bischof von Brandenburg war die Familie von Brösike. Im späten Mittelalter wurde die Burg Pritzerbe aufgelassen. Frühe Neuzeit Unter dem brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. und seinem Sohn Johann Georg änderten sich die Besitzverhältnisse im Gebiet Havelsees grundlegend. 1539 führte Joachim II. im Kurfürstentum Brandenburg und im Hochstift Brandenburg die Reformation ein. Dessen Sohn Johann Georg wurde 1560 zum Bischof des Bistums und somit zum Reichsfürst des Hochstifts gewählt beziehungsweise ernannt. 1571 fiel schließlich das zuvor teilsouveräne Hochstift Brandenburg an das Kurfürstentum beziehungsweise ging in ihm auf. In diesem Zusammenhang ging mit der Säkularisation der kirchliche Besitz in und um die Ortsteile Havelsees auf den Kurfürsten über. Aufgrund der bevorstehenden Säkularisation fand bereits im Jahr 1548 letztmals eine Bischofstagung in Pritzerbe statt. Die Stadt verlor ihren Status einer Residenzstadt und verlor an Bedeutung. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurde das wüste Tieckow wieder besiedelt. Aus dem ehemals mittelalterlichen Dorf wurde ein Vorwerk mit einer Schäferei. In diesem Zusammenhang wurde auch die alte Tieckower Dorfkirche 1518 erneuert, nachdem sie in der Zeit der Wüstung verfallen war. Das zwischenzeitlich ebenfalls aufgelassene Seelensdorf wurde im Jahr 1541 wieder in Aufzeichnungen genannt. Wie im Tieckow dieser Zeit gab es auch in Seelensdorf eine Schäferei, und der Ort wurde im weiteren zeitlichen Verlauf als Vorwerk beschrieben. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts kam es wieder zu einigen Besitzwechseln in der Gegend Havelsees. So ging 1585 das Rittergut Kützkow für fünfunddreißig Jahre an die Familie von Plotho, und Tieckow wurde gegen Ende des 16. Jahrhunderts von den Besitzern des Rittergutes Plaue übernommen, bei denen es rund 300 Jahre verblieb. In Hohenferchesar war vom 16. bis ins 17. Jahrhundert die Familie von Platow Lehnsnehmer des Kurfürsten. Im Jahr 1598 kam es dann zum ersten dokumentierten Großbrand in Pritzerbe, der weite Teile der Stadt zerstörte. Im 17. Jahrhundert traf der Dreißigjährige Krieg (1618 bis 1648) auch das protestantische Brandenburg. So drangen unter anderem schwedische Truppen in das Gebiet Havelsees ein und zerstörten die Tieckower Kirche, die nie wieder aufgebaut wurde. So verfügt Tieckow heute über keinen Kirchenbau. Die Briester Kirche wurde in diesem Krieg ebenfalls geplündert und beschädigt. Zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges, im Jahre 1620, gingen Rittergut und Dorf Kützkow von der Familie von Plotho in den persönlichen Besitz des Magdeburger Domherren Christoph von Görne über. 1625 wurden die Kützkower Besitzungen zum erblichen Lehen seiner Familie erklärt. Neben Kützkow übernahm die Familie von Görne auch Plaue und damit die Dörfer Briest und Tieckow. Zu der Familie von Görne gehörte in späterer Zeit unter anderem der preußische Finanzminister Friedrich von Görne. Über diesen ist bekannt, dass er 1710 Kützkow im Tausch gegen die Herrschaft über Plaue verließ, während von dort sein Neffe Lewin Werner von Görne auf das Rittergut wechselte. Über die Dorfgemeinde Fohrde ist aus der Frühzeit des Dreißigjährigen Krieges, 1624, dokumentiert, dass sie aus fünfzehn Hüfnern, sieben Kossäten, einem Hirten, einem Laufschmied und einigen Schäferknechten bestand. Insgesamt gehörten 42 Hufen Land zum Ort. 1674 kam es abermals zu einem Krieg mit dem Königreich Schweden, dem zu dieser Zeit Pommern gehörte, und zu Verwüstungen in Havelsee. Während des Nordischen Krieges drangen schwedische Truppen aus Pommern in Brandenburg ein und besetzten 1675 unter anderem das westliche Havelland. Dabei wurde die Stadt Pritzerbe geplündert. Vom Dorf Briest ist die Plünderung der Kirche überliefert. Vor den anrückenden brandenburgischen Truppen zogen sich die Schweden nach Norden zurück, wo es zur Schlacht bei Fehrbellin kam. Nur vierzehn Jahre nach der Plünderung wurde Pritzerbe 1689 durch einen Stadtbrand vollständig zerstört. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts siedelten in Tieckow neben den Schäfern einige Kötter und ein Windmüller. In der Stadt Pritzerbe wurde ebenfalls in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, 1714, die Akzise, eine Steuer auf Lebens- und Genussmittel sowie Verbrauchsgüter, eingeführt. Um diese Steuer einziehen zu können, wurde um die Stadt der Graben mit Brücken ausgebaut und ein Palisadenzaun mit fünf Stadttoren errichtet, an denen sie erhoben wurde. In Briest wurden 1732 noch neun Fischer gezählt, und laut Aufzeichnungen aus dem Jahr 1742 gehörten zu Kützkow eine Schäferei, eine Mühle, eine Brauerei und eine Brennerei. Im späteren 18. Jahrhundert, 1772, lebten in Fohrde 185 Einwohner, und das Dorf Briest kam im selben Jahr von Plaue zur Stadt Brandenburg, in deren Besitz es bis ins 19. Jahrhundert blieb. Ein Jahr später gab es erneut einen großen Stadtbrand in Pritzerbe, bei dem abermals auch die Kirche vollständig zerstört wurde. Sie konnte innerhalb eines Jahrzehnts, bis 1783, wieder aufgebaut werden. Drei Jahre nach dem Stadtbrand, 1776, wurde in Pritzerbe die Schifferinnung als Schiffer- und Fischergilde gegründet. Noch bis 1782 bewirtschaftete die Familie von Görne das Gut Kützkow. Anschließend, von 1783 bis 1805, kamen Dorf und Rittergut in den Besitz der Gräfin Caroline von Eickstedt-Peterswald. Neben Kützkow erwarb sie 1783 eine Gutssiedlung in der Nähe Tieckows, die erst wenige Jahre zuvor entstanden war. Die Gräfin von Eickstedt-Peterswald spendete in späteren Jahren ein Armenlegat in Höhe von 155.000 Talern für die Ortschaften Kützkow, Tieckow und Bahnitz. Neuere Geschichte Zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gab es elf Feuerstellen im Dorf Tieckow und drei weitere im Vorwerk. In Hohenferchesar lebten zur selben Zeit ein Lehnschulze, zehn Bauern, sieben Kossäten, drei Kätner, zwei Schiffer und zwei Zimmerleute. Darüber hinaus gab es im Ort eine Schmiede, eine Mühle und einen Krug. Nach 1810 nutzte die Tieckower Bauerngemeinde die preußischen Reformen, kaufte von der damaligen Besitzerfamilie von der Recke das Rittergut und teilte die Liegenschaft unter sich auf. 1815 wurden im Königreich Preußen nach den Befreiungskriegen und den damit zusammenhängenden politischen Veränderungen Provinzen gebildet. Pritzerbe, Fohrde, Tieckow, Briest, Hohenferchesar und Marzahne wurden der neuen preußischen Provinz Brandenburg angegliedert, deren Grenze die Havel markierte. Somit gehörte das westliche Flussufer bereits zur Provinz Sachsen, und Kützkow kam als einziger Teil Havelsees zu dieser Provinz. Ein Jahr später wurde in Brandenburg der Landkreis Westhavelland und in Sachsen der Landkreis Jerichow II gegründet, zu denen darauf die Orte jeweils gehörten. 1827 zerstörte ein Brand das gesamte Dorf Hohenferchesar und mit ihm die Kirche, die bis 1831 wiederaufgebaut werden konnte. In der gesamten Gegend entlang der Havel und der mit ihr verbundenen Seen gab es zu Beginn und im Verlauf des 19. Jahrhunderts und mit der beginnenden und voranschreitenden Industrialisierung in Preußen einen wirtschaftlichen Aufschwung. Aufgrund reicher Tonvorkommen in der Gegend und der Nähe zum Transportweg Havel wurden unter anderem in den Ortschaften Fohrde, Hohenferchesar, Pritzerbe, Briest und Tieckow mehrere Ziegeleien errichtet. Als einzige existiert die 1840 eröffnete Tieckower Ziegelei in Krahnepuhl noch heute als Baustoffwerk. Die in Krahnepuhl vorwiegend gebrannten gelben Klinker wurden vor Ort verladen und mit dem Schiff in die Städte Brandenburg, Potsdam und Berlin transportiert. Eine Schiffsladung bestand üblicherweise aus etwa 40.000 bis 50.000 Ziegelsteinen. Die Klinkerproduktion wurde in Krahnepuhl noch bis zum Jahr 1972 aufrechterhalten. Dann wurde im Werk von Ton auf andere Grundstoffe umgestellt. Aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwung durch die Ziegeleiindustrie wuchsen die Ortschaften beträchtlich. So bestand Fohrde beispielsweise 1840 noch aus 35, zur Jahrhundertwende sechzig Jahre später bereits aus 101 Wohnhäusern. Spätestens ab dem Jahr 1836 wurde in der Stadt Pritzerbe nachweislich Schiffsbau betrieben. So sind bis zu sechs Werftbetriebe für die darauf folgenden Jahrzehnte nachgewiesen. Dies waren die Werften Günther, Nethe, Heuser, Habedank, Schwarz und Paelegrim. Eine eigene jüdische Gemeinde gab es in Havelsee nie. Anhand von Unterlagen lässt sich jedoch nachvollziehen, dass 1844 in der Stadt Pritzerbe zwei jüdische Familien lebten, die zur jüdischen Gemeinde der Stadt Brandenburg gehörten. In den 1850er Jahren wurde Pritzerbe für kurze Zeit Kreisstadt im Westhavelland und bekam 1853/54 ein neues städtisches Volksschulgebäude. Auf der gegenüberliegenden Havelseite wurde 1857/58 auf dem Rittergut Kützkow das Gutshaus als Schloss im Tudorstil umgebaut. Um die finanziellen Risiken bei Ausfällen zu mindern, wurde 1876 in Pritzerbe für die vielen Schiffer im Ort und in der Umgebung die Kahnversicherungs-Gesellschaft a. G. gegründet. Im späten 19. Jahrhundert bildeten das eigentliche Dorf, die sogenannte Kolonie, das Vorwerk und die Ziegelei Krahnepuhl die Wohnplätze des Ortes Tieckows, und 1897 konnte nach dem Bau einer Brücke für die Landstraße über den Pritzerber See der jahrhundertelange Fährbetrieb zwischen Fohrde und Pritzerbe eingestellt werden. Zwei Jahre später wurde in Pritzerbe eine Schifferfachschule gegründet. Im Jahr 1904 wurden Pritzerbe und Fohrde mit der privaten Brandenburgischen Städtebahn, die von Treuenbrietzen über Belzig, Brandenburg und Rathenow nach Neustadt (Dosse) führte, an das deutsche Schienennetz angeschlossen. Bis dahin fuhren Liniendampfer zur Personenbeförderung auf der Havel in die Richtungen Rathenow und Brandenburg. Vom Ersten Weltkrieg bis ins 21. Jahrhundert Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden Rüstung und Militär im späteren Havelsee etabliert. Aufgrund der geographischen Gegebenheiten, die die großflächige Anlage des Flugplatzes Brandenburg-Briest zuließen, wurden 1914 die Brandenburgischen Flugzeugwerke in der Nähe von Briest gegründet. Diese wurden 1915 in Hansa- und Brandenburgische Flugzeugwerke umbenannt. In den Werken wurden bis 1918 unter der Leitung von Ernst Heinkel etwa 1300 Flugzeuge vor allem für die Marine gebaut. Daneben nahm auf dem Flugplatz 1916 eine Fliegerschule den Betrieb auf. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Flugzeugproduktion verboten und das Werk wieder abgebaut. Nach dem Weltkrieg war Julius Wilhelm Ferdinand Ebeling bis 1933 Rittergutspächter in Kützkow. 1929 endete in Pritzerbe die Zeit des Schiffbaus mit dem letzten Schiff, das die Werft Paelegrim verließ. Zwei Jahre später bestand das Dorf Fohrde aus 156 Wohnhäusern, und Tieckow wurde als Landgemeinde mit den Wohnplätzen Kolonie und Ziegelei Krahnepuhl geführt. Letzter Rittergutsbesitzer auf Kützkow war bis zu seiner Enteignung nach dem Zweiten Weltkrieg durch die sowjetische Verwaltung Hermann von Schnehen. Ab 1929 wurde der Flugplatz Brandenburg-Briest getarnt und unter Umgehung der Bestimmungen des Friedensvertrags von Versailles ausgebaut. 1936 begann die Ausweitung zu einem Schulfliegerhorst der Luftwaffe der Wehrmacht. Daneben richteten die Arado Flugzeugwerke auf dem Platz einen Montagebetrieb ein. Der Ausbildungsbetrieb der Fluglehrerschule der Luftwaffe begann im April 1939 und dauerte bis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Flugplatz Brandenburg-Briest wurde von mehreren Jagdfliegereinheiten belegt. Ab Januar 1945 wurde der Eliteverband Jagdverband 44 gebildet und der Platz zum Schutz Berlins in die Reichsverteidigung eingebunden. Brandenburg-Briest diente auch als Montage- und Einsatzstützpunkt des neuentwickelten Strahljägers Messerschmitt Me 262. Am 10. April 1945 griff die 8. US-Luftflotte den Flugplatz an. Dabei kam es auch zu Zerstörungen im Dorf Briest. Neunzehn Tage später, am 29. April, besetzte die Rote Armee das Gelände. In anderen Gebieten Havelsees gab es die größten Zerstörungen ebenfalls kurz vor Kriegsende, als Soldaten der Wehrmacht beispielsweise die Übergänge über Fluss und See, die Havelfähren und die beiden Brücken zwischen Fohrde und Pritzerbe zerstörten. Um Pritzerbe und an den Übergängen der Havel kam es im April und Mai 1945 zu Kämpfen zwischen deutschen und sowjetischen Truppen. Am 4. Mai, vier Tage vor Kriegsende, war das Gebiet von Havelsee vollständig von der Roten Armee eingenommen. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs brannte im Mai 1945 das Schloss Kützkow völlig nieder und wurde nicht wiederaufgebaut. Im Zuge der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone ab 1945 wurde Landbesitz, welcher größer als 100 Hektar war, enteignet und unter landloser oder landarmer Bevölkerung neu aufgeteilt. Dies betraf in Kützkow das Rittergut von Hermann Wasmod von Schnehen mit 487 Hektar Land, in Pritzerbe das Gut Heidehof mit 150 Hektar, vier Güter in Marzahne mit 106 Hektar, 128 Hektar, 114 Hektar und 148 Hektar und ein Gut in Briest mit 135 Hektar. Auch in Tieckow, Fohrde und Hohenferchesar wurde Böden aufgeteilt. Am 1. Juli 1950 wurden die Dörfer Tieckow nach Fohrde und Kützkow nach Pritzerbe eingemeindet. Für Kützkow bedeutete die Eingemeindung gleichzeitig den Wechsel vom seit 1947 bestehenden Land Sachsen-Anhalt nach Brandenburg und in den Kreis Westhavelland. 1952 fand in der 1949 gegründeten DDR eine Verwaltungsreform statt. Die Länder wurden aufgelöst und dafür Bezirke gebildet. In diesem Zusammenhang war auch eine Umstrukturierung der bestehenden Kreise notwendig geworden. So wurde der Landkreis Westhavelland, zu dem die Orte gehörten, aufgelöst und die Gemeinden dem neuen Kreis Brandenburg (Land) im Bezirk Potsdam angegliedert. Ab 1953 erfolgte auch in den heutigen Ortsteilen Havelsees die Kollektivierung der Agrarbetriebe, die durch die Bodenreform teils sehr klein waren, in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG). 1957 wechselte das Ziegelwerk Krahnepuhl mitsamt dem Wohnplatz von der Gemeinde Fohrde nach Briest. Auf dem Flugplatz Brandenburg-Briest wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst bis 1948 ein Internierungslager des Innenministeriums der Sowjetunion (NKWD) eingerichtet. Ab 1949 diente er wiederhergerichtet als Stützpunkt der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland. Stationiert waren bis 1953 Jagdflieger- und bis 1956 Schlachtfliegereinheiten. Im Oktober 1956 übernahmen die neugegründeten Luftstreitkräfte der Nationalen Volksarmee mit der Hubschrauberausbildungsstaffel 35 (später Hubschrauberausbildungsgeschwader 35) und dem Hubschrauberausbildungsgeschwader 34 (später Transporthubschraubergeschwader 34 „Werner Seelenbinder“) mit Mil Mi-8 und kurzzeitig auch der Hubschrauberstaffel 64 mit Mil Mi-8TB und Mil Mi-24 Brandenburg-Briest. Die Staffel 64 wurde Ende 1982 auf den Flugplatz Cottbus-Nord verlegt. Nach Auflösung der NVA benutzten zeitweise Teile des Lufttransportgeschwaders 65 der Luftwaffe der Bundeswehr den Flugplatz, bevor er der militärischen Verwendung entzogen und als Sonderlandeplatz umgewidmet wurde. 2009 folgte die Entwidmung und endgültige Stilllegung. Mit den politischen Umwälzungen der Jahre 1989 und 1990 kam es wiederum zu Veränderungen. 1990 wurde der Bezirk Potsdam aufgelöst und ging im wiedergegründeten Land Brandenburg auf. Nach der Wiedervereinigung wurde 1993 der neue Landkreis Potsdam-Mittelmark gegründet, in dem der Landkreis Brandenburg aufging. Im Vorfeld der für 2003 geplanten brandenburgischen Gemeindegebietsreform schlossen sich zum 1. Februar 2002 Pritzerbe und die Gemeinden Fohrde, Briest und Hohenferchesar freiwillig zur Stadt Havelsee zusammen. Offizieller Termin der Stadtwerdung war der 1. Mai 2002. Havelsee ist Stadt, da das Stadtrecht von Pritzerbe auf die Neugründung überging. Am 1. Januar 2008 wechselte Marzahne aus der Gemeinde Beetzsee als jüngster Ortsteil zu Havelsee. Stadt- und Ortsnamen Der Name Havelsee für die Stadt wurde gewählt, da eine Neugründung unter Einbeziehung aller fusionswilligen Orte und keine Eingemeindung beabsichtigt war. Dies sollte durch einen neuen Namen deutlich werden. Da die Havel und der zentral liegende Pritzerber See für die Stadt bestimmend sind, fiel die Entscheidung auf Havelsee. Der Name der alten Stadt Pritzerbe ist wie der der meisten umliegenden Ortschaften slawischen Ursprungs. Erstmals erwähnt wurde Pritzerbe als „civitas Prizervi“. Es wird vermutet, dass der Name das polabische Wort cerv enthält, das so viel wie Made oder Wurm bedeutet. Weiterhin soll es die Bedeutung rote Farbe, roter Stoff haben. Somit wird Pritzerbe als Ort angenommen, an dem Schildläuse vorkamen, aus denen roter Farbstoff gewonnen wurde. Im Laufe der Zeit änderte sich der dokumentierte Ortsname von „Prizervi“ in „Pritzerwe“ und in Pritzerbe. Kützkow ist ebenfalls slawischen Ursprungs und bedeutet etwa „Wohnort eines Mannes namens Kucek“. Der Ort wurde erstmals als „Cusk“ und später als „Kuczkow“ erwähnt. Seelensdorf ist ein deutscher beziehungsweise germanischer Name. In der ersten Erwähnung war von „Selingestorp“ die Rede. Es soll sich um das „Dorf des Seling“ gehandelt haben, womit offenbar der Ortsgründer gemeint war. Fohrde entwickelte sich vom mittelniederdeutschen Wort vorde beziehungsweise vörde für Durchgang, Durchfahrt, Furt beziehungsweise vort für enger Zugang, schmaler Dammweg, Wasserdurchgang, Furt. Erstmals erwähnt wurde Fohrde als „Verden“ oder „Vorden“. Im 18. Jahrhundert hieß der Ort im Schmettauschen Kartenwerk „Föhrde“. Tieckow ist, wie die Endung verrät, aus dem Slawischen entstanden. Der Ortsname lässt sich vom Personennamen Tik oder Tyk ableiten und beschreibt die Wohnstätte beziehungsweise den Wohnort der Person. In den beiden ersten Erwähnungen war von „Tikow“ und „Thikowe“ die Rede. Wenig später wurde der Ort „Tykov“ geschrieben. Im Schmettauschen Kartenwerk des späten 18. Jahrhunderts hieß das Dorf „Tiekow“. Der Name Hohenferchesar entwickelte sich aus den polabischen Worten verch für oberer Teil und jezer für See. Name kann also mit „Ort auf einer Höhe am See gelegen“ übersetzt werden. Erstmals war von „Verchiezere“ die Rede. Im Laufe der Jahrhunderte wurde in Urkunden, Dokumenten und Kartenwerken aus „Verchiezere“ zunächst „Verchesar“ und schließlich „Ferchesar“. Da es einen Ort gleichen Namens jedoch bereits in der Nähe von Rathenow gibt, wurden beide durch die Vorsilben Hohen- und Nieder- unterschieden. Jedoch wurde das Hohenferchesar in Havelsee ursprünglich Niederferchesar genannt, während die Vorsilbe Hohen- für den noch heute Ferchesar genannten Ortsteil Nennhausens verwendet wurde. Erst der Fehler eines Regierungsbeamten bescherte Hohenferchesar 1901 seinen heutigen Namen. Marzahne wurde erstmals als „Marzane“ urkundlich erwähnt. Der Name Marzahne leitet sich vermutlich vom polabischen Wort morcane für Sumpf ab. Im Laufe der Jahrhunderte wurde in Urkunden aus „Marzane“ „Merscane“, „Mertzane“, „Merzane“ und „Marczan“. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hieß das Dorf „Marzahn“. Von Briest wird angenommen, dass es am ehesten vom polabischen Wort breza für Birke abgeleitet ist. Seine erste Erwähnung fand es als „Brisitz“. Der Name wandelte sich gerade in den ersten Jahrhunderten oft und entwickelte sich zu „Brisic“, „Brysitz“, „Breist“, „Bryst“ und „Brist“. Politik Stadtverordnetenversammlung Die Stadtverordnetenversammlung besteht aus 16 Stadtverordneten und dem Bürgermeister. Die letzte Kommunalwahl fand am 26. Mai 2019 statt. Die Wahlen waren kombinierte Personen- und Listenwahlen. Jeder Wähler konnte bis zu drei Stimmen abgeben. Bürgermeister Bürgermeister der Stadt Havelsee ist der parteilose Günther Noack, der bei der Kommunalwahl 2019 mit 70,0 Prozent der gültigen Stimmen erneut für fünf Jahre gewählt wurde. Bei der Wahl 2008 bekam er, ebenfalls als Einzelkandidat 84,2 Prozent Ja-Stimmen. Es ist seine vierte Amtszeit als Bürgermeister Havelsees, nachdem er bereits 2003 für fünf Jahre gewählt worden war. Vor der Gründung Havelsees war Günther Noack Bürgermeister der Stadt Pritzerbe. Sitz des Bürgermeisters und Rathaus der Stadt Havelsee ist das vormalige Rathaus der Stadt Pritzerbe. Wappen Die 2002 gegründete Stadt Havelsee führt bislang kein Stadtwappen. Sehenswürdigkeiten und Tourismus In Havelsee hat durch die direkte Lage am Fluss vor allem der Wassertourismus und der Wassersporttourismus eine zunehmende, auch wirtschaftliche Bedeutung. Segelsport- und Bademöglichkeiten und eine Wasserskistrecke befinden sich direkt im Fluss- und Seengebiet der Stadt. Wasserwanderungen entlang der weitgehend naturbelassenen und geschützten Unteren Havel und ihren Seitengewässern sind bei Touristen beliebt. Seit einigen Jahren werden Fahrten und Urlaube in gemieteten führerscheinfreien Hausbooten auf dem Fluss und seinen angrenzenden Seen immer stärker angeboten und nachgefragt. Die Untere Havel ist Route verschiedener Anbieter für Flusskreuzfahrten. Viele Brandenburger haben ihre Wochenend- und Ferienhäuser in Havelsee und entlang des Flusses. Seit 2009 berührt der Havelradweg die Stadt. Er führt von Süden kommend entlang des Flusses durch Briest, Tieckow, Fohrde und Pritzerbe, mit der Fähre über die Havel nach Kützkow und verlässt Havelsee in nordöstlicher Richtung. In Kützkow und in Hohenferchesar gibt es Campingplätze direkt an der Havel beziehungsweise am Pritzerber See. Bauwerke Sehenswürdigkeiten sind der historische Stadtkern der über 1000 Jahre alten märkischen Kleinstadt Pritzerbe mit mehreren denkmalgeschützten Gehöften und Häusern (Dammstraße 18, Dammstraße 20, Havelstraße 8 und Mühlenstraße 4) und der nach einem Brand neu aufgebauten und 1783 geweihten Stadtkirche St. Marien „Unser lieben Frauen“ mit einer Orgel von Joachim Wagner aus dem Jahr 1737. Im ebenfalls denkmalgeschützten Pfarrgehöft Marktstraße 6 wurde 2006 eine etwa zweihundert Jahre alte Fachwerkscheune restauriert. Von der bischöflichen Burg Pritzerbe ist heute nur noch ein Burgstall, der spätere Mühlberg am südlichen Ende zwischen der Bundesstraße 1 und der Havelstraße, sichtbar. In Fohrde befindet sich die sogenannte Villa Reichstein beziehungsweise Villa Fohrde, eine klassizistische ehemalige Sommervilla des Brandenburger Fabrikbesitzers Reichstein. Bei der Dorfkirche Fohrde handelt es sich um einen schlichten barocken Putzbau aus dem Jahr 1765 mit Chor, Kirchenschiff, einem kleinen Querhaus und einem Westturm mit Turmhaube. Im Inneren der Kirche befindet sich eine hölzerne Altarwand. Die Orgel stammt aus dem Jahr 1861 vom Berliner Orgelbaumeister Wilhelm Remler. Sie steht auf einer um die Orgel leicht ausgebauchten hölzernen Westempore über dem Eingang, die reichlich mit Malerei verziert ist. Das Gehöft in der Fohrder Hauptstraße 7 besitzt einen reichen Fries mit kleinen Konsolen und ein Gesims unter der Traufe. Das Portal weist Pilaster mit blumigen Kapitellen und eine ausgeschmückte Verdachung mit Wappen auf. Wichtigste Sehenswürdigkeiten Tieckows sind das alte Kirch- und Schulhaus und ein altes Bauernhaus, das um 1780 erbaut wurde. Das einstöckige Wohnhaus aus dem 18. Jahrhundert besitzt eine kleine fensterlose Küche, in der noch der originale Ziegelboden, auf dem unter einem Dreifuß das Feuer brannte, erhalten geblieben ist. Der Rauch zog frei in den noch gut erhaltenen Rauchfang, wo über der Kochstelle Lebensmittel geräuchert und haltbar gemacht wurden. Der Chor der Dorfkirche Marzahnes stammt aus dem 13. Jahrhundert. Das Schiff aus Felsstein und der spätgotische Kirchturm aus Backstein wurden wahrscheinlich im 15. Jahrhundert ergänzt. Nachdem die Dorfkirche 1607 ausgebrannt war, wurde der Bereich des mittelalterlichen Chores durch ein auffälliges Holzbalkengesims erhöht und mit dem Schiff unter ein gemeinsames und einheitliches Dach gebracht. In der Kirche befindet sich eine Kanzel aus dem Rokoko. Im 18. Jahrhundert wurden die Fenster des Kirchenschiffs baulich verändert. 1831 setzte man dem Kirchturm ein Walmdach auf, welches mit einem Dachreiter versehen war. Dieser Dachreiter musste 1996 aufgrund der Einsturzgefahr abgenommen werden und befindet sich heute im Hof der Kirche. 1953 wurde an Schiff und Chor an der Südseite ein Gemeinderaum angebaut. Die Bleiverglasungen im Altarraum und hinter dem Kanzelaltar wurden nach Entwürfen von Hans-Joachim Burgert gefertigt. Die Kirche Hohenferchesars wurde 1831 geweiht, nachdem der Vorgängerbau am 29. März 1827 vollständig niedergebrannt war. Es handelt sich dabei um einen sehr schlichten Putzbau mit fensterlosem dreiseitigem Chor und einem quadratischen Westturm mit Pyramidenspitze. In der Kirche befindet sich ein mit Edelsteinen besetzter und reichlich verzierter vergoldeter Silberkelch aus dem 17. Jahrhundert. Gegenüber der Kirche liegt das ebenfalls unter Denkmalschutz stehende alte Pfarrhaus. Aus dem Jahr 1888/89 stammt der interessante, neoromanische Kirchenbau im Ortsteil Briest. Dieser wurde aus blanken Ziegeln gemauert. 2013 wurde das Gebäude aufgrund eines hohen Investitions- und Restaurierungsbedarfs profaniert und so einer kirchlichen Nutzung dauerhaft entzogen. Es soll in private Hand verkauft werden. Das Verzeichnis sämtlicher denkmalgeschützter baulicher Sehenswürdigkeiten findet sich in der Liste der Baudenkmale in Havelsee. Die Bodendenkmale sind in der Liste der Bodendenkmale in Havelsee aufgeführt. Museen Die letzte Rohrweberei Deutschlands arbeitet in Pritzerbe. Sie befindet sich seit 1945 im ehemaligen Schützenhaus östlich der Stadt. In ihr wird auf speziellen, vom ehemaligen Besitzer und Leiter Georg Wellendorf angeschafften Webstühlen auf angelegten Feldern geerntetes Schilf zu Schilfrohrmatten und anderen Erzeugnissen gewoben. Im Oktober 2013 wurde in der Rohrweberei ein Museum eröffnet, welches in einer Ausstellung neben den handwerklichen auch heimatkundliche Themen behandelt. Das Museum ist an in der Werkstatt arbeitsfreien Wochenendtagen und der Handwerksbetrieb unter der Woche für Besucher geöffnet. Im Hafen Pritzerbes liegt das Museumsschiff Ilse-Lucie, ein 1927 gebauter Schleppkahn im Groß-Finowmaß. Dieser ehemals im Ort gebauten Schiffen ähnliche Kahn wurde 2011 vom Pritzerber Schifffahrtsverein 1776 erstanden und ausgebaut. Eröffnung des Pritzerber Schifffahrtsmuseum an Bord der Ilse-Lucie, in welchem die Geschichte des örtlichen Schiffbaus und des Reedereibetriebes gezeigt wird, war am 17. Mai 2015. Schutzgebiete Über 80 Prozent der Fläche der Stadt Havelsee sind als teilweise sich überlappende Schutzgebiete ausgewiesen. Die Stadt liegt beispielsweise überwiegend im Bereich des Naturparks Westhavelland. Daneben gibt es in Havelsee weitere Schutzgebiete. Einige reichen in Anteilen über die Stadtgrenze hinaus. Die Schutzgebiete in Havelsee sind drei Naturschutzgebiete, zwei Landschaftsschutzgebiete, ein Naturpark, drei geschützte Landschaftsbestandteile, ein Flächennaturdenkmal, vier Naturdenkmale, zwei SPA-Gebiete (europäische Vogelschutzgebiete) und vier FFH-Gebiete (Flora-Fauna-Habitate). Daneben sind weitere Bereiche als geschützte Biotope und einige Straßen als geschützte Alleen ausgewiesen. Siehe auch die Liste der Naturdenkmale im Amt Beetzsee. Naturpark Westhavelland Bis auf das südliche Drittel Havelsees ist die Stadt Teil des sich entlang der Unteren Havel erstreckenden Naturparks Westhavelland. Dieser ist mit 1315 Quadratkilometern Fläche das größte Schutzgebiet in Brandenburg und umfasst eines der größten zusammenhängenden Feuchtgebiete des europäischen Binnenlandes und Mitteleuropas. Er ist größtes Rast- und Brutgebiet für Wat- und Wasservögel im Binnenland. Weiterhin sind die Feuchtgebiete einer der größten Binnenrastplätze nordischer Zugvögel. Im Frühjahr rasten auf den Seen und flach überstauten Wiesen tausende Gründel- und Tauchenten. Große Schwärme Watvögel suchen nach Nahrung, ehe sie in ihre nördliche und östliche Heimat weiterziehen. Teilweise finden die Vögel dort aber auch geeignete Brutgebiete, und so beherbergen die Niederungen des Naturparks den bedeutendsten Anteil der stark gefährdeten und vom Aussterben bedrohten Wiesenbrüter Brandenburgs. Im Schutzgebiet nisten beispielsweise der Große Brachvogel, Kiebitze, Uferschnepfen, Rotschenkel, Bekassinen und der Wachtelkönig. Auch brüten dort bedrohte Entenarten wie die Löffelente, die Knäkente und die Schnatterente. Ebenso Spießenten sind dort noch heimisch. An Greifvögeln gibt es See- und Fischadler, Milane und Wiesenweihen. Der Kampfläufer ist das Wappentier des Naturparks Westhavelland. In den Herbstmonaten durchziehen Graugänse und Kraniche den Naturpark. Neben der Vielzahl von Vögeln leben an der Havel auch Biber und Fischotter im Gebiet Havelsees. Naturschutzgebiet Marzahner Fenn und Dünenheide Das Marzahner Fenn im Osten Havelsees ist Teil des Naturschutzgebietes Marzahner Fenn und Dünenheide. Dieses 725 Hektar große Naturschutzgebiet zeichnet sich durch einen engen räumlichen Bezug verschiedener Lebensräume aus. So gibt es naturnahe Erlen- und Kiefernwaldgesellschaften auf nährstoffarmen Standorten, Wasserflächen, leichte Höhenzüge mit nur extensiv genutzten Trockentälern, sogenannte Zwergstrauch- und Dünenheiden, kleine Niedermoore, Feucht- und Nasswiesen. Aufgrund der unterschiedlichen Lebensräume leben im Schutzgebiet eine Vielzahl von teilweise gefährdeten Pflanzen- sowie Vogel-, Reptilien- und Amphibienarten. Nach Angaben des Naturschutzbundes Deutschland gelten 78 der 156 im Marzahner Fenn und in der Dünenheide nachgewiesenen Wirbeltierarten als gefährdet. Das Gebiet stellt ein ökologisches Bindeglied zwischen Beetzsee und Riewendsee im Osten, der Havelniederung im Westen und dem Havelländischen Luch im Norden dar. Einige der im Naturschutzgebiet lebenden Tier- und Pflanzenarten sind Fischadler, Schreiadler, Baumfalke, Bekassine, Wachtel, Kranich, Raubwürger, Zauneidechse, Ringelnatter, Knoblauchkröte, Moorfrosch, Kammmolch, Blutweiderich und Tausendblatt. Das Naturschutzgebiet Marzahner Fenn und Dünenheide ist in seiner Gänze Teilgebiet des europäischen Vogelschutzgebietes (SPA-Gebiet) Mittlere Havelniederungen und im nördlichen Bereich Teilgebiet des FFH-Gebiets Weißes Fenn und Dünenheide. Es gehört zum europäischen Schutzgebietsnetz Natura 2000. Naturschutzgebiet Untere Havel Süd Das Naturschutzgebiet Untere Havel Süd besteht seit 1994 beziehungsweise 2009, hat eine Fläche von 3933 Hektar und liegt mit seinen südlichen Anteilen im Stadtgebiet Havelsees. Es ist Durchzugsgebiet nordischer Gänse und verschiedener Entenarten und Watvögel. Charakteristisch für das Gebiet der Unteren Havel sind die Vielzahl von fließenden, stehenden, zeitweise durchströmten und temporären Gewässern. Typische große nährstoffreiche Flachwasserseen wie der Pritzerber See sind von vielgestaltigen Verlandungszonen umgeben, an welche sich großflächige feuchte Wiesen und Weiden anschließen. Mehr als 1000 gefährdete oder vom Aussterben bedrohte Tier- und Pflanzenarten finden sich aufgrund der hohen Dichte unterschiedlicher Lebensräume in den Unteren Havelniederungen. Bis zu 90.000 Bläss- und Saatgänse rasten an der Unteren Havel. Weitere im Schutzgebiet anzutreffende Arten sind Seeadler, Weißstorch, Rotschenkel, Großer Brachvogel, Kampfläufer, Höckerschwan, Singschwan, Zwergschwan, Biber, Fischotter, Ringelnatter, Kammmolch, Moorfrosch, Kreuzkröte, Kornblume, Sumpf-Wolfsmilch, Sumpf-Platterbse und Gottes-Gnadenkraut. Das Naturschutzgebiet Untere Havel Süd liegt vollständig im europäischen Vogelschutzgebiet Niederung der Unteren Havel und mit einem Teil seiner Fläche im FFH-Gebiet Niederung der Unteren Havel/Gülper See. Naturschutzgebiet Pritzerber Laake Im Nordwesten Havelsees liegt in der Unteren Havelniederung das 1994 ausgewiesene und 1270 Hektar große Naturschutzgebiet Pritzerber Laake. Während der letzten Eiszeit bildete sich eine Schmelzwasserrinne, in der sich das Feuchtgebiet befindet. Vorrangige Vegetationsform sind Erlenbruchwälder mit der vorherrschenden Moorbirke in einer für das Land Brandenburg einzigartigen Flächenausdehnung. In den Bruchwäldern liegen einige kleine Gewässer, die sich in ehemaligen Tongruben bildeten, aus denen der Rohstoff für umliegende Ziegeleien gewonnen wurde. Diese anthropogenen Seen sind Lebensraum seltener Tier- und Pflanzenarten. Im Naturschutzgebiet leben Biber und Fischotter. Durchbrochen werden die Bruchwälder von Sandrücken mit Kiefern- und Eichenwäldern. Die Laubmischwälder sind Heimat von streng geschützten Arten wie Hirschkäfer, Schwarzstorch und Seeadler. Auch gibt es seltene Fledermausarten wie die Mopsfledermaus, die in den alten Bäumen siedeln, und eine Vielzahl an Rotwild. Weitere im Naturschutzgebiet heimische Arten sind Kranich, Bitterling, Kammmolch, Sumpf-Knabenkraut, Brenndolde, Fleischfarbenes Knabenkraut, Königsfarn und Wasserfeder. 511 Hektar des Naturschutzgebietes Pritzerber Laake gehören zum FFH-Gebiet Pritzerber Laake und zum europäischen Schutzgebietsnetz Natura 2000. Wirtschaft Eine wachsende wirtschaftliche Rolle spielt der Tourismus, wobei sich vor allem der Natur- und Wassertourismus immer stärker entwickelt. Gründe dafür sind der Reichtum an weitgehend naturbelassenen Gewässern (in erster Linie die Havel) und an Waldgebieten. Havelsee ist bei Eisfreiheit über den Fluss und die mit ihm verbundenen Wasserstraßen mit privaten Booten ganzjährig erreichbar. In Havelsee gibt es ausschließlich klein- und mittelständische Unternehmen. Im Ortsteil Fohrde befindet sich ein Asphaltwerk und ein Mörtelwerk, im zum Ortsteil Briest gehörenden Krahnepuhl ein Bausteinwerk. Auf der ehemaligen Deponie Fohrde, die in einem ehemaligen Tagebau zur Abfallentsorgung vor allem der Stadt Brandenburg an der Havel angelegt war, befindet sich jetzt ein Wertstoffhof. Im Stadtgebiet gibt es fünf ausgewiesene Bergbauflächen. Drei liegen an der B 102 südlich von Fohrde am Fohrder Berg, und jeweils eine befindet sich an der L 98 südlich von Marzahne am Eichberg und nördlich von Marzahne an der Stadtgrenze zu Nennhausen. Sie dienen der Gewinnung von Sand und Kies im Tagebau. Auf den Flächen des ehemaligen Flugplatzes Brandenburg-Briest befindet sich seit 2011 der Solarpark Brandenburg-Briest, der zur Zeit seiner Fertigstellung der größte Solarpark Europas war. Er besteht aus 383.000 Modulen und ist für Spitzenleistungen von bis zu 91 Megawatt ausgelegt. Landwirtschaft Die Landwirtschaft ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor in der Stadt. 3453 Hektar der Flächen der Stadt werden landwirtschaftlich genutzt. Das entspricht einem Anteil von 42,4 Prozent. Die natürlichen Voraussetzungen für Ackerbau sind unterschiedlich zu bewerten. Einerseits dominieren in weiten Gebieten sandige, trockene und nährstoffarme Böden, andererseits sind weite Bereiche ehemaliger Moorflächen ertragreich. Als Gebiet mit sehr hohem Ertragspotential werden die Landwirtschaftsflächen zwischen Fohrde und Tieckow beschrieben. Weitere landwirtschaftliche Flächen mit hohem Ertrag befinden sich rund um den Pritzerber See, beiderseits der Havel ab Pritzerbe, im Marzahner Fenn und in der Pritzerber Laake. Forstwirtschaft In Havelsee gibt es 3182 Hektar Waldfläche. Größte zusammenhängende Waldgebiete sind der Seelensdorfer Forst, der noch immer überwiegend dem Domstift Brandenburg gehört, und die Pritzerber Laake. Das Domstiftsforstamt bewirtschaftet circa 1800 Hektar Wald. Die weitaus größten Teile der forstwirtschaftlichen Flächen Havelsees sind mit Kiefern bestockt, davon im domstiftseigenen Wald 1400 Hektar. Bei den Kiefernforsten Havelsees handelt sich meist um einstufige Reinbestände, sogenannte Altersklassenwälder. Hintergrund ist, dass in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg umfangreiche Kahlschläge erfolgten, die unter der Vorgabe einer maximalen Holzproduktion monokulturell wieder aufgestockt wurden. In den letzten Jahren ist jedoch ein forstwirtschaftlicher Umbau dieser Wälder festzustellen. Es wird verstärkt von den Monokulturen abgesehen und stattdessen die Entwicklung von naturnäheren Laubmisch- und Laubwäldern vorangetrieben. Eine Ausnahme innerhalb Havelsees bildet die Pritzerber Laake. Sie ist als Moor- und Erlenbruchwald Havelsees einziges größeres zusammenhängendes Laub- und Mischwaldgebiet und liegt im Norden der Stadt. Im Seelensdorfer Forst betreibt das Domstift Brandenburg ein eigenes Sägewerk. Fischerei Die Gewässer nehmen in Havelsee 585 Hektar oder 7,2 Prozent der Fläche der Stadt ein. Die Fischerei hat in den flussnahen Ortsteilen der Stadt eine jahrtausendelange Tradition. Im Stadtgebiet gibt es noch drei gewerbliche Fischereien, die Havelfisch fangen, zubereiten und verkaufen. Zwei befinden sich im Ortsteil Briest und eine in Pritzerbe. Der gewerbliche Fischfang wird auf der Havel und dem Pritzerber See betrieben und erfolgt extensiv mit Reusen und Stellnetzen. Daneben werden die größeren und kleineren Gewässer Havelsees noch privat vom Ufer oder von Booten aus beangelt. Infrastruktur Verkehr Havelsee verfügt über Anbindungen an die drei wichtigsten Verkehrsträger Straße, Schiene, Wasserweg. Es liegt an der Bundesstraße 102, die von Luckau nach Bückwitz führt und Anschlussstellen zu den Bundesautobahnen A 2 und A 9 hat. Die Landesstraße 962 von Fohrde über Tieckow und Briest verbindet die Bundesstraße 102 mit der Bundesstraße 1 durch das Stadtgebiet. Weitere landeseigene Hauptstraßen in der Stadt sind die Landesstraße 99, die von Pritzerbe über Marzahne in Richtung Nordost nach Märkisch Luch und die Landesstraße 98, die aus Brandenburg kommend durch Marzahne im Norden nach Nennhausen führt. Von der L 98 zweigt nördlich von Marzahne die Landesstraße 982 nach Garlitz in der Gemeinde Märkisch Luch ab. Die einzige Kreisstraße Havelsees, die K 6953, führt von der Landesstraße 99 nach Hohenferchesar. Havelsee liegt mit einigen Hafenanlagen an der Unteren Havel, einem Abschnitt der Unteren Havel-Wasserstraße und ehemals bedeutenden und viel befahrenen Binnenschifffahrtsweg zwischen den größten deutschen Städten Berlin und Hamburg. Die Wasserstraße hat im Stadtgebiet die Binnenwasserstraßenklasse III. Dies bedeutet, dass in diesem Bereich Fahrzeuge und Verbände bis 67 Meter Länge und 8,25 Meter Breite zugelassen sind. Unmittelbar in Fließrichtung unterhalb der Stadtgrenze Havelsees befindet sich in einem Durchstich die Schleuse Bahnitz. Die Kahnschleuse Bahnitz an einer Staustufe, dem Wehr Bahnitz auf der Stadtgrenze, lag ursprünglich am rechten Ufer in Havelsee. Bei der Modernisierung des Wehres wurde jedoch der Altbau abgerissen und auf der Bahnitzer Seite bis 2011 eine neue Kahnschleuse errichtet. Auf der Havelseeschen Seite des Wehres wurde anstelle der alten Kahnschleuse ein Fischaufstieg errichtet. Während der Fluss im Bereich Havelsees früher als Hauptverkehrsweg einem Großteil der Berufsschifffahrt zwischen dem Hamburger Hafen, den Industriegebieten flussabwärts und den Städten Brandenburg und Berlin diente, hat sich dieses Bild mittlerweile geändert. Bedingt durch die weitreichende Deindustrialisierung im Osten und die Verlagerung der Verkehrswege, weg von der Elbe wasserstandsunabhängig auf den Elbeseiten- und den Mittellandkanal, nahm in den Nachwendejahren die Berufsschifffahrt auf dem Flussabschnitt stetig ab. Sie spielt bei weitem nicht mehr die Rolle früherer Jahrzehnte. Es gab jedoch einen sehr starken Zuwachs in der Sport- und Freizeitschifffahrt. Die Hafenanlagen im Stadtgebiet Havelsees umfassen den Stadthafen Pritzerbes mit einer Anlegestelle für Fahrgastschiffe, Marinas für Motor- und Segelboote und die Kaianlagen am Baustoffwerk in Krahnepuhl. Öffentlicher Nahverkehr Die Stadt Havelsee ist seit 1999 Teil des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg (VBB), des flächengrößten Verkehrsverbundes Deutschlands. Havelsee ist als Umlandgemeinde der Tarifzone C der Stadt Brandenburg an der Havel zugeordnet. Im VBB-Tarif nutzbar sind in Havelsee die Regionalbahn und die regionalen Busverbindungen. Es werden fünfzehn Bushaltestellen und zwei Bahnhöfe beziehungsweise Haltepunkte bedient. Daneben gibt es zwischen Pritzerbe und Kützkow eine Fährverbindung über die Havel. Regionalbahn |} An der eingleisigen Regionalbahnlinie (RB 51) zwischen Brandenburg und Rathenow liegen in Havelsee der Bahnhof Pritzerbe und der Haltepunkt Fohrde. 1904 wurde das Stadtgebiet über die private Brandenburgische Städtebahn an das deutsche Eisenbahnnetz angeschlossen. Die ursprüngliche Strecke führte von Treuenbrietzen im Süden über Belzig, Brandenburg, Rathenow nach Neustadt (Dosse) im Norden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Betrieb von der Deutschen Reichsbahn übernommen. In den folgenden Jahrzehnten wurden zunächst die Teilstrecke Treuenbrietzen–Belzig, später auch Belzig–Brandenburg und Rathenow–Neustadt stillgelegt, sodass der Abschnitt Brandenburg–Rathenow, an dem Havelsee liegt, das letzte in Betrieb befindliche Teilstück der ehemaligen Brandenburgischen Städtebahn ist. AB 1994 erbrachte die Deutsche Bahn AG die Verkehrsleistungen auf der Strecke. Zwischen 2003 und 2005 wurde der Abschnitt für 55 Millionen Euro saniert und am 27. Juni 2005 wieder in Betrieb genommen. Von 2007 bis Dezember 2011 betrieb die Ostseeland Verkehr die Strecke als MR 51. Seit Dezember 2011 ist die Ostdeutsche Eisenbahn Betreiber, die die Linie zunächst als OE 51 bezeichnete. Seit 2012 wird sie wieder als RB 51 geführt. Die Strecke wird im Personennahverkehr mit Triebwagen Stadler GTW befahren. Regionaler Busverkehr Drei regionale Busverbindungen in die Nachbarstädte Brandenburg an der Havel und Premnitz und in die Gemeinden Beetzsee und Bensdorf dienen vor allem dem Schülerverkehr. Betreiber ist die Verkehrsgesellschaft Belzig mbH (VGB) mit dem Sitz in der Kreisstadt Potsdam-Mittelmarks. Die Buslinie 564 verbindet Brandenburg über die Gemeinde Beetzsee mit Havelsee, die Linie 570 Brandenburg über Havelsee mit Bensdorf und die Linie 571 Brandenburg über Havelsee mit Premnitz. Auf allen drei Linien gibt es ausschließlich an Werktagen (ohne Samstage) in den frühen Vormittags- und Nachmittagsstunden Verbindungen ohne jede Taktung. Teilweise ist der Verkehr auch unter der Woche ausschließlich auf Schultage reduziert. So wird beispielsweise die Linie 571 grundsätzlich nur während der Schulzeit bedient. Die Linien 564 und 570 verkehren in der schulfreien Zeit nur an zwei Wochentagen und ausgedünnt. Havelfähre Zwischen Pritzerbe und dem Gemeindeteil Kützkow verkehrt die nicht frei fahrende Fähre Pritzerbe über die Havel. Eine Fährverbindung an dieser Stelle besteht grundsätzlich schon spätestens seit dem Jahr 1385, als sie das erste Mal urkundlich erwähnt wurde. In den frühen Jahrhunderten wurden die Fährkähne zunächst über die Havel gestakt. Seit dem späten 18. Jahrhundert wurden Besitzerwechsel der Fähre in den Grundbüchern der Stadt vermerkt. So erwarb 1788 der Fährmann Johann Friedrich Hartwig die Rechte an der Fährverbindung von der Königlichen Kriegs- und Domänenkammer zu Magdeburg. Durch Erbschaften kamen diese Rechte 1818 an den Kaufmann August Wilhelm Friedrich Hartwig und 1834 an dessen Witwe Caroline Friederike, geborene Hintze. Sie verkaufte ihre Rechte 1855 an den Kaufmann Wilhelm Gottlieb Robert Hartwig. 1883 genehmigte der Regierungspräsident von Diesberg eine Ketten- beziehungsweise Seilfähre. Für den Betrieb der Fähre an einem Fährseil wurde eine jährliche Anerkennungsgebühr von damals fünf Reichsmark erhoben. Am 27. Dezember 1922 wurde die Fähre an die Rittergutsbesitzer Gustav von Schnehen aus Kützkow und Botho von Knoblauch aus Buschow und an den Kaufmann Friedrich Stimming aus Pritzerbe jeweils zu gleichen Anteilen verkauft. Am 3. Juli 1925 übernahm der Verkehrsverein Pritzerbe-Kützkow e. V. Pritzerbe die Fähre. Am 7. September 1932 wurde die Stadt Pritzerbe Eigentümer. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Fähre von deutschen Truppen gesprengt, sodass nach dem Krieg ein neues Fährschiff beschafft werden musste. Pächter waren Wilhelm Schwarz, Fritz Dammasch und Walter Wernsdorf, die im Dreischichtbetrieb arbeiteten. Die neue Fähre wurde an zwei Seilen geführt und mit sogenannten Holzklemmen gezogen. Gegen Ende der 1950er Jahre wurde erstmals eine motorisierte Fähre eingesetzt, die bis 1990 mit einem Einzylinder-Dieselmotor angetrieben wurde. Im Zusammenhang mit einer Erhöhung des Pachtzinses nach der Motorisierung der Fähre wurden die Pachtverhältnisse aufgegeben. Betreiber war zunächst die Stadt Pritzerbe und ist jetzt die Stadt Havelsee. Schwarz und Dammasch gaben den Fährdienst später auf, Walter Wernsdorf arbeitete als Fährmann im Dienste der Stadt Pritzerbe. 1991 wurde die Fähre wieder durch einen Neubau ersetzt, der von einem Dieselmotor angetrieben wird. Dieser Motor wirkt über eine Kupplung auf Kettenräder auf eine lange, quer im Fluss verlegte Kette. Das Fährfahrzeug zieht sich an dieser Kette über die Havel. Ein Drahtseil dient als Führung und Sicherung. Gegenwärtig sind vier Fährleute bei der Kommune angestellt. In den Sommermonaten mit dem größten Fahrgastaufkommen werden täglich bis zu 500 Personen und 100 Fahrzeuge übergesetzt. Bildungseinrichtungen Die einzige Schule im Stadtgebiet ist die heutige Grundschule „Johann Wolfgang von Goethe“ unter anderem in einem 1853/54 errichteten und denkmalgeschützten Backsteingebäude an der Kirchstraße im Ortsteil Pritzerbe. In der Grundschule werden die Schüler Havelsees bis zum Ende der sechsten Klasse unterrichtet. Die Pritzerber Schule war erst eine Volksschule und ist seit dem Jahr 1949 nach Goethe benannt. Von 1958 bis 1992 war sie zehnjährige Polytechnische Oberschule und wurde dann in eine Grundschule umgewandelt. Die nächstgelegenen weiterführenden Schulen befinden sich in den Städten Brandenburg und Premnitz. Die Villa Reichstein im Ortsteil Fohrde ist heute als Villa Fohrde eine von einem gemeinnützigen Verein getragene Bildungs- und Tagungsstätte. In der Einrichtung werden Seminare und andere Veranstaltungen angeboten und durchgeführt. Zwischen 1950 und 1992 war in dem Gebäude die ehemalige August-Bebel-Schule untergebracht. Öffentliche Einrichtungen In Fohrde und in Pritzerbe gibt es jeweils einen Kindergarten, in Pritzerbe darüber hinaus einen Hort. Die Freiwillige Feuerwehr Havelsee besteht aus den Freiwilligen Feuerwehren der Orts- und Gemeindeteile. Feuerwehrhäuser mit Lösch- und Einsatzfahrzeugen gibt es in Briest, Fohrde, Hohenferchesar, Kützkow, Marzahne, Pritzerbe und Tieckow. Im Seelensdorfer Forst steht ein Feuerwachturm. Das Rathaus der Stadt Havelsee befindet sich im Rathaus der ehemaligen Stadt Pritzerbe. In Pritzerbe befindet sich auch ein Polizeiposten, der jedoch nur an einem Tag in der Woche für wenige Stunden besetzt ist. Medizinische Einrichtungen Eine Allgemeinarztpraxis in Fohrde und eine Allgemeinarzt- und eine Zahnarztpraxis in Pritzerbe gewährleisten die medizinische ambulante Grundversorgung in der Stadt. In Pritzerbe gibt es daneben eine Apotheke. Physiotherapeutische Praxen befinden sich in den Ortsteilen Pritzerbe und Marzahne. Die nächstgelegenen Krankenhäuser befinden sich in der Stadt Brandenburg. Das Universitätsklinikum Brandenburg an der Havel dient als Krankenhaus der Schwerpunktversorgung. Das Sankt-Marien-Krankenhaus ist ein geriatrisches, die Asklepiosklinik ein neurologisches und psychiatrisches Spezialkrankenhaus und die Heliosklinik Hohenstücken eine neurologische Rehabilitationseinrichtung. Für den Rettungsdienst sind die Rettungswachen in Brandenburg und Bollmannsruh (Gemeinde Päwesin) zuständig. Der nächstgelegene Standort eines Rettungshubschraubers befindet sich ebenfalls in der Stadt Brandenburg. Medien Die Tageszeitung mit der meistverkauften Auflage in Havelsee ist die Märkische Allgemeine mit Sitz in Potsdam. Die auch für Havelsee zuständige Lokalredaktion hat ihren Sitz im benachbarten Brandenburg an der Havel. Neben der Märkischen Allgemeinen gibt es noch die beiden kostenlosen, über Anzeigen finanzierten Zeitungen Brandenburger Wochenblatt (BRAWO) und Preussenspiegel, die regionale und lokale Nachrichten publizieren. Wichtigstes lokales Online-Nachrichten- und Informationsportal ist das seit 2007 betriebene Havelsee.de. Sport Kommunale Sportplätze gibt es in Fohrde und in Pritzerbe. In Pritzerbe gibt es daneben eine Sporthalle. Die Pritzerber Sportanlagen werden außer für den Freizeitsport auch für den Schulsport der Grundschule genutzt. Auf der Havel oberhalb von Tieckow befindet sich eine Wasserschistrecke. Sportvereine in der Stadt sind der SV Alemania 49 Fohrde mit den Abteilungen Fußball, Schach und Reiten, der SV Volleyball Pritzerbe und der Billardverein 1963 Pritzerbe. Persönlichkeiten Friedrich von Görne (1670–1745), preußischer Staatsminister, Rittergutsbesitzer von Kützkow Robert Hinz (1929–2021), leitete von 1958 bis 1990 als Domstiftsforstmeister das brandenburgische Domstiftsforstamt Seelensdorf Lothar Kreyssig (1898–1986), Amtsrichter in Brandenburg an der Havel, Mitglied der Bekennenden Kirche, Euthanasie-Gegner und Begründer der Aktion Sühnezeichen, von 1937 bis 1971 wohnhaft auf dem Bruderhof bei Hohenferchesar Walter Kuntze (1883–1960), General der Wehrmacht Daniel von Mukede († zwischen 1230 und 1234), Ritter und Brandenburger Domherr, Koadjutor Literatur Ernst Fidicin: Die Territorien der Mark Brandenburg. Band III, J. Guttentag, Berlin 1860. M. W. Heffter: Geschichte der Kur- und Hauptstadt Brandenburg von den frühesten bis auf die neuesten Zeiten. Verlag von Ferdinand Riegel, Potsdam 1840. Gustav Abb, Gottfried Wentz (Bearb.): Germania Sacra. 1. Abteilung: Die Bistümer der Kirchenprovinz Magdeburg. 1. Band: Das Bistum Brandenburg. Erster Teil, Kaiser-Wilhelm-Institut für deutsche Geschichte, Walter de Gruyter & Co., Berlin 1929. Lieselott Enders (Bearb.): Historisches Ortslexikon für Brandenburg. Teil III: Havelland. Klaus-D.-Becker-Verlag, Potsdam 2011, ISBN 978-3-941919-80-8. Günther Mangelsdorf: Die Ortswüstungen des Havellandes. Walter de Gruyter, Berlin 1994, ISBN 978-3-11-014086-6. Weblinks Einzelnachweise Ort an der Havel Ort im Landkreis Potsdam-Mittelmark Stadt in Brandenburg Gemeindegründung 2002 Stadtrechtsverleihung 2002
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https://de.wikipedia.org/wiki/Drei%20Zinnen
Drei Zinnen
Die Drei Zinnen () sind ein markanter Gebirgsstock in den Sextner Dolomiten an der Grenze zwischen den italienischen Provinzen Belluno im Süden und Südtirol im Norden. Die höchste Erhebung der Gruppe ist die hohe Große Zinne (ital. Cima Grande). Sie steht zwischen den beiden anderen Gipfeln, der Westlichen Zinne (Cima Ovest, ) und der Kleinen Zinne (Cima Piccola, ). Neben diesen markanten Felstürmen zählen noch mehrere weitere Gipfelpunkte zum Massiv, darunter die Punta di Frida () und der Preußturm, auch Kleinste Zinne (Torre Preuß, Cima Piccolissima, ). Seit der Erstbesteigung der Großen Zinne im Jahr 1869 zählen die Drei Zinnen bei Kletterern zu den begehrtesten Gipfelzielen der Alpen. Sie sind durch zahlreiche Kletterrouten verschiedener Schwierigkeitsgrade erschlossen und wurden so zu einem Zentrum des alpinen Kletterns, von welchem viele wichtige Entwicklungen in der Geschichte dieses Sports ihren Ausgang nahmen. Darüber hinaus sind sie aufgrund ihrer leichten Erreichbarkeit eine Attraktion für den Massentourismus. Insbesondere die Ansicht der steilen Nordwände gehört zu den bekanntesten Landschaftsbildern der Alpen und gilt als Wahrzeichen der Dolomiten. Während des Gebirgskriegs im Ersten Weltkrieg waren die Drei Zinnen und ihre Umgebungsgebiete als Teil der Front zwischen dem Königreich Italien und Österreich-Ungarn heftig umkämpft. Lage und Umgebung Die Drei Zinnen erheben sich am Südrand des weitläufigen Zinnenplateaus mit der Langen Alm (La Grava Longa), einer alpinen Hochfläche auf ungefähr bis , die hier den Abschluss des Rienztals (Valle della Rienza) bildet. Dort liegen drei kleine Gebirgsseen, die Zinnenseen. Dieses Areal nördlich der Berge bis zu deren Gipfeln gehört zum Gemeindegebiet von Toblach in Südtirol und zum Naturpark Drei Zinnen (bis 2010 Naturpark Sextner Dolomiten), der seit 2009 Teil des UNESCO-Weltnaturerbes ist. Der in West-Ost-Richtung verlaufende Kamm der Zinnen bildet die Grenze zur Gemeinde Auronzo di Cadore in der Provinz Belluno, die zugleich die deutsch-italienische Sprachgrenze darstellt. Nach Nordosten führt dieser Kamm weiter zum hohen Paternsattel (Forcella Lavaredo), wo er nach Norden zu den Bergen Passportenkopf (Croda di Passaporto, ) und Paternkofel (Monte Paterno, ) abbiegt. Im Westen setzt er sich über den Übergang Forcella Col di Mezzo () zur Zinnenkuppe (Col di Mezzo) () und weiter zum hohen Katzenleiterkopf (Croda d’Arghena) fort. Südwestlich der Drei Zinnen schließt sich an die Forcella Col di Mezzo das Plateau Plano di Longeres oberhalb des Valle di Rinbianco, eines Seitentals des Rienztals, an. Unmittelbar südlich der Westlichen Zinne trennt der Sattel Forcella di Longeres () den Plano di Longeres vom Vallone di Lavaredo, einem Seitental des Piavetals. Südlich liegt die Cadini-Gruppe. Über den hohen Paternsattel als tiefsten Punkt lässt sich der Zwölferkofel als nächster Gipfel erreichen, der höher als die Große Zinne ist. Damit beträgt die Schartenhöhe der Großen Zinne 545 m, die Dominanz beträgt 4,25 km. Cortina d’Ampezzo, 17 Kilometer südwestlich gelegen, ist die größte Stadt in der Umgebung. Weitere größere Ortschaften sind Auronzo di Cadore 12 Kilometer südöstlich, Toblach 13 Kilometer nordwestlich und Innichen 12 Kilometer nördlich. Orte, Stützpunkte und Wege Der am leichtesten erreichbare Stützpunkt in der Umgebung der Drei Zinnen ist die Auronzohütte (Rifugio Auronzo, ). Diese Schutzhütte des Club Alpino Italiano (CAI) liegt unmittelbar südlich des Massivs oberhalb des Forcella di Longeres und ist vom südwestlich liegenden, zu Auronzo gehörenden Hotelort Misurina aus durch eine asphaltierte Mautstraße erschlossen. Von Südosten her kann die Hütte vom Lavaredotal über einen Wanderweg erreicht werden. Etwa einen Kilometer östlich der Auronzohütte und von dort über einen breiten Fahrweg erreichbar liegt am Südostfuß der Kleinen Zinne die privat bewirtschaftete Schutzhütte Rifugio di Lavaredo (). Nordwestlich der Zinnen liegt die im Sommer bewirtschaftete Almhütte Lange Alm (auch Lange Alpe, ). Ein Wanderweg führt von der Auronzohütte über die Forcella Col di Mezzo dorthin, ein weiterer von Norden aus dem Rienztal. Die im Besitz des CAI befindliche, hoch gelegene Dreizinnenhütte nordöstlich der Drei Zinnen ist mit etwa einem Kilometer etwas weiter von dem Massiv entfernt. Sie ist besonders für den Ausblick auf die Nordwände bekannt und kann über einen breiten Wanderweg von der Auronzohütte aus über den Paternsattel erreicht werden. Weitere Zustiegsmöglichkeiten gibt es von Sexten durch den Fischleinboden von Osten, von Innichen aus durch das Innerfeldtal von Norden und durch das Rienztal von Höhlenstein (Landro) im Höhlensteintal (Valle di Landro). Von Südosten ist die Hütte von der Langen Alm her erreichbar. Die Drei Zinnen Große Zinne Die Große Zinne (Cima Grande), die mittlere der Drei Zinnen, ist mit der höchste Gipfel der Gruppe. Sie fällt durch ihre 500 Meter hohe, senkrechte bis überhängende Nordwand auf, die manchmal zu den Großen Nordwänden der Alpen gezählt wird, obwohl sie im Gegensatz zu den anderen dieser Wände keine Eispassagen aufweist. Die Südseite ist weit weniger steil und von zahlreichen Bändern und Schuttterrassen durchzogen. Durch diese Südwand führt auch der Normalweg, mit einer Schwierigkeit von III (UIAA) die leichteste Route, die auch als Abstieg vom Gipfel genutzt wird. Weitere bekannte Kletterrouten sind die Nordostkante (Dibonakante, IV+), Dabistebaff (V) an der Nordostwand und Dülfer (V+) an der Westwand. Die Routen durch die Nordwand sind wesentlich schwieriger, hier sind vor allem die Direttissima (auch Hasse/Brandler, VIII+, VI A2), Sachsenweg (auch Superdirettissima, V A2), Via Camillotto Pellesier (X, V+ A2), Comici (VII, V+ A0), ISO 2000 (VIII+), Claudio-Barbier-Gedächtnisweg (IX-A0), Alpenrose (IX-) und Phantom der Zinne (IX+) zu nennen. Im Osten liegen hinter der alpinistisch unbedeutenden Pyramide (ca. ) die Zinnenscharte und die Kleine Zinne. Im Westen bildet die Große Zinnenscharte die Abgrenzung zur Westlichen Zinne. Die Erstbesteigung der Großen Zinne erfolgte am 21. August 1869 von Süden. Der Schweizer Dani Arnold erklomm die Große Zinne 2019 über die klassische Nordwandroute (Comici-Dimai-Route) in nur 46 Minuten und 30 Sekunden. Westliche Zinne Die hohe Westliche Zinne (Cima Ovest), früher auch Vordere oder Landroer Zinne genannt, ähnelt in ihrer Form der Großen Zinne. Ihre Nordwand weist allerdings noch wesentlich stärker überhängende Passagen auf, die bis zu einer horizontalen Distanz von 40 Metern über den Wandfuß herausragen, so dass die Nordwand der Westlichen Zinne auch als „Größtes Dach der Alpen“ bezeichnet wird. Wegen ihres stufenförmigen Aufbaus wird sie auch häufig als „umgekehrte Riesentreppe“ beschrieben und gilt als eine der markantesten Felsformationen der Alpen. Der Berg wird west- und südseitig von einem massiven Vorbau umgeben, der mit dem Torre Lavaredo , dem Zinnenkopf (Sasso di Landro, ), Croda di Mezzo (), Croda del Rifugio, auch Hüttenkofel (ca.), Il Mulo (ca.), Croda degli Alpini (), Croda Longéres und Torre Comici () mehrere weitere Gipfelpunkte aufweist. Dieser Vorbau ist von der Westlichen Zinne durch die Westliche Zinnenscharte getrennt, in seinem Westen liegt die Forcella Col di Mezzo. Im Osten ist der Westlichen Zinne zur Großen Zinnenscharte hin der Torre di Forcella della Grande vorgelagert. Der Normalweg zur Westlichen Zinne führt von der Westlichen Zinnenscharte südwestseitig im Schwierigkeitsgrad II zum Gipfel, er ist heute hauptsächlich als Abstiegsroute von Bedeutung. Wichtige Routen sind der Dülferkamin (IV) in der Südwand, Innerkofler (IV) in der Ostwand, Langl/Löschner (IV) in der Nordostwand, die Demuthkante (Nordostkante, VII, V+ A0), Dülfer (IV+) in der Westwand und die Scoiattolikante (VIII, V+ A2). Durch die Nordwand führen die Schweizer Führe (VIII+, 6 A3), Cassin/Ratti (VIII, VI-A1), Baur-Dach (VI+ A3), Alpenliebe (IX), Jean-Couzy-Gedächtnisführe (auch Franzosenführe, X, 5+ A3), Bellavista (XI-, IX A3), PanAroma (XI-, IX A3) und Pressknödl (7c). Die Erstbegehung der Westlichen Zinne erfolgte am 21. August 1879 von Süden. Kleine Zinne, Punta di Frida und Preußturm Das Massiv der Kleinen Zinne (Cima Piccola, ) ist im Vergleich zu Großer und Westlicher Zinne wesentlich stärker gegliedert und weist mit der Punta di Frida () und dem Preußturm () weitere bedeutende Gipfelpunkte auf. Weiterhin zu erwähnen sind die Anticima, ein südlicher Vorgipfel der Kleinen Zinne und die Allerkleinste Zinne (Torre Minor, oft auch nur als „Vorbau“ bezeichnet), ein kleiner Felsturm vor dem Preußturm. Die Kleine Zinne, die sich durch die schlanke Form ihres Gipfelaufbaus von den anderen Zinnen unterscheidet, gilt mit einem Normalweg im Schwierigkeitsgrad IV (über die Südwestwand) als der am schwierigsten zu erreichende Zinnengipfel. Weitere wichtige Anstiege sind die Gelbe Kante (Spigolo Giallo, VI, V+ A0) an der Südkante, Innerkofler (IV+) und Fehrmannkamin (V+) an der Nordwand, Langl/Horn (V) an der Ostwand und Orgler (VI-), Egger/Sauscheck (VI+, V+ A0), Ötzi trifft Yeti (VIII+) und Gelbe Mauer (auch Perlen vor die Säue, IX-) an der Südwand. Auf die Punta di Frida führt der Normalweg (III) von Westen sowie mehrere weitere Routen wie Dülfer (IV+) in der Nordwand oder Zelger (IV) in der Südostwand. Der Preußturm (Torre Preuß), ursprünglich als Kleinste Zinne (Cima Piccolissima) oder Punta d’Emma bekannt, wurde 1928 nach seinem Erstbesteiger Paul Preuß benannt. Während dieser Name in Italien schnell beliebt war, wurde er im deutschsprachigen Raum wegen Preuß’ jüdischer Herkunft bald verschwiegen und ausschließlich die (von Preuß selbst geprägte) Bezeichnung „Kleinste Zinne“ gebraucht. Seit den 1960er Jahren findet zunehmend wieder der Name „Preußturm“ Verwendung. Der wichtigste Anstieg ist der nordostseitig gelegene Preußriss (V), weiterhin sind die durch die Südostwand führenden Routen Cassin (VII-, VI A0) und Via Nobile (IX+) zu erwähnen. Die Erstbesteigung der Kleinen Zinne erfolgte am 25. Juli 1881 von Südwesten. Geologie Die Drei Zinnen bestehen aus Hauptdolomit, der in der Trias vor etwa 200 bis 220 Millionen Jahren durch Sedimentation in Flachwasserbereichen des Urmeeres Tethys entstand. Als Fossilien sind daher hauptsächlich marine Lebewesen wie Megalodonten und Gastropoden zu finden. Bedingt durch Gezeiten und andere Schwankungen des Meeresspiegels, die zu abwechselnden Perioden der Überflutung und des Trockenfallens weiter Landstriche führten, und gleichzeitiges stetiges Absinken des Untergrundes kam es zu einer Ablagerung des Gesteins in Form von übereinanderliegenden Schichten. Der Fels der Drei Zinnen weist daher eine deutliche und gleichmäßige Bankung auf, wobei zwischen den einzelnen Dolomitschichten dünne Lagen von Ton zu finden sind. Im Zusammenspiel mit dieser horizontalen Bankung führten vertikale Klüfte zu Brüchen in rechtwinkligen Formen, die sich deutlich an den häufig würfelförmigen Felsbrocken der ausgedehnten Schutthalden am Fuß der steilen Wände zeigen. Wesentlicher Mechanismus der Erosion ist die Frostsprengung, die neben ständigem Steinschlag häufig auch größere Felsstürze zur Folge hat. So kam es etwa im Jahr 1948 zu einem großen Felssturz aus der Südwand der Großen Zinne, im Juli 1981 stürzte eine Felsbrücke zwischen Allerkleinster Zinne und Preußturm, die bis dahin häufig von Kletterern begangen worden war, in sich zusammen. Gefördert wird das Wegbrechen großer Felsteile durch die Instabilität des Untergrunds. Das weitläufige Zinnenplateau, das die Basis der Gruppe bildet, ruht auf einem Sockel aus Schlerndolomit. Dieser wird von Moränen aus der Würmeiszeit, vor allem aber von relativ leicht verwitterbaren Gesteinen der Raibler Schichten überlagert. Die Erosion dieser Schichten entzieht den auf ihnen liegenden Felstürmen allmählich die Basis und führt zum Wegbrechen exponierter Felspartien. Diese bis heute anhaltenden Prozesse führten zur Entwicklung der steilen Formen der Zinnen und insbesondere der stark überhängenden Felsdächer der Nordwände. Klima, Flora und Fauna Die Sextner Dolomiten sind auf allen Seiten von anderen Gebirgsgruppen umgeben. Diese geschützte Lage im Alpeninneren hat für die Höhenlage verhältnismäßig günstige klimatische Verhältnisse zur Folge. Dennoch kann es hier auch im Hochsommer zu heftigen Wetterstürzen kommen. In schattigen Schluchten und unterhalb der Nordwände bleibt Schnee meist bis spät in den Sommer, manchmal auch ganzjährig liegen, Vergletscherungen treten hier jedoch nicht auf. Die alpinen Matten der Raibler Schichten dominieren das zur alpinen Höhenstufe gehörende Gebiet um die Drei Zinnen. Das Plateau um die Lange Alm wird als eines von nur wenigen Gebieten des Naturparks beweidet. Die alpinen Rasen- und Bergweiden fallen durch großen Blumenreichtum auf. Unter anderem gedeihen dort die Bärtige Glockenblume, das Edelweiß und der Clusius-Enzian. Dort kommt das Murmeltier in großer Zahl vor, ein weiteres erwähnenswertes Säugetier ist der Schneehase. Ein weiterer Bewohner dieser Lebenswelt ist die Gämse, der Steinbock hingegen kommt in den Sextner Dolomiten nicht vor. Als Vertreter der Vogelfauna sind Alpenschneehuhn, Kolkrabe und Steinadler zu erwähnen, auch der Uhu jagt manchmal in diesen Höhenlagen. Die Kreuzotter, insbesondere die schwarze Varietät Höllenotter, ist dort bis in die für Reptilien ungewöhnliche Höhe von zu finden. Die Vegetation auf den ausgedehnten Schutthalden und an den Südflanken der Zinnen ist von Pflanzen der Frostschuttzone geprägt, die an die Lebensbedingungen in den ständig in Bewegung befindlichen Geröllhalden angepasst sind. Dazu zählen Alpen-Leinkraut, Schild-Ampfer, Rundblättriges Hellerkraut, Dolomiten-Fingerkraut und Alpen-Mohn. In den Feldritzen selbst kompakter Wände finden sich der Sparrige Steinbrech, das Felsen-Kugelschötchen, die Zwerg-Miere und das seltene Blaue Mänderle. In den steilen, schattigen Nordwänden kommen kaum höhere Pflanzen vor. Den auffälligsten Bewuchs bilden hier neben einigen Moosen und Flechten ausgedehnte Teppiche von Cyanobakterien, die insbesondere in feuchten Felspartien in Form charakteristischer „Tintenstriche“ auftreten. Ein Säugetier, das bis in die Felszone hinaufsteigt, ist die Schneemaus. Der Mauerläufer und die Alpendohle jagen dort Insekten. Geschichte Historische Namensformen Der früheste Beleg für deutsche Bezeichnungen der Gipfelgruppe stammt aus dem Jahr 1501; er ist in einer Grenzbeschreibung des Landgerichts Welsberg in der Form gegen den Zwain Hohen Spizenn enthalten. Weitere Nennungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert lauten Dreyspiz, dreÿ Spitz und auff gegen den Zwain hohen Spizenn. In Peter Anichs und Blasius Huebers Atlas Tyrolensis aus dem Jahr 1774 sind die Berge als 3 Zinnern Spize verzeichnet. In Johann Jakob Stafflers Tiroler Landestopographie von 1845 erscheint die Schreibweise Dreizinnen-Spitze. Die Österreichische Militärkarte von 1900 verwendet erstmals die heutige verkürzte Namensform Drei Zinnen. Bis 1940 war in Sexten und Innichen noch das altmundartliche Drei Zinte bekannt. Heute ist dialektal Drai Zinn gebräuchlich, zumal im Pustertal mundartlich die en-Endung wegfällt. Erstbesteigungen Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die Dolomiten und mit ihnen die Drei Zinnen vom Alpinismus noch relativ wenig beachtet, man konzentrierte sich in dieser Zeit auf die hohen Gipfel der Westalpen. Berge, die weniger nach klassischem Expeditionsbergsteigen, sondern mehr nach klettertechnischem Können verlangten, rückten erst ab 1850 in den Mittelpunkt des Interesses. Die Erstbesteigung des Monte Pelmo durch John Ball 1857 und der Bau der Eisenbahnstrecke über den Brennerpass 1867 waren wichtige Daten für die Erschließung der Dolomiten. Der Wiener Alpinist Paul Grohmann, der sich seit 1862 der Erstbesteigung zahlreicher Dolomitenberge gewidmet hatte, wurde als erster Bergsteiger auf die Drei Zinnen aufmerksam, die er nicht aufgrund ihrer Höhe, sondern wegen der „Kühnheit ihres Baues“ als erstrebenswertes Gipfelziel ansah. Er engagierte im August 1869 die einheimischen Bergführer Franz Innerkofler und Peter Salcher für die Erstbesteigung der Großen Zinne. Franz Innerkofler, der bereits früher erste Erkundungen angestellt hatte, führte die Gruppe bereits beim ersten Versuch am 21. August in weniger als drei Stunden entlang dem heutigen Normalweg (III) zum Gipfel. Dies ist in etwa dieselbe Zeit, die auch heute noch für diese Route einkalkuliert wird. Grohmann gab auf der Basis von Luftdruckmessungen eine Höhe von 3015 Metern für den Gipfel an. Die Westliche Zinne galt durch ihre geringere Höhe als weniger erstrebenswertes Ziel. Erst zehn Jahre nach der Erstbesteigung der Großen Zinne versuchten Luigi Orsolina und Gustav Gröger den Gipfel zu ersteigen. Im August 1879 kamen sie bis zu einem Felszacken in der Südflanke, den sie im Nebel für den Gipfel hielten. Wenige Tage später, am 21. August 1879, konnten Michel Innerkofler, ein Vetter von Franz Innerkofler, und Georg Ploner, Wirt in Schluderbach, den höchsten Punkt erreichen und den Irrtum aufklären. Die Kleine Zinne galt wegen ihrer deutlich steileren Wände lange Zeit als unbesteigbar. Erste Versuche von Pietro Dimai und Richard Ißler (1878), sowie von Santo Siorpaes und Ludwig Grünwald (1881) über die Nordwand scheiterten, Siorpaes und Grünwald erreichten jedoch den Gipfel der Punta di Frida. Am 25. Juli 1881 sollten die Führer Michel und Hans Innerkofler den Wiener Josef von Schlögl-Ehrenburg auf die Kleine Zinne führen, ließen diesen jedoch am Einstieg zurück und erreichten über die Südwestseite den Gipfel. Sie benötigten für die Durchsteigung nur eineinhalb Stunden, heute wird laut Führerliteratur eine Zeit von zwei bis drei Stunden veranschlagt. Diese Besteigung galt als die schwierigste bis dahin durchgeführte Kletterei (Schwierigkeitsgrad IV). und als Meilenstein in der Entwicklung des Kletterns im steilen Fels, das sich so durch eine stärkere Betonung der sportlichen Komponente vom klassischen Alpinismus zu emanzipieren begann. Die weiteren Gipfel der Gruppe wurden erst später erschlossen: Paul Preuß und Paul Relly eröffneten 1911 den Preußriss an der Kleinsten Zinne, die daraufhin in Preußturm umbenannt wurde. Der Torre Lavaredo wurde 1928 erstbestiegen, 1929 folgten die Croda degli Alpini und die Croda Longéres. Il Mulo wurde 1937 zum ersten Mal erklettert, der Torre Comici 1945. Die "Gelbe Kante" (UIIA VI) wurde 1933 von Mary Varale zusammen mit Emilio Comici und Renato Zanutti erstbegangen. Erschließung neuer Routen In den ersten Jahren nach den Erstbesteigungen spielten fast ausschließlich Besteigungen über die Normalwege eine Rolle. Diese wurden nun auch erstmals von Frauen (Anna Ploner 1874, zweite Besteigung der Großen Zinne; Ada von Sermoneta 1882 Kleine Zinne; Frau Eckerth 1884 Westliche Zinne) bestiegen. Die erste Besteigung eines Zinnengipfels ohne die Hilfe eines einheimischen Führers durch Otto und Emil Zsigmondy, Ludwig Purtscheller und Heinrich Koechlin (Kleine Zinne, 23. Juli 1884) wurde als wichtiger Schritt in der Entwicklung des führerlosen Bergsteigens angesehen. Die Brüder Zsigmondy, Purtscheller und Koechlin folgten bei ihrer führerlosen Besteigung der Kleinen Zinne nicht genau der Route der Erstbesteiger von 1881, sondern eröffneten am Gipfelturm eine Variante (Zsigmondy-Kamin, Schlüsselstelle der neuen Route), welche heute als Normalweg und damit leichtester Aufstieg zum Gipfel gilt. Zu dieser Zeit lag der Schwerpunkt des alpinistischen Interesses noch auf dem Erreichen des Gipfels auf dem Weg des geringsten Widerstandes, das Erschließen alternativer schwierigerer Anstiege setzte sich nur langsam durch. 1881 folgte durch Michael Innerkofler und Louis Tambosi die erste Begehung einer neuen Route an den Zinnen, diese stellte aber nur eine Variante durch den unteren Teil der Südwand der Großen Zinne dar. Erst am 28. Juli 1890 wurde mit der Nordwandführe an der Kleinen Zinne durch Sepp Innerkofler, Veit Innerkofler und Hans Helversen eine bedeutende Neutour unternommen. Diese wird mit dem Schwierigkeitsgrad IV+ heute zwar nur um einen halben Grad schwieriger bewertet als der Normalweg, wurde aber damals als bei weitem schwierigste Kletterei der Dolomiten angesehen. In den nächsten Jahren folgten mehrere Neueröffnungen, so die Ostwand der Großen Zinne unter der Führung von Antonio Dimai 1897 und die Ostwand der Westlichen Zinne, geführt durch Sepp und Michl Innerkofler 1899. 1906 versuchten Giovanni Siorpaes, Sepp Innerkofler und Adolf Witzenmann eine Durchsteigung der Ostwand der Kleinen Zinne, die sie aber nur mit Seilhilfe von oben bewältigten. Otto Langl und Ferdinand Horn konnten diese Route 1907 vollenden und die erste Zinnenroute im V. Grad eröffnen. Die Dibonakante an der großen Zinne, heute einer der beliebtesten Wege, wurde von Rudl Eller 1908 erstbegangen, bekannt wurde jedoch die Begehung durch Angelo Dibona 1909, nach dem die Route schließlich benannt wurde. Ebenfalls 1909 erschlossen Rudolf Fehrmann und Oliver Perry-Smith den Fehrmannkamin an der Nordwand der Kleinen Zinne. Hans Dülfers Route von 1913 durch die Westwand der Großen Zinne galt für lange Zeit als die schwierigste an den Zinnen. Erster Weltkrieg Nach der Kriegserklärung Italiens an Österreich am 23. Mai 1915 begann der Gebirgskrieg innerhalb weniger Tage auch entlang der Linie Paternkofel–Paternsattel–Drei Zinnen–Forcella Col di Mezzo, die damals die Staatsgrenze und die Frontlinie darstellte. Am 25. Mai wurde die Dreizinnenhütte von italienischer Artillerie zerstört, am 26. Mai folgte ein österreichischer Angriff auf den von Italien gehaltenen Paternsattel. Eine Patrouille versuchte hierbei, die Östliche Zinnenscharte zu erreichen, um die Verstärkung der italienischen Truppen durch Alpini von der Forcella Col di Mezzo abzufangen. Wegen Vereisung des steilen Geländes war dies jedoch nicht möglich, sodass noch am gleichen Abend ein Rückzug vom zwischenzeitlich eingenommenen Paternsattel nötig wurde. Daraufhin folgte ein Ausbau der italienischen Stellungen, die vom Paternsattel bis unmittelbar unterhalb des Preußturms reichten. Im Vergleich zu anderen Bergen der Umgebung wie dem Paternkofel oder dem Toblinger Knoten, die für den Krieg massiv mit Stellungen ausgebaut wurden und auf denen es auch zu Kampfhandlungen kam, blieben die Drei Zinnen selbst in der Folge vom unmittelbaren Kampfgeschehen weitgehend verschont. Sie waren jedoch als Aussichtspunkte von strategischer Bedeutung, deren Nutzung allerdings alpinistisch sehr anspruchsvoll war. Im Juli 1915 begann das italienische Heer mit großem Aufwand einen Scheinwerfer auf den Gipfel der Großen Zinne zu transportieren. In der Nacht vom 14. auf den 15. August wurde er in Betrieb genommen und leuchtete die österreichischen Stellungen auf dem Zinnenplateau aus. Auch eine Kanone wurde bis in den oberen Teilbereich des Berges befördert. Die Scharten zwischen den Zinnen waren durchgehend von italienischen Feldwachen besetzt. Im Zuge des Krieges erfolgte auch ein Ausbau der alpinen Versorgungswege, die die Basis der verkehrstechnischen Erschließung dieses Gebiets bildeten. Südöstlich der Großen Zinne wurden 1928 am Weg zum Paternsattel ein Kriegerdenkmal und die Alpinikapelle (Cappella degli Alpini, ) errichtet. Die Nordwände In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg fanden an den Zinnen kaum alpinistische Aktivitäten statt. Ab 1930 erschienen durch das Erreichen des VI. Schwierigkeitsgrades in den 1920er Jahren die Überwindung der bis dahin für unkletterbar gehaltenen Nordwände von Großer und Westlicher Zinne erstmals möglich. 1933 erreichten Fritz Demuth, Ferdinand Peringer und Sepp Lichtenegger an der Nordostkante der Westlichen Zinne bereits den unteren VI. Grad. Am 13. und 14. August 1933 gelang schließlich Emilio Comici mit Giovanni und Angelo Dimai nach einer Aufstiegszeit von drei Tagen und zwei Nächten die Erstdurchsteigung der Nordwand der Großen Zinne. Der Stil dieser Erstbegehung war durch das Schlagen vieler Haken und technisches Klettern geprägt und wurde kontrovers diskutiert. «Eine ganze Galerie von Haken spickte den Riss und die Überhänge. Die Italiener hatten einige Tage zur Erstbegehung gebraucht und saubere Arbeit geleistet», schrieb der deutsche Bergsteiger Anderl Heckmair, als er 1935 die Comici-Route kletterte. Dieses Vorgehen galt vielen Vertretern des klassischen Alpinismus als unethisch, die Besteigung wurde als „Farce“ bezeichnet und etwa von Julius Kugy sogar als Beweis der Nichtersteigbarkeit der Nordwand interpretiert. 1937 wiederholte Comici die Begehung der Route als Reaktion auf die Kritik im Alleingang und größtenteils seilfrei. Bereits 1933 war ihm mit der Gelben Kante an der Kleinen Zinne eine weitere wichtige Erstbegehung gelungen. 1935 konnten sich Riccardo Cassin und Vittorio Ratti gegen Hans Hintermeier und Josef Meindl, die bereits längere Zeit an der Route arbeiteten, durchsetzen und als Erste die Nordwand der Westlichen Zinne durchsteigen. Dies war die bis dahin schwierigste Tour an den Drei Zinnen. Im selben Jahr errichteten Sextner Bergführer das drei Meter hohe eiserne Gipfelkreuz auf der großen Zinne. Das Direttissima-Zeitalter Nach dem Zweiten Weltkrieg waren technische Hilfsmittel und insbesondere Bohrhaken leichter verfügbar. Dies ermöglichte das Anbringen von Sicherungspunkten unabhängig von natürlichen Felsstrukturen wie etwa Rissen und damit eine direktere, an der Falllinie orientierte Routenführung. Vom 6. bis 10. Juli 1958 erschlossen Dietrich Hasse, Lothar Brandler, Sigi Löw und Jörg Lehne mit 180 Normal- und 14 Bohrhaken eine Route an der Nordwand der Großen Zinne, der bis dahin direkte Anstieg durch eine große Wand. Diese Direttissima (auch Hasse/Brandler) prägte den Klettersport der nächsten Jahre, in denen der Direttissimastil mit dem Versuch, möglichst der „Linie des fallenden Tropfens“ zu folgen, zum Ideal erhoben wurde. Die ersten Direttissimas an der Westlichen Zinne waren 1959 die Jean-Couzy-Gedächtnisführe von René Desmaison und Pierre Mazeaud und die Schweizerführe, die als erste Route das große Dach streifte. Im Januar 1963 folgte an der Großen Zinne die Superdirettissima (Sachsenweg), die fast keine Abweichung von der Falllinie mehr aufwies. 1967 eröffneten Enrico Mauro und Mirco Minuzzi mit 340 Bohrhaken die Via Camillotto Pellesier an der Großen Zinne, 1968 durchstiegen Gerd Baur und die Brüder Rudolph mit extremem technischem Aufwand direkt das Dach der Westlichen Zinne. Modernes Sportklettern Als in den 1970er Jahren die technisch aufwändige Erschließung immer stärker kritisiert wurde und der Gedanke des Freikletterns an Einfluss gewann, versuchten Kletterer erstmals, die technischen Routen in den Nordwänden der Zinnen ohne Zuhilfenahme der Haken zu bewältigen. 1978 (oder bereits früher) konnte erstmals die Comici-, 1979 auch die Cassinführe rotpunkt durchklettert werden. In den nächsten Jahren folgten freie Durchsteigungen von weiteren Routen wie Egger/Sauscheck, Gelber Kante und Cassin an der Kleinen Zinne und am Preußturm, 1987 kletterte Kurt Albert mit der Schweizerführe und der Hasse-Brandler auch zwei Direttissimarouten rotpunkt. 1999 folgte die Jean-Couzy-Gedächtnisführe und 2003 die Via Camillotto Pellesier. Die erste frei gekletterte Neutour an den Nordwänden war 1988 die Alpenrose durch Michal und Miroslav Coubal, gefolgt von Phantom der Zinne 1995 an der Großen und Alpenliebe 1998 an der Westlichen Zinne. Mit der später als Gelbe Mauer bekannten Route Perlen vor die Säue (1996) und Via Nobile (1997) richteten Kurt Albert und Stefan Glowacz auch mit zahlreichen Bohrhaken ausgestattete moderne Sportkletterrouten ein. Im März 2000 eröffnete Alexander Huber mit Bellavista eine nur mit Normalhaken abgesicherte Route am Rand des Baur-Dachs in der Westlichen Zinne, die er 2001 auch rotpunkt beging. Es war die erste alpine Route im XI. Schwierigkeitsgrad, bis heute gilt sie als eine der weltweit schwierigsten alpinen Kletterrouten. 2007 konnte Huber mit Pan Aroma eine weitere Tour derselben Schwierigkeit direkt durch die Dachzone legen. Enchaînements Die geringen Distanzen zwischen den Gipfeln der Drei Zinnen boten schon früh Gelegenheiten zum Aneinanderreihen mehrerer Routen unmittelbar hintereinander (Enchaînement). Bereits 1881 bestieg Demeter Diamantidi, geführt von Michel und Hans Innerkofler die Gipfel aller Drei Zinnen an einem Tag. 1955 konnten Gottfried Mair und Toni Egger mit Comici und Cassin erstmals zwei Nordwandführen an einem Tag durchsteigen, 1961 gelangen Claudio Barbier solo an einem Tag die Nordwände aller Drei Zinnen, der Punta di Frida und des Preußturms. Thomas Bubendorfer kletterte 1988 an einem Tag drei Nordwandrouten und bestieg die Marmolata und die Pordoispitze. Der Stil dieser Unternehmung wurde jedoch kritisiert, da er die Routen mit Hilfe eines Helikopters verband. Im Jahr 2008 kombinierte Thomas Huber die schwierigen Nordwandrouten Alpenliebe, Phantom der Zinne und Ötzi trifft Yeti an einem Tag, wobei er die Abstiege jeweils als Base-Jump durchführte. Am 17. März 2014 gelang dem Schweizer Ueli Steck und Michael Wohlleben die Begehung der drei klassischen Routen durch die Nordwand im Winter. Sie verbanden Cassin an der Westlichen Zinne, Comici an der Großen Zinne und Innerkofler mit Nordwandeinstig an der Kleinen Zinne. Alleingänge 1937 bereits wiederholte Emilio Comici seine Nordwandroute im Alleingang, wobei er einen Großteil des Weges seilfrei kletterte. 1959 hatte Claudio Barbier bei der ersten Alleinbegehung der Cassin Erfolg. Bei diesen Alleingängen wurde noch auf die Hilfe von Haken zurückgegriffen, Heinz Mariacher kletterte 1972 die Nordwände bereits weitgehend frei. 2002 kletterte Alexander Huber die Direttissima Hasse/Brandler free solo, damals eine der schwierigsten Free-Solo-Begehungen weltweit. 2002 konnte Much Mayr mit der ihm bis dahin völlig unbekannten Cassin eine weitere schwierige Zinnenroute seilfrei durchklettern. Ueli Steck kletterte 2010 die Routen Cassin (Preußturm), Gelbe Kante (Kleine Zinne) und Comici (Große Zinne) an einem Tag free solo. Massentourismus und Vermarktung Im Bewusstsein der ansässigen Bevölkerung scheinen die Drei Zinnen bis ins 19. Jahrhundert kaum eine besondere Rolle gespielt zu haben. So ist etwa im Gegensatz zu vielen anderen markanten Felsformationen in der Umgebung keine Sage über die Zinnen bekannt. In Reiseberichten aus dem frühen 19. Jahrhundert sind nur grobe Beschreibungen aus großer Entfernung zu finden. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Hochpustertal zu einem Ziel für Sommerfrischler. Reiseberichte, die die internationale Bekanntheit der Drei Zinnen wesentlich steigerten, waren The Dolomite Mountains von Josiah Gilbert und George Cheetham Churchill 1864 und Untrodden peaks and unfrequented valleys. A midsummer ramble in the Dolomites von Amelia Edwards im Jahre 1873. Darüber hinaus waren die zu dieser Zeit in Mode gekommenen Ansichtskarten Grundlage für die bald steigende Popularität der Drei Zinnen auch außerhalb von Alpinistenkreisen. In Höhlenstein, dem einzigen Talort mit Blick auf die Zinnennordwände, entstand eine Kolonie von Luxushotels. Der Erste Weltkrieg brachte zwar den Tourismus zum Erliegen, die Bilder von den Kämpfen am Zinnenplateau steigerten jedoch den Bekanntheitsgrad der Berge. In der Kriegspropaganda dienten die Zinnen auf beiden Seiten als Sinnbilder für das Gebirge schlechthin. Sie wurden dabei als Grenzmarkierung und Festung inszeniert. Bekannt wurde etwa ein Bild von der Bergung der Leiche des 1915 am Paternkofel gefallenen Sepp Innerkofler im Jahr 1918. Die Darstellung des Leichenzugs vor dem Hintergrund der Zinnen diente zur Verklärung Innerkoflers als Märtyrer und verfestigte den Mythos der Berge. Während der folgenden Zeit des Faschismus stilisierten südtirolpatriotische Bewegungen die Drei Zinnen zu einer Ikone Gesamttirols, wobei das Bild der Berge mit religiöser und politischer Symbolik aufgeladen wurde. So symbolisierten die Drei Zinnen auf Postkarten und Plakaten die ehemalige Gesamttiroler Grenze, indem sie etwa bei der Darstellung kämpfender Tiroler als Hintergrund dienten. Besonderen Anteil an der Popularisierung der Ansicht der Drei Zinnen hatte die Landschaftsfotografie, die zu dieser Zeit in Südtirol eine Blüte erlebte. Die vordergründig ideologiefreien Gebirgsaufnahmen transportierten in verdeckter Form politische Botschaften, die den Repressionen des faschistischen Staates kaum zugänglich war. Bereits aus dem Jahr 1900 sind erste Verwendungen der Drei Zinnen in der Werbung bekannt, bis heute wird ihr Name häufig als Werbeträger genutzt. Insbesondere Gastronomiebetriebe der näheren Umgebung verwenden die Drei Zinnen gern als Namensbestandteil: so wird Toblach als „Gemeinde der Drei Zinnen“ beworben. Seit 1998 wird ein knapp 20 Kilometer langer Berglauf von Sexten zur Dreizinnenhütte ausgetragen, der als „Drei-Zinnen-Lauf“ bezeichnet wird. In der Tourismuswerbung Südtirols stellen die Drei Zinnen ein häufig verwendetes Sujet dar. Der NS-Schriftsteller Karl Springenschmid nannte die Gipfelgruppe „Gottes eigenwilligste Schöpfung der Alpen“. Die italienische Post gab ab 24. Juli 2008 eine Briefmarke mit einer Zeichnung der Berge im Rahmen der Serie Tourismus heraus. Stilisierte Darstellungen der Zinnen sind in den Logos mehrerer Unternehmen zu finden. Ihre Form wurde auch von einer Fruchteissorte namens Dolomiti nachempfunden, die in den 1980er Jahren populär war. Der Wandertourismus erlebte zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt. Im Jahr 1908 besuchten bereits mehr als 2000 Menschen die 1881 erbaute Dreizinnenhütte. In der Zwischenkriegszeit nahm der Tourismus weiter zu. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele alte Kriegswege, darunter auch die Auronzostraße, für touristische Zwecke ausgebaut, was einen neuerlichen Anstieg der Besucherzahlen zur Folge hatte. Eine Verlängerung der Autostraße bis zur Dreizinnenhütte wurde bereits des Öfteren in Erwägung gezogen, bislang aber verhindert. Die Umrundung der Drei Zinnen gilt als eine der beliebtesten Wanderstrecken der Dolomiten, da das Gebiet durch die mautpflichtige Straße zur Auronzohütte leicht erreichbar ist. Der Weg von der Auronzohütte zum Paternsattel und zur Dreizinnenhütte ist darüber hinaus sehr breit ausgebaut und weist nur geringe Steigungen auf. Er ist daher auch für ungeübte Wanderer leicht begehbar, sodass es an manchen Tagen durch den hohen Andrang zu regelrechten Staus kommt. Die Dreizinnenhütte bietet 140 Übernachtungsplätze an, mit den zahlreichen Tagesgästen hat sie bis zu 2000 Besucher täglich zu verzeichnen. Radsport Die asphaltierte Mautstraße zum Rifugio Auronzo (2304 m) ist ein beliebter Anstieg bei Radsportlern. Auch der Giro d’Italia, das größte Radrennen Italiens, ging seit dem Jahr 1967 sieben Mal im Schatten der Drei Zinnen zu Ende. Die Auffahrt beginnt beim Lago di Misurina, wo eine kleine Straße von der breiteren SP49 abzweigt. Der erste Kilometer weist bereits eine durchschnittliche Steigung von 10,6 % auf und beinhaltet Rampen von bis zu 18 %. Beim Lago Antorno flacht die Straße im Anschluss ab und es folgt eine rund ein Kilometer lange Abfahrt, die zur Mautstelle führt. Nach einem weiteren flachen Kilometer beginnen die letzten vier Kilometer, die im Schnitt eine Steigung von 11,7 % aufweisen. Im oberen Teil überquert die Mautstraße die Baumgrenze und führt über sechs Kehren zum höchsten Punkt, wo sich mehrere Parkplätze befinden. Die maximale Steigung im oberen Teil beträgt erneut rund 18 %. Insgesamt werden auf den 7,2 Kilometern des Anstiegs 547 Höhenmeter zurückgelegt. Um zum Einstieg des eigentlichen Anstieges zu gelangen muss zunächst entweder der Passo Tre Croci (1805 m) von Cortina d’Ampezzo oder der Col Sant'Angelo (1757 m) von Schluderbach bzw. Auronzo di Cadore überquert werden. Giro d’Italia Die erste Befahrung fand 1967 im Rahmen der 19. Etappe statt, die von Udine zu den drei Zinnen führte. Bei starkem Schneefall hatten die Fahrer Schwierigkeiten die hohen Steigungsprozente zu absolvieren und so ließen sich Berichten zufolge mehrere Fahrer von den Begleitfahrzeugen ziehen. Dies führte dazu, dass die Ergebnisse der Etappe keinen Einfluss auf das Gesamtklassement hatten und der Etappensieg des Italieners Felice Gimondi aberkannt wurde. Nur ein Jahr später kehrte der Giro d’Italia bei besseren Wetterbedingungen mit einer neuerlichen Zielankunft zurück, bei der der Belgier Eddy Merckx triumphierte. Im Jahre 1974 nahm Eddy Merckx die Etappe zu den Drei Zinnen im Rosa Trikot des Gesamtführenden in Angriff, musste jedoch im Schlussanstieg den Italiener Gianbattista Baronchelli ziehen lassen und verteidigte seine Gesamtführung mit gerade einmal zwölf Sekunden Vorsprung. Den Etappensieg sicherte sich damals der Spanier José Manuel Fuente. Bei der vierten Befahrung des Anstiegs übernahm Giovanni Battaglin das Rosa Trikot von Silvano Contini und gewann anschließend die Italien-Rundfahrt. Mit Beat Breu triumphierte erstmals ein Schweizer im Schatten der Drei Zinnen. Im Jahr 1989 sicherte sich der Kolumbianer Luis Herrera den Etappensieg und gewann als erster nicht-Europäer eine Etappe des Giro d’Italia. 2007 triumphierte Riccardo Riccò, ehe im Jahr 2013 mit Vincenzo Nibali ein weiterer Italiener die Etappenankunft bei den Drei Zinnen gewann. Im Jahr 2013 fand die Etappenankunft erneut bei starkem Schneefall statt. In den Jahren 1967, 1968, 1974, 1981 und 2013 stellte der Anstieg die höchste Erhebung des Giro d’Italia dar und wurde mit der Cima Coppi versehen. Im Jahr 1989 war die Zielankunft ebenfalls der höchste Punkt der Rundfahrt, galt jedoch nicht als Cima Coppi, da diese am Passo di Gavia (2621 m) vergeben hätte werden sollen, der jedoch aufgrund von schlechtem Wetter nicht befahrbar war. Im Jahr 2023 fand im Rahmen der 19. Etappe eine weitere Zielankunft beim Rifugio Auronzo statt. Etappensieger wurde der Kolumbianer Santiago Buitrago. Da der Grosse St. Bernhard aufgrund von Schlechtwetter aus dem Programm genommen worden war, stellte der Anstieg erneut die Cima Coppi dar. Literatur Weblinks Tre Cime di Lavaredo (Drei Zinnen) auf Summitpost.org (englisch) Tourbeschreibung Rundweg Drei Zinnen mit Bilder Einzelnachweise Sextner Dolomiten Gebirge in Italien Gebirge in Südtirol Geographie (Auronzo di Cadore) Toblach Naturpark Drei Zinnen Gebirge in den Dolomiten Karstformation in Italien
194166
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Cao Cao
Cáo Cāo (, Großjährigkeitsname (Zi) Mèngdé , * 155; † 15. März 220 in Luoyang) war ein chinesischer General, Stratege, Politiker, Dichter und Kriegsherr während der späten Han-Dynastie. Er errang die Herrschaft über ganz China nördlich des Jangtsekiang, übte großen Einfluss auf den Kaiser aus und legte den Grundstein für die Wei-Dynastie, die nach seinem Tod von seinem Sohn Cao Pi begründet wurde. Von diesem wurde er mit dem postumen Titel Kaiser Wu von Wei () und dem Tempelnamen Taizu () geehrt. Cao Cao wird in der Überlieferung als grausamer und gnadenloser Despot, aber auch als gewissenhafter Herrscher und militärisches Genie dargestellt. Immerhin gelang es ihm, viele seiner Widersacher auszuschalten: im Jahre 194 n. Chr. den Provinzgouverneur Tao Qian, 197 den Stadtkommandanten Zhang Xiu, 198 den Kriegsherrn Lü Bu, 200 (Schlacht von Guandu) bis 202 den Kriegsherrn Yuan Shao und 205 dessen Söhne. Erst die Schlacht von Chibi machte seinem Eroberungszug ein Ende und zementierte die Teilung Chinas (Zeit der Drei Reiche), die mehr als fünfzig Jahre dauerte. Auch innenpolitisch gab es niemanden, der seine Position gefährdete. Den Beamten Kong Rong etwa, der ihm seit 196 diente und versuchte, Cao Cao zu verdrängen, ließ er 208 hinrichten. Cao Cao galt als talentierter Dichter und verfasste auch Schriften über Kampfkunst und Kriegshandwerk. Leben Frühe Laufbahn Cao Cao wurde im Bezirk Qiao (, heutiges Yongcheng, Henan) unter der Herrschaft von Kaiser Huan von Han geboren. Sein Vater Cao Song war der Adoptivsohn des Eunuchen Cao Teng, der die Gunst des Kaisers genoss. Die Biografie von Cao Man (ein Teil der Chroniken der Drei Reiche) berichtet, dass der Name seines Vaters ursprünglich Xiahou gelautet habe. Cao Cao führte seine Abstammung auf Cao Can, einen Gefolgsmann des ersten Han-Kaisers, Han Gaozu, zurück. 2012 untersuchten Wissenschaftler die Chromosomen von Nachkommen der beiden und stellten Unterschiede fest, die beweisen, dass keine Verwandtschaft zwischen Cao Can und Cao Cao bestand. Zahlreiche Überlieferungen aus Cao Caos Kindheit handeln von seinen Ambitionen, seinen Fähigkeiten und seiner Freundschaft mit Yuan Shao. Bis auf das Letztere ist jedoch wenig davon historisch haltbar. Im Alter von zwanzig Jahren wurde Cao Cao zum Bezirkshauptmann der Hauptstadt Luoyang ernannt. Seine strenge Amtsführung machte auch vor angesehenen Persönlichkeiten nicht halt. Die Eunuchenfraktion um Kaiser Ling war besorgt darum, und ihr Vorsteher Jian Shuo suchte nach einer Möglichkeit, Cao Cao bequem loszuwerden: Als dieser den Onkel des Eunuchen nach der Sperrstunde auf der Straße gefasst und zur Strafe ausgepeitscht hatte, nahm Jian Shuo den Vorfall zum Anlass, Cao Cao auf einen Posten außerhalb der Hauptstadtregion zu befördern. Als im Jahr 184 der Aufstand der Gelben Turbane ausbrach, wurde Cao Cao in die Hauptstadt zurückberufen und zum Hauptmann der Kavallerie () befördert. Er erhielt den Auftrag, die Unruhen in Yingchuan niederzuwerfen. Sein dortiger Erfolg brachte ihm den Posten des Gouverneurs der Dong-Kommandantur ein. Allianz gegen Dong Zhuo Nach dem Tod Kaiser Lings im Sommer 189 kam es zu offenen Kämpfen zwischen der Eunuchenfraktion (deren mächtigste Verbündete die Kaiserinmutter Dong war, Kaiser Lings Mutter) und der Partei der Kaiserinwitwe He, deren Bruder He Jin Oberkommandierender der kaiserlichen Armee war. Er verschwor sich mit seinem Vertrauten Yuan Shao gegen die Eunuchen und bestellte den verdienten General Dong Zhuo in die Hauptstadt, um Druck auf die Kaiserinmutter auszuüben. Bevor Dong Zhuo jedoch anlangte, hatten die Eunuchen He Jin ermordet und waren mit den Thronfolgern Liu Bian und Liu Xie entkommen. Am Jangtsekiang endete ihre Flucht, als die kampferprobten Truppen Dong Zhuos sie eingeholt hatten. Die Eunuchen stürzten sich in den Fluss, und Dong Zhuo kehrte mit den Thronfolgern zurück in die Hauptstadt, wo er sich zum Vormund des Kaisers Liu Bian aufschwang. Seit dem Aufstand der Gelben Turbane hatten die Provinzgouverneure und kaiserlichen Generäle große Befugnisse erhalten, die sie mehr oder minder autonom von der Zentralregierung in Luoyang (später von Dong Zhuo nach Chang’an verlegt) gemacht hatten. Dong Zhuo, der nun den Kaiser kontrollierte, erhob Anspruch auf die Herrschaft über ganz China. Aber nicht nur, dass sich die Gouverneure weigerten, ihre Macht preiszugeben, auch in dem von Dong Zhuo kontrollierten Gebiet war die Stimmung in der Bevölkerung und unter den Hofbeamten gegen ihn. Nachdem Dong Zhuo im Jahr 189 den jungen Kaiser Liu Bian zugunsten des jüngeren Liu Xie (Kaiser Xian) abgesetzt und im folgenden Jahr ermordet hatte, entschied sich Yuan Shao zum offenen Krieg gegen den Usurpator. Er konnte viele regionale Kriegsherren auf seine Seite bringen. Unter diesen war auch Cao Cao, der seinem Vorgesetzten Zhang Miao folgte, dem Statthalter von Chenliu. Während des Bürgerkriegs wurde die Hauptstadt Luoyang verwüstet, und Dong Zhuo zog mit der Regierung nach Chang’an um. Dort fand der Usurpator im Jahr 192 sein Ende. Aufstieg zum Kriegsherren Nach einigen Feldzügen gegen Dong Zhuos versprengte Truppenteile hatte Cao Cao den Kernbereich seines Territoriums erkämpft. Seine Vettern Cao Hong und Cao Ren sowie die Generäle Xiahou Dun, Xiahou Yuan, Yu Jin und Yue Jin dienten ihm als Unterfeldherrn. Im Jahr 193 griff Cao Cao mit seiner Streitmacht die Provinz Yanzhou an, die vom Gouverneur Tao Qian regiert wurde. Der alte Gouverneur konnte der Invasion nicht standhalten, und seine Generäle Zhang Liao und Chen Gong übergaben die Provinz eigenmächtig dem benachbarten Warlord Lü Bu. Also wandte sich Cao Cao gegen Lü Bu. Der berüchtigte Feldherr und Krieger hatte sich nach der Ermordung seines Adoptivvaters Dong Zhuo am Jangtsekiang niedergelassen. Cao Cao ließ sich nicht die Initiative stehlen und griff Lü Bu in dessen Hauptstadt Puyang an. Nach hundert Tagen der Belagerung zwang der Hunger Lü Bu, seine Stellung aufzugeben. Er floh nach Xiapi, wo er den Gouverneur Liu Bei vertrieb und sich mit dem Kriegsherrn Yuan Shu verständigte. Später brach diese Allianz, und Lü Bu suchte die Nähe von Cao Cao. Der jedoch war damit beschäftigt, seine Herrschaft ideologisch zu untermauern, indem er den Kaiser bei sich aufnahm. Der junge Kaiser Xian war seit Dong Zhuos Tod in der Gewalt von dessen Nachfolgern, den Generälen Li Jue und Guo Si. Sie zermürbten sich gegenseitig in Machtkämpfen und mussten im Jahr 195 zulassen, dass der Kaiser mit seinem Gefolge Chang’an verließ und sich ins zerstörte Luoyang aufmachte. Dort angelangt hatten der Kaiser und sein Gefolge keinen Proviant und waren feindlichen Übergriffen wehrlos ausgesetzt. Als Cao Cao davon erfuhr, machte er sich nach Luoyang auf und gewann das Vertrauen der kaiserlichen Generäle Dong Cheng und Yang Feng. Er verständigte sich mit ihnen, den Kaiser gemeinsam zu lenken. Nachdem sie aber Cao Caos Hauptquartier in Xuchang erreicht hatten, verlieh er ihnen mindere Ehrentitel und verdrängte sie. Yang Feng war unzufrieden und erhob sich gegen Cao Cao, wurde jedoch geschlagen und musste dann aber zu Yuan Shu fliehen; sein Unterfeldherr Xu Huang schloss sich Cao Cao an. Dong Cheng zog sich daraufhin zurück und ließ Cao Cao freie Hand. Dieser gab fortan Edikte im Namen des Kaisers Xian heraus. Vereinigung des Nordens Im Jahr 197 hatte sich Cao Cao einen kleineren Kriegsherren des Südens dienstbar gemacht, Zhang Xiu. Als Cao Cao ihn im Wan-Schloss besuchte, nahm er die verwitwete Schwägerin seines Gastgebers zur Konkubine. Zhang Xiu war verärgert und rief zu den Waffen, um Cao Cao zu töten. Dessen Sohn Cao Ang, sein Neffe Cao Anmin und sein Leibwächter Dian Wei fanden in den Kämpfen den Tod, Cao Cao konnte entkommen. Später unterwarf sich Zhang Xiu endgültig und sicherte Cao Cao damit die Stadt Wancheng, die den wichtigsten Pass nach Süden (Sichuan) bewachte. Lü Bu verlor im Jahr 198 gegen Cao Cao und wurde hingerichtet, sein General Zhang Liao lief zu Cao Cao über. Nun gab es im nördlichen China (nördlich des Jangtsekiang) nur noch zwei große Machtfaktoren: Cao Cao und Yuan Shao, der seit dem Jahr 191 an Han Fus Stelle Gouverneur von Jizhou war und im Jahr 199 seinen Rivalen Gongsun Zan vernichtend geschlagen hatte. Er kontrollierte ein wohlhabendes und bevölkerungsreiches Gebiet und verfügte über fähige Generäle und Berater. Spätestens seit Cao Cao den Kaiser kontrollierte, waren die beiden Rivalen. Auch Yuan Shao hatte im Jahr 195 geplant, den Kaiser in sein Hauptquartier Ye zu führen; auf Anraten seines Beraters Chunyu Qiong hatte er jedoch davon Abstand genommen und eine einmalige Gelegenheit verpasst, seine Herrschaft im nördlichen China zu legitimieren. Um Cao Cao zu schlagen, der über gute Generäle und Berater und schlagkräftige Truppen verfügte, schloss Yuan Shao ein Bündnis mit den benachbarten Wuhuan-Stämmen. Dann rückte er mit seinen Truppen auf den Gelben Fluss vor, um Cao Cao bei Liyang (heute Großgemeinde im Kreis Xun) zu begegnen. Nach einigen kleinen Gefechten kam es im Frühjahr 200 zur Schlacht von Guandu, in der Yuan Shao trotz seiner Übermacht von Cao Cao geschlagen wurde. Sein General Zhang He lief zu Cao Cao über, und Yuan Shao floh über den Gelben Fluss. Nach einer weiteren Niederlage bei Cangting im Jahr 202 starb dieser und hinterließ die Überreste seines Reichs und seiner Armee seinem ältesten Sohn Yuan Tan. Dieser stritt jedoch mit seinem jüngsten Bruder Yuan Shang um das Erbe. Cao Cao nutzte den Streit der beiden und schlug Yuan Tan im Jahr 205, während Yuan Shang in den nördlichen Teil der koreanischen Halbinsel zu dem Kriegsherrn Gongsun Kang floh. Dieser verständigte sich mit Cao Cao, ermordete den Flüchtling im Jahr 207 und unterwarf sich nominell der Oberherrschaft von Cao Cao. Am 9. Juni 208 ließ sich Cao Cao vom Kaiser zum Kanzler ernennen. Dieser Posten war der höchste am Hof nach dem Kaiser selbst und war zuletzt vom Usurpator Dong Zhuo angenommen worden. Auch das war das erste Mal seit dem Zusammenbruch der Westlichen Han-Dynastie gewesen, dass ein Kanzler ernannt wurde. Um die nordwestlich gelegene Provinz Liangzhou war zu Beginn des 3. Jahrhunderts ein Streit entstanden. Die vormals verbündeten Kriegsherren Ma Teng und Han Sui kämpften erbittert um die Vorherrschaft. Es gelang Cao Cao, sie zu versöhnen und zu unterwerfen. Er bestellte Ma Teng als Statthalter nach Ye, während er Han Sui und Ma Tengs Sohn Ma Chao als Statthalter in Liangzhou einsetzte. Schlacht von Chibi und weitere Feldzüge Cao Cao hatte seine Herrschaft im nördlichen China gefestigt und traf nun Vorbereitungen, auch die restlichen Gebiete des Han-Reiches zu unterwerfen. Im Jahr 207 waren folgende Kriegsherren im südlichen China übrig geblieben: Zhang Lu, ein kleinerer Kriegsherr, kontrollierte die strategisch wichtige Stadt Hanzhong. Liu Zhang, der Gouverneur der Yi-Provinz, herrschte über einen großen Teil des heutigen Sichuan. Liu Biao, der Gouverneur der Jing-Provinz, hatte während des Bürgerkriegs seine Provinz autonom regiert, jedoch keinen Versuch gemacht, seinen Machtbereich auszudehnen. Dadurch war er ein leichtes Ziel für Cao Cao, der ihn 207 schlug. Sun Quan war seinem älteren Bruder Sun Ce nach dessen Tod als Kriegsherr im südöstlichen China nachgefolgt und kontrollierte die heutigen Provinzen Anhui, Jiangxi und Zhejiang. Er war der mächtigste der vier Warlords. Cao Cao vertrieb die letzten Versprengten seiner besiegten Rivalen aus dem Norden, auch Liu Bei, der Yuan Shao gedient hatte. Der General erlitt eine Niederlage gegen Cao Cao in der Schlacht von Changban (Sommer 208), konnte aber durch die Hilfe seiner Verbündeten Zhang Fei und Zhao Yun nach Süden entkommen. Dort suchte er ein Bündnis mit Sun Quan, der sich auf Cao Caos Angriff vorbereitete. Genaue Angaben über Cao Caos Truppen schwanken; es werden etwa 220.000 angenommen, gegen die etwa 50.000 Mann auf Seiten Sun Quans und Liu Beis antraten. Die drei Heerlager lagen an den gegenüberliegenden Ufern des Jangtsekiang, an einem Ort, der als Chibi (Roter Felsen) bekannt ist. Cao Caos Übermacht lagerte am nördlichen Flussufer, Liu Beis Armee und Sun Quans Marine am südlichen. Da Cao Caos Soldaten nicht an den Kampf auf dem Wasser gewöhnt waren, anders als Sun Quans Soldaten, suchte Cao Cao diesen Nachteil auszugleichen. Er nahm den Rat eines vermeintlichen Überläufers aus Liu Beis Lager, Pang Tong, an, seine Schiffe zu vertäuen. So sollte das Schaukeln auf der Überfahrt gelindert werden. Cao Caos Flotte wurde durch diese Maßnahme aber auch manövrierunfähig, so dass Sun Quans General Huang Gai sie unter Ausnutzung des Südwindes in Brand setzen und vollständig niederbrennen konnte. Mit dieser List wurde Cao Caos Übermacht in der Schlacht von Chibi aufgerieben und ihm eine empfindliche Niederlage beigebracht. Damit war die Zweiteilung Chinas für die nächsten Jahrzehnte besiegelt. Sun Quan gewährte Liu Bei die Provinz Jingzhou, damit dieser von dort aus eine Machtbasis erobern konnte. Nach diesem Rückschlag konzentrierte sich Cao Cao auf Feldzüge zur Sicherung seines Reiches im Norden. Dort hatten die Statthalter Han Sui und Ma Chao im Jahr 211 einen Aufstand gewagt und seine Oberherrschaft abgeschüttelt. Cao Cao ließ Ma Teng, den Vater Ma Chaos, in Ye hinrichten und begann einen großen Feldzug, um die Aufrührer zu unterwerfen, denen sich die Qiang-Stämme angeschlossen hatten. Von März bis September 211 konnte Ma Chao Cao Caos Truppen hinhalten, bis er die Schlacht am Tong-Tor verlor und zu Zhang Lu floh, dem Statthalter von Hanzhong. Noch vier Jahre lang kämpfte Cao Caos General Xiahou Yuan gegen Han Sui, ehe er ihn geschlagen und den Aufstand beendet hatte. Im Jahr 215, nach der endgültigen Befriedung von Liangzhou, unternahm Cao Cao einen Angriff auf Hanzhong. Zhang Lu leistete kaum Widerstand und unterwarf sich Cao Cao nach einigen Wochen. Ma Chao floh nach Süden, um sich Liu Bei anzuschließen. Im Jahr 217 wehrte Cao Caos General Zhang Liao eine Invasion Sun Quans bei der Stadt Hefei ab. Den Chroniken der Drei Reiche zufolge verfügte Zhang Liao nur über 30.000 Mann, die 100.000 auf Sun Quans Seite gegenüberstanden. Der Sieg brachte dem General darum großen Ruhm ein. Im selben Jahr wurde Hanzhong von Liu Bei angegriffen. Er konnte jedoch nicht durchbrechen, weil Xiahou Yuan ihn am Yangping-Pass aufhielt. Erst im Jahr 219 nach seinem Sieg in der Schlacht am Berg Dingjun gelang Liu Bei die Übernahme von Hanzhong. Xiahou Yuan fiel in der Schlacht. Cao Cao war damit im Südwesten seines Reiches verwundbar geworden und suchte ein Bündnis mit Sun Quan, der die Jingzhou-Provinz von Liu Bei zurückforderte. Dort war der berühmte General Guan Yu als Statthalter eingesetzt, der in Fancheng sein Quartier hatte. Die Armeen von Cao Cao und Sun Quan führten zwei abgestimmte Angriffe auf das Hauptquartier aus, und in der Doppelschlacht von Fancheng verlor zunächst Cao Cao gegen Guan Yu, der dann aber von Sun Quans General Lü Meng geschlagen und hingerichtet wurde. Liu Beis Verlust der Jingzhou-Provinz und sein Bruch mit Sun Quan gab Cao Cao wieder Sicherheit nach außen. Innenpolitik Cao Caos innenpolitische Maßnahmen waren von der langfristigen strategischen Überlegungen geprägt: Um sein Territorium halten und möglicherweise vergrößern zu können, brauchte er eine zahlreiche und wehrfähige Bevölkerung, um schlagkräftige Truppen ausheben zu können. Unter dem Eindruck einer Hungersnot im Jahre 194 führte er Agrarreformen in seinem Machtbereich durch. Die Kleinbauern und Pächter, die während des Bürgerkriegs aus ihrer Heimat geflohen waren, siedelte er zwangsweise in neugeschaffenen Wehrbauern-Kolonien an. Ihre Aufgabe war die Landesverteidigung, und eventuelle Überschüsse der Produktion waren abzuliefern. Um die Verwaltung seines Reiches zu optimieren, nahm Cao Cao auch Reformen des Beamtensystems in Angriff. Es gelang ihm jedoch nicht, die Stellungen der wichtigen Beamten so weit zu begrenzen, dass eine Machtübernahme ausgeschlossen blieb. So sollte auch sein Enkel Cao Rui der letzte Kaiser der Wei-Dynastie sein, der selbst regierte und nicht von Beamten und Würdenträgern gelenkt wurde. Cao Caos Religionspolitik war tolerant. So duldete er neben der Staatsreligion, dem Konfuzianismus, auch die verstreuten buddhistischen Gemeinden, die auf den Han-Prinzen Liu Ying zurückgingen, und die daoistische Himmelsmeister-Bewegung aus Hanzhong, die sich in den folgenden Jahrhunderten zu einer der wichtigsten daoistischen Strömungen entwickelte. Vorbereitung der Machtübernahme Cao Caos Kontrolle über den Kaiser war vollständig. Er ließ sich 213 zum Gong von Wei () ernennen und die Neun Ehrenzeichen verleihen, ein Zeichen der bevorstehenden Übernahme des Throns. Er bestrafte Attentäter und deren Angehörige gnadenlos, manchmal auch zu Unrecht. So richtete er im Jahr 200 mit den Verschwörern Dong Cheng, Zhong Ji und Wang Ju auch ihre Familien hin, inklusive der kaiserlichen Konkubine Dong. Als Kaiserin Fu Shou sich in einem Brief an ihren Vater über Cao Caos Grausamkeit beklagte und Cao Cao davon erfuhr, ließ er die Kaiserin absetzen und mitsamt ihren zwei Söhnen hinrichten. Im nächsten Jahr zwang er den Kaiser, seine Konkubine Cao Jie (eine Tochter Cao Caos) zur Kaiserin zu erheben. Zeitlebens wagte Cao Cao es nicht, den Kaiserthron zu usurpieren. Er knüpfte aber an kaiserliche Privilegien an, indem ihm im Jahr 216 der Titel Wang von Wei () durch den Kaiser verliehen wurde. Da der Titel erblich war, hatte er auch den Status seiner Familie als führende Kraft im Reich etabliert. Er starb am 15. März 220 in der Hauptstadt Luoyang, die er nach seinem Sieg über Yuan Shao wieder aufgebaut und befestigt hatte. Sein Sohn Cao Pi erbte Posten und Titel und zwang den Kaiser noch im selben Jahr, zu seinen Gunsten abzudanken. Damit war er der erste Kaiser der Wei-Dynastie. Grabmal Ende Dezember 2009 wurde bekannt, dass in dem Dorf Gaoxixue im Kreis Anyang in der Provinz Henan nahe der alten Wei-Hauptstadt Anyang eine 740 Quadratmeter große Untergrund-Grabstätte entdeckt wurde, bei der es sich einer Inschrift auf einer Steintafel zufolge, um das Grab des „Königs Wu von Wei“ handelt, wie der offizielle Titel Cao Caos lautete. Das Grab, das durch einen 20 Meter tiefen und 40 Meter langen Tunnel zu erreichen ist –  laut dem Ausgrabungsleiter Pan Weibin „ein komplizierter Bau"“  – beherbergt neben hunderten von archäologischen Funden auch die Überreste von drei Leichen – die eines ca. 60 Jahre alten Mannes und die von zwei Frauen im Alter von ca. 50 Jahren und zwischen 20 und 25 Jahren. Nach den beigefügten Inschriften auf Steintafeln, in denen vom „König (Wang) Wu von Wei“ () die Rede ist, handelt es sich bei dem Mann um Cao Cao. Bei den weiblichen Leichen soll es sich um die Ehefrau und die Konkubine von Cao Cao handeln. Historischen Berichten zufolge, soll die Ehefrau Cao Caos im Alter von 70 bis 80 Jahren verstorben sein, was jedoch nicht mit der Fundsituation übereinstimmt. Es wird angenommen, dass Cao Cao zu Lebzeiten verfügt hat, nur in einem unauffälligen bescheidenen Grab bestattet zu werden, um keine Grabräuber anzulocken. Sein Sohn Cao Pi habe sich jedoch nicht an diese Verfügung gehalten, sondern ein riesiges unterirdisches Grabmal mit oberirdischem Tempel errichtet. Später seien ihm jedoch Bedenken gekommen und er habe den oberirdischen Teil der Grabanlage abtragen und den Schutt wegräumen lassen, um den Wunsch seines Vaters zu respektieren. Dies würde erklären, warum nur noch der versteckte unterirdische Teil der Grabanlage vorhanden sei. Insgesamt wurden rund 250 Artefakte gefunden, darunter Gold, Silber, Keramik, Gemälde, ein Schwert samt Scheide sowie 59 Steintafeln mit Angaben über die einzelnen Grabbeigaben. Literarisches Schaffen Dichtung Als Dichter erlangte Cao Cao vor allem durch die Prägung des Jian'an-Stils Berühmtheit, den auch seine Söhne Cao Pi und Cao Zhi aufnahmen. Jian'an war der Äraname des Kaisers zur Zeit, als Cao Cao ihn lenkte (196–220). Der ruhige, weltmüde Duktus der Gedichte dieser Zeit ist charakteristisch für das Ende der Han-Dynastie. Sie handeln oft von der Endlichkeit und Kürze des Lebens und stellen ein Bindeglied zwischen den frühen Volksliedern und der gelehrten Dichtung dar. Eines der berühmtesten Gedichte Cao Caos ist der Achtsilber Wenn auch die Schildkröte ein langes Leben hat (), das er in den Herbstjahren seines Lebens verfasste. Militärtheoretische Schriften Daneben verfasste Cao Cao eine Reihe von kurzen Abhandlungen über verschiedene Themen der Kampfkunst und des Kriegshandwerks, von denen heute kaum etwas erhalten ist. Als bemerkenswert gilt sein Kommentar zu Sunzis klassischem Werk Die Kunst des Krieges. Nachkommenschaft Gemahlin: Frau Bian Cao Pi (187–226) Cao Zhang (189–223) Cao Zhi (192–232) Cao Xiong (195–220) Konkubinen: Frau Liu Cao Ang (175–197) Cao Shuo (178–200) Frau Huan Cao Chong (196–208) Cao Ju Cao Yu (197–?) Frau Du Cao Lin (?–256) Cao Gun (?–235) Frau Qin Cao Xuan Cao Jun Frau Yin Cao Ju weitere Cao Biao Cao Cheng Cao Gan Cao Hui Cao Ji Cao Jie Cao Jing Cao Jun Cao Mao Cao Qin Cao Shang Cao Zheng Spätere Adaption Chinesische Oper Entgegen der zwiespältigen historischen Darstellung Cao Caos wird er in der Chinesischen Oper durchweg als finstere und verschlagene Gestalt präsentiert. Die (in moderneren Stücken) weiße Theatermaske der Figur unterstreicht diesen Charakter. Die Geschichte der Drei Reiche Die Geschichte der Drei Reiche ist ein Roman aus dem 14. Jahrhundert, verfasst von Luo Guanzhong. Er zählt zu den Vier klassischen Romanen der chinesischen Literatur und erfreut sich noch heute vor allem in China, Japan, Südkorea und den USA großer Beliebtheit. Zahlreiche Adaptionen als Mangas, Zeichentrickserien, Fernsehserien und Videospiele tragen dem Rechnung. Als eine Schlüsselfigur seiner Epoche inspirierte Cao Cao die Fantasie des Verfassers außerordentlich. Schon aus seiner umstrittenen Herkunft schmiedet der Verfasser eine enge Verwandtschaft mit den Generälen Xiahou Dun und Xiahou Yuan. Als sich an seinem Hof Verschwörer gegen ihn zusammentun und ein Treffen vorbereiten, um Cao Caos Ermordung zu besprechen, erscheint zu dem Treffen auch Cao Cao. Daher kommt das chinesische Sprichwort: „Spricht man von Cao Cao, kommt Cao Cao“ (). Ähnlich lautet beispielsweise auch das deutsche Sprichwort „Wenn man vom Teufel spricht, ist er nicht weit“. Im Folgenden sollen die wichtigsten fiktiven oder dichterisch ausgeschmückten Stellen im Roman beschrieben werden. Attentat auf Dong Zhuo Am Kaiserhof weilt er auch nach Kaiser Lings Tod und Dong Zhuos Einzug. Auf Bitten des Ministers Wang Yun nimmt Cao Cao das Schwert der Sieben Gemmen () an, um Dong Zhuo zu ermorden. Am nächsten Tag beschwert er sich bei Dong Zhuos Leibwächter und Ziehsohn Lü Bu über sein langsames Pferd und lässt sich ein schnelleres heraussuchen. Unterdessen begibt er sich in den Thronsaal und wird von Dong Zhuo ahnungslos empfangen. Als der Verdacht schöpft und auch Lü Bu erscheint, muss Cao Cao seinen Plan aufgeben und kniet nieder, um Dong Zhuo das Schwert zu schenken. Dann macht er sich unter dem Vorwand, sein neues Pferd ausreiten zu wollen, aus dem Staube. Blutbad im Haus seines Freundes Er macht sich in sein Heimatland auf und sucht bei einem alten Freund Unterschlupf. Dort hört er im Nebenzimmer zwei Diener über ein Schlachten sprechen und meint, der Freund habe ihn verraten und wolle ihn ermorden. Cao Cao richtet ein Blutbad im Haus seines Gastgebers an und erfährt erst hinterher, dass das Schlachten eines Schweins gemeint war. Aus Furcht vor Entdeckung flieht Cao Cao, trifft aber auf seinen Gastgeber. Als er von ihm nach dem Grund seiner eiligen Abreise gefragt wird, gibt er vor, verfolgt zu werden. Als der Gastgeber nach Hause gehen will, erschlägt ihn Cao Cao und erklärt dessen erschüttertem Gefolge: Wenn der Freund nach Hause zurückgekehrt und das Blutbad gesehen hätte, wäre er sofort auf die Wache gelaufen und hätte Cao Cao angezeigt. Dann hebt er sein Schwert und spricht den berühmten Satz: „Besser ich vergehe mich an der Welt, als dass sich die Welt an mir vergeht“ (). Flucht durch die Huarong-Schlucht Nach seiner vernichtenden Niederlage in der Schlacht von Chibi (Roter Felsen) schart Cao Cao die verbliebenen Soldaten um sich und flieht in Richtung Jiangling, wobei er die Huarong-Schlucht als Abkürzung nimmt. Dabei ignoriert er den Rauch, der aus dem schmalen Gang aufsteigt, als einen Trick des Feindes, um ihn vom rechten Weg abzubringen. Genau das aber hatte Zhuge Liang, der Cao Caos Denkart vorausahnte, mit der Falle beabsichtigt. In der Schlucht wartet der feindliche General Guan Yu mit 500 Soldaten. Als Cao Cao von ihm bedrängt und umzingelt wird, bittet er um Milde angesichts der Dienste, die er Guan Yu einst erwiesen habe. Guan Yu lässt Cao Cao daraufhin abziehen und begeht damit Wortbruch an seinem Schwurbruder Liu Bei. Der vergibt ihm jedoch auf Zhuge Liangs Betreiben hin. Cao Caos Tod Cao Caos Todesursache ist in historischen Quellen nicht genau angegeben, soll jedoch eine Art Krankheit gewesen sein. Das bot Anlass zu den unterschiedlichsten Nachdichtungen, von denen Luo Guanzhongs als einzige den berühmten Arzt Hua Tuo (um 145–208) hinzuzieht. Cao Cao klagt kurz vor seinem Tod über rasende Kopfschmerzen. Seine Diener empfehlen ihm den Arzt Hua Tuo, der Cao Caos Krankheit als Form von Schädelrheumatismus diagnostiziert. Er verabreicht ihm Haschisch als Beruhigungsmittel und öffnet den Schädel des Patienten mit einem scharfen Beil, um den Eiter zu entfernen. Allerdings ist Cao Cao durch viele Attentate über die Maßen misstrauisch und ist zudem schon einmal von einem verräterischen Arzt beinahe ermordet worden. Sobald er die Klinge an seiner Kopfhaut spürt, lässt er Hua Tuo ins Gefängnis werfen, wo der Arzt einige Tage später stirbt. Cao Cao selbst stirbt bald darauf an der Krankheit, von der Hua Tuo ihn hatte heilen wollen. Film und Fernsehen Nach dem Vorbild der Geschichte der Drei Reiche wurde von 1971 bis 1986 eine Manga-Reihe mit dem Titel Yokoyama Mitsuteru Sanguokushi veröffentlicht, die 1991–1992 auch als Anime erschien. Der Sprecher Daiki Nakamura verlieh darin Cao Cao die Stimme. Seit den 80er Jahren wurden auch zahlreiche Videospiele produziert, die sich mit der Zeit der Drei Reiche und Cao Caos Aufstieg befassen und die meist im Action- oder Strategiegenre angesiedelt sind. Es gab auch eine Realverfilmung des Romans, die von China Central Television 1995 als Serie in 84 Folgen produziert wurde. Sie reichte vom Schwur im Feigengarten (184 n. Chr.) bis zur Reichseinigung durch Jin (280). Die Rolle des Cao Cao, der als verschlagener Warlord auftritt, wurde von Bao Guo'an gespielt. In Chen Kaiges Kurzfilm Lü Bu und Diao Chan wird Cao Cao von Shao Feng dargestellt. Ein chinesischer Film mit dem Titel Red Cliff () vom Regisseur John Woo, der 2008/2009 in zwei Teilen erschien, hat eine entscheidende Stelle in Cao Caos Karriere zum Thema. Der Stratege wird von Zhang Fengyi (* 1956) dargestellt, obwohl für die Rolle zunächst Ken Watanabe vorgesehen war. Anders als in bisherigen Adaptionen war ein differenzierteres Bild von Cao Cao beabsichtigt als in früheren Adaptionen. In einem Remake der Fernsehserie von 1995, die 2010 in 95 Folgen ausgestrahlt wurde, wird Cao Cao von Chen Jianbin gespielt. Computerspiele Die Epoche vom Niedergang der Han bis zur Entstehung der drei Reiche wird im PC-Strategiespiel Total War: Three Kingdoms thematisiert, wobei Cao Cao einer der spielbaren Fraktionsanführer ist. In dem Mobile-Game Rise of Kingdoms ist er ein freischaltbarer Kommandant. Chinesisches Sprichwort Cao Cao gilt in China als grausam und verschlagen. Das Sprichwort: „Wenn man von Cao Cao spricht, dann kommt Cao Cao.“ hat in China dieselbe Bedeutung wie: „Wenn man vom Teufel spricht, dann kommt er auch.“ Quellenkunde Die wichtigste Quelle für das Leben Cao Caos sind die Chroniken der Drei Reiche von Chen Shou (233–297), der als Offizier den Shu Han bis 263 diente und später unter der Jin-Dynastie als Historiker seine Ansichten und Erlebnisse über die Zeit der Drei Reiche in schriftlicher Form niederlegte. Das Werk wurde in späterer Zeit von Pei Songzhi (372–451) anhand von Unterlagen aus dem Kaiserlichen Archiv bearbeitet. Im 11. Jahrhundert schuf der Historiker Sima Guang mit seinem Zusammengefassten Zeitspiegel zur Hilfe in der Regierung ein umfangreiches Geschichtswerk für die Zeit von 403 v. Chr. bis 959 n. Chr. Für die Zeit der Drei Reiche bediente er sich dabei besonders der Chroniken des Chen Shou. Literatur Étienne Balázs: La Crise sociale et la philosophie politique à la fin des Han. In: T'oung Pao. Bd. 39, Nr. 1/3, 1950, S. 83–131, . Rafe de Crespigny: Man from the Margin. Cao Cao and the Three Kingdoms (= The George Ernest Morrison Lecture in Ethnology. 51). Australian National University, Canberra 1990, ISBN 0-7315-1128-X. Rafe de Crespigny: To Establish Peace. Being the Chronicle of the Later Han dynasty for the years 189 to 220 AD as recorded in Chapters 59 to 69 of the Zizhi tongjian of Sima Guang (= Australian National University. Faculty of Asian Studies Monographs. New Series 21). Faculty of Asian Studies – Australian National University, Canberra u. a. 1996, ISBN 0-7315-2526-4. Rafe de Crespigny: Imperial warlord. A biography of Cao Cao, 155–220 AD (= Sinica Leidensia. 99). Brill, Leiden u. a. 2010, ISBN 978-90-04-18522-7. Weblinks Stammbaum der Familien Cao und Xiahou (englisch) Einzelnachweise Militärperson (China) Regent (China) Literatur (3. Jahrhundert) Autor Han-Dynastie Zeit der Drei Reiche Geboren 155 Gestorben 220 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Metro%20Madrid
Metro Madrid
Die Metro Madrid ist die U-Bahn der spanischen Hauptstadt Madrid. Das 294 Kilometer lange Streckennetz erschließt mit mittlerweile 302 Stationen nicht nur die Stadt selbst, sondern auch zahlreiche Vororte. Nach der im Mai 2007 abgeschlossenen Erweiterungsphase ist die Madrider Metro derzeit die weltweit zwölftlängste U-Bahn. Hinsichtlich der Zahl der Stationen wird sie in Europa nur von Paris übertroffen. Neben der U-Bahn Seoul galt sie in den 2000er Jahren als die am schnellsten expandierende U-Bahn der Welt. Allein seit 1994 hat sich die Länge des Streckennetzes mehr als verdoppelt. Die Betriebsführung erfolgt durch die Metro de Madrid S.A., eine Tochtergesellschaft des Consorcio Regional de Transportes de Madrid. Dabei handelt es sich um ein öffentlich-rechtliches Unternehmen im Besitz der Stadt Madrid, der Autonomen Gemeinschaft Madrid und der Vorortsgemeinden. Dieses Konsortium koordiniert auch den Busbetrieb der städtischen Verkehrsbetriebe Empresa Municipal de Transportes (EMT) sowie das Nahverkehrsnetz Cercanías (Vorortzüge) der spanischen Staatseisenbahn Renfe. Alle Verkehrsträger der Hauptstadtregion sind zu einem Verkehrsverbund zusammengeschlossen. Im Jahr 2019 beförderte die Metro Madrid 677,4 Millionen Fahrgäste. Liniennetz Das Liniennetz der Madrider Metro ist derzeit 294 Kilometer lang, besteht aus 13 Linien und besitzt 302 Stationen. Die Spurweite beträgt 1445 Millimeter (10 Millimeter mehr als die international übliche Normalspur). Sie entspricht damit jener der einstigen Straßenbahnen und ist bedeutend schmaler als die bei den Eisenbahnen verwendete spanische Breitspur von 1668 Millimetern. Fast das gesamte Netz verläuft unterirdisch; nur drei Abschnitte befinden sich an der Oberfläche. Es handelt sich dabei um die Strecken Puerta de Arganda–Arganda del Rey an der Linie 9 und Lago–Casa de Campo an der Linie 10 sowie die Station Aluche an der Linie 5. Wie die Berliner U-Bahn besteht auch die Madrider Metro aus zwei unterschiedlichen Teilnetzen. Die Linien 1 bis 5 sowie R gehören zum Kleinprofilnetz. Die Tunnel sind 6,86 Meter breit und 5,36 Meter hoch, liegen zumeist in geringer Tiefe und folgen in der Regel dem oberirdischen Straßenverlauf. Während die Tunnel hufeisenförmig gebaut sind, weisen die Stationen eine Ellipsenform auf. Die Kleinprofillinien wurden aufgrund ihrer geringen Tiefe und der günstigen Geologie (stabile Lehm- und Sandschichten) meist in offener Tunnelbauweise errichtet; dabei hob man eine Baugrube aus und deckelte diese anschließend zu. Bei schwierigeren Verhältnissen kam die „belgische Methode“ zur Anwendung, die im Laufe der Zeit zur „Madrider Methode“ weiterentwickelt wurde (Erläuterungen zu den verschiedenen Bauweisen unter Tunnelbau). Die am tiefsten unter der Erdoberfläche gelegene Kleinprofil-Station ist mit 28 Metern La Latina an der Linie 5. Zum Großprofilnetz gehören die Linien 6 bis 12. Sofern die Tunnel nahe der Oberfläche liegen, wurden auch diese in der offenen Bauweise errichtet; in diesem Falle sind sie 7,74 Meter breit und 6,87 Meter hoch. Bei Tiefen unter 20 Metern kamen modernere Bauweisen zur Anwendung wie die Neue Österreichische Tunnelbaumethode oder seit Beginn der 1990er Jahre Tunnelbohrmaschinen. In diesen Abschnitten weisen die Tübbings einen Innendurchmesser von 8,07 Metern auf. Die tiefstgelegene Großprofilstation ist mit 49 Metern jene der Linie 6 bei Cuatro Caminos. Auf beiden Teilnetzen beträgt der minimale Kurvenradius 90 Meter, die maximale Neigung 5 Prozent. Der Oberbau besteht aus Vignolschienen (Gewicht 54 kg/m) mit Holzschwellen auf Schotterbett. In den Stationen und in engen Kurven sind die Schienen direkt in den Beton der Tunnelsohle eingelassen oder auf Betonkonsolen montiert. Betrieb Die Madrider Metro verkehrt täglich von 6:00 Uhr bis 1:30 Uhr. Die Zugfolgezeit variiert von Linie zu Linie. In der Regel beträgt sie während der Hauptverkehrszeit 2 bis 4 Minuten, tagsüber 4 bis 7½ Minuten und ab Mitternacht 15 Minuten. Es gibt sechs Betriebswerkstätten mit Abstellanlagen. Diese befinden sich bei den Stationen Cuatro Caminos, Cuatro Vientos, Herrera Oria, Fuencarral, Loranca und Ventas. Die Hauptbetriebswerkstatt, die sowohl für Kleinprofil- als auch für Großprofilzüge verwendet wird, befindet sich auf einem 30 Hektar großen Gelände im Osten der Stadt nahe dem Stadion Estadio Metropolitano zwischen den Stationen Canillejas und Las Musas der Linien 5 und 7, und ist mit diesen über Zufahrtsgleise verbunden. Die Stromzufuhr erfolgt auf allen Linien mittels Oberleitung und Stromabnehmern (600 Volt Gleichstrom auf den Linien 1, 4, 5, 6 und 9, ab 1999 auf den übrigen Linien sukzessive auf 1500 Volt umgestellt, beginnend auf den Linien 10 und 12). Die Stromversorgung erfolgt über 83 Unterwerke, die über das ganze Streckennetz verteilt sind und von der Station Quevedo aus zentral gesteuert werden. Die zentrale Betriebsleitstelle, von der aus alle Züge überwacht werden, ist in der Station Alto del Arenal untergebracht (bis Juli 2000 in der Station Pacífico). Drei Linien weisen betriebliche Besonderheiten auf: Die Linie R (für Ramal, dt. „Abzweig“) ist lediglich 1,1 Kilometer lang. Zwei Züge mit je vier Wagen pendeln zwischen den Stationen Ópera und Príncipe Pío hin und her. Die Strecke ist zwar zweigleisig, doch gibt es in beiden Stationen nur je einen Bahnsteig. Die Metrolinie mit der Nummer 9 verläuft über eine Länge von 18 Kilometern an der Oberfläche. Sie nutzt zwischen Puerta de Arganda und Arganda del Rey eine ehemalige Güterbahnstrecke und besaß auf diesem Streckenabschnitt zunächst lediglich drei Zwischenstationen. Um der schnell steigenden Bevölkerungszahl von Rivas-Vaciamadrid Rechnung zu tragen, wurde am 11. Juli 2008 eine weitere Station mit dem Namen Rivas-Futura eingefügt. Es gibt zudem Pläne für eine weitere Station im Stadtgebiet. Wegen der geringeren Fahrgastfrequenzen erfolgt in Puerta de Arganda eine betriebliche Trennung der Strecke. Außerhalb von Madrid verkehren lediglich Züge mit drei Wagen und einem größeren Intervall. Fahrgäste, die weiter in die Innenstadt möchten, müssen an der Stadtgrenze vorläufig umsteigen, bis die größere Nachfrage einen durchgehenden Betrieb rechtfertigt. Die Überlandstrecke ist im Besitz der Gesellschaft Transportes Ferroviarios de Madrid, an der die Metrogesellschaft und mehrere Baukonzerne beteiligt sind; sie fällt nach Ablauf der Konzession im Jahr 2028 in den Besitz der Autonomen Gemeinschaft Madrid. Die Linie 12 – auch MetroSur („Südmetro“) genannt – verläuft vollständig außerhalb des Stadtgebietes von Madrid und verbindet als Ringstrecke die Vorstädte Alcorcón, Fuenlabrada, Getafe, Leganés und Móstoles miteinander. Sie ist zwar nur über die Linie 10 mit dem übrigen Metronetz verbunden, dafür besteht an sechs Stationen eine Umsteigemöglichkeit zu vier verschiedenen Linien der Vorortbahn Cercanías. Obwohl die Strecke teilweise durch offenes Gelände führt, liegt sie vollständig im Tunnel. Dadurch soll die zukünftig zu erwartende Stadtentwicklung nicht beeinträchtigt werden. Auf sämtlichen Linien herrscht Linksverkehr. Die Höchstgeschwindigkeit beträgt 80 km/h, auf dem offenen Abschnitt der Linie 9 sogar 110 km/h. Stationen Die Stationen sind von Strecke zu Strecke unterschiedlich lang. Jene der Kleinprofillinien 1, 3 und 5 sind 90 Meter lang, jene der Linien 2, 4 und R 60 Meter. Bis September 2006 wurden die Stationen der Linie 3 zur Kapazitätserhöhung von ehemals 60 auf 90 Meter verlängert. Die Stationen der Großprofillinien 6 bis 12 weisen eine einheitliche Länge von 115 Metern auf. Mehrere zweigleisige Stationen besitzen einen Mittelbahnsteig und zwei Seitenbahnsteige; dadurch kann das Ein- und Aussteigen getrennt erfolgen (Spanische Lösung). In 39 der insgesamt 210 Stationen kann auf andere Metrolinien umgestiegen werden, in 19 zu den Zügen der Cercanías. Die Umsteigebeziehungen sind nicht überall ideal konzipiert; oft sind die Bahnsteige nur über lange Verbindungstunnel (in Nuevos Ministerios beispielsweise bis zu 250 Meter) oder über mehrere Rolltreppen erreichbar. Casa de Campo und Príncipe Pío sind die einzigen Stationen, wo das Umsteigen am selben Bahnsteig möglich ist. Das Programm Plan de Accesibilidad sieht bis 2020 den Einbau von 80 zusätzlichen Fahrstühlen vor, was insgesamt 73 % der Stationen barrierefrei machen würde. Schon heute verfügt die Metro Madrid über etwa 530 Aufzüge und hat mit 1705 die meisten Rolltreppen weltweit. Die Böden der Bahnsteige und auch die Wände der älteren Stationen sind meist gefliest. Bei Sanierungsarbeiten wurde 2006/2007 auf eine Abtragung und Erneuerung der alten Fliesen verzichtet. Stattdessen wurden die Wände in vielen Stationen zuerst mit einem Kunststoffmaterial ausgekleidet und darüber brachte man farbige Metallverschalungen an. Das Aussehen vieler Stationen wurde dadurch grundlegend verändert. In den neueren Stationen sind die Wände auch mit Platten aus Marmor oder Granit verkleidet. Zahlreiche Stationen besitzen verschiedene künstlerische Gestaltungselemente wie Wandbilder oder Statuen, die meist einen Bezug zur näheren Umgebung herstellen. Beinahe alle Stationen besitzen ein Zwischengeschoss, in dem sich Fahrkartenautomaten, Informationsschalter, Drehkreuzsperren und Läden befinden. Züge Fast alle Züge der Kleinprofillinien sind aus Wagen der Baureihe 2000 zusammengesetzt, die 2,3 Meter breit sind und von der spanischen Waggonbaufirma CAF gebaut wurden. Während die Serie 2000-A von 1984 bis 1993 ausgeliefert wurde, fand die Lieferung der Serie 2000-B nur im Jahr 1998 statt. Seit Ende 2005 werden die 2000er-Wagen durch solche der Nachfolgebaureihe 3000 ergänzt. Die Züge des Typs 2000-A verkehren auf der Linie 1, die 2000-B auf der Linie 5 und die 3000 auf den restlichen Kleinprofillinien (2, 3, 4 und R) sowie auf der Linie 11, die zwar eine Großprofillinie ist, aber aufgrund geringen Fahrgastaufkommens die höhere Kapazität der Großprofilzüge nicht benötigt. Von Juni 1998 bis Mai 2002 wurden die Kleinprofilzüge auch auf der Großprofillinie 8 eingesetzt, weil diese damals noch nicht mit dem restlichen Großprofilnetz verbunden war. Einen Sonderfall bildete auch die Linie 10: Auf der ehemaligen „Suburbano“ verkehrten 2,35 Meter breite Züge der Baureihe 300. Als die „Suburbano“ 1998 mit dem damaligen Nordteil der Linie 8 zur Linie 10 verbunden wurde, kamen vorerst 2000er-Wagen zum Einsatz. In den Jahren 2000 und 2001 wurde der Tunnelabschnitt zwischen Plaza de España und Alonso Martínez für den Einsatz von Großprofilfahrzeugen umgebaut. Auf dem Großprofilnetz werden vier verschiedene Baureihen eingesetzt, die alle 2,8 Meter breit sind. Die ältesten Züge der Baureihe 5000 stammen aus dem Jahr 1974; bis 1993 folgten drei weitere Serien, die sich jeweils in der Gestaltung der Frontpartie und der Innenausstattung unterscheiden. Diese sind überwiegend auf der Linie 9 unterwegs, vereinzelt auch auf der Linie 6. Die Baureihe 6000 wurde 1998/1999 von einem Konsortium bestehend aus CAF, GEC-Alsthom, Adtranz und Siemens gebaut. Im Jahr 2002 erhielten einzelne Züge antriebslose Mittelwagen. Man begegnet Fahrzeugen dieses Typs nur auf der Linie 9. Ab dem Jahr 2002 ausgeliefert wurden Züge der Baureihen 8000 und 7000. Erstere stammen von CAF, Alstom und Siemens, letztere von AnsaldoBreda. Auffälligstes Merkmal dieser Züge ist, dass sie von einem Ende zum anderen durchgängig begehbar sind. In den 8000er-Fahrzeugen der Flughafenlinie 8 gibt es zwar weniger Sitzplätze, dafür aber Gepäckregale. Die Baureihen 8000 und 8400 findet man auf den Linien 6, 8 und 12, die Baureihen 7000 und 9000 auf den Linien 7 und 10, vereinzelt auch auf den Linien 6 und 9. Die Metro Madrid verfügt aktuell (August 2019) über etwa 2400 Wagen. Geschichte Die Geschichte der Madrider U-Bahn kann in vier verschiedene Bauphasen eingeteilt werden. Während der ersten Phase, die von 1919 bis 1951 dauerte, wurden die Kleinprofillinien gebaut. Die zweite Phase zwischen 1951 und 1978 umfasst den Bau der ersten oberirdischen Strecken und der ersten Großprofillinien. Die dritte Phase von 1978 bis 1994 war geprägt von der Verstaatlichung des Betriebs und der Gründung des Verkehrsverbundes. Während der vierten Phase, die 1994 begann und bis zur weltweiten Finanzkrise 2008/2009 andauerte, verdoppelte die Metro ihr Streckennetz; eine Expansion, die in Europa unübertroffen war. Projekte Am 31. Mai 1871 nahm die erste Pferdebahn Madrids ihren Betrieb auf. Acht Jahre später folgte die erste Dampfstraßenbahn. Im Stadtzentrum, insbesondere um den Verkehrsknotenpunkt Puerta del Sol, herrschte ein derart dichter Verkehr von Straßenbahnwagen und Pferdefuhrwerken, dass bereits 1892 ein erster Vorschlag zum Bau einer U-Bahn präsentiert wurde. Pedro García Faria plante ein Netz von fünf Linien, auf denen auch Güterverkehr abgewickelt werden sollte. Obwohl Faria eine Konzession erhielt, wurden die Strecken nie gebaut. Das rasch expandierende Pferdebahnnetz wurde zwischen 1898 und 1906 vollständig elektrifiziert, die letzte Dampfstraßenbahn hielt sich bis 1931. Im Jahr 1913 – damals zählte die Stadt etwa 600.000 Einwohner – präsentierten die Ingenieure Miguel Otamendi, Carlos Mendoza und Antonio González Echarte ein neues U-Bahn-Projekt. Dieses sah den Bau von vier Linien mit einer Gesamtlänge von 14 Kilometern vor; die Streckenführung entspricht genau derjenigen der heutigen Linien 1 bis 4. Otamendi reichte 1915 ein Konzessionsgesuch ein, das am 19. September 1916 bewilligt wurde. Otamendi und seine Partner hatten zu Beginn Mühe, die benötigten Geldmittel aufzutreiben, trotz Unterstützung der Banco Vizcaya. König Alfons XIII., der ein großes persönliches Interesse an dem Projekt gezeigt hatte, kam zu Hilfe und beteiligte sich mit einer Million Peseten. Mit einem Kapital von 10 Millionen Peseten erfolgte am 24. Januar 1917 die Gründung der privaten U-Bahn-Gesellschaft, die den Namen „Compañia Metropolitano Alfonso XIII“ erhielt. Die Bauarbeiten begannen am 17. Juli desselben Jahres. Wegen des Ersten Weltkriegs, der das übrige Europa erschütterte, verzögerte sich die Bereitstellung von Baumaterial erheblich. Auch war kein spanisches oder europäisches Unternehmen in der Lage, Elektromotoren für die Triebwagen zu liefern. Diese mussten deshalb der Pariser Métro abgekauft werden. Die ersten Strecken Am 17. Oktober 1919 eröffnete Alfons XIII. offiziell den ersten Abschnitt der Linie 1. Dieser war vier Kilometer lang und führte von Sol nach Cuatro Caminos am damaligen Stadtrand, wo sich auch das Depot befand. Der fahrplanmäßige Betrieb begann genau zwei Wochen später. Von Beginn an erwies sich das neue Verkehrsmittel als großer Erfolg. Bereits zwei Jahre später folgte die erste Verlängerung zum Bahnhof Atocha. Ebenfalls 1921 installierte man die ersten Rolltreppen, deren Benutzung zu Beginn aber noch kostenpflichtig war. Der erste Abschnitt der Linie 2 zwischen Sol und der Stierkampfarena Ventas wurde am 14. Juni 1924 eröffnet. Am 27. Dezember 1925 folgte die nur gerade 1,1 Kilometer lange Pendellinie R („Ramal“) zwischen Ópera und dem Nordbahnhof (Estación del Norte, heute Príncipe Pío). Der Bahnhof liegt tief unten im Tal des Manzanares und die Wagen der Straßenbahn kamen auf der steilen Straße nur sehr langsam voran, weshalb die Linie R trotz ihrer Kürze einen erheblichen Zeitgewinn ermöglichte. Nachdem 1931 der König das Land verlassen hatte und die Zweite Spanische Republik ausgerufen worden war, musste die Gesellschaft ihren Namen in Compañia Metropolitano de Madrid ändern. Im selben Jahr stellte sie auch die ersten Fahrkartenautomaten auf. Am 17. September 1932 ging die Strecke Goya–Diego de León in Betrieb. Dabei handelt es sich um den ersten Abschnitt der Linie 4, die jedoch bis 1958 als Zweigstrecke der Linie 2 betrieben und erst dann mit den übrigen, später gebauten, Abschnitten verbunden wurde. Wenige Wochen nach Beginn des Spanischen Bürgerkriegs wurde am 9. August 1936 der erste Abschnitt der Linie 3 zwischen Sol und Embajadores eröffnet. Doch nur fünf Tage später musste der Verkehr auf der Pendellinie R eingestellt werden; der Nordbahnhof war von seinem Hinterland abgeschnitten worden, so dass es kaum noch Fahrgäste gab. Während der nächsten drei Jahre belagerten die Truppen Francisco Francos Madrid, doch der Betrieb der Metro konnte fast reibungslos aufrechterhalten werden. Die Metrozüge transportierten während der Belagerung auch Särge und Leichen zu den östlich gelegenen Friedhöfen. Die kurze Zweigstrecke zwischen Goya und Diego de León wurde zeitweise geschlossen und als Arsenal genutzt. Dort ereignete sich am 10. Januar 1938 eine heftige Explosion, die eine unbekannte Anzahl Todesopfer forderte. Nach der Eroberung Madrids am 28. März 1939 durch nationalistische Truppen wurden die bei der Metro beschäftigten Kommunisten und Sozialisten sofort entlassen und durch Angestellte ersetzt, die dem neuen Regime gegenüber loyal waren. Einzelne Stationen erhielten auf Anordnung des Falange-Regimes neue Namen. Bereits im Juli 1941 konnte wieder eine Erweiterung des Metronetzes dem Verkehr übergeben werden. 1948 begann die schrittweise Stilllegung des über 140 Kilometer langen Straßenbahnnetzes und dessen Ersatz durch neue Metro- und Buslinien; dieser Prozess wurde 1972 abgeschlossen. Mit der Fertigstellung des südlichen Teils der Linie 3 am 1. März 1951 erreichte das Streckennetz eine Länge von 27,6 Kilometern. „Suburbanos“ und Großprofillinien Im Dezember 1951 veröffentlichte das Ministerium für öffentliche Arbeiten einen Gesamtverkehrsplan für Madrid. Neben 50 Kilometer neuer Metrostrecken war zum ersten Mal überhaupt der Bau von oberirdischen Strecken vorgesehen, mit einer Gesamtlänge von 60 Kilometern. Die neuen „Suburbanos“ (dt. „Vorortlinien“) sollten zwar mit Metro-ähnlichen Fahrzeugen betrieben werden, jedoch einen erheblich höheren Stationsabstand aufweisen (bis zu 2 Kilometer statt durchschnittlich 500 Meter) und weitgehend an der Oberfläche verkehren. Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs und des rasanten Bevölkerungswachstums – während der 1950er Jahre stieg die Einwohnerzahl von 1,7 auf 2,6 Millionen an – dauerte es aber mehr als neun Jahre, bis das Metronetz wieder erweitert werden konnte. Die erste und zugleich auch letzte „Suburbano“ (Linie S, heutige Linie 10) von der Plaza de España über Batán nach Carabanchel wurde am 4. Februar 1961 eröffnet. Da der Staat zum ersten Mal überhaupt die Baukosten übernommen hatte, war diese Strecke bis 1979 im Besitz der staatlichen Gesellschaft Ferrocarril Suburbano de Carabanchel („Carabanchel-Vorortbahn“); die Betriebsführung lag hingegen von Anfang an bei der Metro. Die Bahnsteige waren nicht wie bisher üblich 60 Meter, sondern 90 Meter lang, um längere Züge einsetzen zu können. Bis 1966 wurden auch auf der Linie 1 die Bahnsteige von 60 auf 90 Meter verlängert. Am 21. Mai jenes Jahres musste die Station Chamberí geschlossen werden, denn aufgrund dieser Ausbaumaßnahme lag sie nur noch 230 Meter von der Station Iglesia entfernt. Bis heute ist dies auf dem gesamten Netz der Madrider Metro die einzige Schließung, die jemals erfolgt ist. Die 1951 veröffentlichten Pläne konnten zu einem großen Teil nicht umgesetzt werden, dies traf vor allem auf die „Suburbanos“ zu. Auch der 1961 von der Stadtverwaltung erarbeitete Ausbauplan blieb weitgehend ohne Folgen. Zu den wenigen Ausnahmen zählt die Linie 5, deren erstes Teilstück zwischen Callao und Carabanchel am 5. Juni 1968 eröffnet wurde. Linie 5 ist die letzte im Kleinprofil erbaute Linie. 1967 genehmigte die Regierung einen Ausbauplan, der 1971 überarbeitet und 1974 aktualisiert wurde. Er sah den Bau neuer Strecken vor, die weitgehend der Linienführung der heutigen Linien 6, 7, 8, 9 und (teilweise) 10 entsprechen. Um zukünftige Kapazitätsengpässe von vornherein auszuschließen, entstanden die Strecken mit einem größeren Profil. Die Standardlänge der Stationen wurde auf 115 Meter festgelegt und Rolltreppen gehörten fortan zur Grundausstattung. Am 17. Juli 1974 erfolgte die Eröffnung des ersten Abschnitts der Linie 7 zwischen Pueblo Nuevo und Las Musas, der ersten Strecke im Großprofil. Verstaatlichung Die frühen 1970er Jahre erwiesen sich für die private Metrogesellschaft als wirtschaftlich schwierig. 1974 erwirtschaftete sie erstmals überhaupt einen Verlust. Mit dem Tode Francisco Francos am 20. November 1975 begann in Spanien eine neue Ära. Das Unternehmen kämpfte unterdessen immer mehr um sein wirtschaftliches Überleben. Die Fahrpreise wurden erhöht, das Defizit wuchs an, die Infrastruktur begann zu verfallen, Vandalismus und Taschendiebstähle nahmen zu. Dies führte trotz der Eröffnung neuer, durch den Staat finanzierter Strecken, zu einem verstärkten Rückgang der Fahrgastzahlen. Schließlich stellte die Regierung am 7. Juni 1978 die Metro unter die direkte Kontrolle des Verkehrsministeriums und übertrug die Betriebsführung einem „Interventionsrat“. Das Streckennetz war zu diesem Zeitpunkt 64,3 Kilometer lang. Am 9. November 1979 wurde die U-Bahn-Gesellschaft verstaatlicht, sie ging in den Besitz der Stadt Madrid und der Provinz Madrid über. Die Verstaatlichung führte dazu, dass nun erheblich mehr Geld in die Verbesserung der Infrastruktur und der Sicherheitsmaßnahmen floss, was sich positiv auf die Fahrgastzahlen auswirkte. Die Strecke Cuatro Caminos – Pacífico, der erste Abschnitt der Linie 6, wurde am 11. Oktober 1979 eröffnet. Am 31. Januar 1980 fuhren die Züge erstmals auf der neuen Linie 9, zwischen Sainz de Baranda und Pavones. Schließlich folgte am 10. Juni 1982 der erste Abschnitt der Linie 8 (heute der nördliche Teil der Linie 10) zwischen Nuevos Ministerios und Fuencarral; diese Strecke führt am Santiago-Bernabéu-Stadion vorbei und wurde drei Tage vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft 1982 eröffnet. Mit der Strecke Plaza Castilla – Herrera Oria der Linie 9 erreichte das Streckennetz der Madrider Metro am 3. Juni 1983 eine Länge von 100 Kilometern. Dieser Abschnitt war vorerst vom Rest der Linie 9 isoliert und wurde bis zum Lückenschluss im Jahr 1986 als Linie 9B betrieben. Am 16. Dezember 1985 erfolgte die Gründung der öffentlich-rechtlichen Gesellschaft Consorcio Regional de Transportes de Madrid, die alle Massenverkehrsmittel der Hauptstadtregion in einem Verkehrsverbund zusammenfasste. Am 31. Dezember 1986 übertrugen Stadt und Region Madrid sämtliche Anteile an das neue Konsortium, deren Tochtergesellschaft die Metro seither ist. Im Jahr 1989, siebzig Jahre nach Eröffnung der ersten Strecke, erhielt die Metrogesellschaft einen neuen Namen und heißt seitdem Metro de Madrid S.A. Bis zum April 1994 wuchs das Streckennetz auf eine Länge von 114,4 Kilometern. Expansion in den 1990er Jahren 1993 stellte das Consorcio Regional de Transportes einen neuen Ausbauplan vor, der sämtliche früheren Pläne in den Schatten stellte. Das Ziel war, dass jeder Bewohner der Stadt maximal 600 Meter von der nächsten Metrostation entfernt wohnen sollte (zu diesem Zeitpunkt waren es rund 70 %). Darüber hinaus sollte die Cercanías-S-Bahn wo immer möglich besser mit dem Metronetz verknüpft werden. 1995 machte die Partido Popular die Metro zum Hauptwahlkampfthema vor den Wahlen zum regionalen Parlament und erreichte die absolute Mehrheit mit dem Versprechen, das Streckennetz rascher als zuvor unter der Regierung der PSOE auszubauen. Um die Kosten möglichst gering zu halten, kam ein neuartiges Finanzierungsmodell zur Anwendung. Sämtliche Finanzierungsaktivitäten wurden an das Unternehmen Arpegio ausgelagert. Da sich Arpegio vollständig im Besitz der Regionalregierung befindet, verfügte es über umfangreiche Landreserven, die den Banken als Sicherheit dienten. Sobald ein Gebiet durch die Metro erschlossen war, stiegen die Grundstückspreise jeweils rasch an und die Ausbauten konnten so zu einem großen Teil refinanziert werden. Die Arbeiten wurden von Bauingenieuren geleitet, die ebenfalls direkt der Regionalregierung unterstanden. Auf diese Weise konnten die sonst üblichen hohen Kosten für externes Projektmanagement und Unternehmensberater eingespart werden. Die Erweiterung der Madrider Metro war in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre das mit Abstand größte Tiefbauprojekt Europas und wurde nur vom Ausbauprogramm der Seouler U-Bahn übertroffen. Die Kosten waren relativ gering und betrugen je Kilometer nur gerade 31 Millionen Euro (neu beschaffte Fahrzeuge nicht inbegriffen). Zum Vergleich: Die im selben Zeitraum gebaute Verlängerung der Jubilee Line der London Underground kostete je Kilometer mehr als zehn Mal so viel. Im Stadtgebiet Madrids waren bis zu sechs Tunnelbohrmaschinen gleichzeitig im Einsatz. Ein Exemplar der Firma Mitsubishi erreichte mit 792 Metern Vortrieb in einem einzigen Monat einen neuen Weltrekord. Im Mai 1995 wurde mit dem Abschnitt Ciudad Universitaria – Laguna die letzte Lücke der Linie 6 geschlossen, die seitdem als Ringlinie rund um das gesamte Stadtzentrum verläuft und mit über 500.000 Fahrgästen täglich die am meisten nachgefragte Metrolinie ist. Am Bahnhof Príncipe Pío baute man die U-Bahn-Station, die bis dahin nur von der Pendellinie R bedient worden war, zu einem bedeutenden Verkehrsknotenpunkt aus, an dem sich seitdem drei Metrolinien und zwei Linien der Cercanías kreuzen. Zu diesem Zweck musste die Tunnelstrecke der Linie S verschwenkt werden. Am 22. Januar 1998 wurde die Linie S nach Nuevos Ministerios verlängert und mit dem Nordteil der damaligen Linie 8 zur neuen Linie 10 zusammengefügt. Am 14. Juni 1998 eröffnete König Juan Carlos I. die Strecke zum Flughafen Madrid-Barajas, die die nunmehr frei gewordene Liniennummer 8 erhielt. Am 16. November desselben Jahres wurde der Betrieb auf dem ersten Teilstück der Linie 11 aufgenommen. Am 7. April 1999 überquerte die Metro Madrid mit der oberirdischen Verlängerung der Linie 9 nach Arganda del Rey erstmals überhaupt die Stadtgrenze. In den Jahren 1998/1999 baute man außerdem die Linie 7 in vier Etappen auf das Zweieinhalbfache ihrer bisherigen Länge aus und wandelte sie dadurch von einer eher isolierten, vergleichsweise wenig nachgefragten Radiallinie zur wichtigsten Ost-West-Verbindung um. Expansion zu Beginn des 21. Jahrhunderts Mit der Verlängerung der Linie 10 nach Colonia Jardín am 22. Oktober 2002 übernahm die Linie 5 den Abschnitt Casa de Campo–Aluche der ehemaligen „Suburbano“. Der Abschluss und zugleich Höhepunkt des gesamten Ausbauprogramms war am 11. April 2003. An diesem Tag wurden nicht weniger als 47 Kilometer neue Metrostrecken in Betrieb genommen, so viel wie nie zuvor in ganz Europa. Dabei handelte es sich einerseits um die Verlängerung der Linie 10 nach Puerta del Sur in der Stadt Alcorcón, andererseits um die gesamte Linie 12 (MetroSur), die seitdem Alcorcón mit Móstoles, Fuenlabrada, Getafe und Leganés verbindet. Nach der Fertigstellung von MetroSur im Jahr 2003 beschlossen die Stadt Madrid und die Autonome Gemeinschaft Madrid ein weiteres umfangreiches Ausbauprogramm („Plan de Ampliación de Metro 2003-2007“) mit Strecken von insgesamt 55 Kilometern Länge. Das Programm umfasste neben Streckenverlängerungen auch den Bau neuer Stationen an bestehenden Strecken, die Modernisierung des Rollmaterials und den behindertengerechten Umbau bestehender Stationen. Sämtliche bereits bestehenden Bahnsteige der Linie 3 wurden bis September 2006 etappenweise von 60 auf 90 Meter verlängert. Die nordwestliche Endstation Moncloa der Linie 3 wurde abgerissen und komplett neu errichtet: Sie liegt nun parallel zur Linie 6 und nicht mehr winklig dazu. So ist in Zukunft eine Verlängerung der Linie möglich. Ab Herbst 2006 nahm die Metro Madrid die einzelnen Elemente des Ausbauprogramms Schritt für Schritt in Betrieb. Den Auftakt bildete die Verlängerung der Linie 5 bis Alameda de Osuna am 24. November, gefolgt von der Verlängerung der Linie 11 bis La Peseta am 18. Dezember. Als Nächstes wurden drei Stationen an bereits bestehenden Strecken eröffnet: Am 18. Dezember Aviación Española (Linie 10), am 15. Januar 2007 Pinar del Rey (Linie 8) und am 26. Januar Arganzuela-Planetario (Linie 6). Weitere Strecken kamen in rascher Folge hinzu: Am 16. Februar 2007 wurde die Linie 2 bis La Elipa verlängert, am 30. März die Linie 1 bis zum Bahnhof Chamartín. Der Bahnhof wird markant erweitert. Zwei verschiedene Linien (1 und 4) verkehren seit dem 11. April zur gemeinsamen Endstation Pinar de Chamartín. Zehn Tage später wurde die Linie 3 um fast neun Kilometer von Legazpi nach Villaverde Alto verlängert, und am 3. Mai erfolgte schließlich die Eröffnung der zwei Kilometer langen Verlängerung der Linie 8 zum neuen Terminal 4 des Flughafens Barajas. Die Linie 10 ist seit 26. April von Fuencarral aus um 15,7 Kilometer in den nördlichen Vorort San Sebastián de los Reyes verlängert (derzeitige Endstation Hospital Infanta Sofía). Auf diesem Teilstück verkehren bis auf weiteres kürzere Züge in größerem Takt. Tres Olivos an der Stadtgrenze dient dabei als temporäre Umsteigestation zur Linie 10b, bis das zu erwartende höhere Fahrgastaufkommen einen durchgehenden Betrieb rechtfertigt. Um 12,2 Kilometer verlängert wurde am 5. Mai 2007 die Linie 7. Sie verkehrt über Las Musas hinaus in die östliche Vorstadt San Fernando de Henares (Endstation Hospital del Henares). Weil das Gebiet östlich der Stadtgrenze noch nicht vollständig bebaut ist und deshalb noch geringere Nachfrage zu erwarten ist, werden auf diesem Teilstück vorerst nur 3-Wagen-Züge mit einem größeren Intervall verkehren. Fahrgäste müssen in Estadio Olímpico auf die sogenannte Linie 7b umsteigen, bis das zu erwartende höhere Fahrgastaufkommen einen durchgehenden Betrieb rechtfertigt. Linie 1 wurde am 16. Mai 2007 im Süden um 3,1 Kilometer von Congosto nach Valdecarros verlängert. Die Linie 11 erhielt im Oktober 2010 eine weitere Station, La Fortuna. Damit verlängerte sich die kurze Linie um 1,3 Kilometer. Die Verlängerung der Linie 2 von La Elipa bis Las Rosas wurde am 16. März 2011 in Betrieb genommen. Sie umfasst eine Länge von 4,6 Kilometern und die neuen Zwischenstationen La Almudena, Alsacia und Avenida de Guadalajara. Ausstellungen Verschiedene U-Bahn-Stationen zeigen zeitgenössische Kunst. Die Räume der Expometro innerhalb der Station Retiro zeigen Ausstellungen der Fotografie, Skulptur und Malerei, wie zum Beispiel The Dream of Madrid (1986) von Pablo Sycet, Rafael Arellano, Tono Carbajo, Christian Domec und Julio Juste oder Pasagiere von Daniel Garbade (2000). Die Ausstellung „100 Jahre Metro“ (2019) in der Station Chanmartín hat mehr als 27.000 Besucher verzeichnet. In den Bahnsteigen der Station Retiro hängen Wandbilder von Antonio Mingote. Die Station Goya der Linie 2 zeigt Werke von Francisco de Goya. Ausbau und Planungen Viele ursprünglich geplante Erweiterungspläne wurden von den Auswirkungen der Finanzkrise 2008/2009 durchkreuzt, in deren Folge zunächst nur wenige Einzelstationen eröffnet wurden (bspw. Paco de Lucia als neuer nördlicher Endpunkt der Linie 9 im Jahr 2015). In den vergangenen Jahren konzentrierten sich die Bemühungen vor allem auf eine Verbesserung und Erneuerung der bestehenden Infrastruktur, hinsichtlich des bereits erwähnten Plan de Accesibilidad und der Herstellung lückenloser Mobilfunkversorgung bis 2020. Da sowohl die Anzahl der jährlichen Fahrten als auch die Einwohnerzahl der Comunidad de Madrid in den vergangenen Jahren eine deutliche Steigerung erfuhren, herrscht bezüglich der Notwendigkeit weiterer Ausbauten auf politischer Ebene weitgehend Konsens. Neben der Erschließung unterversorgter Gebiete ist ein Schwerpunkt vor allem die Entlastung der Linie 6, die als einzige zentrale Ringlinie in einem zumeist radial angelegten System nah an der Grenze ihrer Kapazität operiert. Zu diesem Zweck wird die Linie 11 von ihrer bisherigen Endhaltestelle Plaza Elíptica um 6,3 Kilometer nach Conde de Casal verlängert, wobei diese beiden Stationen Teil der Linie 6 sind. Ausbaubeginn ist 2020, wobei die Pläne auch ein neues Busterminal in Conde de Casal vorsehen. Die Verlängerung wird sowohl Verbindungen zu den Linien 1 und 3 als auch dem Bahnhof Madrid-Atocha herstellen, der bis jetzt nur über die Linie 1 erreichbar ist. Zudem wird eine neue Station im bisher schlecht an den öffentlichen Personennahverkehr angebundenen Stadtteil Madrid Río errichtet. Die endgültige Endhaltestelle der Linie 11 soll Avenida de la Ilustración auf Linie 7 sein, der man sich in Form eines Halbkreises von Osten nähern würde, jedoch ist ungewiss, ob und wann diese Pläne umgesetzt werden. Im Zusammenhang mit dem Städtebauprojekt Madrid Nuevo Norte (Neuer Norden, ursprünglich bekannt als Operación Chamartín) ist der Bau einer neuen vom Bahnhof Chamartín ausgehenden Strecke mit drei Stationen geplant. Metro Ligero Als Ergänzung und Zubringer zur U-Bahn entstanden zum Sommer 2007 in weniger dicht besiedelten Stadtteilen drei Stadtbahnstrecken, die unter der Bezeichnung Metro Ligero Madrid (dt. „Madrider Leichtmetro“) zusammengefasst werden. Die Strecken mit einer Gesamtlänge von 27,8 Kilometern verlaufen teils in Tunneln, teils straßenbündig. Nach einer Unterbrechung von 35 Jahren gibt es somit wieder ein straßenbahnähnliches Verkehrsmittel in Madrid. In Betrieb befinden sich folgende Strecken: Linie ML-1: Pinar de Chamartín – Las Tablas (5,4 km und 9 Stationen, davon 5 im Tunnel) Linie ML-2: Colonia Jardín – Aravaca (8,7 km und 13 Stationen, davon 3 im Tunnel) Linie ML-3: Colonia Jardín – Boadilla del Monte (13,7 km und 14 Stationen, davon 2 im Tunnel) Literatur Robert Schwandl: Metros in Spain – The Underground Railways of Madrid, Barcelona, Valencia and Bilbao. Capital Transport, London 2001, ISBN 1-85414-242-9. W. J. Hinkel, K. Treiber, G. Valenta, H. Liebsch: gestern-heute-morgen – U-Bahnen von 1863 bis 2010. Schmid-Verlag, Wien 2004, ISBN 3-900607-44-3 (Kapitel „Madrid“) Daniel Riechers: Metros in Europa. Transpress-Verlag, Stuttgart 1996, ISBN 3-344-71049-4 (Kapitel „Madrid“) T. Meyer-Eppler: Eine Runde in 58 Minuten – Rasanter Ausbau der Metro Madrid. In: Straßenbahn-Magazin, Heft 8/2003, GeraNova, München 2003, S. 40–45, Weblinks Offizielle Website von Metro Madrid (span., engl.) Schematische Karte der Metro-Linien Madrids (PDF in engl., Stand: Oktober 2011) Transportkonsortium „Consorcio de Transportes de Madrid“ (span., engl.) Informationen zum Ausbau der Metro 2004–2007 Jahresbericht 2004 des Consorcio Regional de Transportes (PDF-Datei, span., ca. 13,1 MB, Link auf Zusammenfassung) Die Metro Madrid bei Urbanrail.net (engl.) Webseite der Empresa Municipal de Transportes (EMT) Einzelnachweise Madrid Madrid
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https://de.wikipedia.org/wiki/Feuchtwiese
Feuchtwiese
Feuchtwiesen sind von Gräsern, Binsen, Seggen und anderen krautigen Pflanzen gekennzeichnete, gehölzfreie halbnatürliche Biotope, deren Böden in oberen Horizonten vom Grundwasser beeinflusst oder zeitweise überschwemmt sind. Sie liegen im Bereich von Flusstälern, an Seen oder in Senken. Feuchtwiesen existieren in weiten Bereichen Europas und Asiens, mit Schwerpunkten in Mitteleuropa. Ausläufer gehen bis ins Mittelmeergebiet, auf den Balkan und nach Nordeuropa. Das Areal reicht im Osten bis nach Sibirien. In Mitteleuropa zählen Feuchtwiesen zu den artenreichsten Biotopen. Hier gelten sie als Halbkulturformationen, die durch menschliche Nutzung infolge der landwirtschaftlichen Produktion von Streu und Futter für die Nutzviehhaltung entstanden sind. Sie tragen wesentlich zur Ausprägung der mitteleuropäischen Kulturlandschaft bei. Sie müssen bewirtschaftet werden, da die Sukzession zur Ausbildung von Hochstaudenfluren, später Gebüschen und schließlich zu Wäldern führen würde. Feuchtwiesen sind auch unter den Begriffen Sumpfwiese und Brühl (von mittellateinisch brogilus oder broilus: Baumstück) zu finden. Letzterer wurde dadurch zum Namensgeber für viele tief liegende, teilweise mit Baumwuchs versehene Stadtteile und Straßen, die vielleicht auf ehemaligem Sumpfland errichtet wurden. Der folgende Artikel gibt einen zusammenfassenden Überblick über die Feuchtwiesen Mitteleuropas, deren Standorte, die verschiedenen Feuchtwiesentypen und deren Lebenswelt nach ökologischen und naturschutzfachlichen Gesichtspunkten. Hier werden unter Feuchtwiesen die ungedüngten, einmal jährlich gemähten Streuwiesen sowie die nährstoffreichen, meist zweimal gemähten Feucht- und Nasswiesen zusammengefasst. Entstehung von Feuchtwiesen Nach herrschender Lehrmeinung bestand die Landschaft Mitteleuropas mit Unterbrechungen (z. B. Bandkeramische Kultur) bis ins frühe Mittelalter überwiegend aus einem Mosaik aus Wäldern, Lichtungen, Mooren und Wasserflächen. Typische Wiesenpflanzen waren deshalb auf Bereiche beschränkt, die unter anderem durch große Weidegänger (Megaherbivoren) wie zum Beispiel Elch, Wisent, Wildpferd oder Auerochse offen gehalten wurden oder in denen im Bereich der großen Flüsse durch Überschwemmungen und/oder Laufveränderungen keine Waldentwicklung zugelassen wurde. Bis dahin hatten die Menschen die Landschaft nur kleinflächig im engeren Umfeld der Siedlungen beeinflusst. Mit dem Bevölkerungswachstum nahm auch die ungeregelte Nutzung der Wälder als Allmende zu. Hutewaldnutzung oder Rodung bewirkte eine weitgehende Öffnung der Landschaft. Es entstanden großflächig offene, parkähnliche Landschaftsräume (siehe zeitgenössisches Gemälde rechts). Im Lauf der Jahrhunderte entwickelten sich auf diese Weise durch den wirtschaftenden Menschen begründete halbnatürliche Ökosysteme. Auf feuchten bis nassen Standorten haben sich die Feuchtwiesen entwickelt. Feuchtwiesen zählten noch im 18. Jahrhundert zu weit verbreiteten Lebensräumen Mitteleuropas. Neben grundlegenden strukturellen Veränderungen mit der Entstehung großflächiger Offenlandgesellschaften und der Zurückdrängung ursprünglicher Lebensräume haben die Nutzungsformen Acker und Grünland auch zu Veränderungen im Artenspektrum von Tieren und Pflanzen und insgesamt zu einer Erhöhung der biologischen Vielfalt gegenüber der Naturlandschaft geführt. Gefährdung Bereits ab Anfang des 19. Jahrhunderts, verstärkt aber nach dem Zweiten Weltkrieg, wurden die Feuchtwiesen durch umfangreiche Meliorationsmaßnahmen wie Entwässerung und Düngung großflächig in Fettwiesen oder durch Umbruch in Äcker umgewandelt. Diese tief greifenden Veränderungen führten zum Verschwinden vieler Charakterarten der Feuchtwiesen, andere sind in ihrem Bestand stark gefährdet beziehungsweise zurückgegangen. Eine weitere Gefährdung von Feuchtwiesen ist die Nutzungsaufgabe landwirtschaftlicher Flächen aus sozialen, ökonomischen und agrarstrukturellen, besonders aber standörtlichen Gründen (Sozialbrache). Davon sind vor allem Grenzertragsstandorte, das sind schwierig zu bewirtschaftende Flächen, wie zum Beispiel Nassstandorte oder sehr kleine Parzellen, betroffen, welche bevorzugt aufgelassen werden. Durch die Intensivierung der Landwirtschaft einerseits und die Nutzungsaufgabe andererseits droht die einst gewonnene Vielfalt wieder verloren zu gehen. Anstelle artenreicher Feuchtwiesen sind heute vielfach Fettwiesen, intensiv genutzte Portionsweiden sowie Äcker vorherrschend, in denen alle Nässezeiger verschwunden und durch Stickstoffzeiger ersetzt sind. Standortfaktoren Feuchtwiesen existieren in feuchten Niederungen, kleinräumig auch in quellig-staufeuchten bis vermoorten Bereichen von Hängen und Plateaulagen und schmalen Tälern. Feuchtwiesen gibt es, einfach ausgedrückt, überall, wo es feucht genug ist. Die Höhenverbreitung reicht von der planaren bis zur subalpinen, fragmentarisch auch bis in die alpine Stufe. Aus den Faktoren Klima, Wasserhaushalt und Boden ergeben sich vielfältige Pflanzen- und Tiergemeinschaften (Phyto- und Zoozönosen). Diese Standortfaktoren werden von der Nutzung überprägt. Klima Ein humides Klima, in dem die Jahresniederschlagssumme die Jahresverdunstung übersteigt, zusammen mit vergleichsweise niedrigen Sommertemperaturen begünstigt die Bildung von Feuchtwiesen. Deshalb kommen sie gehäuft in den Mittelgebirgen, im Alpenvorland und in Küstennähe der Norddeutschen Tiefebene vor. Wasserhaushalt Aufgrund ihres Wasserhaushaltes werden Feuchtwiesen vom übrigen Wirtschaftsgrünland abgegrenzt. Für Feuchtwiesen sind eine zeitweilig hohe Bodenfeuchtigkeit von Quellwasser bis zu stagnierendem Grund- und Stauwasser sowie teilweise Überschwemmungen bestimmend. Die starke Bodendurchfeuchtung kann lang anhaltend oder von sommerlichen Austrocknungsphasen unterbrochen sein. Der zumindest zeitweilige Überschuss an Wasser im Wurzelbereich ist mit einem Sauerstoffmangel verbunden, der zu Schäden an den Pflanzenwurzeln (Wurzelatmung) und zu einem eingeschränkten Wachstum der Pflanzen, aufgrund einer begrenzten Nährstoffaufnahme, führen kann. Die Pflanzenarten der Feuchtwiesen zeichnen sich gegenüber Arten anderer Standorte durch spezielle Anpassungsmechanismen an den Wasserüberschuss aus. Beispielsweise verfügen etliche Arten über spezielle Hohlraumgewebe (Aerenchyme) in dem Luft vom oberirdischen Spross in die Wurzel geleitet werden kann sowie über spezifische Stoffwechselwege, welche ohne Sauerstoff auskommen. Durch diese Anpassungen sind Feuchtwiesenpflanzen auf feuchten und nassen Standorten gegenüber Pflanzen anderer Standorte in einem Konkurrenzvorteil. Böden und Nährstoffversorgung Die Böden der Feuchtwiesen sind Gleye, Pseudogleye und verwandte Auenböden sowie An- und Niedermoore mit unterschiedlichen Basen- und Nährstoffgehalten. Die Nährstoffnachlieferung des Bodens ist abhängig von seinem Nährstoffvorrat und dessen Verfügbarkeit für die Pflanzen. Ein optimales Pflanzenwachstum setzt eine gute Versorgung mit allen Pflanzennährstoffen, insbesondere mit Stickstoff, Phosphor und Kalium, voraus. Der natürliche Nährstoffgehalt des Bodens wird ergänzt durch Überschwemmungen, dem Grundwasser, der Atmosphäre und Düngung. Dabei hat der Säuregrad des Bodens entscheidenden Einfluss auf die Verfügbarkeit von Pflanzennährstoffen und die Aufnahmefähigkeit der Pflanzenwurzeln für Nährstoffe. Feuchtwiesen können auf sehr sauren aber auch auf kalkreichen Standorten sowie auf allen Übergängen zwischen diesen Extremen vorkommen. Viele Pflanzenarten der Feuchtwiesen nährstoffarmer Standorte haben besondere Mechanismen zur Anpassung an einen Nährstoffmangel entwickelt. Um die wenigen Nährstoffe vollständig nutzen zu können, durchwurzeln sie den Boden intensiv, bilden Speicherorgane (Rhizome, Knollen) und verfügen über einen internen Nährstoffkreislauf durch die Rückverlagerung in bodennahe Speicherorgane um die Nährstoffe in der kommenden Vegetationsperiode rasch nutzen zu können. Bedeutung der Nutzung Bei Feuchtwiesen werden zwei Nutzungsformen unterschieden. Die Mahd kann einmal allein zur Gewinnung von Einstreu für Viehställe mit einmaliger Mahd im Herbst (nach der Vegetationsperiode oder im Winter) auf nährstoffärmeren Standorten erfolgen (Streuwiesen, Pfeifengraswiesen, Brenndoldenwiesen). Auf nährstoffreicheren Standorten dient eine zweimalige Mahd im Frühling (Anfang bis Mitte Juni) und im Spätsommer (Mitte August bis Mitte September) zur Werbung von Winterfutter für Wiederkäuer wie Rinder und Schafe (Futterwiesen, Sumpfdotterblumenwiesen). Eine Wiese wird erst durch eine regelmäßige Mahd zu dem, was sie ist, nämlich zu einem artenreichen Pflanzenbestand mit Habitateignung für die Tierwelt. Durch den Schnitt werden Licht liebende und niedrigwüchsige Pflanzen gefördert und hochwüchsige Konkurrenten verdrängt. Dazu gehören Pflanzen mit hohem Wiederaustriebsvermögen, so genannte Hemikryptophyten, die ihre Überdauerungsorgane und Blätter sehr nahe am Boden ausbilden und von den Messern der Sensen und Mähmaschinen nicht erreicht werden. Bei der Mahd entscheidet der Schnittzeitpunkt wesentlich über die Artenvielfalt. Eine regelmäßige Mahd bewirkt, dass Pflanzen unterschiedlicher Wuchs- und Lebensformen auf ein und demselben Standort nebeneinander wachsen können. Je später gemäht wird, umso mehr Möglichkeiten haben Pflanzen und Tiere, sich im Ökosystem Wiese einzunischen. Eine Nutzung mit ein bis zwei Schnitten pro Jahr vermögen besonders viele Pflanzenarten auszuhalten, eine artenreiche Blumenwiese ist das Ergebnis. Die Abfuhr des Mähgutes bedingt außerdem eine langsame Verarmung an Nährstoffen (Aushagerung). Dieses bedeutet, dass bei extensiver Nutzung unter Umständen ein regelmäßiger Ausgleich des Nährstoffdefizites über eine organische Düngung mit Stallmist erfolgen muss. In extensiv genutzten Feuchtwiesen der naturnahen Kulturlandschaften können auf 20 m² zwischen 40 und 60 höhere Pflanzenarten wachsen. Einen besonderen floristischen Reichtum zeigen die nährstoffärmeren und ungedüngten Pfeifengraswiesen, auch Streuwiesen genannt. Je früher und öfter die Mahd erfolgt, desto weniger Arten gibt es, die diesem Stress gewachsen sind. Viele krautige Pflanzen haben im Gegensatz zu grasartigen Pflanzen breite und große Blätter. Sie sind deshalb nicht besonders schnittverträglich. Sie kommen außerdem nicht mehr zum Blühen und samen sich somit auch nicht mehr aus. Die Wiesen verarmen. In der intensiven Landwirtschaft wird eine Produktionssteigerung angestrebt, die nur über hohe Düngergaben mit schnell pflanzenverfügbaren Nährstoffen, zum Beispiel Gülle, erreichbar ist. Eine starke Düngung zusammen mit hoher Schnittfrequenz führen dazu, dass die Wiese aus viel junger und damit grüner Blattmasse aufgebaut ist. Zur Bildung von Blüten mangelt es an Wuchshöhe, und die Pflanzen vermehren sich nur noch vegetativ. Das Ergebnis ist eine artenarme, einheitlich grüne Wiese. Auf intensiv bewirtschafteten Flächen wachsen selten mehr als zehn Pflanzenarten und Tiere finden kaum mehr einen Lebensraum. Entfällt der nivellierende Eingriff des Menschen, kommen die Unterschiede in der Konkurrenzkraft der Pflanzen zum Vorschein. Lichtliebende Arten, die darauf angewiesen sind, dass Wiesen gemäht werden, verschwinden innerhalb kürzester Zeit. Hochwüchsige und Ausläufer treibende Pflanzen beginnen sich durchzusetzen. In nährstoffreichen Feuchtwiesen bilden sich feuchte Hochstaudenfluren, die vielfach von dem Echten Mädesüß beherrscht werden (Mädesüß-Hochstaudenfluren) oder es kann auch zur Dominanz einer einzigen Süßgras- oder Seggenart (z. B. Schlankseggenried) kommen. In Pfeifengraswiesen verändert sich die Bestandesstruktur durch die Horstbildung von Pfeifengras (Molinia caerulea, M. arundinacea), das bei Mahd rasenförmig wächst. Auf brach liegenden Grünländern geht die Vielfalt der Pflanzenarten ebenso wie bei zu intensiver Nutzung zunächst deutlich zurück. Die vorhandenen Gräser bilden mit ihren Blättern einen dichten Filz. Ankommende Samen gelangen nicht bis zur Bodenfläche und können folglich nicht keimen. Im Boden vorhandenen Samen fehlt die Kraft, den Filz zu durchstoßen. Die Undurchdringbarkeit des Filzes wird besonders in Streuwiesen durch eine Schneedecke im Winter noch verstärkt. Da die Biomasse in Brachen nicht mehr abgeführt wird, kommt es zu einer Nährstoffanreicherung und damit zu einer erhöhten Phytomasseproduktion. Die Tierwelt wird durch ein Brachfallen zunächst gefördert, denn besonders Insekten und Echte Webspinnen sind durch die Nutzung häufig in ihrer Brutbiologie gestört oder finden nicht die passenden Strukturen. Eine Vielzahl an Arten, die auf dem Wirtschaftsgrünland keine Lebensmöglichkeit hatten, wandert neu ein. Meist sind es Wirbellose, deren Artenzahl in Brachen auf den zehnfachen Wert, deren Individuenzahl sogar um den zwanzigfachen Wert ansteigt. Über 100 Vogelarten werden durch die Brache gefördert. Bei einer zunehmenden Verbuschung geht jedoch die faunistische Artenvielfalt wieder deutlich zurück. Feuchtwiesentypen und Vegetation Die Pflanzendecke der nährstoffreicheren Feucht- und Nasswiesen wird im Wesentlichen von Gräsern und einem mehr oder weniger hohen Anteil krautiger Pflanzen gebildet. Sie sind durch eine hohe Anzahl von Feuchte- und Nässezeigern gekennzeichnet. Pflanzensoziologisch umfassen sie die gedüngten bzw. auf nährstoffreicheren Standorten stockenden „Feucht- und Nasswiesen“ (Calthion palustris) auch Sumpfdotterblumenwiesen genannt sowie die ungedüngten „Pfeifengras- und Brenndoldenwiesen“ (Molinion caeruleae, Cnidion dubii) innerhalb der Ordnung der „Nassen Staudenfluren, Nass- und Riedwiesen“ (Molinietalia caeruleae) und der Klasse der „Mähwiesen und Weidegesellschaften“ (Molinio-Arrhenatheretea). Sumpfdotterblumenwiesen Sumpfdotterblumenwiesen gehören zu den nährstoffreichen Feuchtwiesen und sind hochwüchsig, dicht und blütenreich. Sie wachsen auf wechselfeuchten Standorten. Der mittlere Grundwasserstand schwankt zwischen 120 und 30 Zentimeter unter Flur. Im Hochsommer trocknen die Flächen ab, so dass auch Beweidungen möglich sind. Eine stete und reichliche Wasserversorgung ist in diesen Feucht- und Nasswiesen immer gegeben, Staunässe kommt nicht vor. Die Wiesen werden meist als zweischüriges Extensivgrünland, das heißt zweimalige Mahd im Jahr, und zur Futtergewinnung genutzt (Futterwiesen). Sie sind entweder aus Hochstaudenfluren, wechselfeuchten Streuwiesen, Röhrichten, Großseggen- oder Kleinseggenrieden unter mehr oder weniger starker Mitwirkung von organischer Düngung (Hofdünger, Mist) hervorgegangen. Diese nutzungsbedingte Variante findet sich vor allem in der Norddeutschen Tiefebene. Ihre natürlichen Standorte liegen jedoch in trockeneren Klimaten auf tiefgründigen, regelmäßig überschlickten Auenböden Pannoniens. Pflanzensoziologisch werden die nährstoffreichen Feuchtwiesen in dem Verband des Calthion palustris gefasst. Die wichtigsten Pflanzengesellschaften und Wiesentypen sind Sumpfdotterblumenwiesen, Kohldistelwiese, Kälberkropfwiese, Waldsimsenwiese, Wiesenknopf-Knöterich-Wiese und Trollblumenwiesen. Charakteristische Arten dieser Wiesen sind die namengebenden Arten Sumpfdotterblume (Caltha palustris), Kohldistel (Cirsium oleraceum), Behaarter Kälberkropf (Chaerophyllum hirsutum), Waldsimse (Scirpus silvaticus), Großer Wiesenknopf (Sanguisorba officinalis), Wiesen-Knöterich (Polygonum bistorta) und Trollblume (Trollius europaeus) sowie weitere Feuchtezeiger wie Wiesenschaumkraut (Cardamine pratensis), Kuckuckslichtnelke (Lychnis flos-cuculi), Bach-Nelkenwurz (Geum rivale), Wald-Engelwurz (Angelica sylvestris) und Orchideen wie beispielsweise das Breitblättrige Knabenkraut (Dactylorhiza majalis). Pfeifengraswiesen Nährstoffarme Pfeifengraswiesen sind relativ dichte, hochwüchsige und kräuterreiche Wiesen auf überwiegend basen- bis hin zu kalkreichen, feuchten bis wechselfeuchten ungedüngten Böden. Die Wiesen verfügen über einen hohen Anteil sich spät entwickelnder Stauden, die durch eine späte Mahd im Herbst begünstigt werden. Das Schnittgut wird in stroharmen Regionen traditionell zur Gewinnung von Einstreu für Viehställe genutzt. Die Wiesen werden im Herbst gemäht, wenn der Wiesenaufwuchs strohig geworden ist. Im Gegensatz zu Futterwiesen erhalten diese so genannten Streuwiesen keine Düngung. Sie reagieren sehr empfindlich auf eine Nutzungsintensivierung. Pfeifengraswiesen sind überwiegend in den Alpen und im nördlichen Alpenvorland im gemäßigt-kontinentalen Klima verbreitet, wo aufgrund des Klimas ein Getreideanbau ungünstig ist. Sie kommen aber auch im Norddeutschen Tiefland, hier vor allem auf entwässerten Moorböden, vor. Von den Standortfaktoren ist die Bodenfeuchte die maßgebliche Größe für die pflanzensoziologische Verbandszuordnung. Die nährstoffarmen Pfeifengraswiesen werden in dem Verband des Molinion caeruleae gefasst. Die verschiedenen Pflanzengesellschaften der Pfeifengraswiesen sind im Artikel Streuwiesen umfassend dargestellt. Charakteristische Arten dieser Wiesen sind die namengebenden Arten des Blauen Pfeifengrases und des Rohr-Pfeifengrases (Molinia caerulea, M. arundinacea) sowie weitere Feuchte- und auch Magerkeitszeiger wie Kanten-Lauch (Allium angulosum), Schwalbenwurz-Enzian (Gentiana asclepiadea), Sibirische Schwertlilie (Iris sibirica), Teufelsabbiss (Succisa pratensis) und Blutwurz (Potentilla erecta). Brenndoldenwiesen Brenndoldenwiesen sind wechselnasse Auenwiesen im Bereich großer, boreal-subkontinentaler Stromtäler, die meist regelmäßig vom Frühjahrshochwasser der Flüsse überflutet werden. Charakteristisch für diesen extensiv genutzten Wiesentyp ist die Gewöhnliche Brenndolde (Cnidium dubium). Brenndoldenwiesen sind innerhalb Europas hauptsächlich in Österreich, Frankreich und Deutschland verbreitet. In Deutschland kommen sie vor allem in den Tälern von Elbe, Oder und Havel vor. Nur wenige Vorkommen sind abseits der Hauptverbreitung aus dem Oberrheingebiet in Baden-Württemberg, aus Hessen und Rheinland-Pfalz belegt. Die Brenndoldenwiesen werden in dem Verband des „Cnidion dubii“ gefasst. Ihre einzige Pflanzengesellschaft ist die Brenndoldengesellschaft Cnidio-violetum persicifoliae. Flächenmäßig die größten Vorkommen findet man in den March-Auen an der Grenze Österreich-Slowakei. Zu den kennzeichnenden Arten des Biotoptyps „Brenndoldenwiese“ zählen neben der namengebenden Art die Wiesen-Silge (Silaum silaus), Sumpf-Platterbse (Lathyrus palustris), Färberscharte (Serratula tinctoria), Spießblättriges Helmkraut (Scutellaria hastifolia), Gottes-Gnadenkraut (Gratiola officinalis) und Pfirsichblättriges Veilchen (Viola persicifolia). Pflanzen- und Tierwelt Die Vielfalt der Pflanzen- und Tierwelt der Feuchtwiesen resultiert aus verschiedenen Standortfaktoren wie Bodenfeuchte, Höhe und Schwankungen der Wasserstände, Vegetationsstruktur, Nährstoffangebot und Intensität der Nutzung. Die Existenz verschiedener Landschaftsstrukturen und Wasserflächen wie Gräben, Bäche und Weiher sowie Parzellenbegrenzungen aus Hecken und Feldgehölzen mit typischen Pflanzengesellschaften der Röhrichte, Hochstaudenfluren, Großseggenriede, Kleinseggenriede und Flutrasen wirkt sich maßgeblich auf die Erhöhung der Pflanzenartenvielfalt aus. Besonders die Reichhaltigkeit der Fauna wird nicht nur durch eine extensive Flächenbewirtschaftung, sondern auch durch ein abwechslungsreiches Biotopmosaik beeinflusst. Nährstoffreichere Feuchtwiesen des Calthion zählen bei vielen Tiergruppen zu den artenreichsten aller Grasland-Ökosysteme Mitteleuropas. In nordwestdeutschen Feuchtwiesen wurden über 1900 Tierarten, welche bis zu 80 % biotopspezifisch sind, nachgewiesen. Über die höchste faunistische Artenvielfalt verfügen die Pfeifengras-Wiesen des Molinion nach den Magerrasen. Aus landschaftsökologischer Sicht sind kleinräumige naturnahe Strukturen in mosaikartiger Verzahnung mit dem genutzten Grünland eine essenzielle Lebensgrundlage für zahlreiche Tierarten, besonders für jene mit größerem Raumanspruch, die für die Aufzucht ihrer Jungen oder zur Nahrungssuche auf verschiedene Landschaftsstrukturen angewiesen sind. Der Verlust von Feuchtwiesen und einer strukturreichen Landschaft führt zu einem Verlust vieler biotopspezifischer Pflanzen- und Tierarten. Viele Arten der Feuchtgebiete sind daher in den zahlreichen Roten Listen gefährdeter Tier- und Pflanzenarten in Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgeführt. Etliche Arten genießen überdies gesetzlichen Schutz über das Washingtoner Artenschutz-Übereinkommen, die IUCN, die Berner Konvention (Umsetzung in EU-Vogelschutzrichtlinie sowie FFH-Richtlinie) sowie die Bundesartenschutzverordnung. Wiesenpflanzen Wiesenpflanzen sind Pflanzen, die auf eine Mahd angewiesen sind, weil sie nur dadurch geeignete Lichtverhältnisse für ihre Entwicklung auffinden. Das heißt nicht, dass sie ohne die damit verbundene Schädigung nicht besser wachsen würden, sondern dass durch die Mahd potenziell dominanzfähige Arten an der Ausbreitung gehindert werden. Aufgrund ihrer Wuchsform mit in Bodennähe befindlichen Assimilationsorganen (Hemikryptophyten), Niedrigwüchsigkeit und ihrer meist frühen phänologischen Entwicklung, das heißt frühes Austreiben und eine frühe Blüte, können Wiesenpflanzen den schädigenden Einfluss des Schnittes tolerieren und sich rasch aus den bodennahen Knospen bzw. Meristemen regenerieren. Die Hauptassimilationsorgane gelangen dadurch wieder in ein günstiges Lichtklima und werden damit von höherwüchsigen Konkurrenten befreit. Dadurch kann sich die Pflanze wieder regenerieren. Die meisten Gräser gehören zu den Horst- und Kriech-Hemikryptophyten, zum Beispiel der Flutende Schwaden (Glyceria fluitans), das Gewöhnliche Ruchgras (Anthoxanthum odoratum) oder das Weiße Straußgras (Agrostis stolonifera). Krautige Pflanzen verfügen überwiegend über eine bodennahe Grundrosette und verbreiten sich vielfach über Ausläufer, wie beispielsweise der Kriechende Hahnenfuß (Ranunculus repens). Beispiele für durch die Mahd geförderte Arten sind Kuckuckslichtnelke (Lychnis flos-cuculi), Spitzwegerich (Plantago lanceolata), Teufelsabbiss (Succisa pratensis), Sumpf-Kratzdistel (Cirsium palustre) oder auch Wasser-Greiskraut (Jacobaea aquatica). Wiesenvögel Als „Wiesenvögel“ werden Vogelarten bezeichnet, die vorwiegend Feuchtgrünland besiedeln, dort am Boden brüten und ihre Jungen aufziehen oder feuchte Wiesen als Nahrungsbiotop sowie Rast- und Durchzugsgebiet nutzen. Folgende Arten gelten in Mitteleuropa als Leitarten für nasse und feuchte Wiesen: Feldlerche (Alauda arvensis) Wiesenpieper (Anthus pratensis) Weißstorch (Ciconia ciconia) Wiesenweihe (Circus pygargus) Wachtelkönig (Crex crex) Bekassine (Gallinago gallinago) Uferschnepfe (Limosa limosa) Schafstelze (Motacilla flava) Großer Brachvogel (Numenius arquata) Kampfläufer (Philomachus pugnax) Tüpfelralle (Porzana porzana) Braunkehlchen (Saxicola rubetra) Schwarzkehlchen (Saxicola rubicola) Rotschenkel (Tringa totanus) Kiebitz (Vanellus vanellus) Die Primärlebensräume der Wiesenvögel sind vielfach zerstört oder stark im Rückgang begriffen. Das Grünland dient ihnen als Sekundärlebensraum. Aus Hoch- und Niedermooren sind beispielsweise Bekassine, Tüpfelralle und Uferschnepfe eingewandert. Aus den Salzwiesen stammen Rotschenkel und Austernfischer. Der Kampfläufer war ursprünglich in der Tundra beheimatet. Für die Besiedlung von Feuchtwiesen spielen Vegetationsstruktur, Nutzungsintensität, Bodenfeuchte, Flächengröße und Übersichtlichkeit des Geländes eine entscheidende Rolle. Die Vogelwelt der Feuchtwiesen ist durch eine Reihe hochgradig gefährdeter Arten gekennzeichnet. Den größten Anteil der Wiesenvögel machen Watvogelarten (Limikolen) aus. Ein vielfältig strukturiertes Nutzungsmosaik auf großer Fläche wird heute oft als Garant für eine hohe Artenvielfalt von Wiesenvögeln angesehen. Viele dieser Vögel weisen eine Bindung an offene, niedrigwüchsige Strukturen auf, wie sie in den genannten primären Lebensräumen gegeben sind. Die verschiedenen Arten benötigen eine gut überschaubare Landschaft, um Feinde schnell erkennen zu können. Beispielsweise benötigt der Große Brachvogel noch mehr als andere Arten sichtfreie Räume, die nicht durch Gehölze oder Siedlungen unterbrochen sind. Die genannten Arten sind zur Nahrungssuche auf wassergefüllte Senken, Tümpel und abgeflachte Grabenränder angewiesen. Ferner ist die Bodenfeuchte für das Vorkommen von Wiesenvögeln von entscheidender Bedeutung. Höchste Ansprüche an die Bodenfeuchtigkeit stellen zum Beispiel Bekassine, Kampfläufer und Uferschnepfe, denn nur im nassen Boden können sie nach Nahrung sondieren und stochern. Eine indirekte Bindung an Feuchtwiesen besteht für etliche Vogelarten wie dem Braunkehlchen, das vor allem Saum- und Randstrukturen nutzt. Im Intensivgrünland fehlen hochwüchsige Stauden, die ihm als Ansitzwarten zum Singen und Jagen dienen. Zaunpfähle waren bisher ein guter Ersatz, doch auch sie verschwinden mehr und mehr durch die größer werdenden Parzellen. Amphibien und Reptilien Amphibien brauchen für ihre Fortpflanzung offene Wasserflächen, in denen sie laichen und sich ihre Larven entwickeln können. Sie besiedeln zur Überwinterung und Übersommerung Landhabitate wie Feuchtwiesen. Sie sind als Komplexbewohner auf eine Verzahnung von amphibischen und terrestrischen Räumen angewiesen. Der Laubfrosch (Hyla arborea), der Moorfrosch (Rana arvalis) und die Rotbauchunke (Bombina bombina) konzentrieren ihr Auftreten im Feuchtgrünland. Die drei Arten benötigen sonnenbeschienene Gewässer mit dichter, nicht zu hoher Ufervegetation und umgebende Feuchtwiesenkomplexe als Teillebensraum. Sie sind an offene Habitate mit hohen Wasserständen angepasst, wie sie natürlicherweise vor allem in Flussauen vorkamen. Eine typische Reptilienart ausgedehnter Feuchtwiesen, sofern Kleingewässer in das Grasland eingebunden sind, ist die Ringelnatter (Natrix natrix). Die Wiesen bilden vor allem zur Beutejagd sowie zum Ruhen und Sonnen einen wichtigen Sommerlebensraum. Eine besondere Rolle spielen Pfeifengraswiesen für die Kreuzotter (Vipera berus) und die Waldeidechse (Zootoca vivipara). Wirbellose Die Wirbellosenfauna der Feuchtwiesen ist außerordentlich reichhaltig. Insekten und Spinnen sind überwiegend deutlich kleinräumiger in die Strukturen ihrer Lebensräume eingenischt als Vögel und Amphibien, weil sie beispielsweise verschiedene Pflanzenarten nutzen oder oftmals nur enge Bereiche der Bodenfeuchte besiedeln. Ihre häufig hohe Mobilität befähigt sie bei Umweltveränderungen zum schnellen Verlassen ihres Lebensraumes oder sie wechseln auf geeignete benachbarte Strukturen. Die hohe Vielfalt verschiedener Strukturen und Faktorengefüge bedingt eine fast unüberschaubare Anzahl an Arten. Eine Vielzahl der Wirbellosen ist hygrophil und lebt stenotop ausschließlich in solchen Lebensraumtypen. Etliche Arten leben mono- bis oligophag an nur einer oder sehr wenigen Pflanzenarten. Andere Arten benötigen verschiedene Habitatelemente etwa zur Nahrungssuche, zur Entwicklung der Larven oder zur Überwinterung. In der Natur- und Landschaftsplanung werden vielfach Heuschrecken und Tagfalter aufgrund ihrer engen Biotopbindung als Indikatoren zur Beurteilung und Bewertung von Landschaften und Landschaftsteilen eingesetzt. Diese sollen hier beispielhaft dargestellt werden. Springschrecken Springschrecken (Orthoptera oder Saltatoria) sind typische Vertreter grasreicher und offener Landschaften. Einige Arten bevorzugen Lebensräume mit einer hohen Boden- und Luftfeuchtigkeit und reagieren empfindlich gegenüber Schwankungen dieser Umweltfaktoren. Die höchsten Feuchteansprüche haben der Sumpf-Grashüpfer (Chorthippus montanus) und die Sumpfschrecke (Stethophyma grossum). Diese Springschrecken bezeichnet man auch als hygrophil (feuchtigkeitsliebend). Hygrophile Arten lassen sich als Indikatoren zur Ermittlung mikroklimatischer Verhältnisse bzw. der Vegetationsausprägung auf feuchten bis nassen Standorten verwenden. Der gute Kenntnisstand der Lebensraumansprüche verschiedener Springschreckenarten und die leichte Erfassbarkeit dieser überschaubaren Tierartengruppe machen sie zu einem wichtigen Element bei der Bewertung von Offenlandbiotopen. Aufgrund des Großklimas sind die Artenzusammensetzungen der Springschreckenfauna sehr unterschiedlich. Es lassen sich aber einige Arten benennen, die regelmäßig in Feuchtwiesen anzutreffen sind. Typische Arten in Sumpfdotterblumenwiesen: Gemeiner Grashüpfer (Chorthippus parallelus) Weißrandiger Grashüpfer (Chorthippus albomarginatus) Kurzflüglige Schwertschrecke (Conocephalus dorsalis) Langflüglige Schwertschrecke (Conocephalus fuscus) Große Goldschrecke (Chrysochcraon dispar) Bunter Grashüpfer (Omocestus viridulus) Säbel-Dornschrecke (Tetrix subulata) Typische Arten in Pfeifengraswiesen: Warzenbeißer (Decticus verrucivorus) Lauchschrecke (Mecostethus parapleurus) Kurzflügelige Beißschrecke (Metrioptera brachyptera) Sumpfgrille (Pteronemobius heydenii) Tagfalter Tagfalter sind Pflanzenfresser, die häufig auf das Vorhandensein ganz bestimmter Wirtspflanzen angewiesen sind. Besonders ihre Raupen sind im Extremfall auf nur eine einzige Pflanzenart beschränkt. So ernährt sich die Raupe des Randring-Perlmuttfalters ausschließlich vom Wiesen-Knöterich. Viele Arten bewohnen völlig unterschiedliche Lebensräume, die unter dem Sammelbegriff „Mehrbiotop- oder Verschiedenbiotopbewohner“ zusammengefasst werden. In Sumpfdotterblumenwiesen kann sich aber bei extensiver Nutzung ohne Aufdüngung eine sehr artenreiche Schmetterlingsfauna entwickeln, die durch viele stenotope und standorttreue Arten gekennzeichnet ist. Die Schmetterlingsfauna der Brenndoldenwiesen hängt sehr davon ab, ob in der Nachbarschaft hochwasserfreie Graslandvegetation zur Überwinterung vorhanden ist. Meist zeichnen sich diese Wiesen aufgrund ihres Blütenreichtums durch Nahrungsgäste aus. Wichtige Nektarpflanzen sind zum Beispiel der Kanten-Lauch, Wiesenflockenblume und Wiesen-Alant. Auch Pfeifengraswiesen weisen eine Vielzahl typischer und häufig gefährdeter Tagfalterarten auf. Typische Arten in Sumpfdotterblumenwiesen: Randring-Perlmuttfalter (Boloria eunomia) Braunfleckiger Perlmuttfalter (Boloria selene) Mädesüß-Perlmuttfalter (Brenthis ino) Storchschnabel-Bläuling (Eumedonia eumedon) Großer Feuerfalter (Lycaena dispar) Blauschillernder Feuerfalter (Lycaena helle) Lilagold-Feuerfalter (Lycaena hippothoe) Brauner Feuerfalter (Lycaena tityrus) Baldrian-Scheckenfalter (Melitaea diamina) Typische Arten in Brenndoldenwiesen: Schwalbenschwanz (Papilio machaon) Typische Arten in Pfeifengraswiesen: Heilziest-Dickkopffalter (Carcharodus floccifera) Moor-Wiesenvögelchen (Coenonympha oedippus) Goldener Scheckenfalter (Euphydryas aurinia) Rundaugen-Mohrenfalter (Erebia medusa) Lungenenzian-Ameisenbläuling (Phengaris alcon) Dunkler Wiesenknopf-Ameisenbläuling (Phengaris nausithous) Heller Wiesenknopf-Ameisenbläuling (Phengaris teleius) Blauäugiger Waldportier (Minois dryas) Bedeutung und ökologische Funktionen In der heutigen Industriegesellschaft gewinnen die gesellschaftlichen und ökologischen Funktionen von Feuchtgebieten und damit auch der Feucht- und Nasswiesen zunehmend an Bedeutung. Die Produktion von Viehfutter und damit der Stellenwert von Feuchtwiesen als landwirtschaftliche Produktionsfläche treten heute deutlich in den Hintergrund. Feuchtwiesenareale sind von hohem landschaftsästhetischem Wert und durch die Bereicherung des Landschaftsbildes vor allem von gesellschaftlicher Bedeutung. So bestätigen Umfragen, dass blumenreiche Wiesen unmittelbar hinter den Landschaftselementen Gewässer- und Waldrand in der Beliebtheit bei erholungssuchenden Menschen rangieren. Ferner besitzen Feucht- und Nasswiesen als Zeugnisse einer traditionellen Kulturlandschaft einen besonderen Wert für die Natur- und Heimatgeschichte. Die ökologischen Funktionen der vom Wasser geprägten Landschaften beruhen in erster Linie auf der ganzjährig geschlossenen Pflanzendecke. Diese verhindert einerseits Bodenverluste durch Erosion, andererseits kommt es im Vergleich zu anderen landwirtschaftlichen Kulturformen wie Acker zu deutlich geringeren Nährstoffausträgen. Dies gilt sowohl für die Verlagerung von Phosphat durch Oberflächenerosion als auch für die Auswaschung von Nitrat. Die Auswaschung von Stickstoffverbindungen beläuft sich unter Grünland auf etwa ein Sechstel derjenigen des Ackerlandes. Damit tragen Grünlandflächen wesentlich zum Trinkwasserschutz bei. Besonders in Böden mit hohem Gehalt an organischer Substanz gelangen durch Entwässerung und Umbruch durch Nitrifikation und Denitrifikation neben Nitrat Stickoxide in die Umwelt. Es entstehen Gase wie das sogenannte Lachgas (N2O), das an der Zerstörung der Ozonschicht und am Treibhauseffekt beteiligt ist. Damit trägt eine geschlossene Pflanzendecke wesentlich zum Klimaschutz bei. Neben der Wahrung der Qualität der Trinkwasserreserven bilden Grünlandareale ein wichtiges Medium zur Grundwasserneubildung und damit der Trinkwasserquantität. Die Filterwirkung und die Wasser haltenden Eigenschaften der humosen Bodenschicht bewirken eine stete und nachhaltige Neubildung von Grundwasser. Dabei ist die verzögerte Abgabe von Wasser an Bäche und Flüsse von großer Wichtigkeit. Feuchtgebiete stellen damit Rückhaltezonen für Hochwasserereignisse dar. Nicht zuletzt sind Feuchtwiesengebiete in der dicht besiedelten Kulturlandschaft letzte Rückzugsorte und wichtige Ersatzlebensräume für eine Vielzahl von Pflanzen und Tieren und deshalb in hohem Maß von Belang für den Artenschutz. Schutz und Pflege Ziel des Natur-, Arten- und Biotopschutzes ist es, neben dem Schutz einzelner wildlebender Arten (Artenschutzprogramme und Aktionspläne), deren Lebensräume zu erhalten und wiederherzustellen. Dazu gehören auch Kulturlandschaften wie Feuchtwiesen, die mittels Nachahmung traditioneller Bewirtschaftungsformen sowie Renaturierungsmaßnahmen erhalten beziehungsweise wiederhergestellt werden sollen. Sie gehören zu den biologisch sehr diversen und wertvollen Vegetationstypen, die sehr stark im Rückgang begriffen sind. Möglichkeiten zum Schutz und zur Pflege von Feuchtwiesen bieten verschiedene hoheitliche Instrumente des Naturschutzes sowie private Initiativen. Instrumente des Naturschutzes Die Gesetzgebungskompetenz für den Naturschutz ist in Deutschland zwischen Bund (Bundesnaturschutzgesetz) und den einzelnen Bundesländern aufgeteilt. In Österreich fällt die Zuständigkeit ebenfalls in die Verantwortlichkeit der Bundesländer, in der Schweiz sind die Kantone verantwortlich. Die Verordnungen der Naturschutzgebiete beinhalten in der Regel jedoch nur geringe Einschränkungen der Grünlandbewirtschaftung. Sie unterbinden lediglich den Umbruch von Grünland in Acker und eine weitere Entwässerung. Ferner ist die landwirtschaftliche Nutzung weitgehend von wesentlichen naturschutzrechtlichen Verboten, Anzeige- und Bewilligungspflichten ausgenommen. Um dennoch auf die Art der Bewirtschaftung Einfluss nehmen zu können, forciert die Naturschutzpolitik eine Zusammenarbeit mit Landwirten. Zwischen der Naturschutzbehörde und Grundstücksbesitzern (vor allem Landwirten) wird, bei entsprechendem Entgelt, eine freiwillige Nutzungsvereinbarung für ein bestimmtes Grundstück (Feld, Wiese, Uferbereich) abgeschlossen. Beispielsweise werden bestimmte Zeiten zum Mähen festgelegt. Die Höhe des Entgelts richtet sich nach der Art der Leistung zugunsten von Natur und Landschaft. Der so genannte Vertragsnaturschutz im Rahmen verschiedener Feuchtwiesenschutzprogramme gewinnt zunehmend an Bedeutung. Eine weitere Möglichkeit des Feuchtwiesenschutzes bietet der Grunderwerb. Er stellt insbesondere in Kernbereichen für den Feuchtwiesenschutz ein wichtiges Instrument dar, da nur auf gekauften Flächen weiterreichende Wiedervernässungsmaßnahmen durchführbar sind. Hinzu kommen Programme und einzelne Richtlinien der Europäischen Union sowie internationale Abkommen. Die FFH-Richtlinie verpflichtet auf europäischer Ebene die Mitgliedsstaaten zur Errichtung eines zusammenhängenden europäischen ökologischen Netzes von Schutzgebieten mit der Bezeichnung Natura 2000 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Pflanzen und Tiere. So sind Pfeifengras- und Brenndoldenwiesen gemäß der FFH-Richtlinie besonders geschützte Lebensraumtypen. Hinsichtlich des Wiesenvogelschutzes ist die EU-Vogelschutzrichtlinie über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten das Instrument der Europäischen Gemeinschaft, alle wildlebenden Vogelarten Europas zu schützen und in ihren natürlichen Lebensräumen und Verbreitungsgebieten zu erhalten. Auf internationaler Ebene greift die Ramsar-Konvention, ein Übereinkommen über Feuchtgebiete, insbesondere als Lebensraum für Wasser- und Watvögel, von internationaler Bedeutung. Initiativen von Naturschutzorganisationen Mit dem verstärkten Umweltbewusstsein und dem stärkeren Engagement der Naturschutzverbände im aktiven Naturschutz Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre gingen von dort Impulse aus, selbst mit Hand anzulegen, Wiesen und wiesenähnliche Biotope und damit die Kulturlandschaft zu pflegen und zu erhalten. Es bildeten sich etliche regionale Naturschutzvereine und Naturschutzverbände, die mit ehrenamtlichen Helfern die von der Verbuschung (Entkusselung) bedrohten Grenzertragsstandorte pflegen. Das Freihalten der Flächen durch Entkusselung ist nur auf vergleichsweise kleinen Parzellen durchführbar, denn diese Pflegemaßnahme ist ein sehr zeit- und arbeitskraftintensives Unternehmen. Bessere Ergebnisse im Feuchtwiesenschutz erzielt die Weiterführung oder Wiedereinführung einer extensiven Nutzung. Wesentliche Elemente einer traditionellen Bewirtschaftungsform sind, dass keine Biozide und kein Mineraldünger eingesetzt werden. Allenfalls wird einmal jährlich Stallmist auf den Wiesen ausgebracht. Es wird auf Pflegearbeiten, zum Beispiel Eggen und Walzen, nach dem 1. März verzichtet. Die Flächen werden erst nach dem 15. Juni gemäht, ein zweites Mal im Herbst. Magere Feuchtwiesen sollten durch die Anlage eines 15 Meter breiten Randstreifens vor Nährstoffeintrag von benachbarten, intensiv genutzten Flächen geschützt werden. Ungedüngte Fettwiesen können durch gezielte Ausmagerung, das heißt fünf- bis sechsmal Mähen pro Jahr, in Feuchtwiesenflächen umgewandelt werden. Der Einsatz moderner Technik ist auch in der Feuchtwiesenpflege unverzichtbar. Bei der Mahd sollte jedoch der Maschineneinsatz angepasst werden, indem nicht zu schwere Technik (Traktoren, Kreiselmäher) verwendet wird, denn die wassergesättigten Böden neigen zur Bodenverdichtung. Weiters sollten vegetationsschonende Mähgeräte wie beispielsweise Balkenmäher eingesetzt werden. Vielfach ist die Feuchtwiesenpflege nicht mehr allein durch ehrenamtliche Arbeit leistbar. Es entstehen Kosten für die Bewirtschaftung mit Maschinen, für Wiedervernässungsmaßnahmen und Flächenkäufe. Fördergeld von Bund und Ländern oder von Naturschutzstiftungen ist meist nicht ausreichend und zeitlich begrenzt. Um einen Teil der Kosten zu decken, wird deshalb vielfach das gewonnene Wiesenheu vermarktet. Der Qualitätsanspruch von Heuabnehmern ist hoch. Potentielle Kunden sind vor allem Pferde- und Wildtierhalter sowie zoologische Gärten, aber auch der Kleintiermarkt. Dabei erfordert die Heugewinnung bei weit geringerem Ertrag aufgrund extensiver Nutzung höhere Verkaufspreise. Die Vorzüge des Wiesenheus werden im Vergleich zum artenarmen Heu intensiv genutzter Wiesen in ihrem Kräuterreichtum gesehen. Es enthält durchschnittlich 40 Blütenpflanzen. Besonders geschätzt wird neben der Artenvielfalt die seit alters her bekannte Heilwirkung vieler Kräuter wie zum Beispiel Spitzwegerich und Schafgarbe, die bei Pferden, die unter Allergien und Husten leiden, günstig wirken. Analysen der Tierärztlichen Hochschule in Hannover haben anhand von Heuproben bestätigt, dass Wiesenheu einen günstigen Kalkgehalt, Proteinarmut sowie optimale Rohfaseranteile und wichtige Spurenelemente wie Magnesium und Mangan enthält. Diese Bestandteile sind insbesondere für Pferde essenziell und in intensiv bewirtschafteten Flächen ein Mangelfaktor. Aufgrund der späten Mahdtermine, guter Trocknung und geringeren Wassergehalts in den Pflanzenzellen ist die Schimmelanfälligkeit des Heus gering und folglich die Lagerstabilität vergleichsweise hoch. Der Dialog mit der Öffentlichkeit ist für den Feuchtwiesenschutz von großer Bedeutung. Einerseits sollen weitere ehrenamtliche Mitarbeiter gewonnen werden. Andererseits müssen potenzielle Heukunden oder auch Sponsoren für die Finanzierung der Feuchtwiesenpflege und Flächenankäufe gefunden werden. Informationsveranstaltungen, Pressemitteilungen, Broschüren und Informationstafeln vor Ort sowie verschiedene Aktionen werden als Möglichkeiten genutzt, über Feuchtwiesen und deren Schutzbedarf aufzuklären. Renaturierung Die Rückwandlung von Fettwiesen oder eutrophierten Streuwiesen in nährstoffarme Streuwiesen ist in der Regel schwierig und teilweise sehr langwierig. Die Erfolge der Renaturierungen von Feuchtwiesen können nach derzeitigen Erfahrungswerten noch nicht abschließend beurteilt werden. Im Allgemeinen ist der Nährstoffzustand des Bodens und die Zusammensetzung der Vegetation vor geplanten Renaturierungsmaßnahmen ausschlaggebend für einen Erfolg. Von Bedeutung ist, ob noch Arten der erwünschten Vegetation vorhanden sind. Maßgeblich ist ferner, dass die Standorte durch erhöhte Schnitthäufigkeiten zu Beginn der Maßnahmen „ausgemagert“ werden, wobei die Schnittzeitpunkte der ersten Mahd nicht zu früh gewählt werden sollten. Weiters wird eine leichte Düngung mit Phosphor und Kalium in Form langsam wirkender Mineraldünger (Thomasmehl, Kainit) auf reinen Niedermoorstandorten empfohlen. Eine Wiedervernässung bei Renaturierung sollte erst im Laufe der Ausmagerung eingeleitet werden. Liste von Feuchtwiesen Feuchtwiese Vennheide, (Westfalen) Egge Feuchtwiesen Ströhen, (Westfalen) Egge Feuchtwiesen In den Wösten Feuchtwiesen Hörste in Halle (Westf.) Feuchtwiesen Röhrmann Quellen Die allgemeinen Informationen dieses Artikels entstammen den unter Literatur und Weblinks aufgeführten Referenzen. Darüber hinaus sind einzelne Aspekte, Spezialthemen, Zahlen usw. den aufgeführten Einzelpublikationen entnommen. Literatur Heinz Ellenberg: Vegetation Mitteleuropas mit den Alpen in ökologischer, dynamischer und historischer Sicht. 5., stark veränderte und verbesserte Auflage. Ulmer, Stuttgart 1996, ISBN 3-8001-2696-6. Einzelnachweise Weblinks Streuwiesen und Nasswiesen. Biotope in Baden-Württemberg Band 5, 1995. Landesanstalt für Umweltschutz Baden-Württemberg (Beschreibung und PDF-Download, 9,1 MB). Geographische Kommission für Westfalen Wiese Biotoptyp Naturschutz
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https://de.wikipedia.org/wiki/Fragiles-X-Syndrom
Fragiles-X-Syndrom
Das Fragiles-X-Syndrom (FXS) ist eine der häufigsten Ursachen erblicher kognitiver Behinderung des Menschen. Ursache hierfür ist eine genetische Veränderung auf dem X-Chromosom, die Mutation eines expandierenden Trinukleotidrepeats im Gen FMR1 (fragile X mental retardation 1). Die Behinderung, die zu den X-chromosomalen mentalen Retardierungen gezählt wird, kann in ihrer Schwere stark variieren und von leichten Lernschwierigkeiten bis zu extremer kognitiver Beeinträchtigung reichen. Das Syndrom wird nach seinen Erstbeschreibern auch als Martin-Bell-Syndrom (MBS) oder Marker-X-Syndrom sowie in der abgekürzten Form als fra(X)-Syndrom bezeichnet. Dieser Name leitet sich aus der Beobachtung von Zellkulturen betroffener Menschen ab: Unter entsprechenden Kulturbedingungen wird in einem Teil der Zellen durch Abnahme des Kondensationsgrades des X-chromosomalen Chromatins in der betroffenen Region eine scheinbare Bruchstelle, der sogenannte fragile Bereich, beobachtet. Symptome Vom FXS können sowohl Männer als auch Frauen betroffen sein. Das Leitsymptom ist eine unterschiedlich stark ausgeprägte Intelligenzminderung, deren Schwere von Lernproblemen bis hin zu schwergradiger kognitiver Beeinträchtigung reichen kann und mit Sprachstörungen und Aufmerksamkeitsdefiziten einhergeht. Bei Kindern sind bei etwa 12 % der Betroffenen autistische Verhaltensweisen, wie z. B. wenig Augenkontakt, soziale Phobie, Übererregbarkeit und Überempfindlichkeit auf bestimmte Stimuli und repetitives Verhalten, ausgeprägt, beinahe 20 % der Kinder bekommen Krampfanfälle (Epilepsie). Bei Frauen sind die Symptome häufig milder ausgeprägt, was auf die zufällige Inaktivierung eines der beiden X-Chromosomen in weiblichen Zellen zurückzuführen ist (Lyon-Hypothese). Bei 80 % der betroffenen Männer findet sich eine Hodenvergrößerung, die schon vor der Pubertät auftreten kann. Weitere körperliche Symptome können eine vorspringende Stirn, abstehende und große Ohren und ein hervorstehendes Kinn bei gleichzeitig bestehendem schmalen Gesicht sein. Bei etwa 50 % finden sich eine abnorme Bänderlockerheit, bei 20 % flexible Plattfüße und gelegentlich eine Skoliose. Verbreitung Die Häufigkeit des FXS wird in der Literatur sehr breit angegeben, da in vielen Studien auch unterschiedliche Bemessungsgrundlagen für eine Vollmutation angelegt wurden. Im Schnitt beträgt die Häufigkeit 1:1.200 bei Männern und 1:2.500 bei Frauen. Damit stellt diese Besonderheit nach dem Down-Syndrom (Trisomie 21) die häufigste Form von genetisch bedingter kognitiver Behinderung dar. Diagnose Bis zur Entdeckung des zugrundeliegenden Gens im Jahre 1991 war der Nachweis einer Lücke im X-Chromosom in Zellkulturen das einzige, allerdings recht unzuverlässige Verfahren, da in benachbarten Genbereichen ebenfalls fragile Stellen auftreten. Die Diagnostik erfolgt heute über molekulargenetische Analysemethoden aus einer Blutprobe mittels Polymerase-Kettenreaktion (PCR) und Southern Blot. Bleibt trotz negativer Befunde ein Verdacht, kann mittels immunohistochemischer Diagnostik mit monoklonalen Antikörpern direkt die FMR-Proteinkonzentration bestimmt werden. Für Feten mit erhöhtem Risiko kann pränatal entweder eine Chorionzottenbiopsie in der 10.–12. Schwangerschaftswoche (SSW) oder eine Amniozentese in der 16.–18. SSW durchgeführt werden. Differenzialdiagnose Da die Symptome in früher Kindheit oft unspezifisch sind und Entwicklungsverzögerungen für viele Menschen in Betracht kommen, ist die Differenzialdiagnose vergleichsweise schwierig. Insbesondere in Betracht kommen das Sotos-Syndrom, das Prader-Willi-Syndrom, Autismus und die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), mit der das FXS anscheinend mehrere auslösende Gene teilt, ferner der Cherubismus. Bei Kindern mit Sprech-/ Sprachverzögerung und motorischen Defiziten sollte deshalb ein Test auf das FXS in Betracht gezogen werden, insbesondere bei entsprechender Familienanamnese. Geschichte Das FXS wurde 1943 erstmals durch James Purdon Martin (1893–1984) und Julia Bell anhand einer Familie mit elf kognitiv zurückgebliebenen Männern unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten beschrieben. Schon hier wurde ein X-chromosomaler Erbgang angenommen. Erst 1969 konnte dies durch Herbert Lubs an einer vierköpfigen Familie mit zwei betroffenen Männern und zwei nicht betroffenen Frauen nachgewiesen werden. In seinen Zellkulturen beobachtete Lubs ein Zusammenziehen des längeren Armes (q-Arm) in X-Chromosomen. Eine derartige Mutation konnte später auch in der ersten Familie nachgewiesen werden. Die Entdeckung geriet zunächst in Vergessenheit, bis Grant Sutherland durch Zufall herausfand, dass der entsprechende Nachweis nur in einem Folsäure-freien Kulturmedium nachvollziehbar ist: Bei seinem Umzug von Melbourne nach Adelaide, wo ein anderes Kulturmedium eingesetzt wurde, welches bessere Chromosomenfärbungen ermöglichte, konnten seine Ergebnisse zunächst nicht wiederholt werden, bis er wieder das vorherige Kulturmedium einsetzte. Bei der Vererbung des FXS war lange Zeit ungeklärt, warum es nicht immer mit anderen X-chromosomal gebundenen Erbgängen übereinstimmte. Insbesondere wurden auch heterozygote Überträgerinnen festgestellt, die eigentlich symptomfrei bleiben sollten. Dieses Phänomen veranlasste 1985 Stephanie Sherman und ihre Mitarbeiter zu einer genaueren Untersuchung der Stammbäume. Dabei stellten sie fest, dass Töchter eines nicht betroffenen Überträgers eine höhere Wahrscheinlichkeit besaßen, betroffene Nachkommen zu erhalten. Daraus schlussfolgerten sie, dass die Mutation in zwei Schritten erfolgen müsste, die im ersten Schritt noch symptomfrei bleibt und im zweiten nur bei der Übertragung von Frauen auf ihre Nachkommen erfolgt. Diese Beobachtungen sind in der Medizin seitdem als Sherman-Paradoxon bekannt. Das die Erkrankung verursachende mutierte Gen wurde 1991 von mehreren Forschern gemeinsam entdeckt und das Syndrom in die Gruppe der Trinukleotiderkrankungen eingeordnet (Verkerk et al., 1991). Genetische Ursache Genetische Ursache ist eine Veränderung des 38 kbp umfassenden Gens FMR1 ( Fragile X linked Mental Retardation type 1 ) in der Bande Xq27.3 des X-Chromosoms (oder bei der wesentlich selteneren Variante FraX-E eine Veränderung des an Position Xq28 lokalisierten Gens FMR2). Das Gen FMR1 besteht aus 17 Exons und enthält eine sich wiederholende Sequenz aus CGG-Trinukleotiden. Der Normalbereich dieser Basentripletts pro Allel beträgt 6 bis 44 Wiederholungen, die in der Regel durch 2 AGG Tripletts an Position 9/10 oder 19/20 unterbrochen werden. Am häufigsten kommen 29 bis 30 Tripletts in der Normalbevölkerung vor. Bei Menschen mit dem Fragiles-X-Syndrom treten zwei Arten von Mutationen in diesem Genbereich auf, die durch Verlängerung der CGG-Tripletts zustande kommen (Trinukleotidrepeat-Erkrankung). 59 bis 200 Wiederholungen werden als Prämutation bezeichnet und können im höheren Lebensalter mit einem eigenen Krankheitsbild, dem Fragiles-X-assoziierten Tremor-/Ataxie-Syndrom (FXTAS) einhergehen. Die Prämutation stellt eine Vorstufe der krankheitsverursachenden Vollmutation dar, die ab 200 oder mehr Wiederholungen gegeben ist. Dies führt zu einer Methylierung (einer Anlagerung von Methyl-Gruppen) des entsprechenden DNA-Abschnittes und damit zu einer Stilllegung der Genexpression des FMRP1-Proteins. Die Funktion dieses Proteins ist derzeit Gegenstand intensiver Forschung, wahrscheinlich ist es ein Schlüsselprotein bei der Herstellung weiterer Proteine, deren Fehlen zur Atrophie von Hirnzellen führt. Die Methylierung führt auch zu dem Auflockern im betroffenen Bereich der Struktur des Chromosoms und damit zu dem typischen Bild des fragilen Bereiches. Eine Anzahl von 45 bis 58 Wiederholungen der CGG-Tripletts wird als „graue Zone“ bezeichnet, bei der die Allele in der Regel stabil auf die Nachkommen übertragen werden. Da fast 2 % der Normalbevölkerung ein solches FMR1-Allel besitzen, ist dieser Bereich für die genetische Beratung prognostisch schwierig. Die bisher kleinste bekannte Prämutation, bei der in einer Familie innerhalb einer Generation eine Vollmutation entstand, hatte 59 Tripletts. Ein Fehlen der eingeschobenen AGG-Tripletts bei langen Prämutationen wird für die Instabilität zur Vollmutation hin verantwortlich gemacht. In Einzelfällen sind auch de novo Punktmutationen des Gens bekannt, die die Funktionsweise des FMR1-Proteins beeinträchtigen. Die Anzahl der Triplett-Wiederholungen steigt im Verlauf aufeinander folgender Meiosen. Dies erklärt auch die Zunahme der Schwere der Krankheit im Verlauf der Generationen (auch Antizipation genannt). Die molekulare Ursache für die Triplett-Expansion ist möglicherweise das Verrutschen (slippage) der neu synthetisierten DNA-Stränge an den Replikationsgabeln während der Meiose. Vererbung Das Fragiles-X-Syndrom ist ein erblich bedingtes Syndrom, welches entsprechend in einigen Familien gehäuft auftreten kann. Da die Genmutation, die dieser Besonderheit zugrunde liegt, nur am X-Chromosom auftritt, müsste die Vererbung eigentlich auch der anderer X-chromosomaler Erbgänge folgen, im Fall des FXS gibt es allerdings einige bislang nicht geklärte Abweichungen hiervon. Der X-chromosomale Erbgang Der typische X-chromosomale Erbgang, der auch als X-chromosomal rezessiver Erbgang bezeichnet wird, beruht darauf, dass Frauen jeweils zwei X-Chromosomen, Männer jedoch immer nur eines besitzen. Entsprechend geben Frauen immer ein X-Chromosom an ihre Nachkommen weiter, Männer können entweder ein X-Chromosom oder ein Y-Chromosom vererben und entsprechend festlegen, ob die Nachkommen männlich oder weiblich sind. Im Falle von X-chromosomalen Mutationen ergibt sich dabei ein typischer Erbgang, der sich durch folgende Eigenschaften auszeichnet: Die Mutter zeigt in der Regel keine Symptome durch die Mutation, wenn die Veränderung des Gens nur auf einem ihrer beiden X-Chromosomen existiert und der Effekt durch das andere kompensiert wird, d. h. der Erbgang ist rezessiv. Die Mutter kann das fehlerhafte Gen mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % an ihre Nachkommen weitergeben. Dadurch können 50 % ihrer weiblichen Nachkommen wieder Trägerinnen werden, 50 % nicht. Wird das fehlerhafte Gen an einen männlichen Nachkommen weitergegeben, so prägt es sich bei diesem aufgrund der fehlenden Kompensation aus. Der Vater kann das fehlerhafte Gen niemals an seine männlichen Nachkommen vererben, da diese von ihm das Y-Chromosom erhalten. Töchter werden von ihren betroffenen Vätern jedoch in 100 % der Fälle das mutante X-Chromosom erben und somit in jedem Fall Trägerinnen werden. Aus diesen Gründen treten die Symptome einer X-chromosomal rezessiven Mutation wie etwa der Bluterkrankheit vor allem bei Männern auf (Hemizygotie), während Frauen häufiger nur Überträgerinnen des fehlerhaften Gens sind. Nur im ungünstigen Fall, dass die Töchter sowohl von der Mutter als auch vom Vater ein mutiertes Gen erhalten, prägt sich die Mutation auch bei den Frauen aus. Abweichungen vom X-chromosomalen Erbgang Beim Fragiles-X-Syndrom gibt es jedoch einige Besonderheiten, die nicht dem oben beschriebenen Erbgang entsprechen: Nicht alle Männer, an die das fehlerhafte Gen übertragen wurde, bekommen das Fragiles-X-Syndrom, etwa 20 Prozent bleiben symptomfrei. Dieses wird als Nichtpenetranz bezeichnet. Etwa 30 Prozent der Frauen, die Trägerinnen sind, bekommen das Syndrom, obwohl sie auch noch eine unmutierte Genversion besitzen. Bei ihnen prägen sich die Symptome jedoch meist weniger stark aus. Die Manifestation von Symptomen bei einer weiblichen Trägerin wird als X-chromosomal dominanter Erbgang bezeichnet. Das Syndrom kann in Familien phasenweise verstärkt, generationenlang jedoch auch gar nicht auftreten, obwohl es vererbt wird. Die Gründe für diese Besonderheiten im Erbgang sind bislang ungeklärt. Gemeinhin wird versucht, sie durch äußere Einflüsse auf das Gen zu erklären. Beratungsgrundlagen Für die genetische Beratung ergeben sich somit folgende Konstellationen: Männliche Überträger mit einer FMR1-Prämutation sind nicht beeinträchtigt. Dasselbe gilt für ihre Töchter, die in jedem Fall das prämutierte Allel (in der Regel unverändert) erben werden. Da Söhne das Y-Chromosom erhalten, sind sie nicht betroffen. Männliche Träger einer Vollmutation sind betroffen; das klinische Bild kann von leichten bis schweren Erkrankungen reichen. Sie sind fertil, wenn sie auch selten Kinder zeugen. In ihren Spermien befindet sich entgegen der zu erwartenden Vollmutation nur ein Allel mit Prämutation, welches sie auf ihre Töchter übertragen. Weibliche Überträgerinnen einer FMR1-Prämutation sind nicht beeinträchtigt. Ihre Söhne oder Töchter können am Fragiles-X-Syndrom erkranken. Die Wahrscheinlichkeit hierfür ist von der Anzahl der CGG-Wiederholungen abhängig. In einer humangenetischen Beratung kann das Risiko anhand von statistischen Tabellen abgeschätzt werden. Diese Zahlen sind jedoch mit Vorsicht zu beurteilen, da sie nur an kleinen Patientenkollektiven gewonnen wurden. Weibliche Träger einer Vollmutation sind zum Teil nicht betroffen. Bei der Mehrzahl liegen jedoch geistige Beeinträchtigungen vor, deren Schwere im Vergleich zu den Männern häufig geringer ausgeprägt ist. Dies wird durch die zufällige Inaktivierung eines der beiden X-Chromosomen erklärt. Sie können entweder das gesunde oder das krankhafte X-Chromosom an ihre Nachkommen weitergeben. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Vollmutation an die Kinder weitergegeben wird, liegt somit bei 50 %. Die Kinder können in ihrem klinischen Bild erheblich von der Mutter abweichen. Neurobiologie des Fragiles-X-Syndroms Zur Erforschung der neurobiologischen Grundlagen, die die Symptomatik des Fragiles-X-Syndroms hervorrufen, wurde ein Tiermodell entwickelt. Dabei handelt es sich um eine sogenannte FMR1-Knockout-Maus, einen Mausstamm, bei dem durch geeignete molekularbiologische Methoden gezielt das FMR1-Gen entfernt wurde. Die Deletion von FMR1 in Mäusen ist von einigen Symptomen begleitet, wie sie auch für FXS-Patienten charakteristisch sind. Dazu gehören die Hyperaktivität, die epileptischen Anfälle und die Vergrößerung der Hoden. Im Gegensatz dazu waren Beobachtungen eines geringeren Lernvermögens der FMR1-Knockout-Mäuse nicht direkt auf den Menschen übertragbar, auch wegen der geringen Vergleichbarkeit der kognitiven Fähigkeiten zwischen Mäusen und Menschen. Neuere Befunde zeigen jedoch, dass eine einfache Form des assoziativen Lernens, und zwar der klassischen Konditionierung, die beim Menschen und bei Mäusen gleichermaßen anzutreffen ist und den gleichen Mechanismen gehorcht, sowohl in FMR1-Knockout-Mäusen als auch FXS-Patienten schwer beeinträchtigt ist. Dabei handelt es sich um die Konditionierung des Lidschlussreflexes. Beim Lidschlussreflex handelt es sich um einen Schutzreflex des Augenlides. Er wird aktiviert, wenn ein unangenehmer oder schmerzhafter Reiz auf die Oberfläche des Augapfels trifft. Das Augenlid schließt sich. Die Konditionierung des Lidschlussreflexes im Experiment geschieht folgendermaßen: Als sogenannter unkonditionierter Reiz dient ein kurzer Luftstoß auf den Augapfel. Der konditionierte Reiz ist ein Ton, der vor dem Luftstoß beginnt und gemeinsam mit ihm endet (beim sogenannten delay conditioning). Nach einigen Versuchen mit gleichem Intervall zwischen Beginn des Tones und dem Luftstoß schließt sich das Auge exakt zu einem Zeitpunkt, der gewährleistet, dass es beim Auftreffen des Luftstoßes bereits geschlossen ist. Konditioniert wird dabei das Timing des Reflexes. Die Konditionierung des Lidschlussreflexes kann sowohl im Tierversuch als auch am Menschen durchgeführt werden. Die neuronalen Schaltkreise, die für eine korrekte Anpassung des Reflexes verantwortlich sind, sind sehr gut bekannt und eingehend untersucht. Die beteiligten Neurone befinden sich im Kleinhirn. Von zentraler Bedeutung für die Konditionierung des Lidschlussreflexes ist eine Form der synaptischen Plastizität an der Parallelfasersynapse der Purkinjezellen. Der Befund, dass die Konditionierung des Lidschlussreflexes in FXS-Patienten verschlechtert ist, kann durchaus therapeutische Bedeutung gewinnen. Man könnte den Lidschlussreflex als Parameter verwenden, um die Wirksamkeit möglicher Therapien ganz objektiv zu messen. Corticale Nervenzellen der FMR1-Knockout-Mäuse sowie der FXS-Patienten weisen eine erhöhte Anzahl und größere durchschnittliche Länge der Dornfortsätze (sog. spines) auf. Das lässt auf eine synaptische Funktion des FMR1-Proteins schließen. Das FMR1-Protein ist ein RNA-bindendes Protein. Man nimmt heute an, dass eine seiner Funktionen darin besteht, die Translation der gebundenen RNA solange zu hemmen, wie diese unterwegs vom Zellkern im Perikaryon zum Dendriten ist. Dort funktioniert das FMR1-Protein dann als eine Art Schalter, der die RNA freigibt und deren Translation als Antwort auf synaptische Signale ermöglicht. Demnach gehört das FMR1-Protein zu den Faktoren, die für eine aktivitätsabhängige Proteinsynthese an Synapsen erforderlich sind. Die mGluR-Theorie des FXS Das FMR1-Protein wird an Synapsen nach Aktivierung metabotroper Glutamatrezeptoren (mGluR) synthetisiert. Die Gruppe-1-mGluR stimulieren einerseits die Proteinsynthese, andererseits aber auch den Transport FMR1-Protein-assoziierter RNA in den Dendriten. Das legt die Vermutung nahe, dass das FMR1-Protein hemmend auf die Synthese anderer synaptischer Proteine wirkt. Damit übereinstimmend wurde gefunden, dass im Hippocampus bestimmte Formen der synaptischen Plastizität, die abhängig von Proteinsynthese sind, in den FMR1-Knockout-Mäusen verstärkt sind, während andere Formen, die unabhängig von der Synthese von Proteinen sind, unverändert bleiben. Daraus wurde geschlussfolgert, dass auch andere Formen der mGluR- und proteinsyntheseabhängigen synaptischen Plastizität durch Deletion des FMR1-Gens hochreguliert sein müssten. In der Tat war das auch in Purkinjezellen der Fall. Dort ist die Langzeitdepression an der Parallelfasersynapse ebenfalls mGluR-abhängig und erwies sich als verstärkt in den FMR1-Knockout-Mäusen. Die spines der Purkinjezellen sind in FMR1-Knockout-Mäusen verlängert. Alle diese Veränderungen legen nahe, dass das FMR1-Protein als Regulator der synaptischen Struktur sowie der mGluR-abhängigen Plastizität wirkt. Behandlung Aufgrund der genetischen Ursache ist eine Heilung nach dem derzeitigen Stand der Forschung nicht möglich. Symptomatisch kann nach eingehender kinderpsychiatrischer, pädiatrischer und neurologischer Untersuchung ein individuelles Förderprogramm erstellt werden, welches Verhaltenstherapie, Ergotherapie, Musiktherapie, Kunsttherapie und logopädische Betreuung einschließt. Diese Programme können sehr erfolgreich sein, wenn ein günstiges Umfeld hergestellt wird. Weiterhin können in Deutschland über die zuständigen Gesundheitsämter sowie die Kreissozialämter als Kostenträger „Maßnahmen der Eingliederungshilfe“ nach SGB IX beantragt werden. Literatur Wissenschaftliche Literatur J. P. Martin, J. Bell: A pedigree of mental defect showing sex-linkage. In: Journal of Neurology, Neurosurgery, and Psychiatry, Band 6, Nummer 3–4, Juli 1943, S. 154–157, PMID 21611430, . H. A. Lubs Jr.: A marker X chromosome. In: American Journal of Human Genetics Band 21, Nummer 3, Mai 1969, S. 231–244, PMID 5794013, . B. Beek, P. B. Jacky, G. R. Sutherland: Heritable fragile sites and micronucleus formation. In: Annales de Genetique, Band 26, 1983, S. 5–9. B. Beek, P. B. Jacky, G. R. Sutherland: DNA precursor deprivation-induced chromosomal damage. In: Mutation Research, Band 113, 1983, S. 331. P. B. Jacky, B. Beek, G. R. Sutherland: Fragile sites in chromosomes: possible model for the study of spontaneous chromosome breakage. In: Science. Band 220, Nummer 4592, April 1983, S. 69–70, PMID 6828880. E. J. Kremer, M. Pritchard, et al.: Mapping of DNA instability at the fragile X to a trinucleotide repeat sequence p(CCG)n. In: Science, 252.1991, S. 1711–1714, PMID 1675488, B. A. Oostra, P. Chiurazzi: The fragile X gene and its function. In: Clinical genetics. An international journal of genetics in medicine (Clin. Genet.), 60.2001, Blackwell Munksgaard, Oxford, S. 399–408, PMID 11846731, A. L. Reiss, E. Aylward, L. S. Freund, P. K. Joshi, R. N. Bryan: Neuroanatomy of fragile X syndrome, the posterior fossa. In: Annals of neurology, 29.1991,1(Jan), Wiley-Liss, New York NY, S. 26–32, PMID 1996876, A. J. Verkerk, M. Pieretti, J. S. Sutcliffe, Y. H. Fu, D. P. Kuhl, A. Pizzuti, O. Reiner, S. Richards, M. F. Victoria, F. P. Zhang: Identification of a gene (FMR-1) containing a CGG repeat coincident with a breakpoint cluster region exhibiting length variation in fragile X syndrome. In: Cell. 31; 65. 1991, S. 905–914, PMID 1710175, Weitere Literatur Ursula G. Froster (Hrsg.): Das Fragile-X-Syndrom. Quintessenz-Verlag, Berlin 1998, ISBN 3-8208-1764-6 Suzanne Saunders: Das Fragile X-Syndrom – Ein Ratgeber für Fachleute und Eltern. Verlag der Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e. V., Marburg 2003, ISBN 3-88617-306-2 Siehe auch Erbkrankheit Genetik Pränataldiagnostik Liste der Syndrome Weblinks The National Fragile X Foundation (englisch) Interessengemeinschaft Fragiles-X e.V. (deutsch) Einzelnachweise Genetische Störung Krankheitsbild in der Kinderheilkunde
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Geschichte der Stadt Münster
Die Geschichte der Stadt Münster in Westfalen ist seit Gründung der Stadt vor etwa 1200 Jahren dokumentiert und lässt sich darüber hinaus bis zu den Siedlungsplätzen, die in vorgeschichtlicher Zeit auf dem Stadtgebiet existierten, zurückverfolgen. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, während der Herrschaft der Täufer, wurde das gesamte Archiv der Stadt vernichtet, so dass die älteren geschichtlichen Daten teilweise nicht bestimmbar oder nur über Urkunden und Dokumente, die nicht innerhalb der Stadt archiviert waren, erschließbar sind. Vor- und Frühgeschichte Das münstersche Stadtgebiet gehörte nicht zu den herausragenden vorgeschichtlichen Siedlungsplätzen der Münsterländischen Bucht. Spuren der Jäger und Sammler der Steinzeit wie Feuersteinwerkzeuge und gestielte Pfeilspitzen sind zwar vorhanden, größere Fundplätze wurden jedoch nicht entdeckt. Aus der Bronzezeit wurden Flintdolche, bronzener Gräberschmuck und Bronzefibeln auf dem heutigen Stadtgebiet gefunden. Siedlungskontinuität in der Bronzezeit bis in die vorrömische Eisenzeit lässt sich hier nachweisen, nicht jedoch im Innenstadtbereich. Auf intensives Schmiedehandwerk weist ein Depotfund schwertförmiger Eisenbarren im Stadtteil Geist hin. Er stammt aus der Hallstatt- oder Latènezeit. Römerzeit und altsächsische Siedlung Mimigernaford Auf dem Horsteberg, dem Hügel an der Aa, auf dem später der Dom errichtet wurde, sind germanische Siedlungsspuren aus der frühen römischen Kaiserzeit als auch aus dem 2. und 3. Jahrhundert entdeckt worden. Importe belegen enge Kontakte mit den linksrheinischen römischen Provinzen. Die Siedlungen wurden jedoch spätestens um 300 n. Chr. verlassen. Die Archäologen schreiben diese Spuren der Rhein-Weser-germanischen Fundgruppe zu. Nach den Berichten antiker Historiker wie Tacitus und Strabon müsste es sich bei den frühen Bewohnern um Brukterer gehandelt haben. Brukterer gehörten wohl auch zu den germanischen Verbänden, die sich erfolgreich gegen die römische Expansion gewehrt haben. Einer der im Jahre 9 n. Chr. in der Varusschlacht erbeuteten Legionsadler wurde jedenfalls 15 n. Chr. beim Rachefeldzug des Germanicus gegen die Brukterer zurückerobert. Die jüngere Siedlung wird aber nicht den Brukterern zuzuordnen sein, da diese – wie Tacitus schadenfroh berichtet – bei kriegerischen Auseinandersetzungen mit germanischen Nachbarstämmen vernichtend geschlagen und fast ausgerottet wurden. Vermutlich besiedelten die siegreichen Chamaven den Hügel an der Aa, die sich mit den Resten der Brukterer und weitere westgermanische Völker im 3. Jahrhundert zum Stammesverband der Franken zusammenschlossen. Schätzungsweise seit dem 6. Jahrhundert lag im Bereich des Domplatzes die kleine sächsische Siedlung Mimigernaford. Die Sachsen, ursprünglich beheimatet im Raum Holstein, breiteten sich im 3. und 4. Jahrhundert über das Elbe-Weser-Dreieck in Richtung England und nach Süden aus. Die Herkunft des Stammesnamens westfalai, wie die westlichen Sachsen in den fränkischen Annalen bezeichnet werden, und sie sich auch wohl selbst bezeichnet haben, ist nicht genau geklärt. Eine Deutung verbindet den Wortstamm fal mit fahl, flachsfarben und bezieht ihn auf die Haarfarbe. Für die Namen der Siedlung Mimigernaford gibt es auch verschiedene Deutungen. Nach neueren Untersuchungen ist die Siedlung an der Furt über die Aa nach den Mimigernen benannt, den Sippenangehörigen eines Stammvaters namens Mimigern. Der Name wurde bis ins 10. Jahrhundert benutzt, allerdings häufig in der abgewandelten Form Mimigardeford. In einigen Karten wurde auch die Schreibweise Mimigerneford benutzt. Mittelalter – Vom Domkloster zur Hansestadt Begründung der Klostersiedlung durch Liudger Das Jahr 793 gilt als offizielles Gründungsjahr Münsters: Im Auftrag Karls des Großen gründete der Friese Liudger auf dem Horsteberg in der kleinen Bauernsiedlung Mimigernaford oder in ihrem unmittelbaren Umfeld ein Kloster (monasterium). Am 30. März 805 wurde in Münster ein Bistum eingerichtet und Liudger vom Kölner Erzbischof Hildebold als erster Bischof von Münster beziehungsweise Mimigernaford, wie es immer noch hieß, berufen. Zudem erhielt die Siedlung den Stand einer civitas (Stadt), da ein Bischof nur in einer Stadt residieren durfte, und die Bauarbeiten zum Bau des münsterschen Doms auf Landbesitz des Adelsgeschlechts Münster (westfälisches Adelsgeschlecht) wurden aufgenommen. Die Verleihung der Stadtrechte erfolgte jedoch erst einige Jahrhunderte später. Schätzungsweise um das Jahr 900 herum entstand um die inzwischen deutlich angewachsene Stadt ohne eigentliche Stadtrechte eine Wallanlage um den Dom herum. Innerhalb dieser Domburg begann die Ansiedlung der Ministerialen und Handwerker. Durch den anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung kam es zu ersten Bildungen von Marktsiedlungen vor den Toren der Domburg wie dem Roggenmarkt oder dem Alten Fischmarkt. Neben der Landwirtschaft wandelte sich die Stadt zu einem wichtigen Handelspunkt. Ummauerung der Stadt und des Dombezirks Aufgrund der immer größer werdenden Gemeinde wurde um 1040 westlich der Domburg die Überwasserkirche gegründet. Ebenfalls zu Beginn des 11. Jahrhunderts wurde der erste Kirchenbau der Lambertikirche als erste Marktkirche der Stadt gegründet, die von den Kaufleuten gestiftet wurde. Im Jahr 1068 erscheint dann erstmals mit „Monasterium“ ein neuer Name für die Stadt. Die wirtschaftliche Entwicklung hielt an bis zur Vertreibung des Bischofs aus der Stadt durch die Bürger, die sich nach dem Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst um das Recht der Bischofseinsetzung entzweiten. Als Folge wurde die Stadt durch Lothar von Süpplingenburg belagert und brannte am 2. Februar 1121 komplett nieder. Nach dem Wiederaufbau und der Erweiterung der bislang existierenden Märkte, zum Beispiel durch den Prinzipalmarkt, erhielt Münster – oder „Munstre“, wie es zu jener Zeit auch umgangssprachlich genannt wurde – um 1170 das Stadtrecht und am 4. Mai 1173 mit Bischof Hermann II. von Katzenelnbogen den ersten fürstbischöflichen Landesherren, nachdem an diesem Tag Kaiser Friedrich I. die Erwerbung der Vogteigewalt über das Stift Münster von Simon I. von Tecklenburg durch seinen Vorgänger Ludwig I. von Wippra genehmigte. Als 1197 die Stadt durch einen weiteren großen Stadtbrand komplett niederbrannte, wurde es den Handwerkern und Händlern verboten, sich wieder innerhalb der Domburg anzusiedeln. Sie siedelten sich daher auf den östlich gelegenen Märkten an und legten damit den Grundstein für den Aufstieg Münsters, wie der Name der Stadt aus Quellen des Jahres 1206 erstmals belegt wird, zu einem wichtigen Handelsplatz in Westfalen. Zeitgleich mit dem Wiederaufbau der Stadt wurde auch der Bau einer äußeren Stadtmauer um die Marktsiedlungen beschlossen, um auch die Händler vor möglichen Angreifern verteidigen zu können. Sie wurde 1278 fertiggestellt. Diese Stadtmauer war acht bis zehn Meter hoch, über 4 km lang und mit einem vorgelagerten Graben versehen. Zur Sicherung der Mauer und der zehn Stadttore existierten in deren Verlauf sechs Türme. Im 14. Jahrhundert wurde sie durch einen Außenwall und zweiten Graben zusätzlich verstärkt. Der Verlauf der Stadtmauer ist in etwa durch die Promenade gekennzeichnet. Mit 104 ha war Münster zu dieser Zeit die flächenmäßig größte Stadt Westfalens, gefolgt von den damals bedeutendsten Städten Soest (102 ha), Dortmund (81 ha), Paderborn (66 ha), Herford (58 ha) und Minden (50 ha). Osnabrück reichte erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts mit der Neustadtgründung in der Größenordnung von 102 ha an Münster heran. Gemeinsam mit den genannten Städten gehörte Münster jedenfalls zu den wichtigsten Städten der Hanse in Westfalen. Mitglied in Städtebünden und der Hanse Gegen Mitte des 13. Jahrhunderts schlossen sich die mächtigen Städte zu Städtebünden zusammen, um der Ohnmacht des Kaisers und der herrschenden Anarchie im Heiligen Römischen Reich entgegenzuwirken. Ziel war es, den freien Zugang zu den Märkten zu sichern und eine Schutzgemeinschaft gegenüber Angreifern einzurichten. So schloss sich Münster am 22. Mai 1246 mit den Städten Osnabrück, Minden, Herford und Coesfeld zum Ladbergener Städtebund sowie im Jahre 1253 mit Dortmund, Soest und Lippe zum Werner Bund zusammen. Diese Bündnisse stellten die ersten Vorläufer der Hanse in Westfalen dar und führten zu einem andauernden wirtschaftlichen Aufschwung. Münster stieg zu einer bedeutenden Handelsstadt in Westfalen auf und der Einfluss der Händler und Kaufleute auf die Stadt wuchs. Nachdem die Bürgerschaft, an deren Spitze die adeligen Erbmänner standen, sich bereits während des frühen 13. Jahrhunderts die Aufsicht über Handel und Gewerbe sowie die Akzise sicherte, stellte sie im Jahre 1270 bereits ein erstes militärisches Aufgebot der Stadt. Durch einen Vertrag mit Fürstbischof Everhard von Diest aus dem Jahre 1278 gelangte Münster in den Besitz weiterer Privilegien und erschien auf dem Landtag erstmals als Stand. Die ersten landesrechtlichen Privilegien sicherte sich die Stadt im Jahre 1309, als der damalige Fürstbischof und Landesherr Konrad I. von Berg auf sein Recht am Nachlass minderfreier Bürger verzichtete. Zeugen von diesem wirtschaftlichen und politischen Aufschwung sind der größere Neubau der bürgerlichen Marktkirche St. Lamberti ab 1375 und das gegen Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts erbaute gotische Rathaus in direkter Sichtlinie zum Dom, das die politische und rechtliche Eigenständigkeit der Stadt gegenüber dem Bischof demonstrieren sollte. Ebenfalls in diesem Jahrhundert entstand eine weitere wichtige Kirche in Münster, die 1340 erbaute Liebfrauenkirche westlich der Domburg, nachdem ihre beiden Vorgänger jeweils komplett zerstört worden waren. Da sie auf der gegenüberliegenden Seite der Aa liegt („Über den Wassern“), ist sie auch unter dem Namen Überwasserkirche bekannt. Im Jahre 1368 wurde Münster erstmals als Mitglied der Hanse in einem Privileg von Albrecht von Mecklenburg, König von Schweden, genannt. Wahrscheinlich ist jedoch, dass die Stadt bereits lange Zeit vorher in die Hanse hineingewachsen war. Als Folge der sogenannten Stiftsfehde von 1450 bis 1458 schied Münster jedoch 1454 aus der Hanse aus. Die Stiftsfehde war eine Auseinandersetzung zwischen der Stadt und dem Bistum um die Ernennung eines neuen Bischofs. Sie endete damit, dass die Gilden das Recht erlangten, Mitglieder des Stadtrates zu stellen. Gleichzeitig erhielt die Stadt die Hanserechte zurück. Ab 1494 bekam Münster den Status eines Vororts der Hanse in Westfalen und somit wieder eine große Bedeutung durch die Führung des westfälischen Hansequartiers, nachdem Köln aus der Hanse ausgeschlossen worden war. Seit der 1200-Jahr-Feier im Jahre 1993 erinnern in der Salzstraße, Münsters ältestem Handelsweg, mit Messing umrandete und in das Pflaster eingelassene Originalsteine aus allen Hansestädten mitsamt deren Stadtwappen an die Bedeutung der Stadt innerhalb der Hanse. Die Erbmänner, das Stadtpatriziat Eine Besonderheit der münsterschen Geschichte stellen die vom Volksmund sogenannten Erbmänner dar. Es handelt sich dabei um das Patriziat, den Stadtadel von Münster. Die Erbmännerfamilien entstammten zumindest teilweise, wahrscheinlich jedoch überwiegend der Ministerialität und der Ritterschaft des Bischofs. Von der restlichen Einwohnerschaft Münsters unterschieden sie sich vor allem dadurch, dass sie das alleinige passive Ratswahlrecht hatten. Die restliche Bürgerschaft war von der Regierung der Stadt ausgeschlossen. Nur Mitglieder der Erbmännerfamilien, von denen die ursprünglich edelfreie Familie der Freiherren Droste zu Hülshoff sicherlich die bekannteste ist, stellten bis zur Änderung der Stadtverfassung nach der Stiftsfehde 1458, manche auch noch bis ins 17. Jahrhundert, die Ratsherren, Bürgermeister und Stadtrichter. Sie vertraten Münster und die anderen Hansestädte des westfälischen Hansequartiers auch auf den Hansetagen. Weitere bedeutende Erbmännerfamilien waren die Bischopinck, Bock, Schenckinck, von der Tinnen, Kerckerinck, von der Wieck und andere. Nach jeder Erbmännerfamilie wurde eine Straße in Münster benannt. Die Stiftsfehde 1450 bis 1457 Zur zuvor genannten Stiftsfehde kam es nach dem Tod des münsterschen Bischofs Heinrich II. von Moers. Zur Wahl seines Nachfolgers traten im Teil des Hochstifts zwei Kandidaten an. Diese waren auf der einen Seite Walram von Moers, der von seinem Bruder und Erzbischof von Köln, Dietrich II. von Moers, bestimmt wurde und in Hausdülmen am 15. Juli die Zustimmung eines Teils der Domherren erhielt. Auf der anderen Seite standen die Grafen von Hoya, die Stadt Münster, ein großer Teil der Geistlichen und später auch ein Teil der Domherren. Nachdem bereits Graf Johann von Hoya zum Stiftsverweser gewählt worden war, sollte dessen Bruder Erich I. von Hoya der neue Bischof von Münster werden. Begünstigt wurde er unter anderem in einem von Graf Everwin von Bentheim-Steinfurt am 13. Oktober 1450 durchgeführten Vergleich. Zudem hatte der Stiftsverweser Graf Johann von Hoya die wichtigsten Landesburgen in seiner Gewalt. Letztendlich wurde ein Appell an Papst Nikolaus V. gerichtet, in dem Streitpunkt zu entscheiden. Entgegen dem zuvor geschlossenen Vergleich bestimmte er jedoch Walram von Moers zum neuen Bischof. In der Mitte des Jahres 1451 spitzte sich die Situation weiter zu, nachdem sich Johann von Hoya am 11. Juni 1451 durch den Vertrag von Hausdülmen mit Herzog Johann I. von Kleve gegen den vom Papst zum Bischof erklärten Walram von Moers und seinen Bruder, den Erzbischof von Köln, verbündete und sie ihnen am 9. Juli 1451 den Krieg erklärten. Nachdem sich zusätzlich die Stadt Münster den am selben Tag von König Friedrich III. erteilten Befehl Walram von Moers als Bischof anzuerkennen widersetzte, flammten in den darauf folgenden Monaten die Kämpfe auf und Münster sowie die Anhänger von Hoya wurden exkommuniziert und mit einem Interdikt belegt. Dennoch fiel mit Vreden auch einer der letzten Stützpunkte Walrams in die Hände von Johann von Hoya. Ab dem Jahr 1453 begann sich das Blatt zu wenden und Walram von Moers gewann langsam die Oberhand. Johann von Hoya sah sich daher gezwungen, gegen die Bürger von Münster und den Rat der Stadt vorzugehen. Dieses Vorgehen wurde vom Hansetag am 17. Oktober 1454 scharf kritisiert und Münster aus der Hanse ausgeschlossen, solange die alte Ratsverfassung der Stadt nicht wiederhergestellt werden würde. Auch kriegerisch waren Walram und Dietrich von Moers weiter auf dem Vormarsch, nachdem sie am 18. September 1454 einen Sieg gegen die Truppen der gegnerischen Partei erlangten. Allerdings konnte keine der beiden Parteien einen entscheidenden Sieg erlangen. Auch nachdem der vom Papst zum Bischof ernannte Walram von Moers am 3. Oktober 1456 starb, strebten weiterhin zwei Kandidaten nach dem Amt des Bischofs. Neben Erich von Hoya war der zweite Kandidat jetzt Konrad von Diepholz. Doch Papst Kalixt III. berief keinen von beiden zum neuen Bischof, sondern Johann von Simmern-Zweibrücken. Offiziell beendet wurde daraufhin die Stiftsfehde am 23. Oktober 1457 durch den Kranenburger Vertrag, nachdem Erich von Hoya mit einer lebenslangen Rente abgefunden wurde und die Stadt Münster den neuen Bischof anerkannte. Neuzeit von 1500 bis 1648 Zeit der Reformation Die Bürgerschaft der Stadt Münster versuchte in mehreren Anläufen, sich von der bischöflichen Obrigkeit zu emanzipieren und reichsstädtischen Status zu erlangen, insbesondere nach der durch kriegerische Auseinandersetzungen, Not und politischen Wirren geprägten Zeit gegen Ende des Mittelalters in den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts. Viele Menschen erwarteten das baldige Ende der Welt, das Jüngste Gericht sowie das Neue Jerusalem und suchten Wege zur Erlösung in der Kirche und dem Glauben. Als Martin Luther im Jahre 1517 seine 95 Thesen veröffentlichte, in denen er sich gegen die Ablasslehre und den Ablasshandel aussprach, entfachte er eine Reformationsbewegung im Heiligen Römischen Reich. Gegen Ende der 1520er-Jahre erreichte diese Bewegung Münster. Vermittlungsversuche des katholisch gesinnten Bürgermeisters Everwin II. von Droste zu Handorf waren vergeblich. Im Jahre 1529 begann der Kaplan und Prediger Bernd Rothmann in der St.-Mauritz-Kirche seine Predigten mit Elementen der reformatorischen Lehre zu halten. Nachdem er 1531 von Bildungsreisen nach Wittenberg, Marburg und Straßburg zurückgekehrt war, erhielt er vom damaligen Bischof und Gegner der Reformation, Friedrich III. von Wied, zunächst am 29. August, dann erneut am 5. Oktober sowie am 17. Dezember 1531 Predigtverbot. Am 7. Januar 1532 wurde er schließlich vom Fürstbischof von Münster des Landes verwiesen. Daraufhin wandte er sich in mehreren Briefen an den Bischof und den Rat der Stadt, dass sie doch seine Lehren öffentlich widerlegen mögen, und predigte trotz Verbotes weiter. Unter dem Eindruck der gedruckten Zusammenfassung seiner Glaubensvorstellungen wandte sich die Bürgerschaft der Stadt an die Vorsteher der münsterschen Gilden mit der Aufforderung, sich im Rat der Stadt für eine Gleichberechtigung der Glaubensrichtungen einzusetzen. Durch dieses Bekenntnis zu Rothmanns Lehren erzwang sie dessen Aufnahme in das Haus der Kramergilde, dem Krameramtshaus. Nachdem der regierungsmüde gewordene Bischof Friedrich III. von Wied nach dieser Zuspitzung abgedankt hatte und sein Nachfolger, Bischof Erich von Braunschweig-Grubenhagen, nach nur eineinhalb Monaten im Amt verstorben war, wurde Franz von Waldeck der neue Bischof von Münster, der prinzipiell der Reformation offen gegenüberstand. Allerdings musste er sich dem münsterschen Domkapitel gegenüber verpflichten, die neue Lehre zu unterdrücken und zu bekämpfen. So belegte er im Sommer des Jahres 1532 die Stadt mit wirtschaftlichen Sanktionen, nachdem der Rat der Stadt der Forderung der Bürgerschaft nachgab, geeignete Prediger für die Lehre der Reformation in allen Pfarrkirchen bereitzustellen und somit zum lutherischen Bekenntnis übergegangen war. Als diese Sanktionen jedoch keine Wirkung zeigten, gewährte er Münster am 14. Februar 1533 im „Dülmener Vertrag“ die Glaubensfreiheit. Mittlerweile hatte sich Rothmann jedoch weit von der ursprünglichen Lehre Luthers entfernt und der Theologie von Melchior Hofmann zugewandt, der als einer der Führer der Täuferbewegung galt. Zentraler Punkt dieser Theologie war die Kritik an der Kindertaufe und dem letzten Abendmahl, die am 7. und 8. August 1533 zum Disput im Rathaus führte. Nachdem im September Hermann Staprade, der Prediger der Lambertikirche, die Kindertaufe verweigerte und der Rat die Kirchen schließen ließ, kam es im November zu weiteren Unruhen. Daraufhin gab der Rat der Stadt eine Zuchtordnung aus, die jeden Bürger dazu verpflichtete, nach den in den Evangelien überlieferten Geboten Gottes zu leben. Die Kritik an der Kindertaufe und dem Abendmahl wurde unter Strafe gestellt. Noch im Dezember 1533 wurde sie gedruckt und verteilt. Das Titelblatt zierten unter anderem die Buchstaben „V. D. M. I. E.“ für Verbum Domini Manet In Eternum, den protestantischen Schlachtruf „Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit.“ Mit dieser Zuchtordnung unterstrich die Stadt ihr Bekenntnis zum lutherischen Glauben und stellte sich noch einmal deutlich gegen katholische geistliche Obrigkeit. Doch war die Bewegung der Täufer nicht mehr aufzuhalten, die sich zu Beginn des Jahres 1534 in Münster ausbreiten sollte. Episode des Täuferreichs 1534 begann die dramatische Episode der Täuferherrschaft, nachdem seit dem Januar des Jahres aus den Niederlanden Gruppen zugezogen waren, die die Erwachsenentaufe propagierten und die Errichtung des „Neuen Jerusalem“ der Endzeit anstrebten. Anführer dieser Gruppen war der ehemalige Bäcker Jan Mathys. Während die inzwischen mehrheitlich lutherische Bevölkerung der neuen Lehre offen gegenüberstand, forderte der praktisch bereits aus Münster vertriebene Bischof Franz von Waldeck von der Stadt, die Täufer auszuliefern. Diese weigerte sich jedoch und stellte sich auf die Seite der Prediger. Am 23. Januar ließ von Waldeck den Begründer der Täuferbewegung in Münster, Bernd Rothmann, verhaften und begann mit den Vorbereitungen zur Belagerung der Stadt. Einen daraufhin am 15. Februar 1534 erfolgenden „Gegenangriff“ der Täufer konnte er auf Burg Schöneflieth bei Greven abwehren. Nach dem Sieg der Täuferpartei in den Ratswahlen am 23. Februar 1534 und der damit verbundenen Machtübernahme der Täufer kam es zu Bücherverbrennungen und Bilderstürmen, wobei unter anderem die erste astronomische Uhr im Dom zerschlagen wurde. Außerdem wurde das Geld abgeschafft und wenig später im Juli die Vielehe eingeführt. Gegner der Täuferbewegung mussten bis zum 27. Februar die Stadt verlassen oder wurden zwangsgetauft. Als das von Jan Mathys prophezeite Jüngste Gericht an Ostersonntag, dem 5. April 1534, nicht stattgefunden hatte, versuchte er durch einen Ausfall aus der Stadt die Belagerer zu vernichten. Bei diesem Versuch wurde er getötet. Sein Nachfolger wurde Jan van Leiden. Das Scheitern weiterer Angriffsversuche der Belagerer sah van Leiden als göttliches Zeichen dafür an, dass Münster das „Neue Jerusalem“ war. Er ließ sich daher im September 1534 durch den Warendorfer Goldschmied Johann Dusentschuer zum König des sogenannten „Königreich Zion“ krönen, weshalb Münster sich „Königsstadt“ nennen darf. Die Lage in der belagerten Stadt spitzte sich weiter zu, so dass in der größten Hungersnot sogar die weiße Kalkfarbe von den Wänden der Kirchen abgekratzt und, mit Wasser verdünnt, als Milch verteilt worden sein soll. Trotz der starken Stadtbefestigung, die Münster den Ruf der Uneinnehmbarkeit eingetragen hatte, und massiver Gegenwehr fiel die ausgehungerte und in chaotische Zustände geratene Stadt am 24. Juni 1535 schließlich doch – durch den Verrat des Schreiners Heinrich Gresbeck, der mit einigen Landsknechten das „Kreuztor“ in der Stadtmauer öffnete. Daraufhin kam es zu einem Blutbad unter den Täufern. Am 22. Januar 1536 wurden die drei Führer der Täufer, Jan van Leiden, sein Statthalter Bernd Krechting und Ratsmitglied Bernd Knipperdolling, öffentlich vor dem Rathaus gefoltert und hingerichtet. Um ein dauerndes und weithin sichtbares Zeichen zu setzen, wurden ihre Leichen in drei eisernen Körben an der Lambertikirche aufgehängt, deren Originale dort noch immer hängen. Fälschlicherweise werden diese oft auch als Käfige bezeichnet. Gründe hierfür sind vor allem Berichte von auswärtigen Autoren und Besuchern, die ab dem Ende des 18. Jahrhunderts mit negativ besetzten Begriffen über die Herrschaft der als „Wiedertäufer“ diskreditierten Täufer berichteten, sowie Übersetzungsfehler lateinischer Handschriften über das Täuferreich. Folgen der Täuferherrschaft, Blüte der Bürgerstadt und Gegenreformation Als Folge der Täuferherrschaft ließ Bischof Franz von Waldeck den evangelischen Gottesdienst unterdrücken und entzog Münster sämtliche Rechte, darunter unter anderem die freie Ratswahl, Gerichtsbarkeit, Militärhoheit, Aufsicht über die Stadtverteidigung, Gesetzgebung und Steuererhebung. Die Mitglieder des Rates wurden fortan von ihm selbst bestimmt. Dies änderte sich jedoch 1541, als der Bischof auf die Unterstützung der Stadt angewiesen war. Zum Dank erstattete er ihr einige Rechte und Privilegien zurück, bevor im Jahre 1553 schließlich auch das Recht auf die freie Ratswahl und die Bildung von Gilden folgten. Damit lag die Kontrolle der beiden einflussreichsten Gremien wieder in der Hand der Bürger: Der Rat der Stadt verstand sich als Stadtregierung und hatte maßgeblichen Einfluss auf die Politik ihres fürstbischöflichen Landesherren. Den Gilden wiederum kam in vielen Fragen und Entscheidungen des Rates ein Mitbestimmungsrecht zu, darunter bei der Steuererhebung und der Stadtverteidigung. Zudem sorgten sie mit der 1557 wiedereingeführten „Großen Schützenbrüderschaft“ auch für die Ausbildung des Aufgebots an Bürgern, die zur Verteidigung der Stadt beitrugen. Nachdem die Bevölkerung während der Herrschaft der Täufer von 10.000 bis 12.000 Einwohnern auf 3000 bis 4000 zurückgegangen war, erreichte sie innerhalb von nur 60 Jahren wieder ihren alten Stand. Gleichzeitig stieg der Wohlstand in Münster, das gegen Ende des 16. Jahrhunderts seine Blütezeit als Bürgerstadt erlebte. Maßgeblichen Einfluss auf diese Entwicklung hatten die vielen Kirchen, Klöster und anderen kirchlichen Einrichtungen, die mit ihren wohlhabenden Geistlichen eine große Zahl an Abnehmern von Lebensmitteln, Textilien und Luxusgütern stellten. Aber auch die Verwaltungs- und Gerichtsreformen zwischen 1571 und 1574 durch Bischof Johann II. von Hoya und die in deren Zuge neu errichteten Behörden mit ihren wohlhabenden Beamten trugen sehr zur wirtschaftlichen Blüte Münsters bei. Der Wohlstand spiegelte sich im Bild der Stadt wider. Neben der Prägung von Gold- und Silbermünzen wurden zahlreiche Armenhäuser, Klöster, sowie stattliche öffentliche und private Gebäude gestiftet. Zum Schutz des Wohlstandes wurde die bereits gut ausgebaute Stadtbefestigung weiter verstärkt, was sich als bedeutender Vorteil erweisen sollte, als im Jahre 1618 der Dreißigjährige Krieg in Europa ausbrach. Das enorm gesteigerte Selbstbewusstsein der Stadt zeigt ein Rechtsstreit, den Bürgermeister Bernhard II. von Droste zu Hülshoff 1616 beim Reichskammergericht gegen den Fürstbischof und Landesherrn anstrengte. Immerhin erreichte er – mithilfe einer großen Bürgerversammlung und der Entsendung einer städtischen Delegation zum Reichshofrat nach Prag –, dass Kaiser Rudolf II. sein Einschreiten bis mindestens 1620 aufschob. Während die weltliche Entwicklung klar in eine Richtung ging, war dies bei der religiösen für lange Zeit nicht ersichtlich. Unter dem Eindruck der noch frischen Erinnerungen an das Täuferreich wollten weder die Bischöfe noch die Landesstände einen erneuten Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten heraufbeschwören. Nach dem Konzil von Trient setzten in Münster ab 1566 durch den Einfluss des Domdechanten Gottfried von Raesfeld Reformen ein, und von 1571 an fanden kirchliche Visitationen unter Mitwirkung des bischöflichen Offizials Everwin von Droste zu Hülshoff statt. Aber erst mit der Wahl des Kölner Erzbischofs Ernst von Bayern zum Bischof von Münster im Jahre 1585 gewann die katholische Glaubensrichtung wieder die Oberhand. Gegen den Willen des Stadtrates setzte der neue Bischof 1588 die Gründung einer Niederlassung des Jesuitenordens durch und konnte sogar das Paulinum, die traditionsreiche Domschule, übernehmen. Die Hauptaufgabe des Ordens in der Zeit des 16. Jahrhunderts lag vor allem in der systematischen Glaubensunterweisung oder Katechese in den Pfarren und im Predigen, um die so genannte „Gegenreformation“ der katholischen Kirche mit den nach dem Konzil von Trient erneuerten Glaubensvorstellungen vorzubereiten und voranzutreiben. Neben der Unterweisung in der Kirche erfolgte sie auch in Schulen und Universitäten, so wie in Münster in der durch die Jesuiten gegründeten St.-Petri-Kirche und dem Jesuitenkolleg. Insbesondere die Übernahme des Paulinums war in dieser Hinsicht sehr von Vorteil für die Anhänger der Gegenreformation, denn durch die 1150 Schüler, die es im Jahre 1592 zählte, die immerhin gut ein Zehntel der Gesamtbevölkerung ausmachten, sollte Münster innerhalb von nur einer Generation wieder zu einer rein katholischen Stadt werden. Unterstützend wirkten sich zudem die zwischen 1612 und 1624 gegründete Klöster der Kapuziner, Klarissen und Observanten aus. Die letzten verbliebenen Protestanten wurden endgültig unter Fürstbischof Ferdinand von Bayern und auf Befehl des Stadtrates im Jahre 1628 aus der Stadt verwiesen. Westfälischer Friede Münster spielte eine wichtige Rolle im Dreißigjährigen Krieg. Zwar wurde die Stadt zweimal von den Hessen in den Jahren 1633 und 1634 belagert, durch den weiter vorangetriebenen Ausbau der Stadtbefestigung gegen Ende des vorangegangenen Jahrhunderts blieben Münster jedoch die Eroberung und Plünderung sowie die Zerstörung durch feindliche Truppen erspart. Ansonsten blieben Münster und das Münsterland bis auf die Anfangsjahre ein unbedeutender Nebenschauplatz, insbesondere nachdem der protestantische Feldherr Herzog Christian von Braunschweig am 6. August 1623 in der Nähe von Stadtlohn durch das kaiserliche Heer von Graf von Tilly vernichtend geschlagen worden war. Dies sind vermutlich auch die Gründe, warum genau hier der Westfälische Friede geschlossen wurde, der in Münster und Osnabrück ausgehandelt wurde und die längste Kriegsperiode in Europa beendete. In Osnabrück tagten die Gesandten der evangelischen Kriegsparteien, da es im Einflussbereich Schwedens lag. Dagegen verhandelten in Münster die katholischen Gesandten. Der Vorschlag, Münster als Kongressstadt für die Verhandlungen zu nutzen, kam von den Schweden im Jahre 1641. Der hierfür notwendigen Neutralität der Stadt stimmte der Kaiser Ferdinand III. am 25. Dezember 1641 im Hamburger Präliminarvertrag zu. Nachdem die Stadt und deren Bürger offiziell hierzu gefragt worden waren und dem Vorschlag zugestimmt hatten, entband Reichshofrat Johann Krane am 27. Mai 1643 Münster von den Verpflichtungen gegenüber Reich und Landesherren. Sie wurde damit für die Zeit des Kongresses zu einer neutralen Stadt. Die Verhandlungen fanden abwechselnd in den Quartieren der beteiligten Gesandten statt. Am 30. Januar 1648 konnte der spanisch-niederländische Friedensvertrag im Quartier der Niederländer, dem heutigen Haus der Niederlande, unterzeichnet werden. Am 15. Mai 1648 wurde dieser Vertrag in einer feierlichen Zeremonie beschworen. Der spanische Gesandte Graf Peñaranda hatte sich zu diesem Anlass die Ratskammer im Erdgeschoss des Rathauses der Stadt erbeten, die später Friedenssaal genannt wurde. Der Friede von Münster beendete den Achtzigjährigen Krieg der Niederländer um ihre Unabhängigkeit von den Spaniern und kann als Geburtsstunde der Niederlande gesehen werden. Die Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück zwischen dem Kaiser, den Reichsständen, den Schweden und den Franzosen zogen sich noch bis zum Herbst hin. Am 24. Oktober 1648 wurden schließlich in Münster die Friedensverträge unterschrieben und am 18. Februar 1649 die Ratifikationsurkunden ausgetauscht. Damit war der Dreißigjährige Krieg endgültig beendet und der Westfälische Friede geschlossen. Die historische Inneneinrichtung des Friedenssaals ist auch heute noch zu bewundern, da sie vor der fast vollständigen Zerstörung des Rathauses und des Prinzipalmarkts während des Zweiten Weltkriegs ausgelagert worden war. Einzig der Kamin entspricht nicht mehr dem Original. Neuzeit von 1648 bis 1815 Stadt gegen Fürstbischof Zur Zeit des Westfälischen Friedens hatte Münster den Höhepunkt seiner städtischen Unabhängigkeit erreicht und die Stadt war sehr bemüht, diese Unabhängigkeit zu behalten und weiter auszubauen: Am 11. September 1647 richtete die Stadt Münster ein offizielles Schreiben an Kaiser Ferdinand III. mit der Bitte, ihr weitergehende Rechte zu verleihen. Diese sollten unter anderem das Münzrecht und das Besatzungsrecht enthalten. Durch die Gewährung dieser eigentlichen Landesherrenrechte wäre Münster faktisch in den Stand einer Freien Reichsstadt erhoben worden. Ein Konflikt mit dem fürstbischöflichen Landesherrn war unausweichlich. Seit dem Jahre 1650 war dies Christoph Bernhard von Galen, später auch als Kanonenbischof bekannt. Zur ersten Konfrontation zwischen der Stadt und dem Fürstbischof kam es im Jahre 1654. Der Versuch von Galens, seinen Kontrahenten Bernhard von Mallinckrodt bei der Bischofswahl 1650 verhaften zu lassen, scheiterte, als der Rat der Stadt ihm die Unterstützung verweigerte. Der anschließende Versuch, Münster in einem militärischen Handstreich einzunehmen, scheiterte ebenso und führte am 25. Februar 1655 zum Vertrag von Schöneflieth, benannt nach der Burg Schöneflieth am südlichen Ufer der Ems in Greven, wo der Vertrag geschlossen wurde. Dieser Vertrag war im Wesentlichen ein Kompromiss zwischen dem Fürstbischof und der Stadt Münster und gestattete es von Galen, 450 Infanteriesoldaten und 100 Reiter innerhalb der Stadt zu stationieren. Diese mussten jedoch auch auf die Stadt vereidigt werden, so dass von ihnen letztendlich keine Gefahr ausging. Aufgrund weiterhin anhaltender Spannungen zwischen der Stadt und Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen suchte Münster nach Verbündeten. Stadtsyndicus Nikolaus Drachter reiste zu diesem Zweck zu Verhandlungen in die Niederlande. Bei seiner Rückkehr am 9. August 1657 ließ von Galen ihn verhaften. Die Stadt verwehrte dem Bischof daraufhin den Zugang und forderte die sofortige Freilassung von Drachter. Als Reaktion belagerte am 20. August 1657 der Fürstbischof die Stadt das erste Mal und setzte hierbei vor allem auf den Beschuss mit Artillerie. Seine Aufforderung zur Kapitulation am 6. September wurde zurückgewiesen. Auf das Gerücht, ein holländisches Heer eile der Stadt Münster zu Hilfe, brach von Galen die Belagerung ab. Das Ende der Belagerung durch den Geister Vertrag vom 21. Oktober 1657 stellte für ihn faktisch eine Niederlage dar. Sieg des Fürstbischofs und Zitadellenbau Eine Wende brachte der Winter 1659/60, als der Kaiser Münsters Wunsch auf das Besatzungsrecht ablehnte und gleichzeitig untersagte, nach Verbündeten im Ausland zu suchen. Fürstbischof von Galen nutzte diese Entwicklung und begann am 20. Juli 1660 mit der zweiten Belagerung von Münster. Da keine Unterstützung für die Stadt in Sicht war, litt sie bald unter Finanznot und Lebensmittelknappheit. Auch das Einschmelzen des Tafelsilbers, die Aufnahme von Krediten bei den Bürgern und das Prägen von Notgeld konnten die Lage nicht verbessern. Die Situation spitzte sich zu, als von Galen zur Weihnachtszeit des Jahres 1660 die Aa unterhalb der Stadt aufstauen ließ und es innerhalb der Stadt zu Überschwemmungen kam. Aufgrund der hoffnungslosen Situation und mangels Aussicht auf Unterstützung von außerhalb übergab der Rat der Stadt dem Fürstbischof am 26. März 1661 die Stadt. Der Rat musste eine Erklärung unterschreiben, die faktisch das Ende der städtischen Autonomie bedeutete: Die Stadt verpflichtete sich, keine Kontakte zu ausländischen Mächten mehr aufzunehmen und die Kontakte zu den Niederlanden abzubrechen. Neben der Beteiligung an den Steuereinnahmen hatte Münster zudem die Summe von 45.000 Reichstalern an den Fürstbischof zu entrichten. Weitere Folge des Konflikts war die Abtragung der westlichen Stadtmauer und die Ergänzung um eine Zitadelle in diesem Bereich durch den Bischof, der so seinen Machtanspruch gegenüber der Stadt durchsetzte. Seine innerstädtische Residenz nahm er jetzt im Fraterhaus zum Springborn. Als offene Provokation der Bürger richtete er zudem im Rathaus ein bischöfliches Wachlokal ein und umgab den Vorplatz des Gebäudes mit einem Palisadenzaun. Die Bürger verloren nahezu alle Selbstverwaltungsrechte, als auch die freie Ratswahl abgeschafft und die Ratspositionen durch den Fürstbischof vergeben wurden. Sogar die Gilden ließ von Galen entmachten. Erst während der Zeit des Fürstbischofs Ferdinand von Fürstenberg in den Jahren von 1678 bis 1683 wurden Münster die Selbstverwaltungsrechte teilweise zurückgegeben. Siebenjähriger Krieg und die Reformen Fürstenbergs Im Siebenjährigen Krieg war Münster als Unterstützer von Kaiserin Maria Theresia, der Erzherzogin von Österreich und Königin von Ungarn und Böhmen, wiederholt Kriegsschauplatz. Die Stadt wurde mehrfach von den alliierten Kriegsparteien Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg/Königreich Großbritannien und Preußen sowie dem mit der Kaiserin verbündeten Frankreich mehrfach belagert und auch erobert. Den größten Schaden erlitt sie dabei während der Belagerung durch die Hannoveraner im Jahr 1759, als durch schweres Bombardement am 3. September das „Martiniviertel“ vollständig zerstört wurde. Unter dem kurhannoverschen Kommandanten Christian von Zastrow wiederum explodierte der Pulverturm der Zitadelle. Im Jahr 1759 endete dann auch die selbstständige Prägung von Kupferkleingeld der Stadt. Angesichts der schweren Zerstörungen während des Krieges ordnete Franz Freiherr von Fürstenberg, Minister für das Hochstift Münster unter Fürstbischof Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels, nach dem Ende des Krieges im Jahr 1764 die Schleifung der Befestigungsanlagen an. Münster sollte somit eine offene Stadt sein und damit weiteren Zerstörungen und Verwüstungen entgehen. Auf Wunsch der Münsteraner Bevölkerung genehmigte der Fürstbischof im Jahre 1767 den Bau eines fürstbischöflichen Residenzschlosses am Ort der abgetragenen Zitadelle, dessen Bauarbeiten sich bis ins Jahr 1787 hinzogen. Erbaut wurde es durch Johann Conrad Schlaun. Nach dessen Tod im Jahre 1773 führte Wilhelm Ferdinand Lipper die Arbeiten zu Ende. Schlaun war es auch, der die ehemaligen Befestigungen der Stadt nach deren Schleifung im Jahre 1770 in die Promenade umwandelte. Ebenfalls in fürstbischöflicher Verantwortung wurde 1773 die Entscheidung gefällt, eine Landesuniversität zu schaffen, die in diesem Jahr bereits ihren Lehrbetrieb aufnahm, aber erst am 16. April 1780 feierlich eröffnet wurde. Aus der sich später die Westfälische Wilhelms-Universität entwickelte. Maßgeblichen Anteil daran hatte Franz Freiherr von Fürstenberg, der Generalvikar und ständige Vertreter des Erzbischofs von Köln und Bischofs von Münster, Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels. Weiterhin war er maßgeblich an der Entwicklung des Steuersystems sowie des Rechts- und Gesundheitswesens beteiligt. Als wichtigster Repräsentant der katholischen Aufklärung im Hochstift brachte er mit dem Geistlichen Bernhard Heinrich Overberg weithin beachtete Schulreformen auf den Weg und wurde so zum Mittelpunkt des Münsterschen Kreises. Von Wilhelm Ferdinand Lipper stammte auch das Komödienhaus, Münsters erstes Theater. Eröffnet wurde es 1775 am Roggenmarkt, finanziert von der münsterschen Bürgerschaft. Ein bekannter Künstler war Albert Lortzing, der hier in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts auftreten sollte und nach dem der spätere Theaterneubau benannt werden sollte. Nach dem Abriss des Theaters 1890 und der Zerstörung der Inneneinrichtung des Schlosses im Zweiten Weltkrieg existieren von Lipper in Münster nur noch die beiden sogenannten „Torhäuschen am Neutor“ im frühklassizistischen Stil am nördlichen Ende des Schlossplatzes. Ende des 18. Jahrhunderts wirkte sich die Französische Revolution auch auf das Hochstift Münster aus. Mehrere tausend französische Emigranten suchten hier Zuflucht, darunter sehr viele katholische Geistliche. Allein in der Stadt Münster zählte man 1794 mehr als tausend Flüchtlinge. Dank des am 5. April 1795 geschlossenen preußisch-französischen Friedens von Basel, in dem der norddeutsche Raum für neutral erklärt wurde, wirkten sich die Revolutionskriege zunächst nicht unmittelbar auf Münster aus. Münster unter der Herrschaft Preußens In einem Vertrag vom 23. Mai 1802 einigten sich Preußen und Frankreich, wie Preußen für die in den französischen Revolutionskriegen abgetretenen linksrheinischen Gebiete entschädigt werden sollte. Dazu wurde Preußen in Westfalen, neben dem Hochstift Paderborn und den Abteien Essen, Werden und Herford auch die östliche Hälfte des Oberstifts Münster einschließlich der Hauptstadt Münster zugesprochen. Der Immerwährende Reichstag und der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation mussten diesem Vertrag zustimmen. Preußen wartete jedoch diese Zustimmung nicht ab. Ein Jahr nach dem Tode des letzten Fürstbischofs von Münster, Maximilian Franz von Österreich, rückte am 3. August 1802, dem 32. Geburtstag des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III., General Gebhard Leberecht von Blücher mit seinem Husarenregiment und drei Bataillonen Füsiliere in Münster ein. Erst im Anschluss wurde diese Besetzung durch den Reichsdeputationshauptschluss am 25. Februar 1803 legitimiert. Das Hochstift Münster wurde aufgelöst, und der östliche Teil, und damit auch die Stadt Münster, kam als Erbfürstentum Münster an Preußen. Freiherr vom Stein war für die Säkularisation zuständig und begann eine Verwaltung nach preußischem Vorbild in der Stadt zu errichten. Im Jahre 1806 zogen die französischen Truppen von Napoleon Bonaparte in Münster ein. Am 14. November 1808 wurde die Stadt zunächst dem Département Ems des Großherzogtums Berg zugeteilt. Am 27. April 1811 wurde sie von Berg an Frankreich abgetreten. Hierbei wurde sie Hauptstadt des zu diesem Zeitpunkt neu gebildeten Département Lippe. Münster wurde Sitz einer Mairie, die die Stadt und die benachbarten Gemeinden verwaltete. Im Jahre 1813 vertrieben preußische und russische Truppen im Rahmen der Befreiungskriege die Franzosen aus Münster. Nach dem Wiener Kongress 1814/1815 wurde Münster endgültig dem Königreich Preußen zugeteilt. Aus der Mairie wurde die „Bürgermeisterei Münster“. Münster wurde Sitz des Kreises Münster, die Stadt selbst blieb aber so genannte „Immediatstadt“ und gehörte damit nicht zum Kreis. Neuzeit 1815 bis 1914 Oberpräsident von Vincke in der neuen Provinz Westfalen Im Zuge der Neustrukturierung der preußischen Verwaltung nach dem Wiener Kongress wurde Westfalen neu begründet und als neue Provinz in die Monarchie eingegliedert. Seit 1. April 1816 war Münster Provinzialhauptstadt dieser Provinz Westfalen, zugleich Verwaltungssitz des Regierungsbezirks Münster, und es wurde Sitz des Generalkommandos des VII. Armee-Korps. Schon 1804 war Ludwig Freiherr von Vincke zum Präsidenten der Kriegs- und Domänenkammer in Münster und Hamm ernannt worden, da deren bisheriger Präsident Freiherr vom Stein als Minister nach Berlin berufen wurde. Vincke trat die Nachfolge von Steins an und bekleidete dieses Amt bis 1806. Nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon I. floh er nach England, wo er das dortige Verwaltungssystem des „Selfgovernments“ kennenlernte. Bei seiner Rückkehr 1807 schloss er sich dem Reformerkreis um Freiherr vom Stein an. Bis zur Entlassung von Steins im November 1808 wurden unter der Mitwirkung Vinckes als entscheidende Reformen die Aufhebung der Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit, eine neue Gewerbeordnung und die kommunale Selbstverwaltung der Städte durchgesetzt. Nach Steins Rücktritt wurde Vincke 1809 kurmärkischer Kammerpräsident in Potsdam, zog sich aber 1810 auf seine privaten Güter zurück. Erst 1813 nach Niederlage der Franzosen in der Völkerschlacht bei Leipzig wurde er im Rahmen der Bildung der Zentralverwaltungsdepartemente Gouverneur des Zivilgouvernements zwischen Weser und Rhein. Auf dem Wiener Kongress wurde die Neuordnung Europas beschlossen, die zur Gründung der neuen preußischen Provinz Westfalen führte. Über den Regierungspräsidenten der drei zugehörigen Regierungsbezirke stand jetzt der Oberpräsident der Provinz. Dieses Amt übernahm Vincke für fast drei Jahrzehnte. Mehrfach schlug er sogar Ministerposten in Berlin aus. Vincke schaffte es, die über zwanzig verschiedenen Einzelstaaten zwischen „Weser und Rhein“ zu einem Staatsgebilde Westfalen zu einen. Er förderte die Industrialisierung, brachte den Infrastrukturausbau beispielsweise durch die Schiffbarmachung der Lippe voran und setzte sich für ein starkes Bauerntum ein. Provinzhauptstadt Münster Die 1815 festgelegten Grenzen Westfalens haben bis auf geringe Abweichungen Bestand bis heute. Münster bildete zu jener Zeit aufgrund der Industrialisierung an der Ruhr den Mittelpunkt einer der wichtigsten preußischen Provinzen. Die Chancen, die sich daraus ergaben, erkannte man damals noch nicht. Es schmerzten nämlich die Veränderungen, die mit der preußischen Herrschaftsübernahme alltäglich wurden: Verwaltungsbeamte überwachten die Einhaltung neuer Gesetze, Richter sprachen schärferes Recht und die Bürger bekamen deutlich höhere Steuern zu spüren. Die jüngere Generation musste zum Militär einrücken. Es dauerte bei den katholischen Münsteranern noch Jahrzehnte, bis sie erkannten, dass der gesellschaftliche Status der Armee auch ihren Berufsweg fördern konnte. Mit der definitiven Stationierung des VII. Armeekorps im Jahre 1820 nahm Münster sogleich eine bedeutende Stellung unter den preußischen Garnisonsstädten ein. In Friedenszeiten umfasste die Garnison 2000 Offiziere und Mannschaften. Nach der Heeresreform von 1860 waren es dann über 3000, 1871 betrug der Anteil des Militärs an der Bevölkerung fast 12 Prozent. Die ersten Kasernen wurden in der Innenstadt 1821 und 1831 erbaut, erst nach 1875 begann der damals am Rande der Stadt gelegenen Kasernenneubau (Train-Kaserne, Artillerie-Kaserne und Kavallerie-Kaserne). Neben neuen Verwaltungsbehörden wurde auch eines der wichtigsten Gerichte Westfalens angesiedelt, das Oberlandesgericht. Es hatte seit 1839 seinen Sitz in der Lansbergschen Kurie. 1849 wurde es in ein Appellationsgericht umgewandelt. 1880 zog das Landgericht Münster in den Neubau am heutigen Schlossplatz ein, der ursprünglich für das Appellationsgericht bestimmt war. Im Hochschulbereich gab es einen Rückschritt, denn die 1773 aus der Taufe gehobene „Alma Mater“ wurde nach Schließung der juristischen und medizinischen Fakultät in eine höhere Lehranstalt – seit 1832 Akademische Lehranstalt genannt – für katholische Theologen und Gymnasiallehrer zurückgestuft. Münster blieb von der allgemeinen Hochschulbildung fortan weitgehend ausgeschlossen. Erst 1902 erlangte Münster mit Gründung der juristischen Fakultät wieder den Status einer Universität. 1914 erfolgte die Gründung der Evangelisch-Theologischen Fakultät. Mit tatkräftiger Unterstützung durch den Lenker der preußischen Hochschulpolitik, Friedrich Althoff, hatte die reich gewordene Provinz als letzte Preußens eine Universität erhalten, die 1907 den Namen Westfälische Wilhelms-Universität bekam. Es war schwierig, die überwiegend katholische Provinz in das überwiegend protestantisch geprägte Preußen einzugliedern, das zeigte sich besonders 1837, als der Kölner Erzbischof Clemens August Freiherr Droste zu Vischering, der 1827–1835 Weihbischof in Münster gewesen war, verhaftet wurde. Dieser war zusammen mit seinem Bruder Caspar Max (Bischof in Münster von 1826–1846) führend im Widerstand gegen Preußen. Es ging um die Mischehenfrage, in der sich der Bischof nach dem Papst richtete, während der preußische Staat das staatliche Recht durchsetzen wollte. Die Internierung des Bischofs auf der Festung Minden löste in Münster und in den katholischen Gebieten Westfalens und des Rheinlands einen Sturm der Entrüstung aus. Das langsam gewachsene Vertrauen der Katholiken zum preußischen Staat war wieder verloren. Im Kulturkampf der 1870er Jahre erinnerte man sich wieder an diese Affäre, das sogenannte „Kölner Ereignis“. Eisenbahnen und Eisenbahnknoten Am 25. Mai 1848 begann in Münster das Zeitalter der Eisenbahn mit der Eröffnung der Bahnstrecke Münster–Hamm durch die „Münster-Hammer Eisenbahngesellschaft“ mit Anschluss an die Cöln-Mindener Eisenbahn. Acht Jahre später (1856) wurde die Bahnstrecke Münster–Rheine mit Anschluss an die Hannoversche Westbahn in Betrieb genommen sowie im Jahre 1872 die Strecke von Wanne-Eickel über Münster nach Hamburg durch die „Cöln-Mindener Eisenbahngesellschaft“. Am 1. Oktober 1890 wurde der Zentralbahnhof eröffnet. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die zwei Eisenbahngesellschaften jeweils ihren eigenen Bahnhof. Das Bahnhofsgebäude sollte bis zum Zweiten Weltkrieg Bestand haben, als es durch alliierte Bombenangriffe vollständig zerstört wurde. Nach der Verstaatlichung der nominell privaten Eisenbahngesellschaften in den Preußischen Staatseisenbahnen waren ab 1881 alle Eisenbahnen in Münster in staatlicher Hand zusammengefasst. Bereits im Jahre 1875 waren Teile der Landgemeinden Lamberti und Sankt Mauritz eingemeindet worden, die Planungshoheit für das Bahnhofsumfeld befand sich nun in der Hand der Stadt Münster. 1885 wurden die finanziellen Mittel für den Bau eines Zentralbahnhof bereitgestellt. Die Eröffnung des Zentralbahnhofs erfolgte am 1. Oktober 1890. Der Zentralbahnhof Münster entwickelte sich immer mehr zu einem Knotenbahnhof, das Schienennetz wurde 1903 nach Neubeckum und 1908 über Coesfeld nach Empel-Rees erweitert. Allerdings erreichte der Bahnhof nicht die von der Stadt angestrebte Bedeutung, vor allem weil die Hauptstrecke Köln–Ruhrgebiet–Hannover–Berlin nicht über Münster führte. Kulturkampf Als Ende 1871 der sogenannte Kulturkampf anfing, hinterließ der Konflikt in Preußen nirgends so tiefe Spuren wie in Münster, dem sogenannten „Rom des Nordens“. Er wurde in Münster besonders heftig geführt, denn es war ein Kampf zwischen der Bewahrung der katholischen Tradition und der Anpassung an die vom protestantischen preußischen Staat repräsentierte Moderne. Er traf auf eine Stadt, in der 90 Prozent der Bevölkerung sich zum Katholizismus bekannte, und auf eine Gesellschaft, in der die Kirche noch einen erheblichen Einfluss ausübte. Und die Kirche fühlte sich in ihrer Eigenständigkeit und Entscheidungsfreiheit bedroht. Folgende Maßnahmen wurden in Preußen getroffen: Juli 1871: Bismarck löst die katholische Abteilung im preußischen Kultusministerium auf. März 1872: Die geistliche Schulaufsicht wird in Preußen durch eine staatliche ersetzt (Schulaufsichtsgesetz). Maigesetze 1873: Der Staat kontrolliert Ausbildung und Einstellung der Geistlichen, gewählte Gemeindevertretungen verwalten das kirchliche Vermögen. Januar 1874: Vor dem Gesetz ist nur noch die Eheschließung des Standesamtes gültig (Zivilehe), nicht mehr die kirchliche. Wer kirchlich heiraten wollte, durfte dies erst nach der standesamtlichen Trauung. April 1875: Das „Brotkorbgesetz“ entzieht der Kirche die staatlichen Zuwendungen. Juni 1875: Das „Klostergesetz“ löst die Klostergenossenschaften in Preußen auf, mit Ausnahme derjenigen, die sich auf die Krankenpflege beschränkten. Dabei kam es in der Folge zu aufruhrähnlichen Zuständen unter der münsterschen Bevölkerung und im Jahre 1875 zur Verhaftung des Bischofs Johannes Bernhard Brinkmann. Er konnte später in die Niederlande flüchten. 1884 kehrte er aus dem Exil dort in die Stadt zurück, von der Bevölkerung triumphal begrüßt. Eingemeindungen 1875 Die erste Eingemeindung von Landgemeinden in die Stadt Münster fand am 1. Januar 1875 statt; Teile der umliegenden Gemeinden Lamberti, Sankt Mauritz und Überwasser kamen zu Münster. Das Stadtgebiet wuchs dadurch von 1,92 km² auf 10,84 km², die Einwohnerzahl stieg um 8963 Einwohner. Ein weiteres wichtiges Ereignis war im gleichen Jahr die Eröffnung des ersten Zoologischen Gartens zu Münster. Bis zu seiner Schließung im Jahre 1973 und dem Umzug an den Aasee 1974 befand er sich im Bereich des sogenannten „Himmelreichs“ in der Nähe des ehemaligen „Neuwerks“ im Südwesten der Stadt. Erster Vorsitzender des Zoovereins und Zoodirektor wurde Hermann Landois, dessen Wohnhaus, die „Tuckesburg“, noch immer auf dem Gelände des ehemaligen Zoos bewundert werden kann. Nach Landois' Plänen wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Aasee geschaffen. Das Zeitalter der Industrialisierung sorgte auch in Münster für einen starken Anstieg der Bevölkerung in der Stadt. Allerdings blieb das wirtschaftliche Leben noch recht lange von Handwerk und Einzelhandel geprägt. Einige kleinere Fabriken fielen kaum ins Gewicht. Der Arbeiteranteil war in Münster recht gering, erst der Bau des Dortmund–Ems–Kanals brachte eine Wende zu größeren Betrieben mit entsprechend größerer Arbeiterschaft. So betrug im Jahr 1885 die Einwohnerzahl 44.060 Einwohner, darunter 36.751 Katholiken, 6784 Evangelische und 513 Juden. 1887 wurde aus der bisherigen Immediatstadt eine kreisfreie Stadt. Münster blieb jedoch weiterhin Sitz des Kreises Münster, dessen Zuschnitt in den folgenden Jahrzehnten noch mehrmals verändert wurde. Durch die Zunahme der Bevölkerung kam es zudem zu Engpässen auf den bisherigen drei innerstädtischen Friedhöfen „Kirchhof vor dem Neuthore“, „Kirchhof vor dem Hörsterthore“ und „Kirchhof vor dem Aegidiithore“. Nach mehrjähriger Planung konnte im Jahre 1887 der Zentralfriedhof – zu jener Zeit noch unter dem Namen „Central-Kirchhof“ – eröffnet werden. Um den Bewohnern der Stadt auch weiterhin Theatervorstellungen bieten zu können, wurde das 115 Jahre alte, baufällige Komödienhaus am Roggenmarkt 1885 durch den großzügigen Umbau des „Rombergschen Hofs“ an der Neubrückenstraße ersetzt. 1890 wurde der alte Bau abgerissen. Das neue Haus bekam den Namen Lortzing-Theater, benannt nach dem berühmten Künstler Albert Lortzing. Die Eröffnung fand am 30. November 1895 statt. Aufgrund der vollständigen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und der Entscheidung gegen einen originalgetreuen Wiederaufbau sind jedoch nur noch Teile der Ruine vorhanden, die in den Neubau zwischen 1952 und 1956 integriert wurden. Dieser Neubau wurde der erste Theaterneubau in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Werdende Großstadt 1899 erhielt Münster einen Hafen am neuen Dortmund-Ems-Kanal. Aufgrund der relativen Nähe zwischen Bahnhof und Hafen und der daraus resultierenden guten Verkehrsanbindung kam es in diesem Gebiet zur Ansiedlung von Industriebetrieben. Ein Novum des Jahres 1899 war auch die erste „Kläranlage“ der Stadt. Die Abwässer wurden ab diesem Zeitpunkt nicht mehr in die Aa, sondern auf dem Gebiet der Rieselfelder verrieselt. Aber auch der innerstädtische Verkehr erfuhr eine revolutionäre Entwicklung: Mit der Gründung der Stadtwerke Münster im Jahre 1901 wurden auch die ersten drei Straßenbahnlinien eröffnet, die die Pferdewagen ablösten. Sie fuhren anfänglich im Sechs-Minuten-Takt mit einer Höchstgeschwindigkeit von 15 km/h auf einem Streckennetz von insgesamt acht Kilometern Länge. Die für den Betrieb der Straßenbahn notwendige Elektrizität wurde durch das in demselben Jahr eröffnete und damit erste Elektrizitätswerk der Stadt erzeugt. Im Jahre 1900 wurde das Schillergymnasium eingeweiht. Es war das erste staatliche evangelische Gymnasium für Jungen in Münster. Kurz darauf stiftete im Jahre 1902 Kaiser Wilhelm II. der Stadt Münster wieder eine Universität. 1907 wurde sie ihm zu Ehren in Westfälische Wilhelms-Universität umbenannt, als er am 22. August Münster besuchte. Im Jahre 1908 war es Frauen zum ersten Mal erlaubt, dort ihr Studium aufzunehmen. Im Jahre 1903 vergrößerte Münster sein Stadtgebiet durch die Eingemeindung der übrigen Teile der bis dahin weiterhin selbstständigen Gemeinden Lamberti und Überwasser sowie weiteren Teilen von St. Mauritz. Das Stadtgebiet vergrößerte sich dadurch auf 65,9 km². 1915 wuchs die Einwohnerzahl von Münster auf über 100.000 Einwohner. Dies war eine Vervierfachung der Einwohnerzahl seit 1870 und Münster wurde zu einer Großstadt. Bereits nach der Eingemeindung von 1903 erschien die bis dato zur Brandbekämpfung eingesetzte Freiwillige Feuerwehr Münster nicht mehr ausreichend. Die Zunahme der Bevölkerung und die Vergrößerung des Stadtgebietes erforderten eine dauerhafte Einsatzbereitschaft, so dass am 1. Mai 1905 die Feuerwehr Münster als hauptamtliche Feuerwehr gegründet wurde. 20. Jahrhundert: Erster Weltkrieg und Weimarer Republik Krieg und Novemberrevolution Am Geschehen des Ersten Weltkriegs war die Stadt Münster nur über ihre kriegsdienstleistenden Mitbürger beteiligt. Allerdings zeugten auch hier die ersten Kriegsjahre von einer euphorischen Begeisterung, wie sie in großen Teilen des Deutschen Reichs herrschte. So ist es nicht verwunderlich, dass zahlreiche Spendenaktionen für die Finanzierung des Krieges erfolgreich verliefen. Beispielsweise wurden anlässlich des U-Boottages am 3. Juni 1917 über 22.000 Reichsmark gespendet, obwohl nach fast drei Kriegsjahren bereits Lebensmittel- und Geldknappheit herrschte. Die zusätzlich zu den etwas mehr als 100.000 Einwohnern der Stadt zu versorgenden über 90.000 Kriegsgefangenen, die 1918 in drei Lagern rund um Münster interniert waren, trugen zur Verschärfung der Versorgungssituation bei. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kam es in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1918 auch in Münster zur Revolution. Nachdem das örtliche Generalkommando sich zuvor in Berlin über die Verhaltensregeln informiert hatte, trat es am 9. November 1918 in Verhandlungen mit Vertretern der Soldaten, der SPD und der christlichen Gewerkschaften ein. Als Folge wurde ein vorläufiger „Vollzugs-Ausschuss“ gebildet, der Kontrolle über das Militärkommando und die zivilen Behörden erhielt. Gegen Nachmittag verkündete der dem Ausschuss angehörende Vorsitzende der SPD-Ortsgruppe Emmerich Düren auf dem damaligen Neuplatz, dass am selben Tag in Berlin die Republik ausgerufen worden sei. Am 13. November 1918 wurde ein Soldatenrat eingesetzt, der „Arbeiter- und Soldatenrat Bezirk Münster (Westf.)“. Dieser wurde erst am 6. Februar 1919 durch General von Watter entmachtet, als sich nach der Eröffnung der Nationalversammlung der münstersche Soldatenrat weigerte, die geänderten Bestimmungen über die Stellung der Soldatenräte in der Armee anzuerkennen. General von Watter und sein Stab waren es auch, die im darauffolgenden Jahr von Münster aus die Truppen der Reichswehr und Freikorps koordinierten, die im Ruhrgebiet die Rote Ruhrarmee besiegten. Entwicklungen in der Weimarer Republik Der Weltkrieg hatte viele schon vor 1914 erkannte gesellschaftspolitische Probleme nur verschoben. Nach dem Zusammenbruch litten die Städte unter der Wucht des sozialen Niedergangs. Für die zurückkehrenden Soldaten gab es weder genügend Arbeit noch Unterkunft, eine explosive gesellschaftliche Situation. Oberbürgermeister Franz Dieckmann wollte durch Erschließung von Bauland und Neubausiedlungen einen Teil der Probleme lösen. Mit Hilfe von Wohnungsbaugesellschaften wurde zwischen 1924 und 1931 im Bereich „Habichtshöhe“ und „Grüner Grund“ das größte dieser Vorhaben durchgeführt. 3.000 Bewohner fanden in dieser „Gartenvorstadt Geist“ ein neues Zuhause. Überregional hatte dieses Projekt, das von der englischen Gartenstadtidee inspiriert war, Vorzeigecharakter. Die zivile Luftfahrt begann in Münster im Jahre 1920, als auf der Loddenheide der erste Flughafen eröffnet wurde. Auch dies war eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in der Zeit der Not nach dem Krieg. Dieser hatte die Luftfahrt deutlich vorangebracht und populär gemacht. Die erste reguläre Flugverbindung führte nach Bremen. Angeflogen wurde der Flughafen von Maschinen der Lloyd Luftverkehr und Junkers-Luft-Verkehrs-A.G, später auch von der neu gegründeten Deutschen Luft Hanse A. G. Trotz der Subventionen vom Reichspostministerium und der regelmäßigen Investitionen der Stadt in den Flughafen war der Erfolg jedoch eher bescheiden. Nachdem es immer wieder Unterbrechungen im Flugbetrieb und Änderungen am Flugplan gegeben hatte, wurde Münsters erster Flughafen nach nur 10 Jahren Betrieb bereits 1930 wieder geschlossen und der Flugbetrieb eingestellt. Danach sollte es bis 1972 dauern, ehe Münster mit dem Flughafen Münster/Osnabrück wieder in den (Teil-)Besitz eines Flughafens kam, nachdem der Flugplatz in Handorf bereits kurz nach seiner Eröffnung wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs wieder geschlossen und abgebrochen wurde. Im Jahre 1924 wurde in Münster der Vorgänger des Westdeutschen Rundfunks (WDR), die Westdeutsche Funkstunde AG (WEFAG) gegründet. Sie begann mit der Ausstrahlung von Hörfunksendungen mit dem Titel Westdeutsche Funkstunde. Zwei Jahre später wurde der Sitz der Rundfunkanstalt jedoch von Münster nach Köln verlegt. Im Jahre 1926 wurde das Universitätsklinikum fertiggestellt. Im selben Jahr kam es auch in unmittelbarer Nähe des Hafens und des Hauptbahnhofs zur Fertigstellung der Halle Münsterland. 1928 begannen im Rahmen eines Arbeitsbeschaffungsprogramms die Bauarbeiten für den Aasee. Die Regulierung der Aa diente auch dem Hochwasserschutz der Altstadt. Die Pläne dazu hatte der ehemalige Zoodirektor Hermann Landois schon 1868 gefertigt. Zeit des Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg Nationalsozialistische Umwälzungen und Judenverfolgung Langsamer Aufstieg, starke Zentrumspartei Zu Beginn des Aufstiegs der Nationalsozialisten in Deutschland war das katholisch geprägte Münster ihnen gegenüber größtenteils skeptisch eingestellt. Dementsprechend war die NSDAP-Ortsgruppe auch nicht besonders groß. Eine Vielzahl von Veranstaltungen, darunter 16 Großveranstaltungen mit auswärtigen Rednern, förderte ab 1931 einen anwachsenden Erfolg der Partei. Insbesondere die Reden von Hermann Göring und August Wilhelm von Preußen am 25. August 1931 sorgte für einen Wendepunkt. Die NSDAP konnte ihren Ruf in der Bevölkerung weg von „braunen Marxisten“ hin zu einer „anständigen“ Partei verbessern.  Im Jahre 1932 wurde zudem die NS-Propaganda weiter verschärft. Nahezu die gesamte Parteiführung stattete Münster einen Besuch ab. Unter ihnen waren Joseph Goebbels, Robert Ley, Gregor Strasser und Wilhelm Frick sowie Adolf Hitler. Für ihn war es der zweite und zugleich letzte Besuch in Münster, nachdem er zuvor im Jahre 1926 nach seiner Haftentlassung den früheren Freikorpsführer Franz Pfeffer von Salomon aufgesucht hatte, um ihm die Leitung der SA anzuvertrauen. Er sprach an einer Wahlkampfveranstaltung zur Wahl des Reichspräsidenten am 8. April 1932 vor insgesamt etwa 10.000 Zuhörern, darunter etwa 7000 in der Halle Münsterland, weitere 3000 verfolgten das Geschehen von der benachbarten Halle Kiffe aus. Noch im Jahre zuvor hatte der Rat der Stadt den Nationalsozialisten verweigert, Veranstaltungen in der Halle abzuhalten. Ein solches Verbot war im Jahre 1932 nicht mehr durchsetzbar. Der Erfolg dieser anhaltenden Propaganda zeigte sich im Frühjahr 1933: Bei der Reichstagswahl 1933 erhöhte die NSDAP ihren Stimmenanteil von 16.246 (24,3 %) auf 26.490 (36,1 %), stand aber damit immer noch hinter der Zentrumspartei mit 41,6 %. Wenige Tage später, bei der Kommunalwahl am 12. März 1933, hatte sich dieses Verhältnis bereits umgekehrt: die NSDAP war nun stärkste Partei mit 40,2 % vor dem Zentrum mit 39,7 %. Zum Vergleich: Bei der Wahl am 5. März kam die NSDAP im Deutschen Reich auf insgesamt 43,9 %. Gauhauptstadt mit vielen Einrichtungen In der darauffolgenden Zeit des Nationalsozialismus war Münster Verwaltungssitz des NSDAP-Gaus „Westfalen-Nord“. Seit Hitlers Machtübernahme 1933 waren die Gaue nicht mehr nur Organisationseinheiten der Partei, sondern wurden zunehmend auch staatliche Verwaltungsbezirke. Gauleiter Meyer wurde zum Oberpräsidenten Westfalens ernannt. Die Gauhauptstadt Münster wurde Sitz von SA-Brigade 66, SA-Standarte 13, SS-Abschnitt XVII, SS-Fußstandarte 19, HJ-Gebietsführung 9, BDM-Obergauführung 9 und weiteren Parteibehörden. Auch die Wehrmachtsdienststellen wurden ausgebaut. Die Zahl der Einwohner nahm von 123.000 im Jahre 1933 auf 145.000 im Jahre 1944 zu. Obwohl zwischen 1933 und 1940 insgesamt 5818 Wohnungen entstanden, wurde die Wohnungsnot nicht beseitigt. Von den Neubauten wurden 30 % mit öffentlichen Mitteln gefördert; vor 1933 waren es 60 %. Das Problem der Arbeitslosigkeit wurde zunächst durch viele Feiern überdeckt und später durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen angegangen. Zwischen 1933 und 1937 gab die Stadt Münster etwa 9,7 Millionen Reichsmark für diesen Zweck aus und erreichte 1937 mit nur 616 Arbeitslosen praktisch Vollbeschäftigung. Rolle der Ordnungspolizei Münster wurde Verwaltungssitz des Befehlshabers der Ordnungspolizei (BdO) im Wehrkreis VI, dem bevölkerungsreichsten und größten Polizeibereich im damaligen Deutschen Reich. Dieser umfasste das heutige Nordrhein-Westfalen, den Raum Osnabrück und ab 1940 Ost-Belgien. Die Ordnungspolizei wurde durch Erlass vom 26. Juni 1936 gebildet. Die uniformierte Schutzpolizei ging in der Ordnungspolizei auf. Statt der 16 Landespolizeien wurde eine Reichspolizei formiert. Seit April 1940 war Heinrich B. Lankenau Befehlshaber der Ordnungspolizei. Er residierte in der „Villa ten Hompel“ mit bis zu 40 Mitarbeitern und befehligte an die 200.000 Mann. Der Krieg erweiterte die Aufgaben der Ordnungspolizei. Das Aufsichtspersonal für die Arbeitserziehungslager, später auch für die Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlager, war von hier aus zu stellen. Für die Deportationszüge in die Konzentrations- und Vernichtungslager im Osten wurden Wachmannschaften und Transportbegleitungen zusammengestellt. Von Münster aus wurde die Aufstellung von mindestens 22 Polizeibataillonen überwacht, die bei der Organisierung der Ermordung der jüdischen Bevölkerung Osteuropas eingesetzt wurden. Tausende Polizisten wurden von hier in die besetzten Gebiete Europas geschickt. Aus Ordnungshütern wurden ausführende Organe einer menschenverachtenden Vernichtungspolitik. Im Oktober 1944 wurde der Befehlssitz der Ordnungspolizei für den Wehrkreis VI aus Münster nach Düsseldorf-Kaiserswerth verlegt. Vernichtung der Jüdischen Gemeinde Die jüdische Gemeinde in Münster litt unter Geschäftsboykott, gesellschaftlicher Ausgrenzung, Berufsverbot, Schul- und Universitätsverweisen, Benachteiligungen und öffentlichen Demütigungen. Bis 1938 hatte es aber noch keine größere Emigration aus Kreisen der jüdischen Gemeinde gegeben. Während der Reichspogromnacht am 10. November 1938 wurde am frühen Morgen die Synagoge im Inneren teilweise zerstört und dann in Brand gesetzt. Die anrückende Feuerwehr durfte nicht löschen, sondern nur die benachbarten Gebäude vor dem Feuer schützen. Zusätzlich wurden 20 Wohnungen und die letzten zehn jüdischen Geschäfte verwüstet. Außerdem wurden 52 Männer in das Polizei- und Gerichtsgefängnis eingeliefert. Nicht nur die Synagoge und die Häuser wurden zu Zielen, sondern bald auch die Juden selbst. Konkret begannen die Deportationen in Münster und dem Münsterland Anfang Dezember 1941. Insgesamt 403 Juden, davon 105 direkt aus Münster, wurden im Lokal „Gertrudenhof“ an der Warendorfer Straße zusammengetrieben und in der Nacht zum 13. Dezember 1941 zum Güterbahnhof gebracht. Gegen 10 Uhr verließ ein Güterzug Münster und brachte die Menschen in verschlossenen Güterwaggons in das Ghetto in Riga. In den darauffolgenden Monaten fanden drei weitere Deportationen statt: Am 27. Januar 1942 ebenfalls nach Riga, am 31. März in das Ghetto in Warschau und am 31. Juli zum KZ Theresienstadt. Von den ursprünglich 708 Angehörigen der jüdischen Gemeinde im Jahre 1933 wurden 299 Menschen in Konzentrationslager deportiert, von denen nur 24 überlebten. Insgesamt 280 jüdische Bürger verließen Münster und emigrierten ins Ausland, sieben starben durch Suizid und vier überlebten den Holocaust in Münster im Untergrund. Abzüglich der 77 Personen, die in diesem Zeitraum eines natürlichen Todes starben, verbleiben 42 Menschen, deren Schicksal ungeklärt geblieben ist. Zur Stadtgeschichte während der Zeit des Nationalsozialismus gehört auch die Beschäftigung von Zwangsarbeitern in Münster und Umgebung. Bischof Graf von Galen Bischof Clemens August Graf von Galen hielt im Juli und August des Jahres 1941 seine berühmten drei Predigten. Die erste und zweite richtete sich vor allem gegen die Vertreibung der Ordensleute und der Aushebung der Klöster der Hiltruper Missionare, von denen 161 Männer als Soldaten im Felde standen. Die dritte und wichtigste richtete sich gegen das „Euthanasie“-Programm der Nationalsozialisten, die so genannte Aktion T4, und er erstattete dagegen am 28. Juli 1941 Strafanzeige. An Galen wagte sich Hitler anscheinend nicht heran, man wollte wohl keinen Kirchenkampf heraufbeschwören. Die Rache der Nationalsozialisten richtete sich vor allem gegen die Widerstand leistenden einfachen Priester. Dieser Kampf gegen bestimmte Entwicklungen im „Dritten Reich“ brachten ihm den Titel Der Löwe von Münster ein. Galen stellte sich aber nicht eindeutig gegen das nationalsozialistische Regime. So bezeichnete er den Überfall auf die Sowjetunion in einem Hirtenbrief vom 14. September 1941 als Kampf gegen die „Pest des Bolschewismus“ an. Er bezeichnete es als eine „Befreiung von einer ernsten Sorge und eine Erlösung von schwerem Druck“, dass der „Führer und Reichskanzler am 22. Juni 1941 den im Jahr 1939 mit den bolschewistischen Machthabern abgeschlossenen sogenannten ‚Russenpakt‘ als erloschen erklärte …“ Dabei zitierte er Hitlers Begriff „jüdisch-bolschewistische Machthaberschaft“ wörtlich. Schon seine Haltung nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches am Ende des Krieges 1918 wird von einigen als national-konservativ und rechts von der Mitte eingeschätzt, wie sie die Zentrumspartei verkörperte. Man sieht in von Galen einen typischen Vertreter seiner Zeit, der wie weite Teile der Eliten des Kaiserreichs die Weimarer Republik ablehnte. Sein politisches Denken war wohl sehr „obrigkeitsstaatlich“, da er sich – als zutiefst schrifttreuer Christ – die Mahnung des Apostels Paulus zu eigen gemacht hatte: . Aber gerade in von Galens Erkenntnis, dass ein Regime, das die fundamentalen Menschenrechte verletzt, die Berechtigung seiner göttlichen Einsetzung verwirkt hat, sehen heute nicht wenige seine herausragende Leistung. Die Bezeichnung Widerstandskämpfer wird mit der Begründung abgelehnt, Widerstand leiste nicht schon, wer Kritik an Auswüchsen übe, sondern nur, wer die herrschende Macht brechen und überwinden wolle. Nach Ende des Krieges wurde von Galen am 18. Februar 1946 durch Papst Pius XII. zum Kardinal ernannt. Am 22. März 1946 starb er in Münster an den Folgen eines Blinddarmdurchbruchs. Am 9. Oktober 2005 wurde er durch den portugiesischen Kardinal José Saraiva Martins in Rom seliggesprochen. Bombenkrieg und Münsters Zerstörung Im Zweiten Weltkrieg wurde Münsters Innenstadt durch alliierte Bombenangriffe zu fast 91 % zerstört, darunter zahlreiche bedeutende historische Bauwerke wie der St.-Paulus-Dom, das Schloss und fast die gesamte Bebauung des Prinzipalmarkts. Der Zerstörungsgrad im gesamten Stadtgebiet betrug etwa 63 %. Der erste Luftangriff am 16. Mai 1940 betraf ein Industrielager. Bis Dezember folgten weitere 23 Angriffe. Münster gehörte zu den ersten deutschen Städten, denen nächtliche Flächenbombardements galten, hier vom 6. bis zum 10. Juli 1941. Nach einem nächtlichen Großangriff am 12. Juni 1943 folgte der erste Großangriff bei Tageslicht am 10. Oktober 1943 von 15:03 Uhr bis 16:30 Uhr. Es wurden weite Teile der Innenstadt zerstört, 473 Zivilisten und fast 200 Soldaten starben. Da dieser verheerende Angriff an einem sonnigen Sonntag durchgeführt wurde, waren unter den Toten auch viel Auswärtige, die ein Kino oder ein Theater besuchen wollten. Bis Ende 1943 wurden auf Münster 49 Luftangriffe geflogen. Nach weiteren periodischen Angriffen wurde ab Herbst 1944 die bedingungslose Kapitulation Deutschlands vorbereitet. Die Moral der Zivilbevölkerung sollte gebrochen werden. Zwischen September 1944 und März 1945 wurden 50 Luftangriffe auf Münster geflogen. In den Jahren 1944 und 1945 soll sich die Anzahl der auf Münster geflogenen Luftangriffe auf 53 belaufen. Der letzte und gleichzeitig verheerendste Luftangriff verwüstete am 25. März 1945 die bereits stark in Mitleidenschaft gezogene Altstadt: In einer knappen Viertelstunde, zwischen 10:06 Uhr und 10:22 Uhr, wurden aus 112 schweren Bombern etwa 1800 Spreng- und 150.000 Brandbomben abgeworfen. Mehr als 700 Menschen starben bei diesem Angriff. Zitat eines beteiligten Bomberpiloten: „Wir rissen die Schächte los, wie auf dem Exerzierplatz, in 16 Minuten rasselten 441 Tonnen Bomben herunter – ‚Münster‘ könnt ihr auf der Karte ausradieren…“. Bei diesem Angriff wurden 32 US-amerikanische Flugzeuge sowie 22 deutsche Maschinen abgeschossen. Insgesamt seien im Verlauf des Krieges durch die alliierten Streitkräfte 642.000 Stabbrandbomben, etwa 32.000 Sprengbomben sowie 8000 Kautschuk-Benzolbrandbomben über der Stadt abgeworfen worden. Bei Kriegsende lebten nur noch 17 Familien innerhalb des Promenadenrings. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es in Münster insgesamt 1128 Luftalarme und 102 Luftangriffe. Die Menge der abgeworfenen Bomben betrug insgesamt etwa 32.000 Sprengbomben, 642.000 Stabbrandbomben und 8100 Phosphorbomben. Bei den zahlreichen Angriffen starben mehr als 1600 Menschen durch direkte Bombeneinwirkung. Die im Vergleich zur Intensität geringe Opferzahl lässt sich dadurch erklären, dass während der Zeit der intensiven Bombardements gegen Ende des Krieges weite Teile der Bevölkerung bereits aus der Stadt evakuiert waren. Von 33.737 Wohnungen im Stadtgebiet blieben nur 1050 unbeschädigt, mehr als 60 % waren stark oder komplett zerstört und somit unbrauchbar. Die Infrastruktur brach fast vollständig zusammen: Erhebliche Teile der Wasserrohrleitungen wurden zerstört, sowie das Stromnetz zu 85 %. Die Gasversorgung war komplett ausgefallen. Straßen waren nicht mehr befahrbar und der öffentliche Personenverkehr vollständig eingestellt. Zerstört wurden auch 24 Schulen sowie ein Großteil der Krankenhäuser, so dass von ursprünglich knapp 7000 Krankenbetten nur noch etwa 400 zur Verfügung standen. Insgesamt fielen in Münster circa 2,5 Millionen Tonnen an Schutt und Trümmern an, die beseitigt werden mussten. Kriegsende und Neubeginn Amerikanische und britische Truppen standen Ende März 1945 schon tief im Münsterland. Die Endphase des Krieges war längst eingeleitet. Die Panzer der 17. US-Luftlandedivision rückten von Mecklenbeck über Roxel auf Nienberge heran. Am 1. April gelangten auch Nienberge und Hiltrup in alliierte Hand. Am Abend des Ostermontags, 2. April 1945, wurde Münster von den amerikanischen und britischen Panzertruppen kampflos eingenommen. Die britisch-amerikanischen Verbände, die Münster von mehreren Seiten aus besetzten, fanden die Altstadt wie ausgestorben vor. Sie mussten sich mühsam einen Pfad durch die Trümmer bahnen. Der Schutt türmte sich meterhoch. Die Stadt glich nicht nur einer Trümmerwüste, sie war auch fast vollständig entvölkert. Nach der Einnahme Münsters herrschte Chaos und Verunsicherung. Amerikanische Fallschirmjäger durchsuchten Häuser und Wohnungen nach deutschen Soldaten. Viele Häuser gingen dabei noch in Flammen auf. Plünderungen, auch seitens der Deutschen, Überfälle und Racheakte ehemaliger Zwangsarbeiter versetzten die verbliebene Bevölkerung in Angst. Erst nach sieben Tagen, am 9. April, konnte wieder eine Polizeigruppe aufgestellt werden, so dass allmählich Ruhe einkehrte. In einem Bunker am Hohenzollernring fanden amerikanische Offiziere den nationalsozialistischen Oberbürgermeister Albert Hillebrand, der mit seinem Verwaltungsstab im Dienst angetroffen wurde. Die übrigen Führungsstäbe von Partei und Wehrmacht hatten Münster bereits fluchtartig verlassen. Nach der Verhaftung des Oberbürgermeisters wurde der Engländer Major H. S. Jackson als Stadtkommandant eingesetzt. Seine primäre Aufgabe war die Neueinsetzung einer Stadtverwaltung. Am 17. April 1945 war ganz Westfalen besetzt und zu einem Teil der britischen Besatzungszone geworden. Die britischen Besatzungstruppen bekamen Anweisungen, Militärregierungs-Detachments zu bilden, die sich im Wesentlichen am Aufbau der deutschen bzw. preußischen Verwaltungsinstanzen orientierten. Die Stadt Münster kam unter das Kommando des 317. Military Government Detachment, das Major Jackson unterstand und in den Räumen des Oberfinanzpräsidiums untergebracht wurde. Ein Allgemeiner Beirat aus zwölf bis vierzehn Männern sollte den Oberbürgermeister beraten und das Verbindungsglied zur Bevölkerung darstellen. Das Amt eines geschäftsführenden Bürgermeisters wurde dem früheren Stadtverordnetenvorsteher Fritz-Carl Peus übertragen, der am 15. April 1945 in ehrenamtlicher Eigenschaft übergangsweise die Führung der Verwaltungsgeschäfte übernahm. Mitte Juni wurde dann Karl Zuhorn von der Militärregierung hauptamtlich zum leitenden Beamten der Stadt berufen. Kampf gegen Hunger, Blöße und Kälte, die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Kleidung, Wohnung gehörten zu den wichtigsten, da lebensnotwendigen Aufgaben in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Laut einer Statistik vom 10. Mai 1945 waren nur etwa 3,1 % der Wohnungen in Münster unbeschädigt. Strom, Wasser und Gas waren seit den letzten Kriegstagen wegen der schweren Beschädigung des städtischen Kraftwerks und der Fernleitung der VEW (Vereinigte Elektrizitätswerke) nicht mehr verfügbar. Besonders die Lebensmittel- und Brennstoffversorgung war bis zum Winter 1945 ein immer noch nahezu unlösbares Problem. Das bereits am 8. April gegründete Ernährungs- und Wirtschaftsamt hatte Schwierigkeiten, die Bevölkerung mit den dringend benötigten Gütern zu versorgen. Die schlechte Lebensmittelversorgung, ja die Lebensmittelkrise unmittelbar nach Kriegsende, erhöhte die Seuchengefahr und die Anfälligkeit für Krankheiten überhaupt. Nach der Ernte im Herbst 1945 entspannte sich die Situation ein wenig, wandelte sich jedoch im Frühjahr 1946 zu einer ernsten und langwierigen Krise, zu einer Hungerperiode, die bis zum Juli 1948 reichte. Probleme der Nachkriegszeit und des Wiederaufbaus bis 1965 Die Hungersnot und die dadurch erschreckend schlechte gesundheitliche Lage der Bevölkerung stellten alle anderen Probleme der Stadt zwar in den Schatten, doch der Mangel an Wohnraum ließ sich ebenfalls nicht sofort beheben. Die Menschen strömten in die Innenstadt zurück, aus der sie während der Zeit der Bombenangriffe evakuiert worden waren. Trotz drastischer Zuzugskontrolle zählte Münster am 31. Dezember 1945 wieder fast 76.000 Einwohner, was eine Verdreifachung der unmittelbar nach Kriegsende festgestellten Zahlen bedeutete. Neben den Evakuierten kamen auch viele Flüchtlinge und Vertriebene nach Münster, um dort ein neues Zuhause zu finden. In den ersten Jahren nach Kriegsende wurde jede nur denkbare Behausung genutzt – in Kasernen, Kellern, Barackensiedlungen. Erst allmählich verbesserte sich die Lage. Wegen stetiger Luftangriffe waren viele Schulen in Münster seit dem 1. Juli 1943 geschlossen worden. Dann war die Evakuierung etlicher Schülerinnen und Schüler in so genannte Kinderlandverschickungslager nach Süddeutschland erfolgt, in denen regelmäßiger Unterricht stattfinden konnte. Bei Kriegsende gab es kaum geeignete Räumlichkeiten, da 24 Schulen völlig zerbombt und vier weitere schwer beschädigt waren. Die Wiedereröffnung der Schulen hing zudem von der Erlaubnis der Militärregierung ab, für die jede einzelne Schule zunächst einen Antrag auf Wiederzulassung zu stellen hatte. Erst nach Ostern 1946 erteilten sämtliche Volksschulen in Münster und Umgebung wieder Unterricht. Wichtige Etappen des Wiedererstehens aus den Trümmern Im Februar des Jahres 1946 kam es im Stadtgebiet von Münster zu einer Hochwasserkatastrophe, insbesondere in tiefergelegenen Gebieten in der Nähe der Aa. Grund hierfür waren tagelange Regenfälle und die sich überall auftürmenden Trümmerreste des Zweiten Weltkriegs, die das Abfließen des Regenwassers verhinderten. An vielen Stellen war ein Durchkommen nur noch mit Booten möglich. Die gezielte und organisierte Großräumung der Trümmer nach einem festgelegten Plan setzte erst im Mai 1946 ein. Insgesamt zählte man bis zum November 1946 13.000 Personen, die daran teilnahmen, den Lohn eines Tiefbauarbeiters und eine warme Mahlzeit dafür bekamen. Auch im folgenden Jahr 1947 fand eine derartige Räumaktion statt, im September 1947 waren nach Angaben der Stadt 185.000 Kubikmeter beseitigt worden. Im Dezember 1949 hatte man den millionsten Kubikmeter geräumt, aber es war noch nicht einmal die Hälfte der Gesamtmenge. Seit 1946 befanden sich 37 Kleinlokomotiven mit fast 670 Schuttloren im Einsatz mit acht großen Baggern. Nach der Zwischenlagerung auf dem Hindenburgplatz und dem Aussortieren brauchbarer Steine wurde der Rest deponiert. Am 23. August 1946 wurde die Verordnung Nr. 46, welche die nördliche Rheinprovinz mit der Provinz Westfalen vereinigte, im Amtsblatt der britischen Militärregierung veröffentlicht. So entstand das Land Nordrhein-Westfalen. Zur Hauptstadt des neuen Landes wurde Düsseldorf bestimmt, der Sitz des britischen Zivilkommissars für das Rheinland und Westfalen. Münster verlor seinen Status als Provinzialhauptstadt, blieb jedoch Verwaltungssitz des Regierungsbezirks Münster und des inzwischen als Landkreis genannten Kreises Münster. Die fast eineinhalb Jahrhunderte währende Epoche der Zugehörigkeit zu Preußen war damit zu Ende, denn der seit 1918 existierende Freistaat Preußen wurde endgültig zerschlagen und neue Länder an dessen Stelle gesetzt. Bis zum 24. Oktober 1948 – dem 300. Jahrestages des Westfälischen Friedens – konnte schon der Friedenssaal im zerstörten Rathaus fast originalgetreu wiederhergestellt werden. Ministerpräsident Karl Arnold war unter den Gästen. Für Münster war dies der erste Erfolg in einer Reihe wichtiger Wiederaufbauleistungen der Nachkriegsjahre. Die nächsten Etappen sollten der Dom und das Rathaus markieren. Im Sommer des Jahres 1949 wurden auf Grundlage der vom vormaligen Stadtbaurat Heinrich Bartmann erarbeiteten Richtlinien die Durchführungspläne für den Wiederaufbau der Innenstadt erstellt. In den darauffolgenden 1950er Jahren wurden diese dann umgesetzt, wobei das historische Bild, unter anderem die Fassaden am Prinzipalmarkt und die Straßenführung und -breite, weitgehend wiederhergestellt wurde. Dies ist insbesondere der münsterschen Bevölkerung zu verdanken, die sich intensiv für einen originalgetreuen Wiederaufbau und gegen einen modernen Neuaufbau aussprach. Das historische Rathaus wurde, ebenfalls in seinem historischen Aussehen, am 30. Oktober 1958 fertiggestellt. Um den Wiederaufbau zu finanzieren, wurde unter anderem eine „Rathauslotterie“ veranstaltet, um die Baukosten für das Rathaus begleichen zu können. Im November 1949 hatte der Verein der Kaufmannschaft Wiederaufbaupläne für das Historische Rathaus und auch für die Finanzierung des von der Öffentlichkeit zustimmend aufgenommenen Projekts präsentiert. Die Hälfte der Baukosten wurden durch die vorgeschlagene Lotterie finanziert, denn viele Personen und Organisationen spendeten dafür. Als das fertige Rathaus Ende Oktober 1958 der Stadt übergeben wurde, war ein städtischer Patriotismus entstanden, der sich auch bei dem Wiederaufbau des Doms, der sich auch ungefähr 10 Jahre hinzog, gezeigt hatte. Mitte Oktober 1956 war der Hohe Dom zu Münster feierlich eingeweiht worden. Ab 1959 konnte ein feierliches Abendessen, das Kramermahl, das an mittelalterliche Gildemahle der Kaufleute Münsters anknüpft, im Festsaal des Rathauses abgehalten werden. Der Austausch und Kontakt zwischen Kaufleuten und Gästen aus dem münsterschen und überregionalen Wirtschafts-, Verwaltungs-, Kultur- und Wissenschaftsleben ist der Zweck des Festmahls, das der Verein der Kaufmannschaft Münster veranstaltet. Dieser Verein wurde 1835 nach dem Konzept von Johann Hermann Hüffer als Reaktion auf die Auflösung der Zünfte und Gilden Anfang des 19. Jahrhunderts gegründet. Seit seiner Entstehung setzte sich der Verein unter dem Motto „Ehr is Dwang gnog“ (Ehre ist Zwang genug) für die Weiterentwicklung und Attraktivität der Stadt Münster ein. Die 1950er-Jahre markierten auch einen Wandel in der Verkehrspolitik der Stadt. Nachdem bereits am 1. Oktober 1949 die erste O-Bus-Linie eröffnet wurde, ersetzten diese Busse kurz darauf die Straßenbahn. Nach über 50 Jahren, in denen sie im Jahre 1922 aufgrund der hohen Inflation zeitweise stillgelegt werden musste sowie die starken Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg überstand, fuhr am 25. November 1954 die letzte Straßenbahn durch Münster. Die Zeit der O-Busse sollte jedoch nur bis zum 25. Mai 1968 dauern, als sie durch Omnibusse ersetzt wurden. Stolz auf die Wiederaufbauleistungen Mitte der 1960er-Jahre war nicht mehr auf den ersten Blick zu erkennen, dass der Krieg sehr viel zerstört hatte. Der moderne Städtebau hatte in der Zeit des Wiederaufbaus keine Chance, denn für die meisten Münsteraner war es selbstverständlich, ihre Häuser wieder in den alten Formen aufzubauen. Es gab schon einige moderne öffentliche Gebäude, aber es waren nicht viele, die Akzente setzten: Die Bundesbahndirektion, die Landwirtschaftskammer, die Pädagogische Hochschule und besonders das Stadttheater. Dieser erste deutsche Theaterneubau wurde als großartige architektonische Leistung gelobt. Es wurde damals auch gegen unliebsame Pläne und architektonische Leistungen protestiert. Das schlichte Westwerk des Doms wurde abgelehnt und der Abriss und Wiederaufbau des Gebäudes der Regierung des Bezirks Münster am Domplatz war sehr umstritten, Allerdings wurde das umstrittene Äußere des Gebäudes später ansprechender gestaltet. Im Strudel der Proteste in den 1960er-Jahren gingen die Pläne zur Bebauung des Domplatzes unter. Anfang Mai 1965 lehnte der Stadtrat alle Pläne dazu ab. Bundeskanzler Ludwig Erhard war am 31. August 1965 während seines Bundestagswahlkampfs in Münster und hielt eine Rede auf dem Domplatz. Er hatte in diesem Jahr die Nachkriegszeit für beendet erklärt und erntete bei den Münsteranern große Zustimmung, als er auf die großen Anstrengungen des deutschen Volkes nach 1945 verwies. Dass für Münster die erste große Phase der Nachkriegszeit vorbei war, machte noch ein Ereignis am 9. September 1965 deutlich: Die Autobahn bis Münster der Strecke Kamen – Bremen, der sogenannten „Hansalinie“, wurde eröffnet. Im Herbst 1968 war die gesamte Strecke fertig. Münster war Mitte der 60er Jahre als eine der letzten deutschen Großstädte an das deutsche Autobahnnetz angeschlossen. Dies war ein symbolischer Schritt, hatte aber auch große Folgen für die Weiterentwicklung der Großstadt. Eingemeindungen und Weiterentwicklung zur modernen Großstadt bis zur Wende 1989/90 Neubausiedlungen und Eingemeindungen Die Stadt nahm Ende der 1960er-Jahre von ihrem ehemaligen Status als Provinzialhauptstadt endgültig Abschied und entwickelte sich zur modernen Großstadt; 1966 überschritt die Einwohnerzahl schon die Marke von 200.000. Die Wohnungsnot, die Münster seit 1945 begleitete, zwang zum Bau neuer Wohnsiedlungen: Der Stadtteil Coerde entstand und in Kinderhaus wurden 6000 Wohnungen für 15.000 Bewohner gebaut. Auch in Berg Fidel entstanden 1230 Wohnungen, für die Ende 1969 der Grundstein gelegt wurde. Große Pläne der Landesregierung zum Bau eines Großflughafens in der Nähe Münsters zerschlugen sich, auch die Ansiedlung des Teilchenbeschleunigers ging nicht nach Westfalen, sondern in die Schweiz. Aber die Gebietsreform – die wichtigste Konzeption für die Zukunft – wurde realisiert. Im Zuge der Gemeindereform von 1975 wurde der Kreis Münster zum 1. Januar dieses Jahres nach dem Münster/Hamm-Gesetz aufgelöst. Gleichzeitig wurden Teile des ehemaligen Landkreises trotz Widerstands in die Stadt Münster eingemeindet. Dabei handelte es sich um die Gemeinden Sankt Mauritz, Handorf, Hiltrup, Amelsbüren, Albachten, Nienberge, Roxel, Angelmodde und Wolbeck. Die Einwohnerzahl stieg dadurch über Nacht um 57.431 Einwohner. Die Fläche des Stadtgebietes wuchs dadurch um 228,4 km² auf 302,79 km² an, was einer vervierfachten Fläche des bisherigen Gebietes entsprach. Danach setzte in den neu ausgewiesenen Baugebieten der Vororte eine rege Bautätigkeit ein, denn vor allem junge Familien konnten sich dort niederlassen. Eine positive Konsequenz dieser Gebietsreform, die Münster zur zweitgrößten Kommune in Nordrhein-Westfalen nach Köln machte, war die Möglichkeit zur vielfältigen Ansiedlung von Gewerbe und Industrie. Hochschul- und Klinikausbau Die nach 1945 zügig wiederaufgebaute Hochschule stieß bereits Mitte der 1960er-Jahre an ihre Grenzen. Sie entwickelte sich langsam zum größten Arbeitgeber der Stadt. 1951 hatte sie 1600 Mitarbeiter, 1981 waren es bereits fast 7000. 1974 zählte der Hochschulstandort Münster – unter Einbeziehung der Pädagogischen Hochschule (1980 dann in die Universität integriert) und der 1971 gegründeten Fachhochschule – 30.000 Studenten, 1981 betrug allein die Studentenzahl der Universität rund 40.000. Auf diesen Ansturm waren Hochschule und Stadt nicht vorbereitet, es fehlte an studentischen Unterkünften. Erst 1959 waren die ersten großen Wohnheime an der Steinfurter Straße entstanden. Mit den Studentenunterkünften ging es in den 1970er-Jahren vorwärts. 1974 konnten beispielsweise mehrere hundert Appartements in der Boeselagerstraße bezogen werden. Weitere Unterkünfte gab es am Horstmarer Landweg und in Gievenbeck. 1971 wurde nach achtjähriger Planung (zeitweise auch unterbrochen) das Großklinikum in Angriff genommen; es sollte 560 Millionen Mark kosten. 1982/83 konnte der hochragende Komplex in Betrieb genommen werden; er entwickelte sich zum bedeutendsten Klinikum der Großregion. In der Endabrechnung kostete es aber 1,13 Milliarden Mark, obwohl nicht einmal alle medizinischen Einrichtungen unterkommen konnten. Weitere Disziplinen, wie die Allgemein- und Viszeralchirurgie, die Unfallchirurgie, die Augenklinik, die Hals-, Nasen- und Ohrenklinik und die Hautklinik sowie insbesondere auch Forschungslabore, befinden sich in separaten Gebäuden auf dem Campus, der das Zentralklinikum umgibt. 1979 hatte die Zahnklinik, die eine der größten der Bundesrepublik ist, ein neues Gebäude erhalten. Das Universitätsklinikum Münster (UKM) ist ein Krankenhaus der Maximalversorgung und verfügt über 1.457 Betten, in denen im Jahr 2016 insgesamt 64.196 stationäre und 462.786 ambulante Patienten behandelt wurden. Es besteht aus über 40 einzelnen Kliniken und Polikliniken, die eng mit der Medizinischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster zusammenarbeiten. Es hat mehr als 10.000 Beschäftigte, darunter Professoren, weitere Ärzte und Wissenschaftler, Pflegende sowie medizinisch-technische Angestellte, Gärtner und Informatiker. Der UKM-Campus liegt im Stadtteil Sentrup. Der Leonardo-Campus ist ein ehemaliges Kasernengelände an der Steinfurter Straße in Münster, das in einem Konversionsprozess, der von 1999 bis 2009 dauerte, in ein Hochschul-Areal verwandelt wurde. Unter Erhaltung der denkmalgeschützten Bausubstanz der ehemaligen Reiterkaserne (vor 1945 hieß sie Von Einem-Kavallerie-Kaserne) und durch die Ergänzung von Neubauten wurde Platz für die Erweiterung der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU), der Fachhochschule sowie der Kunstakademie Münster geschaffen. Diese Konversion ist nur ein Beispiel für eine Reihe von ähnlichen Umwandlungen von vorher militärisch genutztem Gebiet in zivile Nutzung. Verkehrspolitik Im Jahre 1981 wurde der Anschluss an die Autobahn 43 freigegeben, der den stark überlasteten Abschnitt der Bundesstraße 51 zwischen Münster und Bochum ersetzte. Neben dem Straßenverkehr wurde auch der Luftverkehr ausgebaut. Zusammen mit den Städten Osnabrück und Greven sowie den Landkreisen Münster und Tecklenburg wurde am 27. Mai 1972 der Flughafen Münster/Osnabrück eröffnet. Im Jahr 1986 wurde der bis dato als Regionalflughafen eingestufte zu einem internationalen Flughafen heraufgestuft. Aber auch der Individualverkehr war von der Verkehrspolitik betroffen. Mit dem beginnenden wirtschaftlichen Aufschwung kam es zu einem starken Anstieg der Verkehrsbelastung in der Innenstadt, insbesondere auf den wichtigsten Einkaufsstraßen Prinzipalmarkt, Ludgeristraße und Salzstraße. Zunächst wurden die beiden letztgenannten verkehrsberuhigt. Im Jahre 1959 kamen Diskussionen auf, auch den Prinzipalmarkt in eine verkehrsberuhigte Zone umzuwandeln. Es dauerte jedoch bis ins Jahr 1974, bis es auch hier zu einer Verkehrsberuhigung kam. Bereits fünf Jahre zuvor, im Jahre 1969, wurde die schon verkehrsberuhigte Ludgeristraße in eine Fußgängerzone umgewandelt, im Jahre 1977 folgte die Salzstraße. Der Prinzipalmarkt allerdings ist weiterhin eine verkehrsberuhigte Zone, die nur in bestimmten Ausnahmefällen mit motorisierten Gefährten befahren werden darf. Zeichen der Moderne Am 29. April 1972 fand in Münster die erste Schwulendemo der Bundesrepublik Deutschland statt. Münster blieb die nächsten Jahre neben West-Berlin wichtigstes Zentrum der bundesdeutschen Schwulen- und Lesbenbewegung. 1979 und 1988 fand in Münster das Lesben-Frühlings-Treffen beziehungsweise damals noch Lesben-Pfingst-Treffen statt. Vom 3. Juli bis zum 13. November 1977 fand in Münster zum ersten Mal die Kunstveranstaltung Skulptur Projekte statt, bei der internationale Künstlerinnen und Künstler ihre in situ geschaffenen Plastiken und Skulpturen dem interessierten Publikum im öffentlichen Raum präsentieren können. Seitdem findet die Ausstellung im Zehnjahresrhythmus statt. Etliche der Kunstwerke wurden im Anschluss an die jeweilige Skulptur Projekte von der Stadt Münster aufgekauft und bereichern heute das Stadtbild. Träger der Ausstellung sind die Stadt Münster und der Landschaftsverband Westfalen-Lippe, die Organisation obliegt dem LWL-Museum für Kunst und Kultur. Der Publikumsandrang ist groß: Zum bislang letzten Skulptur Projekt kamen auch 2017 wieder viele Tausend Besucher . Katholische Kirche Im Januar 1980 folgte auf Bischof Tenhumberg der junge Weihbischof Reinhard Lettmann, der bis 2008 amtierte. Der volksnahe Oberhirte bewies einen genauen Blick für die Veränderungen in Kirche und Gesellschaft. Konfrontiert mit den Tatsachen schwindender Kirchenbindung, hoher Kirchenaustrittszahlen und dem demografischen Wandel leitete er Strukturreformen ein. Es kam trotz heftiger Proteste zu Gemeindefusionen. Das traf die Sprengel besonders hart, die erst nach dem Krieg, zur Zeit Bischof Kellers, durch die Teilung von Großgemeinden gegründet worden waren. Dennoch war die Kirche in Münster, in dem 1989 noch 65 Prozent Katholiken gezählt wurden, weiterhin institutionell stark vertreten; in kirchlicher Hand waren 5 große Krankenhäuser, 19 Altenheime, 48 Kindergärten, ferner drei Gymnasien, eine Förderschule, eine Gesamtschule, ein Weiterbildungskolleg, ein Berufskolleg sowie eine Fachhochschule. Damit gehört die Katholische Kirche auch zu einem der größten Arbeitgeber in Münster. Nachdem 2005 an die Gründung des Bistums vor 1200 Jahren gedacht worden war, erinnerte die Kirche von Münster 2014 an die Weihe des Doms vor 750 Jahren. Im Mai 1987 besuchte Johannes Paul II. als erster Papst Münster. Er sprach auf dem Schlossplatz vor dem fürstbischöflichen Schloss sowie auf dem Domplatz und betete am Grab von Kardinal Clemens August Graf von Galen. Der Papst übernachtete eine Nacht im Priesterseminar, wo der Regens seine Wohnung für Johannes Paul räumte. An den Besuch des Papstes erinnert eine in den Boden eingelassene Bronzeplatte vor dem Grab von Galens im münsterschen Dom. Auch der nächste Papst Benedikt XVI. war mit Münster verbunden, er hatte hier als junger Professor Joseph Ratzinger von 1963–1966 Dogmatik gelehrt, bevor er einen Ruf nach Tübingen annahm. Münster in der Berliner Republik nach der Wiedervereinigung In den 1990er-Jahren wurde die Stadt, die 1993 an den 1200. Jahrestag ihrer Gründung erinnerte und feierte, von einer Aufbruchstimmung erfasst. Der Wandel erreichte viele Bereiche, zum Beispiel verschwanden auch altvertraute Institutionen wie die Oberpostdirektion oder die Westdeutsche Landesbank. Die Bundeswehr und die Britische Rheinarmee machten sich im Bild der Stadt rar. Die Aufbaugeneration, geprägt durch ein emotionales Verhältnis zu ihrer Stadt, starb, und die junge Generation dachte über viele Dinge anders und entschied anders als die Vorväter es getan hätten. Eine neue Epoche Am 18. Juni 1990 fanden vorbereitende Treffen für die so genannten 2+4 Gespräche im Rathaus statt. Bei diesen Gesprächen, die den Weg zur Wiedervereinigung ebneten, traf der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland, Hans-Dietrich Genscher, unter anderem in Münster seinen Amtskollegen aus der UdSSR, Eduard Schewardnadse. Genscher wählte einen Treffpunkt, der eine aus der Geschichte rührende, vorwärtsgewandte Symbolik vermitteln sollte. Seine Wahl fiel auf Münster, da dort mit dem Westfälischen Frieden 1648 den deutschen Fürsten und Reichsständen das Recht eingeräumt worden war, selbst Pakte mit ausländischen Staaten schließen zu dürfen. Ein Bild, das um die Welt ging, zeigt Genscher und Schewardnadse aus dem Goldenen Hahn der Stadt trinkend, dem symbolischen Friedensbecher der Stadt. Seit der Wende und der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten (1989/90) war auch die Umnutzung von ehemaligen militärischen Anlagen, Kasernen und Wohngebäuden möglich, die von der Britischen Rheinarmee genutzt und nach 1990 aufgegeben wurden. 19 Konversionsprojekte mit ganz unterschiedlichen Nutzungszwecken wurden bis 2017 erfolgreich umgesetzt. Diese Konversion von militärischen Anlagen geht weiter und wird zu neuen Wohnquartieren führen. Bei der Wahl zum Oberbürgermeister im Jahre 1994 setzte sich Marion Tüns (SPD) gegen die männliche Konkurrenz durch. Fast genau 1200 Jahre nach der Gründung Münsters stand damit zum ersten Mal eine Frau an der Spitze der Stadt. Ihre Amtszeit dauerte jedoch nur eine Legislaturperiode und endete im Jahre 1999. Am 13. Dezember 1999 wurde die Villa ten Hompel wiedereröffnet. Nachdem in diesem geschichtsträchtigen Gebäude während der Zeit des Nationalsozialismus zwischen 1940 und 1945 die Ordnungspolizei und von 1953 bis 1968 das „Dezernat für Wiedergutmachung für politisch, rassisch und religiös Verfolgte“ untergebracht war, ist sie seit diesem Datum eine Gedenkstätte an den Nationalsozialismus in Deutschland, die eine Auseinandersetzung mit dieser Zeit mittels unterschiedlicher Ausstellungen und Veranstaltungen sowie eigenständigen Recherchen in den Beständen der Bibliothek mit historischer Primär- und wissenschaftlicher Sekundärliteratur ermöglicht. Die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts Das wahrscheinlich meistbesuchte Ereignis in Münsters Geschichte fand am 12. Mai 2002 statt: Die erste Etappe des Radrennens Giro d’Italia, deren Zielort Münster war, zog bis zu 200.000 Menschen in die Innenstadt. Dabei wurden dreieinhalb Runden durch die historische Innenstadt gefahren, insgesamt 18 Kilometer, unter anderem auch über Kopfsteinpflaster. Am 25. November 2005 kam es in Münster und dem westlichen Münsterland zu einem „historischen“ Wintereinbruch, dem sogenannten Münsterländer Schneechaos. Dabei fielen in Münster im Laufe des Tages bis zu 32 cm Schnee. Diese Menge war die höchste, die seit dem Beginn der meteorologischen Wetteraufzeichnungen der Stadt im Jahre 1888 gemessen wurde und übertraf die bisherige Höchstmarke von 30 cm aus dem Jahre 1925. Im Gegensatz zu vielen Umlandgemeinden war die Stadt Münster selbst nur kurzfristig und in Teilen von Stromausfällen betroffen. Aufgrund der Schnee- und Eismassen brach jedoch der Verkehr größtenteils zusammen. So musste der Bahnverkehr eingestellt werden, und zahlreiche Reisende saßen in Münster fest und mussten in Hotels oder im Luftschutzbunker unter dem Hauptbahnhof übernachten. Auch im öffentlichen Personennahverkehr kam es zu Behinderungen. Hiervon waren größtenteils die Regionalbuslinien betroffen, die Busse der Stadtlinien verkehrten noch bis 22 Uhr. Im Laufe des darauffolgenden Tages normalisierte sich die Situation im Stadtgebiet wieder und es kam nur noch zu vereinzelten Behinderungen. Ein gutes Jahr später, am Abend des 18. Januar 2007 und in der darauffolgenden Nacht kam es aufgrund des Orkantiefs Kyrill wiederholt zu chaotischen Verhältnissen in Münster. In den Außenbezirken kam es wegen beschädigter Stromleitungen wiederholt zu Stromausfällen. Mehrere Hauptverkehrsstraßen wie am Schlossplatz oder die Weseler Straße wurden durch umstürzende Bäume blockiert und mussten für den Verkehr gesperrt werden. Betroffen davon waren auch die Stadtbuslinien der Stadtwerke, die spätestens zu Mitternacht den Betrieb einstellen mussten. Ebenfalls eingestellt werden musste der Bahnverkehr seit dem späten Nachmittag, da die Oberleitungen sämtlicher Strecken nach Münster beschädigt waren. Wie im Jahre 2005 öffnete die Feuerwehr den Luftschutzbunker im Hauptbahnhof für die festsitzenden Reisenden und versetzte beide Löschzüge der Berufsfeuerwehr und alle 20 Züge der Freiwilligen Feuerwehr in Alarmbereitschaft. Zusammen mit dem Technischen Hilfswerk registrierte sie 940 Notrufe, bei der Polizei gingen 323 Notrufe ein. Insgesamt fielen mehr als 1000 Bäume innerhalb des Stadtgebietes dem Orkan zum Opfer, der Schäden in Millionenhöhe anrichtete. Besonders betroffen war das Areal rund um das Schloss, wo am Schlossplatz um die 40 und im Schlossgarten rund 50 Bäume durch direkte Windeinwirkung umknickten oder entwurzelt wurden. Am 25. Mai 2009 erhielt die Stadt den von der Bundesregierung verliehenen Titel „Ort der Vielfalt“. Am 21. März 2012 entschied der Rat der Stadt Münster vor dem Hintergrund der umstrittenen Rolle Pauls von Hindenburg als „Steigbügelhalter Adolf Hitlers“ mit 53 gegen 23 Stimmen, den Hindenburgplatz vor dem Fürstbischöflichen Schloss in Schlossplatz umzubenennen. Ein halbes Jahr später scheiterte ein Bürgerbegehren mit dem Ziel der Rücknahme dieser Entscheidung. Bereits 2007 – ebenfalls in einem Bürgerentscheid – waren Pläne der Stadt gescheitert, auf dem Schlossplatz eine städtische Musikhalle zu errichten. Ende 2012 wurden über die Financial Times Deutschland Pläne durchgestochen, dass die Sparkassen unter Führung ihres Präsidenten Rolf Gerlach und der LWL ihre Anteile am zweitgrößten öffentlichen Versicherer Deutschlands, der Provinzial NordWest, an die Allianz veräußern wollten. Belegschaft und Gewerkschaften wehrten sich nach Kräften mit Aktionen im ganzen Münsterland gegen die drohende Privatisierung, die einen massiven Arbeitsplatzabbau am Standort Münster befürchten ließ. Die Solidarisierung breiter Teile der Bevölkerung mit „ihrer“ Provinzial führte dazu, dass auch Lokal- und Landespolitiker sich gegen eine Übernahme durch die Allianz aussprachen. Unter diesem Druck lenkten die Eigentümer schließlich ein. Ende Juli 2014 kam es in Münster und Umgebung zu einer Unwetterlage mit den heftigsten Gewittern der vergangenen Jahre. Besonders am 28. und 29. Juli zogen gleich mehrere starke Gewitter nacheinander über dasselbe Gebiet hinweg. Die in Münster gefallenen Regenmengen stellten dabei ein Jahrhundertereignis dar. Von einer Station des Landesumweltamtes wurde eine Menge von 292 l/m² innerhalb von sieben Stunden gemeldet; sonst fallen im gesamten Juli durchschnittlich rund 69 l/m². Unzählige Straßen und Keller wurden überschwemmt, ein Mensch starb in seinem überfluteten Keller. Die Stadt Münster rechnet mit einem Schaden von 15 bis 20 Millionen Euro alleine an städtischen Gebäuden und der Infrastruktur. Wenige Wochen später, am 20. September 2014, wurde der Neubau des LWL-Museums für Kunst und Kultur zwischen Domplatz und Aegidiimarkt nach mehrjähriger Bauzeit neu eröffnet. Am 7. April 2018 ereignete sich in der Stadt die Amokfahrt von Münster, bei der zwei Passanten und der Amokfahrer starben. Geschichte der städtischen Selbstverwaltung An der Spitze der Stadt ist schon seit dem Erlangen der Stadtrechte im 12. Jahrhundert ein Gemeinderat nachweisbar. Er bestand aus zwölf kollegialen Schöffen und den Ratsmannen. Vorsteher waren „Schöffenmeister“, später „scheppenmester“ oder „borgemester“, bis zum 16. Jahrhundert ausschließlich aus Erbmännerfamilien. Seit dem 14. Jahrhundert gab es regelmäßig „borgemester“ und „raeth“ beziehungsweise „borgemester“ und „scheppen“. Ab dem 15. Jahrhundert wurde der Rat am ersten Montag in der Fastenzeit, ab 1542 am Dienstag nach dem 17. Januar gewählt. Die Mitgliederzahl des Rates betrug 24 Mitglieder ab 1654, 20 Mitglieder ab 1670 und 14 Mitglieder ab 1682. Im Laufe der Geschichte wurde die Ratswahl mehrmals aufgehoben, insbesondere während der Zeit der Täuferherrschaft. Nach Aufhebung des Hochstifts Münster 1802 wurde die Ratswahl zunächst unter preußischer Herrschaft beibehalten, ab 1805 jedoch durch ein berufenes, ständiges Magistrats­kollegium ersetzt. An der Spitze der Stadt standen danach der Stadtdirektor, zwei Bürgermeister und ein Kämmerer. Unter napoleonischer Herrschaft wurde ab 1809 die französische Munizipalverfassung mit einem Maire und drei Beigeordneten an der Spitze eingeführt. Nach dem Wiener Kongress kam Münster im Jahre 1815 erneut unter die Herrschaft Preußens und das Stadtoberhaupt hieß wieder Bürgermeister beziehungsweise Oberbürgermeister (endgültig ab 1836 mit der Einführung der preußischen Städteordnung). Der Oberbürgermeister war Vorsitzender des Magistrats, dem noch Beigeordnete und Stadträte angehörten. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Oberbürgermeister durch die NSDAP eingesetzt. Dies war von 1933 bis zur Einnahme der Stadt durch amerikanische und britische Truppen 1945 Albert Anton Hillebrand. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Militärregierung der Britischen Besatzungszone ihn ab und Major H. S. Jackson übernahm die Amtsgeschäfte, bis eine neue Stadtverwaltung etabliert wurde. Unter seiner Kontrolle wurde Münster zum 317. Military Government Detachment, einer Militärregierung, die sich im Wesentlichen an den Aufbau der deutschen beziehungsweise preußischen Verwaltung orientieren sollte. Erster Oberbürgermeister nach dem Zweiten Weltkrieg wurde am 15. April 1945 Fritz Carl Peus, jedoch nur übergangsweise, bis Mitte Juni Karl Zuhorn durch die Militärregierung zum amtierenden Oberbürgermeister berufen wurde. Ihm beratend zur Seite stehen sollte ein Beirat aus zwölf bis 14 Männern. 1946 wurde die Kommunalverfassung nach britischem Vorbild eingeführt. Danach gab es einen vom Volk gewählten „Rat der Stadt“, dessen Mitglieder man als „Stadtverordnete“ bezeichnet. Der Rat wählte anfangs aus seiner Mitte den Oberbürgermeister als Vorsitzenden und Repräsentanten der Stadt, welcher ehrenamtlich tätig war. Des Weiteren wählte der Rat ab 1946 ebenfalls einen hauptamtlichen Oberstadtdirektor als Leiter der Stadtverwaltung. 1997 wurde die Doppelspitze in der Stadtverwaltung aufgegeben. Seither gibt es nur noch den hauptamtlichen Oberbürgermeister. Dieser ist Vorsitzender des Rates, Leiter der Stadtverwaltung und Repräsentant der Stadt. Er wurde 1999 erstmals direkt vom Volk gewählt. Literatur Bernd Haunfelder: Münster. Illustrierte Stadtgeschichte. Aschendorff, Münster 2015, 212 S., ISBN 978-3-402-13145-9. Michael Römling: Münster – Geschichte einer Stadt. Soest 2006. ISBN 978-3-9810710-1-6. Stadtmuseum Münster, Verein Münster-Museum e. V. (Hrsg.): Geschichte der Stadt Münster. Münster 2006. Franz-Josef Jakobi (Hrsg.): Geschichte der Stadt Münster. 3. Auflage. Aschendorff, Münster 1994, 3 Bde., ISBN 3-402-05370-5. Ulrich Bardelmeier und Andreas Schulte Hemming (Hrsg.): Mythos Münster. Schwarze Löcher, weiße Flecken. Unrast, Münster 1993. ISBN 3-928300-15-6. Weblinks Dokumente zur Stadtgeschichte (Bestände des Stadtarchivs Münster im Portal archive.nrw.de) Stadtmodelle (auf der Seite des Stadtmuseums Münster) Kriegschronik des Ersten Weltkriegs (auf den Seiten des Stadtarchivs Münster) Kriegschronik des Zweiten Weltkriegs (auf den Seiten des Stadtarchivs Münster) Barbara Rommé, Bernd Thier, Stephan Winkler, Alfred Pohlmann: Münster - Von den Anfängen bis zum Jahr 1200, Verein Münster-Museum e.V., Stadtmuseum Münster Internetauftritt der Villa ten Hompel (auf den Seiten der Stadt Münster) „Der wedderdoeper eidt“ / Eid der münsterschen Täufer Einzelnachweise Munster
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https://de.wikipedia.org/wiki/Krummh%C3%B6rn
Krummhörn
Krummhörn ist eine Gemeinde im Landkreis Aurich in der Region Ostfriesland in Niedersachsen. Umgangssprachlich wird die Gemeinde mit Artikel die Krummhörn (mit Betonung auf der zweiten Silbe) genannt. Landläufig wird der gesamte Landstrich südwestlich einer gedachten Linie Greetsiel–Emden als die Krummhörn bezeichnet – also das Gebiet der heutigen Kommunen Krummhörn, Hinte und Emden. Die Bezeichnung stammt aus dem Niederdeutschen und bedeutet so viel wie krumme Ecke – ein Blick auf die Landkarte verdeutlicht das: Der südwestliche Zipfel der ostfriesischen Halbinsel ragt einer Nase ähnlich nach Südwesten in die Außenems hinein. In der Vergangenheit war diese Gegend von mehreren, tief ins Land eindringenden Buchten gesäumt, so dass sich verwinkelte (krumme) Landstriche ergaben. Die 19 Ortsteile umfassende Gemeinde hat  Einwohner, die sich auf rund 159 Quadratkilometer verteilen. Die Einwohnerdichte von ungefähr 74 pro km² ist selbst für ostfriesische Verhältnisse sehr niedrig. Ostfriesland ist mit rund 149 Einwohnern pro km² bereits dünner besiedelt als Niedersachsen (etwa 168) und Deutschland (zirka 233). Die Krummhörn ist geprägt von Landwirtschaft und Tourismus, wobei insbesondere der Fischer- und Sielort Greetsiel eine bedeutende Rolle spielt. Sie ist jedoch in starkem Maße eine Auspendler-Gemeinde, vor allem nach Emden. Historisch hat die Krummhörn Bedeutung, da die Häuptlingsfamilie Cirksena aus Greetsiel über rund drei Jahrhunderte Grafen und später Fürsten von Ostfriesland stellte. Kulturell ragt die Krummhörn dadurch heraus, dass in fast jedem der 19 Dörfer historische Kirchen zu finden sind, deren älteste aus dem 13. Jahrhundert stammen. Bemerkenswert ist der Vierungsturm über der Pilsumer Kreuzkirche. Einzigartig ist zudem die Zahl der historischen Orgeln auf einem so engen Raum, wobei die Orgel in Rysum aus dem Jahr 1457 zu den weltweit ältesten gehört und in ihrem Grundbestand noch erhalten ist. Geografie { "type": "ExternalData", "service": "geoshape", "ids": "Q559432" } Die Gemeinde liegt direkt am Trichter der Ems, die westlich der Krummhörn in die Nordsee mündet. Während am äußersten südlichen Teil des Krummhörner Küstenabschnittes das Fahrwasser der Ems entlang fließt, befindet sich in den nördlicheren Teilen das Wattenmeer, das als Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer unter Naturschutz steht und im Juni 2009 gemeinsam mit dem schleswig-holsteinischen und dem niederländischen Teil von der UNESCO zum Weltnaturerbe erklärt wurde. Nördlich der Krummhörn liegt die Leybucht. Der Verwaltungssitz Pewsum liegt etwa zehn Kilometer nordwestlich von Emden und 15 Kilometer südlich der Stadt Norden. Die Kreisstadt Aurich liegt etwa 26 Kilometer östlich. Mit 159,2 Quadratkilometern ist die Krummhörn flächenmäßig die fünftgrößte Kommune Ostfrieslands und die zweitgrößte des Landkreises Aurich. Lediglich die Kreisstadt selbst ist größer. Die größte Nord-Süd-Ausdehnung zwischen der Landspitze Leyhörn im Norden und dem Knockster Tief im Süden beträgt knapp 20,4 Kilometer, die größte Ost-West-Ausdehnung zwischen den Uttumer Meeden an der Grenze zur Gemeinde Hinte im Osten und dem Seedeich südwestlich von Manslagt beträgt rund 12,1 Kilometer. Die Krummhörn wird von zahlreichen Entwässerungsgräben und Kanälen durchzogen, darunter das Knockster Tief, das Alte Greetsieler Sieltief und das Neue Greetsieler Sieltief. Breitere Entwässerungsgräben verbinden zudem eine Vielzahl von Höfen mit den Tiefs, so dass sich ein enges Netz von Wasserwegen ergibt, das in der Vergangenheit die Hauptlast des Verkehrs trug und heute vom Bootstourismus genutzt wird. Wie die meisten Gemeinden in Marschgegenden ist die Krummhörn kaum bewaldet. Natürlich gewachsener Wald kommt gar nicht vor, einzelne Wäldchen finden sich lediglich nahe Gehöften oder als Park wie bei der Osterburg in Groothusen. Bäume sind als Windfang zwischen einzelnen Feldern und als Einfriedungen zu finden. Geologie Das gesamte Gemeindegebiet liegt in der Marsch, der Boden ist großteils sehr fruchtbar mit einer hohen Bodenwertzahl. Seewärts wird das Gebiet von Deichen geschützt, da es nur unwesentlich über dem Meeresspiegel liegt. Die Bodenverhältnisse in der Krummhörn differenzieren stark, was auf das unterschiedliche Alter der Marschböden zurückzuführen ist. Die Altmarsch besteht hauptsächlich aus für den Ackerbau schlecht nutzbaren schweren Knickmarsch- und Seemarschübergangsböden. Sie werden vorwiegend als Weide- und Grünland, also für die Milchwirtschaft genutzt. Die Jungmarschgebiete mit ihren sehr leichten und mittelschweren Seemarschböden aus Klei erlauben sowohl Milch- als auch Ackerwirtschaft und bringen hohe Erträge. So nahm beispielsweise das Amt Greetsiel bei den Erträgen der typischen Marschfrüchte wie Weizen, Hafer, Gerste, Roggen, Raps, Erbsen und Bohnen im Verhältnis zur Einwohnerzahl im Amt Greetsiel den Spitzenplatz in ganz Ostfriesland ein. Vor allem die Altmarsch liegt zum Teil erheblich unter dem Meeresspiegel, weil die abgelagerten Sedimente durch ihr Eigengewicht, durch Zersetzungsvorgänge des darunterliegenden Moorbodens und durch Entwässerungsmaßnahmen abgesackt sind. Das trockengelegte frühere Freepsumer Meer galt mit 2,3 m unter NN lange Zeit als tiefster Punkt Deutschlands. Seit 1988 gilt jedoch eine Stelle in der Gemeinde Neuendorf-Sachsenbande in der Wilstermarsch in Schleswig-Holstein mit −3,54 m als tiefer liegend. Das Binnenland muss entwässert werden, um bei anhaltendem Regen nicht unter Wasser zu stehen. Dazu dienen unzählige kleine Gräben sowie kleinere und größere natürliche und künstliche Kanäle (regional Tief genannt). Diese werden wiederum über zwei Schöpfwerke entwässert: Das eine befindet sich im Ortskern von Greetsiel, das andere, größere, auf Emder Stadtgebiet an der Knock. Zuständig für die Entwässerung ist der I. Entwässerungsverband Emden mit Sitz in Pewsum. Gemeindegliederung Die Gemeinde Krummhörn besteht aus neunzehn Ortschaften, die bis zur kommunalen Gebietsreform 1972 selbstständige Gemeinden bildeten und aktuell noch als Gemarkungen bestehen. Jede dieser ehemaligen Gemeinden bestand aus mehreren Wohnplätzen, insgesamt mehr als 150. Die 19 Ortsteile (Einwohnerzahlen vom 31. Dezember 2018): Hauptort – und mit rund 3200 Bewohnern mit Abstand größter Ort – der Gemeinde ist Pewsum. Ziemlich genau ein Viertel der Krummhörner lebt dort. Greetsiel (1328 Einwohner) hat durch seine touristische Infrastruktur übergemeindliche Bedeutung. Die anderen 17 Dörfer sind deutlich kleiner. Entlang der Landesstraße 2 reihen sich die Dörfer Rysum, Loquard, Campen, Upleward, Hamswehrum und Groothusen wie an einer Perlenschnur auf. Der Abstand zwischen den Orten beträgt teils nur wenige Hundert Meter. Nachbargemeinden Die Krummhörn grenzt im Norden an die Stadt Norden, im Osten an die Gemeinde Osteel, an eine Exklave der Gemeinde Upgant-Schott, an die Gemeinde Wirdum (alle drei Samtgemeinde Brookmerland). Im Südosten folgt die Gemeinde Hinte. Diese Kommunen befinden sich alle im Landkreis Aurich. Im Süden grenzt die Gemeinde an die kreisfreie Stadt Emden. Westlich der Krummhörn liegt die Emsmündung und nordwestlich die Leybucht. Am gegenüberliegenden Ufer der Emsmündung befindet sich die niederländische Küste zwischen der Stadt Delfzijl und Eemshaven. Intensive Beziehungen bestehen zu Emden und Norden. Als Einkaufsorte und vor allem als Arbeitsorte haben die beiden Städte, insbesondere Emden, eine große Bedeutung für die Krummhörn. Klima Die Krummhörn liegt in der gemäßigten Klimazone. Das Gemeindegebiet unterliegt hauptsächlich dem Einfluss der Nordsee. Im Sommer sind die Tagestemperaturen tiefer, im Winter häufig höher als im weiteren Inland. Das Klima ist insgesamt von der mitteleuropäischen Westwindzone geprägt. Nach der effektiven Klimaklassifikation von Wladimir Peter Köppen befindet sich die Krummhörn in der Einteilung Cfb. Klimazone C: Warm-Gemäßigtes Klima Klimatyp Cf: Feucht-Gemäßigtes Klima Klimauntertyp b: warme Sommer Die nächstgelegene Wetterstation befindet sich in Emden. Schutzgebiete An der Nordwestspitze der Krummhörn bei Greetsiel befindet sich das Naturschutzgebiet „Leyhörn“. Es wurde als Ausgleichsmaßnahme beim Bau des Leysiels angelegt. Das Gebiet ist rund 650 Hektar groß, davon 400 Hektar neu geschaffene Biotope und Wiesen. Die Leyhörn und die angrenzende Leybucht gelten als „Brut- und Rastgebiet internationaler Bedeutung, beispielsweise für Nonnen- und Ringelgänse. Austernfischer sind dort ebenso zu beobachten wie die seltenen Löffler.“ Ebenfalls nahe Greetsiel befindet sich ein 65 Hektar großes Naturschutzgebiet, das nach dem Aushub des Kleis für den Deichbau an der Leyhörn entstand. Das Gelände wurde vernässt und dient ebenfalls als Vogelrastgebiet. Insgesamt 5776 Hektar Fläche sind in der Krummhörn als EU-Vogelschutzgebiet ausgewiesen. Ein geringerer Teil dieses Gebiets liegt auf dem Gebiet der Nachbarkommunen Emden und Hinte. Die Fläche erstreckt sich von der Spitze der Leyhörn am Deich entlang bis Rysum und schließt auch weiter im Binnenland gelegene Flächen zwischen Greetsiel und Pilsum sowie beiderseits des Knockster Tiefs bis Groß-Midlum ein. Als Landschaftsschutzgebiet ist der Park bei der Osterburg in Groothusen verzeichnet, als Naturdenkmal ein Wäldchen in Grimersum. Geschichte Die Gemeinde Krummhörn ist relativ jung. Sie entstand am 1. Juli 1972 durch Zusammenschluss früher selbstständiger Gemeinden, die heute die neunzehn Ortsteile der Gemeinde bilden. Besiedlung Die Geschichte der Besiedelung der Region reicht weit zurück. Davon zeugen Funde aus der Steinzeit und der römischen Kaiserzeit. Die ersten Dörfer wurden zu einer Zeit, als das Land noch nicht mit Deichen vor dem Meer geschützt war, auf Warften angelegt. Die damals angelegten Entwässerungsgräben, die so genannten Tiefs, folgen in der Krummhörn offenbar weitgehend natürlichen Ablaufrinnen und sind dementsprechend ungerade. Später angelegte Siedlungen in der Marsch zeichnen sich hingegen durch schnurgerade angelegte Tiefs aus. Besiedelt wurde zunächst der Bereich des ehemaligen Ufersaumes. Hier errichteten die Bewohner in urgeschichtlichen Zeiten Warften an günstigen Stellen der noch unbedeichten Marsch. Damit konnten sie die fruchtbaren Kleiböden nutzen und hatten über weit ins Landesinnere reichende Priele zugleich Zugang zum Meer. Die meisten dieser Warften wurden in der Völkerwanderungszeit aufgegeben. Erst ab dem 8. Jahrhundert schließlich wurde die Region durch Friesen besiedelt, wovon zahlreiche Funde zeugen. Dabei wurden alte Warften übernommen und neu bebaut oder neue errichtet. Zumeist waren dies bäuerliche Siedlungen mit runden oder länglich-runden Umrissen. In dieser Zeit entstanden aber auch erstmals reine Handelssiedlungen auf Langwarften, sogenannte Wiksiedlungen, so in Grimersum, Groothusen und Emden. Während Emden sich aufgrund seiner Lage an der Ems zu einer Hafenstadt entwickeln konnte, verloren Grimersum und Groothusen ihre Bedeutung als Handelsorte nach dem Deichbau, der um das Jahr 1000 einsetzte. Die meisten Krummhörner Dörfer entstanden jedoch als Rundwarften, in Rysum am besten erkennbar. Im frühen Mittelalter reichte die Krummhörn von der Emsmündung bis zur Bucht von Sielmönken, die sie vom noch weiter nördlich liegenden Federgau trennte. Heutzutage ist die Bucht verlandet beziehungsweise dem Meer bis etwa 1300 durch stetige Eindeichungen abgerungen worden. Ebenfalls nicht mehr vorhanden ist die im Süden der Krummhörn liegende Fivelbucht. Fast alle Ortschaften der Krummhörn liegen an den Ufern dieser historischen Buchten und an der Nordsee im Westen. Erst mit dem Deichbau wurde eine Besiedelung außerhalb der Warften möglich. Vor allem im Bereich der Leybucht wurden die Bemühungen um dauerhafte Landgewinnung immer wieder vereitelt. Nach den Sturmfluten von 1374 und 1376 erreichte die Bucht mit einer Fläche von gut 129 Quadratkilometern ihre größte Ausdehnung und reichte von Greetsiel im Westen bis Marienhafe im Osten und vom Rand der Stadt Norden bis nach Canhusen im Süden. Über die Jahrhunderte wurde sie allmählich eingedeicht, bis sie in den 1950er Jahren ihre heutige Größe erreichte. Von Campen aus verlief der Konrebbersweg, eine Durchgangsstraße, die vorbei an Emden, dem Großen Meer über Aurich bis nach Wittmund führte. Heute ist der Emder Stadtteil Conrebbersweg nach diesem alten Heerweg benannt. Zeit der Häuptlinge und der Cirksenas Der fruchtbare Marschboden bildete die Grundlage für den großen Wohlstand der Bauernschaft in der Krummhörn bereits seit dem ausgehenden Mittelalter. Vom 13. bis 14. Jahrhundert entstanden in fast allen Orten der Krummhörn Häuptlingsburgen der reichsten Familien aus dem Bauernstand, deren Besitzer schon bald die Seeräuberei der Vitalienbrüder unterstützten, bis eine Strafexpedition der Hanse, die mit der Zerstörung zahlreicher Burgen einherging, diesem Unwesen ein Ende setzte. Als Macht- und Handelszentren in der Krummhörn entwickelten sich Greetsiel und Pewsum, in deren Umland die Häuptlingsfamilien Cirksena und Manninga über großen Landbesitz verfügten. Beide Orte waren auch stärker gewerblich ausgerichtet als ihre landwirtschaftlich geprägten Umlandgemeinden. Die nördliche Krummhörn war die Basis der Häuptlingsfamilie Cirksena, die ihren Stammsitz auf der Burg Greetsiel hatte, zur Herrschaftsbildung in Ostfriesland. Unter ihrer Regierung (ab 1464 Reichsgrafschaft) wurde Ostfriesland in elf Ämter eingeteilt, die Vorläufer der heutigen Landkreise. Aus den Kirchspielen entwickelten sich in den folgenden Jahren politische Gemeinden. Die nördliche und nordwestliche Hälfte der Krummhörn zählte fortan zum Amt Greetsiel, die südöstliche zum Amt Emden, das die Seehafenstadt selbst einschloss. Dazwischen lagen das kleine Amt Pewsum und die sich nördlich beziehungsweise südlich anschließenden Herrlichkeiten Jennelt und Rysum, die erst 1807 dem Amt Pewsum zugeschlagen wurden. Im Jahr 1565 fiel auch Pewsum an die Cirksena, die die dortige Manningaburg als Sommer- und Witwensitz nutzten. Größere Eindeichungen wurden im 14./15. Jahrhundert und noch einmal 1603 vorgenommen. Eine Meeresregression hat dies nach Ansicht von Forschern wahrscheinlich begünstigt. Im Norden des heutigen Gemeindegebietes wurde 1603 der Schoonorther Polder eingedeicht. Durch ihn wurden der Leybucht 418 Hektar neue Landwirtschaftsfläche abgerungen. Die Weihnachtsflut 1717 beschädigte den Deich, das Land wurde überflutet und später wieder zurückgewonnen. Im 16. und 17. Jahrhundert entstand der Typus des Gulfhauses. In der Krummhörn wurde dieser Haustyp infolge reicher Erntejahren zumeist in größerer Bauweise errichtet. Die Backsteine wurden zumeist im Feldbrand hergestellt. Im 17. und 18. Jahrhundert war die Gegend mehrfach Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen. Während des Dreißigjährigen Krieges wurde die Krummhörn mehrmals von auswärtigen Truppen besetzt. So im Jahr 1623 durch die Truppen des protestantischen Heerführers Ernst von Mansfeld, ihnen folgten 1637 die Hessen, die bis 1651 blieben. Auch während des Appell-Krieges 1727 fanden Auseinandersetzungen in der Krummhörn statt. Außer den langwierigen Folgen der Kriege und der Weihnachtsflut von 1717 wurde Ostfriesland in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch niedrige Getreidepreise in Europa und Viehseuchen belastet. Darunter litt eine landwirtschaftlich geprägte Gegend wie die Krummhörn erheblich. Erste preußische Herrschaft Im Jahr 1744 fiel Ostfriesland durch eine Exspektanz an das Königreich Preußen. Der preußische Staat förderte in den folgenden Jahrzehnten den Landesausbau Ostfrieslands – besonders durch Moorkolonisierung, aber auch durch Eindeichungen. Auch auf dem heutigen Krummhörner Gebiet wurden mehrere Polder eingedeicht. Darunter sind der Magotspolder (1768, 85 ha), der Hagenpolder (1770, 133 ha) und der Angernpolder (1804, 49 ha). Auf den neu eingepolderten Flächen wurden unter anderem Staatsdomänen eingerichtet. Die Krummhörn wurde während des Siebenjährigen Krieges zweimal von fremden Truppen besetzt. Truppen der französischen Generale Dumourier und d’Auvet besetzten den Landstrich 1757, der Marquis de Conflans 1761. Die Besatzer verlangten Naturalleistungen und Kontributionen. Wie im restlichen Preußen wurde auch in der Krummhörn mit ihren fruchtbaren Jungmarschböden die Kartoffel heimisch. Die Viehbestände erhöhten sich bis zur Jahrhundertwende 1800 und erreichten nach Flut und Seuchen wieder das Niveau vom Beginn des Jahrhunderts. Auch der Pferdebestand „lag bereits an der Grenze dessen, was der Markt verlangte“. Käufer für Vieh und Pferde kamen auch von außerhalb Ostfrieslands. Die landwirtschaftlichen Exporte stiegen in den Jahren nach 1770 an. Unter anderem wurden größere Mengen Hafer nach England exportiert. Dies traf vor allem während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges und der Französischen Revolutionskriege zu. Die Krummhörn bis zur Reichsgründung 1806 fiel ganz Ostfriesland an das Königreich Holland. Die ein Jahr zuvor verhängte Kontinentalsperre traf den Handel mit landwirtschaftlichen Produkten, die nach England ausgeführt wurden, empfindlich. 1810 wurde der Landstrich als Département Ems-Oriental Frankreich angegliedert, kam nach der Niederlage Napoleons kurzzeitig wieder zu Preußen, wurde im Wiener Kongress dann aber dem Königreich Hannover zugeschlagen. Im 19. Jahrhundert verlor die Krummhörn bei einer Auswanderungswelle einen erheblichen Teil ihrer Bevölkerung. Während in den größeren Orten Greetsiel und Pewsum rund 10 Prozent abwanderten, belief sich die Quote in kleineren Orten wie Rysum, Manslagt oder Pilsum auf zirka 30 Prozent. Aufgrund der Erbteilsregelung, die dem jüngsten Sohn den Hof überließ, waren es insbesondere dessen ältere Brüder, die sich oft anderenorts ansiedelten. Auch heirateten Schwestern oft anderenorts ein. Auch viele Landarbeiter-Kinder, zumal sie räumlich noch am flexibelsten waren, wanderten in großer Zahl aus. Auswanderer in die USA ließen sich vor allem in den Bundesstaaten Iowa und Illinois nieder. Ein Hintergrund für die Abwanderung von Landarbeitern war die sich durch jahrhundertelange Segregation gebildete Schichtung, die in der Krummhörn fast nur aus Ober- und Unterschicht bestand. Eine Mittelschicht, etwa aus Handwerkern und kleinen Gewerbetreibenden, fehlte fast völlig. Ausnahmen bildeten lediglich die größeren Orte Pewsum und Greetsiel und auch das nur in bescheidenem Rahmen. Zur Auswanderungswelle beigetragen haben letztlich auch Agrarkrisen mit sinkenden Preisen für Getreide, was für die Landwirtschaft, für Bauern ebenso wie für deren Mägde, Knechte sowie hoffremde Landarbeiter Einkommens- oder gar Arbeitsplatzverlust bedeutete. Dramatische Preiseinbrüche gab es beispielsweise Anfang der 1820er Jahre. Schäden richtete zudem die Februarflut 1825 an den Feldern an. Die Versalzung infolge der Sturmflutschäden war erheblich. Überflutungen gab es in den neueren Poldern im Norden des heutigen Gemeindegebiets. Ein weiterer Grund war eine zunehmende Entfremdung zwischen dem Bauern und den Landarbeitern. War es Anfang des 19. Jahrhunderts noch üblich, dass die Arbeiter mit der Bauersfamilie den Tisch teilten und der Bauer sich für „seine“ Arbeiter verantwortlich fühlte, so ging das Verhältnis bis zur Mitte des Jahrhunderts mehr und mehr in ein unpersönliches Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis ohne gesellschaftliche Bindung über. Im Jahr 1859 wurden die Ämter Greetsiel und Pewsum vereinigt. Amtssitz wurde die Burg in Pewsum. Als Preußen im Deutschen Krieg das Königreich Hannover annektierte, kam die Krummhörn mit Ostfriesland wieder an Preußen. Im Kaiserreich Bei der preußischen Gemeindereform 1885 kam das vorliegende Gebiet zum Kreis Emden. 1899 erfolgte der Anschluss der Krummhörn an das Bahnnetz durch den Bau der schmalspurigen Kreisbahn Emden–Pewsum–Greetsiel. Die Kleinbahnstrecke wurde jedoch 1963 stillgelegt. Während des gesamten 19. Jahrhunderts und auch bis ins 20. Jahrhundert hinein gab es große soziale und wirtschaftliche Gegensätze zwischen reichen Großbauern und armen Landarbeitern. Für die Krummhörn kann festgestellt werden, was auch für andere ostfriesische Marschgemeinden galt: „In der Marsch wirkten sich die sozialen Unterschiede besonders scharf und hart aus: Auf der einen Seite zähe und stolze Bauern, Herren durch und durch, auf der anderen Seite die Tagelöhner. Auch sie gleichen Stammes und den Bauern an Stolz nicht nachstehend, aber wirtschaftlich in drückender Abhängigkeit.“ In Berichten von Landarbeitern heißt es, dass die Arbeitstage von 4 bis 18 Uhr dauerten, unterbrochen von einer eineinhalbstündigen Mittagspause. Die Landarbeiter schliefen, so sie kein eigenes (und wenn doch, ein zumeist sehr ärmliches) Häuschen besaßen, oftmals mit dem Vieh im Stall. Schon mit etwa 13 Jahren, direkt nach dem Schulbesuch, wurde der Nachwuchs über sogenannte „Gesindemakler“ an Bauern vermittelt. Neben anderen gesundheitlichen Problemen war auch Alkoholismus weit verbreitet. Zur Sicherung der Schifffahrt auf der Ems errichtete der Staat 1889 sowohl den Campener als auch den Pilsumer Leuchtturm. 1913 wurde das Gebiet der heutigen Gemeinde durch Eindeichungen erneut erweitert. Bei der Eindeichung des Schoonorther Polders 1913 wurden der Leybucht 377 Hektar Land abgerungen. Weimarer Republik und Nationalsozialismus Das Ende des Ersten Weltkrieges führte zu einem politischen Erwachen der Unterschicht. Auch wenn die Novemberrevolution in Ostfriesland hauptsächlich auf die Städte und auch hier nur auf eine Minderheit der Einwohner beschränkt war. In der ländlichen, eher konservativ ausgerichteten Bevölkerung Ostfrieslands konnten sich die Arbeiter- und Soldatenräte nicht etablieren, so lösten sie sich dort nach der Wahl zur Weimarer Nationalversammlung nach und nach auf. In der Krummhörn jedoch organisierten sich die Arbeiter und gründeten erstmals einen Landarbeiterverband als Interessenvertretung. Dies führte zu einer noch tiefergehenden Spaltung der Gesellschaft, auf der sich die konservativ wählenden Gutsbesitzer den sozialdemokratischen oder weiter links stehenden Landarbeitern gegenüberstanden. Während der Inflationszeit verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage der besitzenden Bauern erheblich. Die Inflation hatte die Kapitalreserven der Bauern vernichtet. In der Folge schwand ihre Kreditwürdigkeit, und notwendige Investitionen konnten nicht getätigt werden. Durch die Schwächung der allgemeinen Kaufkraft waren sie auch auf der Einnahmenseite hart getroffen. In dieser Situation sahen sie sich dann zusätzlich noch Lohnforderungen der Landarbeiter ausgesetzt, die im Jahre 1923 während der Erntezeit streikten. Dabei kam es in der Krummhörn auch zu Handgreiflichkeiten gegenüber den Bauern. Diese setzten als Gegenreaktion Streikbrecher ein. Während industrialisiertere Regionen und Städte erst später von der Weltwirtschaftskrise getroffen wurden, ergriff diese das landwirtschaftlich geprägte Ostfriesland und die Krummhörn jedoch. Ab 1924 kam es zu einem starken Preisverfall bei Agrarprodukten um bis zu 40 Prozent. Dies führte zu einem erdrutschartigen Erstarken des rechten Spektrums bei den Wahlen. Während hier in den 1920er-Jahren noch die DNVP dominierte, übernahm in den 1930er-Jahren zunehmend die NSDAP die Führung. Dennoch lagen die Stimmenanteile der NSDAP in der Krummhörn im niedersächsischen Durchschnitt. An wenigen Orten, etwa Hamswehrum, dominierte gar das linke Spektrum aus SPD und KPD, insbesondere 1932 und 1933 mit Werten um 60 Prozent. Zurückzuführen ist dies auf einen hohen Anteil an Landarbeitern, die eher SPD oder KPD wählten. 1932 wurde der Cirksenapolder eingedeicht. Es handelt sich bei dem 32 Hektar großen Neuland um die letzte Landgewinnungsmaßnahme zur Besiedlung und Bewirtschaftung auf dem Gebiet der Gemeinde. Bei der Kreisreform in jenem Jahr wurde der Landkreis Emden aufgelöst. Die Gemeinden der heutigen Krummhörn gehörten fortan zum Landkreis Norden. Erst mit dem Abklingen der Weltwirtschaftskrise ab 1932 und nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 verbesserte sich die wirtschaftliche Lage. Die Wirtschaftspolitik der Nationalsozialisten war auf Autarkie ausgerichtet und förderte insbesondere die Landwirtschaft. Hier versuchten die Nationalsozialisten, den starken Gegensatz zwischen Bauern und Landarbeitern, der nicht zu ihrem illusorischen Konzept der Volksgemeinschaft passte, aufzubrechen. Auf den Höfen tätige Landarbeiter sollten künftig als Gefolgschaft bezeichnet werden – ein Unterfangen, das ebenso wenig von dauerhaftem Erfolg gekrönt war wie die scheinbare Stabilisierung, welche die Landwirtschaft in der Zeit des Dritten Reiches erfuhr. Unmittelbar nach der Machtübernahme begann auch in der Krummhörn die Verfolgung politischer Gegner. In Greetsiel etwa befürchtete der Ortsgruppenleiter ein Aufleben der kommunistischen Bewegung und beantragte die Inschutzhaftnahme einiger Kommunisten. Während des Zweiten Weltkriegs befanden sich auf dem heutigen Gemeindegebiet in allen Orten Kriegsgefangenen-Arbeitslager, in denen vornehmlich Belgier, Franzosen und Serben, später auch Polen und sogenannte Ostarbeiter aus der Ukraine und Russland inhaftiert waren. Die Gefangenen wurden in der damals noch deutlich weniger mechanisierten Landwirtschaft und den Ziegeleien der Krummhörn eingesetzt. Vereinzelt wurden in der Folgezeit Krummhörner wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen festgenommen und zu Zuchthausstrafen bis zu einem Jahr und drei Monaten und der Aberkennung der Bürgerlichen Ehrenrechte für drei Jahre verurteilt. Seit 1940 war die Krummhörn Ziel von Spreng- und Brandbombenabwürfen, blieb aber zunächst ohne größere Schäden. Im Meer befanden sich zudem Treibminen und Sprengbojen. Im Jahre 1941 stürzte ein britisches Flugzeug im Watt vor dem Pilsumer Leuchtturm ab. Die Besatzung überlebte und wurde von einem deutschen Seenotrettungsflugzeug aufgenommen. Dieses verunglückte dann beim Start. Drei Gefangene kamen um, die deutsche Besatzung und zwei Gefangene überlebten. Bei einem größeren Angriff auf Greetsiel durch etwa 100 Flugzeuge wurden in der Nacht vom 22. zum 23. Juni 1942 vier Häuser durch Brandbomben zerstört und mehrere beschädigt. Bei einem Großeinflug von etwa 150 feindlichen Bombern stürzte ein Flugzeug über Greetsiel ab. Die Krummhörn blieb bis vor Kriegsende unbesetzt. Erst nachdem auf dem Timeloberg am Ortsrand von Wendisch Evern eine deutsche Delegation unter Leitung von Hans-Georg von Friedeburg, die von Karl Dönitz der in Flensburg-Mürwik verweilte autorisiert war, am 4. Mai 1945 im Beisein des britischen Feldmarschalls Bernard Montgomery eine Urkunde zur bedingungslosen Kapitulation der drei in Nordwestdeutschland operierenden deutschen Armeen unterzeichnete, die am 5. Mai um 7 Uhr in Kraft trat, wurde das nördliche Ostfriesland von kanadischen Truppen besetzt. Seit 1945 Nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich in der Krummhörn ein tiefgehender Strukturwandel, der mit einem Wandel der Sozialstrukturen einherging. Die traditionell wichtige Landwirtschaft verlor als Arbeitgeber immer mehr an Bedeutung. Durch die Technisierung waren Hilfsarbeiter nicht mehr nötig. Der Landwirt konnte seine Aufgaben weitgehend selbst erledigen, wodurch familienfremde Mitarbeiter zur Ausnahme wurden. Lag der Beschäftigungsanteil in der Landwirtschaft 1950 noch bei 42,8 %, so sank er bis 1965 auf 26,1 %. Demgegenüber führte die schrittweise Industrialisierung und hier vor allem der Bau des Volkswagenwerkes in Emden zu einer erheblichen Verbesserung der sozialen Lage der früher in der Landwirtschaft eingesetzten Kräfte. Neben der Infrastruktur im Hauptort Pewsum wurde vor allem die touristische Infrastruktur in Greetsiel ausgebaut. Dazu zählt neben gastronomischen Betrieben und einem Schwimmbad auch das Nationalparkhaus, das 1992 eröffnet wurde und seitdem mehr als 400.000 Besucher verzeichnet hat. Der Tourismus ist neben der Landwirtschaft inzwischen der wichtigste Erwerbszweig innerhalb der Gemeinde. Viele Krummhörner verdienen ihren Lebensunterhalt jedoch auch außerhalb der Gemeindegrenzen. Die Jahrhunderte währende Geschichte der Eindeichungen an der Küste der Krummhörn fand 1991 ihren bisherigen Abschluss. An der Leybucht wurde die Landzunge Leyhörn mit dem Leysiel eingedeicht, das unter anderem der Freihaltung des Fahrwassers zum Greetsieler Hafen dient. Eingemeindungen Am 1. Juli 1972 wurden die bis dato selbstständigen 19 Gemeinden Campen, Canum, Eilsum, Freepsum, Greetsiel (Flecken), Grimersum, Groothusen, Hamswehrum, Jennelt, Loquard, Manslagt, Pewsum (Flecken), Pilsum, Rysum, Upleward, Uttum, Visquard, Woltzeten und Woquard zur heutigen Gemeinde Krummhörn zusammengeschlossen, die am 1. August 1977 nach Auflösung des Landkreises Norden dem Landkreis Aurich zugeschlagen wurde. Seit der Kommunalreform ist Pewsum sukzessive zum Hauptort ausgebaut worden. Die Einkaufsmöglichkeiten im Ortskern wurden durch ein größeres Gewerbegebiet ergänzt. In Pewsum befinden sich zudem das Hallenbad der Gemeinde und mehrere Schulen bis zur Sekundarstufe I eines Gymnasiums. Der Nachfrage nach Baugrundstücken kam die Gemeinde durch ihre Baulandpolitik nach. Neben kleineren Baugebieten oder Baugrundstücken in den kleineren Ortschaften wurden insbesondere in Pewsum und Greetsiel großzügige Baulandflächen ausgewiesen. Bevölkerungsentwicklung Die 19 Gemeinden, die 1972 zur Krummhörn zusammengeschlossen wurden, hatten zum Zeitpunkt der preußischen Kreisreform 1885 zusammen 8491 Einwohner. Bis 1933 wuchs die Einwohnerzahl auf 9406, bis 1939 auf 9627. Ein wesentlicher Schub in der Einwohnerentwicklung ergab sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als viele Flüchtlinge aus den früheren Ostgebieten des Deutschen Reiches aufgenommen wurden. So waren 1946 von den 13.350 Einwohnern der heutigen Ortsteile 2803 Flüchtlinge, also rund 21 %. Diese waren ungleich verteilt: Während in Woltzeten der Flüchtlingsanteil an der Gesamtbevölkerung bei 15,9 % lag, kam Pewsum auf 28,9 %. Bis 1950 stieg die Zahl im Hauptort der Krummhörn noch auf 33,6 %. Schon während des Krieges waren in der Krummhörn viele Evakuierte aus dem durch Bombenangriffe zerstörten Emden untergebracht worden. Die Aufnahme weiterer Flüchtlinge aus den Ostgebieten traf die Region völlig unvorbereitet. Oftmals hatten die Bürgermeister gar keine Vorkehrungen unternommen, so dass die Neuankömmlinge mit offen gezeigtem Unmut empfangen wurden. Erst die Anlage neuer Siedlungen, etwa in Uttum auf dem ehemaligen Sportplatz oder in Upleward, sowie verbesserte Arbeitsmöglichkeiten trugen zur Entspannung der Lage der Flüchtlinge bei; ihnen wird ein großer Anteil am Wiederaufbau bescheinigt. Zudem haben sie die Wirtschaft gestärkt und zu einer Öffnung der Gesellschaft beigetragen. Bemerkenswert ist, dass eine Reihe von Ortschaften 1885 bereits ungefähr so viele Einwohner hatten wie 2008; teils lag die Einwohnerzahl damals sogar höher. So hatte Manslagt 1885 474 Einwohner, 2008 waren es 413. Auch Pilsum, Loquard und Uttum hatten ähnlich große Einwohnerzahlen wie im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Zu begründen ist dies mit Landflucht wegen der abnehmenden Bedeutung der Landwirtschaft als Arbeitsmarktfaktor. Besonders das Berufsbild des Landarbeiters ist kaum noch zu finden – abgesehen von Mitarbeitern landwirtschaftlicher Lohnunternehmen, die aber nicht notwendigerweise auch in der Gemeinde wohnen. Am augenfälligsten gewachsen ist hingegen der Hauptort Pewsum (1885: 681 Einwohner, 2008: 3289 Einwohner), der seit der Gemeindereform 1972 sukzessive zum Zentrum der Gemeinde ausgebaut wurde. Die Krummhörn, die zu Beginn der 2000er-Jahre noch deutlich mehr als 13.000 Einwohner verzeichnete, ist inzwischen auf rund 12.400 Einwohner (am 31. Dezember 2011) geschrumpft. Durch die unter der Netto-Reproduktionsrate liegende Geburtenrate und durch die Abwanderung jüngerer Bürger wegen fehlender Ausbildungsmöglichkeiten sinkt die Einwohnerzahl. Viele jüngere Einwohner kehren der Gemeinde dauerhaft den Rücken. Durch Zuwanderung meist älterer Bürger aus anderen Teilen Deutschlands wurden Geburtendefizit und Abwanderung lange Zeit noch ausgeglichen. Inzwischen gilt dies nicht mehr, die Kreisverwaltung Aurich prognostiziert der Krummhörn einen weiteren Rückgang der Einwohnerzahl. So soll die Einwohnerzahl der Krummhörn zwischen 2011 und 2024 um 18 % schrumpfen. Dies entspricht einem Rückgang von etwa 2.300 Personen auf dann etwa 10.500 Einwohner. Sehr deutlich zurückgehen wird nach dieser Prognose die Bevölkerungsgruppe der 18- bis 25-Jährigen: um 37 %. Tabellarische Übersicht Entwicklung des Gemeindenamens Die Gemeinde ist nach einem halbinselartig an der unteren Emsmündung liegenden Bereich Ostfrieslands benannt. Nach der Eingliederung Ostfrieslands in das Frankenreich wurde die Region auf die Grafschaften Emsgau und zu einem kleinen Teil auf den Federgo aufgeteilt. Nach dem Zerfall des Emsgaus wurde für den zwischen Dollart und Ley liegenden Teil des Gebietes die Bezeichnung Krummhörn üblich. Im frühen 16. Jahrhundert wurde die Region erstmals als Krummhörn („k(?) romme horn“, „de kromme Horne“) bezeichnet. Die Krummhörn ragt an der äußersten Südwestspitze der ostfriesischen Halbinsel nach Südwest. In der Vergangenheit war diese Gegend von mehreren tief ins Land eindringenden Buchten gesäumt, so dass sich verwinkelte („krumme“) Landstriche ergaben. Die Buchten wie diejenigen von Sielmönken oder Campen sind inzwischen durch Eindeichung verschwunden, der Name des Landstrichs ist geblieben und lebt seit 1972 auch offiziell im Gemeindenamen fort. Religionen In 16 Ortsteilen der Gemeinde Krummhörn dominiert die evangelisch-reformierte Kirche. Ihre Gotteshäuser entstammen fast alle der vorreformatorischen Zeit, haben aber in ihrem Inneren aufgrund der Bedürfnisse des reformierten Gottesdienstes tiefgreifende Veränderungen erfahren. Die Apsiden – ursprünglich liturgisches Zentrum der Kirchen – wurden vom übrigen Gottesdienstraum abgetrennt. Teilweise dienen sie als Gemeinderaum, teilweise als Abendmahlssaal. Gottesdienstlicher Mittelpunkt der reformierten Kirche ist die Kanzel, die sich an einer der Längswände befindet und auf die hin das Kirchengestühl ausgerichtet ist. Erst durch die Renovierungsarbeiten der vergangenen Jahrzehnte wurden in Canum und Eilsum übertünchte Wandbilder freigelegt und durch eine vorsichtige Farbgebung die ursprüngliche Ausstattung der mittelalterlichen Kirchen erahnbar gemacht. Lutherische Inseln in der reformierten Krummhörn sind die Ortsteile Pewsum, Woquard und Loquard. Dass in diesen drei Orten bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein Wechsel zur lutherischen Lehre stattfand, geht auf die schwedische Königstochter und Ehefrau des ostfriesischen Grafen Edzard II. Katharina Wasa zurück. Ihr Ehemann hatte nach dem Kauf der genannten Orte auch die Patronatsrechte inne. Katharina machte sich als strenggläubige Lutheranerin dafür stark, dass vakante Pfarrstellen in Pewsum, Woquard und Loquard ausschließlich von Predigern der wittenbergischen Konfession besetzt wurden. Die Pewsumer Nicolai-Kirche und die Loquarder Kirche stammen aus dem 13. Jahrhundert. Die Marienkirche in Woquard datiert aus dem Jahr 1789 und wurde auf den Fundamenten eines Vorgängerbaus von circa 1250 errichtet. Die einzige Baptistengemeinde der Krummhörn befindet sich im Ortsteil Jennelt. Die Gemeinde wurde um 1865 als Tochtergemeinde von den Baptisten in Ihren gegründet. Ihr erstes Versammlungshaus befand sich zunächst in Hamswehrum. Zehn Jahre später erbauten die Krummhörner Baptisten ihre Kapelle in Jennelt. Sie wurde zum Ausgangspunkt für Gemeindegründungen in Emden, Norden und Moorhusen. Weitere Freikirchen in der Gemeinde Krummhörn sind die Evangelisch-altreformierte Kirche im Ortsteil Campen (1854 gegründet) sowie die Brüdergemeinde in Pewsum. Vom 16. bis ins 18. Jahrhundert siedelten in der Krummhörn auch Mennoniten, die unter anderem in Eilsum eine Gemeinde besaßen. In Pewsum befindet sich die kleine katholische Kapellengemeinde St. Hedwig, die in der Nachkriegszeit durch Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten gegründet wurde. Zunächst fanden die Gottesdienste sporadisch in einer Baracke statt. Im Jahr 1959 erbaute man an der Woltzetener Straße für die damals rund 200 Gemeindemitglieder ein kleines Gotteshaus, das über eine Grundfläche von nur 78 Quadratmetern verfügt. Die Gemeinde wird von der Katholischen Kirchengemeinde Emden aus geistlich betreut. Politik Krummhörn hat den Status einer Einheitsgemeinde. Die Kommune ist, wie der Großteil des Landkreises Aurich, seit Jahrzehnten Hochburg der SPD: Bei den Wahlen zum Landtag und Bundestag setzten sich deren Kandidaten stets mit deutlicher Mehrheit durch. Auch bei Gemeinderatswahlen erreichte die SPD stets die absolute Mehrheit. In der Amtsperiode 2006–2011 verlor sie diese allerdings durch Austritte und konnte diese auch bei den Kommunalwahlen 2011 nicht wieder erreichen. Gemeinderat Der Rat der Gemeinde Krummhörn besteht aus 30 Ratsfrauen und Ratsherren. Dies ist die festgelegte Anzahl für eine Gemeinde mit einer Einwohnerzahl zwischen 12.001 und 15.000 Einwohnern. Die 30 Ratsmitglieder werden durch eine Kommunalwahl für jeweils fünf Jahre gewählt. Die aktuelle Amtszeit beginnt am 1. November 2021. Stimmberechtigt im Rat der Gemeinde ist außerdem der hauptamtliche Bürgermeister. Die Kommunalwahl vom 12. September 2021 ergab das folgende Ergebnis: Die Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl 2021 lag mit 64,87 % über dem niedersächsischen Durchschnitt von 57,1 %. Zum Vergleich: Bei der Kommunalwahl 2016 lag die Beteiligung mit 63,33 % ebenfalls über dem niedersächsischen Durchschnitt von 55,5 %. Bei der Kommunalwahl vom 11. September 2011 lag die Wahlbeteiligung bei 62,40 %. Bürgermeister Nach der Kommunalwahl vom 12. September 2021 wurde die Einzelbewerberin Hilke Looden neue Bürgermeisterin der Gemeinde. Sie setzte sich im ersten Wahlgang mit 56,45 Prozent der abgegebenen Stimmen, gegen ihre Mitbewerber Jacobsen von der SPD (23,05 %) sowie Pauksen-Jacobs von der fbl (20,50 %) durch. Ihr Vorgänger war Frank Baumann von der SPD. Bei der Bürgermeisterwahl am 2. Februar 2014 setzte sich der damals 48-jährige Verwaltungsbeamte aus Pewsum mit 59,58 Prozent der abgegebenen Stimmen gegen Henning Paulsen-Jacobs (Freie Bürgerliste, 23,45 Prozent) sowie Johann Wienbeuker (Soziale Wählergemeinschaft (SWK), 17,07 Prozent) durch. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 50 Prozent. Baumann löste Johann Saathoff (ebenfalls SPD) ab, der bis zur Bundestagswahl am 22. September 2013 an der Gemeindespitze stand. Saathoff hat seither das Direktmandat im Bundestagswahlkreis Aurich – Emden inne. Baumann hatte zuvor bereits als Saathoffs Stellvertreter im Krummhörner Rathaus fungiert und war Erster Gemeinderat. Vertreter in Landtag und Bundestag Die Krummhörn gehört zum Landtagswahlkreis Emden/Norden, der aus der Stadt Emden, der Stadt Norden und den Gemeinden Krummhörn, Hinte und Hage besteht. Bei der letzten Landtagswahl in Niedersachsen 2022 gewann Matthias Arends von der SPD mit 43,9 % der Stimmen erneut das Direktmandat. Bei Bundestagswahlen gehört Krummhörn zum Wahlkreis 24 Aurich – Emden. Dieser umfasst die Stadt Emden und den Landkreis Aurich. Bei der Bundestagswahl 2021 wurde der Sozialdemokrat Johann Saathoff direkt wiedergewählt. Über Listenplätze der Parteien zog kein Kandidat der Parteien aus dem Wahlkreis in den Bundestag ein. Partnergemeinden Die Krummhörn ist bislang Partnerschaften mit Bad Ragaz in der Schweiz und Viļāni in Lettland eingegangen. Die Partnerschaft mit Vilani besteht seit 2004 und wird vor allem im kulturellen Bereich gepflegt. Die Partnerschaft mit Bad Ragaz, das wie die Krummhörn vom Tourismus geprägt ist, entstand aufgrund eines dortigen „Teetrinker-Events“. Anfang Januar 2011 ist die Krummhörn zudem eine Partnerschaft mit der Gemeinde Grundy Center im US-Bundesstaat Iowa eingegangen, wohin viele Ostfriesen, darunter Krummhörner, auswanderten. Kontakte nach Grundy Center und in andere Orte Iowas bestehen bereits seit Jahren, so wurde unter anderem schon 1995 von Mitgliedern der Ländlichen Akademie Krummhörn das Auswanderer-Musical „Achter de Sünn an“ (Der Sonne hinterher) in Grundy Center vor den Nachfahren der Auswanderer aufgeführt. Besuche von Mitgliedern der „Ostfriesen Genealogical Society of America“ in der Krummhörn fanden seitdem des Öfteren statt. Wappen Kultur und Sehenswürdigkeiten Museen In der Manningaburg im Zentrum von Pewsum befindet sich seit 1954 ein Burgmuseum, das von der Geschichte des Bauwerks und seiner Bewohner berichtet. Ebenfalls in Pewsum befindet sich das Mühlenmuseum in einem dreistöckigen Galerieholländer. Das Ostfriesische Landwirtschaftsmuseum in Campen zeigt in einer Dauerausstellung landwirtschaftliche Arbeitsgeräte mit Schwerpunkt auf der Zeit von 1850 bis 1950. Im Jahr 2010 wurden die drei Museen von 7631 zahlenden Gästen besucht, wovon allein 5120 auf das Landwirtschaftsmuseum entfielen. Kirchen Die ostfriesischen Küstengebiete wie die Krummhörn wurden erst in nachkarolingischer Zeit christianisiert. Ab dem 10. Jahrhundert wurden die ersten Kirchen aus Holz gebaut, die ab Mitte des 12. Jahrhunderts durch Steinkirchen ersetzt wurden. Während im östlichen Ostfriesland, das zum alten Bistum Bremen gehörte, in romanischer Zeit Granitquaderkirchen vorherrschend waren, baute man im westlichen Ostfriesland, das Teil des Bistums Münster war, die ältesten Steinkirchen aus Tuffstein. Die Küstennähe der Krummhörn eignete sich zum Import des Tuffs, der bereits am Fundort in der Eifel entsprechend zugesägt und dann auf Lastkähnen rheinabwärts und entlang der niederländischen Küste nach Ostfriesland geschifft wurde. Dank des gleichfalls importierten mittelrheinischen Baustils wiesen die ersten Steinkirchen mit ihren recht unterschiedlichen Grundrissen, in der Regel aber mit Turm und Apsis, bereits eine hohe Qualität auf. In der Wandgliederung kommt dies in Lisenen, Sockeln und Rundbogenfriesen zum Ausdruck. Zwar war der poröse Tuff leicht zu bearbeiten, andererseits aber im rauen Nordseeklima ohne lange Lebensdauer, sodass alle Tuffsteinkirchen, wie die vormalige Larrelter, die Groothuser und die Rysumer Kirche, später eingreifend umgebaut oder durch Backsteinbauten ersetzt wurden. Der Backstein setzte sich als neues Baumaterial erst ab dem 13. Jahrhundert durch, als man von Mönchsorden die Kunst erlernte, aus der reichlich zur Verfügung stehenden lehmhaltigen Erde wetterbeständige Ziegel zu brennen. Mithilfe wandernder Ziegelmeister konnten auf diese Weise vor Ort die in Holzformen geschlagenen Rohlinge in großen Meilern zu roten Ziegeln gebrannt werden. Die Backsteinkirchen waren meist als schlichte Einraumkirchen oder auch als Apsissäle gestaltet. Aus dem 13. Jahrhundert sind bei einigen noch die Gewölbe erhalten, wie beispielsweise in der Eilsumer Kirche mit dem einzigen Chorturm Ostfrieslands, der Kirche in Campen mit reich verzierten Gewölben oder der Canumer Kirche mit einem Domikalgewölbe. Die Form der rechteckigen Saalkirche bot die Möglichkeit, insbesondere die Ostseite mit Blendfeldern, Rautenmustern in den Giebeln, Okuli, Dreifenstergruppen, Konsolen, Lisenen und Bögen dekorativ zu gestalten, wie dies bei der Grimersumer Kirche markant in Erscheinung tritt. Für Ostfriesland einzigartig ist der Vierungsturm über der Pilsumer Kreuzkirche (Ende 13. Jahrhundert). Aufgrund des Marschbodens wurden bei den meisten Krummhörner Kirchen die Glockentürme separat gebaut, um das Kirchenschiff nicht zu gefährden, wenn die Türme auf dem weichen Untergrund durch das Geläut in Schieflage gerieten. Ein extremes Beispiel dafür ist der schiefe Turm im benachbarten Suurhusen. Im 14. Jahrhundert und zu Beginn des 15. Jahrhunderts sind eine geringe Bautätigkeit und ein gewisser Niedergang der hohen Baukunst zu verzeichnen. Bei der Greetsieler und Manslagter Kirche (beide um 1400) ist dies an der geringen Gebäudehöhe, der minderen Mauerqualität und den spärlichen Zierelementen abzulesen. Im 15. Jahrhundert erfolgte ein architektonischer Aufschwung, der dazu führte, dass selbst kleine Dörfer ein eigenes Kirchengebäude erhielten oder ältere Kirchen eingreifend umgebaut oder gar durch Neubauten ersetzt wurden, wie etwa bei der Rysumer und Groothuser Kirche. Von den mittelalterlichen Klosterkirchen sind keine erhalten. Die Klöster Palmar, Langen und Osterreide mussten infolge der Sturmfluten bereits in vorreformatorischer Zeit aufgegeben werden. Die Kommende Heiselhusen wurde 1492 in Abbingwehr eingegliedert. Balthasar von Esens zerstörte 1531 die Klöster Sielmönken, Appingen und Dykhusen. Orgellandschaft Die Krummhörn ist darin einzigartig, dass auf engem Raum derart viele historische Orgeln aus sechs Jahrhunderten weitgehend erhalten blieben. Bereits in der Spätgotik ist in der Krummhörn eine blühende Orgellandschaft auszumachen. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts sind zehn Orgelwerke belegt, und um 1500 besaßen auch viele Klöster eine Orgel. Die Orgel in Rysum aus dem Jahr 1457 gehört zu den weltweit ältesten Orgeln und ist in ihrem Grundbestand noch erhalten. An dem Instrument ist der Wandel von einem spätgotischen Blockwerk in eine Orgel mit mechanischen Schleifladen abzulesen. Um 1660 wurde die Orgel in Uttum unter Verwendung älteren Pfeifenmaterials erbaut, die heute eines der am besten erhaltenen Werke der Spätrenaissance ist. Sie geht auf niederländischen Einfluss zurück und zeichnet sich durch ihre singenden Prinzipale und farbigen Register aus. Eine der bedeutendsten Barockorgeln Ostfrieslands ist die Orgel in Pilsum von Valentin Ulrich Grotian (1694), der sich neben Arp Schnitger seine Eigenständigkeit bewahren konnte. Das Instrument verfügt über 16 Register auf zwei Manualen. In Eilsum ist nur noch der Prospekt von Joachim Kayser (1710) original. Die einzige weitgehend vollständige Orgel von Johann Friedrich Constabel steht in Jennelt. Sie wurde 1738 für Bargebur gebaut und stand zwischenzeitlich in Hamswehrum. In Greetsiel datiert Constabels Prospekt aus demselben Jahr, hingegen ist das Pfeifeninnenwerk neu. Mit den konkurrierenden Orgelbauern Hinrich Just Müller und Johann Friedrich Wenthin erreichte der Krummhörner Orgelbau im 18. Jahrhundert einen letzten Höhepunkt. Nahezu vollständig erhalten sind die Orgeln von Müller in Manslagt (1778) und sein letztes Werk in Woquard (1804), während in Loquard nur noch Müllers Prospekt aus dem Jahr 1793 zu sehen ist. Die größte Orgel der Krummhörn steht in Groothusen. Sie wurde 1801 von Wenthin fertiggestellt und weist einzigartige Flötenregister aus Mahagoni auf. Einen späten Nachklang der hohen Orgelkultur stellt das Werk in Freepsum von Wilhelm Caspar Joseph Höffgen (1839) dar. Die historische Orgelregion wird durch einige Orgelneubauten ergänzt, wie beispielsweise dem Werk von Jürgen Ahrend in Grimersum (1958, mit Flügeltüren und Spiegel-Diskantfeldern) und von Bartelt Immer in Canum (2009/10, einer Rekonstruktion der verlorenen gegangenen Holy-Orgel in Nesse). Weitere Bauwerke In der Gemeinde Krummhörn steht der höchste Leuchtturm an der deutschen Nordseeküste, der Leuchtturm Campen 65 Metern Höhe. Er ist ein Stahlfachwerkturm – wie er in jener Zeit in Mode war (vgl. Eiffelturm) – mit dreieckigem Querschnitt und einem Treppenrohr in der Mitte. Ein weiterer Leuchtturm ist der nur 13 Meter hohe, gelb-rot gestreifte Pilsumer Leuchtturm. Er wurde vor allem durch den Film „Otto – Der Außerfriesische“ des Komikers Otto Waalkes bekannt und gilt mittlerweile als eines der Markenzeichen Ostfrieslands. Von der einst reichen Burgenlandschaft der Krummhörn haben sich nur die Manningaburg in Pewsum und die Osterburg in Groothusen bis in die heutige Zeit erhalten können. Groothusen verfügte in seiner Blütezeit als Handelsort über drei Burgen; die beiden anderen (Middelburg und Westerburg) sind jedoch nicht erhalten. Große Gulfhöfe finden sich in allen Orten der Gemeinde sowie in den Gemarkungen zwischen den Ortschaften. Aus dem Jahr 1707 stammt beispielsweise der Scheunenteil des Hofes an der Ecke Swartweg/Tiede-Ubben-Straße in Groothusen. Der Wohnteil wurde in den 1860er- bis 1870er-Jahren im Stil des romantischen Historismus erbaut. Das Entstehungsjahr des Wohnteils des Gulfhofs Groothuser Busch nördlich des Ortes wird auf etwa 1670 taxiert, eine Renovierung erfolgte 1997. Ein weiterer älterer Gulfhof steht in Manslagt (1715). Nordwestlich von Greetsiel steht der Gulfhof Akkens auf einer Warf, die bereits zur römischen Kaiserzeit existierte. Der Wohnteil ist von 1683 und wurde um 1900 verputzt, die Scheune 1812 erneuert. Eine Besonderheit unter den Gulfhöfen ist der 1937 im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtete Hof Barth in Loquard, ein Ersatz für einen zuvor abgebrannten Hof. Er besteht aus dunklem Bockhorner Klinker, während die älteren Höfe in der Gemeinde mit dem für das westliche Ostfriesland typischen, helleren Klinker gebaut wurden. Mehrere Höfe (wenigstens deren Wirtschaftsteile) lassen sich nach telefonischer Voranmeldung besichtigen, darunter die Höfe Habbena (von 1866) und Sanders (von 1850) in Grimersum, der Helenenhof von 1843 in Pewsum und das Haus Clüver von 1835 in Pilsum. In den meisten Dörfern sind zudem Landarbeiterhäuschen erhalten. Dabei handelt es sich um die meist einräumigen kleinen Häuser des früheren Landarbeiter-Proletariats. Für diese Häuschen findet sich in Loquard am Amtsweg ein Beispiel: Das Haus wurde um 1800 in schlichter klassizistischer Form errichtet. In Rysum ist ein Landarbeiterhaus von 1766 das älteste Wohnhaus des Ortes. In Grimersum gibt es ein Landarbeiterhäuschen aus dem Jahr 1751. Beides sind Seltenheiten, da die Landarbeiterhäuschen zumeist aus Rest-Steinen von anderen Bauten errichtet und daher qualitativ eher minderwertig waren. Entsprechend oft mussten sie renoviert oder gar abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden. Im Zuge von Dorferneuerungsprogrammen ist in der Vergangenheit in mehreren Dörfern alte Bausubstanz gerettet worden, wenn auch eine Vielzahl alter Häuser bereits zuvor abgerissen worden war. Die Struktur eines Warftenrunddorfes lässt sich in Rysum sehr deutlich sehen: Um die Kirche herum stehen die Häuser an drei konzentrisch verlaufenden Dorfringstraßen. Der Durchmesser beträgt etwa 400 Meter, die Fläche rund 14 Hektar. An der äußeren stehen radial die Höfe, so dass sie mit ihrem Wirtschaftsteil in Richtung der umgebenden Felder zeigen. Rysum gilt als „das am besten erhaltene Runddorf Ostfrieslands“ und wurde 1998 niedersächsischer Landessieger beim Wettbewerb Unser Dorf hat Zukunft. Windmühlen finden sich in mehreren Ortschaften der Gemeinde, darunter in Pewsum, Rysum, Uttum (ohne Flügel) und Greetsiel. Bei den dortigen Zwillingsmühlen handelt es sich um zwei nebeneinander stehende, rot und grün bemalte Galerieholländer. Zwei Mühlen in unmittelbarer Nähe innerhalb eines Ortes sind selbst für die an Windmühlen reiche Region Ostfriesland selten. Von den einst mehreren Ziegeleien der Gemeinde ist lediglich diejenige in Pilsum noch in Grundzügen erhalten. Sie stammt aus dem Jahr 1898 und stellte 1972 den Betrieb ein. Mangels Folgenutzung verfällt sie jedoch zusehends. Eine Vielzahl historischer Häuser ist vor allem in Greetsiel erhalten geblieben. Dazu zählt auch das Hohe Haus aus dem Jahr 1696, dessen Kern jedoch älter ist. Bei dem zweigeschossigen traufständigen und teils verputzten Backsteinbau handelt es sich um das frühere Amtshaus eines Rentmeisters, das über „ungewöhnliche Ausmaße“ verfügt. Regelmäßige Veranstaltungen In verschiedenen Kirchen in der Gemeinde findet seit 2001 alljährlich der Krummhörner Orgelfrühling statt, zumeist an fünf bis sieben Tagen Ende April/Anfang Mai. Organisiert wird der Orgelfrühling vom Synodalverband Nördliches Ostfriesland der evangelisch-reformierten Kirche, der die große Mehrzahl der Kirchen in der Gemeinde angehört. Die Konzerte werden auf den vielen historischen Orgeln gespielt, die sich in der Gemeinde befinden – teils unter Begleitung anderer Instrumente sowie Gesang. Konzerte finden auch in der Nachbargemeinde Hinte und in der Nachbarstadt Emden statt. Ausgehend von der Gemeinde Krummhörn, hat sich inzwischen die Veranstaltung Gartenroute Krummhörn/Ostfriesland etabliert. In 13 Gärten, fünf davon in der Krummhörn und weitere in der Samtgemeinde Hage und den Gemeinden Großheide und Hinte, präsentieren die Besitzer ihre teilweise nach Themen geordneten Gärten. In Greetsiel findet seit mehr als 30 Jahren alljährlich die Greetsieler Woche statt, eine Kunstausstellung aus den Bereichen Malerei, Keramik, Goldschmiede und Bildhauerei. Alle zwei Jahre wird bei der Ausstellung der mit 5000 Euro dotierte Imke-Folkerts-Preis für bildende Kunst in Ostfriesland verliehen, zuletzt 2009. Abgabeberechtigt sind Werke aus den Bereichen Malerei, Grafik, Foto oder Skulptur. Ausstellungen sind auch regelmäßig in den Greetsieler Zwillingsmühlen zu sehen. Im Hochsommer findet an einem Samstag der Greetsieler Kutter-Korso statt, an dem nahezu alle Kutter aus dem Fischereihafen teilnehmen. Sie fahren für mehrere Stunden hinaus und nehmen dabei Gäste mit. Der Fuhrmannshof in Rysum, ein alter Gulfhof, wird für musikalische Veranstaltungen genutzt (die Reihe Weltklassik am Klavier), desgleichen der Freepsumer Gulfhof im gleichnamigen Ortsteil. Veranstaltungen aus dem Bereich der Kleinkunst werden seit 2009 im Sehr kleinen Haus in Pilsum gegeben. Initiator ist der Comedian Holger Müller alias Ausbilder Schmidt. Weitere kulturelle Veranstaltungen an verschiedenen Orten in der Gemeinde werden von der Ländlichen Akademie Krummhörn (LAK) organisiert. Upleward ist in jedem Sommer Schauplatz eines Schlickschlittenrennens. Dabei müssen die – oft verkleideten – Teilnehmer mit einem Schlickschlitten, einem sogenannten Kreier, festgelegte Strecken im Watt zurücklegen. Mit der Veranstaltung wird an die früheren Reusenfischer der Krummhörn erinnert, die mit Kreiern übers Watt ihre Reusen anfuhren und leerten. In Upleward findet zudem in jedem September ein größeres Drachenfest auf dem Deich und am sogenannten Trockenstrand statt. Dabei handelt es sich um ein binnendeichs gelegenes Erholungsareal, da sich außendeichs die Ruhezone des Nationalparks Wattenmeer befindet. Sprache In der Krummhörn wird neben Hochdeutsch Ostfriesisches Platt gesprochen. Durch den Zuzug niederländischer Glaubensflüchtlinge nach der Reformation war auch die Niederländische Sprache stark verbreitet, die vor allem von den reformierten Pastoren eingebracht wurde. Dies ging aber im 19. Jahrhundert stark zurück, als sich Ostfriesland kulturell verstärkt nach Deutschland orientierte und die reformierten Pastoren in deutschsprachigen Gebieten ausgebildet wurden. Erst 1936 wurde die niederländische Sprache in den Gottesdiensten der Altreformierten verboten. Heute spielt das Niederländische kaum noch eine Rolle, abgesehen von starken Einsprengseln der Sprache im lokalen Dialekt. Das Plattdeutsche ist in der Gemeinde durchaus verankert. Um auch die nachwachsende Generation frühzeitig mit dem Plattdeutschen in Kontakt zu bringen, gibt es unter anderem zweisprachige Kindergärten. Daneben gibt es plattdeutsche Gottesdienste, und es ist üblich, dass Hochzeiten auf Plattdeutsch abgehalten werden. Sport In der Gemeinde gibt es 22 Sportvereine. Deren größter ist der TuS Pewsum, der über Ostfriesland hinaus vor allem durch seine Fußballabteilung bekannt geworden ist und bis zum Ende der Saison 2008/2009 in der Fußball-Oberliga Niedersachsen (fünfte Liga) spielte. Derzeit spielen die Pewsumer in der sechstklassigen Bezirksoberliga Weser-Ems. Wie in ganz Ostfriesland sind auch in der Krummhörn die Friesensportarten Klootschießen und besonders Boßeln sehr beliebt. Die Sportarten werden auf Vereinsebene wettkampfmäßig ausgeführt. Im Hauptort Pewsum befindet sich ein Hallenbad. Wirtschaft und Infrastruktur In der Gemeinde befinden sich zwei Gewerbegebiete: eines im Hauptort Pewsum und eines in Greetsiel. Während in Pewsum vor allem Betriebe zur Deckung des täglichen Bedarfs, vor- und nachgelagerte Betriebe des Landwirtschaftssektors und einige andere mittelständische Betriebe vorhanden sind, gibt es im Greetsieler Gewerbegebiet unter anderem ein größeres Produktions- und Handelsunternehmen für die dort angelandeten Krabben (Nordseegarnelen). Postfilialen gibt es in Greetsiel und Pewsum. Die Unternehmen E.ON Ruhrgas und Gasunie speichern in der Gemeinde in unterirdischen Kavernen Erdgas. Dies hat zwar nur geringe Arbeitsplatzeffekte, sichert dem Gemeindehaushalt aber regelmäßige Steuereinnahmen. Aufgrund des häufig und stark wehenden Windes und nicht zuletzt auch wegen der dünnen Besiedlung eignet sich die Krummhörn zur Nutzung von Windenergie. In der Gemeinde gibt es vier Windparks: westlich von Pilsum am Deich, nordwestlich von Hamswehrum am Deich, südlich von Groothusen sowie zwischen Pewsum und Jennelt. Darüber hinaus gibt es einzelne Windenergieanlagen bei Gehöften. Die Krummhörn ist eine Auspendler-Gemeinde. Insbesondere in Emden mit seinem Volkswagenwerk, dem Hafen mit seinen Umschlagsbetrieben sowie weiteren Industrie- und Handelsunternehmen finden viele Krummhörner Beschäftigung. Für die Gemeinde Krummhörn wird keine eigene Arbeitslosenstatistik erhoben. Gemeinsam mit der Nachbargemeinde Hinte und der Stadt Emden bildet die Krummhörn das statistische Gebiet Hauptagentur Emden innerhalb des Bezirks Emden-Leer der Arbeitsagentur. So lag die Arbeitslosenquote im Dezember 2015 im Bereich der Geschäftsstelle Emden bei 7,1 %. Da die Arbeitslosenquote in der Stadt Emden selbst jedoch zu diesem Zeitpunkt 8,1 % betrug, lag sie in den beiden Landgemeinden somit niedriger als der Durchschnitt der Hauptagentur Emden. Landwirtschaft Die Krummhörn wird vorwiegend landwirtschaftlich genutzt, wobei dem Ackerbau wie auch der Viehhaltung gleichermaßen Bedeutung zukommt. Deichbau und Melioration ermöglichten die landwirtschaftliche Nutzung des Gebiets, das zuvor der Tide ausgesetzt war. Die Marsch gilt zum Großteil als sehr fruchtbar. Entsprechend der geologischen Zusammensetzung des Bodens wird dem Ackerbau oder der Milchviehhaltung der Vorzug gegeben. Der Landkreis Aurich lag 2021 auf Platz 14 der größten Milcherzeuger-Landkreis in Deutschland, wozu die Gemeinde Krummhörn als der Fläche nach zweitgrößte des Landkreises in hohem Maße beiträgt. In jüngster Zeit litten die Milchbauern der Krummhörn stark unter dem Preisverfall für Milch und deren Produkte. Schafe spielen insbesondere bei der Deicherhaltung eine Rolle: Sie halten die Grasnarbe niedrig und trampeln mit ihren Hufen den Boden fest. Unter den Nutzpflanzen herrschen vor allem Weizen und Raps vor, in geringerem Umfang auch Kartoffeln, Zuckerrüben und Sonderkulturen. Einzelne Höfe haben sich auf biologisch erzeugte Produkte spezialisiert und entsprechenden Vermarktungsorganisationen angeschlossen. Zusatzeinkommen verschaffen sich manche Landwirte durch die Aufstellung von Windenergie- oder Photovoltaikanlagen oder durch Zimmervermietung. Fischereiwirtschaftlich hat der Ortsteil Greetsiel mit seiner Flotte von 27 Krabbenkuttern Bedeutung. Der Ort zählt damit zu den größeren deutschen Kutterhäfen. Tourismus In den Sommermonaten und zu einzelnen Perioden des Winterhalbjahres (etwa Weihnachten/Jahreswechsel oder Karneval) ist der Tourismus von Bedeutung. Die Gemeinde Krummhörn verbucht jährlich mehr als 400.000 Übernachtungen sowie rund eine Million Tagesgäste. Touristischer Schwerpunkt ist das Siel- und Fischerdorf Greetsiel, Beherbergungsmöglichkeiten finden sich aber auch in allen anderen Dörfern der Gemeinde, darunter in Upleward und in Campen Campingplätze. Wohnmobil-Stellplätze gibt es auf diesen Plätzen sowie in Greetsiel und – in bescheidenerem Umfang von zwei Plätzen – in Rysum. Hotels finden sich vornehmlich in Greetsiel, private Pensionen jedoch in allen Dörfern der Gemeinde. Ferienhäuser sind in allen Ortsteilen zu finden, schwerpunktmäßig jedoch in Greetsiel. Darüber hinaus vermieten Landwirte Zimmer auf ihren Höfen. Ein Kurverein wurde in Greetsiel bereits 1911 gegründet. Der Tourismus hat sich jedoch erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem wichtigen Wirtschaftszweig entwickelt. Ausgehend von Bensersiel, verstärkten die Sielorte – und damit auch Greetsiel – ihre Bemühungen um Gäste. In der Saison 1979/1980 (1. Oktober 1979 bis 30. September 1980) wurden in Greetsiel etwas mehr als 155.000 Übernachtungen gezählt. Bis 1990 steigerte sich die Zahl auf rund 254.000. In den typischen Warftorten hingegen ist der Tourismus erst seit den 1980er Jahren ausgeprägt. Von den rund 400.000 Übernachtungen in der Krummhörn entfallen rund drei Viertel auf Greetsiel. Von Greetsiel aus werden per Boot Ausflugsfahrten ans Leysiel und über die Kanäle der Krummhörn angeboten. Das Nationalparkhaus in Greetsiel offeriert zudem Wattwanderungen, Radwanderungen, Vogelbeobachtungen und weitere Aktionen. Neueren Datums ist die Entwicklung des Kulturtourismus. Dabei spielen die historischen Gebäude, vor allem Kirchen und ihre Orgeln, eine wichtige Rolle. Auch Veranstaltungen wie der Krummhörner Orgelfrühling (siehe Veranstaltungen) ziehen Touristen an. Verkehr Die Gemeinde Krummhörn liegt abseits der Hauptverkehrswege. Jahrhundertelang waren die natürlichen Tiefs und die Entwässerungskanäle, die die Krummhörn in einem dichten Netz durchziehen, der wichtigste Verkehrsträger. Über Gräben und Kanäle waren nicht nur die Dörfer, sondern auch viele Hofstellen mit der Stadt Emden und dem Hafenort Greetsiel verbunden. Die Tiefs dienen heute neben der Entwässerung vor allem Bootsausflüglern. Wege und Straßen hingegen waren bis ins frühe 20. Jahrhundert nur schlecht ausgebaut. Dies lag zum einen an den schwierigen Boden- und Entwässerungsverhältnissen, zum anderen auch an finanziellen Mängeln. Für das 18. Jahrhundert wird beispielsweise berichtet: „Von Emden nach Greetsiel. Der Weg führt über Harsweg, Hinte, Wichhusen, Cirkwehrum, Damhusen, Dykhusen, Visquard und Appingen nach Greetsiel. Länge 3½ Stunden. Der Weg verläuft ganz auf Kleiboden. Er ist zwischen Hinte und Harsweg, Dykhusen und Appingen niedrig und wird häufig bei hohem Winterwasser überschwemmt.“ Durch die Gemeinde verlaufen die Landesstraßen 2, 3, 4, 25 und 27. Die L 2 ist auf einem längeren Abschnitt noch mit alten Betondecken versehen. Verkehrsknotenpunkt ist Pewsum. Die L 2 führt von Emden über Rysum nach Pewsum, die L 3 von Emden über Hinte nach Pewsum und die L 4 von Norden über Eilsum nach Pewsum. Um die enge Pewsumer Ortsdurchfahrt zu entlasten, ließen das Land Niedersachsen, der Landkreis Aurich sowie die Gemeinde in den Jahren von 2010 bis 2012 eine südliche Umgehungsstraße anlegen. Die L 25 verbindet Eilsum mit Greetsiel, die L 27 führt von Greetsiel in Richtung Norden. Die wenigen Dörfer, die nicht an einer Landesstraße liegen, werden über Kreisstraßen angebunden. Die nächstgelegenen Autobahn-Anschlussstellen liegen an der A 31 (Emden-Bottrop) auf Emder Stadtgebiet. Von Bedeutung sind hier besonders die Anschlussstellen 1 (Emden-West) und 2 (Pewsum/Emden-Conrebbersweg). Die L 2 einerseits sowie eine Kreisstraße und die L 3 andererseits verbinden die beiden Anschlussstellen mit dem Krummhörner Gemeindegebiet. Nach Einstellung des Bahnverkehrs auf der Strecke Emden–Greetsiel im Jahr 1963 wird der öffentliche Personennahverkehr durch Busse sichergestellt. Die Beförderung übernimmt seitdem die Bahn-Tochter Weser-Ems Bus. Gut getaktete, tägliche Verbindungen bestehen von Greetsiel über Pewsum nach Emden (421), von Pewsum über Rysum nach Emden (422) sowie von Greetsiel nach Norden (417/418). Bahnhöfe für den Fernverkehr finden sich in den Nachbarstädten Emden und Norden sowie in Marienhafe (Samtgemeinde Brookmerland). Dort verkehren Regionalzüge der Linie Norddeich–Hannover und InterCitys nach Köln und Leipzig/Berlin/Cottbus. In Marienhafe halten nur die InterCitys nach Leipzig/Berlin/Cottbus und die Regionalzüge. Die nächstgelegenen zivilen Flugplätze befinden sich in Emden und Norddeich, wobei letzterer ausschließlich der Inselversorgung dient. Der nächstgelegene internationale Verkehrsflughafen ist derjenige in Bremen. Der Greetsieler Hafen ist für die dortige Kutterflotte Heimathafen und dient zudem dem individuellen Bootstourismus wie auch dem Ausflugsverkehr. Fähren verkehren dort jedoch nicht. Um den Hafen tideunabhängig zu machen, wurde die 1991 fertiggestellte Landzunge Leyhörn inklusive einer Seeschleuse gebaut. Es gibt ein flächendeckendes ausgeschildertes Radwegenetz. Für Radwanderer wurden mehrere Rundfahrten, die größtenteils über ruhige Nebenstraßen führen, angelegt. Eine davon führt durch alle 19 Dörfer der Krummhörn und kommt auf eine Gesamtlänge von 63 Kilometern. Der Nordseeküsten-Radweg führt durch die Dörfer Rysum, Loquard, Hamswehrum, Groothusen, Manslagt, Pilsum und Greetsiel. Öffentliche Einrichtungen Pewsum ist Sitz des I. Entwässerungsverbandes Emden und auch Sitz der Deichacht Krummhörn. Der Entwässerungsverband ist zuständig für ein Gebiet, das von der südwestlichen Spitze Ostfrieslands an der Knock bis auf das Auricher Stadtgebiet reicht. Die Deichacht ist zuständig für die Seedeiche zwischen dem Emder Stadtteil Borssum und dem Störtebekerdeich bei Leybuchtpolder. Sitz der Gemeindeverwaltung ist ebenfalls Pewsum. In Greetsiel und in Campen befinden sich je eine von rund 1800 Messstellen des Radioaktivitätsmessnetzes des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS). Die Messstation erfasst die Gamma-Ortsdosisleistung (ODL) am Messort und sendet die Daten an das Messnetz. Die über 24 Stunden gemittelten Daten können direkt im Internet abgerufen werden. Weitere öffentliche Einrichtungen gibt es in der Krummhörn nicht. Das zuständige Finanzamt befindet sich in Emden, desgleichen das Amtsgericht. Die Auricher Kreisverwaltung unterhält in der Nachbarstadt Norden zudem eine Außenstelle für häufig nachgefragte öffentliche Dienstleistungen des Kreises. Medien Die Krummhörn liegt im Verbreitungsgebiet dreier Tageszeitungen: Ostfriesen-Zeitung, Emder Zeitung und Ostfriesischer Kurier. Deutlich führend ist dabei die in Leer herausgegebene Ostfriesen-Zeitung, die in der Gemeinde werktäglich mehr als 2000 Exemplare verbreitet und als einzige ostfriesische Tageszeitung in der gesamten Region Ostfriesland mit Lokalausgaben vertreten ist. Die Emder Zeitung und der in Norden erscheinende Ostfriesische Kurier kommen je auf kleinere dreistellige Absatzzahlen in der Gemeinde. Der geografischen Ausrichtung folgend, liegt der Schwerpunkt der Emder Zeitung eher im Süden und der des Ostfriesischen Kuriers eher im Norden des Gemeindegebietes. Daneben erscheint zweimal pro Woche ein Anzeigenblatt aus dem Verlag der Emder Zeitung: Mittwochs erscheint es als Heimatblatt, sonntags als Sonntagsblatt. Aus der Gemeinde berichtet zudem der Bürgerrundfunk-Sender Radio Ostfriesland. Die Krummhörn ist vor einigen Jahren als Drehort für Fernsehsendungen entdeckt worden. Unter anderem wurde dort für Konzerte, Dokumentationen und Spielfilme gedreht. Bildung In der Gemeinde gibt es vier Grundschulen: in Pewsum, Greetsiel (Ubbo-Emmius-Schule), Jennelt und Loquard. Besonderheit der Loquarder Grundschule ist, dass sie in einem ehemaligen Gulfhof untergebracht ist. Im Hauptort Pewsum wurde im Jahr 2011 eine Integrierte Gesamtschule gegründet. Die nächstgelegenen Gymnasien befinden sich in Norden (Ulrichsgymnasium) und Emden (Johannes-Althusius-Gymnasium). In Emden, Norden und Aurich befinden sich auch Berufsbildende Schulen. Eine Fachhochschule befindet sich im benachbarten Emden, die nächstgelegene Universität in Oldenburg. Auf dem Sektor der Erwachsenenbildung unterhält die Kreisvolkshochschule Norden eine Außenstelle in Pewsum. Persönlichkeiten Die berühmtesten Söhne der (seit 1972 bestehenden) Gemeinde sind der Universalgelehrte und Gründungsrektor der Universität Groningen, Ubbo Emmius (1547–1625), der in Greetsiel geboren wurde, sowie Graf Edzard der Große (1461–1528) aus demselben Geburtsort. Der Chronist Eggerik Beninga aus Grimersum lebte ungefähr zur selben Zeit wie Edzard der Große. Der Reformator Andreas Bodenstein wirkte im 16. Jahrhundert einige Monate in Pilsum. Der Adlige Dodo zu Innhausen und Knyphausen war bedeutender Feldherr während des Dreißigjährigen Krieges und lebte in Jennelt. Enne Heeren Dirksen (1788–1850), Mathematik-Professor an der Berliner Universität, stammte aus Eilsum. Der Begründer der Reemtsma-Zigarettenfabrik, Bernhard Reemtsma, wurde 1857 in Sielmönken geboren. Hermine Heusler-Edenhuizen (1872–1955) aus Pewsum war 1911 die erste offiziell anerkannte und niedergelassene Frauenärztin in Deutschland. Der Maler Diedrich Janßen-Jennelt wurde in Groothusen geboren und lebte später lange in Jennelt. Die Familie des Disney-Zeichners Ub Iwerks (1901–1971) stammte ursprünglich aus Uttum; Iwerks Eltern wanderten – wie so viele Krummhörner jener Zeit – in die USA aus. Harry Westermann, Jurist und zeitweise Rektor der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, wurde 1909 in Grimersum geboren. Der Atomphysiker und zeitweilige Vorsitzende der Reaktor-Sicherheitskommission Dieter Smidt (1927–1998) war gebürtiger Rysumer. Aus Grimersum stammte Hinrich Swieter (1939–2002). Er war Landrat, niedersächsischer Landtagsabgeordneter und von 1990 bis 1996 niedersächsischer Finanzminister. Jann Jakobs (* 1953), Potsdamer Oberbürgermeister von 2002 bis 2018, ist ein gebürtiger Eilsumer. Aus Upleward stammt der Bankmanager David Folkerts-Landau (* 1949). Die Malerin, Grafikerin und Skulptoristin Kriso ten Doornkaat lebt und arbeitet in Rysum. Sonstiges Die Evolutionsbiologen Jan Beise und Eckart Voland untersuchten Kirchenbücher der Gegend um die Krummhörn aus den Jahren 1720 bis 1874, um Erklärungen für die lange Lebensspanne von Frauen nach der Menopause im Verhältnis zu den meisten anderen Säugetieren zu finden. Dabei haben sie herausgefunden, dass die Hilfe von Großmüttern in einem Familienhaushalt zwar nicht die durchschnittliche Fruchtbarkeit erhöhte, jedoch die Kindersterblichkeit senkte. Dies galt nach den Kirchenbüchern und den Berechnungen der Wissenschaftler ausschließlich für Großmütter mütterlicherseits. Bei Großmüttern väterlicherseits verringerte sich die Überlebenswahrscheinlichkeit der Kinder. Literatur I. Entwässerungsverband Emden (Hrsg.): Die Acht und ihre sieben Siele: Kulturelle, wasser- und landwirtschaftliche Entwicklung einer ostfriesischen Küstenlandschaft. 2., erweiterte Auflage, Rautenberg Verlag, Leer 1987, ISBN 3-7921-0365-6. Historische Darstellung des Deichbaus, der Entwässerung und der Landwirtschaft in der Krummhörn. Johann Aeils, Jan Smidt, Martin Stromann: Steinerne Zeugen in Marsch und Geest: Gulfhöfe und Arbeiterhäuser in Ostfriesland. 3., überarbeitete Auflage, Verlag SKN, Norden 2007, ISBN 978-3-928327-16-9. Die Autoren beschreiben die Architektur der Gulfhöfe und der Landarbeiterhäuschen und binden dies in die Wirtschaftsgeschichte der Krummhörn (und anderer Landstriche Ostfrieslands) ein. Bernd Flessner, Martin Stromann: Die Krummhörn: Ostfrieslands Charakterkopf. Verlag SKN, Norden 2008. Beschreibung des Gemeindegebiets mit seinen Dörfern, umfangreich bebildert. Jürgen Woltmann: Die Krummhörn: Ostfriesland zwischen Emden und Greetsiel. Verlag Isensee, Oldenburg (Oldb) 2005. Beschreibung des Landstrichs zwischen Greetsiel und Emden. Daneben sind die folgenden Werke, die sich mit Ostfriesland im Allgemeinen beschäftigen, auch für die Historie und Beschreibung der Gemeinde insofern bedeutsam, als sie einzelne Aspekte beleuchten: Heinrich Schmidt: Politische Geschichte Ostfrieslands. Rautenberg, Leer 1975 (Ostfriesland im Schutze des Deiches, Band 5). Wolfgang Schwarz: Die Urgeschichte in Ostfriesland. Verlag Schuster, Leer 1995, ISBN 3-7963-0323-4. Karl-Heinz Sindowski et al.: Geologie, Böden und Besiedlung Ostfrieslands. (Ostfriesland im Schutze des Deiches, Band 1), Deichacht Krummhörn (Hrsg.), Selbstverlag, Pewsum 1969. Menno Smid: Ostfriesische Kirchengeschichte. Selbstverlag, Pewsum 1974 (Ostfriesland im Schutze des Deiches, Band 6). Harm Wiemann, Johannes Engelmann: Alte Wege und Straßen in Ostfriesland. Selbstverlag, Pewsum 1974 (Ostfriesland im Schutze des Deiches, Band 8). Weblinks Einzelnachweise Ort im Landkreis Aurich Ort an der Ems Gemeindegründung 1972
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https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A4mochromatose
Hämochromatose
Die Hämochromatose (von und ; Synonyme: Primäre Siderose, Hämosiderose, Siderophilie, Eisenspeicherkrankheit, Bronzediabetes; englisch: iron overload, hemochromatosis) ist eine Erkrankung, bei der es durch eine erhöhte Aufnahme von Eisen im oberen Dünndarm und exzessive Eisenspeicherung (Einlagerung) vor allem in parenchymatösen Organen zu entsprechenden Organschäden kommt. Der Gesamtkörpereisengehalt steigt dadurch von ca. 2–6 g (Normwert) auf bis zu 80 g. Die Einlagerung führt im Laufe der Jahre zu Schädigungen insbesondere von Leber, Bauchspeicheldrüse, Herz, Gelenken, Milz, Hirnanhangsdrüse, Schilddrüse und Haut. In den meisten Fällen handelt es sich bei der Hämochromatose um eine Erbkrankheit, die gewöhnlich autosomal-rezessiv vererbt wird. In diesem Fall müssen beide Eltern das veränderte Gen vererben, sie müssen aber nicht selbst die Krankheit haben (rezessiver Erbgang). Das für die Hämochromatose verantwortliche veränderte Gen liegt nicht auf einem Geschlechtschromosom (autosomaler Erbgang). In selteneren Fällen ist die Hämochromatose nicht erblich bedingt. Bei Männern hat die Hämochromatose eine wesentlich höhere Auftrittswahrscheinlichkeit als bei Frauen. Die Erkrankung kann, wenn sie frühzeitig entdeckt wird, erfolgreich behandelt werden. Bei fortgeschrittener Erkrankung treten unumkehrbare Schäden, insbesondere an der Leber, auf. Ebenso erhöht die Erkrankung das Risiko für die Entwicklung eines Leberzellkarzinoms. Häufigkeit Die Krankheit ist nicht meldepflichtig, daher liegen keine genauen Zahlen vor. Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland über 200.000 Menschen mit einer Hämochromatose leben. Das HFE-Gen ist häufig von Mutationen betroffen, rund 10 % der nordeuropäischen Bevölkerung sind heterozygot (mischerbig) für einen solchen Gendefekt. Rund 0,3–0,5 % dieser Bevölkerungsgruppe sind hierfür homozygot (reinerbig), nur bei diesen kann die Krankheit auftreten. Die Penetranz ist aber unvollständig: Rund ein Drittel bis die Hälfte der homozygoten Mutationsträger zeigt keine klinischen Zeichen einer Eisenüberladung. Die verschiedenen Mutationen sind regional unterschiedlich verteilt. So wurden zahlreiche, in der westlichen Bevölkerung nicht vorkommende Mutationen bei Menschen asiatischer Abstammung nachgewiesen. Hämochromatosen, die nicht mit einer HFE-Mutation einhergehen, sind sehr selten. Sie treten gehäuft in Italien auf. Frauen verlieren natürlicherweise durch die Menstruation und bei Schwangerschaften im Körper gebundenes Eisen. Infolgedessen erkranken genetisch betroffene Männer fünf bis zehnmal häufiger. Die Latenzzeit bis zum Auftreten erster Krankheitszeichen variiert je nach Alkoholkonsum, Eisengehalt der Nahrung und Anzahl der erhaltenen Blutspenden. Die Mehrzahl der Erkrankten entwickelt die ersten Symptome zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahrzehnt. Krankheitszeichen Leberschäden, Diabetes, Hautpigmentierung Die häufigsten Symptome der Hämochromatose sind neben einer Lebervergrößerung der Ausbruch eines Diabetes mellitus und eine dunkle Hautpigmentierung, weshalb die Hämochromatose gelegentlich auch als Bronzediabetes bezeichnet wird. Die Hautpigmentierung ist in der Achselhöhle meist am stärksten ausgeprägt. An den pigmentierten Stellen fehlen typischerweise auch die Körperhaare. Weitere bevorzugte Stellen der Hautverfärbungen sind die Streckseiten der Arme und Hände, der Hals- und Gesichtsbereich, die Unterschenkel sowie die Genitalregion. Drei Viertel der Patienten weisen bei Diagnosestellung bereits eine Leberzirrhose auf. Milzvergrößerung, Gelenkentzündung, Vorhofflimmern Seltenere Krankheitszeichen sind Milzvergrößerung und die entzündliche Schwellung der Fingergrundgelenke. Die Gelenkentzündung kann im Verlauf auch auf größere Gelenke übergreifen. Sie läuft in vielen Fällen den anderen Symptomen zeitlich voraus. Rund 15 % der Erstdiagnosen werden erst durch Herzrhythmusstörungen auffällig. Möglich sind anfallsartiges Herzrasen, Vorhofflattern, Vorhofflimmern und Blockaden der Überleitung zwischen Vorhof und Kammer. Psychische Krankheitszeichen und Hodenveränderungen Als psychische Krankheitszeichen können Lethargie und Libidoverlust auftreten. Ebenso kann durch die Schädigung der Hirnanhangsdrüse ein Hypogonadismus auftreten. Zu den wichtigsten Allgemeinerkrankungen, die funktionelle und organische Hodenveränderungen (in der Regel Störungen der Spermiogenese) hervorrufen, gehören neben Kachexie (krankhafte, sehr starke Abmagerung) auch: Leberzirrhose: Eine verminderte Östrogeninaktivierung als Ursache einer Hodenatrophie (umgangssprachlich „Schrumpfhoden“) Hämochromatose: Eisenablagerungen in der Hypophyse führen zu einem Panhypopituitarismus und somit zu einem sekundären Hypogonadismus (Testosteronmangel). Als Panhypopituitarismus bezeichnet man eine Krankheit, bei der ein Mangel oder ein Fehlen sämtlicher in dem Hypophysenvorderlappen gebildeter Hormone besteht. Einteilung der Hämochromatose Primäre Hämochromatose (angeborene Formen) Die erbliche (hereditäre) Hämochromatose ist die häufigste Form, sie wird gewöhnlich autosomal-rezessiv vererbt. Es gibt aber auch seltenere Gendefekte. Neben Gendefekten können auch andere Erkrankungen eine Eisenüberladung verursachen. Je nach Manifestationsalter und zugrunde liegender Genveränderung kann unterschieden werden: Klassische Form Typ 1: klassische Form, Synonyme: Symptomatische Form der klassischen Hämochromatose ; Symptomatische Form der HFE-Gen-assoziierten hereditären Hämochromatose, Mutationen im HFE-Gen (Chromosom 6 Genlocus p21.3) Genprodukt: Hereditäre-Hämochromatose-Protein, mit 90 % die häufigste Mutation Seltene Hämochromatoseformen Seltene Formen umfassen: Typ 2: juvenile Form, Synonyme: Jugendliche Form, Hämochromatose, juvenile Typ 2A: Mutationen im HJV-Gen (Chromosom 1 Genlocus q21) Genprodukt: Hämojuvelin Typ 2B: Mutationen im HAMP-Gen (Chromosom 19 Genlocus q13.1) Genprodukt: Hepcidin Typ 3: Synonyme: Hämochromatose, TFR2-Gen-assoziierte, Mutationen im TFR2-Gen (Chromosom 7 Genlocus q22) Genprodukt: Transferrin-Rezeptor 2 Typ 4, Synonyme: Hämochromatose, autosomal-dominante ; Hämochromatose durch Ferroportin-Defekt ; Hämochromatose, hereditäre, autosomal-dominante, Mutationen im SLC40A1-Gen (Chromosom 2 Genlocus q32) Genprodukt: Ferroportin-1 Typ 5 Neonatale Form Neonatale Form, sehr selten, tritt bereits im Kindes- oder Neugeborenenalter auf, ihr Verlauf ist meist sehr schwer. Weitere angeborene Erkrankungen mit Eisenüberladung Acaeruloplasminämie Hereditäre Atransferrinämie und Hypotransferrinämie mit als wesentliches Merkmal beim GRACILE-Syndrom Die Typen 1–3 werden jeweils autosomal-rezessiv vererbt und sind mit den typischen als Hämochromatose beschriebenen klinischen Symptomen vergesellschaftet. Dabei sind die Typen 1, 2A und 2B mit einer Erniedrigung des Hepcidin-Spiegels vergesellschaftet. Hepcidin hemmt durch Bindung an Ferroportin in Darm-Mucosazellen die Aufnahme von Eisen in den Blutkreislauf. Der Typ 1 mit der klassischen HFE-Mutation hat dabei ein geringeres Risiko für Organschäden als die Typen 2A und 2B. Die Typen 2A und 2B unterscheiden sich von den anderen Hämochromatoseformen durch ihren frühen Beginn von Symptomen und Organschäden. Sie treten bereits im zweiten bis dritten Lebensjahrzehnt auf und werden deshalb auch als juvenile (jugendliche) Hämochromatose bezeichnet. Der klassische Typ 1 und auch der Typ 4 manifestieren sich erst in der vierten bis fünften Lebensdekade. Der Typ 4 nimmt innerhalb der Hämochromatosen eine Sonderstellung ein. Er wird autosomal-dominant vererbt, hat ein geringeres Potential für Organschäden und ist erst im späteren Verlauf durch Laboruntersuchungen von Ferritin und Transferrin nachzuweisen. Manche Autoren schlagen daher den Typ 4 als eigene Krankheitsentität vor. Sekundäre Hämochromatose (erworbene Eisenüberladung) Es sind mehrere verschiedene Ursachen für eine erworbene Eisenüberladung bekannt, zum Beispiel bei erhöhter Eisenzufuhr in den Körper. So können Menschen, die sehr viele Bluttransfusionen erhalten, eine sekundäre Hämochromatose entwickeln. Auch bei sehr starker Eisenaufnahme über den Magen-Darm-Trakt kann es zu einer erworbenen Eisenüberladung kommen. Diese Form ist vor allem im Afrika südlich der Sahara anzutreffen, da dort Spirituosen vorkommen, welche in Eisengefäßen gebrannt werden. Auch bei einer langdauernden Hämolyse kann eine Eisenüberladung entstehen, da der Körper sich mit dem aus den zerstörten roten Blutkörperchen gesammelten Eisen überlädt. Sehr selten sind genetische Ursachen, wie z. B. ein Mangel an Transferrin. Eine lange Hämodialysetherapie kann auch in manchen Fällen zu einer Hämochromatose führen. Die Behandlung der sekundären Formen ist oft gleich wie die Behandlung der erblichen Hämochromatosen. Wenn aber gleichzeitig eine Anämie auftritt, können zur Therapie keine Aderlässe gemacht werden. Pathogenese Der menschliche Körper verfügt über keinen Mechanismus zur aktiven Ausscheidung von Eisen. Ein „Abbau“ erfolgt nur bei Blutverlust. Allerdings kann eine weitere Aufnahme von Eisen verhindert werden, indem im Darm durch Hepcidin der Ferroportin-Transport von Eisen ins Blut gestoppt wird und das so in den Darm-Mucosazellen gesammelte Eisen mit den abgeschilferten Zellen wieder in das Darmlumen abgegeben wird. Durch Störung einzelner Komponenten des Eisenhaushalts kann diese Aufnahmehemmung verhindert werden und der Körper reichert folglich Eisen in verschiedenen Körperorganen, insbesondere der Leber, an. Biochemische Schädigung Der zu hohe Eisengehalt schädigt die Erbinformation der Zellen und sorgt auch für die Bildung schädlicher freier Radikale. Durch die ständigen Zellschädigungen verlieren die betroffenen Organe ihre Funktion. Infolgedessen entstehen Leberschäden und auch Leberkrebs. Hämochromatose kann neben den Leberschäden auch die Hirnareale für Geschlechtshormone schädigen oder eine Zuckerkrankheit verursachen. Auch ein Zusammenhang mit der Parkinson-Krankheit wurde vermutet. Genetische Ursachen Verschiedene Mutationen von Genen, die den menschlichen Eisenhaushalt steuern, können eine Hämochromatose verursachen. Das HFE-Gen codiert für ein Protein, das mit dem Haupthistokompatibilitätskomplex der Klasse 1 strukturell verwandt ist. Im gesunden Menschen bildet das HFE-Protein HLA-H einen Komplex mit β2-Mikroglobulin und wird an der äußeren Seite der Zellmembran exprimiert. Der HLA-H-β2-Komplex ermöglicht die Bindung von Transferrin, des Haupteisentransportproteins im Blut. Der Komplex wird durch Endozytose aufgenommen. Im Lysosom wird durch pH-Erniedrigung das Eisen aus dem Transferrin freigesetzt. Die Epithelzellen des Dünndarms, über die Eisen aufgenommen wird, steigern ihre Eisenaufnahme gegenläufig zum Eisenspiegel in ihrem Zellplasma. Daneben wird seit kurzem noch ein weiterer Regulationskreis über Hepcidin und Ferroportin diskutiert. Auch dieser ist bei der Hämochromatose Typ 1 betroffen, da die HFE-Mutation auch mit einem Mangel an Hepcidin einhergeht. Der genaue Mechanismus ist bisher ungeklärt. Die Hämochromatose Typ 2A entsteht durch eine Mutation des Hämojuvelins und geht ebenso mit erniedrigten Hepcidinspiegeln einher. Hierbei fungiert Hämojuvelin als positiver Regulator der Hepcidintranskription, der sein Signal über den BMP-Protein-Signalweg weitergibt. Die Hämochromatose Typ 2B führt über eine Mutation des Gens für Hepcidin zu einem Hepcidinmangel. Dies führt zu einer verminderten Ausschleusung von Eisen aus den Darmzellen, Makrophagen und den Zellen der betroffenen Organe. Beim Typ 4 ist das Ferroportin – ein Protein, das direkt der Ausschleusung von Eisen aus den Zellen dient – defekt. Dies betrifft jedoch nur Leberzellen, Zellen der Plazenta und Makrophagen. Der gesunde menschliche Körper enthält rund 2–6 Gramm Eisen. Dieses ist zu 98 % in den Leberzellen (Hepatozyten) gespeichert. Die jährliche Eisenaufnahme beträgt beim Hämochromatosekranken rund 0,5–1,0 Gramm, variierend nach Geschlecht, Alkoholkonsum und Nahrungszusammensetzung. Ab einer kumulativen Eisenaufnahme von 20 Gramm entstehen die ersten Symptome. Der erste Haupteinlagerungsort sind die Leberzellen, die durch den erhöhten Eisengehalt durch mehrere Mechanismen geschädigt werden. Eisen selbst wirkt DNA-schädigend und kann über die Bildung von Radikalen Fette oxidieren. Daneben stimuliert Eisen über einen bislang noch unbekannten Mechanismus die Bildung von kollagenen Fasern im Extrazellularraum und wird noch in der Bauchspeicheldrüse, dem Herzen und der Hirnanhangsdrüse gespeichert. Die Hämochromatose wird autosomal rezessiv vererbt. Die Erkrankung wird also in der Regel nur dann manifest, wenn beide Ausführungen des Gens den Defekt besitzen (homozygote Mutation). Schwächere Formen der Hämochromatose sind allerdings auch bei heterozygoten Mutationen möglich. Die Penetranz der Mutation ist gering, etwa 30 % der Männer mit homozygoter Mutation und nur etwa 1 % der homozygoten Frauen entwickeln ein klinisch relevantes Krankheitsbild; bei heterozygoten Merkmalsträgern ist das Auftreten einer Erkrankung sehr selten. Mutationen im HFE-Gen können auch krankhafte Veränderungen unabhängig von der Hämochromatose bedingen. Unter anderem wurden Erhöhungen der Bluttriglyceride beschrieben. Pathologie Eine Untersuchung von entnommenem Lebergewebe kann die Eisenüberladung der Leberzellen sichtbar machen. Sie gibt aber keinen Hinweis dahingehend, ob die Erkrankung genetische Ursachen hat oder durch eine andere Grunderkrankung verursacht wird. Die krankhafte Eisenablagerung lässt sich lichtmikroskopisch feststellen. Die Ablagerungen zeigen sich in der HE-Färbung als grobe rostbraune Körnchen im Zellplasma, welche typischerweise an den Leberzellen um die Portalfelder beginnen. Bei weiter fortschreitender Eisenspeicherung treten die Körnchen auch im Rest des Leberläppchens auf. Im späteren Verlauf zeigen auch Kupffer-Sternzellen sowie die Gallengangszellen entsprechende Auffälligkeiten. Sobald die Eisenspeicherung zu Gewebsschäden führt, werden Fibrose und Zirrhose der Leber sichtbar. Die Eisenablagerungen lassen sich durch die Färbung mit Berliner Blau spezifisch nachweisen. Diagnose Der Verdacht auf eine Hämochromatose sollte bei erhöhten Werten für Ferritin (> 200 μg/l bei Frauen, > 300 μg/l bei Männern) und Transferrinsättigung (> 45 % bei Frauen, > 50 % bei Männern) im Blut gestellt werden. In diesem Falle sollte ein Gentest auf das Vorliegen einer genetischen Hämochromatose erfolgen. Ist dieser negativ, sollte eine Leberbiopsie in Erwägung gezogen werden. Verschiedene Laborparameter können einen Hinweis auf eine Eisenüberladung liefern. So ist die Konzentration des Eisens selbst im Blutplasma i. d. R. erhöht. Die Eisenbindungskapazität ist dagegen i. d. R. bei einer Homozygotie erniedrigt oder im Normbereich. Bei heterozygot betroffenen Menschen ist sie dagegen manchmal erhöht, manchmal normwertig. Ebenso sind bei manifester Erkrankung die Transferrinsättigung und das Ferritin erhöht. Ferritin selbst ist bei symptomatisch Gesunden i. d. R. unter 500 μg/l. Bei symptomatisch Kranken kann sie bis auf 6.000 μg/l erhöht sein. Zur Unterscheidung gegenüber einer fortgeschrittenen Lebererkrankung durch Alkoholkonsum kann der Ferritinspiegel einen Hinweis geben, da bei alkoholischer Lebererkrankung der Ferritinspiegel unter 500 μg/l liegen sollte. Die Laborveränderungen sind aber nicht vollkommen spezifisch, da auch andere Lebererkrankungen den Eisenspiegel in der Leber erhöhen können. Ferritin ist ein Akute-Phase-Protein und infolgedessen bei entzündlichen Prozessen generell erhöht. Die Transferrinsättigung ist dabei der sensitivste Laborparameter zum Nachweis einer Hämochromatose im asymptomatischen Stadium. Die endgültige Diagnose sollte durch eine genetische Untersuchung des HFE-Gens gestellt werden. Sollte der Gentest negativ sein, kann die Diagnose durch eine feingewebliche Untersuchung (Leberbiopsie, Histologie mit Berliner-Blau-Färbung) gestellt werden. Als weitere diagnostische Methode ist die quantitative Bestimmung des Eisengehalts aus unfixiertem Lebergewebe möglich. Der Normalwert liegt dabei unter 1.000 μg/g Trockenmasse. Menschen mit erblicher Hämochromatose weisen Werte über 10.000 μg/g auf. Mit irreversiblen Leberschäden und Zirrhose ist ab 22.000 μg/g zu rechnen, ist aber aufgrund der geringen Penetranz der Erkrankung nur in Zusammenschau mit den klinischen und laborchemischen Befunden aussagekräftig. Der Eisengehalt der Leber kann auch nichtinvasiv durch eine Computertomographie oder eine Magnetresonanztomographie bestimmt werden. Diese Methoden sind aber nur semiquantitativ und somit nur begrenzt aussagekräftig. Die Etablierung von Hepcidin als diagnostischer Test für Hämochromatose wird derzeit diskutiert. Früherkennung In Fachkreisen wurde die Hämochromatose als mögliche Krankheit benannt, bei der eine allgemeine Untersuchung der Gesamtbevölkerung sinnvoll wäre. Jüngere Studien ziehen dies jedoch mittlerweile in Zweifel. Die Bundesärztekammer identifizierte 2003 die Hämochromatose als eine Krankheit, bei der nach ihrer Meinung ein generelles Screening der Bevölkerung vorteilhaft wäre. Eine Genotypisierung wird mittlerweile ab einer Transferrinsättigung von 45 % in zwei verschiedenen Tests empfohlen. Andere Veröffentlichungen empfehlen einen Cutoff von 55 %. 2006 kam die von der US-Regierung eingerichtete Preventive Services Task Force zu dem Ergebnis, dass die genetischen Grundlagen der Hämochromatose zu wenig erforscht seien, als dass ein generelles Screening empfohlen werden könne. Eine kanadische Forschergruppe sprach sich 2009, nach einem Testscreening an 100.000 Menschen, gegen ein allgemeines Screening aus. Außerdem kam sie zu dem Schluss, dass die Transferrinsättigung oder der Ferritinspiegel ungenügend spezifisch wären und somit für ein Screening nicht geeignet seien. Therapie Physikalische Verfahren Die Therapie der Wahl ist der Aderlass und besteht aus zwei Phasen, die sich üblicherweise wie folgt gestalten: Phase 1 (Initialtherapie): wöchentliche Aderlässe von 500 ml, bis der Ferritinspiegel unter 50 μg/l gefallen ist; Phase 2 (Langzeittherapie): lebenslange Aderlässe von 500 ml, um den Ferritinspiegel im weiteren Verlauf zwischen 50 und 100 μg/l zu halten (etwa 4–12 pro Jahr). Ziel der Therapie ist eine Entleerung oder zumindest Reduzierung der Eisenspeicher, was am wirksamsten durch eine Aderlasstherapie erreicht wird. Anfangs sollte ein Aderlass von 500 ml einmal bis zweimal pro Woche durchgeführt werden. Ein halber Liter Blut enthält rund 200–250 mg Eisen. Es sollte eine wöchentliche Behandlung durchgeführt werden, bis die Serumferritinspiegel unter 50 μg/l fallen. Dies kann je nach Alter und Eisenbeladung bis zu mehreren Jahren dauern. Zur Erhaltungstherapie können dreimonatliche Aderlässe durchgeführt werden. Diese sind in der Regel zur Aufrechterhaltung eines Plasmaferritinspiegels von 50 bis 100 μg/l ausreichend, der das Langzeittherapieziel darstellt. Andere Angaben empfehlen auch einen Zielspiegel unter 50 μg/l. Dabei ist zu beachten, dass die Aderlässe möglichst regelmäßig durchgeführt werden, damit sich eine konstante Regeneration der verlorenen Blutmenge einstellt. Eine Eisenmangelanämie tritt charakteristischerweise bei den Typen 1 bis 3 nicht auf. Erkrankte mit dem Typ 4 sollten engmaschig überwacht werden, da bei ihnen Anämien häufiger auftreten. Ebenso hat bei ihnen die Aderlasstherapie einen geringeren Effekt. Eine andere Therapieform ist die Erythroapherese, wobei mehr Erythrozyten pro Behandlung entnommen werden können, wodurch die Häufigkeit der Behandlung reduziert werden kann und der Ferritinwert schneller absinkt als bei der einfachen Aderlasstherapie. Diese Therapieform ist allerdings aufwendiger, die Kostenübernahme durch die Krankenkassen noch nicht geklärt. In einigen Ländern können sich Patienten mit unkomplizierter Hämochromatose als Blutspender registrieren lassen. Das über therapeutische Aderlässe abgenommene Blut wird dann medizinisch zweitverwertet. Medikamente Bei manchen Hämochromatose-Patienten ist die Aderlass-Therapie kontraindiziert, nicht ausreichend wirksam oder wegen schlechter Venenbeschaffenheit nicht möglich. In diesen Fällen kommen alternativ oder ergänzend medikamentöse Behandlungsoptionen zum Einsatz. Bei der Chelat-Therapie binden Komplexbildner überschüssige Eisenmoleküle und überführen sie in gut lösliche Eisen-Chelat-Komplexe, die über die Nieren ausgeschieden werden. Damit kann die Therapie ähnlich wie bei Schwermetallvergiftungen auch bei Hämochromatose eingesetzt werden. Die Eisenablagerung in den Organen geht dann zurück. Es sind verschiedene Wirkstoffe für die Therapie bei Hämochromatose zugelassen: Deferoxamin: Die Deferoxaminbehandlung ist aufwendig (Dauerinfusion an 5 bis 7 Tagen pro Woche) und hat häufig Nebenwirkungen (Seh- und Hörstörungen). Mittlerweile ist auch ein Präparat zum Schlucken (Deferasirox) verfügbar. Deferipron (Handelsname Ferriprox®): Wird schnell resorbiert und erreicht nach 45 Minuten den höchsten Serumspiegel. 85 % werden durch Glukuronisierung (Verbindung mit Glukuronsäure) harnfähig gemacht. Das Glukuronid des Deferiprons bindet Eisen und scheidet dieses mit dem Urin aus. Mögliche Nebenwirkungen sind z. B. Übelkeit, Bauchschmerzen, Erbrechen, erhöhte Leberwerte, Gelenkschmerzen und Neutropenie (Verminderung weißer Blutkörperchen). Tiopronin (Handelsname Thiola®): Wird in überzogenen Tabletten vertrieben, die oral eingenommen werden. Mögliche Nebenwirkungen umfassen unter anderem Magen-Darm-Beschwerden, erhöhte Körpertemperatur und Hautreaktionen. Protonenpumpenhemmer haben einen hemmenden Effekt auf die Resorption von nicht-haem-gebundenem Eisen und können die notwendige Menge und Frequenz der Aderlässe vermindern. Die Symptome der Gelenkmanifestation der Erkrankung können mit NSAR abgemildert werden. Ebenso profitieren viele Patienten von einer Osteoporosebehandlung. Diätetische Maßnahmen Diätetische Maßnahmen können die Heilung unterstützen, die eigentliche Therapie jedoch nicht ersetzen. Konkret sollten stark eisenhaltige Nahrungsmittel zurückhaltend konsumiert werden. Schwarzer Tee oder auch Milch, zusammen mit der Mahlzeit getrunken, vermindert die Eisenabsorption. Umgekehrt sollte auf den Konsum Vitamin-C-haltiger Getränke (z. B. Orangensaft) im Zeitraum von etwa zwei Stunden vor bis zwei Stunden nach den Mahlzeiten verzichtet werden, da Vitamin C die Aufnahme von Eisen aus der Nahrung begünstigt. Da der Konsum von Alkohol die Eisenaufnahme steigert, ist Alkoholkarenz sinnvoll. Organtransplantation Bei fortgeschrittenem Leberschaden kann im Falle eines Leberversagens eine Lebertransplantation durchgeführt werden. Dies ist in manchen Fällen auch möglich, wenn die Patienten ein Leberzellkarzinom entwickelt haben. Transplantierte Hämochromatose-Patienten haben aber aufgrund der meist vorhandenen, durch ihre Grunderkrankung hervorgerufenen, Begleiterkrankungen eine schlechtere Prognose als Transplantierte mit anderer Grunderkrankung. Prognose „Die Hämochromatose kann durch die Schädigung der Leber zu lebensbedrohlichen Situationen führen. Ebenso erhöht sie stark das Risiko für Leberzellkrebs, falls sie nicht vor dem Beginn der Symptome entdeckt wird. Wird die Krankheit vor Auftreten der Symptome entdeckt und behandelt, gilt sie als ohne Folgeschäden heilbar. Ohne Therapie ist die Prognose hingegen infaust.“ Wird die Erkrankung vor dem Auftreten irreversibler Organveränderungen behandelt, so wirkt sie sich nicht nachteilig auf die Lebenserwartung aus. Leberfibrose und Leberzirrhose sind nicht mehr rückgängig zu machen und erfordern eine eigenständige Behandlung. Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Langzeitkomplikationen, einschließlich des Leberzellkarzinoms, steigt mit der Dauer und dem Ausmaß der Eisenüberladung. Infolgedessen ist eine frühe Diagnosestellung entscheidend. Bereits bei Diagnosestellung bestehende strukturelle Schäden an den Gelenken und Geschlechtsorganen werden als irreversibel betrachtet. Das Fortschreiten der Veränderungen kann durch eine Therapie jedoch verlangsamt werden. Rund 35 % der an einer manifesten Hämochromatose erkrankten Menschen entwickeln im späteren Verlauf ein Leberzellkarzinom. Medizingeschichte 1865 beschrieb Armand Trousseau ein klinisches Syndrom, bestehend aus Leberzirrhose, Diabetes und bronzefarbener Hautpigmentierung. Aufgrund weiterer derartiger Beschreibungen aus dem Jahre 1871 durch Charles Émile Troisier und 1882 durch Victor Charles Hanot und Anatole Chauffard wurde die historische Bezeichnung Troisier-Hanot-Chauffard-Syndrom gebräuchlich. 1889 prägte Friedrich Daniel von Recklinghausen den Begriff Hämochromatose. 1935 erkannte Joseph H. Sheldon die erbliche Komponente der Erkrankung. Bis dahin war die Hämochromatose fälschlicherweise auf Alkoholmissbrauch zurückgeführt worden. In den 1970er-Jahren wurde der autosomal-rezessive Erbgang der Typen 1 bis 3 erkannt. Eine US-amerikanische Forschungsgruppe sequenzierte 1996 das HFE-Gen und stellte dessen Verbindung zur Hämochromatose dar. Es wird vermutet, dass die HFE C282Y-Mutation vor etwa 4000 Jahren bei einem Menschen in Mitteleuropa, der vermutlich keltischer Abstammung gewesen ist, aufgetreten ist und sich, von dort ausgehend, mit dessen Nachkommen in der europäischen Population ausgebreitet hat. Eine mögliche Hypothese für die Verbreitung der Mutation ist die Vermutung, dass die übermäßige Eisenspeicherung bei längerer Unterversorgung mit Eisen einen Überlebensvorteil bieten könne. Hämochromatose bei Tieren Die Hämochromatose ist bei Tieren sehr selten. So wurden bei Hunden Einzelfälle von sekundären Hämochromatosen bei Pyruvatkinase-Mangel und nach wiederholten Bluttransfusionen beobachtet. Bedlington Terrier weisen indes genetische Prädispositionen auf. Bei Rindern gab es einige Hämochromatose-Fälle bei Tieren der französischen Rinderrasse Salers und ihren Kreuzungen. Bei Vögeln kommen Eisenüberladungen mit Hämochromatose-ähnlichem klinischen Bild vor allem bei Staren vor. Auch bei Pferden ist ein Fall von Eisenüberladung mit Leberschäden beschrieben. Darüber hinaus existieren einige Tiermodelle mit genetisch-veränderten Labornagern sowie durch exzessive Eisenzufuhr. Weblinks Hämochromatose Vereinigung Deutschland e.V. Bild der Hautveränderungen bei Hämochromatose. In: R. Lim u. a.: A permanent tan from iron. Kidney Int. 2008 Apr;73(7), S. 898. PMID 18340355. Literatur Lehrbücher Lawrie W. Powell: Hemochromatosis. In: Anthony S. Fauci u. a.: Harrison's Principles of Internal Medicine. 17. Auflage. New York 2008, S. 2429–2433. Gerd Herold u. a.: Innere Medizin. Eine vorlesungsorientierte Darstellung ; unter Berücksichtigung des Gegenstandskataloges für die Ärztliche Prüfung ; mit ICD 10-Schlüssel im Text und Stichwortverzeichnis. Herold, Köln 2013, ISBN 978-3-9814660-2-7, S. 543. Artikel in Fachzeitschriften A. Pietrangelo: Hemochromatosis: an endocrine liver disease. In: Hepatology. 2007 Oct;46(4), S. 1291–1301. PMID 17886335. Robson, Merryweather-Clarke, Pointon u. a.: Diagnosis and management of haemochromatosis since the discovery of the HFE gene: a European experience. In: Br J Haematol. 2000 Jan;108(1), S. 31–39. PMID 10651721. Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH): Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der sekundären Eisenüberladung bei Patienten mit angeborenen Anämien. Stand 06/2015. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/025-029.html Einzelnachweise Erbkrankheit Stoffwechselkrankheit Krankheitsbild in Hämatologie und Onkologie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Hakenr%C3%BCssler
Hakenrüssler
Die Hakenrüssler (Kinorhyncha) bilden einen Tierstamm wurmartiger Organismen innerhalb der Häutungstiere (Ecdysozoa). Ihre nächsten stammesgeschichtlichen Verwandten sind wahrscheinlich die Priapswürmer (Priapulida) und Korsetttierchen (Loricifera), mit denen sie in einem Taxon Scalidophora zusammengefasst werden. Hakenrüssler wurden 1841 erstmals an der französischen Kanalküste klassifiziert und erhielten 1887 durch den Zoologen W. Reinhard ihren heutigen wissenschaftlichen Namen. Sie sind bis heute eine eher obskure Gruppe geblieben und weitgehend unerforscht; nur ein Gen einer einzigen Art wurde bisher sequenziert. Aufbau Die wurmförmigen Tiere sind fast immer zwischen 200 Mikrometern und einem Millimeter groß, häufig von gelblich-brauner Farbe und bauchseitig abgeflacht. Ihr Körper hat einen dreieckigen bis kreisförmigen Querschnitt und besteht aus drei Teilen: dem Kopf oder Introvert, dem Hals und dem Rumpf. Letzterer ist in genau elf Ringsegmente, die so genannten Zonite gegliedert; die Segmentierung bezieht sich hier nicht nur auf die Außenhaut, die Cuticula, sondern auch auf Muskulatur, Drüsen und Nervensystem. Früher wurden auch Hals und Kopf als eigenständige Segmente angesehen, diese Einschätzung ist aber heute umstritten. Äußere Form Der Kopf ist von ungefähr fünfzig bis neunzig Haken oder Stacheln besetzt, die sich in maximal sieben konzentrischen Ringen anordnen und von denen sich der deutsche Name herleitet. Er kann in den darauffolgenden Hals und das erste Rumpfsegment eingezogen werden. Auf Ersterem befinden sich keine Stacheln, sondern stattdessen bis zu sechzehn von der Außenhaut gebildete verhärtete Platten, die Placiden, die sich über dem eingezogenen Introvert schließen. Die Rumpfsegmente sind oft von weiteren Stacheln und feinen Härchen bedeckt, insbesondere das letzte Segment weist oft seitlich angeordnete und nach hinten weisende Endstacheln auf. Auf dem zweiten Segment finden sich manchmal feine Röhrchen, die vermutlich der Anheftung an ein Substrat dienen. Haut, Muskulatur und Körperhöhle Die Haut besteht aus einer chitinhaltigen, nicht-zelligen und unbegeißelten Außenschicht, der Cuticula, und einer darunter liegenden einlagigen Zellschicht, der Epidermis. Die Cuticula setzt sich ihrerseits aus einer äußeren dünnen Epicuticula, einer harten Mittelschicht, der Intracuticula, und einer innen liegenden, faserigen Procuticula zusammen. Je Segment sind in ihr rückseitig (dorsal) eine und bauchseitig (ventral) ein bis zwei verhärtete Platten eingelagert, die man als Tergite beziehungsweise Sternite bezeichnet; nur die rückseitigen Platten tragen bewegliche Stacheln, die Scaliden. Zwischen den Segmenten ist die Cuticula dagegen sehr dünn und fungiert als Scharnier, ermöglicht also eine gewisse Flexibilität der Körperform. Sie ist andererseits nicht beliebig dehnbar, so dass sich die Tiere, um wachsen zu können, in regelmäßigen Abständen häuten müssen. Die zellige Epidermis enthält zahlreiche Schleimdrüsen, die durch Öffnungen in der Cuticula nach außen münden und eine Schleimschicht absondern, die das Tier umgibt. Unterhalb der Epidermis liegt die quergestreifte Längsmuskulatur; daneben existieren noch dorsoventrale Muskeln, die von der Rück- zur Bauchseite laufen, sowie ein um den Mundkegel verlaufender Ringmuskel. Zwei Gruppen von Introvert-Retraktor-Muskeln ermöglichen es dem Wurm, seinen Kopf einzuziehen. Eine Besonderheit der Muskulatur der Hakenrüssler liegt darin, dass im Gegensatz zu den meisten anderen Tiergruppen die einzelnen Muskelzellen Ausläufer zu den Nervenzellen entsenden und nicht umgekehrt. Die Körperhöhle zwischen Muskelschicht und Verdauungstrakt wird vermutlich von einem sog. Haemocoel (Hydroskelett) gebildet, ist also nicht von einer eigenen Zellschicht umgeben. In ihr befindet sich eine farblose Körperflüssigkeit, die zahlreiche amöboide Zellen enthält. Das Haemocoel übernimmt Aufgaben als hydrostatisches Skelett sowie bei der Verteilung und Aufnahme von Nährstoffen und Sauerstoff. Verdauungs-, Ausscheidungs- und Fortpflanzungsorgane Der Verdauungstrakt beginnt mit dem Mund, der sich am Vorderende des Körpers an der Spitze eines ausfahrbaren Kegels befindet, der von neun Mundstiletten umgeben ist. An die von Cuticula ausgekleidete Mundhöhle, die wahrscheinlich eine Filterfunktion hat, schließt sich ein muskulöser Schlund an, der zum Einsaugen der Nahrung dient. Er geht in den von zahlreichen Einstülpungen, den Mikrovilli, durchzogenen zylindrischen Darm über, in dem die Nährstoffe absorbiert werden. Er ist sowohl von Längs- als auch von Ringmuskeln umgeben und endet in einen wiederum mit Cuticula ausgekleideten Enddarm, der sich am elften Segment bauchseitig im After zur Außenwelt öffnet. Zur Flüssigkeitsausscheidung und Regulation des Salzhaushalts dienen zwei paarig angelegte Protonephridien im zehnten Segment. Dabei handelt es sich um schlanke Röhren, die innen von je drei endständigen doppelt-begeißelten Zellen abgeschlossen werden, die in das Haemocoel hineinragen, und die sich im elften Segment durch eine Nephridiopore nach außen öffnen. Die Keimdrüsen treten gepaart auf und sind durch einen Gonodukt genannten Kanal, der in einer zwischen zehntem und elftem Segment befindlichen Gonopore mündet, mit der Außenwelt verbunden. Weibchen verfügen meist darüber hinaus über einen Samenspeicher, in dem die männlichen Spermien aufbewahrt werden können, Männchen manchmal über spezielle, penile Stacheln, die wahrscheinlich die Kopulation erleichtern. Nervensystem und Sinnesorgane Das Nervensystem besteht aus einem Nervenring um den vorderen Schlund, der aus zehn Ganglien besteht und als Gehirn angesehen werden kann. Von ihm laufen acht längsseitige Nervenstränge nach hinten. Am auffälligsten sind zwei paarig verlaufende bauchseitige Stränge, die pro Segment je ein Ganglion aufweisen und durch jeweils zwei querlaufende Nervenbänder pro Segment miteinander verbunden sind. Die Sinnesorgane der Hakenrüssler bestehen aus zahlreichen Borsten, die in artabhängigen Mustern über den ganzen Rumpf verteilt sind und auf mechanische Reizung reagieren. Auch die Scaliden des Kopfes dienen der Wahrnehmung; in ihnen befinden sich jeweils bis zu zehn einfach begeißelte Sinneszellen. Lichtsinnesorgane, die Ocelli, liegen manchmal hinter dem Mundkegel und sind meist rötlich pigmentiert. Verbreitung und Lebensraum Hakenrüssler sind Meerestiere und wurden bisher weltweit in allen Meeren bis zum 87. Breitengrad nördlicher Breite nachgewiesen. Sie leben als Teil der so genannten Sandlückenfauna in Schlick und Schlamm (interstitial), das heißt zwischen größeren Sandkörnern auf dem Meeresboden (benthisch), an Sandstränden und im Brackwasser von Flussmündungen, daneben auch auf Schwämmen (Porifera), Hydrozoen (Hydrozoa), Moostierchen (Bryozoa) sowie Algenmatten und zwar von der sublitoralen Zone, dem bei Niedrigwasser gerade noch bedeckten Gebiet, bis in die abyssale Zone in mehr als 5000 Meter Wassertiefe. In schlammigen Sedimenten bewohnen sie meist die oberen Millimeter, in sandigen die oberen Zentimeter des Meeresbodens. Bei manchen Arten lassen sich jahreszeitliche „Wanderungen“ um jeweils etwa 5 Millimeter aufwärts und abwärts nachweisen. Die Individuenzahlen hängen vom Lebensraum ab: Während sich im Flachwasser etwa 45.000 Einzeltiere pro Quadratmeter finden, sind es in der Tiefsee nur etwa 1000 bis 10.000 Individuen. Ernährung und Fortbewegung Hakenrüssler sind für die Nahrungsnetze im Meer von großer Bedeutung. Sie selbst ernähren sich von Detritus, organischem Abfall, sowie von Kieselalgen (Bacillariophyta), die durch den muskulösen Schlund eingesaugt und in den Darm überführt werden, dienen aber umgekehrt zahlreichen anderen Bewohnern des Meeresbodens wie verschiedenen Wurmarten als Nahrung. Für die parasitischen Apicomplexa fungieren sie wahrscheinlich als Wirt. Als bodenbewohnende Lebewesen können sie nicht schwimmen, sondern bewegen sich ausschließlich kriechend vorwärts oder graben sich in das Sediment ein. Zu Letzterem pumpen sie Flüssigkeit aus dem Haemocoel in den Kopf, der dadurch anschwillt. Als Folge spreizen sich die Kopfhaken von diesem ab, bewegen sich nach hinten und ziehen dadurch das Tier nach vorne. In Endstellung ist der Kopf fest im Sediment verankert und die Introvert-Retraktormuskeln ziehen nun den Rumpf nach. Diese Fortbewegungsweise hat ihnen ihren wissenschaftlichen Namen eingebracht, der aus dem Griechischen stammt und sich von kinein, bewegen, und rhynchos, Rüssel, ableitet. Fortpflanzung und Entwicklung Hakenrüssler sind getrenntgeschlechtliche Tiere, bei denen sich Männchen und Weibchen allerdings nur durch die bei den Weibchen manchmal etwas anders angeordneten Stachel und oft auch gar nicht unterscheiden lassen. Man vermutet, dass die Befruchtung der Eier intern stattfindet; eine Kopulation wurde bisher jedoch erst bei einer Art, Pycnophyes kielensis, beobachtet. Hier wenden beide Partner einander die Bauchseite zu, orientieren sich aber mit den Köpfen in entgegengesetzte Richtung. Das Männchen führt nun seine bauchseitig gelegenen penilen Stacheln in die Genitalöffnung des Weibchens ein und gewährleistet so den mechanischen Zusammenhalt der Partner. Die in Spermienpaketen, den Spermatophoren, vereinigten Spermien wandern nun vermutlich in den Samenspeicher des Weibchens und von dort zu den aus den Eierstöcken entlassenen Eiern, die somit intern befruchtet werden. Die Eier entwickeln sich extern ohne Umweg über ein Larvenstadium, der genaue Verlauf dieser Ontogenese ist aber unbekannt. Die schlüpfenden Jungtiere verfügen meist schon über neun Segmente, die fehlenden zwei werden von einer am Hinterende der Tiere gelegenen Wachstumszone aufgebaut; auch die Zahl der Kopfstacheln nimmt im Verlauf der Entwicklung zu. Nach mindestens sechs Häutungen haben die Tiere die Erwachsenengröße erreicht; danach finden keine Häutungen mehr statt. Stammesgeschichte Im Kreis Nanjiang der Provinz Sichuan in China wurden sehr gut erhaltene 535 Millionen Jahre alte Fossilien von Hakenrüsslern der Art Eokinorhynchus raru gefunden. Der morphologische Vergleich mit anderen rezenten (gegenwärtig lebenden) Tiergruppen ergibt, dass ihre nächsten Verwandten sehr wahrscheinlich die Priapswürmer (Priapulida) und Korsetttierchen (Loricifera) sind, mit denen sie zum Taxon Schuppenträger (Scalidophora) zusammengefasst werden. Welche der beiden anderen Gruppen innerhalb der Scalidophora das unmittelbare Schwestertaxon der Hakenrüssler darstellt, ist allerdings unklar, alle drei kombinatorisch möglichen Varianten sind bisher vertreten und wissenschaftlich begründet worden. Für eine engere Verwandtschaft von Priapswürmern und Korsetttierchen spricht das Vorhandensein eines von der Cuticula gebildeten Korsetts, das bei den Ersteren im Larvenstadium, bei den Korsetttierchen auch bei den erwachsenen Tieren vorhanden ist. Die Anhänger dieser These fassen beide Gruppen im Taxon der Vinctiplicata zusammen; demnach wären die Hakenrüssler die Schwestergruppe dieses Taxons. Für eine enge Verwandtschaft von Priapswürmern und Hakenrüsslern wird dagegen die Tatsache angeführt, dass das Schlundgewebe nicht aus Epithelmuskelzellen besteht, sondern sich von embryonalem Mesoderm ableitet. Die dritte Alternative, ein Schwestertaxon-Verhältnis zwischen Hakenrüsslern und Korsetttierchen, wird durch den bei beiden Taxa existenten vorstreck-, aber nicht ausstülpbaren Mundkegel begründet. Seit dem Jahr 2004 sind aus Hunan in Südchina Embryo-Fossilien der Art Markuelia hunanensis bekannt. Sie entstammen der erdgeschichtlichen Epoche des mittleren bis späten Kambriums vor etwa 500 Millionen Jahren und werden durch eine kladistische Analyse als Vertreter der Stammlinie der Scalidophora angesehen, lassen sich also keiner der modernen drei Gruppen zuordnen, aus denen dieses Taxon besteht. Durch die einmaligen Erhaltungsbedingungen in feinkörnigem Calciumphosphat ist die Embryonalentwicklung von Markelia hunanensis recht gut bekannt, wodurch sich die ungewöhnliche Situation ergibt, dass man über eine seit einer halben Milliarde Jahre ausgestorbene Art mehr weiß als über ihre modernen Verwandten. Markuelia hunanensis war möglicherweise segmentiert – falls sich dieser Befund und zugleich die kladistische Analyse bestätigen sollte, wäre der Verlust der Segmentierung wohl ein gemeinsames abgeleitetes Merkmal (Synapomorphie) sowohl der Priapswürmer als auch der Korsetttierchen und würde damit deren Schwestergruppenverhältnis unterstreichen. Die Scalidophora gehören ihrerseits zu einer größeren Verwandtschaftsgruppe, zu der man auch Faden- (Nematoda) und Saitenwürmer (Nematomorpha) zählt und die als Cycloneuralia bezeichnet werden. Ähnlichkeiten mit den Gliederfüßern (Arthropoda) wurden lange Zeit als durch konvergente Evolution entstandene Charaktere angesehen, also nicht auf ein gemeinsames Vorgängermerkmal zurückgeführt. Sie werden aber zunehmend als Hinweis auf eine engere stammesgeschichtliche Verwandtschaft in dem Taxon der Häutungstiere (Ecdysozoa) gedeutet. Zu den Charakteren, die sich beide Gruppen teilen, zählen etwa die interne Segmentierung, das chitinhaltige, gehäutete Außenskelett, die von einem Hämocoelom gebildete Körperhöhle, das Vorhandensein quergestreifter Muskulatur, die Verankerung der Längsmuskulatur an der Cuticula durch eine Struktur aus Intermediärfilamenten und Hemidesmosomen und das um den Schlund herum gelegene Gehirn, von dem ein paariger bauchseitiger Nervenstrang ausgeht, der pro Segment je ein durch Nervenbänder verbundenes Ganglienpaar aufweist. Systematik Bis heute sind etwas mehr als 140 Arten erwachsener Hakenrüssler und knapp 40 Larvenstadien wissenschaftlich beschrieben worden. Obwohl man davon ausgehen muss, dass es sich bei den „Arten“ der zweiten Gruppe oftmals einfach nur um die frühen Entwicklungsstadien von Arten der ersten Gruppe handelt, sind sie bisher durch die zoologische Nomenklatur als selbständig anerkannt; die tatsächliche Anzahl bisher entdeckter Arten wird jedoch auf nur etwa 150 geschätzt. Allerdings ist vermutlich der weitaus größte Teil der tiefseelebenden Hakenrüssler bisher noch vollkommen unbekannt. Die benannten Arten werden in fünfzehn Gattungen und zwei Klassen eingeteilt: Die Cyclorhagida zeichnen sich durch vierzehn bis sechzehn Plaziden in der Halsregion aus und besitzen zahlreiche auf dem Rumpf angeordnete Stacheln sowie Haftröhrchen. Ihr Körperquerschnitt ist kreisförmig bis dreieckig. Die Homalorhagida werden bis zu einem Millimeter groß, verfügen nur über sechs bis acht Placiden in der Halsregion und weisen auch auf dem Rumpf kaum Stacheln auf. Sie haben ausnahmslos einen dreieckigen Körperquerschnitt und kommen in schlammigen Sedimenten unterhalb der Gezeitenzone vor. Literatur R. C. Brusca, G. J. Brusca 2003. Invertebrates. Sinauer Associates, Sunderland MA 2003, S. 348. ISBN 0-87893-097-3 X.-P.Dong, P. C. J. Donoguhe, H. Cheng, J. B. Liu 2004. Fossil embryos from the Middle and Late Cambrian period of Hunan, south China. in: Nature. New York 427.2004, S. 237. R. P. Higgins 1971. A historical overview of kinorhynch research. in: N. C. Hulings (Hrsg.): Proceedings of the First International Conference on Meiofauna. Smithsonian Contributions to Zoology. Washington DC 76.1971, S. 25. R. M. Kristensen, R. P. Higgins 1991. Kinorhyncha. In: F. W.Harrison, E. E. Rupert (Hrsg.): Microscopic Anatomy of Invertebrates. Bd. 4. Wiley-Liss, New York 1991, S. 377. ISBN 0-471-56103-7 S. Lorenzen: Kinorhyncha. in: W. Westheide, R. Rieger 1996. Spezielle Zoologie. T 1. Einzeller und Wirbellose Tiere. Gustav Fischer, Stuttgart 1996. ISBN 3-437-20515-3 B. Neuhaus, R. P. Higgins 2002. Ultrastructure, biology and phylogenetic relationships of Kinorhyncha. in: Integrative and Comparative Biology. Lawrence Kan 42.2002, S. 619. E. E. Ruppert, S. F. Richard, R. D. Barnes 2004. Invertebrate Zoology. A Functional Evolutionary Approach. Kap. 22. Brooks/Cole, Belmont Cal 2004, S. 778. ISBN 0-03-025982-7 Einzelnachweise Weblinks Bild einer Hakenrüsslerart der Gattung Antygomonas (etwa in der Mitte der Webseite) Umfangreiche Literaturliste zu den Hakenrüsslern Vielzellige Tiere
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https://de.wikipedia.org/wiki/Sesostris-I.-Pyramide
Sesostris-I.-Pyramide
Die Sesostris-I.-Pyramide (mittelägyptisch Senwosret-peter-taui) ist das Grabmal des altägyptischen Königs Sesostris I. aus der 12. Dynastie im Mittleren Reich. Sie wurde zwischen dem 10. und dem 25. Regierungsjahr Sesostris’ I. (circa 1909–1894 v. Chr.) in el-Lischt, etwa 1,6 km südlich der Pyramide seines Vaters Amenemhet I. errichtet. Erste wissenschaftliche Beschreibungen des Bauwerks erfolgten Mitte des 19. Jahrhunderts. Großflächige Grabungen im Pyramidenkomplex fanden zwischen den 1890er- und 1930er-Jahren und nochmals in den 1980er- und 1990er-Jahren durch französische und US-amerikanische Forschungsteams statt. Die Grabungen erbrachten nicht nur Erkenntnisse zum ursprünglichen Aussehen der Grabanlage, sondern auch zu den Konstruktionsmethoden, zum Materialtransport und zur Arbeitsorganisation. Die Pyramide Sesostris’ I. ist stark an Vorbilder des Alten Reichs, insbesondere der 5. und 6. Dynastie angelehnt, was vor allem an der Konzeption des Totentempels und dem Bau von Nebenpyramiden deutlich wird. Hierzu gehören neun Pyramiden für Königinnen und Königstöchter. Die meisten von ihnen sind so stark zerstört, dass heute nicht einmal die Namen der Besitzerinnen bekannt sind. Nur die Pyramide der Gemahlin des Herrschers Neferu und der Tochter Itakayt (I.) konnten mit Sicherheit identifiziert werden. Sesostris I. war der letzte altägyptische Herrscher, der eine Kultpyramide errichten ließ. Der Grabbezirk weist einige architektonische Neuerungen auf. Hierzu zählt etwa die Gestaltung der inneren Umfassungsmauer, die in dieser Form weder vorher noch nachher verwendet wurde. Ebenso neu ist die Konstruktion des Oberbaus der königlichen Pyramide mit einer äußeren Stützkonstruktion aus Kalkstein-Streben. Die unterhalb der Pyramide gelegene Grabkammer ist nie freigelegt worden und heute vom Grundwasser überflutet. Grabräuberschächte deuten darauf hin, dass sie bereits im Altertum geplündert wurde. Während und kurz nach der Regierungszeit von Sesostris I. entstanden im Umfeld der Pyramide mehrere große Mastaba-Gräber hoher Beamter. Im weiteren Verlauf des Mittleren Reiches und vereinzelt in der Zweiten Zwischenzeit und in der Römerzeit wurden zudem im königlichen Grabbezirk und in der Beamten-Nekropole zahlreiche einfache Schachtgräber angelegt. Für die Dritte Zwischenzeit und die Römerzeit ist außerdem durch Silos und Hausgrundrisse eine landwirtschaftliche Nutzung des Geländes nachgewiesen. Forschungsgeschichte Eine erste Dokumentation der Pyramide führte 1839 John Shae Perring durch. Die Publikation erfolgte 1842 durch ihn selbst und durch Richard William Howard Vyse. Karl Richard Lepsius besuchte Lischt während seiner Ägypten-Expedition 1842–1846 und dokumentierte zwischen März und Mai 1843 die dortigen Ruinen. Die Sesostris-I.-Pyramide nahm er unter der Nummer LXI in seine Pyramiden-Liste auf. Gaston Maspero stieß 1882 als Erster ins Innere der Pyramide vor. Erste systematische Ausgrabungen fanden 1894/95 unter Joseph-Étienne Gautier und Gustave Jéquier statt. Zwischen 1906 und 1934 grub ein Forschungsteam des Metropolitan Museum of Art in 14 Kampagnen in Lischt. Zehn davon unter der Leitung von Albert M. Lythgoe (1907–1914) und Ambrose Lansing (1916–1918 und 1923–1934) galten der Sesostris-I.-Pyramide, wobei damals außer Vorberichten keine Publikationen erschienen. Nachgrabungen gab es zwischen 1984 und 1987 unter Dieter Arnold. Bereits 1988 veröffentlichte er die erste vollständige Grabungspublikation der königlichen Pyramidenanlage. 1992 folgte unter Mitarbeit seiner Ehefrau Dorothea Arnold und seines Sohnes Felix Arnold ein weiterer Band zum Pyramidenkomplex. Felix Arnold legte zudem 1990 einen Band zu den im Pyramidenkomplex gefundenen Arbeiter-Inschriften vor. Name Eine Besonderheit der Pyramiden der 12. Dynastie ist die Verwendung unterschiedlicher Namen für verschiedene Teile des Pyramidenkomplexes. Während die Anlagen des Alten Reiches lediglich einen Namen für den gesamten königlichen Grabkomplex besaßen, hatten die Anlagen der 12. Dynastie bis zu vier Namen, welche die eigentliche Pyramide, den Totentempel, die Kultanlagen des Bezirks sowie die Pyramidenstadt bezeichneten. Für die Sesostris-I.-Pyramide sind drei Namen überliefert: Die eigentliche Pyramide trug den Namen Senweseret-peter-taui („Sesostris schaut die beiden Länder“, Ober- und Unterägypten). Der Name Chenem-isut-Cheperkare („Vereinigt sind die Stätten des Cheperkare“ [Thronname Sesostris' I.]) bezeichnete sowohl den Totentempel als auch alle anderen Kultanlagen des Bezirks. Die Pyramidenstadt trug den Namen Cha-Senweseret („Sesostris erscheint“). Für den Namen des Totentempels und der Kultanlagen ist auch die Kurzform Chenem-Isut („Vereinigt sind die Stätten“) überliefert. Baudetails Architektonische Vorbilder Mehr noch als sein Vater Amenemhet I. griff Sesostris I. die Grabbezirke des Alten Reichs als Vorbilder für seine Pyramidenanlage auf. Vor allem der Totentempel ist sehr stark an das Schema angelehnt, das sich seit Sahure zu Beginn der 5. Dynastie etabliert hatte. In seinen Proportionen gleicht er am stärksten den Totentempeln der Teti-Pyramide und der Pepi-I.-Pyramide aus der 6. Dynastie. Sesostris I. muss bei seinen Planungen direkt auf die Anlagen des Alten Reichs zurückgegriffen haben, entweder durch Vermessungen oder noch vorhandene Konstruktionspläne. Eine mittelbare Übernahme dieser Vorbilder durch eine Anlehnung an den Totentempel seines Vaters kann ausgeschlossen werden. Dieser ist zwar fast völlig zerstört und kann im Detail nicht mehr rekonstruiert werden, jedoch ist es durch seine geringen Ausmaße nicht möglich, dass er das Raumschema eines Totentempels des Alten Reichs vollständig übernommen hat. Der Totentempel der Sesostris-I.-Pyramide darf nicht als exakte Kopie der Anlagen des Alten Reichs verstanden werden, da er einige Neuerungen aufweist, etwa die starke Reduzierung der Magazinräume im äußeren Tempelbereich und die Verwendung von Osirisstatuen. Einen weiteren Rückgriff auf das Alte Reich stellt der Bau von Nebenpyramiden dar. Sowohl eine Kultpyramide als auch Königinnenpyramiden fehlen bei Amenemhet I. Die Kultpyramide Sesostris’ I. ist die einzige des Mittleren Reichs und zugleich die letzte, die in Ägypten errichtet wurde. Im Gegensatz zu den Anlagen des Alten Reichs weist ihr Kammersystem keinen T-förmigen Grundriss mehr auf. Durch die Neukonzeption der Totentempel und Kammersysteme im späteren Verlauf der 12. Dynastie wurden Kultpyramiden überflüssig, da ihre Funktion von anderen Teilen des Grabkomplexes übernommen wurde. Auch mit der hohen Anzahl an Königinnenpyramiden orientierte sich Sesostris I. wieder sehr stark am Alten Reich, etwa an der Pepi-I.-Pyramide, während sein Vater für seine Frauen und Töchter lediglich Schachtgräber anlegen ließ. Allerdings weicht die Konzeption des Kammersystems von den Vorbildern ab, etwa in der Orientierung der Sarkophag-Kammern. Weiterhin sind die Kultanlagen stark zurückgenommen. Beim Aufweg lässt sich ein auffälliger Umbau feststellen. Er war zunächst sehr breit und offen konzipiert und damit wohl dem Aufweg am Totentempel des Mentuhotep II. in Deir el-Bahari nachempfunden. Später wurde er verkleinert und überdacht und damit ebenfalls Vorbildern des Alten Reichs angepasst. Wesentliche Neuerungen lassen sich hingegen beim Oberbau der königlichen Pyramide feststellen. Wie schon die Pyramide Amenemhets I. orientiert sie sich nicht mehr an der Standard-Größe der Anlagen des Alten Reichs, sondern ist deutlich größer konzipiert als diese. Die Konstruktion des Oberbaus stellt höchstwahrscheinlich ein vollständig neues Konzept dar. Der Aufbau der Amenemhet-I.-Pyramide ist weitgehend unerforscht. Vermutlich besteht sie aus einem fünfstufigen Kern mit einer Ummantelung. Die Sesostris-I.-Pyramide besitzt hingegen eine äußere Stützkonstruktion aus Kalksteinstreben, die den Pyramidenkern umschließen. Dieses System wurde von den nachfolgenden Herrschern der 12. Dynastie übernommen. Chronologie der Bauarbeiten Bei den archäologischen Untersuchungen der Pyramide wurden an zahlreichen Steinblöcken Kontrollmarken der altägyptischen Handwerker gefunden, die wertvolle Einblicke in den Verlauf der Bauarbeiten liefern. Aus bislang ungeklärten Gründen begann Sesostris I. mit dem Bau seiner Pyramide nicht sofort nach seiner Krönung zum Ko-Regenten, sondern erst nach dem Tod seines Vaters. Das früheste Datum, auf Blöcken aus den Fundamenten der Pyramide und des inneren Hofs, stammt aus dem 10. Regierungsjahr. Die Arbeiten am Fundament dauerten kontinuierlich bis ins 14. Regierungsjahr an. Ab dem 11. Regierungsjahr wurde mit der Errichtung des Pyramiden-Oberbaus begonnen. Hier sind Kontrollmarken bis zum 13. Regierungsjahr erhalten. Die Marken aus den höheren Bereichen der Pyramide dürften dem massiven Steinraub zum Opfer gefallen sein. Merkwürdigerweise wurden auch an den Königinnenpyramiden Kontrollmarken gefunden, die bereits in das 11. und 13. Regierungsjahr datieren. Da zu dieser Zeit die Arbeiten an der Königspyramide im vollen Gange waren, erscheint es eigenartig, dass der Platz um diese herum bereits so stark verbaut worden sein soll. Felix Arnold schlug deshalb vor, dass das Baumaterial für die Königinnenpyramiden zwar bereits sehr früh beschafft worden sei, zunächst aber gelagert wurde und der eigentliche Bau erst um das 22. Regierungsjahr begann. Die Arbeiten am Totentempel begannen sehr früh und wurden kontinuierlich bis zum Ende des gesamten Bauprojekts fortgesetzt. Datumsangaben sind aus den Regierungsjahren 11, 12, 13, 16 und 24 überliefert. Letzteres ist gleichzeitig das höchste überlieferte Datum im Pyramidenbezirk. Arbeiten am oberen Ende des Aufwegs sind für das 22. Regierungsjahr bezeugt. Zu den Regierungsjahren 15, 17 bis 21 und 23 sind keine Datumsangaben belegt. Das höchste überlieferte Datum dürfte in etwa mit dem Ende der Bauarbeiten zusammenfallen. Die Pyramidenanlage war somit nach einer etwa 14 bis 15 Jahre dauernden Bauzeit um das 25. Regierungsjahr Sesostris’ I. und damit 20 Jahre vor seinem Tod vollendet. Dank der recht hohen Anzahl der gefundenen Datumsangaben lässt sich neben dem Verlauf der Arbeiten auch deren Intensität im Jahresverlauf rekonstruieren. Datumsangaben sind für alle zwölf Monate überliefert. Besonders viele Angaben stammen aus dem 3. und 4. Monat der Überschwemmungsjahreszeit (Achet) sowie vom dritten Monat des Winters (Peret) bis zum dritten Monat des Sommers (Schemu). Dies legt nahe, dass in diesen Monaten besonders intensiv gearbeitet wurde. In den Monaten vor und nach der Überschwemmung waren viele Arbeitskräfte in der Landwirtschaft gebunden. Steinbrüche, Transport und Konstruktionsmethoden Wichtigstes Baumaterial für alle Teile des Pyramidenkomplexes war lokaler Kalkstein. Die Steinbrüche hierfür lagen an den Hängen südlich, südöstlich und südwestlich des Plateaus, auf dem die Pyramide errichtet wurde. Tura-Kalkstein für die Verkleidung der Pyramiden und für die Tempelwände sowie Granit wurden per Schiff angeliefert. Der Transport zur Baustelle erfolgte auf befestigten Straßen, die aus einer auf dem Felsboden verlegten, mit einer Schicht aus Gips und Kalksteinbruch bedeckten Holzkonstruktion bestanden. Diese Wege liefen aus allen vier Himmelsrichtungen auf die Baustelle zu. Südlich der Pyramide wurde zudem eine Rampe angelegt, um Kalksteinblöcke von den Steinbrüchen über die Steilhänge zur Baustelle zu transportieren. An mehreren Stellen des Komplexes wurden Werkplätze zur Steinbearbeitung gefunden. Kennzeichen dafür waren große Mengen von Kalksteinbruch beziehungsweise Granitstaub, Werkzeugen sowie Stroh, das höchstwahrscheinlich von Schatten spendenden, mit Matten abgedeckten Pfostenkonstruktionen stammte. Werkplätze für die Kalksteinbearbeitung wurden westlich, nordwestlich und nordöstlich der äußeren Umfassungsmauer gefunden, Werkplätze für die Granitbearbeitung nördlich der äußeren Umfassungsmauer und nördlich der Königinnenpyramide 9. Im nordöstlichen Bereich des äußeren Hofs wurde ein Werkplatz entdeckt, auf dem beide Gesteinsarten bearbeitet wurden. Ein weiterer Werkplatz südlich der Mastaba des Imhotep stand wohl mit dem Bau der privaten Grabanlagen in Zusammenhang und nicht mit der königlichen Pyramide. Auch die Reste mehrerer Baurampen wurden entdeckt. An der Ostseite der Königinnenpyramide 3 wurden die Reste von zwei parallel verlaufenden Mauern gefunden, die in süd-nördlicher Richtung auf die königliche Pyramide zulaufen. Sie sind jeweils 1,40 m breit und bilden einen Zwischenraum von etwa 3,50 m, womit die gesamte Konstruktion knapp 6,50 m breit war. Die Mauern ließen sich bis zu einer Entfernung von 51 m von der Pyramide verfolgen. Bei einer Steigung von 10 bis 15 Prozent konnte somit eine Höhe zwischen 12 und 18 m erreicht werden. 3 m westlich wurde eine dritte, nur unvollständig erhaltene Mauer entdeckt, die vielleicht zu einer Erweiterungsphase der Rampe gehörte, mit der eine größere Höhe erreicht wurde. Reste einer von Westen auf das Zentrum der Pyramide zulaufenden Rampe wurden im Westteil des äußeren Hofs sowie an der Westseite der inneren Umfassungsmauer gefunden, aber nur unzureichend dokumentiert. Nördlich der Königinnenpyramide 9 wurden Reste einer möglichen weiteren kleinen Rampe entdeckt, die jedoch nicht zur königlichen Pyramide führte. Ihr tatsächlicher Zweck ist unklar. Aus all diesen Befunden lässt sich ableiten, dass der lokale Kalkstein bevorzugt von Süden und Westen zur Baustelle gelangte und dort großflächig bearbeitet und verbaut wurde. Tura-Kalkstein gelangte über einen Kai direkt von Osten her, etwa entlang des Aufwegs zur Baustelle. Granit wurde weiter nördlich entladen, durch ein Wadi in südwestlicher Richtung zur Baustelle transportiert und anschließend in größerem Umfang nördlich der Pyramide sowie in kleinerem Umfang im nordöstlichen äußeren Hof bearbeitet. Ziegel dürften hauptsächlich von Osten oder Nordosten herangeschafft worden sein. Am Bau beteiligte Beamte Als Architekt und Bauleiter der Sesostris-I.-Pyramide kommen mehrere Personen infrage. Diese Ämter waren im Ägyptischen durch den Titel Imi-ra kat-nebet net nesu („Vorsteher aller Arbeiten des Königs“) gekennzeichnet. Der wahrscheinlichste Kandidat dürfte Mentuhotep gewesen sein, der weiterhin das Amt eines Schatzmeisters bekleidete und ein großes Mastaba-Grab neben der königlichen Pyramide besitzt. Mentuhotep ist außerdem durch mehrere Statuen aus dem Amun-Tempel in Karnak sowie durch eine Stele aus Abydos bezeugt. Diese Funde legen nahe, dass sein architektonischer Arbeitsschwerpunkt in Oberägypten lag, was eine Verantwortlichkeit für den Bau der Sesostris-I.-Pyramide aber nicht ausschließt. Daneben gab es zwei weitere „Vorsteher aller Arbeiten des Königs“, die aber deutlich schlechter belegt sind. Der erste war Hornacht, der durch eine Scheintür im Museo Egizio in Turin bezeugt ist. Er kann allgemein in die erste Hälfte der 12. Dynastie datiert werden. Der zweite war Nebit, der durch eine Stele im Ägyptischen Museum in Kairo bezeugt ist. Auch er lässt sich nicht genauer datieren. Ein zusätzlicher möglicher Kandidat ist Samonth, der die Titel „Aktenschreiber des Königs“ und „Vorsteher aller Arbeiten im ganzen Land“ trug. Auf einer im British Museum in London befindlichen Stele ist seine Autobiografie überliefert, der zu entnehmen ist, dass er unter der Herrschaft von Amenemhet I. geboren wurde und unter Sesostris I. und Amenemhet II. Karriere machte. Wann genau er welches Amt antrat und welche Aufgaben damit einhergingen, lässt sich dem Text hingegen nicht entnehmen. Ein hoher Beamter namens Sesostrisanch, der ein großes Mastaba-Grab nordöstlich des Totentempels besaß, wird durch seine Titel als oberster Handwerker ausgewiesen. Nach Dieter Arnold dürfte auch er eine wichtige Rolle bei der Planung der königlichen Pyramide gespielt haben. Möglicherweise war er verantwortlich für die ungewöhnliche Gestaltung der inneren Umfassungsmauer. Weiterhin sind aus der Regierungszeit Sesostris’ I. zwei „Truppenvorsteher“ (Imi-ra mescha) bekannt, die für den Materialtransport verantwortlich waren. Einer von ihnen war Heqaib, der außerdem den Titel „Vorsteher der Arbeiten im ganzen Land“ trug. Er ist durch eine Felsinschrift im Wadi Hammamat bezeugt, der zu entnehmen ist, dass er eine 5000 Mann starke Truppe in die dortigen Steinbrüche führte. Als ein zweiter Truppenvorsteher wird ein Cheti auf einer Kontrollinschrift an der Sesostris-I.-Pyramide genannt. Die Pyramide Der Oberbau Die Pyramide hat eine geplante Seitenlänge von 200 Ellen (105 m), ist aber, wohl durch einen Messfehler, tatsächlich 22 cm breiter. Ihre Böschung beträgt sechs Handbreit pro Elle (49° 24′). Die ursprüngliche Höhe betrug demnach 116 Ellen (61,25 m). Heute erreicht die Ruine lediglich eine Höhe von 23 m. Die Verkleidungssteine sind im unteren Bereich des Baus noch zahlreich erhalten, teilweise in bis zu acht Lagen. Die Zerstörung der Pyramide erfolgte damit von oben nach unten. Als Baugrund für die Pyramide diente der flache Wüstenboden. An einigen Stellen wurden Unebenheiten durch Steinblöcke ausgeglichen. Möglicherweise war um die Pyramide herum ein Graben zur Verankerung des Verkleidungsmauerwerks ausgehoben worden. Einen solchen meinte die Expedition des Metropolitan Museums 1933 gefunden zu haben. Dieter Arnold konnte das bei seinen Nachuntersuchungen nicht bestätigen. Messungen an den Pyramidenecken und am Eingang ergaben Höhenunterschiede von bis zu 15 cm – ein Hinweis darauf, dass sich Mauerwerk gesenkt hatte. Für den Pyramidenkern wurde eine neue Konstruktionsweise verwendet: Als stützender Rahmen wurde ein Skelett aus steinernen Streben errichtet. Davon verlaufen vier entlang der Pyramidenkanten. Jeweils sieben weitere Streben verlaufen senkrecht entlang der Seitenflächen. Als Material für die Streben diente grob behauener lokaler Kalkstein. Ihre Dicke beträgt zwischen 3 und 5 Ellen (zwischen 1,575 und 2,625 m). Als Füllmaterial für den Kern diente ein Gemisch aus meist unbehauenen lokalen Kalksteinplatten, Sand und Mörtel. Die Außenhaut der Verfüllung wurde schließlich durch eine weitere Schicht Mörtel zusätzlich stabilisiert. Die Verkleidungssteine waren aus feinem weißen Kalkstein gefertigt und durch Holzklammern miteinander verbunden. Zahlreiche dieser Klammern wurden, teils in situ, bei den Untersuchungen von Dieter Arnold gefunden. Sie waren mit Eigen- und Thronnamen von Sesostris I. beschriftet. Als Folge der Senkung des Mauerwerks hatten an den Verkleidungsblöcken zahlreiche Ausbesserungen vorgenommen werden müssen. Gründungsdepots Vermutlich unter allen vier Ecken der Pyramide wurden vor dem Baubeginn Gründungsdepots angelegt. Drei davon wurden 1932 durch die Expedition des Metropolitan Museum an der Südost-, der Südwest- und der Nordwestecke ausgegraben. Eine Untersuchung der Nordostecke wurde durch zu starke Schuttansammlungen verhindert. Die Gründungsgruben befinden sich etwa 3 m von der Außenkante der Pyramide entfernt, haben einen Durchmesser von etwa 2 m und eine Tiefe von etwa 2 m. Die Beigaben sind in allen drei Fällen praktisch identisch: Die Gruben enthielten jeweils fünf Tafeln aus (Zedern)-Holz, Alabaster, Kupfer, einer Metalllegierung und Fayence, den Schädel, einige Rippen und den Humerus eines Stiers, zwei Skelette von Enten oder Gänsen sowie zahlreiche Keramikgefäße (rundbödige Schalen, Schalen mit Standfuß, spitzbödige Flaschen und in einem Fall ein Sieb). Der Inhalt der beiden südlichen Depots befindet sich heute im Besitz des Metropolitan Museums, der des nordwestlichen im Ägyptischen Museum in Kairo. Weitere Depots wurden offenbar nach der Errichtung der Pyramide direkt an den Außenseiten ihrer Ecken angelegt. Es handelt sich um durch das bereits verlegte Hofpflaster gegrabene Gruben, von denen nur die südöstliche genauer rekonstruiert werden kann. Sie war rechteckig, 0,6 m lang, 0,7 m breit und 1,6 m tief. Ihre Wände waren mit ungebrannten Lehmziegeln verkleidet und sie war mit einer Steinplatte verschlossen. Die Wände waren durch Regenwasser stark zerstört. An Beigaben wurden lediglich bescheidene Reste eines Rinderschädels gefunden. Die beiden anderen ergrabenen Depots wurden geplündert vorgefunden. Das südwestliche enthielt Reste eines Rinderschädels und fragmentierte Keramik, das nordwestliche einen einzelnen Rinderzahn. Die Nordkapelle Für die Nordkapelle wurde bei der Errichtung des Pyramidenoberbaus exakt in der Mitte der Nordseite eine Nische freigelassen. Der von dort nach unten führende Gang ist allerdings um 0,5 m nach Westen verschoben, so dass auch die Kapelle entsprechend versetzt werden musste. Von dieser wurden bei den Grabungen zwischen 1932 und 1934 nur noch Reste gefunden. Die Nordkapelle wurde offenbar relativ rasch nach ihrer Errichtung wieder abgerissen, möglicherweise von Grabräubern bei ihrem Eindringen ins Pyramiden-Innere. Keiner der Steine der Kapelle wurde in situ vorgefunden, zahlreiche Bruchstücke lagen westlich des Pyramideneingangs. Der Rest eines Verbindungssteins zwischen Pyramidenkörper und Kapelle erlaubt den Schluss, dass Letztere auf einem etwa 1,2 m hohen Sockel errichtet worden war. Die Ausmaße des Bauwerks können nur grob geschätzt werden. Aufgrund der Nische im Pyramidenkörper kann ihre Breite relativ sicher mit etwa 10 Ellen (5,25 m) rekonstruiert werden, ihre Tiefe dürfte ebenfalls 10 Ellen betragen haben und die Wände waren innen wohl etwa 7 Ellen (3,675 m) hoch. Die Außenwände der Kapelle waren unverziert, die Innenwände mit bemalten, erhabenen Reliefs verziert. Die zwei einzigen erhaltenen Blöcke der Nordseite zeigen Szenen von Tierschlachtungen, bekrönt von einem Cheker-Fries. Die Ost- und die Westwand zeigten jeweils das Mundöffnungsritual und eine Opferliste. Die Südwand wurde größtenteils von einer Stele aus Alabaster eingenommen, die auf jeder Seite durch Prozessionen von je dreimal drei Göttern flankiert wurde, welche wegen des schlechten Erhaltungszustandes der gefundenen Bruchstücke nicht mehr identifiziert werden können. Von der Decke haben sich Reste einer Sternen-Dekoration erhalten. Das Dach besaß wohl zwei Wasserabflüsse in Form von liegenden Löwen, von denen einer zum Teil erhalten ist. Das Kammersystem Neben dem eigentlichen planmäßigen Kammersystem sind bei der Sesostris-I.-Pyramide Reste einer offenen Baugrube erhalten, welche während der Arbeiten an den unterirdischen Kammern genutzt und nach deren Fertigstellung mit Sand zugeschüttet wurde. Diese Grube beginnt 35,4 m vor der Nordwand der Pyramide und hat eine Breite von 5,30 m. Wegen Einsturzgefahr konnte sie bislang nur unzureichend erforscht werden. Ihr Boden war gepflastert mit Ziegeln, die auf dem anstehenden Gestein aufsaßen und Treppenstufen bildeten. Darauf lagen zusätzlich Holzplanken, die starke Abnutzungsspuren aufwiesen. Möglicherweise war diese Treppenkonstruktion bereits eine fortgeschrittene Bauphase und anfänglich wurde lediglich der anstehende Boden genutzt. Nach den unterirdischen Kammern wurde der absteigende Korridor errichtet. Er beginnt 1,75 m vor der Nordseite der Pyramide und ist mit 25° Gefälle etwas steiler als die Baugrube. Anfänglich konnte das obere Ende der Grube noch für den Materialtransport verwendet werden. Ihr Neigungswinkel wurde hierfür durch eine Sandfüllung verringert. Als Lauffläche dienten Holzplanken, die mit kleinen Kalksteinplatten und einer Schicht getrocknetem Schlamm gedeckt waren. Der absteigende Korridor ist mit Granitblöcken verkleidet, die an den Wänden etwa 1,5 m (etwa 3 Ellen) breit und wohl 2 Ellen hoch sind. Die Bodenblöcke haben eine Länge von etwa 4 m, eine Dicke von etwa 0,75 m und wiegen jeweils etwa 8 t. Etwa mittig in die Bodenblöcke sind im Abstand von rund 5 m neun oder zehn Kalksteinplatten eingelassen und mit Gips befestigt. Ihre Oberfläche ist stark erodiert. Die Breite des Korridors beträgt 11 Handbreit (0,825 m). Er verläuft nicht exakt in Nord-Süd-Richtung, sondern weicht deutlich nach Südosten ab. Der Eingangsbereich war mit einer Reihe von sechs oder sieben schweren Granitblöcken verschlossen. Der äußerste hatte eine Länge von 8,5 m und eine Masse von über 20 t, ist aber von Grabräubern zerbrochen worden. Auch die folgenden Blockiersteine weisen Beschädigungen auf. Unmittelbar westlich des Eingangs befindet sich ein Grabräubertunnel. Nach dem rasch wieder eingestellten Versuch, den ersten Blockierstein zu durchbrechen, wurde zunächst versucht, diesen zu umgehen. Hierzu wurde ein 2,5 m langer Tunnel in den weicheren Kalkstein getrieben und dann nach Osten gegraben, in der Hoffnung, den Blockierstein umgangen zu haben. Stattdessen stießen die Räuber auf den zweiten Blockierstein. Sie gruben nun an diesem entlang bis zu einer Länge von insgesamt 13 m weiter durch den Kalkstein. An dieser Stelle begann jedoch die Granitverkleidung des Korridors. Da aber dort ebenfalls der dritte Blockierstein begann und dieser am oberen Ende eine Beschädigung aufwies, konnten die Grabräuber eine Bresche schlagen und sich auf die andere Seite des Korridors durchmeißeln. Dort mussten sie feststellen, dass der Korridor auf allen Seiten von Granit ummantelt war. Die Grabungsarbeiten wurden daher – jetzt von zwei Seiten – von außen entlang der Korridorverkleidung fortgesetzt. Offenbar geschah dies bis hinab zur Grabkammer, denn bei den Grabungen Masperos wurden 1882 in dem kleinen Hohlraum zwischen dem 2. oder 3. Blockierstein die Reste des offenbar erfolgreichen Raubzugs gefunden. Hierzu gehörten Teile von Holzkästchen, zerbrochene Alabastergefäße, Bruchstücke von vier Kanopenkrügen sowie eine goldene Dolchscheide. Die Kanopenkrüge befinden sich heute im Ägyptischen Museum in Kairo (Inv.-Nr. CG 4001-4004 und 5006-5018). Das Schicksal der anderen Fundstücke ist unklar. Ein weiterer Grabräubertunnel an der Südseite der Pyramide konnte bis zu einer Länge von 35 m verfolgt werden. Ob auch dieser die Grabkammer erreicht hatte, ist unbekannt. Den ersten wissenschaftlichen Versuch, in die Grabkammer vorzudringen, unternahm Maspero 1882. Hierzu ließ er alle Blockiersteine entfernen, wurde aber nach einer Strecke von 30 m von eindringendem Grundwasser gestoppt. Erneute Versuche bei den Untersuchungen des Metropolitan Museums 1934 und 1984 scheiterten ebenfalls am Grundwasser. Die Grabkammer bleibt daher bis auf weiteres unerforscht. Dieter Arnold vermutet sie in einer Tiefe zwischen 22 und 25 m. Wegen des nach Südosten abknickenden Korridors ist ein Kammersystem ähnlich denen der 5. Dynastie zu erwarten: Der Korridor dürfte also zunächst in eine Vorkammer münden, von der westlich die Grabkammer abzweigt, die genau unter der Pyramidenspitze liegt. Der königliche Sarkophag besteht vermutlich aus Granit, denn bei den Nachuntersuchungen Arnolds wurde im Korridor ein halbrundes Granit-Bruchstück gefunden, bei dem es sich wohl um eine abgeschlagene Bosse des Sarkophag-Deckels handelt. Der Pyramidenkomplex Taltempel und Aufweg Der Taltempel der Sesostris-I.-Pyramide ist bislang weder ausgegraben noch genau lokalisiert worden. Er wird unter den Sanddünen nördlich des islamischen Friedhofs von Saudiya (ehemals al-Maharraqa) vermutet. An dieser Stelle wurden 1985 und 1986 zwei Testgrabungen durchgeführt, wobei lediglich zerstörte römerzeitliche Gräber direkt unter der Oberfläche gefunden wurden. Grabungen in tieferen Schichten fanden bislang nicht statt. Der Aufweg wurde 1895 von Joseph-Étienne Gautier an seinem westlichen Ende und zwischen 1907 und 1909 erneut durch das Team des Metropolitan Museum auf einer Länge von etwa 100 m ergraben. Weiter östlich wurden einige Probegrabungen unternommen, die jedoch nicht näher dokumentiert wurden. Bei seinen Nachgrabungen in den 1980er-Jahren musste Dieter Arnold feststellen, dass beträchtliche Teile des ergrabenen Aufwegs in der Zwischenzeit durch Steinraub stark zerstört worden waren, so dass er für die Rekonstruktion der Anlage stellenweise nur auf alte Fotografien zurückgreifen konnte. Im Gegensatz zum Rest des Pyramidenkomplexes war der Aufweg in seiner ursprünglichen Konzeption nicht den memphitischen Pyramidenanlagen des Alten Reiches nachempfunden, sondern dem Totentempel des Mentuhotep II. in Deir el-Bahari. Er war zunächst 10 Ellen (5,25 m) breit und offen. In einer zweiten Bauphase wurde er allerdings den Vorbildern des Alten Reichs angeglichen. Für die Anbringung eines Dachs aus Kalksteinbalken, für die der ursprüngliche Entwurf zu breit gewesen wäre, wurde an den Wänden eine zweite Steinschicht angebracht, wodurch sich die Breite des Aufwegs halbierte. Die Wände waren mit einem Winkel von etwa 88° leicht nach innen geneigt. Von der inneren Wandschicht ist auf dem ergrabenen Stück des Aufwegs heute nichts mehr erhalten, sie ist ausschließlich durch die Fotografien der ursprünglichen Grabungen dokumentiert. Die einstige Höhe des Aufwegs kann nur geschätzt werden. Dieter Arnold nimmt als Minimum etwa 6 Ellen (3,15 m) Innenhöhe und 8 Ellen (4,20 m) Dachhöhe an. Ob die Wände des Aufwegs dekoriert waren, lässt sich nicht mehr feststellen, da bei den wenigen gefundenen Fragmenten nicht klar ist, ob sie ursprünglich von dort stammen oder aus dem Totentempel verlagert wurden. Im Abstand von 10 Ellen waren in der Wand paarweise Nischen freigelassen worden, in denen Statuen des Königs aufgestellt waren. Sie waren in Löcher eingelassen, die durch den Bodenbelag gemeißelt worden waren und bis zu einer Füllschicht aus Geröll reichten. Insgesamt sind neun Nischenpaare bekannt. Von dort stammen wahrscheinlich sechs von den Knien aufwärts erhaltene Statuen, die von Gautier in einem Grabschacht an der Nordostecke des inneren Hofes des Pyramidenkomplexes gefunden wurden und die sich heute im Ägyptischen Museum in Kairo befinden (Inv.-Nr. CG 397–402). Zwei weitere Statuen wurden am Aufweg bei den Grabungen des Metropolitan Museum gefunden und befinden sich heute in New York (Inv.-Nr. MMA 08.200.1 und 09.180.529). Hinzu kommen Fragmente einer weiteren Statue sowie drei Basen und zwei untere Hälften weiterer Statuen, die in situ verblieben. Bei allen Bildnissen handelt es sich um sogenannte Osiris-Statuen, die den König in Mumiengestalt zeigen. Die etwa lebensgroßen Statuen aus Kalkstein hatten nach Dieter Arnolds Rekonstruktion eine Gesamthöhe von etwa 239 cm. Den Unterteil bildete ein 28 cm hohes Podest. Hierauf standen, gestützt an einen Rückenpfeiler, die in ein Mumiengewand gehüllten Bildnisse des Königs. Er hält die Arme auf der Brust gekreuzt und trägt einen langen Zeremonialbart. Auf dem Kopf ruht eine Krone und zwar bei den nördlichen Figuren die rote Krone Unterägyptens und bei den südlichen die weiße Krone Oberägyptens. Die Bemalung der Statuen war bei ihrem Auffinden noch gut erhalten, ist mittlerweile aber stark verblasst. Die Statuenbasen und die Rückenpfeiler waren in rosa gehalten, das Rosengranit imitieren sollte. Die Gesichter waren rotbraun bemalt und die Kronen weiß beziehungsweise rot. Unmittelbar westlich der dritten südlichen Statuennische befindet sich ein Türdurchgang in der Wand des Aufwegs. Die Existenz von zwei Löchern für den Türzapfen belegt, dass der Durchgang bereits im ursprünglichen Baukonzept vorgesehen war und bei der Umgestaltung versetzt wurde. Ein nördliches Pendant zu diesem Durchgang existiert nicht. Nördlich und südlich des eigentlichen Aufwegs befinden sich zwei weitere, 12 Ellen (6,30 m) breite Wege, die von Ziegelmauern begrenzt werden. Etwa 20 Ellen (10,50 m) vor der äußeren Umfassungsmauer knicken die Mauern ab und erweitern die Wege zu kleinen Höfen, von denen der nördliche eine Breite von 30 Ellen (15,75 m, tatsächlich gemessen 15,60 m) und der südliche eine vermutliche Breite von 35 Ellen (18,375 m) hat. Der Aufweg endet an drei Toren: Das mittlere führt in die Eingangshalle des Totentempels, die beiden äußeren führen von den beiden kleinen Vorhöfen in den äußeren Hof des Pyramidenkomplexes. Im nördlichen Vorhof wurden zahlreiche Befunde festgestellt. In der Mitte seiner Ostmauer befindet sich ein 60 × 60 cm großer Hohlraum von unbekannter Funktion. Vielleicht diente er der Aufnahme von magischen Schutzobjekten für das königliche Begräbnis. Die südliche Hälfte des Vorhofs war ursprünglich eine Grube, durch die möglicherweise eine Baustraße oder -rampe führte, wie der Fund einer für solche Konstruktionen üblichen Holzplanke belegt. Später wurde sie in mehreren Schichten mit Kalksteinschutt, Erde und Schlamm verfüllt. Für die Nordostecke des Hofes wurde eine mehrphasige Nutzung festgestellt. Bruchstücke von Diorit in der ältesten Schicht belegen, dass dieser Bereich zuerst als Steinmetz-Werkstätte benutzt wurde, vielleicht zur Herstellung von Statuetten, Steingefäßen oder Kanopenkästen. Später wurde der Bereich mit einer Schicht aus Schlamm überzogen und darauf ein Becken errichtet, in dem Gips aufbereitet wurde. Neben Gipsresten wurden hier einige hölzerne Werkzeuge gefunden. Nachdem auch diese Werkstätte aufgegeben worden war, wurde an gleicher Stelle ein kleiner Ziegelbau errichtet, der nur aus einem Raum besteht und einen Abfluss in der Ostwand aufweist. Wegen seiner geringen Größe kommt als einziger möglicher Verwendungszweck der als Reinigungsraum für Priester in Frage. Da der nördliche Vorhof keine Verbindung zum königlichen Totentempel aufweist, dürfte er nicht von königlichen Totenpriestern benutzt worden sein, sondern eher von den Priestern der Königinnenpyramiden. Westlich des Reinigungsraums wurden zwei Modellbegräbnisse von Beamten namens Bener und Wahneferhotep gefunden. Sie bestanden aus zwei Holzsärgen von 28 cm beziehungsweise 24 cm Länge, in denen in Leinen gewickelte Uschebtis aus Kalzit oder aus goldüberzogenem Holz lagen. Als Beigaben befanden sich neben den Särgen Keramiktöpfe. Letztere erlauben eine Datierung des Begräbnisses des Bener in die späte 12. oder frühe 13. und dem des Wahneferhotep in die fortgeschrittene 13. Dynastie oder in spätere Zeit. Alle Funde befinden sich heute im Metropolitan Museum in New York. Zwei weitere kleine, nur sehr grob gefertigte Holzkisten wurden südlich des Reinigungsraums entdeckt, von den Ausgräbern allerdings nicht aufbewahrt. Der gesamte Bereich südlich des Aufwegs ist bislang weitgehend unerforscht, der Bereich nördlich wurde hingegen 1984–1985 ergraben (siehe unten). Die äußere Umfassungsmauer und der äußere Hof Die äußere Begrenzung des Pyramidenkomplexes bildete eine rechteckige, gipsüberzogene Ziegelmauer mit einer nord-südlichen Länge von 485 Ellen (254,624 m) und einer ost-westlichen Länge von 440 Ellen (231 m). Von ihr sind heute nur die Fundamente erhalten, bei den Grabungen des Metropolitan Museums Anfang des 20. Jahrhunderts waren noch bis zu 1 m hohe Reste an der Mündung des Aufwegs erhalten. Die Fundamente haben eine Dicke von 3,10 m, die eigentliche Mauer hatte eine Dicke von 5 Ellen (2,625 m). In ihrer Form ähnelte sie der Kalksteinmauer der inneren Umfassungsmauer, besaß also schräge Wände und eine abgerundete Krone. Neigungswinkel und ursprüngliche Höhe können nicht genau bestimmt werden. Durch Vergleiche mit der inneren Mauer kann die Höhe aber auf mindestens 10 Ellen (5,25 m) geschätzt werden. Bei den Grabungen Gautiers sowie bei Nachuntersuchungen durch Dieter Arnold 1988 wurden an der Südostecke der Umfassungsmauer mehrere Umbauten festgestellt: 12 m außerhalb der Südseite entdeckte Gautier die nur 2,40 m breiten Fundamente einer Vorläufermauer. In Richtung Westen konnte er sie auf einer Länge von 10 m verfolgen. Arnolds Grabungen ergaben, dass diese Mauer auf Höhe der östlichen Umfassungsmauer nach Norden abknickt und auf diese zuläuft. Sie verläuft zunächst auf einer Länge von 13,75 m. Anschließend folgt eine Lücke von 2,20 m Breite. Hierauf folgt ein weiterer Mauerabschnitt, der bereits nach 1 m unter der Südostecke der endgültigen Umfassungsmauer verschwindet und mindestens weitere 17 m unter ihr verläuft. In einer zweiten Bauphase wurden die Ausmaße der Umfassungsmauer reduziert und gleichzeitig ihre Dicke verstärkt. Es entstand eine 5 Ellen (2,625 m) breite Mauer, die zunächst mit der Schlussphase der östlichen Umfassungsmauer identisch ist, aber bereits 39 m nördlich der heutigen Südostecke nach Westen abknickt. In diese Richtung verläuft sie zunächst 14 m. Weitere 16 m lässt sich ein Fundamentgraben ohne Steineinbauten verfolgen. Diese letztlich aufgegebene Mauer war wohl nicht als eigentliche Südseite der Umfassungsmauer geplant, sondern führte zu einer unbekannten Struktur in der Südostecke des Hofes. In einer letzten Bauphase entstand schließlich eine südliche Fortsetzung der zweiten Mauer, welche den endgültigen südöstlichen Abschnitt der Umfassungsmauer darstellt. Die Breite des äußeren Hofs beträgt auf allen vier Seiten 90 Ellen (47,25 m). Den Zugang ermöglichen zwei Tore von den beiden Vorhöfen der äußeren Aufwege. Ausgrabungen des Metropolitan Museums Anfang des 20. Jahrhunderts in der Nordostecke des Hofes erbrachten keine Spuren einer Pflasterung. Wahrscheinlich diente der zerkleinerte, bei der Begradigung des Geländes angefallene Schutt selbst als Laufhorizont. Depots Im äußeren Hof wurden insgesamt zehn Deponierungsgruben entdeckt. Die größte befindet sich nahe dem Eingang der ursprünglichen Baugrube für das Kammersystem der königlichen Pyramide, wird aber auch teilweise von der Umfassungsmauer der Königinnenpyramide 7 verdeckt. Es ist daher nicht ganz sicher, zu welchem der beiden Bauprojekte das Depot gehört, Dieter Arnold vermutet eher die Baugrube. Das Depot hat einen runden Querschnitt mit einem Durchmesser von etwa 2,5 m und eine Tiefe von 5,35 m. Der Inhalt der Grube waren 33 Keramikgefäße (flache und halbkugelige rundbödige Schalen, flache und halbkugelige Schalen mit Standfuß, Töpfe), ein Feuerstein-Gerät und vier zerbrochene Ziegel. Die anderen neun Depots liegen alle an der südlichen Außenseite der inneren Umfassungsmauer. Bei sieben davon scheint es sich um Depots für die Königinnenpyramiden der Neferu und der Itakayt zu handeln (siehe dort). Die Gruben 1 und 2 gehören hingegen offenbar unmittelbar zur königlichen Pyramide. Die westlichste, Grube 1, enthielt 22 große Töpfe, ebenso viele hölzerne Tragestangen und Reste von Siegelabdrücken aus Schlamm. Ablagerungen in den Töpfen belegen, dass sie zum Transport von Bier verwendet wurden. Weitere Funde aus Grube 1 sind eine Flasche und zwei Opfer- oder Räucherständer, die alle wohl als späteres Füllmaterial und nicht als Beigaben in die Grube gelangten. In Grube 2 wurde lediglich ein Topf gefunden, der identisch mit denen aus Grube 1 ist. Die Statuengrube Zwischen dem nordwestlichen Ende des äußeren Totentempels und der südlichen Umfassungsmauer der Königinnenpyramide 8 entdeckte Gautier 1884 in einer abgedeckten Grube nebeneinander stehend zehn hervorragend erhaltene Sitzstatuen von Sesostris I. aus Kalkstein. Heute befinden sich die Stücke im Ägyptischen Museum in Kairo (Inv.-Nr. CG 411-420). Alle zehn Statuen sind weitgehend identisch ausgeführt und unterscheiden sich nur in Details. Sie haben jeweils eine Höhe von 194 cm und zeigen den König auf einem Thron sitzend. Er trägt einen Schurz, einen bis zur Brust reichenden Zeremonialbart und ein plissiertes Nemes-Kopftuch mit einer Uräusschlange auf der Stirn. Die linke Hand hat er flach auf den Oberschenkel gelegt, in der rechten, zur Faust geballten Hand hält er ein gefaltetes Tuch. Auf allen Statuen haben sich Reste der Bemalung erhalten. Auf den Seiten des Throns sind Reliefs mit Nilgottheiten beziehungsweise mit Horus und Seth angebracht, die symbolisch die beiden Länder Ober- und Unterägypten vereinen. Unklar ist, wo und in welchem Zeitraum die Statuen ursprünglich aufgestellt waren. Die verbreitetste Ansicht ist, dass sie ursprünglich im Ambulatorium des säulenumstandenen Hofs gestanden haben und während der Zweiten Zwischenzeit versteckt wurden. Gegen beides wurden von Dieter Arnold gewichtige Einwände erhoben. Da die Osiris-Statuen des Aufwegs nicht ebenerdig aufgestellt, sondern in flache Gruben eingelassen wurden, müsste für die Sitzfiguren Gleiches zu erwarten sein. Jedoch fanden sich im Hof keinerlei Spuren solcher Gruben. Als alternative Standorte zieht Arnold die Eingangshalle, die Querhalle und die äußeren Magazinräume des Totentempels in Betracht. Am plausibelsten erscheint ihm die Möglichkeit, dass die Sitzfiguren zum ursprünglichen Bauprogramm des Aufwegs gehörten und in der zweiten Bauphase durch die Osiris-Statuen ersetzt wurden. Dies würde den ausgezeichneten Erhaltungszustand der Bildnisse erklären, der eher zu einer Deponierung kurz nach ihrer Erschaffung als zu einer mehrhundertjährigen Aufstellung passt. Gräber und Schächte Im näheren und weiteren Umfeld der königlichen Pyramide wurden mehrere hundert einfache Gräber angelegt. Während der innere Hof hiervon unangetastet blieb, wurden allein im äußeren Hof 198 Gräber entdeckt. Nach den Keramikfunden und anderen Beigaben zu urteilen, stammen die meisten aus dem Mittleren Reich. Ab der Zweiten Zwischenzeit wurde el-Lischt auch als Privatfriedhof weitgehend aufgegeben und erst in der Römerzeit wurden wieder einige bescheidene Flachgräber angelegt. Von besonderer Bedeutung ist das Schachtgrab der Anchti (Schacht 7/12), da es als einziges Privatgrab im äußeren Hof unberaubt geblieben ist. Sein Eingang wird zum Teil von der Umfassungsmauer der Königinnenpyramide 5 verdeckt, sie wurde also offenbar erst nach dem Grab errichtet. Das Grab wurde 1932 von der Expedition des Metropolitan Museums entdeckt. Es besteht aus einem einfach gearbeiteten 5 m tiefen Schacht und einer grob nach Süden orientierten Nische zur Aufnahme des Sargs. Dieser war rechteckig, aus Zedernholz und von außen und innen bemalt und beschriftet. Der Leichnam der Anchti, einer etwa 65 bis 70 Jahre alten Frau, war mumifiziert und mit in Öl getränkten Bandagen umwickelt. Das Gesicht bedeckte eine Maske aus Leinen, bemaltem Gips und hölzernen Ohren. Um den Hals trug die Tote einen aus Perlen gefertigten Halskragen. Weitere Beigaben im Sarg waren ein kupferner oder bronzener Spiegel, eine Kopfstütze und eine Hes-Vase, beide aus Zedernholz. Außerhalb des Sarges wurden 13 Keramikgefäße (ein Teller, mehrere Schalen und Töpfe) gefunden. Die meisten Beigaben der Toten und die Hälfte der Keramik befinden sich heute im Metropolitan Museum, der Aufenthaltsort des Sarges ist unbekannt. Auch in anderen Gräbern wurden einzelne Reste von Mumienausstattungen und Beigaben gefunden. Häufig waren dies Perlen von Halskrägen und Armbändern sowie Keramikgefäße, aber auch Opfertafeln und Fragmente von Statuen und Modellen. Einen besonderen Fund stellt ein sogenanntes Zaubermesser dar, das sich heute im Besitz des Metropolitan Museums befindet (Inv.-Nr. 08.200.19). Weitere wichtige Funde stammen aus dem Schachtgrab in Schacht 21/44, von Gautier ursprünglich französisch „Puit A“ beziehungsweise englisch „Pit A“ („Grube A“) genannt. Es liegt im mittleren Bereich des südlichen äußeren Hofs, nahe der äußeren Umfassungsmauer. Es besteht aus einem senkrechten Schacht, einem nach Süden führenden waagerechten Gang und einem weiteren nach unten führenden Tunnel, der in die ursprüngliche Grabkammer führt. Über diese ist nichts bekannt, da der obere Gang für ein sekundäres Begräbnis verwendet und der Schacht dadurch blockiert wurde. Dieses Begräbnis fand dem gefundenen Sarkophag nach in der Ptolemäer- oder Römerzeit statt. Für die Verkleidung von Boden, Wänden und Decke des Grabes wurde altes Material aus der Umgebung verwendet, darunter 13 Opfertafeln von Priesterinnen der 12. Dynastie. Ebenfalls von Bedeutung ist Schacht 31-32/6, wohl Teil eines aufgegebenen Grabes. Hier fand Gautier 1895 sechs Osirsstatuen Sesostris' I., die ursprünglich zum Aufweg der Pyramide gehörten. Häuser Bei ihren Grabungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte die Expedition des Metropolitan Museums die Reste von insgesamt fünf Häusern im äußeren Hof des Pyramidenkomplexes. Eines befindet sich im südwestlichen Bereich, westlich der Königinnenpyramide 3. Es wurde aus Lehmziegeln errichtet und misst im Grundriss 8,5 × 9,0 m. Der Eingang ist nach Süden ausgerichtet und führt in einen kleinen Hof, an dessen Ostseite sich zwei Räume anschließen. Nach Arnold dürfte es ins Mittlere Reich datieren und vielleicht als Unterkunft für Wachen oder anderes Personal gedient haben. Im Haus befindet sich außerdem ein (Grab?)-Schacht, dessen zeitliche Stellung aber unbekannt ist. Ein zweites Haus liegt im westlichen Bereich des Hofes. Es besteht ebenfalls aus Ziegeln und bildet eine unregelmäßige Struktur aus wenigstens drei Hauptbereichen, von denen der westliche einige zusätzliche Trennwände aufweist. Auch sind seine Wände dicker, was nahelegt, dass er als einziger der Bereiche ein Dach besaß. Da es auf dem gleichen Bodenniveau errichtet wurde wie die benachbarte Königinnenpyramide 4 dürfte es etwa zeitgleich entstanden sein. Die Ziegel sind sehr sorglos verlegt, weswegen Arnold vermutet, dass der Bau als zeitweilige Unterkunft für Handwerker oder Wachen während des Pyramidenbaus diente. Südöstlich des Tempels wurde entweder direkt an der Innen- oder der Außenseite der äußeren Umfassungsmauer ein Gipsarbeiterhaus entdeckt, das vermutlich mit Beginn der Nutzung des Pyramidenkomplexes als private Nekropole entstanden war. Das Haus besteht aus lediglich einem rechteckigen Raum, an den eine Grube angrenzt, in der Gips, zerbrochene Keramikgefäße und hölzerne Werkzeuge gefunden wurden. Zwei weitere Häuser wurden aufgrund von Keramik- und Glasfunden in die römische Zeit datiert. Das erste lag in der Nähe der Kultpyramide und war auf den Trümmern ihrer südlichen Umfassungsmauer errichtet worden. Es maß wenigstens 20 × 20 m und war von unregelmäßiger Form. Drei Räume ließen sich ausmachen, von denen der östlichste unterirdische Vorratskammern besaß. Das zweite Haus befand sich auf den Trümmern der Nordostecke der inneren Umfassungsmauer. Bei beiden Häusern handelte es wahrscheinlich um landwirtschaftliche Gebäude. Silos In den Trümmern an der Südostecke der königlichen Pyramide und entlang der Nordseite der Königinnenpyramide der Itakayt wurden zwischen 1918 und 1934 dreißig bienenkorbförmige Silos aus Lehmziegeln entdeckt. Sie wurden in den Schutt der eingestürzten Pyramide eingegraben und bestehen aus mehreren Lagen Ziegelringen, die sich nach oben kuppelförmig verjüngen. Die Öffnung an der Spitze war mit einer Steinplatte verschlossen. In keinem der Silos wurden Reste der ursprünglich eingelagerten Güter gefunden. Mindestens drei von ihnen waren später als Gräber umfunktioniert worden. Die Entstehungszeit der Silos ist unsicher; der frühestmögliche Zeitpunkt liegt in der 18. Dynastie, da in dieser Zeit die Zerstörung der Pyramide erfolgte. Vergleiche mit ganz ähnlichen, etwas besser zu datierenden Anlagen im Pyramidenkomplex Amenemhets I. im Norden von Lischt legen eine Entstehung während der 22. Dynastie nahe. Die Bootsgrube Südlich der Umfassungsmauer von Königinnenpyramide 5 wurde 1924 eine ost-westlich ausgerichtete Bootsgrube entdeckt, jedoch nicht als solche erkannt und nur unzureichend dokumentiert. Arnold konnte bei seiner Nachuntersuchung nur einen Krater feststellen. In der Grube wurden ein Schachtgrab sowie mehrere Gegenstände gefunden, bei denen allerdings nicht ganz klar ist, ob es sich um Beigaben aus dem Grab handelt. Bei den Gegenständen handelt es sich um kleine Fayencefiguren, die Frauen, eine Kuh, einen Hund, eine Katze und verschiedene Früchte darstellen, sowie um einen Keulenkopf, eine Augeneinlage von einem Sarg und mehrere Perlen. Der Totentempel Der Totentempel der Sesostris-I.-Pyramide ist sehr stark zerstört; nur einige wenige Wandsteine wurden an ihrem ursprünglichen Standort vorgefunden. Allerdings sind der Fußboden und die Wandfundamente sehr gut erhalten. Zudem wurden bei den Grabungen des Metropolitan Museums über 600 Relieffragmente gefunden. Dies macht das Heiligtum von Sesostris I. zum am besten erhaltenen Totentempel einer königlichen Pyramide der 12. Dynastie. Errichtet wurde er auf einer etwa 1,2 m dicken Fundamentschicht aus Nilschlamm, die auf dem geglätteten Sand- oder Geröllboden aufgebracht worden war. Die Tempelmauern bestehen fast vollständig aus Kalkstein, nur an einigen wenigen Stellen wurde Rosengranit verbaut. Weitere Gesteinsarten fanden keine Verwendung. In seinem Aufbau ähnelt der Tempel sehr stark Vorbildern der 5. und 6. Dynastie. Er gliedert sich in einen äußeren Bereich mit einer Eingangshalle, einem offenen, pfeilerumstandenen Hof und einigen seitlichen Magazinräumen sowie einen durch eine Querhalle abgetrennten inneren Tempelteil mit einer Fünfnischenkapelle, einem Vestibül, einer antichambre carrée, einer Opferhalle sowie weiteren Magazinräumen. Von außen werden äußerer und innerer Tempelteil durch die innere Umfassungsmauer des Pyramidenkomplexes voneinander getrennt. Die Eingangshalle Das Eingangsgebäude hat eine Breite von 32 Ellen (16,80 m) und eine Länge von wohl 45 Ellen (23,625 m, erhalten sind nur 23,55 m). Die nördliche und südliche Außenwand sind jeweils 11 Ellen (5,775 m) dick, so dass die eigentliche Halle nur eine Breite von 10 Ellen (5,25 m) bei einer geschätzten Länge von 40 Ellen (21 m) aufweist. Den Zugang zur Halle bildete ein 3 Ellen (1,575 m) breites Tor, von dem nur die Türschwelle aus Rosengranit sowie ein Loch für den Türzapfen erhalten sind. Die Höhe der Halle kann nur geschätzt werden. Nach Vergleichen mit der besser erhaltenen Eingangshalle der Teti-Pyramide hat sie vermutlich etwa 6,80 m betragen. Ähnlich den Anlagen des Alten Reiches dürfte die Eingangshalle der Sesostris-I.-Pyramide ein falsches Gewölbe und ein steinernes Dach besessen haben. Von der Wanddekoration hat sich fast nichts erhalten, jedoch erlauben drei Bruchstücke den Rückschluss, dass zumindest die Schmalwände sich an Vorbildern des Alten Reiches orientierten und den thronenden König in Begleitung von Ptah oder Anubis vor Gottheiten des Südens (Osiris, Nechbet, Amun) zeigen. Der Hof Den Eingang zum Hof bildet ein Türdurchgang, der mit dem zwischen Aufweg und Eingangshalle weitgehend identisch, aber etwas besser erhalten ist. Durch eine starke Reduktion der äußeren Magazinräume konnte der Hof deutlich größer konzipiert werden als die Anlagen des Alten Reiches. Während seine Länge mit etwa 45 Ellen (23,625 m, tatsächlich gemessen 23,6 m) im normalen Bereich liegt, ist er hingegen mit 37 Ellen (19,425 m, tatsächlich gemessen 19,34 m) deutlich breiter als seine Vorbilder. Der Hof wurde umstanden von 24 Kalkstein-Pfeilern (je acht an den Lang- und sechs an den Schmalseiten). Ihre Maße können nur geschätzt werden. Dieter Arnold rekonstruierte quadratische Grundrisse mit einer Seitenlänge von 15 Handbreit (1,125 m) beziehungsweise einen rechteckigen Grundriss für die vier Eckpfeiler von 15 × 21 Handbreit (1,125 × 1,575 m) und einen Abstand von 21 Handbreit zwischen den Pfeilern. Weder die Höhe der Pfeiler noch die der Wände des Hofs lässt sich sicher rekonstruieren. Nahe der Nordwestecke des Hofs stand ein gut erhaltener Altar aus grauem Granit, der 1884 von Gautier entdeckt wurde und sich heute im Ägyptischen Museum in Kairo befindet (Inv.-Nr. CG 23001). Südöstlich des Altars befinden sich im Fußboden des Hofes drei Löcher. Eines stammt eindeutig von Schatzsuchern, die erst nach 1884 tätig waren. Zwei weitere, kleinere Löcher scheinen hingegen von den ursprünglichen Erbauern zu stammen. Sie wurden durch den bereits verlegten Fußboden getrieben und waren mit Kalksteinplatten sorgsam wieder verschlossen worden. Dieter Arnolds Team entdeckte in diesen Löchern Keramikscherben und Brandspuren. Möglicherweise handelt es sich hierbei um Gründungsbeigaben, die im Gegensatz zu den anderen Deponierungen im Pyramidenkomplex nicht mit dem Beginn, sondern mit dem Abschluss des Baus in Verbindung standen. An der Nordseite des Hofs sind die Reste eines Drainage-Kanals erkennbar, der unter der Wand hindurchführt. Die Querhalle Von der Querhalle sind kaum mehr als die Grundrisse erhalten. Der Raum hat eine Breite von 76 Ellen (39,90 m) und eine Länge von 6 Ellen (3,15 m). Die ursprüngliche Höhe kann lediglich als Proportionsverhältnis (doppelte Raumbreite) mit 12 Ellen (6,30 m) vermutet werden. Den Eingang zur Halle bildet ein 3 Ellen (1,575 m) breiter Türdurchgang. Zwei kleinere, 2 Ellen (1,05 m) breite Durchgänge an den beiden Schmalseiten führen in den inneren Hof des Pyramidenkomplexes. Zwei weitere Durchgänge an der östlichen Langseite führen in die äußeren Magazinräume. Von der Wanddekoration der Halle hat sich nichts erhalten. 1914 wurden bei den Grabungen des Metropolitan Museums im nördlichen Bereich des Raumes die Basis einer königlichen Statue aus Kalkstein gefunden, die wahrscheinlich nicht von dort stammte, sondern ursprünglich wohl in der Fünfnischenkapelle aufgestellt war. Sie befindet sich heute im Metropolitan Museum in New York (Inv.-Nr. MMA 14.3.2). Die erhaltene Basis hat eine Breite von 57,5 cm und eine Tiefe von 73,5 cm. Auf ihr sind die Reste der Füße des Königs erhalten, der die Neun Bogen (ein Symbol für die Feinde Ägyptens) niedertritt. Davor ist eine Inschrift angebracht, die Horus-, Nebti- und Thronnamen von Sesostris I. nennt. Dieter Arnold rekonstruiert die ursprüngliche Gesamthöhe der Statue auf etwa 270 cm ohne Krone. Die Fünfnischenkapelle Der Bereich der Fünfnischenkapelle ist zu stark zerstört, um eine genaue Rekonstruktion dieses Raums vorzunehmen. Lediglich die Fundamente und Reste des Kernmauerwerks der westlich anschließenden Wand sind erhalten. Die Ausmaße der Kapelle lassen sich daraus nicht erschließen. Ausgehend von der benachbarten antichambre carrée lässt sich jedoch sagen, dass die Kapelle etwa 10 Handbreit (0,75 m) höher lag als die Querhalle und wohl über eine Treppe mit dieser verbunden war. Von der Wanddekoration ist ein Fragment erhalten, das eine Namenskartusche des Königs sowie Sternen-Dekor enthält. Das Vestibül Im Bereich des Vestibüls haben sich keinerlei Steinblöcke erhalten. Seine Existenz kann daher nur aus Vergleichen mit den Tempelanlagen des Alten Reiches erschlossen werden. Eine genauere Rekonstruktion des Raumes ist nicht möglich. Die antichambre carrée Von der antichambre carrée sind nur sehr wenige Reste erhalten. Hierzu zählen einige Steine des Fußbodens, aber keine von den Wänden. Als Maße des Raumes können dennoch 10 × 10 Ellen (5,25 × 5,25 m) angenommen werden, da alle bekannten Räume dieses Typs die gleiche Grundfläche aufweisen. Von der zentralen Säule ist lediglich die Basis aus Rosengranit erhalten, die eigentliche Säule wurde offenbar entfernt. Durch Abdrücke auf der Basis kann sie als Papyrusbündelsäule rekonstruiert werden. Dies würde eine Besonderheit darstellen, da es sich bei allen bekannten Vergleichsstücken aus dem Alten Reich entweder um achteckige Säulen oder um Palmsäulen handelt. Lediglich im Totentempel der Niuserre-Pyramide könnte es ebenfalls eine Papyrusbündelsäule gegeben haben, doch ist dies nicht gesichert. Auch Reste des Architravs sind erhalten. Dieser zeigt auf beiden Seiten Inschriften mit dem Namen des Königs. Bemerkenswerterweise ist den Künstlern hierbei ein Fehler unterlaufen, denn gemäß der begleitenden Titel sollten hier sowohl der Eigenname Sesostris als auch der Thronname Cheperkare erscheinen. Es wurde allerdings in beiden Fällen der Eigenname ausgeführt. Die ursprüngliche Höhe der antichambre carrée kann nur geschätzt werden. Dieter Arnold veranschlagt sie ausgehend von der Dicke der Säule auf 7,08 m bis 7,98 m. Es dürfte sich damit um den höchsten Raum des Tempelkomplexes gehandelt haben. Die Opferhalle Auch die Opferhalle ist weitgehend zerstört. Die westliche Schmalseite ist vollständig abgetragen, von den Langseiten sind lediglich die Fundamente erhalten. Der Fußboden wurde herausgerissen. Die Breite des Raumes kann recht sicher mit 10 Ellen (5,25 m) angegeben werden, die Länge hingegen nur vermutet werden; sie beträgt wohl 30 Ellen (15,75 m). Einige Reste der Wanddekoration sind erhalten. Diese zeigen Opferträger. Zur weiteren Ausstattung des Raumes dürfte ein Opfertisch aus Granit gehört haben, von dem lediglich bekannt ist, dass er an der Ostseite der Pyramide gefunden wurde. Möglicherweise war in der Opferhalle eine überlebensgroße Statue des Königs aus Granit aufgestellt. Der Arm eines solchen Bildnisses wurde in der Nähe des Grabes von Senwosretanch gefunden und befindet sich im Metropolitan Museum in New York (Inv.-Nr. MMA 33.1.7). Die äußeren und die inneren Magazinräume Die äußeren Magazinräume sind gegenüber den Totentempeln des Alten Reiches stark reduziert und bestehen aus nur jeweils vier Räumen. Die beiden Anlagen seitlich des Hofs sind L-förmig und spiegelbildlich zueinander. Sie bestehen aus jeweils einem nach Osten und einem nach Norden beziehungsweise Süden führenden Korridor, die beide in kleineren Räumen enden. Der Raum am Nordende des nördlichen Flügels liegt mehr als 1 m tiefer als die umliegenden Räume. Möglicherweise handelt es sich um eine Krypta. Wegen des schlechten Erhaltungszustands und dem Fehlen vergleichbarer Räume in anderen Totentempeln können keine genaueren Angaben zum ursprünglichen Zweck dieses Raumes gemacht werden. Sein südliches Pendant ist nicht in den Boden eingetieft. Von den beiden Räumen am Ostende der Magazine ist nur der südliche besser erhalten. Diesem sind zwei im Fußboden des Korridors eingelassene Wasserbecken vorgelagert. Der Raum weist mehrere Bauphasen auf, die nach der aufgefundenen Keramik alle während der Regierungszeit von Sesostris I. erfolgten. Der ursprünglich vollständig in Stein verlegte Fußboden wurde wieder entfernt und der komplette Raum mit einem Pflaster und mit Wänden aus Ziegeln verkleidet. In der östlichen Hälfte wurde eine Vertiefung frei gelassen, in der zunächst ein unbekanntes Objekt aufgestellt und mit einer Gipsschicht befestigt wurde. Später wurde das Objekt wieder entfernt und das verbliebene Loch mit Schutt, Scherben und Modellgefäßen gefüllt. Hierauf war zeitweilig ein weiteres, kleineres Objekt aufgestellt, das einen weiteren Eindruck hinterließ. Dieser wurde später durch eine Schlammschicht begradigt. Wie die äußeren, so sind auch die inneren Magazinräume spiegelbildlich angeordnet. Da dieser Tempelteil extrem stark beschädigt ist, kann eine genaue Rekonstruktion dieser Räume nur über Vergleiche mit anderen Totentempeln erfolgen. Es handelt sich bei den Magazinen um vier Gruppen von je fünf langen Räumen, die vermutlich alle über einen vorgelagerten Querkorridor zugänglich waren. Lediglich bei der nordöstlichen Gruppe ist diese Rekonstruktion wegen des schlechten Erhaltungszustandes nicht gesichert; möglich wären auch eine Gruppe aus zwei und eine weitere aus drei Räumen. Die einzelnen Räume haben eine Breite von 4 Ellen (2,10 m) und eine Länge von 18 Ellen (9,45 m). Aus anderen Totentempeln ist bekannt, dass solche Magazinräume zweistöckig waren, doch haben sich hiervon bei der Sesostris-I.-Pyramide keine Spuren erhalten. Die protodorischen Säulen Am östlichen Ende des Aufwegs fand Gautier mehrere Fragmente sogenannter protodorischer Säulen. Dies veranlasste ihn, den Eingang des Totentempels als säulenbestandenen Propylon zu rekonstruieren. Durch die Untersuchungen des Metropolitan Museums erwies sich dies jedoch als unhaltbar. Zwischenzeitlich wurde die Pyramide Amenemhets I. als Ursprungsort vermutet, da auch dort eine solche Säule entdeckt wurde. Da die Mehrzahl der Funde von der Sesostris-I.-Pyramide stammt, vermutet Dieter Arnold auch dort den ursprünglichen Aufstellungsort. Möglicherweise gehörten sie zu einem Bau südlich der Kultpyramide oder zu einem Baukomplex südöstlich des Pyramidenbezirks. Die Königinnenpyramiden Zwischen innerer und äußerer Umfassungsmauer sind um die Königspyramide herum neun Königinnenpyramiden angeordnet. Von Südosten beginnend sind sie entgegen dem Uhrzeigersinn durchnummeriert. Die Pyramiden 1, 4, 8 und 9 wurden bereits von Joseph-Étienne Gautier und Gustave Jéquier bei ihrer Grabung 1894/95 entdeckt, jedoch mit Ausnahme von Nummer 1 irrtümlich als Mastabas angesehen. Diese Ansicht wurde durch die Grabungen des Metropolitan Museum korrigiert. Zwischen 1917 und 1934 wurden zudem fünf weitere Königinnenpyramiden entdeckt. Nur bei zwei Bauwerken ist der Name der Besitzerin bekannt: In Nummer 1 sollte Neferu (III.) bestattet werden, eine Tochter von Amenemhet I und Gemahlin von Sesostris I., in Nummer 2 Itakayt (I.), eine Gemahlin oder Tochter von Sesostris I. Die Königinnenpyramide der Neferu Die Pyramide der Neferu ist die größte Königinnenpyramide des Komplexes. Sie hat eine Seitenlänge von 21 m (40 Ellen) und eine ursprüngliche Höhe von 18,9 m (36 Ellen) bei einem Neigungswinkel von 62,5°. Die Fundamente bestehen aus einer oberen Schicht aus Kalkstein von sehr hoher Qualität sowie aus einer darunter liegenden Schicht aus gröberen, unregelmäßig geformten Kalksteinplatten. Der Kern der Pyramide besteht aus sehr grobem lokalen Kalkstein, die Verkleidung wiederum aus Kalkstein von sehr hoher Qualität. Auffällig sind die Aussparungen für Klammern an den Verkleidungssteinen, da diese nicht mit ihren Gegenstücken an den benachbarten Steinen zusammenpassen. Die Verkleidungsblöcke sind also offensichtlich wiederverwendet worden, wobei ihre ursprüngliche Bestimmung aber unbekannt ist. Arnold hält es für möglich, dass sie entweder von einer aufgegebenen Königinnenpyramide an anderer Stelle oder von der ersten Bauphase der Kultpyramide stammen. Jedoch gibt es für keine der beiden Möglichkeiten unmittelbare Belege. Der Eingang zum Kammersystem liegt direkt vor der Mitte der Nordseite. Von dort führt ein senkrechter Schacht 14 m nach unten. Anschließend führt ein leicht abfallender Gang nach Süden in eine unter dem Zentrum der Pyramide liegende, 3 × 4 m große Kammer. Korridor und Kammer sind mit Kalksteinplatten gepflastert. Auch für die Wände war eine Verkleidung aus Kalkstein vorgesehen, sie ist aber nur unvollständig ausgeführt. Auf der Kammerverkleidung sind noch Markierungen der Arbeiter erhalten. Eine senkrechte Öffnung im Boden der Kammer führt in die darunter gelegene Sarkophagkammer. Boden und Wände sind mit Kalksteinplatten verkleidet. An der Südwand wurde eine Nische zur Aufnahme des Kanopenkastens begonnen, allerdings nicht fertiggestellt. Keine Reste des Begräbnisses waren erhalten. Die einzigen Funde aus dem Kammersystem waren ein Ölkrug und eine Öllampe, die von Grabräubern zurückgelassen worden waren. Die Pyramide war von einer rechteckigen Umfassungsmauer umgeben, die in Ost-West-Richtung 100 Ellen (52,5 m) und in Nord-Süd-Richtung 75 Ellen (39,375 m) maß. Die Mauerstärke dürfte 2 Ellen (1,05 m) betragen haben. Fundament und Pflaster des Hofes sind identisch mit dem zweilagigen Fundament der Pyramide. Weder von dem an der Ostseite zu erwartenden Totentempel noch von der Nordkapelle haben sich direkte Spuren erhalten. Jedoch ist an der Nordseite ein Verkleidungsblock erhalten, der eine Aussparung aufweist, die wohl der Aufnahme einer Scheintür diente. Ein direkt davor befindlicher Pflasterstein zeigt die Position des Opfertisches an. Aus diesem Befund lässt sich eine Nordkapelle mit äußeren Seitenlängen von 10 Ellen (5,25 m) rekonstruieren. Im Bezirk der Königinnenpyramide wurden sechs Depots entdeckt. Vier von ihnen befinden sich an der nördlichen Umfassungsmauer. Da sie zum Teil von ihr verdeckt werden, muss es sich um Gründungsdepots handeln, die vor ihrem Bau errichtet wurden. Zwei weitere Depots im südlichen Pyramidenhof sind recht ungewöhnlich gestaltet. Es handelt sich um 2,64 m beziehungsweise 2,72 m tiefe, rechteckige Gruben, die in den anstehenden Kalkstein getrieben wurden und mit Kalksteinplatten verkleidet und wohl auch abgedeckt waren. Beide Gruben waren beraubt, und von der östlichen führt ein kurzer Grabräubertunnel in Richtung Königinnenpyramide. Der einzige Fund aus den Gruben ist ein Rinderknochen. Die Funktion dieser beiden Gruben ist nicht eindeutig zu klären. Gautier hielt sie bei ihrer Entdeckung zunächst für Sarkophage. Arnold schließt Gräber hingegen aus, da sie angesichts ihrer sorgsamen Ausführung hierfür deutlich zu flach in den Boden gegraben wurden. Als einzige plausible Möglichkeit sieht er Depotgruben. Als Grab der Neferu wird die Pyramide durch die aufgefundenen Fragmente von drei beschrifteten Gegenständen identifiziert. Hierbei handelt es sich um eine Opferschale, eine Statue und einen Altar oder eine weitere Statue. Wegen des vollständigen Fehlens von Begräbnisresten und wegen des unfertigen Zustands des Kammersystems ist unklar, ob Neferu hier beigesetzt wurde oder ihre letzte Ruhe in einem (bislang unentdeckten) Grab im Pyramidenkomplex ihres Vaters Amenemhet I. in Lisch-Nord oder im Komplex ihres Sohnes Amenemhet II. in Dahschur fand. Die Königinnenpyramide der Itakayt Die Pyramide der Itakayt hat eine Seitenlänge von 16,8 m (32 Ellen) und eine ursprüngliche Höhe von 16,8 m (32 Ellen) bei einem Neigungswinkel von 63,6°. Der Pyramidenkern besteht aus grob behauenen und durch Mörtel verbundenen Kalksteinblöcken. Bei den Untersuchungen des Metropolitan Museums 1934 waren hiervon noch fünf bis sieben Lagen erhalten. Die Verkleidung war bereits vollständig abgetragen worden. Das Kammersystem besitzt zwei senkrechte Zugangsschächte an der Nordseite der Pyramide. Der westliche wird von der Nordkapelle verdeckt, war also nur während des Baus in Verwendung. Später wurde er vermutlich mit einem Ziegelgewölbe verschlossen und von oben zugeschüttet. Für das Begräbnis wurde schließlich der östliche Schacht verwendet. Beide Schächte münden in einen horizontalen Gang, der sich nach dem westlichen Schacht noch 4 m nach Westen fortsetzt. Der westliche Schacht führt nach dem Verbindungskorridor noch einige Meter in die Tiefe. An seinem Grund führt ein leicht absteigender Gang nach Süden und mündet in eine horizontale Kammer. Gang und Kammer sind vollständig mit Kalksteinplatten verkleidet. Die Ostwand der Grabkammer weist eine Nische für den Kanopenkasten auf. Große Hohlräume hinter der Wandverkleidung der Kammer zeigen an, dass diese ursprünglich deutlich größer konzipiert war und wahrscheinlich nach dem frühen Tod der Itakayt rasch fertiggestellt werden musste. Auch eine Nische zur Aufnahme eines Blockiersteins blieb unvollendet. Von einem Begräbnis wurden keinerlei Reste gefunden, und möglicherweise blieb die Pyramide ungenutzt. Hierauf deuten zwei Verschlusssteine am Eingang des absteigenden Gangs hin, die von Dieben lediglich einen Spaltbreit geöffnet worden waren, was es eigentlich unmöglich machte, ein Begräbnis restlos zu entfernen. Von der Umfassungsmauer waren 1934 noch einige Steine vorhanden, die jedoch später vollständig abgetragen wurden. Die Mauer maß 72 Ellen (37,8 m) in Ost-West-Richtung und 54 Ellen (28,35 m) in Nord-Süd-Richtung. Ihre Dicke betrug am Fuß 2 m. Das Mauerfundament bildeten mit Klammern verbundene Kalksteinplatten, die auf einer Schicht Bauschutt ruhten. An der Innenseite der östlichen Hälfte der Nordwand wurden die Reste einer Lehmziegelmauer entdeckt, die vermutlich während des Baus der Pyramide benötigt und später nicht mehr abgerissen wurde. Von einem möglichen Totentempel an der Ostseite der Pyramide haben sich keine Reste erhalten. Die Nordkapelle hingegen lässt sich durch zahlreiche Funde recht gut rekonstruieren. Ein Graben vor der Nordseite der Pyramide zeigt an, dass sie eine Breite von 8 Ellen (4,2 m) und eine Tiefe von 7 Ellen (3,675 m) hatte. Zu den Architekturresten gehören ein Rundstab, mehrere Fragmente von kannelierten Säulen sowie über 130 Fragmente der Wanddekoration. Die Säulen sind seltsamerweise rot bemalt, um Rosengranit zu imitieren, obwohl dieser Säulentyp nie in Granit ausgeführt wurde. Sie weisen zudem Inschriften mit Namen und Titel von Sesostris' Tochter Itakayt auf. Die Wanddekoration lässt sich nicht mehr vollständig rekonstruieren, jedoch sind einzelne Szenen zu erkennen. So gehören einige Fragmente eindeutig zur Scheintür. Andere zeigen Gabenbringer, ein tanzendes Mädchen sowie auffliegende Vögel im Papyrusdickicht. Im Hof der Pyramide wurden zwei Depotschächte entdeckt, von denen einer leer war. Der zweite befindet sich vor der Ostwand der Pyramide und hat eine Tiefe von 8 m. Dort fand Gautier unter einer Steinplatte eine Holzkiste, welche eine schwarze Perücke enthielt. Sechs weitere Depots befinden sich unmittelbar außerhalb der Nord- und Ostseite der Umfassungsmauer. Die meisten von ihnen waren geplündert; an Beigaben wurden lediglich Reste kleinerer Keramikgefäße, ein vollständig erhaltener hölzerner Schlitten sowie mögliche Reste eines weiteren Schlittens gefunden. Die Königinnenpyramide 3 Pyramide 3 hat eine Seitenlänge von 16,8 m (32 Ellen) und eine ursprüngliche Höhe von 16,8 m (32 Ellen) bei einem Neigungswinkel von 63,25°. Der Pyramiden-Oberbau ist fast restlos abgetragen. Das Team des Metropolitan Museums konnte in den 1930er-Jahren nur noch die Fundamentgruben und zahlreiche Fundamentplatten aus Kalkstein feststellen. Sowohl das Kernmauerwerk als auch die Verkleidung waren bereits vollständig verschwunden. Lediglich Reste des Pyramidions aus Rosengranit waren noch erhalten. Das Kammersystem von Pyramide 3 ähnelt dem der Pyramide der Itakayt, ist aber deutlich komplexer. Es verfügt über zwei senkrechte Schächte an der Nordseite des Bauwerks, von denen der westliche von der Nordkapelle verdeckt wird. Beide sind durch einen Korridor miteinander verbunden. Am Boden eines weiteren, von hier nach unten führenden Schachts befindet sich an der Südseite ein durch eine Kalksteinplatte verschlossener Türdurchgang. Diese befand sich bei den Untersuchungen des Metropolitan Museums noch in situ, war jedoch von Grabräubern von oben durch einen senkrechten Schacht umgangen worden. Hinter der Tür führt ein zweigeteilter Gang zur Grabkammer. Der Gang führt zunächst horizontal nach Süden und nach einer weiteren Barriere aus zwei Blockiersteinen mit leichtem Gefälle weiter, bis er nach einer dritten Blockiervorrichtung, bestehend aus einem einzelnen Stein, in die unter dem Zentrum der Pyramide liegende Grabkammer mündet. Gang und Kammer weisen eine Wand- und Deckenverkleidung aus Kalksteinplatten auf. Die Kammer besitzt zusätzlich ein Pflaster aus Kalksteinplatten; im Gang dient das anstehende Gestein als Lauffläche. Die Wandverkleidung des Gangs weist eine interessante Besonderheit auf, denn die Platten sind hier nicht durch Holzklammern zusammengehalten, sondern durch längliche Feuersteinknollen. Der gut erhaltene Sarkophag befindet sich immer noch in der Grabkammer. Er ist rechteckig, unverziert und besteht aus Quarzit. Die Standfläche der Sarkophagwanne bilden vier Leisten, die im Inneren des Sarkophags noch einmal als Negativ herausgearbeitet sind. Der Deckel wurde von Grabräubern herabgeschoben, ist allerdings unbeschädigt. Er ist leicht gewölbt und hat an den Schmalseiten vier Bossen. Wanne und Deckel waren an beiden Schmalseiten durch jeweils einen rechteckigen Zapfen aus Basalt miteinander verbunden. Der Sarkophag barg ursprünglich einen Holzsarg, von dem einige Reste der Blattgold-Verzierung erhalten sind. Vom eigentlichen Begräbnis sind nur einige kleine Knochenfragmente erhalten. Weitere Funde waren ein verrotteter Stab und eine Muschelschale. An der Nordostecke der Grabkammer befindet sich eine Nische für den Kanopenkasten. Auch dieser ist noch erhalten. Zwar hatten ihn Grabräuber zerschlagen, er konnte von den Ausgräbern aber wieder vollständig zusammengesetzt werden. Er ist würfelförmig, besteht ebenfalls aus Quarzit und hat zwei Leisten als Standfläche. Neben diesem Kammersystem existiert ein zweites. Dieses beginnt 2,3 m über dem südlichen Fußende des östlichen Eingangsschachts. Hier beginnt ein nur 1 m hoher Gang, der Zugang zu wenigstens fünf Grabnischen bietet. Eine liegt am Ende eines langen, nach Süden führenden Ganges, eine zweite ist kurz vor dessen Ende in die Westwand gehauen. Etwa auf einem Drittel der Strecke des Gangs öffnet sich nach Osten eine breite Nische, die sich dann als schmaler Gang weiter nach Osten fortsetzt und sich östlich der Pyramide zu einer weiteren Nische öffnet, von der nach Norden und Süden jeweils ein Gang abzweigen. Die quadratische Umfassungsmauer hatte eine Seitenlänge von 50 Ellen (26,25 m). Von ihr ist nur der Fundamentgraben erhalten, der bei den Untersuchungen des Metropolitan Museums noch zahlreiche Fundamentblöcke enthielt. Ebenfalls durch Fundamentgräben und einige Blöcke ist die Existenz eines Totentempels an der Ostseite der Pyramide und einer Nordkapelle belegt. Der Totentempel hatte eine Breite von etwa 4 m und eine Tiefe von etwa 4,2 m. Neben den Fundamenten sind von der Nordkapelle, verlagert im Grabschacht vorgefunden, der Fuß einer Frauenstatue aus Diorit, ein Granitfragment (vielleicht von einem Statuenschrein) mit dem Namen Mentuhotep, ein Opfertisch und ein Fragment der Wanddekoration erhalten. Nicht sicher zuzuordnen sind eine Hohlkehle und ein Rundstab. Aus kleineren Gruben im Bezirk der Königinnenpyramide ohne nähere Lagebeschreibung stammen einige Gefäßfragmente, ein Uräus, Fragmente einer Nilpferd-Statuette, Einlagen, ein Ring, zahlreiche Perlen (alles aus Fayence), ein Kupferhaken und ein Gefäßdeckel aus Alabaster sowie eine Gruppe von sieben weiteren Fayence-Figuren (ein Mann mit einem Nilpferd, ein Affe, ein Frosch, ein Nilpferd, ein Nagetier und zwei Früchte). Aus dem Schutt um die Pyramide stammen zwei Skarabäen, ein Ring, mehrere Perlen, Gefäßfragmente, Bruchstücke von teils vergoldeten Objekten aus Holz, Stuck und Granit, ein Relieffragment und ein beschrifteter hölzerner Türflügel, der wohl ursprünglich zu einem Statuenschrein eines Wesirs Mentuhotep gehörte, dessen Grab südöstlich des königlichen Pyramidenkomplexes entdeckt wurde. Obwohl die Pyramide offensichtlich als Grab genutzt wurde, ist die Identität ihrer Besitzerin ungewiss. Da keine Nennungen von Titeln gefunden wurden, ist unklar, ob eine Gemahlin oder eine Tochter von Sesostris I. hier beigesetzt wurde. Den einzigen Hinweis liefert das Granitfragment mit dem Namen Mentuhotep. Es könnte zum Grab des gleichnamigen Wesirs gehört haben. Da Mentuhotep sowohl als Männer- als auch als Frauenname verwendet wurde, besteht die Möglichkeit, dass er sich auf die Besitzerin der Königinnenpyramide bezieht. Einige im westlichen Eingangsschacht der Pyramide gefundene Keramikgefäße datieren das Begräbnis etwa in die Mitte der 12. Dynastie. Die Königinnenpyramide 4 Pyramide 4 hat eine Seitenlänge von 16,8 m (32 Ellen). Die ursprüngliche Höhe und der Neigungswinkel sind aufgrund des schlechten Erhaltungszustandes unbekannt. Das Fundament der Pyramide besteht aus groben, unbehauenen Feldsteinen. Das gleiche Material wurde für den Kern des Bauwerks verwendet, der in mehreren Stufen ausgeführt war. Reste der Verkleidung wurden nicht festgestellt, lediglich Teile ihrer Fundamentierung sind erhalten. Das offenbar unvollendet gebliebene Kammersystem der Pyramide ist nur unzureichend untersucht. Gautier publizierte einen fehlerhaften Plan, über die Grabungen Lythgoes existieren keine Aufzeichnungen und Arnold grub nur einen kleinen Teil des Kammersystems aus. Die Pyramide weist mehrere Grabschächte auf, von denen unklar ist, welcher zum ursprünglichen Kammersystem gehört und welche sekundär sind. Arnold vermutet, dass ein Schacht nordöstlich der Pyramide, der teilweise von der Umfassungsmauer verdeckt wird, den ursprünglichen Eingang bezeichnet. Er hat einen quadratischen Querschnitt mit einer Seitenlänge von 3,8 m. Sein weiterer Verlauf ist unklar. Gautier rekonstruierte in einer Skizze einen nach Westen führenden Gang, der in einer Kammer endet. Ein zweites Kammersystem besitzt zwei Eingangsschächte. Der erste befindet sich westlich der Nordkapelle, der zweite nördlich des ersten, außerhalb der Umfassungsmauer. Vom südlichen der beiden Schächte aus führen zwei Gänge unter den Pyramidenkörper. Der erste und vermutlich ältere führt schräg nach Südosten und mündet unter dem Zentrum der Pyramide in eine Kammer. Bei einem in Gautiers Skizze eingezeichneten Rechteck ist unklar, ob es eine Grube oder einen Sarkophag bezeichnet. Oberhalb des schrägen Gangs wurde ein weiterer nach Süden führender Gang angelegt, der in einer nur 1,05 m hohen Kammer endet. Ihre Wände waren mit Kalksteinplatten verkleidet. An ihrer Ostseite weist sie eine Nische für einen Kanopenkasten auf, die allerdings zu klein ausgeführt worden war, um tatsächlich benutzt werden zu können. Der nördliche Eingangsschacht war wohl für ein drittes Begräbnis angelegt worden, das seinen Platz am nördlichen Ende des nach Süden führenden Gangs finden sollte. Dort wurde an der Westwand eine Nische angelegt, in der ein Quarzit-Sarkophag aufgestellt wurde. An der Ostwand wurden zwei kleinere Nischen angebracht. Das ganze Ensemble blieb unvollendet und die Bestattung fand offenbar nie statt. In der Sarkophagkammer wurde die Bodenpflasterung lediglich begonnen, an einigen Stellen kam Gips statt Kalksteinplatten zum Einsatz. Der Sarkophag, dessen Deckel seitlich an die Wanne gelehnt ist, blieb unvollendet. An einigen Stellen wurde der grob behauene Stein nicht mehr geglättet. In den beiden östlichen Nischen, von denen die südliche wohl für einen Kanopenkasten gedacht war, wurden Reste des Bodenpflasters und in der nördlichen eine begonnene Wandverkleidung gefunden. An Kleinfunden traten Scherben einer Schale und einer Flasche sowie eine Scherbe eines kanaanitischen Topfes zutage. Die beiden ägyptischen Scherben lassen sich in die frühe Regierungszeit Amenemhets III. datieren, lassen sich aber nicht klar einem der Begräbnisse in der Pyramide zuordnen. Südwestlich des Sarkophags öffnet sich ein weiterer Tunnel mit anschließendem Quergang. Er ist nur grob behauen und es ist unklar, ob es sich hier um einen Probetunnel für ein Begräbnis oder um einen Grabräubertunnel handelt. Die rechteckige Umfassungsmauer maß in Ost-West-Richtung 46 Ellen (24,15 m) und in Nord-Süd-Richtung 43 Ellen (22,575 m). Bei den Untersuchungen des Metropolitan Museums waren noch die Fundamente und geringe Reste des eigentlichen Mauerwerks vorhanden. Die Dicke der Mauer betrug 1,5 Ellen (0,7875 m), ihre Höhe kann daher auf etwa 2 bis 2,5 m rekonstruiert werden. Durch die Südseite der Mauer führt ein Abwasserkanal. Die Existenz eines östlichen Totentempels und einer Nordkapelle ist nur durch entsprechende Erweiterungen des Pyramidenfundaments und durch einige wenige Architekturreste belegt. Nördlich und östlich der Pyramide wurden zwei weitere Schächte entdeckt, über die keine näheren Informationen vorliegen. Zwischen der Umfassungsmauer der Königinnenpyramide und der inneren Umfassungsmauer der Königspyramide wurden die Reste weiterer Mauern aus Lehmziegeln entdeckt. Die ältesten sind wellenförmig und dienten vielleicht als ursprüngliche Umfassungsmauer für den Schacht nordöstlich der Pyramide. In einer zweiten Bauphase wurde eine breitere, gerade Ziegelmauer errichtet. Beide Mauern wurden letztlich abgerissen und das Gelände begradigt und gepflastert. Weitere Ziegelmauern wurden nördlich von Königinnenpyramide 4 entdeckt. Ihr Zweck ist unklar; wahrscheinlich handelt es sich um Reste einer Baurampe. Auch Reste einer Transportstraße wurden östlich des Bezirks der Königinnenpyramide gefunden. Die Königinnenpyramide 5 Pyramide 5 hat eine Seitenlänge von 16,275 m (31 Ellen) und eine ursprüngliche Höhe von 16,275 m (31 Ellen) bei einem Neigungswinkel von 63,917°. Der Pyramidenkern besteht aus grob behauenen Feldsteinen und ist stufenförmig angelegt. Verlagert in einem Schacht wurden Bruchstücke mehrerer Verkleidungsblöcke aus weißem Kalkstein und des Pyramidions aus Rosengranit gefunden. Wie bei Pyramide 4 besteht bei Pyramide 5 die Problematik, dass sie von mehreren Grabschächten umgeben ist, von denen nicht sicher ist, welcher zum ursprünglichen Begräbnis gehört und welche sekundär sind. Vermutlich sollte das Kammersystem für die ursprüngliche Besitzerin ähnlich wie bei anderen Königinnenpyramiden mittels zweier Schächte an der Nordseite des Bauwerks angelegt werden. Der südliche von beiden liegt direkt unter der Nordkapelle, die Arbeiten an ihm wurden aber bereits nach 5 m vorzeitig aufgegeben. Ambrose Lansing erweiterte den Schacht auf eine Tiefe von 17,5 m, grub anschließend weiter in Richtung Pyramidenzentrum und dann erneut senkrecht, bis er in 22,5 m Tiefe auf Grundwasser stieß ohne eine Grabkammer ausmachen zu können. Ein weiterer möglicher Kandidat für das ursprüngliche Begräbnis ist ein recht aufwändig konstruierter Schacht an der Westseite der Pyramide. Da der Untergrund an dieser Stelle aus einer tiefen Schicht losen Sands besteht, wurde der Schacht mittels eines Senkkastens errichtet und mit Ziegeln verschalt, die in späterer Zeit abgetragen wurden, was den Ausgräbern die Arbeit erheblich erschwerte. In Tiefen von 14 m und 18,7 m führen vom Schacht aus zwei Gänge nach Osten in Richtung Pyramide. Da beide eingestürzt waren, konnten sie nicht vollständig untersucht werden. Ein drittes Kammersystem liegt südlich der Pyramide. Wegen der recht groben Ausführung handelt es sich wohl um eine sekundäre Anlage. Von dort führt ein Schacht 18,5 m in die Tiefe. An seinem Grund führt ein leicht absteigender Gang 12 m nach Norden und mündet in eine Kammer, die 20 m unter der Südseite der Pyramide liegt. Vermutlich in einer späteren Bauphase wurden östlich des Schachts eine Kammer mit vier und südlich eine weitere Kammer mit zwei Sarkophagnischen angelegt. Die annähernd quadratische Umfassungsmauer maß in Ost-West-Richtung 48 Ellen (25,2 m) und in Nord-Süd-Richtung 47 Ellen (24,675 m). Bei den Untersuchungen des Metropolitan Museums waren noch Reste der Fundamente vorhanden. Die Dicke der Mauer betrug 2,5 Ellen (1,31 m), ihre Höhe kann daher auf etwa 5 Ellen (2,625 m) rekonstruiert werden. Die Existenz eines östlichen Totentempels und einer Nordkapelle wird durch Erweiterungen der Pyramidenfundamente belegt. Zudem wurde ein Bruchstück eines Rundstabs gefunden, der zu einem der beiden Bauwerke gehörte. Am äußeren südlichen Ende der östlichen Umfassungsmauer wurden zudem die Reste einer weiteren, aus Ziegeln errichteten Kapelle entdeckt. Sie besaß eine von Südosten her durchschreitbare Umfassungsmauer von etwa 8,6 m Länge und 5 m Tiefe, die zwei kleine Bauten umschloss. Einer befand sich in der Nordostecke der Mauer, war von Süden her zugänglich und maß 2,60 × 2,85 m. Wahrscheinlich diente er als Priesterunterkunft. Der zweite, quadratische Bau mit einer Seitenlänge von 3,2 m war an die Umfassungsmauer der Königinnenpyramide gebaut und diente wahrscheinlich als Schrein. Ob die Kapelle dem Totenkult für eines der Begräbnisse in der Pyramide oder dem Kult für eine Gottheit diente, ist mangels entsprechender Funde unbekannt. Um den westlichen Grabschacht wurden sechs weitere kleine Ziegelstrukturen entdeckt, die durch Keramikfunde in die Römerzeit datiert werden können. Wegen ihrer geringen Größe kann höchstens eines als Unterkunft gedient haben, während es sich bei den anderen vielleicht um Ställe für Kleintiere handelt. Ebenfalls aus dem Umfeld des westlichen Grabschachts stammen mehrere Funde des Mittleren Reichs, die vielleicht zum ursprünglichen Begräbnis gehören. Dazu zählen ein Stelenfragment aus Granit mit der unvollständig erhaltenen Namensnennung „…kat…“, ein Bruchstück einer Opferliste, ein Bruchstück einer Mumienmaske, zwei Bruchstücke von Kanopenkrügen aus Alabaster und eine Muschelschale. Hinzu kommt ein Ostrakon des Neuen Reichs. Die Königinnenpyramide 6 Pyramide 6 hat eine Seitenlänge von 15,75 m (30 Ellen). Die ursprüngliche Höhe und der Neigungswinkel sind aufgrund des schlechten Erhaltungszustandes unbekannt. Die Pyramide wurde auf anstehendem Gestein errichtet, in das eine Baugrube eingetieft war. Sie zeigt die Position einer geplanten Grabkammer und eines nach Norden führenden Schachtes an. Die Arbeiten wurden vorzeitig aufgegeben, da 3 m unterhalb der Gesteinsschicht eine dicke Sandschicht entdeckt wurde. Der Kern der Pyramide besteht aus grob behauenen oder gar nicht bearbeiteten Feldsteinen. Von der Verkleidung sind lediglich die Fundamente erhalten. Arbeiter-Inschriften auf Fundamentblöcken der Pyramide und der Umfassungsmauer geben als Baubeginn des Komplexes das 13. Regierungsjahr Sesostris' I. an. Ein Kammersystem der Pyramide ist nicht bekannt. Wohl sekundär angelegt ist ein Grabkomplex an der Westseite der Pyramide. Von dort führt ein Schacht 22 m in die Tiefe. Der obere Bereich ist dort, wo er eine Sandschicht durchstößt, mit Ziegeln ausgekleidet. Auch verrottetes Holz von einem Senkkasten wurde gefunden. Am Grund des Schachts öffnet sich nach Westen eine breite Kammer, von der neun Sargnischen abgehen. Nach Osten führt ein horizontaler Gang, von dem zunächst nach Süden und kurz darauf nach Norden jeweils eine weitere Nische abgehen. Zwischen beiden wurde eine halbhohe Ziegelmauer errichtet. Der Gang mündet schließlich in eine höhlenartige Kammer, von der nach Norden eine weitere kleine Kammer und nach Osten ein leicht absteigender Gang abzweigen. Dieser führt unter die Westseite der Pyramide, wo sein weiterer Verlauf wegen eindringendem Grundwasser nicht mehr verfolgt werden konnte. Die rechteckige Umfassungsmauer maß in Ost-West-Richtung 56 Ellen (29,4 m) und in Nord-Süd-Richtung 49 Ellen (25,725 m). Sie bildet eine Einheit mit der Umfassungsmauer von Pyramide 7; beide Bezirke sind durch eine Quermauer voneinander getrennt. Die Dicke der Mauer betrug 2 Ellen (1,05 m). Das Fundament bestand aus einer Schicht unregelmäßiger Steine und einer darauf ruhenden Schicht aus Kalksteinplatten. Der Hof besaß ein Pflaster aus Ziegeln, Kies und Bruchsteinen. Von der Nordkapelle ist lediglich der Fundamentgraben erhalten, vom östlichen Totentempel wurden immerhin noch die Fundamente entdeckt. Diese erlauben die Rekonstruktion eines 3,5 m breiten und 3,15 m tiefen Bauwerks mit einer geschätzten Innenhöhe von 5 Ellen (2,625 m). Außer einer Lampe aus Kalkstein sind keine Funde aus dem Kammersystem bekannt. Neben dem Grabkomplex wurden drei weitere Löcher oder Schächte im Bezirk der Königinnenpyramide gefunden, über die keine näheren Informationen vorliegen. Bei zwei von ihnen scheint es sich um Depotgruben zu handeln. Im Schutt um die Pyramide wurden vier Fragmente von leicht überlebensgroßen Frauenstatuen aus Granit gefunden. Keines der Stücke trägt eine Namensinschrift, sie belegen aber immerhin, dass ein Totenkult für eine Königin oder Prinzessin stattgefunden hat. Die Königinnenpyramide 7 Pyramide 7 hat eine Seitenlänge von 15,75 m (30 Ellen). Die ursprüngliche Höhe und der Neigungswinkel sind aufgrund des schlechten Erhaltungszustandes unbekannt. Sie ist in ihren Maßen und ihrer Ausführung annähernd identisch mit Pyramide 6. Auch hier wurde im anstehenden Gestein eine Baugrube errichtet, die bereits nach einer Tiefe von 1 m aufgegeben wurde, möglicherweise gleichzeitig mit der Grube von Pyramide 6. 15 m östlich der Pyramide befindet sich ein ost-westlich verlaufender Graben, der mit Ziegeln verkleidet und mit einem Gewölbe überspannt war. Er wurde angelegt, um eine dicke Sandschicht zu durchdringen. An seinem Ostende führt ein senkrechter Schacht nach unten. Er ist insgesamt 18 m tief. Bis zu einer Tiefe von 11 m ist er mit Ziegeln verkleidet. An seinem Grund führt ein absteigender Korridor nach Westen unter die Pyramide. Dieser ist mit Schlamm und Grundwasser gefüllt, sodass die Grabkammer bislang nicht untersucht werden konnte. Der von der gemeinsamen Umfassungsmauer beschränkte Hof hatte die gleichen Nord-Süd-Maße wie bei Pyramide 6, war jedoch in Ost-West-Richtung minimal kürzer, wahrscheinlich wegen der direkt angrenzenden Baugrube der Königspyramide. Vom Totentempel und der Nordkapelle sind lediglich die Fundamentgräben erhalten. Die Königinnenpyramide 8 Pyramide 8 hat eine Seitenlänge von 15,75 m (30 Ellen). Die ursprüngliche Höhe und der Neigungswinkel sind aufgrund des schlechten Erhaltungszustandes unbekannt. Die Pyramide wurde von Gautier und zwischen 1913 und 1914 erneut durch das Metropolitan Museum untersucht, aber nicht näher dokumentiert. Eine Nachuntersuchung durch Dieter Arnold stellte eine deutliche Verschlechterung des Erhaltungszustandes fest. Das Kernmauerwerk bestand aus Feldsteinen, die von Mörtel oder Schlamm zusammengehalten wurden und mehrere Stufen bildeten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren noch vier Stufen gut erhalten, bei Arnolds Untersuchung allerdings nur noch unbedeutende Reste vom Kern vorhanden. Verkleidungssteine konnten nicht mehr festgestellt werden, auch ihre Fundamente fehlten. Den Zugang zum Kammersystem bildet ein senkrechter Schacht nördlich der Pyramide, der teilweise von der Umfassungsmauer verdeckt wird. Vom Grund des Schachts aus führt ein leicht abfallender Gang nach Süden und mündet in eine Kammer mit einer Sarkophaggrube. Südlich an diese erste Kammer schließt sich direkt unter dem Pyramidenzentrum eine zweite, längliche Kammer an. Boden, Wände und Decke des Gangs sind mit Kalksteinplatten verkleidet. Auch die beiden Kammern waren ursprünglich verkleidet, jedoch wurden die Platten von Dieben entfernt, was zum teilweisen Einsturz der Kammern führte. Wegen Einsturzgefahr betrat Gautier das Kammersystem bei seinen Untersuchungen nicht durch den eigentlichen Grabschacht, sondern grub von einem benachbarten Schacht aus einen Tunnel zum absteigenden Gang. Eine Ausgrabung der verschütteten Kammern führte er nicht durch. Die Pyramiden 8 und 9 teilten sich eine gemeinsame Umfassungsmauer. Sie maß in Nord-Süd-Richtung 47 Ellen (24,675 m) und in Ost-West-Richtung 86 Ellen (45,15 m). Ihre Dicke betrug 1,5 Ellen (0,787 m), ihre Höhe dürfte daher bei maximal 4 Ellen (2,1 m) gelegen haben. Erhalten sind lediglich die Fundamente sowie zwei abgerundete Abschlusssteine von der Mauerkrone. Die Mauer war im Westen an die bereits vorhandene innere Umfassungsmauer der Königspyramide angebaut. Weder von einem Totentempel noch von einer Nordkapelle konnten eindeutige Spuren ausgemacht werden, lediglich ein Fundamentgraben östlich der Pyramide könnte zum Totentempel gehört haben. Die Königinnenpyramide 9 Pyramide 9 hat eine Seitenlänge von 15,75 m (30 Ellen). Die ursprüngliche Höhe und der Neigungswinkel sind aufgrund des schlechten Erhaltungszustandes unbekannt. Der Kern der Pyramide besteht aus Ziegeln, seine Fundamente aus einer Mischung von Ziegeln und Steinen. Die Fundamente der Verkleidung bestehen aus einer Schicht unbehauener Kalksteinplatten, die mit einer zweiten Schicht aus bearbeiteten Platten aus Kalkstein von besserer Qualität bedeckt sind. Die Platten waren durch Klammern miteinander verbunden. Von der Verkleidung sind nur noch die backing stones vorhanden, nur ein äußerer Verkleidungsstein ist noch erhalten. Unter allen vier Ecken der Pyramide wurden Gründungsdepots entdeckt. Hierbei handelte es sich um quadratische Gruben von 0,8 m Seitenlänge und 1 m Tiefe, die mit Kalksteintafeln abgedeckt waren. Bei den Beigaben handelt es sich um Modellgefäße, Fayence-Perlen, Schädel und Knochen von Rindern sowie Modellziegel. Die Funde befinden sich heute im Ägyptischen Museum in Kairo und im Oriental Institute Museum in Chicago. Die Gefäße datieren typologisch in die Regierungszeit von Amenemhet II. oder Sesostris II., was ein bemerkenswert spätes Errichtungsdatum der Pyramide bedeuten würde. Das Kammersystem der Pyramide, falls überhaupt vorhanden, ist bislang nicht entdeckt worden. Ein Schacht an der Südwestecke des Bauwerks stellte sich als Grabräubertunnel heraus. Er führt 15 m in die Tiefe und öffnet sich nach Osten zu einer kleinen Kammer, von der aus ein Schacht nordöstlich zum Pyramidenzentrum führt. Ein weiterer Schacht an der Nordostecke der Pyramide führt knapp 5 m in die Tiefe und führt dann zu einer nur grob ausgeführten Kammer. Hierbei handelt es sich offensichtlich um ein sekundäres Grab. 1989 versuchte Dieter Arnold durch das Bohren eines Schachts direkt vom Pyramidenzentrum aus die Grabkammer zu finden. Er drang bis in eine Tiefe von 13,7 m vor, ohne aber fündig zu werden. Im gleichen Jahr untersuchte er einen dritten Schacht nördlich der Umfassungsmauer der Pyramide, der bereits von Gautier verzeichnet worden war. Dieser Schacht hat eine Tiefe von 10,3 m. In 5 m Tiefe führt ein Gang oder eine Kammer nach Süden, in 6,7 m Tiefe eine weitere Kammer nach Norden. Beide sind eingestürzt und nicht näher untersucht. Am Boden des Schachts öffnet sich nach Süden eine weitere Kammer mit einer Sarkophagnische. Neben einigen Knochen wurden hier Keramikscherben gefunden, die in die 13. Dynastie datieren. Dieter Arnold hält es für möglich, dass der oberste nach Süden führende Schacht zur ursprünglichen Grabkammer der Pyramide führt. Vom Totentempel und der Nordkapelle sind nur Fundamentreste aus Stein, bei der Nordkapelle zum Teil auch aus Ziegeln, erhalten. Im Umfeld der Pyramide wurden einige weitere Ziegelstrukturen entdeckt, die nicht zu ihren Fundamenten gehören und wohl mit temporären Baukonstruktionen in Verbindung standen. Nördlich der Umfassungsmauer, direkt am nördlichen Grabschacht wurde von Arnold eine von Osten nach Westen ansteigende Rampe ausgegraben, die nicht mit dem Bau des Pyramidenkomplexes in Verbindung steht, sondern gemäß Keramikfunden erst in der Regierungszeit von Sesostris III. oder Amenemhet III. errichtet wurde. Ihr Zweck ist unklar. Ein weiterer Fund aus der unmittelbaren Nähe ist ein einzelnes beschriftetes Leinenbündel, das wohl während einer Mumifizierung Verwendung fand und später absichtlich niedergelegt wurde. Die innere Umfassungsmauer und der innere Hof Die innere Umfassungsmauer ist heute nahezu vollständig abgetragen. Bei den ursprünglichen Untersuchungen des Metropolitan Museums konnten Anfang des 20. Jahrhunderts Reste an der Süd- und der Westseite festgestellt werden, doch auch diese sind mittlerweile größtenteils verschwunden. Die Mauer hatte eine Dicke von 5 Ellen (2,625 m) und verjüngte sich nach oben mit einem Neigungswinkel von 82° 25′ im Westen beziehungsweise 82° 21′ im Süden, was in ägyptischen Maßen annähernd einem Böschungsverhältnis von 1 Handbreit pro Elle entspricht. Die ursprüngliche Höhe betrug vermutlich 10,5 Ellen (5,5125 m). Die Mauer bestand aus Kalksteinblöcken, die teilweise durch hölzerne Klammern verbunden waren. Den Abschluss bildete eine Reihe von einzelnen, abgerundeten Steinen. Den Mauerkern bildeten kleine, unbehauene Feldsteine. Im Abstand von rund 5 m waren an der Mauer sowohl innen als auch außen flache, dekorierte Tafeln angebracht, die von unten nach oben eine Gaben bringende Fruchtbarkeits-Gottheit, eine Palastfassade und einen Schriftzug, der entweder den Horusnamen und den Eigennamen oder den Horusnamen und den Thronnamen von Sesostris I. zeigt. Bekrönt werden die Tafeln von einem Horusfalken, der eine Doppelkrone trägt. Mehrere dieser Tafeln befinden sich heute im Ägyptischen Museum in Kairo und im Metropolitan Museum in New York, einige weitere stehen noch in situ. Die Tafeln bilden eine Besonderheit des Bezirks der Sesostris-I.-Pyramide und kommen bei keiner anderen Umfassungsmauer vor. Der Hof hat eine Breite von 65 Ellen (34,125 m) an der Ostseite, wo er den inneren Totentempel und die Kultpyramide umschließt, und 20 Ellen (10,50 m) an den anderen drei Seiten. Er ist mit Platten aus lokalem Kalkstein gepflastert. Im Gegensatz zum äußeren Hof weist er keinerlei zusätzliche Bauten wie Häuser oder Grabschächte auf. Lediglich an der Südseite der Pyramide stellte Gautier einen Grabräubertunnel fest, der offenbar bereits kurz nach Einstellung des Kultbetriebs, wohl in der Hyksos-Zeit, entstanden war. Der Hof war im 19. Jahrhundert nahezu komplett durch den Schutt des eingesackten Pyramidenkörpers bedeckt und wurde zunächst von Gautier und später von der Expedition des Metropolitan Museums gereinigt. Der größte Teil der Südseite sowie die Nordostecke sind bis heute nicht ausgegraben. Drainagen Zur Ableitung von Regenwasser aus dem inneren Hof wurden unter allen vier Seiten der inneren Umfassungsmauer Drainagen angelegt. Ursprünglich waren offenbar an allen vier Seiten jeweils zwei Abflussrinnen geplant, die im rechten Winkel unter der Mauer verliefen und das Wasser in große Auffangbecken ableiteten, die sich im äußeren Hof befanden. Dieses Schema wurde aber nur an der Süd- und der Westseite so durchgeführt. An der Ostseite wurde lediglich ein Abfluss gebaut, der nach dem Bau der Umfassungsmauer der Kultpyramide und aus ungeklärten Gründen später ein zweites Mal leicht nach Norden versetzt wurde. Da die Königinnenpyramide 8 sehr nah an die Ostseite der inneren Umfassungsmauer herangebaut wurde, konnte an dieser Stelle kein zweiter Abfluss angelegt werden. Wohl als Ausgleich dafür weist die Nordseite gleich drei Abflüsse auf, von denen der westlichste der ursprünglichen Konzeption entspricht. Der mittlere knickt stark nach Nordosten ab, da hier auf den Bau eines Auffangbeckens verzichtet und stattdessen ein unvollendeter Grabschacht hierzu umfunktioniert wurde. Der dritte Schacht befindet sich nahe dem Ostende der Nordseite. Das Depot nahe dem Pyramideneingang An der Innenseite der inneren Umfassungsmauer, direkt gegenüber dem Pyramideneingang wurde von der ursprünglichen Expedition des Metropolitan Museums eine kleine Deponierungsgrube gefunden, die zwischen 48 und 60 cm breit und 37 cm tief war. Beigaben wurden nicht gefunden. Möglicherweise wurde die Grube zur Einweihung der Nordkapelle oder zum königlichen Begräbnis angelegt. Der Bronze-Hort An der Nordseite der Pyramide wurde während der Grabungssaison 1933/34 innerhalb des Schutthügels etwa 36 m westlich des Pyramideneingangs, 1,30 m nördlich der Pyramidenkante und 0,28 m über dem Bodenniveau ein Korb gefunden, in dem sich ein versiegeltes Leinen-Bündel befand. Dieses enthielt etwa 70 Gegenstände aus Kupfer und Bronze. Bei diesen handelt es sich um Gefäße, Werkzeuge, Toiletten-Geräte, Bruchstücke sowie Rohkupfer. Die Gegenstände waren stark zusammengefaltet, um möglichst wenig Platz einzunehmen. Nach Ansicht von Dieter Arnold ist dies ein klares Zeichen, dass das Depot nur wegen des Materialwerts der Gegenstände angelegt wurde. Einige der gefundenen Gegenstände könnten ins Mittlere Reich datieren, die meisten stammen jedoch aus dem Neuen Reich, genauer der Thutmosidenzeit (18. Dynastie). Das Siegel des Leinen-Bündels erlaubt eine recht genaue Datierung der Niederlegung, denn es zeigt den Thronnamen von Tutanchamun. Die Kultpyramide Die Kultpyramide hat eine ursprüngliche Seitenlänge von 15,72 m (30 Ellen) und eine ursprüngliche Höhe von 15,72 m (30 Ellen) bei einem Neigungswinkel von 63,435°. In einer späteren Bauphase wurde sie vergrößert auf eine Seitenlänge von 18,34 m (35 Ellen) und eine Höhe von 18,34 m (35 Ellen). Die Kultpyramide befindet sich an der Südostecke der königlichen Pyramide und südlich des inneren Totentempels. Die Anlage wurde in mehreren Phasen errichtet: Der ursprüngliche Entwurf sah eine Pyramide mit einem quadratischen Grundriss von 30 Ellen (15,72 m) Seitenlänge und ebensolcher Höhe bei einem Neigungsverhältnis von 3,5 Handbreit pro Elle (63° 26′ 6″). Der Oberbau der Pyramide bestand aus einer Kalksteinverkleidung, die mit Sand und Mörtel verfüllt war. In einer zweiten Bauphase wurde die Pyramide mit einer eigenen Umfassungsmauer umgeben. Ost- und Südseite wurden von der inneren Umfassungsmauer der Königspyramide gebildet, Nord- und Westseite wurden neu errichtet. Der Zugang zum Hof befindet sich an der Nordostecke. In einer dritten und letzten Bauphase wurde zunächst das Hofpflaster der Kultpyramide durch zwei zusätzliche Steinlagen erhöht. Die Pyramide selbst erfuhr eine Vergrößerung durch zwei zusätzliche Lagen von Verkleidungssteinen an der Nord- und der Westseite. Sie erreichte damit nun eine Seitenlänge und Höhe von 35 Ellen (18,375 m). Dieser Umbau geschah wohl, um das Größenverhältnis von Kult- und Königspyramide an das der Vorbilder des Alten Reichs anzupassen. Dort beträgt das Verhältnis in der Regel 1:5. Um diesen Wert zu erreichen hätte die Ka-Pyramide Sesostris' I. eigentlich eine Seitenlänge von 40 Ellen haben müssen, doch fehlte für eine so starke Erweiterung der Platz. Nach Fertigstellung der letzten Bauphase wurde zwischen der Westseite der Pyramide und ihrer Umfassungsmauer ein Depot angelegt. Der ursprüngliche Eingang zum unterirdischen Kammersystem befindet sich unter der Südostecke der Pyramide. Er war ursprünglich von ihren Fundamenten überdeckt, das Kammersystem muss also in seiner Gänze bereits vor dem Baubeginn der Kultpyramide fertiggestellt gewesen sein. Den Zugang bildet ein senkrechter Schacht mit einer Tiefe von 17,85 m und einem Querschnitt von 3 × 5 Ellen (1,575 × 2,625 m). Er war durch eine Steinplatte verschlossen, die durch Aktivitäten von Grabräubern zerbrochen ist. Vom Schacht aus führen zwei Gänge nach Norden und nach Süden, wo sie jeweils in einem einzelnen Raum enden. Der südliche Raum hat eine Länge von 5 Ellen (2,625 m), eine Breite von 2 Ellen (1,05 m) und eine Höhe zwischen 1,42 m und 1,44 m. Boden, Wände und Decke sind mit Kalkstein verkleidet, die Deckenverkleidung wurde aber offenbar nicht vollständig ausgeführt. An der Südwand des Raums befindet sich eine Nische zur Aufbewahrung eines unbekannten Gegenstands. Der nördliche Raum ist mit einer Länge von 3,60 m, einer Breite von 1,18 m und einer Höhe von 1,54 m etwas größer. Er besitzt keine Wandnische und weist eine vollständige Deckenverkleidung auf. Mit dem Baubeginn des Pyramidenkörpers wurde der Schacht durch zwei Kalksteinplatten verschlossen. Diese waren 77 cm bzw. 82 cm dick und in 9,90 m Tiefe in einer nischenartigen Erweiterung des Schachts angebracht. Aus unbekannten Gründen wurde in einer späteren Bauphase ein zweiter Eingang angelegt. Die umständliche Struktur dieses Gangsystems verrät, dass die Arbeiter zu diesem Zeitpunkt nicht mehr über die genaue Lage der Kammern Bescheid wussten. Zunächst wurde etwas östlich des nördlichen Hofs der Pyramide ein weiterer senkrechter Schacht angelegt, der aber nur eine Tiefe von 14,75 m erreicht. Von dort führt zunächst ein leicht abschüssiger Korridor nach Süden. Nach 5 m beziehungsweise nach 11 m wurden zwei Tunnel nach Osten getrieben. Im zweiten wurde ein weiterer senkrechter Schacht angelegt, mit dessen Hilfe offenbar die nördliche Kammer lokalisiert werden konnte. Vom Hauptkorridor aus wurde dann ein schräg abfallender Gang gegraben, der schließlich den nördlichen Gang des alten Kammersystems erreichte. Neben diesem nachträglichen Gangsystem existieren noch zwei offensichtliche Grabräubertunnel. Einer wurde vom oberen Ende des Hauptschachts in Richtung Pyramideninneres getrieben, aber aus unbekannten Gründen aufgegeben. Ein zweiter Schacht wurde wahrscheinlich von der nördlichen Außenseite der Umfassungsmauer bis zum Eingang des nördlichen Schachts getrieben. Dass ein solcher Umweg gewählt wurde, führt Dieter Arnold zu der Vermutung, dass der Bereich innerhalb der Umfassungsmauer verbaut war, vielleicht von einer Nordkapelle, von der sich keine Spuren erhalten haben. Privatgräber im Umfeld der Sesostris-I.-Pyramide In der unmittelbaren Umgebung der königlichen Pyramide wurden mehrere größere private Grabanlagen errichtet. Nördlich befindet sich eine einzelne große Mastaba. Der Name ihres Besitzers ist nur unvollständig erhalten, möglicherweise lautete er Intef. Die Datierung des Grabes ist schwierig und kann nur anhand der Nennung von drei königlichen Horusnamen erfolgen. Der erste gehört zu Amenemhet I., die beiden folgenden sind zerstört. Es besteht die Möglichkeit einer chronologischen Abfolge, so dass die Mastaba in die Regierungszeit von Amenemhet II. zu datieren wäre. Andererseits könnten die Namen die Könige nennen, für deren Totenkult der Grabbesitzer zuständig war, sodass die Anlage deutlich jünger sein könnte. An der Südwestecke der Nord-Mastaba entdeckte bereits Gauthier ein weiteres großes Grab, das nur aus einem unterirdischen Kammersystem ohne Oberbau bestand. Dieses so genannte „French Tomb“ kann über einige architektonische Besonderheiten und Keramikfunde in die Regierungszeit von Sesostris III. datiert werden. Nördlich des Aufwegs und nordöstlich der Pyramide befinden sich zwei weitere große Mastaba-Anlagen. Die größere der beiden gehört einem Sesostrisanch, der wahrscheinlich während der Regierungszeiten von Sesostris I. und Amenemhet II. lebte. Er trug zahlreiche Titel, die ihn als hochrangigen Priester und Handwerker, aber auch als Augenarzt auswiesen. Um die Anlage wurden in späterer Zeit zahlreiche Sekundäre Gräber angelegt, von denen eines, das Grab der Wosret, während der Ausgrabungen abgebaut wurde und heute im Metropolitan Museum ausgestellt ist. Die zweite große Grabanlage im Nordosten ist die Mastaba eines Sesostris. Sie liegt direkt südwestlich der Mastaba des Sesostrisanch und ist deutlich kleiner als diese. Sesostris bekleidete das Amt eines Haushofmeisters und lebte wohl unter Sesostris I. und Amenemhet II. Neben ihm wurde hier eine Hepi bestattet, die vermutlich seine Frau oder Tochter war. Nördlich des Totentempels und direkt östlich der äußeren Umfassungsmauer liegt die Mastaba des Imhotep. Dieser trug unter anderem die Titel eines Siegelbewahrers und eines Vorstehers aller Arbeiten. Auch er scheint unter Sesostris I. und Amenemhet II. gelebt zu haben. Neben ihm ist in der Mastaba ein weiterer Mann bestattet, dessen Name aber unbekannt ist. Die Mastaba besitzt eine innere Umfassungsmauer aus Stein und eine äußere aus Ziegeln, die außerdem eine zweite, kleinere Mastaba-artige Struktur mit einschließt. Im Grabbezirk wurden mehrere außergewöhnliche Funde gemacht, darunter zwei Gruben mit jeweils zwei Sonnenbarken sowie ein in dieser Form nirgendwo sonst belegter Schrein in der äußeren Umfassungsmauer, der zwei hölzerne Statuen Sesostris’ I. enthielt. Östlich und nördlich der Grabanlage des Imhotep erstreckt sich ein nur teilweise ergrabener Komplex von kleineren Schachtgräbern. Auf der gegenüberliegenden Seite des Totentempels erstreckt sich ein größerer Komplex von Grabanlagen, dessen südliches Ende die Mastaba des Mentuhotep, des möglichen Architekten der königlichen Pyramide, darstellt. Das Grab besaß einen eigenen Aufweg und möglicherweise eine Talkapelle, deren Reste unter dem heutigen islamischen Friedhof verborgen sein könnten. Direkt nördlich an die Grabanlage des Mentuhotep schließt sich eine Ziegelumfassung unklarer Funktion an. Da in ihr eine podestartige Struktur festgestellt wurde, hält Dieter Arnold es für möglich, dass hier Recht gesprochen wurde. Andererseits könnte die Anlage mit dem königlichen Begräbnis oder dem Statuenkult in Verbindung gestanden haben. In der 13. Dynastie wurden hier zahlreiche einfache Grabschächte angelegt. Weiterhin wurden sieben Gruben mit zahlreichen Hunde-Kadavern entdeckt, die wohl im Mittelalter oder der Neuzeit angelegt wurden. Nordöstlich an die Umfassung schließ sich eine weitere Grabanlage, das so genannte Ostgrab, an. Da es nur teilweise ergraben wurde, ist über seinen Besitzer nichts bekannt. Da beim Bau der Ziegelumfassung auf dieses Grab Rücksicht genommen wurde, kann angenommen werden, dass es bereits unter Sesostris I. errichtet wurde. Etwas südlich der Südostecke der äußeren Umfassungsmauer befinden sich mindestens zwei weitere große Grabanlagen. Diese als „South-Khor Tomb A“ und „South-Khor Tomb B“ bezeichneten Anlagen sind nur schlecht dokumentiert, da ihr Standort als Schutthalde genutzt wurde und die Ausgrabung in recht kurzer Zeit erfolgte. Nur Grab A wurde zu größeren Teilen ausgegraben, Anhaltspunkte zu seinem Besitzer wurden nicht gefunden. Es kann allgemein in die 12. Dynastie datiert werden. Ebenfalls in der 12. Dynastie entstand als Nachbestattung ein kleines Schachtgrab, in welchem der gut erhaltene und reich verzierte Sarg eines Cheti gefunden wurde. Von Grab B wurde nur die südwestliche Ecke angeschnitten. Nähere Angaben zu dieser Anlage liegen nicht vor. Direkt an die Mitte der Südseite der Umfassungsmauer grenzt eine Gruppe von mindestens fünf Gräbern. Die nördlichsten hiervon sind die Gräber A und B. Der Besitzer und die genaue Zeitstellung von Grab A sind unbekannt. Grab B gehörte einem Magazinverwalter namens Djehuti. Die genaue Datierung ist unklar, aber es dürfte das jüngste Grab in dieser Gruppe sein. Grab C ist die südlichste Anlage. Es gehörte einen königlichen Siegelbewahrer, dessen Name nur unvollständig erhalten ist und mit Ip… begann. Er dürfte vermutlich während der Regierungszeit von Sesostris I. gelebt haben. Grab D befindet sich zwischen Grab B und C und dürfte etwas jünger als letzteres sein. Über den Besitzer ist nichts bekannt. Westlich von Grab D wurden einige Mauern entdeckt, die zu einem möglichen Grab E gehören. Da dieser Bereich bislang nicht genauer untersucht wurde, muss die Existenz dieses Grabes vorerst hypothetisch bleiben. Östlich von Grab D liegt Grab F. Auch hier ist über den Besitzer und die genaue Datierung nichts bekannt. Wenig nördlich dieser Gruppe befindet sich das Grab des Haushofvorstehers Sehetepibreanch. Es kann lediglich anhand der Fundstücke identifiziert werden. Eine Statue des Grabbesitzers passt stilistisch in die Regierungszeit von Amenemhet II. oder Sesostris II. Es wurde auch ein goldener Anhänger gefunden, der den Namen von Sesostris III. trägt. Durch seine Fundlage ist es plausibel, dass er durch eine Nachbestattung in das Grab gelangte. Literatur Allgemeiner Überblick Zahi Hawass: Die Schätze der Pyramiden. Weltbild, Augsburg 2004, ISBN 3-8289-0809-8, S. 330–331. William C. Hayes: The Scepter of Egypt. A Background for the Study of the Egyptian Antiquities in The Metropolitan Museum of Art. Vol. 1. From the Earliest Times to the End of the Middle Kingdom. 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Band 13 = Untersuchungen der Zweigstelle Kairo des Österreichischen Archäologischen Institutes. Band 13). Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1996, ISBN 3-7001-2207-1, S. 54–59, 116–120. Ahmed Bey Kamal: Catalogue Général des Antiquités Égyptienne du Musée du Caire. Nos. 23001–23256. Table d’offrandes. Imprimiere de l’Institut Français d’Archeologie Orientale, Kairo 1909 (Online). James M. Weinstein: Foundation Deposits in Ancient Egypt. Dissertation, Ann Arbor 1973. Weblinks The Pyramid of Senusret I at Lisht in Egypt. Auf: touregypt.net vom 20. Juni 2011 (letztes Update); zuletzt abgerufen am 2. November 2015. Einzelnachweise Ägyptische Pyramide Erbaut im 20. Jahrhundert v. Chr. 12. Dynastie (Ägypten) El-Lischt
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National Archives and Records Administration
Die National Archives and Records Administration (deutsch ungefähr Nationale Verwaltungsstelle für Archivgut und Unterlagen), abgekürzt NARA, mit Sitz in Washington, D.C. ist das Nationalarchiv der Vereinigten Staaten und damit für den Schutz und Erhalt historischer und staatlicher Dokumente verantwortlich. Eine weitere Aufgabe ist es, den öffentlichen Zugang auf diese Dokumente zu erleichtern. Das Nationalarchiv ist offiziell für die Veröffentlichung von Gesetzen des Kongresses, Verkündungen und Executive Orders des Präsidenten und Bundesverordnungen zuständig. Die vom Archivar der Vereinigten Staaten (The Archivist of the United States) geleitete Behörde arbeitet oft mit Wissenschaftlern zusammen, die bei durchgeführten Studien unterstützen. Geschichte Ursprünglich war jede Behörde und jedes Ministerium der Bundesregierung selbst für das Aufbewahren und den Erhalt der eigenen Dokumente verantwortlich. Oft war die Folge, dass Aufzeichnungen verloren gingen oder zerstört wurden. Der Kongress errichtete deshalb im Jahr 1934 das Nationalarchiv, um die Dokumente zentral aufzubewahren. Das Archiv wurde 1949 in die General Services Administration eingegliedert und 1985 als eigene unabhängige Behörde geschaffen. Die meisten Dokumente sind vom Urheberrecht befreit. Jedoch sind einige Dokumente, die ihm von anderen Quellen übergeben wurden, weiter urheberrechtlich geschützt. Gebäude und Ausstellungen Hauptgebäude Das Hauptgebäude befindet sich nördlich der National Mall an der Pennsylvania Avenue auf halber Strecke zwischen dem Weißen Haus und dem Kapitol in Washington, D.C. und wurde 1935 als ursprüngliches Hauptquartier eröffnet. Es beherbergt Originalkopien der drei wichtigsten Gründungsdokumente der Vereinigten Staaten: die Unabhängigkeitserklärung, die Verfassung der Vereinigten Staaten und die Bill of Rights. Diese Dokumente werden in der Hauptkammer des Nationalarchivs für die Öffentlichkeit ausgestellt. Die Kammer ist auch als Rotunda für die Chartas der Freiheit bekannt. Das Hauptgebäude stellt auch andere wichtige Dokumente aus der Geschichte der Vereinigten Staaten aus, wie zum Beispiel den Louisiana-Purchase-Vertrag und die Emanzipations-Proklamation, zudem auch eine Kollektion von Photographien und andere historisch und kulturell wichtige Artefakte. Das Gebäude wurde 2004 als Kulisse für den Film National Treasure mit Nicolas Cage benutzt. Der Mitarbeitereingang, den er benutzte, um das Gebäude zu betreten, ist auch in Wirklichkeit der Eingang für Mitarbeiter und Wissenschaftler. Nationalarchiv in College Park Aufgrund räumlicher Beschränkungen eröffnete das Nationalarchiv 1994 ein zweites Gebäude in College Park, Maryland. Das Nationalarchiv unterhält außerdem noch zwölf Regionalarchive in den Vereinigten Staaten und zwei größere Einrichtungen in St. Louis, Missouri, die das National Personnel Records Center formen. Das Hauptgebäude in Washington enthält allerdings weiterhin eine große Sammlung von Dokumenten, wie zum Beispiel die Ergebnisse aller amerikanischen Volkszählungen, Passagierlisten, militärische Dokumente vom Unabhängigkeitskrieg bis zum Philippinisch-Amerikanischen Krieg, Dokumente der Konföderiertenregierung und verschiedene Grundbücher. Präsidentenbibliotheken Die NARA unterhält auch die Präsidentenbibliotheken, ein landesweites Bibliotheksnetzwerk für den Erhalt und Zugriff auf alle präsidialen Dokumente seit Herbert C. Hoover. Diese Büchereien sind ebenfalls der Öffentlichkeit zugänglich. Sonstiges Seit 1988 existiert beim NARA ein Inspector General, der für Revision und interne Ermittlungen zuständig ist. Seit 20. Dezember 1998 hat das Amt Paul Brachfeld inne. Weblinks Offizielle Webseite des Nationalarchivs (englisch) Einzelnachweise Vereinigte Staaten Unabhängige Behörde (Vereinigte Staaten) Kulturelle Organisation (Washington, D.C.) Gegründet 1934 Medienarchiv Archiv (Vereinigte Staaten)
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Charlie Haden
Charles Edward „Charlie“ Haden (* 6. August 1937 in Shenandoah, Iowa; † 11. Juli 2014 in Los Angeles, Kalifornien) war ein amerikanischer Jazz-Kontrabassist, Komponist und Bandleader. Er gilt als einer der stilprägenden Vertreter des Free Jazz. Auf dem grundlegenden Album Free Jazz: A Collective Improvisation war er 1960 als Mitglied im Doppel-Quartett von Ornette Coleman beteiligt. Wenige Jahre später gehörte Haden zum ersten Trio des Pianisten Keith Jarrett und begann, eigene Gruppen zu formieren, von denen sich einige als sehr langlebig erwiesen. Eine charakteristische, betont schlichte Spielweise und ein markanter Sound machten ihn zu einem stilprägenden Vertreter seines Instruments im zeitgenössischen Jazz. Haden galt als ausgesprochen „politischer“ Künstler und bezog in der Öffentlichkeit regelmäßig zu gesellschaftlichen Problemen Stellung. Leben Herkunft, Jugend und frühe Karriere Hadens Herkunft aus dem Mittleren Westen – er verbrachte Kindheit und Jugend in dem kleinen Ort Forsyth (Missouri) – hat ihn früh und nachhaltig geprägt. Die elterliche Familie gestaltete in einem lokalen Radiosender ein regelmäßiges Programm, die Haden Family Radio Show, in der der junge Charlie bereits im Alter von 22 Monaten als Sänger auftrat. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts war – gerade in den „provinziellen“ Gegenden der USA – ein solch früher Einstieg in die Musikerlaufbahn weniger ungewöhnlich, als dies aus der Perspektive eines heutigen Europäers scheinen mag. Beispielsweise begann Hadens – aus einem Indianerreservat in Oklahoma stammender – Bassistenkollege Oscar Pettiford seine Karriere in vergleichbarer Weise. Die Haden-Familienband interpretierte vor allem Country-&-Western-Songs; auf das musikalische Material dieses Stils griff Haden zeit seines Lebens zurück. Im Alter von 14 Jahren zog sich Haden jedoch eine leichte Form von Poliomyelitis zu, die seinen Kehlkopf und seine Stimmbänder dauerhaft schädigte. Die lockere Struktur der Familienband erlaubte ihm, mit verschiedenen Musikinstrumenten als möglicher Alternative zum Gesang zu experimentieren, jedoch legte er sich erst im Alter von 19 Jahren auf den Kontrabass als Hauptinstrument fest. Um eine formale Ausbildung auf seinem Instrument zu erhalten, übersiedelte Haden 1957 nach Los Angeles. Da er sich zu dieser Zeit bereits intensiver mit zeitgenössischer improvisierter Musik befasste, war der Umzug in die südkalifornische Metropole mit ihrer seinerzeit lebendigen Jazz-Szene eine naheliegende Wahl. Neben einem Instrumentalstudium am Westlake College erhielt Haden in dieser Zeit auch privaten Unterricht bei Red Mitchell, der zu dieser Zeit als einer der renommiertesten Bass-Solisten an der amerikanischen Westküste galt. Sowohl in Westlake als auch bei Mitchell studierte zeitweise auch Scott LaFaro, mit dem Haden einige Monate eine Wohnung teilte. Haden und LaFaro gelten, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, als bedeutende Wegbereiter der als musikalisch revolutionär empfundenen „Emanzipation des Jazzbasses“ in den 1960er Jahren. Durchbruch mit dem Ornette-Coleman-Quartett Obwohl als Bassist noch am Anfang stehend, konnte sich Haden auf der Szene von Los Angeles relativ problemlos etablieren, weil er durch seine lange professionelle Erfahrung bereits über einen ausgeprägten Sinn für Melodik und große rhythmische Sicherheit verfügte. Innerhalb weniger Monate erhielt er Engagements bei renommierten Größen des Jazz an der Westküste, darunter beispielsweise Dexter Gordon, Hampton Hawes oder Art Pepper. Als besonders wichtig für seine Zukunft sollten sich jedoch die sonntäglichen Jamsessions im Hillcrest Club  erweisen, während deren Haden erstmals die Mitglieder des zukünftigen Ornette-Coleman-Quartetts kennenlernen sollte, nämlich den Trompeter Don Cherry und den Schlagzeuger Billy Higgins. Während diese beiden, ebenso wie Haden selbst, als aufstrebende Newcomer betrachtet wurden, begegnete die kalifornische Szene dem aus Fort Worth zugereisten Saxophonisten Ornette Coleman aufgrund seines unkonventionellen, technisch wenig überzeugenden Spiels mit großen Vorbehalten. Dennoch probten die vier Musiker regelmäßig miteinander; außerdem ließ sich Lester Koenig, der Chef von Contemporary Records, von Red Mitchell überreden, Plattenaufnahmen mit Coleman zu machen, allerdings ohne oder nur mit Teilen des geprobten Quartetts. Jedoch war es gerade die Abwesenheit eines geeigneten Bassisten, auf die Coleman den mangelnden künstlerischen Erfolg dieser ersten Produktionen zurückführte. Dies änderte sich erst, als das Coleman-Quartett 1959 auch an der Ostküste auftrat und der Bandleader durchsetzte, dass auch der noch kaum bekannte Charlie Haden für die Studioaufnahmen bei Atlantic Records berücksichtigt wurde. Die Folgen für das klingende Ergebnis erwiesen sich als drastisch: Coleman selbst war sich der Bedeutung Hadens für eine adäquate Umsetzung seiner Klangvorstellung deutlich bewusst; abgesehen von dem großen Freiraum, den er seinem Bassisten ohnehin ließ, widmete er ihm auf der erwähnten Platte Change of the Century eine Feature-Nummer mit dem Titel The Face of the Bass und kommentiert diese in den begleitenden liner notes mit den Worten: Der schlagartig einsetzende Erfolg des Quartetts forderte allerdings einen erheblichen psychischen Tribut. Mit Ausnahme von Coleman selbst hatten alle Bandmitglieder mit Drogenproblemen zu kämpfen. Dadurch konnte die Gruppe ihren Konzertverpflichtungen immer seltener zuverlässig nachkommen, bis sie im Laufe der Jahre 1961/62 endgültig auseinanderfiel. Charlie Haden begab sich – unter anderem auf Druck seines Leaders – mehrfach in Therapieeinrichtungen, musste sich aber einige Jahre weitgehend von der Szene zurückziehen. Mit Ornette Coleman sollte er erst 1968 wieder musizieren. Beginn des politischen und sozialen Engagements in den späten 1960er Jahren Nach schließlich erfolgreichem Entzug ließ sich Haden 1966 in New York nieder. In der Metropole des Jazz hatten sich die ästhetischen Vorgaben zwischenzeitlich drastisch gewandelt: Free Jazz war die Musik des Tages, zu der sich neben der Mehrzahl junger Musiker (wie Archie Shepp und Albert Ayler) auch viele bereits etablierte Musiker bekannten. Als Integrationsfigur zwischen dem älteren Mainstream und den Avantgardisten fungierte dabei insbesondere der Tenorsaxophonist John Coltrane, dessen Bassist Jimmy Garrison mittlerweile einen Stil entwickelt hatte, der zu dem Hadens bemerkenswerte Parallelen aufweist. Da Coltrane bereits im Sommer 1967 verstarb, fand Haden nur noch wenig Gelegenheit, mit ihm zu spielen. „Tranes“ Witwe, die Pianistin und Harfenistin Alice Coltrane, beauftragte Haden jedoch nach dem Tod ihres Mannes, auf einigen seiner späten Aufnahmen neue Bass-Stimmen im Overdub-Verfahren einzuspielen. Titel wie Peace on Earth zeugen dabei vom spirituell-suchenden Charakter der letzten Schaffensphase in Coltranes Lebenswerk, von dem sich Haden – wie so viele Musiker dieser Generation – beeinflussen ließ. In den Monaten nach Coltranes Tod fand die kleine Subkultur der New Yorker Jazz-Avantgarde zu einem weit extrovertierteren, rebellischen Gestus. Politische Stellungnahmen und Forderungen nach sozialem Wandel fanden nun verstärkt Eingang in die musikalische Arbeit der jungen Künstler; man solidarisierte sich allenthalben mit den eher radikalen Gruppierungen der Bürgerrechtsbewegung und kritisierte die Außenpolitik der US-Regierung, insbesondere in Vietnam und in Lateinamerika. Das von Haden zusammen mit der Pianistin Carla Bley 1969 ins Leben gerufene Liberation Music Orchestra besteht bis heute und formuliert seitdem in wechselnden Besetzungen und verschiedenen stilistischen Ausrichtungen musikalischen Protest an Missständen in den USA. Seine auf dem Erstlingsalbum des Orchesters enthaltene Komposition Song for Che spielte Haden auch 1971 während eines Gastspiels in Portugal. In seiner Ansage widmete der Bassist das Stück den Gegnern des diktatorischen Regimes von Marcelo Caetano, woraufhin er umgehend verhaftet und von der Geheimpolizei DGS verhört wurde. Jedoch bewegten ihn nicht nur die „großen“ politischen Themen der Zeit; auch als musikalischer Fürsprecher des Tierschutzes hat sich Haden hervorgetan: 1979 nahm er mit Old and New Dreams eine Komposition seiner Tochter Petra, Song for the Whales auf. Aus persönlicher Betroffenheit initiierte er ein Projekt zur Erforschung und Therapie des Tinnitus. Die 1970er und 1980er Jahre In diesem Zeitraum nahm Haden regelmäßig vor allem für das Münchener Plattenlabel ECM des ebenfalls Kontrabass spielenden Produzenten Manfred Eicher auf. Seit dieser Zeit begann er auch, verstärkt mit europäischen Musikern zusammenzuarbeiten, allen voran dem norwegischen Saxophonisten Jan Garbarek. 1979 verließ Haden New York und nahm wiederum in Los Angeles seinen Wohnsitz, dort lernte er seine spätere (zweite) Frau Ruth Cameron kennen. Ihr widmete er etliche Kompositionen, von denen er vor allem First Song regelmäßig neu interpretierte. Auch die Stadt Los Angeles selbst hat er mehrfach als wichtige musikalische Inspiration bezeichnet, wobei er sich vor allem auf die „Angel City“ bezog, die er in seiner Jugend kennengelernt hat und wie sie in den Romanen von Raymond Chandler – gleichfalls nicht selten verklärend – geschildert wird. Die 1980er Jahre brachten schließlich die musikalische Anerkennung Hadens weit über den Bereich des Avantgarde-Jazz hinaus, so etwa in Produktionen mit Musikern wie Michael Brecker, John Scofield, Chet Baker oder Dino Saluzzi. Das Montreal International Jazz Festival ehrte den Bassisten 1989 in besonderer Weise: An jedem Abend des Festivals trat er mit einer anderen Besetzung auf, unter seinen musikalischen Partnern befanden sich im Verlauf dieser Woche viele alte Weggefährten. Die Konzerte wurden sämtlich mitgeschnitten und sind heute als The Montreal Tapes (Verve) beziehungsweise In Montreal (ECM) erhältlich. Seit 1990 Hadens künstlerische Arbeit war spätestens seit den 1990er Jahren von den Schwierigkeiten geprägt, die er durch seinen Tinnitus hatte. Er experimentierte mit speziell angefertigten Ohrstöpseln, die bestimmte sensible Frequenzen im Hörbereich unterdrücken, sowie mit schalldämpfenden Stellwänden aus Plexiglas, hinter denen er sich bei Konzerten mit großen und lautstarken Gruppen zu schützen suchte. Die Tendenz zu reduzierten, introvertierten musikalischen Aussagen war bei Haden schon früher erkennbar und ein allgemeines Kennzeichen seines reifen Stils, der spätestens um 1990 voll ausgeprägt war. Im Jahr 2008 erschien ein Dokumentarfilm von Reto Caduff über sein Leben und seine Musik unter dem Titel „Charlie Haden Rambling Boy“ anlässlich seines 70. Geburtstags. Haden litt seit Ende 2010 an einem Post-Polio-Syndrom, durch das er stark geschwächt war und zeitweise kaum noch schlucken konnte. Er starb im Juli 2014 im Alter von 76 Jahren in Los Angeles. Wichtige Bandprojekte Das erste Keith Jarrett Trio Im ersten Trio des Pianisten Keith Jarrett begegneten sich seit 1968 drei Musiker, die alle bereits in für den Jazz der 1960er Jahre äußerst bedeutsamen Bands gespielt hatten. Haden war durch sein Spiel mit Coleman bekannt, Paul Motian war der Drummer des Bill Evans Trios gewesen, und der Bandleader Jarrett selbst hatte zwei Jahre zuvor in der Band des Saxophonisten Charles Lloyd mit dessen früher Form von Ethno-Jazz für Furore gesorgt. Das Trio zeichnete sich durch einen ausgesprochen ästhetischen Eklektizismus aus, der alle beteiligten Musiker auch für ihre Zukunft prägen sollte. Zum seinerzeit für eine Jazzband außergewöhnlichen Repertoire der Gruppe zählten beispielsweise Interpretationen von Bob-Dylan-Songs (My Back Pages, Lay Lady Lay). Das Trio bestand bis Mitte der 1970er Jahre, als sich Jarrett mehr seiner Arbeit als Solist und seinem „europäischen“ Quartett (mit Jan Garbarek, Jon Christensen und Palle Danielsson) zu widmen begann. Zur Stammbesetzung wurden oft weitere Musiker hinzugezogen, darunter besonders häufig (auf Empfehlung Hadens) der Saxophonist Dewey Redman, mit dem 1976 als letztes gemeinsames Studio-Album die breit angelegte Survivors’ Suite entstand. Liberation Music Orchestra Liberation Music Orchestra war der programmatische Name, den sich das Kollektiv von zunächst 13 Free-Musikern bei seiner Gründung 1969 gab: Ein Großteil des im Wesentlichen von Haden zusammengestellten und von Carla Bley arrangierten Repertoires waren „Befreiungslieder“ verschiedener Länder und Epochen. Diesen musikalischen Ansatz verfolgt die Gruppe bei wechselnder Besetzung und ohne allzu feste stilistische Festlegung bis in die Gegenwart. Haden stellte sich mit dem Liberation Music Orchestra erstmals intensiv der Herausforderung des Spiels im großen Ensemble. Neu war auch, dass er hier erstmals mit Einspielungen und Überblendungen von Tonbandaufnahmen fremder Musiker arbeitete (beispielsweise in Song for Che und Circus '68/'69). Auf die Arbeit mit dieser Collage-Technik sollte er später immer wieder zurückkommen, bei einigen Studioproduktionen des Quartet West (Haunted Heart, 1991) bilden die Überblendungen schließlich ein tragendes Stilelement des „cineastischen“ Klangbildes. Old and New Dreams Old and New Dreams entstand Mitte der 70er Jahre als Quartett von Musikern, die sich alle in besonderer Weise dem Frühwerk Ornette Colemans verpflichtet fühlten: Haden, Don Cherry und der Drummer Ed Blackwell hatten alle bereits vor 1960 im Coleman-Quartett gespielt. Dewey Redman, der wie Coleman aus dem texanischen Fort Worth stammte, war seit 1968 zweiter Saxophonist neben Coleman in einer von dessen späteren Bands gewesen. Pat Metheny Im Gegensatz zu Charlie Haden wurde der Gitarrist Pat Metheny zuerst durch eine Musik bekannt, die von Kritikern und Publikum als ausgesprochen konziliant und zugänglich – und darüber hinaus auf technischer Ebene höchst virtuos – empfunden wurde. Die tiefergehenden Gemeinsamkeiten der beiden scheinbar so konträren Musikertypen wurden erst im Laufe der Zeit offenbar. Der Gitarrist hatte bereits auf seiner ersten LP unter eigenem Namen (Bright Size Life, 1976) der Musik Ornette Colemans seinen Tribut gezollt. Im Lauf der kommenden Jahre spielte Metheny regelmäßig Interpretationen von Colemans Musik ein (1985 schließlich auch unter Beteiligung des Altmeisters selbst) und vergewisserte sich bei diesen Gelegenheiten nach Möglichkeit der Teilnahme Hadens. Beide Musiker verweisen auch auf die gemeinsame Heimat Missouri als Grund für das zwischen ihnen herrschende, tiefgehende ästhetische Einverständnis. Die Duo-CD Beyond the Missouri Sky von 1997, die den Geist der Musik des ländlichen Amerika reflektiert, gilt als musikalisch besonders gelungenes Produkt dieser Zusammenarbeit, dem darüber hinaus noch ein ungewöhnlich großer kommerzieller Erfolg und fast einhellige Zustimmung seitens der Kritiker zuteilwurde. Quartet West Auf Anregung von Hadens Frau und Produzentin Ruth Cameron entstand Mitte der 80er Jahre das Quartet West, 1986 das gleichnamige Album. Wie der Name bereits andeutet, war die ursprüngliche Motivation, über eine Band aus hochkarätigen Musikern zu verfügen, die gleich Haden selbst in Kalifornien, also an der Westküste, ansässig waren. Zu den Gründungsmitgliedern zählen der neuseeländische Pianist Alan Broadbent (der auch für die Arrangements verantwortlich zeichnet) und der Tenorsaxophonist Ernie Watts, die der Band bis heute angehören. Der ursprünglich am Schlagzeug sitzende Billy Higgins wurde bereits 1988 von Larance Marable abgelöst. Das Quartet West ist in seinem Musizierideal einem ausgewogenen, „klassizistischen“ Klang verpflichtet, der diese Band für das breite Publikum besonders attraktiv gemacht hat. Die Produktionen des Quartetts bieten (unter anderem durch Klangcollagen) zahlreiche Rückbezüge auf Filme, Literatur und die Jazzszene der vergangenen Jahrhundertmitte, deren teils außermusikalische Implikationen zur Programmmusik tendieren. Kleine Besetzungen Neben Ron Carter und Red Mitchell gehörte Haden zu den Bassisten, die mit Vorliebe die Herausforderung und kammermusikalische Intimität des Duo-Spiels suchten. Das Album Closeness von 1976 bietet Duo-Aufnahmen mit einigen der wichtigsten Partner Hadens zu dieser Zeit (Jarrett, Motian, Coleman und Alice Coltrane). Als besonders gelungen gelten daneben die Einspielungen mit Denny Zeitlin und Kenny Barron. Neben eher konventionellen Triobesetzungen wie der Band mit der Pianistin Geri Allen und Paul Motian (Etudes, 1987), Saxophonisten wie Joe Henderson und Lee Konitz oder wiederum Pat Metheny an der Gitarre hat Haden auch mit ausgefalleneren Kombinationen gearbeitet. Vor allem in Europa erfreute sich die Kooperation mit Jan Garbarek und dem brasilianischen Multiinstrumentalisten Egberto Gismonti großer Bewunderung. Seit den 90er Jahren entwickelte Haden in Zusammenarbeit mit Musikern wie Gonzalo Rubalcaba und David Sánchez eine eigenständige, ebenfalls stark kammermusikalisch geprägte Spielart des Latin Jazz. Stilistik Allgemeine Charakteristika Charlie Hadens Spielweise war gekennzeichnet von außerordentlichem Understatement: So gut wie nie stellte er seine – wenn auch nicht hochvirtuose, so doch solide – Instrumentaltechnik in den Vordergrund. Im Gegenteil neigte er dazu, für jede gegebene musikalische Situation eine denkbar simple Lösung zu finden. Damit stellte er sich in deutlichen Gegensatz zu den in der Jazzszene üblichen Gepflogenheiten, wo die handwerkliche Beherrschung des Instruments häufig als überproportional wichtiger Maßstab angelegt wird. Ähnlich wie der Pianist Thelonious Monk verschaffte sich Haden aber gerade durch seine „technische Verweigerung“ großen Respekt: „Charlie gehört zu denen, denen manchmal ein einziger Ton genügt, um Musik erklingen zu lassen“ (Ed Schuller). In der Spielart des Free Jazz, wie sie im Umfeld Ornette Colemans entwickelt wurde, entstand der avantgardistische Klangeindruck häufig durch diese drastische Vereinfachung musikalischer Mittel. Hadens Melodik zielte daher weniger darauf ab, in einem musikalischen Kontext möglichst viele harmonische Implikationen anzudeuten, wie dies im Bebop gängige Praxis war, sondern vielmehr darauf, ein einmal etabliertes „tonales Zentrum“ möglichst lange beizubehalten. In rhythmischer Hinsicht sind seine Linien in aller Regel ebenso reduziert, erwecken aber durch geschickte Platzierung von Notenwerten die akustische Illusion eines permanenten, bewegten Geschehens. So verzichtete er in seiner Begleitung häufig auf die konstant durchgespielten vier Viertelnoten des klassischen Walking Bass, markierte aber mit dem nunmehr „aufgebrochenen“ Material den rhythmischen Grundpuls umso stärker. Stilistische Einflüsse Angefangen von der Country-Musik seiner Kinderjahre fügte Charlie Haden in seiner langen Karriere verschiedene Einflüsse zu einem ausgeprägten Personalstil zusammen. Den Jazz lernte er in den Spielarten kennen, wie sie im Los Angeles der späten 50er dargeboten wurden, also dem Bebop, dem Hard Bop und dem Cool Jazz. An der Entwicklung der wichtigen Jazzstile der 60er und 1970er Jahre war er selbst prägend beteiligt. Sein Interesse für Volksmusik im Allgemeinen und sein politischer und kultureller Einsatz zugunsten Lateinamerikas im Besonderen verhalfen ihm schließlich auch zur Anerkennung als kreativer Musiker im Genre des Latin Jazz. Musikerkollegen heben jedoch immer wieder hervor, dass all diese disparaten Elemente letztlich immer zu einem ganz eigenständigen Ganzen zusammengefügt werden: Das „Selbstzitat“ als Stilmittel Obwohl der Gründergeneration des freien Jazz zugerechnet, zeichnete sich Charlie Hadens Stil durch ein hohes Maß an kalkulierter innerer Struktur aus. Einmal gefundene musikalische Lösungen „recycelte“ er – insbesondere in seiner Solistik – zum Teil über Jahrzehnte in immer wieder neuer Weise. Dies ist im Jazz prinzipiell nichts Ungewöhnliches: Der deutsche Jazzkritiker Joachim-Ernst Berendt hat für solche sich im Laufe der Zeit weiterentwickelnden, weder vollkommen durchkonzipierten, noch völlig aus dem Stegreif erfundenen musikalischen Verläufe den Begriff des „Er-Improvisierten“ geprägt. Jedoch ist diese Arbeitsweise bei wenigen anderen Musikern so deutlich hörbar, so ausgiebig dokumentiert und über so lange Zeiträume verfolgbar wie bei Charlie Haden. Dass insbesondere seine Soli in hohem Maße auf bereits erprobtes Material zurückgreifen, erkennt der Hörer an der teilweise notengetreuen Wiederholung von Passagen an ganz verschiedenen Stellen im umfangreichen Schallplattenoeuvre dieses Musikers. Haden unterstützte seine Methode des konzipierten Solos dadurch, dass er bestimmte Lieblingsstücke über lange Zeit im Repertoire behielt und auffallend häufig bei Studioproduktionen in ganz unterschiedlichen Besetzungen aufnahm. In den frühen Jahren seiner Karriere gehörten zu diesen bevorzugten „Vehikeln“ die Eigenkompositionen Song For Che und Silence, die in späteren Jahren abgelöst wurden von anderen Originalwerken (First Song, Waltz for Ruth), zunehmend aber auch klassischen Jazzstandards (Body and Soul). Wenn auch bei dem häufigen Rückgriff auf die bevorzugten Eigenkompositionen kommerzielle Erwägungen (Tantiemen) und der Publikumsgeschmack eine Rolle gespielt haben mögen, lässt sich anhand der Analyse solcher Aufnahmen in chronologischer Reihenfolge ein recht guter Einblick in Hadens musikalische Denkweise gewinnen. Technische Details Die beiden Kontrabässe, auf denen Haden über viele Jahre hinweg spielte, sind Modelle französischer Geigenbauer (ein Jean-Baptiste Vuillaume aus den 1840er Jahren sowie eine dem Stil des älteren Meisters nachempfundene, zeitgenössische Arbeit von Jean Auray). Auf beiden Instrumenten verwendete er D- und G-Saiten aus Naturdarm. Der auf diese Weise entstehende „warme“, „holzige“ Klang des Instruments stellt besondere Anforderungen an die elektroakustische Verstärkung, wie sie in vielen Bereichen der modernen Musik üblich ist. Ein mit Darmsaiten bespannter Bass bedarf der Verstärkung umso nötiger, da das Instrument mit diesem „Setup“ sich in aller Regel weniger gut durchsetzt als bei der Verwendung der moderneren, aggressiver klingenden Stahlsaiten. Seit den 1980er Jahren haben einige Herstellerfirmen für Tonabnehmer und Verstärker diesen besonderen Maßgaben Rechnung getragen und – zum Teil in direkter Zusammenarbeit mit Haden – die vorher nicht in geeigneter Qualität vorhandenen Geräte entwickelt. Hadens Spieltechnik zeichnete sich durch große Ökonomie aus; er verließ auch im Solo die tiefen, klangvollen Lagen seines Instruments nur sporadisch. Die Pizzicato-Technik seiner rechten Hand entsprach im Großen und Ganzen der unter Jazzbassisten gebräuchlichen Spielweise. Dagegen mutete die Technik seiner linken Hand (mit der er die Töne auf dem Griffbrett greift) ausgesprochen „archaisch“ an. Da Folk- und Country-Bassisten bis auf den heutigen Tag in dieser Weise spielen, ist anzunehmen, dass Haden seit seinen ersten Anfängen auf dem Instrument diesen Fingersatz pflegte. Wenn diese Technik im Verhältnis zum „klassischen“ Fingersatz optisch auch etwas ungelenk wirken mag, so erzielte Haden mit ihr doch einen großen Reichtum an subtilen Klangnuancen und Verzierungen. Typisch für Hadens Stil ist seine ausgeprägte Vorliebe für Doppelgriffe, die er – wiederum meist in den tiefen Lagen – besonders gerne dann einsetzte, wenn er ganz unbegleitet spielte oder das Akkordinstrument, sofern überhaupt vorhanden, aussetzte (siehe hierzu unten das Exzerpt aus dem Ramblin’-Solo). Solistik Anhand des Solos über Segment (enthalten auf der Quartet-West-CD Haunted Heart, 1991) können einige wesentliche Merkmale der Haden’schen Bass-Solistik gut aufgezeigt werden. Wie bereits erwähnt, ist in Hadens Fall der Begriff der Improvisation nur mit Vorbehalt anzuwenden. Segment ist ein bebop head aus der Feder von Charlie Parker, den dieser am 5. Mai 1949 für Verve – also das gleiche Label, das über vier Jahrzehnte später auch Hadens Version veröffentlichen sollte – aufnahm. Das Stück ist über eine von den Beboppern gern verwendete und von ihnen als Minor Rhythm Changes bezeichnete Akkordfolge in Moll komponiert. Haden vereinfacht das Stück nun in der für ihn typischen Weise. Zunächst einmal wurde die Version des Quartet West vom originalen Bb-Moll (welches auf dem Kontrabass eine etwas „undankbare“ Tonart ist) in das wesentlich günstiger liegende G-Moll transponiert, auch wählt die Haden-Band ein etwas gemäßigteres Tempo als Parkers Quartett. Im Gegensatz zur Auffassung Parkers, der solche Stücke durch zahlreiche (implizierte oder ausgespielte) Ersatz- und Durchgangsakkorde zu erweitern pflegte, behandelt Haden das Stück zunächst so, als ob es überhaupt nur aus einem G-Moll-Tonikaakkord bestünde. Da Pianist Alan Broadbent für die 32 Takte des Bass-Solos aussetzt, wird der Eindruck einer modalen Passage (in Dorisch oder Äolisch) indirekt verstärkt. Haden schafft musikalische Intensität vor allem mit Mitteln des Rhythmus: Was als eine Fortsetzung des herkömmlichen Walking Bass (den Haden im vorangehenden Klaviersolo nur angedeutet hatte) beginnt, variiert er zuerst durch eine Figur in Vierteltriolen und dann durch zunehmend offbeatorientierte rhythmische Ideen. Die Ausweichungen in verwandte Akkorde (die Subdominante C-Moll und die Durparallele Bb-Dur), wie sie das Akkordschema von Segment verlangt, realisiert die Melodie wiederum in denkbar schlichter und deutlicher Weise, indem Haden die Arpeggien dieser Klänge ausspielt. Eine verschlüsselte musikalische Hommage an den Komponisten des Stücks bringen die letzten sechs Takte des Solos, die eine weitere berühmte Nummer Charlie Parkers (mit eben dem später als Stilbezeichnung berühmt gewordenen Titel Bebop) zitieren und variieren. Typisch für die melodisch-harmonische Auffassung des Bassisten ist auch, wie er im Verlauf des Solos zunehmend und an rhythmisch exponierten Stellen gezielt „falsche“, das heißt besonders dissonante Töne setzt. Haden stützt sich hier, wie in vielen anderen Soli, auf die besonders spannungsreichen Intervalle der kleinen None sowie der verminderten und der übermäßigen Quinte (bezogen auf die Haupttonart). Er setzt solche Töne gern „unkommentiert“, das heißt ohne vermittelndes oder umspielendes melodisches Material, was den eigentlich auflösungsbedürftigen Klangcharakter besonders herausstellt. Musikalische Wirkung Innerhalb der Jazz-Szene Die übergroße Mehrzahl der Bassisten hieß zu Beginn der 1960er Jahre die seinerzeit neuen Möglichkeiten für Besaitung und Verstärkung willkommen, da sie vor allem an einer flüssigen, virtuosen Spielweise interessiert waren, die es an Beweglichkeit den Gitarristen und Bläsern gleichtun wollte. Sie nahmen dabei den „metallischen“, etwas mageren Klang, der dem Kontrabass in seinen hohen Lagen ohnehin eignet und durch dünnere Besaitung und elektrische Verstärkung noch deutlicher hervortrat, als Kennzeichen eines zeitgenössischen Bassspiels durchaus wohlwollend in Kauf. Haden, obwohl an der musikalischen Emanzipation des Jazzbasses an vorderster Front beteiligt, nahm im Rahmen dieser Bewegung eine Position ein, die im Vergleich zum Spiel von Scott LaFaro, Eddie Gomez, Ron Carter oder Niels-Henning Ørsted Pedersen technisch unspektakulär und rhythmisch-melodisch konservativ wirkte. Erst Ende der 1970er Jahre begann eine neue Generation von Bassisten, denen technische Geläufigkeit als Selbstzweck keinen Reiz mehr bot, auf Charlie Haden als Vorbild zurückzugreifen, darunter zum Beispiel Ed Schuller oder Larry Grenadier. Hadens Fähigkeit zur „lakonischen“ Darstellung eigentlich komplexer musikalischer Situationen in wenigen, gezielt platzierten Tönen wird dabei von jüngeren Musikern besonders bewundert. Auch auf den reizvollen Klang der Darmsaiten greifen Kontrabassisten in den letzten Jahrzehnten wieder verstärkt zurück, auch wenn dies gewisse technische Eskapaden der älteren Virtuosen so gut wie unmöglich macht. Im Rock und Pop Bis in die 1970er Jahre ließ Haden sich oft mit kritischen bis despektierlichen Bemerkungen über die Entwicklungen in Rock- und Popmusik vernehmen, Kritiker bespöttelten ihn umgekehrt (im Hinblick auf seine sozialkritische Pose) als „das wandelnde Gewissen des Free Jazz“. Dagegen zeigten etliche amerikanische und britische Rockmusiker (darunter Iggy Pop und John Martyn) teils lebhaftes Interesse an Hadens Musik. War Hadens Reaktion auf solche „Avancen“ anfangs zum Teil noch heftig ablehnend – er soll beispielsweise erwogen haben, gegen eine von Robert Wyatt 1975 eingespielte Version seines Song for Che gerichtlich vorzugehen –, so näherte er sich einige Zeit später der Popularmusik mit geringeren Vorbehalten. Hierbei mag eine Rolle spielen, dass seine vier Kinder ihrerseits musikalische Karrieren aufgenommen haben, allerdings weniger im Jazzsektor, sondern in Stilen wie Punk, Folk und ähnlichen. Explizit auf Hadens Musik als Inspiration berief sich der englische Sänger Ian Dury: Das bekannte Riff aus Sex and Drugs and Rock and Roll habe er 1977 aus einem Solo Charlie Hadens entwickelt. Die fragliche Passage findet sich auf der bereits erwähnten Ornette-Coleman-LP Change of the Century. Sein Bass-Solo über das Stück Ramblin’ beendet Haden mit einer prägnanten achttaktigen Figur (auf der Aufnahme in etwa die zwanzig Sekunden von 4:39 bis 4:59), die durch praktisch exakte Wiederholung umso eingängiger wirkt: Das lick taucht in dieser Form oder Abwandlungen davon immer wieder in Hadens Musik auf, bemerkenswerterweise vornehmlich in Stücken, in denen der Musiker sich auf seine Country-Wurzeln bezieht, so etwa in dem seinen Eltern gewidmeten und nach dem Taney County in Missouri betitelten Stück auf der Erstlings-LP des Quartet West (1987) und mehrfach auf Beyond the Missouri Sky (1997). Diese Figur in G-Dur liegt auf dem Kontrabass sehr dankbar. Dury transponiert die Melodie, so dass sie einer Rock-typischen Pentatonik in E (mit Durchgangstönen) entspricht, also auf der Gitarre praktisch „unter den Fingern liegt“. Durch eine eher nach Moll oder Blues klingende Weiterführung und die völlig andere rhythmische Auffassung wird der Charakter der ursprünglichen Figur bereits deutlich verfremdet, außerdem werden im weiteren Verlauf des Songs neue musikalische Ideen eingeführt, die mit der Aufnahme des Coleman-Quartetts nichts mehr gemeinsam haben. Ab den 1980er Jahren suchte Haden auch selbst in größerem Umfang die Zusammenarbeit mit dem Jazz nahestehenden Singer-Songwritern wie Rickie Lee Jones oder Bruce Hornsby und wirkte bei Konzerten und Studioaufnahmen dieser Musiker mit. Auszeichnungen Haden erhielt für seine Arbeiten dreimal einen Grammy, nämlich 1998 zusammen mit Pat Metheny für die CD Beyond the Missouri Sky als bester Jazz-Produktion des Jahres und – überraschenderweise – zweimal in der Sparte Latin Jazz (in den Jahren 2001 und 2004). Viele weitere seiner Einspielungen wurden in den vergangenen Jahrzehnten für den Preis nominiert. Das Quartet West gewann unter anderem den „Readers’ Poll“ der Zeitschrift Down Beat als „Beste Band des Jahres 1994“. Bei der Kritiker-Umfrage desselben Magazins wurde die CD Always Say Goodbye zum „Album des Jahres 1993“ erkoren. In den bei den führenden Jazz-Zeitschriften üblichen, regelmäßigen Abstimmungen unter Kritikern und Fans belegt Haden in der Kategorie „Kontrabassist“ seit vielen Jahren unweigerlich vorderste Plätze. 1982 wurde Haden mit der Einrichtung eines Jazz-Studiengangs am California Institute of the Arts in Los Angeles betraut, wo er bereits ab 1975 einen Lehrauftrag hatte. Haden erhielt vier Kompositionsaufträge vom National Endowment for the Arts, ein Guggenheim-Stipendium und wurde von der Los Angeles Jazz Society für seine Verdienste um die Musikausbildung geehrt. International ausgezeichnet wurde der Musiker unter anderem mit dem französischen Grand Prix du Disque sowie dem Miles Davis Award des Jazzfestivals von Montreal. Das renommierte japanische Swing Journal hat Hadens Verdienste ebenfalls mit mehreren Auszeichnungen gewürdigt. 2011 erhielt er das Jazz Masters Fellowship der staatlichen NEA-Stiftung. 2012 erhielt er den Grammy für sein Lebenswerk. Diskografie (Auswahl) Change of the Century und The Shape of Jazz to Come (mit Ornette Coleman, 1959) Free Jazz: A Collective Improvisation (mit Ornette Coleman, 1961) Somewhere Before (mit Keith Jarrett, 1968) Liberation Music Orchestra (1969) Escalator over the Hill (mit Carla Bley, 1971) Hamburg ’72, ECM 2014 Closeness Duets (mit Keith Jarrett, Ornette Coleman, Alice Coltrane, Paul Motian, 1976) The Golden Number (Duets mit Don Cherry, Ornette Coleman, Hampton Hawes, Archie Shepp, 1977) Magico und Folk Songs (mit Jan Garbarek und Egberto Gismonti, 1979) 80/81 (mit Pat Metheny, Michael Brecker und Dewey Redman, 1979) Playing (mit Dewey Redman, Don Cherry und Ed Blackwell, 1981) The Ballad of the Fallen (Liberation Music Orchestra, 1982) Rejoicing (mit Pat Metheny und Billy Higgins, 1984) Ornette Coleman/Pat Metheny Song X (1985) Quartet West (Quartet West, 1987) Etudes (mit Geri Allen und Paul Motian, 1987) In the Year of the Dragon (mit Geri Allen und Paul Motian, 1989) Dream Keeper (Liberation Music Orchestra, 1990) Always Say Goodbye (Quartet West, 1993) Night and the City (mit Kenny Barron, 1996) Now Is the Hour (Quartet West, 1995) Beyond the Missouri Sky (mit Pat Metheny, 1997) The Montreal Tapes (1998) Nocturne (mit Gonzalo Rubalcaba und Ignacio Berroa, 2001) Not in Our Name (Liberation Music Orchestra, 2005) Rambling Boy (2008) Sophisticated Ladies (mit Cassandra Wilson, Diana Krall, Melody Gardot, Norah Jones, Renée Fleming und Ruth Cameron, 2010) Jasmine (mit Keith Jarrett, 2010) Come Sunday (mit Hank Jones, 2011) Last Dance (mit Keith Jarrett, 2014) Time/Life (Impulse, ed. 2016) Charlie Haden & Brad Mehldau: Long Ago and Far Away (Impulse!, 2018) Quellen und Anmerkungen Literatur Joachim-Ernst Berendt: Das Jazzbuch. Fischer TB, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-596-10515-3. Christian Broecking: Der Marsalis-Faktor. Oreos, Gauting 1995, ISBN 3-923657-48-X. Marc Chénard: Jazzfestival Montreal. In: Jazz Podium. Nr. 10 / XXXVIII (Oktober 1989), Stuttgart, , S. 34. Gerhard Filtgen, Michael Außerbauer: John Coltrane. Oreos, Gauting 1989, ISBN 3-923657-02-1. Jazzinstitut Darmstadt (Hrsg.): That’s Jazz. Der Sound des 20. Jahrhunderts. Ausstellungskatalog, Darmstadt 1988. Darin insbesondere die Aufsätze: Ekkehard Jost: Free Jazz (S. 241ff) und Steve Lake: Fusion – A Way of Life (S. 255ff). Ekkehard Jost: Free Jazz. B. Schott’s Söhne, Mainz 1975, ISBN 3-7957-2221-7. Ekkehard Jost: Sozialgeschichte des Jazz. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-86150-472-3. Martin Kunzler: Jazz-Lexikon. Directmedia, Berlin 2005, ISBN 3-89853-018-3. A. B. Spellman: Four Lives in the Bebop Business. Limelight, New York 1985, ISBN 0-87910-042-7. Darin der Abschnitt über Ornette Coleman. Peter Niklas Wilson: Ornette Coleman. Oreos, Gauting 1998, ISBN 3-923657-24-2. Christian Broecking: Ornette Coleman – Klang der Freiheit. Broecking, Berlin 2010, ISBN 978-3-938763-13-1. Weblinks Offizielle Website des Musikers Site zum Dokumentarfilm über Charlie Haden Charlie Haden & Liberation Music Orchestra: Not in our name / CD-Kritik Biografie, Diskografie und News bei JazzEcho Konzertmitschnitt des Quartet West vom Jazz Baltica-Festival 2000 in Salzau Umfangreiches Interview des Bass Player Magazine (englisch) Jazz-Bassist Musiker (Vereinigte Staaten) Grammy-Preisträger US-Amerikaner Geboren 1937 Gestorben 2014 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wiedehopf
Wiedehopf
Der Wiedehopf (Upupa epops) ist eine von drei Arten aus der Vogelfamilie der Wiedehopfe (Upupidae). Die Wiedehopfe werden gemeinsam mit der etwas artenreicheren Familie der Baumhopfe (Phoeniculidae) in die Ordnung der Bucerotiformes gestellt. Die Zuordnung zu den Rackenvögeln (Coraciiformes) ist nicht mehr üblich. Die Anzahl der Unterarten schwankt je nach wissenschaftlicher Auffassung zwischen fünf und zehn. Bis auf die in Ägypten vorkommende Subspezies U. e. major werden zurzeit die früher als Unterarten von U. epops aufgefassten afrikanischen Wiedehopfe als selbstständige Arten betrachtet. In Mitteleuropa kommt die Nominatform U. e. epops vor. Sie ist ein in ihrem Bestand stark zurückgehender, seltener, in weiten Teilen ihres früheren Verbreitungsgebietes verschwundener Brutvogel. Der Wiedehopf wurde in Deutschland zum Vogel des Jahres 1976 und 2022 gewählt. Aussehen Der etwa drosselgroße, aber bedeutend größer wirkende Vogel (durchschnittlich 28 cm vom Schnabel bis zur Schwanzspitze) ist unverkennbar und auch in Mitteleuropa allgemein bekannt, obgleich ihn hier wohl nur sehr wenige Menschen in freier Natur beobachten können. Charakteristisch sind die kontrastreich schwarz-weiß gebänderten Flügel mit deutlichen gelben Einschlüssen, der lange, gebogene Schnabel und die etwa fünf bis sechs Zentimeter lange aufrichtbare Federhaube, deren Enden in einem weiß-schwarzen Abschluss auslaufen. Der Schwanz ist schwarz mit einer breiten weißen Binde etwa im letzten Schwanzdrittel und einer weißen Zeichnung auf der Schwanzwurzel. Der übrige Körper ist rostbraunrot. Charakteristisch ist auch der wellenförmige, schmetterlingsartig gaukelnde Flug, bei dem die breiten, tief gefingerten Flügel nach jedem Schlag fast angelegt werden. Auf mehrere lange, durchgezogene Flügelschläge erfolgen einige kurze, flatternde, so dass der Flug instabil und ungleichmäßig erscheint. Die Geschlechter sind einander sehr ähnlich; die Weibchen sind etwas kleiner und eine Spur matter gefärbt. Während der Nahrungssuche und in Erregungssituationen ist das ständige Kopfnicken sehr auffallend. Stimme Auch der von Singwarten vorgetragene Gesang des Männchens ist unverkennbar. Er besteht aus meistens drei (zwei bis fünf) dumpfen, rohrflötenähnlichen Elementen auf ‚u‘ (auch ‚up‘ oder ‚pu‘), die recht weit tragen. Dieser Ruf hat zum wissenschaftlichen Gattungsnamen geführt (Onomatopoesie). Die Intervalle zwischen den Strophen sind nur selten länger als fünf Sekunden. Beide Geschlechter rufen bei Störung rau ‚rääh‘, was stark an den Warnruf des Eichelhähers erinnert. Bei Erregung ist zuweilen Schnabelknappen zu hören. Lebensraum Der Wiedehopf vermag vielfältige Lebensräume zu besiedeln, immer sind es jedoch wärmeexponierte, trockene, nicht zu dicht baumbestandene Gebiete mit nur kurzer oder überhaupt spärlicher Vegetation. In Mitteleuropa kommt die Art vor allem in extensiv genutzten Obst- und Weinkulturen, in Gegenden mit Weidetierhaltung sowie auf bebuschten Ruderalflächen vor. Auch sehr lichte Wälder, insbesondere Kiefernwälder, sowie ausgedehnte Lichtungsinseln in geschlossenen Baumbeständen dienen gelegentlich als Bruthabitat. Im mediterranen Bereich ist die Art relativ häufig in Olivenkulturen sowie in Korkeichenbeständen anzutreffen; aber auch karge, nur spärlich mit Sträuchern und Büschen bestandene Stein- und Geröllfluren sowie weitgehend baumlose Steppenlandschaften können dem Wiedehopf geeignete Lebensräume bieten. Geschlossene Waldgebiete, Regenwaldgebiete sowie Wüsten werden im gesamten Verbreitungsgebiet der Art nicht beziehungsweise nur in ihren äußersten Randbereichen besiedelt. Im Allgemeinen ist der Wiedehopf eher ein Bewohner tieferer Lagen, doch gibt es, zum Beispiel aus dem Altai-Gebirge, Brutnachweise der Nominatform aus Höhen über 3000 Metern; auch in Mitteleuropa brütet der Wiedehopf zumindest auch in der montanen Stufe, der höchstgelegene Brutnachweis in Österreich lag in einer Höhe von 1260 Metern. Verbreitung und Systematik Die Brutgebiete der Nominatform (U. e. epops) erstrecken sich von den Kanarischen Inseln und Madeira ostwärts über das gesamte Europa mit Ausnahme der Britischen Inseln, der Niederlande und Skandinaviens bis östlich des Ob und südöstlich über den gesamten Nahen Osten, den Iran, Afghanistan und Pakistan bis nach Nordwestindien. Im Süden besiedelt diese Unterart weite Teile des Maghrebs sowie einige Oasen in der zentralen Sahara. An dieses große Verbreitungsgebiet schließen sich im zentralen eurasischen Bereich das von U. e. saturata, in den südöstlichen Bereichen die von U. e. longirostris und U. e. ceylonesis, sowie in Ostlibyen und Ägypten das von U. e. major an. U. e. saturata: Das Verbreitungsgebiet dieser insgesamt etwas dunkleren und an der Oberseite leicht grau gefärbten Unterart beginnt im Westen etwa im mittleren Abschnitt des Ob und reicht, nördlich vom Südrand der Taiga begrenzt, in einem breiten Gürtel bis zum Pazifik. Auf Sachalin, den Japanischen Inseln sowie dem größten Teil Koreas brütet diese Unterart nicht. U. e. longirostris: Diese lebhaft rötlichbraun gefärbte Unterart kommt in weiten Teilen des südöstlichen Asiens, südostwärts bis nach Sumatra vor. Zentralindien, südwärts bis Sri Lanka ist das Verbreitungsgebiet der Unterart U. e. ceylonensis. Auch bei dieser ist die Grundfärbung des Obergefieders ein intensives Rötlichbraun; von U. e. longirostris unterscheidet sie sich nur unwesentlich. An die nordafrikanischen Brutgebiete der Nominatform schließen sich nach Osten hin die der großen, fahlgefärbten Unterart U. e. major an. Sie ist von den übrigen Subspezies deutlich durch den insgesamt stärkeren und auch etwas längeren Schnabel zu unterscheiden. Ihre Hauptverbreitungsgebiete liegen im Niltal und reichen südwärts bis in den Nordsudan; auch in einigen Oasen Ostlibyens und Ägyptens ist sie Jahresvogel. In Afrika kommen weitere vier Arten (Unterarten) der Gattung Upupa vor, die alle bis vor kurzem als Unterarten von Upupa epops galten. Zurzeit ist ihr systematischer Rang als Art oder Unterart sehr umstritten. Allein dem auf Madagaskar vorkommenden Madagaskar-Wiedehopf wird ziemlich einhellig Artstatus zuerkannt. U. e. senegalensis oder U. senegalensis ist im Trockengürtel südlich der Sahara von Senegal bis Äthiopien beheimatet. Die Gefiederfärbung dieser Vögel ist insgesamt heller, die Weißanteile an den großen Deckfedern sowie an den Handschwingen sind ausgedehnter als bei U. e. epops. Südöstlich davon beginnt das sehr große Verbreitungsgebiet von U. e. africana bzw. Upupa africana, das sich von Äthiopien und Kenia bis zur Kapprovinz erstreckt. Am Nordrand des Regenwaldgürtels liegen in einem schmalen Streifen die Brutgebiete von U. e. waibeli. Diese Unterart ist größer und dunkler als die beiden zuvor genannten. Sie besiedelt auch Lichtungen und Rodungsgebiete im geschlossenen Regenwald. U. e. marginata kommt nur auf Madagaskar vor. Auch dieser Hopf ist vergleichsweise groß. Die Weißanteile des Gefieders, insbesondere des Schwanzes sind kleiner als bei anderen Unterarten. Nahrung und Nahrungserwerb Der Wiedehopf ernährt sich fast ausschließlich von Insekten. Bevorzugt werden größere Insektenarten, wie Feldgrillen, Maulwurfsgrillen, Engerlinge sowie verschiedene Raupenarten und Käfer. Seltener werden Spinnen, Asseln, Tausendfüßer oder Regenwürmer aufgenommen. Gelegentlich erbeutet er Frösche und kleine Eidechsen. Auch Vogelgelege und Nestlinge gehören zur seltenen Beikost. Der Wiedehopf erbeutet seine Nahrungstiere am Boden, nur ausnahmsweise fängt er langsam fliegende Insekten auch im Fluge. Die Beutetiere werden meistens visuell, oft aber auch taktil sowie wahrscheinlich auch akustisch geortet. Auf der Oberfläche laufende Beutetiere werden verfolgt, im Boden verborgene durch Stochern ertastet. Dabei werden die Stocherlöcher (insbesondere beim Fang von Maulwurfsgrillen) oft dadurch erweitert, dass der Wiedehopf mit in den Boden gestecktem Schnabel mehrmals im Kreis herumläuft. Oft werden die Beine sowie harte Chitinteile der Beutetiere vor dem Verzehr entfernt. Größere Insekten schlägt er häufig gegen einen Stein oder bearbeitet sie am Boden; zum Verschlucken wirft er sie oft etwas in die Luft. Brutbiologie Balz und Paarbildung Der Wiedehopf führt eine monogame Brutsaisonehe. Seine Balz ist durch laute Rufreihen (auch Wülen oder Ülen genannt), die mit aufgestellter Federhaube und gesträubtem Kehlgefieder meistens in guter Deckung vorgetragen werden, gekennzeichnet. Reagiert ein Weibchen, versucht er es mit Futterübergaben zu beeindrucken, auf die oft lange Verfolgungsflüge folgen. Häufig bietet er mit lautem Krächzen Bruthöhlen an. Schlüpft das Weibchen in eine solche Höhle, ist die Paarbildung abgeschlossen. Die Kopulationen finden meistens auf dem Boden statt. Der Wiedehopf nistet in Baum- oder Mauerlöchern. Meistens gelingt dem Wiedehopf nur eine Brut pro Jahr. Das Weibchen legt dabei zwischen 5 und 7 Eier, die dann 16 bis 19 Tage bebrütet werden. Die Jungen benötigen nach dem Schlüpfen noch zwischen 20 und 28 Tage, bis sie das Nest verlassen. Neststandort, Gelege und Brut Die Neststandorte sind äußerst unterschiedlich und umfassen Ganz- oder Halbhöhlen jeglicher Art. Natürliche Baumhöhlen werden ebenso genutzt wie Spechthöhlen, Halbhöhlen in Bruchsteinmauern oder Holzstößen, Höhlungen unter Wurzeln oder andere Erdhöhlen. Bei Brutbäumen zeigt die Art eine Bevorzugung von hochstämmigen alten Obstbäumen, insbesondere von Apfelbäumen. Auch Nistkästen werden angenommen, wenn sie eine genügend große Einschlupföffnung und ein ausreichendes Raumvolumen aufweisen. Die Neststandshöhe liegt meistens in einem Bereich bis zu fünf Metern. Meistens kommt es nur zu einer Jahresbrut, südlichere Populationen scheinen öfter (vielleicht sogar regelmäßig) zu einer Zweitbrut zu schreiten. Das Gelege besteht aus sechs bis zehn, auffallend längselliptischen, auf bläulichem oder grünlichem Grund verschiedenfarbig gepunkteten Eiern in der Durchschnittsgröße von etwa 26 × 18 Millimetern; es wird ausschließlich vom Weibchen bebrütet, das meistens schon nach Ablage des ersten Eis zu brüten beginnt. Die Eier werden in den frühen Morgenstunden im Tagesabstand gelegt, sodass sich bei einer reinen Brutdauer von 16 Tagen die Brutperiode auf 25 Tage und mehr ausdehnen kann und Junge in sehr unterschiedlichen Entwicklungsstadien in einer Brut vereint sind. Die Nestlingszeit kann bis zu 30 Tage währen. Während der gesamten Brutzeit sowie mindestens der ersten zehn Tage der Nestlingszeit werden das Weibchen und später auch die Jungen ausschließlich vom Männchen mit Nahrung versorgt. Erst wenn die Jungen nicht mehr gehudert werden müssen, beteiligt sich auch das Weibchen an der Futtersuche. Nach dem Verlassen der Bruthöhle werden die flüggen Jungvögel noch etwa fünf Tage von den Eltern gefüttert, ehe sie das Elternrevier verlassen und oft über weite Strecken dismigrieren. Feindverhalten Im Feindverhalten haben die Wiedehopfe und deren Junge einige besondere Verhaltensweisen entwickelt. Beim plötzlichen Auftauchen eines Greifvogels, wenn eine gefahrlose Flucht in ein Versteck nicht mehr möglich ist, nehmen Wiedehopfe eine Tarnstellung ein, die untermauert, wie körperkonturauflösend das so kontrastreich gefärbte Gefieder sein kann. Dabei legt sich der Vogel mit breit gespreizten Flügeln und Schwanz flach auf den Boden; Hals, Kopf und Schnabel sind steil nach oben gerichtet. Meistens wird er in dieser regungslosen Schutzhaltung übersehen. Völlig abweichend von der Interpretation als Tarnstellung sehen neuerdings einige Forscher in dieser Körperposition einen Ausdruck des Komfortverhaltens beim Sonnenbaden; auch beim Einemsen wurden Wiedehopfe in dieser Körperhaltung beobachtet. Sich bedroht fühlende Nestlinge zischen schlangenähnlich, etwas ältere Nestlinge spritzen als Abwehrreaktion ihren Kot aus der Höhle. Auch wenn sie gegriffen werden, koten sie intensiv. Besonders wirkungsvoll scheint jedoch das Absondern eines sehr übel riechenden Sekretes aus der Bürzeldrüse zu sein. Während der Brutzeit ist die Bürzeldrüse beim Weibchen besonders entwickelt, ebenso bei den Nestlingen. Beide geben offenbar in regelmäßigen Abständen das Bürzeldrüsensekret ab, in Erregungssituationen möglicherweise verstärkt. Von diesem Bürzeldrüsensekret rührt der strenge Geruch her, der üblicherweise von Wiedehopfbrutstätten ausgeht. Die Behauptung, dass Wiedehopfe grundsätzlich den Kot der Jungen nicht aus dem Nest befördern, ist nicht richtig. Zwar wurden Nestlinge gefunden, die auf einer bereits hohen Kotschicht saßen, doch handelte es sich in solchen Fällen meist um Bruthöhlen, die auf Grund ihrer Enge eine systematische Säuberung nicht zuließen. Häufig stammen die festgestellten Kotschichten auch von einem Vorbesitzer der Höhle, zum Beispiel der Hohltaube, die tatsächlich den Kot der Jungen nicht aus dem Nest befördert. Wanderungen Die Nominatform ist fast in ihrem gesamten Verbreitungsgebiet Zugvogel, ihre Hauptüberwinterungsgebiete liegen im Savannengürtel südlich der Sahara. In Ostafrika überwintert die Art in Höhenstufen bis zu 3500 Metern. Kleine, vor allem südwesteuropäische Populationen (Südspanien, Balearen sowie Sizilien) überwintern im Brutgebiet. Zum Teil erfolgreiche Überwinterungen werden in Südengland regelmäßig, in Südschweden sowie in Mitteleuropa gelegentlich festgestellt. In Mitteleuropa beginnt der Abzug bereits Ende Juli mit einem Wegzugsgipfel Mitte August. Wiedehopfe ziehen meistens einzeln und während der Nachtstunden. Offenbar werden die Alpen, das Mittelmeer und zumindest gelegentlich auch die Sahara in ihrer gesamten Breite ohne Umgehungsstrategien überflogen. Im Himalayagebiet wurden ziehende Wiedehopfe in Höhen von annähernd 7000 Metern beobachtet. Die ersten Heimzieher erreichen ihre europäischen Brutplätze Mitte März, im letzten Aprildrittel sind die europäischen Brutplätze in der Regel besetzt. Relativ häufig wurde bei Heimziehern Zugprolongation festgestellt, sodass auch im Frühjahr ähnlich der nachbrutlichen Dismigration der Jungvögel einzelne Individuen in hochnordischen Gebieten erscheinen. Die Weibchen weisen eine bedeutend ausgeprägtere Brutplatztreue als die Männchen auf. Über die Zuggewohnheiten der außereuropäischen, insbesondere der asiatischen Populationen sind keine genauen Daten bekannt. (2007/08 überwinterte ein Irrgast nahe Lachendorf in der Lüneburger Heide.) Die nördlicheren Populationen der Unterart U. e. longirostris überwintern in Südindien und in Sri Lanka. Die afrikanischen Unterarten sind Standvögel, streichen jedoch außerhalb der Brutzeit weiträumig umher. Die Dismigrationsflüge junger Wiedehopfe können über weite Distanzen erfolgen. So gelangen junge Wiedehopfe regelmäßig nach Finnland, Schottland und auf die Orkneys. Auch von Island gibt es eine Reihe von Nachweisen. Bestand und Bestandsentwicklung In Europa war der Wiedehopf bis in die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts ein in manchen Gebieten häufiger Brutvogel. Verschiedene Faktoren (stärker atlantisch beeinflusstes Klima, Biotopzerstörung und zunehmender Pestizideintrag) lösten einen starken Areal- und Bestandsrückgang aus. Viele früher regelmäßig besetzte Brutgebiete in Großbritannien, Südskandinavien, Belgien und den Niederlanden sowie im gesamten Mitteleuropa wurden aufgegeben. In den letzten Jahren ist ein besonders deutlicher Bestandsrückgang in Ostgriechenland und in der Türkei feststellbar. Zurzeit scheinen sich einige Kleinpopulationen in Südengland und Südschweden wieder etwas zu erholen. In manchen Gebieten Mitteleuropas dürfte die Art von der intensivierten Pferdehaltung profitieren. In Gesamteuropa wird der Bestand, der insgesamt als gesichert gilt, auf fast eine Million Brutpaare geschätzt. In den Niederlanden, Belgien und Luxemburg gilt der Wiedehopf als ausgestorben, in der Schweiz, in Tschechien sowie in Österreich erscheint er auf den Roten Listen, meistens in den höchsten Gefährdungsstufen. In der Roten Liste der Brutvögel Deutschlands von 2015 wird die Art in der Kategorie 3 als gefährdet geführt, ihr Brutbestand wurde für die Jahre 2005 bis 2009 auf 650 bis 800 Brutpaare geschätzt. In der Schweiz wurden 2007 nur noch 185 Paare nachgewiesen. Die dichtesten Bestände dieser Art in Mitteleuropa werden heute in sogenannten Sekundärlebensräumen, insbesondere auf Truppenübungsplätzen beziehungsweise ehemals militärisch genutztem Gelände verzeichnet. In Deutschland laufen intensive Schutzmaßnahmen zum Beispiel auf den ehemaligen Truppenübungsplätzen Jüterbog, Lieberose und Donauwörth. Namensherleitung Der deutsche Name hat weder mit Wiede noch mit hüpfen oder, wie trivialetymologisch ebenfalls oft vermutet wird, mit Schopf etwas zu tun. Am wahrscheinlichsten ist ein althochdeutsches, lautmalerisches wūthūp als Ursprung anzunehmen. Die ahd. Bezeichnung ist jedoch bereits wituhopfa (mhd. wit(e)hopfe, widhopfe, as. widohoppa), in dem ein altes Wort für „Holz, Baum“ (vgl. ae. widu, wudu, anord. viðr, air. fid) enthalten ist; die Bezeichnung ist möglicherweise schon in dieser Zeit volksetymologisch. Der wissenschaftliche Gattungsname ist ebenfalls onomatopoetischer Natur; epops ist der altgriechische Name des Vogels, upupa der lateinische. Weitere etymologisch anschließbare deutsche Namen sind Hoppevogel, Puvogel sowie das schlesisch/ostpreußische Huppup (vgl.a. ndl. hop, afr. hoephoep, engl. hoopoe und frz. huppe) und das niedersorbische Hubbatz/hupac. Die Herleitung der Schlachtrufe „Hipp hipp“ bzw. „Hup hup“ oder „Hopp hopp“ (im englischen, niederländischen und deutschen Sprachraum) aus dem Ruf des Wiedehopfes ist zwar weit verbreitet, aber möglicherweise ebenso volksetymologisch. Rezeption Kunst In den Metamorphosen des Ovid verwandelt sich der Thrakerkönig Tereus in einen Wiedehopf. Diese Erzählung, die sich im 6. Buch der Metamorphosen findet, gilt als eine der grausamsten. Hier wird auch auf die Form des Schnabels hingewiesen, die einem Schwert gleicht: „facies armata videtur“ (6. Buch, Vers 674). Der Wiedehopf ist König der Vögel in Aristophanes’ Die Vögel und ihr Anführer in Fariduddin Attars Epos Mantiq ut-tair („Die Vogelgespräche“). Letzteres wurde dadurch inspiriert, dass der Koran den Wiedehopf als Bote zwischen Sulaimān (Salomo) und der Königin von Saba erwähnt (Koran 27:20+28). Dies hat ihm in islamischen Ländern Wertschätzung und im Persischen unter anderem den Namen „Salomonvogel“ (persisch morgh-e Soleymān) eingebracht. Der mittelalterliche Dichter Heinrich von dem Türlin stellt in seinem Roman Diu Crône den Wiedehopf als böse der guten Lerche gegenüber. Otto von Loeben lässt in seiner Parodie Reise zum Parnaß einen Gegner der Romantik (bei dem es sich wohl um Christian Friedrich Voß handeln soll) in Gestalt eines „Wiedehopf auf stolzen Beinen“ auftreten. Berühmt ist auch das Gedicht über den Hoppevogel in Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts: Wenn der Hoppevogel schreit, Ist der Tag nicht mehr weit. Wenn die Sonne sich aufthut, Schmeckt der Schlaf noch so gut! – Er versinnbildlicht hier die von Eichendorff mehrfach kritisierte gottferne Dichtung. Der Wiedehopf galt ja gleich in zweierlei Hinsicht als sündhaft: wegen seines unsauberen Nestes und des unangenehmen Geruchs versinnbildlicht er falschen Glauben und Unzucht, wegen seines prächtigen Federkleides hingegen besonderen Hochmut. In Eichendorffs Werken finden sich mehrfach Gestalten, die eine schlechte oder falsche Dichtung verkörpern, die den Schlachtruf „Hup Hup“ ausstoßen. In Mahmoud Darwishs „Wir reisen wie alle Menschen“ steht ein Wiedehopf für Äußeres wie Verhalten des Menschen im unfreiwilligen Exil. In Achim von Arnims „Die Kronenwächter“ beschimpft Anton die religiösen Schwärmer, die die alte Stadtkirche verwüsten wollen, mit den Worten: „Ihr Wiedehopfe, die ihr euer eignes Nest besudelt“. Der Wiedehopf ist zudem Titelheld einer Oper von Hans Werner Henze, L’Upupa und der Triumph der Sohnesliebe (2000–2003, UA 2003). Wiedehopf im Mai (1967) war die deutsche Version des Liedes Puppet on a string von Sandie Shaw. Darin heißt es: Wenn du wieder kommst, dann sing’ ich, dann spring’ ich zur Tür wie ein Wiedehopf im Mai. Siehe auch das alte Volkslied Die Vogelhochzeit: „Der Wiedehopf, der Wiedehopf, der bringt der Braut nen Blumentopf“. Robert Gernhardts Gedicht Was wäre wenn (2002) reflektiert das mögliche Aussterben des Wiedehopfs: Fehlte der Wiedehopf,/ fehlte noch mehr: / fehlte ein steter Ruf,/ fehlte ein rascher Flug, / fehlte ein lichtes Braun, / fehlte schwarz-weißes Flirr'n, / fehlte dieses / ganz einzigartig / mitreißend Fremde, / fehlte dies Anderssein, … Heraldik Der Wiedehopf ist als gemeine Figur ein Wappentier in der Heraldik. Er wird in der Seitenansicht gezeigt und die Hauptblickrichtung ist nach heraldisch rechts. Oft erfolgt die Darstellung leicht stilisiert in den natürlichen Farben, aber auch gelb oder Gold ist möglich. Wichtig ist die Hervorhebung der Flügel und des Federkammes, um ihn eindeutig zu erkennen. Der Vogel wird auf einer Sitzgelegenheit (Zweig, Ast) abgebildet. In Dortmund-Brechten ist der Wiedehopf abgebildet. Über dem nur unten blau-rot gespaltenen Wappenschild sind im oberen goldenen Teil zwei Tiere in naturnaher Farbe erkennbar. Sie werden als Sinnbild der beiden Ortsteile Unter- und Oberdorf angesehen. Unten sind zwei goldene Strohgarben. Auch das Wappen der Gemeinde Armstedt führt in Rot einen auf einem goldenen Ast sitzenden goldenen Wiedehopf. Auf goldenem Grund einen stehenden schwarz-roten Wiedehopf mit leicht geöffnetem silbernem Schnabel, silbernen Füßen, gesträubter Haube und erhobenen Flügeln zeigt das Ortswappen von Kuktiškės (Litauen). Briefmarken Sonstiges Wiedehopfe gelten in einigen Kulturkreisen als eine unreine, stinkende Vogelart (siehe oben: Feindverhalten). Die im Deutschen gebräuchlichen Redewendungen „stinken wie ein Wiedehopf“ bzw. „Das riecht wie Hubbatz!“ weisen darauf hin. Die Redewendung „Du stinkst wie ein Wiedehopf“ war früher in der Schweiz geläufig. Diese Aussage kommt daher, da junge Vögel mit einem stark riechenden Sekret ihre Feinde vertreiben. Dieser Geruch ist für menschliche wie auch tierische Nasen sehr unangenehm. Der Wiedehopf wurde in Deutschland Vogel des Jahres 1976 und 2022, sowie 2014 in Armenien, 2015 in Ungarn und 2016 in Russland. Am 29. Mai 2008 wurde der Wiedehopf ( Duchifat) in Israel zum Nationalvogel gewählt. Der Name des Zyklon Hudhud, der im Oktober 2014 auf Indien traf, leitet sich von dem Vogel ab Die Vogelart ist Namensgeber für das gleichnamige Werkzeug. Der Asteroid des mittleren Hauptgürtels (2868) Upupa wurde am 10. November 1992 nach dem Wiedehopf (lateinischer Gattungsname Upupa) benannt. Am 2. Februar 1999 wurde der Asteroid des äußeren Hauptgürtels (8586) Epops ebenfalls nach dem Wiedehopf benannt. Literatur Hans-Günther Bauer, Peter Berthold: Die Brutvögel Mitteleuropas. Bestand und Gefährdung. Aula-Verlag, Wiesbaden ²1997, S. 279 f. ISBN 3-89104-613-8 Urs N. Glutz von Blotzheim (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bearbeitet u. a. von Kurt M. Bauer und Urs N. Glutz von Blotzheim. Aula-Verlag. Bd. 9. Wiesbaden, Columbiformes – Piciformes. Aula-Verlag, Wiesbaden 1994, S. 852–876. ISBN 3-89104-562-X Susanne Oehlschläger, Torsten Ryslavy: Brutbiologie des Wiedehopfes Upupa epops auf den ehemaligen Truppenübungsplätzen bei Jüterbog, Brandenburg. In: Die Vogelwelt. Aula-Verlag, 2002, S. 171–188 Hans Münch: Der Wiedehopf. Die neue Brehm-Bücherei; Heft 90. Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig K.-G., Leipzig 1952 Max Grube: Der Wiedehopf als Wappentier. In Herold 47, 1916 Bernhard Koerner: Der Wiedehopf als Wappenvogel. In Der deutsche Roland 8, 1920 Weblinks Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch) ORF Dokumentation: „Die Rückkehr des Wiedehopfs“ Federn des Wiedehopfes Einzelnachweise Hornvögel und Hopfe Vogel des Jahres (Deutschland) Nationales Symbol (Israel) Vogel als Namensgeber für einen Asteroiden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Philosophie
Philosophie
In der Philosophie ( philosophía, latinisiert , wörtlich „Liebe zur Weisheit“) wird versucht, die Welt und die menschliche Existenz zu ergründen, zu deuten und zu verstehen. Von anderen Wissenschaftsdisziplinen unterscheidet sich die Philosophie dadurch, dass sie sich oft nicht auf ein spezielles Gebiet oder eine bestimmte Methodologie begrenzt, sondern durch die Art ihrer Fragestellungen und ihre besondere Herangehensweise an ihre vielfältigen Gegenstandsbereiche charakterisiert ist. In diesem Artikel geht es um die westliche (auch: abendländische) Philosophie, die im 6. Jahrhundert v. Chr. im antiken Griechenland entstand. Nicht behandelt werden hier die mit der abendländischen Philosophie in einem mannigfaltigen Zusammenhang stehenden Traditionen der jüdischen und der islamischen Philosophie sowie die ursprünglich von ihr unabhängigen Traditionen der afrikanischen und der östlichen Philosophie. In der antiken Philosophie entfaltete sich das systematische und wissenschaftlich orientierte Denken. Im Laufe der Jahrhunderte differenzierten sich die unterschiedlichen Methoden und Disziplinen der Welterschließung und der Wissenschaften direkt oder mittelbar aus der Philosophie, zum Teil auch in Abgrenzung zu irrationalen oder religiösen Weltbildern oder Mythen. Kerngebiete der Philosophie sind die Logik (als die Wissenschaft des folgerichtigen Denkens), die Ethik (als die Wissenschaft des rechten Handelns) und die Metaphysik (als die Wissenschaft der ersten Gründe des Seins und der Wirklichkeit). Weitere Grunddisziplinen sind die Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie, die sich mit den Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns im Allgemeinen bzw. speziell mit den Erkenntnisweisen der unterschiedlichen Einzelwissenschaften beschäftigen. Einführung Es gibt Probleme, die sich nicht oder nur unzureichend mit Hilfe der exakten Wissenschaften bearbeiten lassen: die Fragen etwa nach dem, was „gut“ und „böse“ ist, was „Gerechtigkeit“ bedeutet, ob es einen Gott gibt, ob der Mensch eine unsterbliche Seele besitzt oder was der „Sinn des Lebens“ ist. Eine weitere Klasse von Fragen kann ebenfalls nicht eigentlicher Gegenstand von z. B. Naturwissenschaften sein: Die Biologie untersucht zwar die Welt des Lebendigen, sie kann aber nicht bestimmen, was das „Wesen“ des Lebendigen ausmacht, ob und wann lebende Organismen getötet werden dürfen oder welche Rechte und Pflichten das menschliche Leben beinhaltet. Mit Hilfe von Physik und Mathematik können zwar Naturgesetze ausgedrückt werden, aber die Frage, ob die Natur überhaupt gesetzmäßig aufgebaut ist, kann keine Naturwissenschaft beantworten. Die Rechtswissenschaften untersuchen und legen fest, wann etwas im Einklang mit den Gesetzen geschieht; was aber wünschenswerte Inhalte des Gesetzbuches sein sollten, dies übersteigt ihren Rahmen. Allgemein erhebt sich nicht nur hinsichtlich jeder Einzelwissenschaft, sondern grundsätzlich die Frage, wie wir mit dem daraus gewonnenen Wissen umgehen sollen. Zudem gibt es Fragestellungen, welche die Grenzen des Denkens berühren, wie etwa die Frage, ob die in diesem Moment individuell erlebte Wirklichkeit auch tatsächlich existiert. In allen solchen Fällen versagen die Erklärungsmodelle der Einzelwissenschaften, es sind philosophische Fragen. Der griechische Philosoph Platon (428/27 – 348/47 v. u. Z.) hegte deshalb Zweifel an dem Bild, das der Mensch von sich selbst und von der Welt entwickelte. In seinem berühmten Höhlengleichnis reflektierte er unter anderem die begrenzte Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit des gewöhnlichen Menschen. Dieser sitzt mit seinesgleichen nebeneinander aufgereiht in einer Höhle, alle in einer Weise gefesselt, dass sie nur starr geradeaus die Höhlenwand vor sich betrachten können. Licht gibt ein Feuer, das weit im Rücken der Menschen im entfernten Teil der Höhle brennt. Zwischen den Menschen und dem Feuer befindet sich – ebenfalls in ihrem Rücken – eine Mauer, hinter der verschiedene Gegenstände getragen und bewegt werden, welche die Mauer überragen und den auf ihre Höhlenwand fixierten Menschen als mobile Schatten erscheinen. Stimmen und Geräusche von dem Treiben hinter der Mauer würden den fixierten Beobachtern demzufolge ebenfalls als Hervorbringungen der Schatten vor ihren Augen gelten müssen. Mit diesem Szenario kontrastiert Platon die uns geläufige „wirkliche“ Welt im Sonnenlicht außerhalb der Höhle und macht durch diesen Kunstgriff begreiflich, warum Philosophen die Wahrheit, d. h. die Nähe zur Wirklichkeit menschlicher Wahrnehmung in Frage stellen. Die Philosophie behandelt zumeist Sachverhalte, die im Alltag zunächst einmal völlig selbstverständlich erscheinen: „Du sollst nicht töten“, „Demokratie ist die beste aller Staatsformen“, „Wahrheit ist, was nachprüfbar stimmt“, „Die Welt ist, was sich im Universum vorfindet“ oder „Die Gedanken sind frei“. Für manche Philosophen ist erst der Augenblick, in dem solche Überzeugungen, in dem das bisher fraglos Hingenommene fragwürdig wird, der Geburtsmoment der Philosophie. Menschen, denen nichts fragwürdig erscheint, werden demnach nie Philosophie betreiben. Auch das kindliche Staunen wird oft als Beginn philosophischen Denkens angeführt: Anders als Religionen, religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen stützt sich die Philosophie bei der Bearbeitung der oben genannten „philosophischen“ Fragen allein auf die Vernunft, d. h. auf rationale Argumentation, die keine weiteren Voraussetzungen (wie z. B. den Glauben an eine bestimmte zugrundeliegende Lehre) erfordert. Begriffsdefinition „Philosophie“ lässt sich nicht allgemeingültig definieren, weil jeder, der philosophiert, eine eigene Sicht der Dinge entwickelt. Daher gibt es annähernd so viele mögliche Antworten auf die oben gestellte Frage wie Philosophen. Carl Friedrich von Weizsäcker hat einmal formuliert: „Philosophie ist die Wissenschaft, über die man nicht reden kann, ohne sie selbst zu betreiben.“ Daneben hat der Begriff auch viele weichere Konnotationen und kann dann Weltanschauung, Unternehmenskultur etc. bedeuten. Umso erstaunlicher ist die Präzision der materialistischen Fassung des Begriffes, wonach die Philosophie die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Strukturgesetzen der Natur, der Gesellschaft und des Denkens (Erkennens) sowie der Stellung des Menschen in der Welt ist. Zu den philosophischen Arbeitsfeldern gehört zunächst die Untersuchung von Methoden, Prinzipien und der Gültigkeit jeglicher Erkenntnisgewinnung wie auch der Argumente und Theorien auf wissenschaftlicher Ebene. Philosophie kann in diesem Zusammenhang als Grundlagenwissenschaft verstanden werden. Denn philosophisches Nachdenken und In-Frage-Stellen hat die Einzelwissenschaften stets befruchtet und in ihrer Entwicklung gefördert. Die Philosophie stellt Fragen von einer Art, die Spezialwissenschaften (bisher) nicht beantworten können, die durch Versuche, Berechnungen oder andere Forschungen mit den bisherigen Instrumenten nicht zu beantworten sind. Derartige Problemstellungen können aber das Forschen in eine neue Richtung lenken. So werden mitunter neuartige Forschungsfragen in den einzelnen Wissenschaften auf den Weg gebracht; Philosophie leistet folglich über das ureigene Feld hinaus einen Beitrag zur Hypothesenbildung. Weitergehende philosophische Bemühungen erstrecken sich auf eine systematische Ordnung menschlichen Wissens zwecks Herstellung eines in sich schlüssigen Weltbilds unter Einbeziehung menschlicher Werte, Rechte und Pflichten. Sinn und Arten des Philosophierens Viele Menschen betreiben Philosophie um ihrer selbst willen: um sich selbst und die Welt, in der sie leben, besser zu verstehen; um ihr Handeln, ihr Weltbild auf eine gut begründete Basis zu stellen. Wer ernsthaft philosophiert, stellt kritische Fragen an die ihn umgebende Welt sowie an sich selbst, lässt sich im Idealfall nicht so leicht täuschen oder von anderen seelisch-geistig manipulieren, übt sich in Wahrhaftigkeit und begeht nicht so leicht Fehlschlüsse. Ein kritisches Potenzial der Philosophie liegt im Hinterfragen der gesellschaftlichen Verhältnisse ebenso wie in einer Relativierung der Ansprüche von Wissenschaften und Religionen. Hierbei beschränkt sich die Philosophie nicht auf die kritische Analyse, sondern sie liefert auch konstruktive Beiträge, beispielsweise durch die rationale Rekonstruktion und Präzisierung vorhandener Wissenssysteme oder die Formulierung von Ethiken. Ein selbstbestimmtes und vernunftbasiertes Leben auf der Grundlage eigenen Nachdenkens (!) ist das Ziel vieler Philosophierender. Bei dem auf individuellen Nutzen gerichteten Philosophieren sind vor allem zwei Arten oder Ausrichtungen zu unterscheiden: Das Streben nach Weltweisheit soll dem Verstand Orientierung und Sicherheit in allen lebenspraktischen Bezügen verschaffen und die Fähigkeit zu sinnvoller gedanklicher Einordnung alles Begegnenden begünstigen. Es soll gleichsam die Unerschütterlichkeit des eigenen Verstandes durch das Geschehen in der Welt bewirken, sodass der Intellekt jede Lebenssituation souverän zu verarbeiten vermag. Wem von seinen Mitmenschen Weisheit zuerkannt wird, der vermittelt durch seine Reaktionen und Äußerungen den Eindruck, dass er über solche Souveränität verfügt. Demgegenüber legt die Philosophie als Lebensweise den Akzent auf die Umsetzung der Ergebnisse philosophischer Reflexion in die eigene Lebenspraxis. Auf die richtige Weise zu leben und den Lebensalltag zu gestalten, setzt hiernach ein in vertiefter Form eingeübtes und daraus sich entwickelndes richtiges Denken voraus. Und umgekehrt ist es zur Beglaubigung des philosophischen Denkens nötig, dass es sich in der Lebensweise erkennbar spiegelt. Sehr ausgeprägte Anwendungsformen einer philosophisch bestimmten Lebensweise hat es insbesondere in der Antike gegeben, vor allem in den Reihen der Stoiker, der Epikureer und der Kyniker. Für das Ideal der Übereinstimmung von Denken und Tun hat der Kyniker Diogenes von Sinope durch seine von radikaler Enthaltsamkeit gekennzeichnete Lebensweise Anhängern wie Gegnern dieser Art philosophischer Ausrichtung ein oft zitiertes Beispiel gegeben. Die Einheit von Theorie und Praxis wird jedoch auch in der östlichen Philosophie betont. Diogenes, der seinem philosophischen Denken Ausdruck verlieh, indem er dem weltlichen Treiben entsagte, zeugt auch davon, dass zum Philosophieren Ruhe und Muße gehören. (Noch das Wort Schule geht auf das griechische Wort in der alten Bedeutung für „Muße“ [, ] zurück.) Ein großer Gewinn des Philosophierens besteht in der Schulung des Denkens und des Argumentierens, denn sowohl in methodischer Hinsicht als auch beim sprachlichen Ausdruck werden im fachlichen Diskurs strenge Anforderungen an die Philosophierenden gestellt. Das akademische Philosophieren unterscheidet sich vom alltäglichen Philosophieren nicht prinzipiell durch die Fragen, sondern eher durch den Rahmen – in der Regel die Universität – und durch bestimmte Formen der Aus- und Abgrenzung philosophischer Tätigkeit. Es gelten verschiedene Übereinkünfte über die Formen des Argumentierens und der wissenschaftlichen Publikation sowie die zugelassene Fachterminologie. Die Tätigkeiten des akademisch Philosophierenden umfassen dabei die unten genannten Methoden. Philosophisch gebildete Menschen unterscheiden sich von den übrigen nicht unbedingt darin, dass ihnen mehr (nützliches) Wissen zur Verfügung stünde. Ihnen steht allerdings in der Regel ein besserer Überblick über die Argumente zur Verfügung, die in einer philosophischen Debatte hinsichtlich eines bestimmten Diskussionsgegenstands bereits vorgebracht wurden. So kann es etwa hilfreich sein, bei einem aktuell diskutierten Problem (z. B. Euthanasie) danach zu fragen, welche Antwortmöglichkeiten die Philosophie in den letzten 2500 Jahren dazu angeboten hat und wie die Auseinandersetzungen um diese Vorschläge bisher verlaufen sind. Neben dieser historischen Kenntnis sollte ein ausgebildeter Philosoph eher in der Lage sein, die prinzipiell vertretbaren Positionen zu unterscheiden, deren Folgen vorauszusehen sowie Probleme und Widersprüche zu erkennen. Weitere Anwendungen und Aufgaben der Philosophie bestehen darin, die grundlegenden Begriffe, Fragen, Thesen und Positionen, welche die einzelnen Wissenschaften verwenden, zu thematisieren. So fragt die Philosophie etwa, was den Begriff der „Würde“ ausmacht, wenn er in Diskussionen der Rechtswissenschaften oder der Soziologie verwendet wird. die unausgesprochenen Begriffe, Fragen, Thesen und Positionen herauszuarbeiten, die anderen Wissenschaften zugrunde liegen. So fragt etwa die Ethik: „Was ist Gerechtigkeit?“ und untersucht dabei auch Begriff, Grundlagen und Bedingungen der Rechtswissenschaften überhaupt. die Fragen nach Denkmustern bzw. Denkgewohnheiten vergangener Zeiten zu beantworten, auf die die überlieferten Artefakte im Museum keine Antworten zu geben vermögen. Methoden Die Methoden der Philosophie umfassen verschiedene geistige Bemühungen. „Geistige Bemühungen“ kann dabei das Nachspüren von Denkrichtungen, Denktraditionen und Denkschulen meinen. Um das Denken geht es beim Philosophieren immer. Denken kann Nach-Denken sein, Analysieren oder Systematisieren. Intuitive Erkenntnisse, Glaubenswahrheiten und rationale Argumente werden auf der Grundlage der Lebenswirklichkeit des philosophierenden Menschen, mithilfe der Mittel des vernünftigen, rationalen und kritischen Denkens, geprüft. Zudem vermag die philosophische Geisteshaltung in einem methodischen Zweifel radikal alles in Frage zu stellen – sogar die Philosophie selbst. Dabei beginnt die Philosophie mit jedem Philosophierenden gleichsam wieder bei null. Es gehört zur Haltung eines Philosophierenden, auch scheinbar grundlegende oder alltägliche Gewissheiten in Frage stellen zu können. Menschen, denen sich die Lebenswirklichkeit nicht auch als Frage oder Problem aufdrängt, erscheint solch fundamentaler Zweifel nicht selten befremdlich. Über lange Zeiträume gesehen stellt die Philosophie in zentralen Bereichen immer wieder dieselben Grundfragen, deren Antwortmöglichkeiten sich prinzipiell ähneln (). Aufgrund der historischen und sozialen Veränderungen der Lebensumstände und Weltanschauungen werden jeweils neue Formulierungen für die Antworten auf die Grundfragen des Menschen notwendig. Anders als in den einzelnen Wissenschaften häufen weder die Philosophie noch die einzelnen Philosophierenden Wissen an oder verfügen über definitive und allgemein anerkannte Ergebnisse („Skandal der Philosophie“). Sie sammeln historische Antworten, reflektieren diese und können dadurch zeitgebundene Blickwinkelverengungen, wie sie in manchen Spezialwissenschaften anzutreffen sind, vermeiden. Insofern kann der philosophische Diskurs als ein in sich nicht abschließbarer Prozess betrachtet werden – als ein kontroverses Gespräch über die Jahrhunderte hinweg. Grundsätzlich lassen sich zwei Ansätze bzw. Bereiche des heutigen „professionellen“ Philosophierens unterscheiden: die historische und die systematische Vorgehensweise: Historisch arbeiten Philosophen dann, wenn sie versuchen, die Positionen und Thesen von Denkern wie z. B. Platon, Thomas von Aquin oder Immanuel Kant zu rekonstruieren und zu interpretieren. Auch die Herausarbeitung bestimmter philosophischer Strömungen oder Auseinandersetzungen in der Geschichte gehört hierzu, ebenso das Verfolgen der Geschichte von Begriffen und Ideen. Systematisch gehen Philosophen vor, wenn sie versuchen, zu einem bestimmten Problemfeld Standpunkte auszuarbeiten und zu verteidigen, Fragen innerhalb der verschiedenen philosophischen Disziplinen zu beantworten oder die offenen bzw. unausgesprochenen Voraussetzungen einer bestimmten Frage oder Behauptung zu analysieren; oder wenn sie sich darum bemühen, die in bestimmten Fragen, Thesen oder Positionen verwendeten Begriffe zu klären. Lautet die Frage etwa: „Hat der Mensch einen freien Willen?“, so müssen für eine Antwort zunächst die Begriffe „Willen“, „Freiheit“ und „Mensch“ – vielleicht sogar die Bedeutung von „haben“ – einer genauen Bedeutungsanalyse unterzogen werden. Die historischen und die systematischen Herangehensweisen bzw. Bereiche sind dabei prinzipiell durch das jeweilige Ziel der philosophischen Untersuchungen voneinander abgrenzbar. Viele Philosophen arbeiten allerdings sowohl historisch wie systematisch. Beide Ansätze ergänzen einander insofern, als einerseits die Schriften herausragender philosophischer Autoren auch für aktuelle systematische Fragen hilfreiche Überlegungen enthalten und andererseits systematische Ausarbeitungen oft Positionen der Klassiker präzisieren helfen. Außerdem können in vielen Fällen heutige Fragen nur dann präzise gestellt und beantwortet werden, wenn der historische Hintergrund für ihr Aufkommen und die seitdem für die Behandlung des Problems entwickelten Begrifflichkeiten und Lösungsvorschläge bekannt sind und verstanden werden. Begriffsgeschichte Der Begriff „Philosophie“ (bis ins 19. Jahrhundert im Deutschen auch gelegentlich Filosofie geschrieben), zusammengesetzt aus griechisch () „Freund“ und () „Weisheit“, bedeutet wörtlich „Liebe zur Weisheit“ bzw. einfach „zum Wissen“ – denn bezeichnete ursprünglich jede Fertigkeit oder Sachkunde, auch handwerkliche und technische. Das Verb philosophieren taucht erstmals beim griechischen Historiker Herodot (484–425 v. Chr.) auf (I,30,2), wo es zur Beschreibung des Wissensdurstes des Athener Staatsmannes Solon (ca. 640–559 v. Chr.) dient. Dass Heraklit schon den Begriff verwendete, ist nicht anzunehmen. In der Antike pflegte man die Einführung des Begriffs Philosophie Pythagoras von Samos zuzuschreiben. Der Platoniker Herakleides Pontikos überlieferte eine Erzählung, wonach Pythagoras gesagt haben soll, nur ein Gott besitze wahre , der Mensch könne nur nach ihr streben. Hier ist mit bereits metaphysisches Wissen gemeint. Die Glaubwürdigkeit dieses – nur indirekt und fragmentarisch überlieferten – Berichts des Herakleides ist in der Forschung umstritten. Erst bei Platon tauchen die Begriffe Philosoph und philosophieren eindeutig in diesem von Herakleides gemeinten Sinne auf, insbesondere in Platons Dialog Phaidros, wo festgestellt wird, dass das Streben nach Weisheit (das Philosophieren) und Besitz der Weisheit sich ausschließen und letzterer nur Gott zukomme. Philosophie wurde im Laufe ihrer Geschichte als Streben nach dem Guten, Wahren und Schönen (Platon) oder nach Weisheit, Wahrheit und Erkenntnis (Hobbes, Locke, Berkeley) definiert. Sie forsche nach den obersten Prinzipien (Aristoteles) und ziele auf den Erwerb wahren Wissens (Platon). Sie ringe um die Erkenntnis aller Dinge, auch der unsichtbaren (Paracelsus), sei Wissenschaft aller Möglichkeit (Wolff) und vom Absoluten (Fichte, Schelling, Hegel). Sie ordne und verbinde alle Wissenschaft (Kant, Mach, Wundt), stelle die „Wissenschaft aller Wissenschaften“ dar (Fechner). Die Analyse, Bearbeitung und exakte Bestimmung von Begriffen stehe in ihrem Mittelpunkt (Sokrates, Kant, Herbart). Philosophie sei jedoch zugleich auch die Kunst, sterben zu lernen (Platon), sei normative Wertlehre (Windelband), das vernunftgemäße Streben nach Glückseligkeit (Epikur, Shaftesbury) bzw. das Streben nach Tugend und Tüchtigkeit (Aristoteles, Stoa). Aus europäischer Sicht verbindet sich der Begriff Philosophie mit den Ursprüngen im antiken Griechenland. Die gleichfalls jahrtausendealten asiatischen Denktraditionen (östliche Philosophie) werden oftmals übersehen oder unterschätzt. Auch religiöse Weltanschauungen gehören zur Philosophie, insoweit ihre Vertreter nicht theologisch, sondern philosophisch argumentieren. Wissenschaftsgeschichte Das Selbstverständnis der Philosophie als Wissenschaft hat sich im Laufe ihrer Geschichte immer wieder gewandelt. Die ersten griechischen Philosophen bis etwa zur Zeit von Sokrates und Platon verstanden ihre Tätigkeit als vernunftgelenktes Erkenntnisstreben im Unterschied zum bloßen Übernehmen eines mythischen Weltbilds und religiöser Traditionen. Einerseits emanzipierte sich so das Denken vom Mythos, andererseits wurden die Mythen in der Regel nicht grundsätzlich verworfen. Die Philosophen bedienten sich ihrer gern und nutzten dichterische Ausdrucksmittel, um ihre Lehren zu verbreiten. Während Sokrates und seine Schüler das Erkenntnisstreben als Selbstzweck betrachteten, boten die Sophisten ihren Unterricht gegen Entgelt an. Für manche Sophisten ging es dabei vor allem um die Kunst, in einer Debatte mit rhetorischen Mitteln und logischen Kunstgriffen einen Gegner zu besiegen. Ihr Ziel war es, notfalls auch mit Tricks (Sophismen), „die schwächere Seite zur stärkeren zu machen“ (vgl. Eristik). Nachdem sich das Christentum in der Spätantike durchgesetzt hatte, war Philosophie für viele Jahrhunderte nur noch auf der Basis des damaligen religiösen Weltbilds möglich; sie durfte nicht mit den Grundannahmen der christlichen Theologie in Konflikt geraten. Eine analoge Begrenzung bestand auch im Islam und im Judentum. In Westeuropa dominierte daher lange Zeit das Bild der Philosophie als einer „Magd der Theologie“ (ancilla theologiae), also einer Hilfswissenschaft, welche die göttlichen Offenbarungen mit rationalen Argumenten stützen sollte. An den im Mittelalter neu entstehenden Universitäten wurde die Philosophie zu einem grundlegenden („propädeutischen“) Lehrfach. Der Kern des Studiums war durch die sogenannten Artes liberales bestimmt, zu denen „Grammatik“, „Dialektik“, „Rhetorik“ sowie „Geometrie“, „Arithmetik“, „Astronomie“ und „Musik“ gehörten. Ein erster Abschluss in diesem studium generale an der so genannten Artistenfakultät war notwendig, um die „höheren“ Studien in Medizin, Recht und Theologie aufnehmen zu können. (Aus dieser Tradition stammen noch heute die Bezeichnungen der akademischen Grade des B.A., M.A., Ph.D. bzw. Dr. phil.). In Westeuropa führte im 13. Jahrhundert die verstärkte Auseinandersetzung mit der Philosophie des Aristoteles zu höherer Eigenständigkeit der Philosophie, welche die Grenzen der artes-Disziplinen überschritt. Zahlreiche Philosophen und Theologen wie Albert der Große und Thomas von Aquin versuchten, Anschluss an die Aristotelesrezeption des Ostens zu halten und die aristotelische Philosophie mit den Lehren der katholischen Kirche zu einer in sich geschlossenen Gesamtdeutung der Wirklichkeit zusammenzuführen. Eine solche Synthese legte etwa Thomas in der Summa theologica vor. Unabhängig davon kam es schon seit dem 12. Jahrhundert zu einer neuen Hochschätzung des Erfahrungswissens, die eine Voraussetzung für die Entstehung des neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Denkens und der experimentellen Vorgehensweise bildete. Seit der Renaissance überschritt die Philosophie zunehmend die Grenzen, welche die Theologie ihr gesetzt hatte. Die Philosophen scheuten sich nicht mehr, Ansichten zu vertreten, die mit kirchlichen Lehren oder sogar mit dem Christentum unvereinbar waren. Seit den Zeiten des Renaissance-Humanismus und der Aufklärung setzte sich die Philosophie bis in die Gegenwart hinein kritisch mit der Religion auseinander, grenzte sich von ihr ab und betrachtete sich ihr oft als überlegen. Es gab aber auch stets zahlreiche Philosophen, die großen Wert darauf legten, dass ihre Positionen mit ihren religiösen Überzeugungen in vollem Einklang stehen. Vor allem in bestimmten Phasen der Neuzeit wurde die Philosophie als eine allen Einzelwissenschaften übergeordnete Universalwissenschaft begriffen, die, um die Wirklichkeit als Ganzes zu erfassen und zu den letzten Ursachen und Prinzipien vorzudringen, ewiggültige, allgemeine Wahrheiten aufdeckt und zugänglich macht (Philosophia perennis). Das heißt, die Chance, dass Philosophie untergeht, ist von allen Fächern wohl am geringsten. Wenn man nur Philosophie betreibt, braucht man sich auf nichts weiter spezialisieren, denn Philosophie ist dasjenige Fach, das alle Grundlagen benutzen kann (Heißler). Noch bis ins 18. Jahrhundert hinein blieb die Philosophie eine der klassischen vier Fakultäten. Weiterhin war eine grundlegende Ausbildung in Philosophie erforderlich, bevor sich die Studenten z. B. naturwissenschaftlichen Fragen und Forschungen zuwenden durften. An einigen traditionsbewussten Universitäten ist ein „Philosophicum“ im Grundstudium bis heute für alle Studenten Pflicht. Im 19. Jahrhundert begann eine zunehmende Verselbstständigung zunächst der Naturwissenschaften und später auch der philologischen und der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer. Die philosophischen Lehrstühle gerieten in der Folge in ihrer inhaltlichen Ausrichtung zunehmend unter den Spezialisierungsdruck der sich verselbständigenden Fachwissenschaften. In der Moderne verblieb der Philosophie zeitweise nur die Aufgabe der Reflexion der Fachwissenschaften und die Diskussion über deren Voraussetzungen. Die moderne Fachwissenschaft Philosophie zieht ihre Rechtfertigung aus dem Anspruch, philosophische Methoden könnten auch für andere Wissens- und Praxisgebiete hilfreich sein. Darüber hinaus betrachten die Philosophen die Erörterung ethischer Themen und Grundsatzfragen als ihr ureigenes Gebiet. Die Universitäten sind in ihrem Selbstverständnis gegenwärtig durch die Vermittlung der traditionellen philosophischen Disziplinen Logik, Ethik, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Philosophiegeschichte im Rahmen der Lehrerausbildung geprägt. So findet der Diskurs der Philosophie an den Universitäten häufig abgetrennt nicht nur von der Religion, sondern auch von den Sozialwissenschaften, von Literatur und Kunst weitgehend als theoretische Philosophie mit einer starken Betonung von Wissenschaftstheorie, Sprachanalyse und Logik statt. Dennoch gibt es auch in der „Fachwissenschaft Philosophie“ immer wieder Impulse, an öffentlichen Debatten der Gegenwart teilzunehmen und Stellung zu beziehen z. B. zu ethischen Fragen der Verwendung von Technik, zur Ökologie, zur Genetik, (seit der Antike auch) zu medizinischen Problemen (Medizinphilosophie, Medizinethik) oder zu solchen der interkulturellen Philosophie. Neben der universitären Philosophie gab es jedoch auch immer eigenständige Denker außerhalb der Institutionen. Seitdem die Aufklärer Voltaire, Rousseau und Diderot (als Impulsgeber der Enzyklopädie mit dem Ziel der Aufklärung durch Wissen) in Frankreich philosophes genannt wurden, verstand man darunter in der Tradition von Montaigne allgemein auch gelehrte Schriftsteller, die sich über populäre, also über Themen von allgemeinem öffentlichen Interesse äußerten – so auch Universalgelehrte wie Goethe und Schiller. Denkern des 18. und 19. Jahrhunderts wie Adam Smith, Abraham Lincoln, Jean Paul, Friedrich Nietzsche, Émile Zola, Lew Tolstoi, Karl Marx, Sigmund Freud oder Søren Kierkegaard war gemeinsam, dass sie allesamt nicht an eine Universität angebunden waren und keine akademische Schulphilosophie betrieben. Dennoch gingen von ihnen in der Öffentlichkeit viel beachtete philosophische Impulse aus und sie reflektierten die Philosophiegeschichte eigenständig – vergleichbar mit in der Gegenwart viel gelesenen Denkern wie Paul Watzlawick, Umberto Eco oder Peter Sloterdijk. Eine recht junge Entwicklung ist die Einrichtung von Philosophischen Praxen, die eine Alternative zu anderen gesellschaftlichen Beratungs- und Orientierungsmöglichkeiten anbieten wollen. Im Mai 1988 kam es im Zuge der Perestroika zu einer Wiederbelebung der philosophischen und wissenschaftlichen Tradition. Es wurde eine Bibliothek mit etwa vierzig Bänden, darunter Werke von Denkern des neunzehnten Jahrhunderts, die in der Sowjetunion nicht mehr publiziert worden waren, und Texte von Intellektuellen, die das Land auf dem Philosophenschiff hatten verlassen müssen, zusammengestellt. Disziplinen Allgemein Die heutige Philosophie gliedert sich in systematische Sachdisziplinen und die Philosophiegeschichte. Erstere lassen sich im Wesentlichen der theoretischen oder praktischen Richtung zuordnen (s. u.). Berührungspunkte zwischen systematischem Philosophieren und Philosophiegeschichte finden sich etwa in der Systematologie. Systematische Philosophie im strengen Sinne erhebt den Anspruch, „die Totalität der in irgend einem Zeitpunkt erreichten Erkenntnisse als ein Ganzes darzustellen, dessen Teile durchgängig in logischen Verhältnissen verknüpft sind“. Auch wenn sich der Bereich, den die Philosophie insgesamt umfasst, in gewissem Sinne nicht eingrenzen lässt (da sie „alles“ behandelt), gibt es doch bestimmte Domänen, in denen sie hauptsächlich tätig ist. Der Philosoph Immanuel Kant hat diese in den folgenden Fragen zusammengefasst: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Etwas weniger allgemein gestellt können diese Fragen ungefähr so lauten: Wie können wir zu Erkenntnis gelangen und wie sind diese Erkenntnisse einzuschätzen? (Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, Logik) Wie sollen wir handeln? (Ethik) Was ist die Welt? Warum gibt es überhaupt etwas und „nicht vielmehr nichts“? Gibt es einen Gott oder was sollte man sich unter dem Begriff „Gott“ überhaupt vorstellen? Steuert die Geschichte auf ein Ziel zu und wenn ja auf welches? (Metaphysik, Religions- und Geschichtsphilosophie) Was sind wir für Wesen? In welchem Verhältnis stehen wir zu der Welt, die wir vorfinden? (Philosophische Anthropologie, Kultur- und Sozialphilosophie, Philosophische Ästhetik) Abgrenzung theoretische und praktische Philosophie Die Unterscheidung zwischen praktischer und theoretischer Philosophie geht auf Aristoteles zurück. Für ihn richtete sich die theoretische Philosophie auf zweckfreie Erkenntnis notwendiger Gründe, die praktische Philosophie dagegen auf das optionale, zweckgebundene praktische und politische Handeln des Menschen. Ab dem 17. Jahrhundert wurde diese Unterscheidung wieder aufgegriffen und – vor allem in der Schulphilosophie des Christian Wolff – terminologisch fixiert. Vor dem Hintergrund der Forderung nach Wissenschaftlichkeit verkehrte sich jedoch der Sinn dieser Unterscheidung: Theoretische und praktische Philosophie sollten beide gleichermaßen wissenschaftlich werden. Nach einer vielfach aufgenommenen Unterscheidung Immanuel Kants handelt die praktische Philosophie von dem, was sein soll, während die theoretische Philosophie sich mit dem beschäftigt, was ist. Einige interdisziplinäre Gebiete der Philosophie der Gegenwart widersetzen sich teilweise dieser Zweiteilung, siehe etwa die Kritik von Jürgen Habermas an Edmund Husserl und die Kontroverse der Werturteilsfreiheit. Klassischerweise werden der theoretischen Philosophie Logik, Metaphysik und Ontologie, Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, aber auch mathematische und Naturphilosophie zugerechnet. Vor allem die ersten drei beanspruchen Priorität als oberste philosophische Grundlagendisziplin. Zur praktischen Philosophie werden Ethik, Rechtsphilosophie, politische Philosophie, Handlungstheorie, Wirtschaftsphilosophie und Sozialphilosophie gezählt. Theoretische Philosophie Logik Die Logik beschäftigt sich nicht mit konkreten Inhalten, sondern mit den Gesetzmäßigkeiten der Folgerichtigkeit. Sie fragt, auf Grundlage welcher Regeln aus bestimmten Voraussetzungen („Prämissen“) bestimmte Schlussfolgerungen („Konklusionen“) gezogen oder nicht gezogen werden können (vgl. Fehlschlüsse). Insofern thematisiert sie die Grundlage aller auf Argumenten basierenden Arten von Wissenschaft. In früheren Zeiten wurde der Ausdruck „Logik“ in weiterer Bedeutung verwendet als heute. Typisch ist das Beispiel der Logik der Stoa. Diese umfasste auch den Bereich, der heute Erkenntnistheorie genannt wird, sprachphilosophische Probleme sowie die Rhetorik. Ganz ähnlich gilt dies noch für viele Logikbücher bis ins frühe 20. Jahrhundert. In der modernen Philosophie bezeichnet Logik als Wissenschaft des korrekten Folgerns nur noch die formale Logik. Diese überschneidet sich mit Gebieten aus Mathematik und Informatik. Die Logizisten meinen sogar, die gesamte Mathematik sei, abgesehen von Axiomfindung, nur logisches Ableiten bzw. Folgern. Inwieweit sich Logik auch auf andere Gebiete ausdehnt (z. B. Argumentationstheorie, Sprechakttheorie) ist hingegen umstritten. Zu den wichtigsten Logikern der Philosophiegeschichte zählen Aristoteles, Chrysipp, Johannes Buridanus, Gottlob Frege, Charles Sanders Peirce, Bertrand Russell mit Alfred N. Whitehead, Kurt Gödel und Alfred Tarski. Erkenntnistheorie Die Erkenntnistheorie fragt nach der Möglichkeit, Wissen zu erlangen und zu sichern. Umfang des Wissens, Natur des Wissens, Arten des Wissens, Quellen des Wissens und Struktur des Wissens werden untersucht, ebenso die Problematik der Wahrheit oder Falschheit von Theorien. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit stellt sie genauso auf den Prüfstand, wie den Einfluss von Sprache und Denken auf den Erkenntnisvorgang. Außerdem versucht sie, die Grenzen der Erkenntnis abzustecken und zu definieren, was prinzipiell als „wissenschaftlich“ bezeichnet werden kann. Diese Erkenntniskritik stellt seit Immanuel Kant für viele Philosophen den fundamentalen Kern der Erkenntnistheorie dar. Wichtige Erkenntnistheoretiker waren u. a. Platon, Aristoteles, René Descartes, John Locke, David Hume, Immanuel Kant, Auguste Comte, Edmund Husserl und Ludwig Wittgenstein. Wissenschaftstheorie Die Wissenschaftstheorie ist eng verbunden mit der Erkenntnistheorie und analysiert bzw. postuliert die Voraussetzungen, Methoden und Ziele von Wissenschaft. Sie legt vor allem die Kriterien für die Begriffe „Wissenschaft“ und „wissenschaftlich“ fest und versucht sie damit von Para- und Pseudowissenschaften abzugrenzen. Dazu haben sich heute mehrere grundlegende, nicht durch die Einzelwissenschaften selbst zu rechtfertigende methodische Vorgaben, herausgebildet. Beispielsweise die Notwendigkeit der Wiederholbarkeit von Experimenten, das Ökonomieprinzip („Ockhams Rasiermesser“) und das Prinzip der Falsifizierbarkeit als Voraussetzung für sinnvolle wissenschaftliche Aussagen sind so Bestandteile dieser Wissenschaftsmodelle. Weiterhin beschäftigt sich die Wissenschaftstheorie mit dem Verhältnis zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Konzepten von Wahrheit bzw. Wirklichkeit. Auch die mögliche Einteilung und Ordnung des menschlichen Wissens in Gebiete und ihre Hierarchisierung, sowie die Untersuchungen der Prinzipien des wissenschaftlichen Fortschreitens (vgl. Paradigmenwechsel) gehören zu ihrem Aufgabenbereich. Wichtige Vertreter der Wissenschaftstheorie sind z. B. Aristoteles, Francis Bacon, Rudolf Carnap, Karl Popper, Thomas Kuhn, Paul Feyerabend und Hilary Putnam. Metaphysik und Ontologie Die Metaphysik bildet fast seit jeher den Kern der Philosophie. Sie versucht die gesamte Wirklichkeit, wie sie uns erscheint, in einen sinnvollen Zusammenhang – oft auch in ein universelles System – zu bringen. Sie untersucht die Fundamente und allgemeinen Strukturen der Welt. Des Weiteren stellt sie die „letzten Fragen“ nach dem Sinn und Zweck allen Seins. Traditionell wird die Metaphysik in einen generellen und einen speziellen Zweig geteilt. Die generelle Metaphysik ist die Ontologie, welche in der Tradition des Aristoteles die Frage nach den Grundstrukturen alles Seienden und dem Sein stellt. Ihr Gegenstandsbereich ist uneingeschränkt. Philosophiegeschichtlich ist die Metaphysik vor allem durch drei Grundfragen geprägt: Gibt es Arten von Dingen, die für die Existenz anderer Arten grundlegend sind? (Aristoteles’ „Kategorien“) Gibt es eine erste/letzte Ursache, von deren Existenz die Existenz von allem anderen abhängt? (Aristoteles) Warum gibt es überhaupt etwas und nicht nichts? (nach Gottfried Wilhelm Leibniz, von Martin Heidegger zur Grundfrage erklärt) Die spezielle Metaphysik teilt sich in drei Disziplinen auf, die folgende Fragen stellen: nach der Existenz Gottes und seinen möglichen Eigenschaften (rationale bzw. natürliche Theologie); nach der Möglichkeit einer unsterblichen Seele und eines freien Willens, sowie nach Unterschieden zwischen Geist und Materie (rationale Psychologie); nach der Ursache, Verfasstheit und dem Zweck des Universums (rationale Kosmologie); Diese Fragen können und wollen die Naturwissenschaften mit ihrem Instrumentarium aus prinzipiellen Gründen nicht mehr behandeln, da die Gegenstände der Metaphysik prinzipiell jeder (sinnlichen) menschlichen Erfahrungsmöglichkeit entzogen sind. Wird die Existenz empirisch nicht untersuchbarer Bereiche der Wirklichkeit bestritten oder für nicht relevant erklärt, so erübrigen sich die Fragen der Metaphysik. Die traditionelle Metaphysik wurde auf zwei verschiedene Weisen kritisiert. Während der Positivismus und Vertreter analytischer Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tendenziell auf eine Abschaffung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache drängten, versuchte beispielsweise Martin Heidegger, in einer Überwindung der Metaphysikgeschichte und in einer radikalen Wende der Fragestellung auf die Analyse des menschlichen Daseins einen Neuansatz für eine alternative Metaphysik zu schaffen (Fundamentalontologie, Existenzphilosophie). Mittlerweile finden traditionelle metaphysische, insbesondere ontologische Fragen und Probleme wieder breitere Beachtung in der philosophischen Diskussion – auch in viel debattierten Disziplinen wie der Philosophie des Geistes. Wichtige Metaphysiker waren u. a. Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz sowie die Vertreter des Deutschen Idealismus und der Neuscholastik. Sprachphilosophie Die Sprachphilosophie untersucht die Beziehung zwischen Sprache, Denken und Wirklichkeit. Die Analyse von Sprache, z. B. mittels der genauen Zerlegung von Begriffen, ist in der Philosophie von jeher betrieben worden. Von Anfang an war damit die überragende Bedeutung der Sprache für kommunikative Prozesse, Wahrheitsfindung, Erkenntnismöglichkeiten und die Beschreibung und Wahrnehmung der Welt ein zentrales Thema der Philosophie. So wurde beispielsweise bereits in der Antike die Frage erörtert, ob einem Ding eine bestimmte Bezeichnung „von Natur aus“ oder nur durch willkürliche Festlegung durch den Menschen zukomme. Auch das sich hieran anschließende wichtige Thema der mittelalterlichen Philosophie – der Universalienstreit – kann teilweise als ein Problem dieses Bereichs begriffen werden. Die moderne Sprachphilosophie, welche im 20. Jahrhundert die so genannte „Linguistische Wende“ (linguistic turn) auslöste, befasst sich u. a. mit der Abhängigkeit der Wirklichkeitserfassung von den individuellen sprachlichen Möglichkeiten (vgl. Sapir-Whorf-Hypothese), mit der Herstellung von Wahrheit, Erkenntnis und Wissen durch Kommunikation (vgl. Sprachspiel), wie man mit Hilfe sprachlicher Äußerungen Handlungen vollzieht (John Langshaw Austin: „How to do things with words“, vgl. Pragmatik), dem verzerrenden Einfluss der Sprache auf die Realität (z. B. in der feministischen Linguistik) sowie mit der Frage, was „Bedeutung“ ist. Zu den wichtigsten Sprachphilosophen zählen Gottlob Frege, Charles S. Peirce, George Edward Moore, Bertrand Russell, W.v.O. Quine, Saul Kripke und Ludwig Wittgenstein. Wichtige Beiträge haben auch die Schüler Ferdinand de Saussures (Strukturalismus), Martin Heidegger (Etymologie und Neologismen), Michel Foucault (Diskursanalyse) und Jacques Derrida (Poststrukturalismus) geliefert. Praktische Philosophie Praktische Philosophie bezeichnet gemäß der aristotelischen Tradition denjenigen Teilbereich der Philosophie, der sich aus den Disziplinen Ethik, Rechtsphilosophie, Staatsphilosophie, Politische Philosophie und den Grundlagen der Ökonomie (siehe auch Wirtschaftsphilosophie) zusammensetzt. Praktische Philosophie ist auf die philosophische Erforschung der menschlichen Praxis gerichtet. Aristoteles hatte der theoretischen Philosophie, die sich auf zweckfreie Erkenntnis notwendiger Gründe richtet, die praktische Philosophie (Ethik, Ökonomie und Politik) gegenübergestellt, die sich auf das zweckgebundene praktische und politische Handeln des Menschen im Bereich dessen bezieht, was sich auch anders verhalten kann. Vor dem Hintergrund der Forderung nach Wissenschaftlichkeit relativierte sich jedoch der Sinn dieser Unterscheidung: Theoretische und praktische Philosophie sollten beide gleichermaßen wissenschaftlich werden. Mitte des 19. Jahrhunderts begannen sich die einzelnen Teildisziplinen der praktischen Philosophie zu spezialisieren und allmählich als Einzeldisziplinen herauszubilden. Ethik und Metaethik Die philosophische Ethik befasst sich mit Antworten auf die Kantsche Frage "Was sollen wir tun?". Sie erstellt Kriterien für die Beurteilung von Handlungen und bewertet diese hinsichtlich ihrer Motive und Konsequenzen. Dabei unterscheidet sie sich von der Moral, die bestimmte Handlungen traditionell oder konventionell vorschreibt, obgleich das Ziel der normativen Ethik in der Begründung von allgemeingültigen Normen und Werten gesehen werden kann. Dieses Ziel gilt vielen Philosophen als gescheitert, da es gemäß der deontischen Logik als auch aufgrund von Humes Gesetz unmöglich ist, Normen aus nichtnormativen Sätzen zu deduzieren, d. h. bestimmte Werte, Normen oder Präferenzen müssen immer schon vorausgesetzt werden, damit weitere Normen abgeleitet werden können. Rationale Ethik bestünde daher nur in der Prüfung, ob bestimmte Normen mit übergeordneten Zielen logisch vereinbar sind oder nicht. Bei einer voraussetzungslosen Philosophie hingegen wären ethische Maßstäbe für grundsätzliche Zweckorientierungen logisch nicht zu gewinnen. Andere Philosophen versuchen trotzdem, in verschiedenen, einander widersprechenden Konzepten, eine absolute Begründung von Normen zu finden. Am bekanntesten in Deutschland ist die transzendentalpragmatische, absolute Normenbegründung der Diskursethik nach Apel, der zufolge jeder Zweifler bereits Teilnehmer an einem Diskurs ist und daher ethische Diskursregeln anerkannt habe. Praktische Philosophen versuchen auch oft, eine oberste Regel oder ein allgemeines Kriterium für moralisches Handeln zu finden. Dabei ist die Goldene Regel wenig populär, da sie gleiche Wünsche aller Beteiligten voraussetzt. Dem Utilitarismus zufolge ist das oberste Moralprinzip, das größte Glück der größten Zahl anzustreben. Verbreitet ist auch Kants kategorischer Imperativ: Die deskriptive Ethik hingegen beschäftigt sich mit den verschiedenen vorhandenen Moralvorstellungen und versucht diese genau zu fassen und zu beschreiben, sie ist eher Teil der empirischen Humanwissenschaften als der Philosophie. Basis der allgemeinen Ethik ist die Metaethik, die das Sprechen über Ethik und ethische Begriffe („gut“, „böse“, „Handlung“) sowie normenlogische Folgerungen analysiert. Die Ethik gehört zu den wenigen Disziplinen der Philosophie, die bisher nur in geringem Maße von (anderen) Wissenschaften in Frage gestellt wurden. Dies ist nämlich logisch kaum möglich, da empirische Wissenschaften nur Fakten beschreiben und Mittel zur Erreichung von Zwecken entwickeln und verbessern, aber nicht sagen können, welche Zwecke jemand überhaupt verfolgen soll. Die Infragestellung aller ethischen Werte durch Amoralismus und Relativismus steht im Kontrast zur gesellschaftlichen Nachfrage nach Bereichsethiken wie der Medizin-, Tier- oder Wissenschaftsethik bis hin zur Hacker- und Informationsethik, aber auch der Schaffung von Institutionen wie dem Nationalen Ethikrat. Einflussreiche Ethiker sind unter anderem Aristoteles, die Stoiker und Epikureer, Thomas von Aquin, Immanuel Kant, Jeremy Bentham und John Stuart Mill, Max Scheler, Hans Jonas und Karl-Otto Apel. Rechtsphilosophie Eine direkte Anwendung der Ethik findet sich in der Rechtsphilosophie, die zugleich eine der Grundlagendisziplinen der Rechtswissenschaften darstellt. Basierend auf der Beurteilung von Handlungen in „gut“ und „schlecht“ wird die Frage nach Recht und Gerechtigkeit und der Folge der Verletzung von moralischen und ethischen Normen gestellt. Natürlich fragt die Rechtsphilosophie auch nach der Entstehung, Einsetzung und Legitimation des Rechts, dem Verhältnis von „natürlichem Recht“ (vgl. Menschenrechte) und „gesetztem Recht“ („positives Recht“), nach der Reihenfolge der Wichtigkeit von Rechtsnormen und ihrer Außerkraftsetzung. Hier gibt es Überschneidungen mit der politischen Philosophie. Bekannte Rechtsphilosophen sind Hugo Grotius, Niccolò Machiavelli, Thomas Hobbes, Hans Kelsen, Gustav Radbruch, H.L.A. Hart, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas, John Rawls, Ronald Dworkin und Robert Alexy. Politische Philosophie Die politische Philosophie ist ähnlich wie die Rechtsphilosophie in großen Teilen von den benachbarten Wissenschaften vereinnahmt worden. So finden große Teile der philosophischen Diskussion in den Rechts- bzw. Politikwissenschaften statt. Die Entstehung, Rechtmäßigkeit und Verfasstheit eines Staates wird von der Staatstheorie untersucht. Die politische Theorie fragt nach der besten Herrschaftsform, dem Verhältnis zwischen Bürger und Staat, nach Machtverteilung, Gesetz, Eigentum, Sicherheit und Freiheit. Wichtige Beiträge hierzu haben u. a. die politischen Denker Platon, Aristoteles, Augustinus, Marsilius von Padua, Niccolò Machiavelli, Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Karl Marx, Michail Bakunin, Carl Schmitt, Hannah Arendt, Karl Popper und Michel Foucault geliefert. Neuere Disziplinen Philosophie des Geistes und des Bewusstseins Obgleich sie sehr alte Fragestellungen behandeln, ist die Philosophie des Geistes bzw. die Philosophie des Bewusstseins noch eine junge, interdisziplinär angelegte Disziplin, die an die Kognitions- und Neurowissenschaften angrenzt. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach dem Wesen von Geist bzw. Bewusstsein, nach dem Verhältnis von Leib und Seele, Materie und Geist. Aber auch die Möglichkeit eines freien Willens, sowie das Wesen mentaler Zustände, von Bewusstseinsinhalten und Emotionen (Qualia) wird hier untersucht. Weiterhin befasst sich dieses Gebiet mit der Beurteilung verschiedener Bewusstseinszustände, Überlegungen zu künstlicher Intelligenz, mit der Identität des Selbst und mit dem Problem eines möglichen Weiterlebens nach dem physischen Tod. Untersuchungsebenen sind die ontologische, die epistemologische, die semantische und die methodologische. Bekannte Vertreter dieser Problemfelder sind Gottfried Wilhelm Leibniz, Baruch de Spinoza, Alan Turing, Hilary Putnam, John Searle, Jaegwon Kim und Donald Davidson. Von großer philosophischer Bedeutung sind hier auch im Kontext des Buddhismus ausgearbeitete Theorien. Moderne philosophische Anthropologie Die moderne philosophische Anthropologie befasst sich mit dem Wesen des Menschen, und zwar vornehmlich nicht als Individuum, sondern als Gattungswesen. Da sie von Menschen selbst betrieben wird, ist sie eine (dialektische) Selbstreflexion, die gleichzeitig eine Innen- und eine Außenperspektive aufweist. Die Daseinssituation des Menschen wird unter Einbeziehung aller wichtigen einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse untersucht. Das Wesen des Menschen gibt viele Rätsel auf. Seine Stellung im Kosmos, das Verhältnis von Kultur zu Natur, Vereinzelung und Vergemeinschaftung, die Probleme der Geschlechtlichkeit, die Rolle von Liebe und Tod sind einige der Grundfragen der philosophischen Anthropologie. Ob der Mensch von Natur aus gut oder böse sei, ob Gewalt und Leid zwingend zur menschlichen Existenz gehören, ob das Leben überhaupt einen Sinn hat: all dies sind weitere Probleme dieser Disziplin. Sie untersucht aber auch grundsätzliche menschliche Bedürfnisse und Fähigkeiten wie Selbstverwirklichung, Kreativität, Neugier und Wissensdurst, Machtstreben und Altruismus, das Phänomen der Freiheit und die Wahrnehmung des Anderen. Wichtige Philosophen, die zu anthropologischen Problemen gearbeitet haben, sind Thomas von Aquin, Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Søren Kierkegaard, Max Scheler, Arnold Gehlen, Ernst Cassirer, Helmuth Plessner und die Vertreter der Existenzphilosophie. Besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben einige Philosophen Theorien über allgemeine Wesenszüge des Menschen kritisiert, darunter beispielsweise (mit unterschiedlicher Akzentuierung) Michel Foucault oder Jürgen Habermas. Rationalitäts-, Handlungs- und Spieltheorie Zu den aktuellen Problemen der philosophischen Forschung gehört die Analyse des menschlichen Handelns unter dem Gesichtspunkt der Vernünftigkeit. Dabei werden weniger die ethischen Motive berücksichtigt, sondern vielmehr rein mathematische Kosten-Nutzen-Abwägungen oder das logische Kalkül unter der Voraussetzung, dass der Mensch gewöhnlich rational handelt. Einige Philosophen verwenden die Spieltheorie, um Modelle für ethische Probleme zu entwickeln. Sowohl individuelle (z. B. das Gefangenendilemma), als auch gesellschaftliche Paradoxa (z. B. die Tragik der Allmende) lassen sich in diesem Rahmen, wenn schon nicht lösen, so doch verstehen. Die Handlungstheorie versucht, motivierte Handlungen zu erklären, so etwa, ob und wie es möglich ist, bei zwei alternativen Handlungen, frei und absichtlich die selbst für schlechter gehaltene zu wählen (Akrasia). Die Klärung des Begriffs „Rationalität“ ist, gerade wenn die Rationalität von Handlungen untersucht wird, ein in jüngerer Zeit umfänglich debattiertes Gebiet. In der Geschichte der Philosophie waren die Begriffe „Verstand“ und „Vernunft“, „ratio“ und „Intellekt“ oft strittig. An ihrer Bestimmung entschied sich oft, welche Konzeption von Philosophie vertreten wurde. In der Moderne ist „Rationalität“ in verschiedener Hinsicht zunehmend fragwürdig geworden, sodass die gegenwärtige Philosophie vor der Aufgabe steht, ihre eigene Minimalbestimmung kritisch zu hinterfragen. Philosophische Mystik Obwohl mystische Elemente in westlichen und östlichen philosophischen Traditionen oft präsent waren, ist der Begriff der „Philosophischen Mystik“ noch jung. Sie hält zum einen – ähnlich der Philosophia perennis – daran fest, dass es ewige, unveränderliche und universal gültige Wahrheiten bezüglich der Wirklichkeit und des Menschen zu erkennen gibt. Zum anderen betont sie, wie alle mystische Strömungen, den Vorrang des gegenwärtigen Hier-und-jetzt-Daseins, die Wichtigkeit der zweckfreien Kontemplation, die Würde der Schöpfung und die zentrale Bedeutung des Eingebettetseins der individuellen Existenz in das Ganze des Weltgefüges. In ihrer Arbeitsweise überschreitet sie die Grenzen von Vernunft und Verstand und betont auch erfahrbare, aber dennoch intersubjektiv mitteilbare und philosophisch behandelbare Gewissheiten. Zentrale Themen der philosophischen Mystik sind u. a. die Erfahrung der Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung, der Zusammenfall aller Gegensätze in Gott (coincidentia oppositorum), die mögliche Einheit des Menschen mit dem All-Ganzen (unio mystica) und die Spur des Göttlichen im menschlichen Wesen (scintilla animae). Einige westliche Philosophen, in deren Lehren sich mystische Elemente finden, sind Plotin, Meister Eckhart, Nikolaus von Kues, Jakob Böhme, Gottfried Wilhelm Leibniz, Blaise Pascal, Baruch de Spinoza, Martin Heidegger, Simone Weil und Ken Wilber. In der außereuropäischen, besonders der östlichen Philosophie, spielt die Mystik traditionell eine große Rolle. Typischerweise überwindet sie nicht nur die Grenzen der Philosophie, sondern auch die der Religion, so etwa im Zen, im Yoga, im Sufismus, in der Kabbala und in der christlichen Mystik. Philosophiegeschichte aus westlicher Perspektive Die Geschichte der westlichen Philosophie beginnt im 6. Jahrhundert v. Chr. im antiken Griechenland. Zu ihren wesentlichen Merkmalen gehört, dass immer wieder neue Antworten auf die philosophischen Grundfragen gefunden, begründet und diskutiert wurden. Dies lässt sich teils auf veränderte Bedürfnisse des jeweils herrschenden Zeitgeists, teils auf die fortdauernde Weiterentwicklung der übrigen Wissenschaften zurückführen. „Fortschritte“ im Sinne eines endgültigen Widerlegens oder Beweisens von Lehren macht die Philosophie aus Sicht mancher Philosophen allerdings kaum. Der Philosoph Alfred North Whitehead charakterisierte die Geschichte der europäischen Philosophie seit Aristoteles einmal als bloße „Fußnoten zu Platon“. Da philosophische Ideen und Begriffe nicht veralten, hat für die Philosophie die Untersuchung ihrer eigenen Geschichte eine weitaus größere Bedeutung als für die meisten anderen Wissenschaften. Antike In den Städten des antiken Griechenland kam es infolge kultureller Fortschritte und verstärkten Kontakts zu benachbarten Kulturen zu wachsender Kritik am traditionellen, vom Mythos geprägten Weltbild. In diesem geistigen Klima begann mit den Vorsokratikern – wie man die griechischen Philosophen vor oder zu Lebzeiten des Sokrates nennt – die Geschichte der westlichen Philosophie. Ihr nur bruchstückhaft überliefertes Denken ist von naturphilosophischen Fragen nach den Grundlagen der Welt bestimmt. Mittels einer Mischung aus Spekulation und empirischer Beobachtung versuchten sie, die Natur und die Vorgänge in ihr zu begreifen. Sie wollten alle Dinge auf ein ursprüngliches Prinzip (griechisch ἀρχή arché), und zwar einen „Urstoff“ zurückführen. So hielt der erste bekannte Philosoph Thales von Milet das Wasser für diesen „Urstoff“. Empedokles begründete die bis zum 18. Jahrhundert in der Naturphilosophie herrschende Lehre von den vier Elementen Wasser, Feuer, Erde und Luft, aus denen alle Dinge zusammengesetzt seien. Neben diesen Ansätzen gab es noch andere Modelle der Welterklärung. Pythagoras und seine Schule hielten die Zahl für das alles bestimmende Prinzip und nahmen damit einen wichtigen Grundsatz der modernen Naturwissenschaften vorweg. Heraklit betonte das Werden und Vergehen und sah als Grundlage der Wirklichkeit den Logos, ein einheitsstiftendes Prinzip der Gegensätze. Die Philosophie von Parmenides, der im Gegensatz dazu die Einheit und Unvergänglichkeit des Seins annahm, wird als Beginn der Ontologie aufgefasst. Mit dem Auftreten der Sophisten Mitte des 5. Jahrhunderts trat der Mensch in den Mittelpunkt philosophischer Betrachtung (Protagoras: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“). Sie beschäftigten sich besonders mit ethischen und politischen Problemen, etwa mit der Frage, ob Normen und Werte naturgegeben oder von Menschen festgelegt sind. Zu einem Leitbild der europäischen Philosophie wurde der Athener Sokrates (469–399 v. Chr.). Seine Methode der Mäeutik („Hebammenkunst“) bestand darin, dass Sokrates in scheinbarer Naivität seine Gesprächspartner durch eine tiefgründige und zielgerichtete Fragetechnik auf Widersprüche in ihrem Denken hinwies und zu Einsichten führte („beim Gebären unterstützte“), die ihnen zu einem philosophisch veränderten Blick auf die Welt verhalfen. Seine demonstrative geistige Unabhängigkeit und sein unangepasstes Verhalten trugen ihm ein Todesurteil wegen Gottlosigkeit und Verderbnis der Jugend ein (vgl. Apologie). Da Sokrates selbst nichts schriftlich festhielt, ist sein Bild maßgeblich von seinem Schüler Platon (ca. 428–347 v. Chr.) bestimmt worden, in dessen Werk Sokrates zentrale Bedeutung hat. Dieses weitestgehend in Dialogform abgefasste Werk bildet einen zentralen Ausgangspunkt der abendländischen Philosophie. Ausgehend von der sokratischen Was-ist-Frage („Was ist Tugend? Gerechtigkeit? Das Gute?“) schuf Platon die Ansätze einer Definitionslehre. Außerdem war er Urheber einer Ideenlehre, der die Vorstellung einer zweigeteilten Wirklichkeit zugrunde liegt: Dem mit den Sinnesorganen wahrnehmbaren dinglichen Objekt steht auf der Ebene der Ideen eine nur dem dafür empfänglichen Intellekt zugängliche abstrahierte, allgemeine Entsprechung gegenüber. Nach Platons Überzeugung führt das Wissen von diesen Ideen zu einem tiefergehenden Verständnis der gesamten Wirklichkeit. Platons Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.) verwarf die Ideenlehre als eine unnötige „Verdopplung der Welt“. Für ihn bestand das Wesen eines Dinges nicht in einer zusätzlich existierenden Idee, sondern in der Form, die dem Ding innewohnt. Seine Schule begann die gesamte erfahrbare Wirklichkeit – Natur und Gesellschaft – in verschiedene Wissensgebiete zu gliedern, zu analysieren und wissenschaftlich zu ordnen. Außerdem begründete Aristoteles die klassische Logik (Syllogistik), Wissenschaftssystematik und Wissenschaftstheorie. Dabei führte er philosophische Grundbegriffe ein, die bis in die Neuzeit maßgeblich blieben. Am Übergang vom 4. zum 3. Jahrhundert v. Chr. entstanden in Athen im Hellenismus zwei weitere philosophische Schulen, die in deutlicher Akzentverschiebung gegenüber der platonischen Akademie und dem aristotelischen Peripatos das individuelle Seelenheil in das Zentrum ihres Bemühens stellten: Für Epikur (ca. 341–270 v. Chr.) und seine Anhänger einerseits sowie für die Stoiker um Zenon von Kition andererseits diente Philosophie hauptsächlich dazu, mit ethischen Mitteln psychisches Wohlbefinden bzw. Gelassenheit zu erlangen. Epikur sah dafür ein maßvoll gestaltetes, wohldosiertes Genussleben vor, das sich von aller politischen Betätigung fernhielt. Die Stoiker erstrebten die Seelenruhe, indem gegenüber allen inneren und äußeren Herausforderungen Gleichmut bewahrt werden sollte. Dies sollte vor allem durch Kontrolle der Emotionen in Verbindung mit einer schicksalsbejahenden Grundhaltung im Einklang mit der Ordnung des Universums erreicht werden; zugleich wusste man um die Verpflichtungen gegenüber den Mitmenschen und der Gemeinschaft. Diese Lehre fand später Eingang in führende Kreise der Römischen Republik. Während die Anhänger der pyrrhonischen Skepsis grundsätzlich die Möglichkeit sicherer Urteile und unzweifelhaften Wissens bestritten, formte Plotin im 3. Jahrhundert Platons Ideenlehre um (Neuplatonismus). Seine Konzeption von der Abstufung des Seins (vom „Einen“ bis hinab zur Materie) bot dem Christentum mannigfaltige Anknüpfungsmöglichkeiten und war die vorherrschende Philosophie der Spätantike. Mittelalter Die Philosophie des Mittelalters sonderte sich nur allmählich von der Theologie ab und blieb auch dann wesentlich durch religiöse Institutionen, Lebensformen und Lehren geprägt. Sie orientierte sich methodisch und inhaltlich stark an Traditionen und Autoritäten. Fundament und Bezugsgröße bildeten im christlichen Kontext wesentlich die Lehren, welche die Kirchenväter der Patristik geschaffen hatten. Als maßgeblich erwiesen sich bis zum Beginn des Spätmittelalters vor allem die Ansichten des Augustinus von Hippo. Er fasste die Weltgeschichte als unablässigen Kampf des Reichs des Bösen gegen das Reich des Guten auf. Gesellschaft und Kirche, Theologie und Philosophie bilden demnach eine Einheit, die keine Zweifel an Entscheidungen der Kirche zulässt. Der „letzte Römer“ und „erste Scholastiker“ Boethius stand am Anfang der mittelalterlichen Versuche, eine Synthese zwischen dem platonischen und dem aristotelischen Denken zu bilden, begründete die mittelalterliche Logik, bildete Begriffe wie „Person“ oder „Natur“, löste den Universalienstreit aus und entwarf eine folgenreiche Wissenschaftskonzeption, an die etwa die Schule von Chartres anschloss. Während im Osten das griechischsprachige byzantinische Reich wichtige Teile des antiken Wissens bewahrte, beschränkte sich die bruchstückhafte Erhaltung des antiken Erbes im „lateinischen Westen“ bis zum Beginn des Spätmittelalters weitgehend auf die Kloster- und Domschulen. Bis 1100 traten nur wenige Philosophen hervor, darunter Anselm von Canterbury, der einen rein philosophischen Gottesbeweis formulierte, dem eine anhaltende Nachwirkung beschieden war. Seit dem späten 11. Jahrhundert erlebte die westliche Philosophie einen Aufschwung. Dabei spielte die Verbreitung von übersetzten Werken arabischsprachiger Philosophen, die ihrerseits an antike Traditionen anknüpften, eine wesentliche Rolle. Eines der Hauptthemen der mittelalterlichen Philosophie wurde schon früh der Universalienstreit. Dabei ging es um die Frage, ob Allgemeinbegriffe bloße gedankliche Abstraktionen und Konventionen zum Zweck der Verständigung sind oder ob sie eine eigenständige objektive Realität bezeichnen, wie die platonische Tradition mit ihrer Ideenlehre behauptet. Im Zusammenhang mit diesem Problemfeld setzten sich viele Denker intensiv mit der Sprachlogik auseinander; es entstand die „spekulative Grammatik“, die nach der Verbindung zwischen einer Theorie der Grammatik und einer Theorie der Wirklichkeit fragt. Viele Philosophen nahmen im Universalienstreit vermittelnde Positionen ein, darunter Petrus Abaelardus. Dieser trug viel zur Herausbildung der scholastischen Methode der Gegenüberstellung und Abwägung gegensätzlicher Lehrmeinungen bei. Im 13. Jahrhundert wurden zahlreiche bisher im Westen unbekannte Werke des Aristoteles in neuen Übersetzungen zugänglich; hinzu kamen die Schriften der arabischsprachigen Aristoteleskommentatoren. Sie wurden zur Grundlage des universitären Unterrichts. Besonders Albertus Magnus und sein Schüler Thomas von Aquin sorgten für die Verbreitung des Aristotelismus, der sich schließlich gegenüber dem bisher vorherrschenden Platonismus bzw. Augustinismus weitgehend durchsetzte und bis tief in die Frühe Neuzeit hinein die maßgebliche philosophische Richtung in der akademischen Welt blieb. Thomas begründete den Thomismus, einen großangelegten Versuch der Zusammenführung aristotelischer Philosophie mit den Lehren der katholischen Kirche. Während der Orden der Dominikaner schon früh diese zunächst noch verurteilte Konzeption durchsetzte, entwarfen besonders Denker der Franziskaner wie Johannes Duns Scotus Alternativen. Dieser erkannte u. a. die Eigenständigkeit der Philosophie gegenüber der Theologie an. Gegenstand der Metaphysik war für ihn nicht Gott (Averroes), sondern das Seiende als Seiendes (Avicenna). Darüber hinaus bestand er auf der Differenz zwischen geglaubtem und im Rahmen der Philosophie gedachtem Gott, was zahlreiche rein philosophische Beweisverfahren – etwa für die Unsterblichkeit der Seele – unmöglich machte. Konzepte, in denen geistige Erkenntnis nicht auf das Allgemeine, sondern auf das Einzelne abzielte, ermöglichten die Begründung einer erfahrungsorientierten Wissenschaft, wie sie auch ein anderer Vorläufer naturwissenschaftlichen Denkens, Roger Bacon, forderte: durch eine Abkehr von Spekulation und Autoritätsgläubigkeit. Ein weiterer Vorbereiter der Moderne war der prominenteste Vorkämpfer des Nominalismus, Wilhelm von Ockham, der im frühen 14. Jahrhundert einen neuen Weg in der Philosophie einschlug (via moderna). Marsilius von Padua begründete eine neue Staatstheorie, in der sich wichtige Ideen der Neuzeit (Gesellschaftsvertrag, Trennung von Kirche und Staat) ankündigten. Wichtigster Vertreter der christlichen Mystik des Mittelalters war Meister Eckhart, der sich als „Lebensmeister“ sah und die Bedeutung der praktischen Umsetzung philosophischer Erkenntnis im eigenen Lebensvollzug betonte. Ebenfalls in dieser Tradition stand Nikolaus von Kues, der an der Schwelle zur Neuzeit viele Entwicklungen der folgenden Jahrhunderte vorwegnahm. Seine Ideen, die von der Unerkennbarkeit Gottes bis zu den Gesetzen und Grenzen der Physik oder der Erkenntnis reichen, weisen auf spätere Denker wie Immanuel Kant, Isaac Newton und Albert Einstein voraus. Frühe Neuzeit Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit wird von der Renaissance und dem Humanismus markiert. In dieser Epoche konnte sich neben der breiten Strömung der traditionellen Scholastik allmählich die neuzeitliche Philosophie etablieren. Besonders die politische Philosophie geriet in der Renaissance in Bewegung: Niccolò Machiavellis These, die Ausübung politischer Herrschaft sei nicht unter moralischem, sondern allein unter dem Nützlichkeitsaspekt zu beurteilen, erregt noch heute Anstoß. Eine ganz andere Richtung schlug Thomas Morus ein, der in seiner Utopie (Utopia, 1516) einen Staat mit Bildung für alle, mit Religionsfreiheit und ohne Privateigentum entwarf, womit er einige Ideen der Moderne vorwegnahm. Während der Humanist Pico della Mirandola versuchte, eine grundsätzliche Übereinstimmung aller philosophischen Traditionen zu erweisen, wurde das Denken von Männern wie Johannes Kepler, Nikolaus Kopernikus oder Giordano Bruno von dem Versuch bestimmt, Philosophie und Naturwissenschaften miteinander zu verbinden. Vorstellungen wie das heliozentrische Weltbild, die des unendlichen Kosmos oder des Allgottglaubens stießen dabei auf heftigen Widerstand der Kirche. Das naturwissenschaftliche Weltbild, die Methoden der Mathematik und der Glaube an die Vernunft bestimmten die Philosophie der Neuzeit im 17. und 18. Jahrhundert. In der Theorie nahm sie die politischen Umbrüche vorweg, die dann in der Französischen Revolution gipfelten. Der Welterklärung des Rationalismus liegen „vernünftige Schlussfolgerungen“ zugrunde, somit auch dem von René Descartes (1596–1650) begründeten Cartesianismus. Sein Satz „Ich denke, also bin ich“, mit dem er den unbezweifelbaren Ursprung aller Gewissheiten gefunden zu haben glaubte, gehört zu den bekanntesten philosophischen Thesen. Denker wie Spinoza und Leibniz entwickelten seinen Ansatz in großen metaphysischen Systementwürfen (vgl. Monade) weiter. Diese erkenntnistheoretische Vorgehensweise wurde auf alle Teilgebiete der Philosophie angewendet; man versuchte, selbst die elementaren Grundsätze menschlicher Moral aus „vernünftigen“ Überlegungen abzuleiten, die so zwingend seien wie geometrische Beweise (Ethica, ordine geometrico demonstrata, 1677). Bei dem Theorietyp des Empirismus werden nur solche Hypothesen anerkannt, die sich auf „sinnliche Wahrnehmung“ zurückführen lassen. Ihm verpflichtet waren u. a. Thomas Hobbes, John Locke und David Hume. Das Prinzip der Ableitung aller Erkenntnis aus Sinneserfahrungen hat als Grundlage des naturwissenschaftlichen Arbeitens eine überragende Bedeutung bis in die Gegenwart. So ist auch die analytische Philosophie in dieser Denktradition verwurzelt. Die emanzipatorisch-bürgerliche Bewegung der Aufklärung erhob die Vernunft zur Grundlage aller Erkenntnis und zum Maßstab allen menschlichen Handelns. Sie forderte die Menschenrechte ein und dachte über die Wiederherstellung einer „unverfälschten natürlichen Lebensweise“ nach. Sie trat für staatliche Gewaltenteilung (Montesquieu) und Mitspracherechte insbesondere des Bürgertums ein. Eine theoretische Basis dafür war die Idee eines Gesellschaftsvertrags (z. B. bei Jean-Jacques Rousseau); Verfassungen sollten die neuen Rechte absichern. Die französischen Aufklärer Voltaire und Diderot kritisierten die Macht der Kirche und der absolutistischen Monarchen. Die Enzyklopädisten (d'Alembert) versuchten erstmals, das gesamte Wissen ihrer Zeit in einem Lexikon zusammenzufassen. Radikalere Vertreter der französischen Aufklärung waren Holbach, der erstmals eine naturalistische Sicht des Menschen im Sinne der Naturwissenschaft ohne Gott und Metaphysik entwarf, La Mettrie, der den Menschen als Maschine und Lust als Lebensziel ansah, und Sade, der aus beiden die Konsequenz zog, jegliche allgemein verbindliche Ethik zu verneinen. Schließlich erarbeitete einer der zentralen Philosophen der Neuzeit, Immanuel Kant, seine von vielen Zeitgenossen als revolutionär empfundene Erkenntniskritik. Sie besagt, dass wir nicht die Dinge selbst erkennen können, sondern immer nur deren Erscheinungen, die von den Möglichkeiten, die der Verstand und die Sinne bieten, vorgeformt werden. Danach ist jede Erkenntnis immer vom erkennenden Subjekt abhängig. Auch Kants weitere Arbeiten u. a. zur Ethik („kategorischer Imperativ“), Ästhetik und zum Völkerrecht (Zum ewigen Frieden, 1795/96) hatten erhebliche Bedeutung für die nachfolgenden Jahrhunderte. 19. Jahrhundert Ein Teil der Philosophie war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von dem Streben geprägt, die Erkenntnisse Kants zu „vollenden“, zu „verbessern“ oder zu übertreffen. Kennzeichnend für den Deutschen Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) sind die allumfassenden spekulativen metaphysischen Systeme, in denen das „Ich“, das „Absolute“ bzw. der „Geist“ die Grundlagen der Welt bestimmen. Eine andere Richtung schlugen empiristisch geprägte Strömungen wie der Positivismus ein, der die Welt allein mit Hilfe der empirischen Wissenschaften, d. h. ohne Metaphysik erklären wollte. In England erarbeiteten Bentham und Mill den Utilitarismus, der der Ökonomie und der Ethik durch ein konsequentes Kosten-Nutzen-Konzept und mit der Idee einer Art „Wohlstand für alle“ (das Prinzip des größten Glücks der größten Zahl) wichtige Impulse gab. Die Ökonomie steht neben der Geschichtsphilosophie auch im Mittelpunkt der Philosophie von Marx, der im Anschluss an Hegel und die Materialisten den Kommunismus begründete. Marx forderte, theoretische Reflexionen an der Umgestaltung der konkreten sozialen Verhältnisse zu messen: Prominente Denker, die neue Wege einschlugen, waren Arthur Schopenhauer, Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche. Schopenhauer betonte im Anschluss an die indische Philosophie die Priorität und Übermacht des Willens gegenüber der Vernunft. Seine pessimistische Weltsicht, die von der Erfahrung des Leidens bestimmt ist, geht auch von buddhistischen Vorstellungen aus. Friedrich Nietzsche, der wie Schopenhauer großen Einfluss auf die Künste hatte, bezeichnete sich selbst als Immoralisten. Für ihn waren die Werte der überkommenen christlichen Moral Ausdruck von Schwäche und Dekadenz. Er thematisierte Ideen des Nihilismus, des Übermenschen und der „ewigen Wiederkunft“, der endlosen Wiederholung der Geschichte. Der religiöse Denker Sören Kierkegaard war in mancher Hinsicht ein Vorläufer des Existenzialismus. Er vertrat einen radikalen Individualismus, der nicht danach fragt, wie man grundsätzlich richtig handeln könne, sondern wie man sich als Individuum in der jeweils konkreten Situation zu verhalten habe. 20. Jahrhundert Die Philosophie des 20. Jahrhunderts zeichnete sich durch ein großes Spektrum von Positionen und Strömungen aus. In seinen Anfängen war dieses Jahrhundert von einer starken Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigkeit geprägt. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – das auf gesellschaftlicher Ebene die Erfahrung der beiden Weltkriege, der Shoa und der Bedrohung des Planeten durch Kernwaffen gebracht hatte und das die Gefährdung der Ökosysteme durch den Menschen selbst hat hervortreten lassen – kamen die nach Rousseau weitgehend an den Rand gedrängten Fortschrittsskeptiker auch in der Philosophie wieder stärker zur Geltung. Die enormen Erfolge der Technik im 19. Jahrhundert führten zu einem Erstarken neopositivistischer Positionen. Der logische Empirist Rudolf Carnap plädierte dafür, die Philosophie gänzlich durch eine „Wissenschaftslogik“ – d. h. durch die logische Analyse der Wissenschaftssprache – zu ersetzen. Der kritische Rationalist Karl Popper argumentierte, dass wissenschaftlicher Fortschritt vor allem durch Widerlegung einzelner Theorien durch Experimente („Falsifizierung“) geschehe. Seiner Ansicht nach setzen sich in einem evolutionsartigen Selektionsprozess diejenigen wissenschaftlichen Theorien durch, die der Wahrheit am nächsten kommen. Thomas S. Kuhn hielt dagegen verschiedene Theorien zur selben Frage prinzipiell für unvergleichbar, eine Überlegenheit der einen über die andere daher für nicht sachlich begründbar, wodurch die Dominanz einer Theorie eine Sache der Rhetorik würde. In eine ähnliche Richtung ging auch das Plädoyer Paul Feyerabends für methodische Freiheit. Für den Pragmatismus schließlich müssen Theorien unter dem Gesichtspunkt ihrer Brauchbarkeit und Anwendbarkeit in der Praxis beurteilt werden. Als Reaktion auf die zunehmende Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche können jene Denkströmungen verstanden werden, die sich dem Einzelnen und dem Leben zuwenden. So war das Grundverständnis der Lebensphilosophie, dass sich die Ganzheitlichkeit des Lebens nicht allein durch Wissenschaft, Begriffe und Logik beschreiben lässt. Henri Bergson etwa sah einen fundamentalen Unterschied zwischen der individuell erlebten Zeit und der analytischen Zeit der Naturwissenschaft. Ähnlich kritisch forderte auch Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie, dazu auf, sich bei der analytischen Betrachtung der Dinge zunächst an das zu halten, was dem Bewusstsein unmittelbar erscheint, um eine vorschnelle Weltdeutung zu vermeiden. Von großem Einfluss war die Existenzphilosophie seines Schülers Martin Heidegger. Dessen Ausgangspunkt war die Analyse der allgemeinen menschlichen Befindlichkeit und führte ihn zu der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt. Im Anschluss an Heidegger vertrat der Existenzialismus, insbesondere repräsentiert durch Jean-Paul Sartre, die These, dass der Mensch „zur Freiheit verurteilt“ sei. Er müsse mit jeder seiner Handlungen eine Wahl treffen, für die er selbst verantwortlich sei. Das 20. Jahrhundert war von sozialen Umwälzungen und dem Konflikt zwischen Sowjetkommunismus und westlich-kapitalistischen Gesellschaftsformen geprägt. Im Zuge dieser Auseinandersetzung, die im Kalten Krieg kulminierte und mit der Globalisierung weltweite Dimensionen annahm, wurden geschichts- und sozialphilosophische Fragestellungen in der philosophischen Debatte stark akzentuiert. Das von Karl Marx am Ende aller Klassenkämpfe in Aussicht gestellte „Reich der Freiheit“ suchte Ernst Bloch in Prinzip Hoffnung als konkrete Utopie zu erweisen, die gegenüber allen vorherigen Utopien den Vorzug habe, auf dem Fundament des Dialektischen Materialismus zu gründen. Auch Herbert Marcuse und die Begründer der Kritischen Theorie, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, entwickelten ihre philosophischen Ansätze zur Entfremdungsproblematik vor dem Hintergrund der Gesellschaftsanalysen von Marx und Engels. Mit Jürgen Habermas hat die auch als Frankfurter Schule bezeichnete Kritische Theorie einen Philosophen hervorgebracht, der mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns und dem Ideal des „herrschaftsfreien Diskurses“ ebenfalls dem Leitbild einer aus Abhängigkeitsverhältnissen befreiten Gesellschaft verpflichtet ist, dabei aber die chancenreichen Potentiale der westlichen Demokratien schätzt. Vor den Gefahren eines „atomistischen Individualismus“ in modernen Gesellschaften warnt der Vordenker des Kommunitarismus Charles Taylor, der den Weg zur Erhaltung bzw. Schaffung humaner gesellschaftlicher und gesamtökologischer Lebensbedingungen in einer noch zu findenden Balance zwischen Individualrechten und Gemeinschaftspflichten der Menschen sieht. Gegenwart Die Philosophie der Gegenwart steht vor dem Problem, ihren Gegenstand überhaupt zu erfassen, da eine rückblickende Bewertung der verschiedenen Ansätze noch nicht vorzunehmen ist. Die Wissenschaftstheorie ist jedoch weiterentwickelt worden, indem sie klarere Begriffe von „Bestätigung“ und „Theorienreduktion“ prägte. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird der Sprache eine zunehmend zentrale Stellung in der Philosophie eingeräumt. Ludwig Wittgenstein entwarf ein völlig neues Verständnis von Sprache, die er als ein unüberschaubares Konglomerat einzelner „Sprachspiele“ begriff. Dabei behandle die Philosophie nur „Scheinprobleme“, d. h. sie heile lediglich ihre eigenen „Sprachverwirrungen“. Philosophieren sei also keine „erklärende“, sondern eine „therapeutische“ Tätigkeit: Die anfangs vorwiegend sprachphilosophisch orientierte analytische Philosophie dominiert in angelsächsischen Kontexten und zunehmend auch im deutschen Sprachraum die Methode akademischer Philosophie. An den meisten Universitäten herrscht jedoch ein ausgeprägter Pluralismus bezüglich der gelehrten philosophischen Themen und Strömungen. In den deutschsprachigen Ländern eher wenig beachtet, stellt auch die Neuscholastik, vor allem der Neuthomismus, weltweit eine einflussreiche Strömung der Gegenwartsphilosophie dar, seitdem die katholische Kirche diese Ende des 19. Jahrhunderts zum offiziellen Lehrinhalt u. a. der Priesterausbildung erhoben hatte. Die Postmoderne (z. B. Gilles Deleuze, Jean-François Lyotard, Jean Baudrillard, Jacques Derrida) ist eine Gegenbewegung zu den Ideen der Moderne und betont die Differenzen von Denk- und Lebenswelten. Auch die menschliche Identität schätzt sie als instabil ein. Die der Postmoderne nahestehende feministische Philosophie zielt auf die Abhängigkeit der Weltinterpretation vom Geschlecht. Lehr- und Forschungsbetrieb Der philosophische Lehr- und Forschungsbetrieb umfasst die wissenschaftlichen Einrichtungen des Faches Philosophie. In Europa handelt es sich dabei meist um vom Staat finanzierte philosophische Institute, die Teil einer Universität sind. Ihre wissenschaftlichen Aufgaben sind erstens die Organisation eines Lehrbetriebs, der von Interessenten im Rahmen eines gesetzlich geregelten Studiums durchlaufen werden kann und zweitens die Forschung. Dazu haben die Institute bezahlte Stellen zur Verfügung, sowohl für wissenschaftliche Angestellte wie für Verwaltungsbeamte. Neben den Universitäts-Instituten existieren eigene philosophische Einrichtungen wie beispielsweise die Hochschule für Philosophie München. Im Jahr 2011 waren in Deutschland 1.191 Philosophen in Vollzeit angestellt, 2002 waren es noch 869. 2008 gab es an über 150 Lehrstühlen etwa 330 Professoren. In demselben Jahr studierten ungefähr 15.000 Personen Philosophie. Diese Zahl ging gegenüber 1996, als 24.000 Personen studierten, deutlich zurück, wodurch sich das Betreuungsverhältnis erheblich verbesserte. In Österreich kann an den Universitäten Wien, Graz, Innsbruck, Salzburg und Klagenfurt Philosophie studiert werden. 2010 gab es insgesamt 3.651 Eingeschriebene. Das größte Institut befindet sich an der Universität Wien. Siehe auch Didaktik der Philosophie Forschungsfrage Frauen in der Philosophie Liste philosophischer Schulen Philosophische Fakultät Philosophische Praxis Zeittafel zur Philosophiegeschichte Literatur Einführungen Arno Anzenbacher: Einführung in die Philosophie. 10. Auflage. Herder, Freiburg i.Br. u. a. 2004, ISBN 3-451-27851-0 (bewährte Einführung, die historische und systematische Aspekte verbindet, von einem Theologen geschrieben) Kwame Anthony Appiah: Thinking it Through – An Introduction to Contemporary Philosophy. Oxford University Press, Oxford u. a. 2003, ISBN 0-19-516028-2 (Systematische Einführung mit konsequenter Anwendung der sokratischen Methode) Karl Bärthlein: Zur Geschichte der Philosophie. Band 2: Von Kant bis zur Gegenwart. Kastellaun 1983. Peggy H. Breitenstein, Johannes Rohbeck (Hrsg.): Philosophie: Geschichte – Disziplinen – Kompetenzen. Metzler, Stuttgart/Weimar 2011, ISBN 978-3-476-02299-8 (aus Bachelor-Vorlesungen entstandener systematischer und historischer Überblick auf gehobenem Niveau) Rafael Ferber: Philosophische Grundbegriffe. 2 Bände. Beck, München 2003, ISBN 3-406-45654-5 (Einführung in die zentralen Begriffe der Philosophie) Johannes Hübner: Einführung in die theoretische Philosophie. J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2015. Thomas Nagel: Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie. Neudruck. Reclam, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-008637-X (kurze, dichte Einführung anhand philosophischer Alltagsprobleme: Sinn des Lebens, Gerechtigkeit usw.) David Papineau (Hrsg.): Philosophie. Eine illustrierte Reise durch das Denken. WBG, Darmstadt 2006, ISBN 3-89678-565-6 eRef Hans Reiner: Philosophieren. Eine Einleitung in die Philosophie. PAIS-Verlag, Oberried 2002, ISBN 978-3-931992-15-6. Jay Rosenberg: Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger. Klostermann, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-465-01718-8 (Anleitung zum Philosophieren) Jens Soentgen: Selbstdenken! Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2003, ISBN 3-87294-943-8 (insbesondere an jüngere Leser gerichtete Einführung in die Philosophie mit Vorstellung der wichtigsten Philosophen) Elisabeth Ströker, Wolfgang Wieland (Hrsg.): Handbuch Philosophie. 10 Bände. Alber, Freiburg/München 1981–1996. (Jeder Band behandelt eine philosophische Disziplin) Lukas Trabert (Hrsg.): Philosophischer Wegweiser. Alber, Freiburg/München 2010, ISBN 978-3-495-48500-2 (101 Autoren äußern sich zu Fragen nach der heutigen und zukünftigen Bedeutung der Philosophie und nach ihrem Selbstverständnis als Philosophen. Sie geben weiterhin darüber Auskunft, was sie für besonders lesenswert halten und welche Thesen sie gerne diskutieren möchten.) Stefan Jordan, Christian Nimtz (Hrsg.): Grundbegriffe der Philosophie. Reclam-Verlag premium 2019, ISBN 978-3-15-019630-4 (Auflistung der wichtigsten Grundbegriffe der Philosophie mit umfangreicher Erläuterung) Hilfsmittel/Nachschlagewerke Kompakte Lexika Robert Audi (Hrsg.): The Cambridge dictionary of philosophy. Cambridge Univ. Press, Cambridge 1995, 1999, ISBN 0-521-63136-X, ISBN 0-521-63722-8 (kompaktes Handlexikon; umfangr. Register) Walter Brugger und Harald Schöndorf (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Alber, Freiburg / München 2010, ISBN 978-3-495-48213-1 (vollständige Überarbeitung von Bruggers Wörterbuch, Schwerpunkt auf Antike, Scholastik und Klassische neuzeitliche Philosophie.) Martin Gessmann (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch. Begründet 1965 von Heinrich Schmidt. 23., vollständig von Martin Gessmann neu bearbeitete Auflage 2009, Kröner Verlag Stuttgart, ISBN 978-3-520-01323-1 ( Nachfolgeauflage der von Georgi Schischkoff bearbeiteten 19. Auflage: Philosophisches Wörterbuch. Kröner, Stuttgart 1974; Nachdruck 1991 (22. Aufl.), ISBN 3-520-01322-3) Ted Honderich (Hrsg.): The Oxford Companion to Philosophy. Oxford University Press, Oxford 2005 (2. Aufl.), ISBN 0-19-926479-1 (kompaktes Handbuch) Anton Hügli, Poul Lübcke (Hrsg.): Philosophielexikon. Personen und Begriffe der abendländischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2013 (6. 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Meiner, Hamburg 2011, ISBN 978-3-7873-2146-9 (ermöglicht vergleichenden Zugriff auf die Abfolge zunächst unverbundener, dann aber doch in möglicher Wechselwirkung stehender Veröffentlichungen.) Alexander Ulfig: Lexikon der philosophischen Begriffe. Komet, Köln 2003, ISBN 3-89836-373-2 (umfassendes, leicht verständliches Nachschlagewerk zur Philosophie von der Antike bis heute) Franco Volpi, Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): Lexikon der philosophischen Werke (= Kröners Taschenausgabe. Band 486). Kröner, Stuttgart 1988, ISBN 3-520-48601-6 (handlich, mit informativen Einstiegsinformationen) Umfängliche Nachschlagewerke Donald M. Borchert (Hrsg.): Encyclopedia of Philosophy. 10 Bände. 2. Auflage. Thomson Gale, Macmillan Reference, Detroit [u. a.] 2006, ISBN 0-02-866098-6; auch in elektronischer Form erhältlich (aktuelles Standardwerk) Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter [u. a.], fortgeführt von Karlfried Gründer [u. a.] [= 2. Auflage von: Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe], I-XII Basel [und Darmstadt] 1971–2005. (Das umfassendste Werk seiner Art, deutschsprachiges Standardwerk) Jürgen Mittelstraß mit Martin Carrier (Band 3–4) und Gereon Wolters (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. 4 Bände. (Mannheim/)Stuttgart/Weimar (1984) 1995–1996; Nachdruck ebenda 2004; Gesamtwerk in acht Bänden: Metzler, Stuttgart 2005 ff., 2., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, ISBN 978-3-476-02108-3 (wissenschaftsorientiert, stark im Bereich Logik und Mathematik) Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. 3 Bände. Meiner, Hamburg 2010, ISBN 978-3-7873-1999-2 (Nur umfassende Artikel zu Sachthemen) Edward Craig (Hrsg.): The Routledge Encyclopedia of Philosophy. 10 Bde. Routeledge, London 1998. (ein sehr umfangreiches Nachschlagewerk; auch als einbändige, allerdings sehr knappe Kurzfassung erschienen; außerdem auf CD-ROM erhältlich und als Online-Version) Hermann Krings, Hans Michael Baumgartner, Christoph Wild (Hrsg.): Handbuch Philosophischer Grundbegriffe. 3 Bde. (Studienausgabe: 6 Bde.) Kösel, München 1973–74. auf CD-ROM (PDF-Dateien): 2., vollständig durchgesehene Auflage 2003, ISBN 978-3-936532-22-7 in Nachfolge: Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hrsg. von Petra Kolmer und Arnim G. Wildfeuer. Karl Alber, Freiburg i. Br. / München 2011 ff. Band 1 (A–F), ISBN 978-3-495-48222-3 (195 Autoren behandeln in 215 Abhandlungen Grundbegriffe der Philosophie.) Franco Volpi (Hrsg.): Großes Werklexikon der Philosophie. 2 Bde. Jubiläumsausgabe. Kröner, Stuttgart 2004, ISBN 3-520-83901-6 Dictionnaire des philosophes. 2 Bde. 2. Aufl. Hrsg. v. Denis Huisman. Presses universitaires de France, Paris 1993, ISBN 2-13-045524-7 Ernst R. Sandvoss: Geschichte der Philosophie, Directmedia Publishing, Berlin 2007, Digitale Bibliothek, CD-ROM, KDB Band 47, ISBN 978-3-89853-347-8 Literaturempfehlungen Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller (Hgg.): Warum noch Philosophie? Historische, systematische und gesellschaftliche Positionen, Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2011, ISBN 978-3-11-022375-0. Annemarie Pieper, Urs Thurnherr: Was sollen Philosophen lesen? Schmidt, Berlin 1994, ISBN 3-503-03079-4 Norbert Retlich: Literatur für das Philosophiestudium. Metzler, Stuttgart u. a. 1998, ISBN 3-476-10308-0 Robert Zimmer: Basis Bibliothek Philosophie. Hundert klassische Werke. Reclam, Stuttgart 2003, ISBN 978-3-15-020137-4 Periodika Liste der Philosophiezeitschriften. Weblinks Hilfsmittel Hauptseite der Stanford Encyclopedia of Philosophy Handwörterbuch Philosophie Online Hauptseite der Internet Encyclopedia of Philosophy des Dictionary of the History of Ideas Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1904) Friedrich Kirchner: Wörterbuch der philosophischen Grundbegriffe (1907) → Hilfsmittel zur Geschichte der Philosophie siehe dort. Zeitschriften Information Philosophie – Portal der Zeitschrift im Internet mit Nachrichten und Informationen Notre Dame Philosophical Reviews − Onlinemagazin mit Buchbesprechungen der aktuellen Forschungsliteratur (englisch) Philosophia: E-Journal of Philosophy and Culture – Onlinemagazin (en, de, bg, fr) → Liste der Philosophiezeitschriften Medien Sammlung von Mitschnitten von Vorträgen u. ä. in der Philosophischen Audiothek (MP3) Paul Hoyningen-Huene: Einführung in die Theoretische Philosophie (YouTube) Dietmar Hübner: Einführung in die Praktische Philosophie (YouTube) Sonstiges deutschlandfunk.de, Essay und Diskurs, 25. Dezember 2016, Carlos Fraenkel im Gespräch mit Thomas Kretschmer: Philosophie-Workshops: Über die Unverzichtbarkeit der Philosophie in einer zerrissenen Welt (PDF; 47 kB) Studienführer Philosophie – sortiertes Verweisverzeichnis philosophischer Institute (mit Karte) Zwölf Klassiker der Philosophie – in je einem Satz In: Philomag, 15. Juni 2021 Thomas Grundmann: Hinweise zum strukturierten Lesen von philosophischen Texten (DOC-Datei; 50 kB) und Grundregeln für das Verfassen philosophischer Arbeiten (Word-Dokumente, 51 und 47 kB; DOC-Datei) Peter Suber: Metaphilosophy – Kursunterlagen (engl.) Einzelnachweise ! Wissenschaftliches Fachgebiet Namensgeber (Asteroid)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke%20Neustadt%E2%80%93Wissembourg
Bahnstrecke Neustadt–Wissembourg
|} Die Bahnstrecke Neustadt–Wissembourg, vor allem im 19. Jahrhundert „Pfälzische Maximiliansbahn“ oder „Maxbahn“ genannt, ist eine Bahnstrecke in Rheinland-Pfalz und zu einem kleinen Teil im französischen Elsass. Sie verläuft von Neustadt an der Weinstraße über Landau in der Pfalz und Winden (Pfalz) nach Wissembourg (deutsch: Weißenburg). Der größte Teil der Strecke ist als Hauptbahn klassifiziert, nur der Abschnitt von Winden bis Wissembourg ist eine Nebenbahn. Den Namen „Maximiliansbahn“ erhielt sie von der Pfälzischen Maximiliansbahn-Gesellschaft, welche die Bahn gebaut hat, und als deren Stammstrecke sie fungierte. Sie wurde nach dem damals regierenden bayerischen König Maximilian II. benannt. Seit den 1990er Jahren wird der historische Name „Pfälzische Maximiliansbahn“ vor allem vonseiten der Deutschen Bahn wieder benutzt und zusätzlich auf die benachbarte Bahnstrecke Winden–Karlsruhe angewendet. In den ersten Jahrzehnten diente die Strecke vor allem dem Kohletransport ins Elsass und in die Schweiz. Zudem war sie Teil einer Fernverkehrsmagistrale in Nord-Süd-Richtung. Sowohl im Deutsch-Französischen Krieg als auch im Ersten und Zweiten Weltkrieg erlangte sie strategische Bedeutung. Durch die dauerhafte Zugehörigkeit des Elsass zu Frankreich nach den beiden Weltkriegen verlor die Strecke die Bedeutung für den Fernverkehr. Darüber hinaus orientierten sich die Verkehrsströme ab Winden vom Ende der 1930er Jahre an zunehmend in Richtung Karlsruhe. Als Folge dieser Entwicklungen geriet vor allem der Abschnitt Winden–Wissembourg ins Abseits. Dort wurde der Personenverkehr 1975 eingestellt, jedoch 1997 reaktiviert. Inzwischen dient die gesamte Strecke von Neustadt bis Wissembourg ausschließlich dem Regionalverkehr. Der Güterverkehr wurde ab den 1980er Jahren deutlich reduziert und beschränkt sich auf den Abschnitt Neustadt–Landau. Geschichte Vorgeschichte Erste Überlegungen zum Bau der Bahnstrecke gab es im Jahr 1829. Ursprünglich war geplant, innerhalb der Pfalz zuerst eine Bahnstrecke in Nord-Süd-Richtung einzurichten. Vorgesehen war eine Magistrale von Straßburg nach Mainz, die ein linksrheinisches Gegenstück zu der Linie von Mannheim bis Basel bilden sollte. Ins Spiel gebracht wurden unterschiedliche Trassierungen, wobei jedoch die in unmittelbarer Nähe des Rheins favorisiert wurde. Auf Initiative Preußens entstanden Pläne einer pfälzischen Ost-West-Verbindung, hauptsächlich für den Kohletransport aus der Saargegend zum Rhein. Als Resultat dieser Pläne entstand von 1847 bis 1849 die Pfälzische Ludwigsbahn von der Rheinschanze (ab 1843: Ludwigshafen) nach Bexbach, die ab 1852 eine Fortsetzung bis nach Saarbrücken erhielt. Anschließend gab es heftige Diskussionen, ob eine Strecke in unmittelbarer Gebirgsnähe von Neustadt über Landau nach Wissembourg oder eine Strecke am Rhein über Speyer, Germersheim und Wörth dringender und wünschenswerter sei. Bereits im Mai 1847 hatte sich das Elsass für eine Streckenführung über Wissembourg ausgesprochen. In der Folgezeit wurde in der Pfalz diskutiert, ob die Strecke über Germersheim nach Speyer oder über Landau in das damalige Neustadt an der Haardt weitergeführt werden sollte. Vor allem das Militär bevorzugte die Streckenführung am Rand des Pfälzerwalds. Allerdings kam das Projekt durch die politischen Ereignisse des Jahres 1848 zunächst zum Erliegen. Im Januar 1850 erschien in Neustadt eine Broschüre, die einen Schienenweg über Landau nach Wissembourg propagierte und unter anderem mit der größeren Siedlungsdichte gegenüber den unmittelbar am Rhein liegenden Gebieten argumentierte. Am 13. Dezember 1851 folgte ein entsprechender Bericht. Die Entscheidung fiel 1852 schließlich aufgrund von Gutachten und Untersuchungen zugunsten der sogenannten „Gebirgslinie“. Am 3. November desselben Jahres gab der damalige bayerische König Maximilian II. grünes Licht für den Bau, indem er die Gründung der Pfälzischen Maximiliansbahn-Gesellschaft als Aktiengesellschaft genehmigte, die das Projekt in Angriff nahm. Bereits am 19. Juli hatte eine Generalversammlung festgelegt, die Strecke nach dem amtierenden König „Maximiliansbahn“ zu nennen. Planung Bei der Festlegung der Streckenführung war vor allem ein reibungsloser Ablauf des Güterverkehrs ausschlaggebend. Bei den anfänglichen Erhebungen zogen die Planer südlich von Landau eine Trasse über die ehemalige Residenzstadt Bergzabern in Erwägung. Aufgrund des sehr unebenen Geländes und der daraus resultierenden höheren Kosten sahen sie jedoch von deren Realisierung ab. Stattdessen sollte die Strecke über Rohrbach, Winden und Schaidt ins Elsass führen, da die Hügellandschaft in diesem Bereich moderater ausgeprägt war und die Mulden dort weniger Probleme bereiteten. Es waren weniger Eingriffe ins Erdreich erforderlich als bei einer Streckenführung über Bergzabern. Mancherorts gestaltete sich der Erwerb des Geländes nicht reibungslos. Deshalb fanden Ende 1852 Zwangsenteignungen statt. Mit den betroffenen Gemeinden waren Verhandlungen über den Ankauf der Grundstücke, bei denen es sich teilweise um landwirtschaftlich genutzte Flächen handelte, nötig. Es kam jedoch zu keinen größeren Schwierigkeiten bei der Vermessung und beim Grunderwerb. Die betroffenen Bürgermeisterämter veranlassten die Räumung der Grenzsteine auf den Parzellen im Bereich der künftigen Bahnstrecke. Die Grundstückseigentümer mussten auf ihrem Territorium Pflöcke mit ihren Namen anbringen. Die finanzielle Entschädigung folgte kurze Zeit später. Da die Bahnlinie als Transitstrecke geplant war, sollten nur wenige Unterwegsstationen entstehen. Zudem sollte sie von allen Orten, die sie anband, eine möglichst gleichmäßige Entfernung haben. Zunächst waren zwischen Neustadt und Landau lediglich in Kirrweiler und Edesheim Bahnhöfe geplant, was in der Stadt Edenkoben für Empörung sorgte. Die Proteste hatten Erfolg und Edenkoben fand als Standort eines Bahnhofs ebenfalls Berücksichtigung. Zwischen Edesheim und Landau erhielt die Strecke auf Initiative der Gemeinde Essingen eine Trasse, die weit von ihrem Siedlungsgebiet entfernt lag und stattdessen die Nachbargemeinde Knöringen anband. Bau 44,55 Kilometer befanden sich auf pfälzischen Terrain und 2,36 innerhalb des Elsass. Die Leitung der Arbeiten hatte Paul Camille von Denis inne, der bereits für den Bau der Ludwigsbahn, von der die Strecke abzweigt, verantwortlich war. 1853 wurde unter der Federführung von Denis außerdem je ein Sektionsbüro in Edesheim, das Moritz Hilf und in Winden, das Francois Alfons Dambrun unterstand, eingerichtet. Die Hochbauten entlang der Strecke, insbesondere die Empfangsgebäude, stammten von Ignaz Opfermann. Der Bau im Bereich der zu überbrückenden Lauter, die damals die Grenze zwischen Bayern und dem zu Frankreich gehörenden Elsass bildete, musste zwischen beiden Ländern koordiniert werden. Die Brücke über den Grenzfluss bedurfte einer Genehmigung des Bundestages, da sie aufgrund der Tatsache, dass sie ins Gebiet außerhalb des Deutschen Bundes führte, vom Militär überprüft werden musste. Das bayerische Außenministerium sandte ein diesbezügliches Schreiben an den Bund. Das Terrain war sehr wellenartig, auf einer Länge von 21,48 Kilometern stieg die Strecke an, 13,15 Kilometer waren Gefälle und lediglich knapp 10 Kilometer verliefen horizontal. Dies erforderte eine Bewegung von insgesamt 1,35 Millionen Kubikmeter Erde und die Errichtung von mehr als 100 Kunstbauwerken wie Brücken, Dämme und Überführungen. Die Trassierung im Bereich der Stadt Landau gestaltete sich schwierig, da die Bahnlinie auf dem Terrain der dortigen Festung verlaufen sollte. Der Bau ging kontinuierlich von Norden nach Süden vonstatten. Arbeiter, Schienen und Schwellen wurden per Zug entlang des bereits verlegten Gleises transportiert. In Neustadt entstand für die Maximiliansbahn zusätzlich eine kombinierte Lokomotiv-Remise mit Magazin und ein Werkstattgebäude mit Beamtenwohnung. Die gesamten Baukosten einschließlich der Erweiterungen im Bahnhof Neustadt betrugen 4.183.173 Gulden und 52 Kreuzer. Dem standen Einnahmen aus Aktienemissionen und Verzinsung aus Aktienkapital in Höhe von 4.462.193 Gulden und 42 Kreuzer gegenüber, sodass sich ein Überschuss von 279.019 Gulden und 50 Kreuzer ergab. Eröffnung und Folgezeit (1855–1871) Am 18. Juli 1855 wurde der Streckenabschnitt Neustadt–Landau eröffnet, der Abschnitt Landau–Wissembourg folgte am 26. November 1855. Auf allen Grenzsteinen des zur Bahn gehörenden Terrains wurden die Buchstaben „P.M.E.“ eingraviert, um so das Eigentum der Gesellschaft zu kennzeichnen. Die Maximiliansbahn war zunächst eingleisig, jedoch wurde die Trasse von Anfang an so angelegt, dass die Errichtung eines zweiten Gleises zu einem späteren Zeitpunkt problemlos möglich war. Der Bahnhof Wissembourg fungierte als Zollbahnhof zwischen Frankreich und Bayern. Die Strecke blieb in den ersten Jahren ihres Bestehens jedoch hinter den Erwartungen zurück. Der französischen Bahngesellschaft Chemins de fer de l’Est gelang es, durch mehrere Maßnahmen wie beispielsweise die Manipulation von Tarifen die Konkurrenzfähigkeit sämtlicher linksrheinischer Strecken außerhalb Frankreichs zu unterbinden. Zudem veranlasste sie, dass ein großer Teil der Nachfrage von Kohle innerhalb des Départements Haut-Rhin über die Forbacher Bahn bis nach Frouard geleitet wurde. Über den Schienenweg gelangte die Kohle nach Straßburg oder entlang von Flüssen nach Mulhouse. Dadurch war die Pfalz gezwungen, nach weiteren Absatzmärkten vorzugsweise jenseits des Rheins Ausschau zu halten. Mit der Eröffnung der in Winden abzweigenden Bahnstrecke nach Maximiliansau 1864 und ihrem Lückenschluss zur Maxaubahn nach Karlsruhe ein Jahr später gewann vor allem der Abschnitt Neustadt–Winden an Bedeutung. 1867 wurde dieser zweigleisig ausgebaut, um den Anforderungen des mittlerweile gestiegenen Nord-Süd-Verkehrs gerecht zu werden. Diese Maßnahme geschah vor dem Hintergrund, dass die Bahnstrecken innerhalb der Pfalz durch die gute wirtschaftliche Situation in Europa vor allem von Seiten Preußens eine deutliche Konkurrenz im Fernverkehr zu befürchten hatten. Während der Mobilmachung zum Deutsch-Französischen Krieg verkehrten zwölf Militärzüge pro Tag von Mainz aus über die Maximiliansbahn. Dies hatte eine Einschränkung des regulären Verkehrs zur Folge. Mitten im Krieg begann außerdem auf Verlangen der Militärverwaltung Ende 1870 zwischen Winden und der Grenze zu Frankreich der Bau des zweiten Gleises. Die Verwaltung der seit 1. Januar des Jahres existierenden Pfälzischen Eisenbahnen bat die Militärverwaltung, die Kosten zu übernehmen. Der Abschnitt innerhalb von Frankreich wurde auf Rechnung des preußischen Kriegsministeriums mit einem zweiten Gleis versehen. Am 28. Januar des Folgejahres war der doppelgleisige Ausbau des Streckenabschnitts Winden–Wissembourg abgeschlossen. Als Folge des Kriegsausgangs musste Frankreich das Elsass und den Norden Lothringens an das neu gegründete Deutsche Kaiserreich abtreten, womit die Zollkontrollen in Wissembourg – fortan Weißenburg genannt – entfielen. Weitere Entwicklung (1871–1920) Mit Vollendung der Alsenztalbahn Hochspeyer – Münster 1871 gewann die Maximiliansbahn als Teil der kürzesten linksrheinischen Nord-Süd-Verbindung an Bedeutung. Ab 1880 nahm der Fernverkehr deutlich zu, wodurch auf der Strecke einige Umbauten erforderlich waren. Ein Teil der Fernzüge auf der Maximiliansbahn befuhr die Relationen Amsterdam – Köln – Bingerbrück – Rockenhausen – Neustadt – Weißenburg – Straßburg – Basel und Frankfurt/Mainz – Ludwigshafen – Basel. Die Strecke stand als Teil der letzteren mit der Badischen Hauptbahn im Nord-Süd-Verkehr in Konkurrenz. 1887 entstand in Neustadt eine Verbindungskurve zur Ludwigsbahn, wodurch für Güterzüge aus Richtung Osten das „Kopfmachen“ im dortigen Bahnhof entfiel. Eine weitere Verbindungskurve entstand im Jahr 1900 in Weißenburg, um den dortigen Kopfbahnhof umfahren zu können. Auf Betreiben des Militärs wurde die Strecke im Bereich nördlich von Landau 1897 etwas nach Osten verlegt, um eine niveaufreie Kreuzung mit der seit 1872 bestehenden Bahnstrecke Germersheim – Landau zu ermöglichen. Die alte Trasse blieb als Ausziehgleis bestehen. Am 1. Januar 1909 ging die Maximiliansbahn zusammen mit den übrigen zu den Pfälzischen Eisenbahnen gehörenden Gesellschaften in das Eigentum der Bayerischen Staats-Eisenbahnen über. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 fuhren vom 9. bis 16. August pro Tag 20 Militärzüge über die Strecke. Der planmäßige Verkehr kam zunächst zum Erliegen. Erst als die Truppentransporte nachgelassen hatten, wurde die Strecke für den Personenverkehr wieder freigegeben. Dennoch hatten militärische Transporte im weiteren Kriegsverlauf Vorrang. Nachdem Deutschland den Krieg verloren hatte und das französische Militär einmarschiert war, wurde am 1. Dezember 1918 der Streckenabschnitt südlich von Maikammer-Kirrweiler für den Personenverkehr gesperrt, drei Tage später jedoch wieder freigegeben. Deutsche Reichsbahn (1920–1945) Nach dem Kriegsende fiel Weißenburg – fortan wieder Wissembourg genannt – mit dem Elsass im Rahmen des Versailler Vertrages an Frankreich zurück. In den Bahnhöfen Winden und Kapsweyer wurden Zollkontrollen durchgeführt. Auch die Besetzung der Pfalz durch die Franzosen erschwerte den Betrieb. Damit verlor die Bahnstrecke, die ab 1920 von der Deutschen Reichsbahn (DR) betrieben wurde, ihre Bedeutung im Fernverkehr, der hauptsächlich auf die rechtsrheinische Seite wechselte. 1922 erfolgte die Eingliederung in die neu gegründete Reichsbahndirektion Ludwigshafen. Von 1923 bis 1924 folgte ein so genannter Regiebetrieb, für den Frankreich zuständig war. Nach dem Ende der französischen Besatzung 1930 wurde der durchgehende Fernverkehr nicht wieder aufgenommen. 1928 erhielt die Gemeinde Steinfeld einen ortsnahen Haltepunkt, der bisherige Bahnhof Schaidt-Steinfeld wurde in Schaidt umbenannt. Mit der schrittweisen Auflösung der Ludwigshafener Direktion wechselte der Abschnitt Winden – Kapsweyer mit Wirkung vom 1. Februar 1937 in den Zuständigkeitsbereich von Karlsruhe, die restliche Strecke kam am 1. April zur Reichsbahndirektion Mainz. Ab Ende der 1930er Jahre orientierten sich die Hauptverkehrsströme durch die Inbetriebnahme der festen Rheinbrücke bei Maxau in Richtung Karlsruhe um. Durch diese Verlagerung verlor der Streckenabschnitt Winden – Wissembourg in Kombination mit der Rückgabe des Elsass an Frankreich an Bedeutung, während die bisherige Zweigstrecke nach Karlsruhe einen Aufschwung hatte. Beim Bau des Westwalls fand über die Maximiliansbahn ein großer Teil des Materialtransports statt. Bei Streckenkilometer 35,5 entstand eine insgesamt 11,9 Kilometer lange Stichstrecke, die bis in den Bereich Dörrenbach/Winzental führte. Da sich der südliche Streckenabschnitt in der „Roten Zone“ befand, ruhte der Verkehr mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs für die Dauer von einem Jahr, in Steinfeld wurde eine Gleissperre aufgestellt. Mitten im Krieg entstand zwischen Landau und Knöringen eine Verbindungskurve zur Strecke nach Germersheim. Anfang 1945 kam der Eisenbahnverkehr infolge der Kampfhandlungen zum Erliegen. Bereits am 25. März 1945 verkehrten aus Richtung Pirmasens/Zweibrücken zwischen Landau und Neustadt Nachschubzüge der US Army, die anschließend weiter nach Ludwigshafen fuhren. Nachkriegszeit und Deutsche Bundesbahn (1945–1993) Im Sommer des Jahres 1945 wurde der Bahnverkehr in einem sehr beschränkten Maße wieder aufgenommen. Als Reparationsleistung an Frankreich verlor der Abschnitt Winden–Wissembourg das zweite Gleis durch Demontage. Ebenso wurde die Bahn ins Winzental abgebaut. 1947 übernahm die Betriebsvereinigung der Südwestdeutschen Eisenbahnen (SWDE), die schrittweise in die 1949 gegründete Deutsche Bundesbahn (DB) überging, den Betrieb. Der deutsche Streckenteil befand sich seit dem 31. August 1945 als Folge der Einteilung der Besatzungszonen komplett innerhalb der Eisenbahndirektion Mainz, der Rechtsnachfolgerin der Reichsbahndirektion Mainz, der fortan sämtliche Bahnstrecken im neu gegründeten Bundesland Rheinland-Pfalz unterstanden. 1949 folgte die Wiederinbetriebnahme des grenzüberschreitenden Abschnitts Winden–Wissembourg. Ab den 1950er Jahren führte die DB unterschiedliche Rationalisierungsmaßnahmen durch. Beispielsweise richtete sie zum Teil parallel zur Bahnstrecke verlaufende Buslinien ein. Diese übernahmen hauptsächlich die Bedienung in Tagesrandlagen und am Wochenende. Zudem zog die DB das gesamte Personal auf dem Abschnitt Winden–Wissembourg ab. Ab 30. November 1958 wurde südlich von Landau „Betriebsnachtruhe“ eingeführt, der Streckenabschnitt zwischen Winden und der Staatsgrenze nach Frankreich – bis 1966 eine Hauptbahn – zum 25. September 1966 in eine Nebenbahn umgewandelt und zum 26. Mai 1968 auf Zugleitbetrieb umgestellt. 1968 wurde die Telegrafen-Freileitung zwischen Landau und Winden durch ein Fernmeldekabel ersetzt. Im Zuge der schrittweisen Auflösung der Bundesbahndirektion Mainz Anfang der 1970er Jahre war ab 1. Juni 1971 die Bundesbahndirektion Karlsruhe zuständige Behörde für den deutschen Streckenteil. Am 28. September 1975 kam für den Abschnitt Winden–Wissembourg im Personenverkehr das Aus. Am 6. Juni 1986 schlossen das Land Rheinland-Pfalz und die DB eine Rahmenvereinbarung, die darauf abzielte, das Verkehrsangebot auf der Strecke zwei Jahre später zu verbessern. Ein Jahr später wurde für den Bau der Bundesautobahn 65 die Verbindungskurve zur Strecke nach Germersheim samt ihrem Bahndamm abgetragen. Ab den 1990er Jahren war der Abschnitt südlich von Winden von der Gesamtstilllegung bedroht, nachdem 1992 der Güterverkehr, der zuletzt ausschließlich bis Schaidt angeboten wurde, zum Erliegen gekommen war. Der Bundesverkehrswegeplan desselben Jahres sah den Ausbau und die Elektrifizierung des Abschnitts Neustadt – Winden vor, ohne dass dies bislang realisiert wurde. Deutsche Bahn (seit 1994) Mit der Bahnreform ging die Strecke am 1. Januar 1994 in das Eigentum der Deutschen Bahn über. Im selben Jahr folgte die erste Stufe des sogenannten Rheinland-Pfalz-Taktes, der eine Verbesserung des Zugangebotes sowie die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken in Rheinland-Pfalz vorsah. Dadurch erhöhte sich die Zahl der Personenzüge auf der Bahnlinie zwischen Neustadt und Winden deutlich. 1996 folgte die Einbeziehung der Strecke in den Tarifbereich des Verkehrsverbundes Rhein-Neckar (VRN), im selben Jahr galt der Karlsruher Verkehrsverbund (KVV) innerhalb des Streckenabschnittes Landau–Winden. Am 1. März 1997 reaktivierte die Deutsche Bahn den Personenverkehr auf dem Streckenabschnitt Winden–Wissembourg. Der Bahnhof Schaidt wurde im Gegensatz zu den Bahnstationen in Steinfeld und Kapsweyer zugunsten eines ortsnahen Haltepunkts nicht reaktiviert. Die zwischen Kapsweyer und Wissembourg liegende Gemeinde Schweighofen erhielt erstmals einen Haltepunkt. Die Kosten der Wiederinbetriebnahme bezifferten sich auf insgesamt 8,365 Millionen DM, die neben der DB das Land Rheinland-Pfalz, der Landkreis Südliche Weinstraße und das Elsass aufbrachten. Mit der Installation des neuen Elektronischen Stellwerks (ESTW) in Neustadt am 23. März 1998 wurde das Gleisdreieck, das seit 1887 eine Umfahrung des dortigen Hauptbahnhofs ermöglichte hatte, seines östlichen Schenkels beraubt. Seither können Züge nicht mehr direkt in Richtung Ludwigshafen einfahren, sondern müssen in Neustadt „Kopf“ machen. Seit 2002 gilt der KVV-Tarif in nördlicher Richtung bis Maikammer-Kirrweiler, anschließend gibt es bis Neustadt einen Übergangstarif. Vom 1. bis 3. Oktober 2005 fanden anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der Maximiliansbahn Dampfzugfahrten der Ulmer Eisenbahnfreunde (UEF) auf der Strecke statt. Die Dampfzüge verkehrten auf dem Ring Neustadt–Landau–Winden–Karlsruhe–Graben-Neudorf–Germersheim–Speyer–Schifferstadt–Neustadt sowie von Neustadt nach Wissembourg teils mit sogenannten Silberlingen der DB. Im April 2010 ging das ESTW Landau in Betrieb, das seither für den Streckenabschnitt von Neustadt bis kurz vor Winden zuständig ist. Für den Einsatz von Akkumulatortriebwagen im Pfalznetz ab Dezember 2026 werden in Landau und Winden Oberleitungsinselanlagen über den Bahnsteiggleisen errichtet. Betrieb Personenverkehr Zeit der Pfälzischen Maximiliansbahn-Gesellschaft und der Pfälzischen Eisenbahnen Der erste Fahrplan aus dem Juli 1855 wies zwischen Neustadt und Landau sechs Zugpaare auf. Bereits im November des Jahres existierten durchgehende Verbindungen bis nach Straßburg. Eine Fahrt von Neustadt nach Wissembourg nahm anderthalb Stunden in Anspruch. Ab dem Winterfahrplan 1857/1858 existierten die ersten Schnellzüge auf der Maximiliansbahn. 1860 fuhren solche auf der Relation Basel–Köln, während im Nahverkehr drei Zugpaare zwischen Neustadt und Wissembourg verkehrten. Während des Deutsch-Französischen Krieges führten die Pfälzischen Eisenbahnen am 14. August 1870 einen provisorischen Fahrplan ein, ehe sie am 17. Oktober einen neuen präsentierten. Nach Vollendung der Alsenztalbahn Hochspeyer–Münster am Stein 1871 war die Strecke in Kombination mit dieser und des Ludwigsbahn-Abschnittes Neustadt–Hochspeyer Teil einer weiteren pfälzischen Magistrale, die die kürzeste linksrheinische Nord-Süd-Verbindung darstellte. Auf diese Weise verkürzte sich die Fahrtzeit der Fernzüge der Relation Köln–Basel, da sie die bisherige Route entlang des Rheins aussparten. Ab 1880 nahm der Fernverkehr deutlich zu und führte bis in die Niederlande. Obwohl 1876 in Form der Strecken Schifferstadt–Wörth und Wörth–Straßburg eine Direktverbindung von Ludwigshafen ins Elsaß entstanden war, verkehrten aufgrund der eingleisigen Ausstattung die meisten Fernzüge aus Richtung Frankfurt weiterhin über die Maximiliansbahn, wobei sie stets in Neustadt „Kopf“ machen mussten. Einige wurden dort geflügelt, um mit denjenigen aus dem Alsenztal vereinigt zu werden, während der andere Zugteil weiter über die Ludwigsbahn nach Westen fuhr. Im Fahrplan des Jahres 1897 gab es im Nahverkehr Züge, die nicht an jedem Unterwegsbahnhof hielten und solche, die lediglich Teilabschnitte der Maxbahn bedienten. 1900 wurde von der Internationalen-Schlafwagen-Gesellschaft der „Riviera-Express“ eingeführt, der im Norden in Amsterdam beziehungsweise Berlin begann. In Frankfurt am Main wurden die beiden Teile zu einem Zug zusammengeschlossen. Innerhalb der Pfalz führte er über die Ludwigsbahn und ab Neustadt über die Maximiliansbahn, Straßburg, Mühlhausen, Lyon und Marseille bis nach Menton. Schnellzüge fuhren bis nach Genua. Ab 1906 war die Magistrale Ludwigshafen–Schifferstadt–Wörth–Straßburg zweigleisig befahrbar, wodurch die Maximiliansbahn den Fernverkehr aus Richtung Ludwigshafen größtenteils verlor. Zeit der Bayerischen Staatseisenbahnen und der Deutschen Reichsbahn Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde der Personenverkehr zunächst eingestellt, danach jedoch in abgespeckter Version reaktiviert. Die Anzahl der Schnellzüge reduzierte sich während dieser Zeit deutlich. Diese fuhren lediglich bis Straßburg oder Colmar und hielten ebenso in Edenkoben sowie in Winden. Der Abschnitt Neustadt–Landau wies fünf Zugpaare im Nahverkehr auf, der zwischen Winden und Weißenburg vier. Die Rückgabe Elsaß-Lothringens an Frankreich als Folge des Kriegsausgangs bewirkte, dass die Maximiliansbahn für den internationalen Verkehr an Bedeutung einbüßte. Die verbliebenen Schnellzüge dienten im Wesentlichen der französischen Besatzung und beschränkten sich auf die Relation Straßburg–Mainz mit einzelnen Kurswagen bis Paris. Der Nahverkehr wies sechs Zugpaare zwischen Neustadt und Wissembourg auf. Ein Jahr später existierten an Werktagen fünf Verbindungen zwischen Winden und Wissembourg. Während des französischen Regiebetriebs, der am 7. März 1923 begann, existierten durchgängige Nahverkehrsverbindungen von Wissembourg bis Wiesbaden mit Halt an jedem Unterwegsbahnhof. Der Regiebetrieb dauerte bis Anfang 1924. Das Kursbuch von 1929/1930 weist darüber hinaus Verbindungen auf, die sich auf den Abschnitt Winden–Kapsweyer beschränkten. Nahverkehrszüge im grenzüberschreitenden Abschnitt verkehrten während dieser Zeit fast ausschließlich zwischen Winden und Wissembourg. So existierte nach 1930 lediglich ein Zug von Neustadt nach Wissembourg. In der Gegenrichtung gab es keine umsteigefreie Verbindung zwischen den beiden Städten. Bedingt durch die 1938 in Betrieb genommene feste Rheinbrücke an der Bahnstrecke Winden–Karlsruhe orientierten sich die Hauptverkehrsströme, die bislang auf die Achsen Landau–Germersheim–Bruchsal sowie Neustadt–Landau–Wissembourg ausgerichtet waren, in Richtung Karlsruhe um. In diesem Zusammenhang wurden die Schnellzüge der Relation Saarbrücken–München, die bisher über die Bahnstrecke Germersheim–Landau fuhren, fortan entlang des Streckenabschnitts Landau–Winden über Wörth und Karlsruhe geführt. Hinzu kamen Schnellzüge aus Wuppertal. Während des Zweiten Weltkriegs verkehrte ein Fronturlauberzug der Relation Breslau–Ludwigshafen–Landau–Dijon. Nach dem Westfeldzug gab es einen Schnellzug für den Zivilverkehr von Karlsruhe nach Dijon, der anfangs über Winden und Weißenburg, später über Rastatt und Hagenau geführt wurde. Hinzu kam ein Eilzug von Winden nach Straßburg. Der Fahrplan von 1944 wies zum Teil durchgehende Nahverkehrszüge von Karlsruhe über Winden, Landau und Zweibrücken bis nach Saarbrücken auf. Nachkriegszeit und Zeit der Deutschen Bundesbahn Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg verkehrten mehrere Züge für die Besatzungsmächte und waren somit für die Zivilbevölkerung gesperrt. Darunter führte eine Verbindung zunächst von Neustadt über Landau aufgrund der unterschiedlichen Besatzungszonen unter Umgehung von Karlsruhe bis nach Baden-Baden. Der Abschnitt Kapsweyer–Wissembourg war bis 1949 stillgelegt, sodass die regulären Personenzüge zwischen Landau und Neustadt beziehungsweise Landau und Wörth verkehrten. Bereits im Oktober 1945 gab es zwei Züge der Relation Neustadt–Wörth. Ein halbes Jahr später verkehrten an Werktagen vier Züge der Relation Landau–Wörth und drei zwischen Neustadt und Landau. Ende der 1940er Jahre wurde ein Eilzug der Relation Mainz–Worms–Ludwigshafen–Speyer–Germersheim–Landau–Wissembourg eingerichtet. Die restlichen Züge zwischen Winden und Wissembourg fuhren nicht über Landau hinaus. 1952 wurde zudem der „Bundenthaler“ reaktiviert, der bis 1976 verkehrte. Im Nahverkehr gab es in den Folgejahrzehnten bis auf wenige Ausnahmen zwischen Landau und Wissembourg keine durchgehenden Verbindungen bis Neustadt, stattdessen war ein Umstieg in Landau erforderlich. Bereits 1953 stellte die Bundesbahn den nachts verkehrenden Schnellzug von Köln nach Konstanz ein. Bis in die 1960er Jahre verkehrten zwischen Neustadt und Winden Schnellzüge der Relation Krefeld–Basel. Zur selben Zeit befuhren Eilzüge der Relation Saarbrücken–München den Abschnitt Landau–Winden. Die DB strich viele Zugverbindungen, die am frühen Morgen, spätabends oder an Wochenenden verkehrten und stellte sie auf den Omnibusverkehr um. Bedingt durch die Zugehörigkeit des Elsass zu Frankreich verlor der grenzüberschreitende Abschnitt Winden–Wissembourg dauerhaft an Bedeutung und der Personenverkehr kam dort 1975 zum Erliegen. Der Abschnitt Neustadt–Winden blieb von größeren Einschnitten trotz der Reduzierung des Zugangebots verschont. 1988 endete der Einsatz von D-Zügen und Kurswagen über die Strecke. Die annähernd stündlich verkehrenden Eilzüge Karlsruhe–Landau wurden in Regionalschnellbahnen (RSB) umgewandelt, jede zweite fuhr bis nach Neustadt. Zweistündlich verkehrte zwischen Neustadt und Landau eine RSB auf der Bahnstrecke Landau–Rohrbach bis Saarbrücken. Zeit der Deutschen Bahn Mit Einführung des Rheinland-Pfalz-Taktes 1994 verkehrte eine Regionalschnellbahn im Stundentakt zwischen Neustadt und Karlsruhe, dieser wurde später in einen Regional-Express umgewandelt. Der Abschnitt Neustadt–Landau war in die Regionalbahnlinie Neustadt–Pirmasens einbezogen. Von Landau aus führten Regionalbahnen bis Karlsruhe oder ab Wörth über Speyer bis Ludwigshafen. Im selben Jahr wurde ein Personenzug vom Pirmasenser Hauptbahnhof über das Queichtal und Landau zur BASF in Ludwigshafen eingesetzt, zunächst unter Umfahrung von Neustadt. Seit der Demontage des dortigen Gleisdreiecks muss er in Neustadt „Kopf machen“, statt wie vorher ohne Halt von Maikammer-Kirrweiler bis Haßloch durchzufahren. Im März 1997 folgte die Reaktivierung des Abschnitts Winden–Wissembourg, dessen Verkehr in den Folgejahren bis Neustadt durchgebunden wurde. Mitte 1999 wurden die durchgehenden Züge Pirmasens–Neustadt gestrichen und stattdessen die Regionalbahn Landau–Karlsruhe bis Neustadt verlängert. Die teilweise Wiederaufnahme des Personenverkehrs auf der Wieslauterbahn zwei Monate später brachte die Wiedereinführung des „Bundenthalers“ mit sich. Der Streckenabschnitt Neustadt–Winden bildet zusammen mit der Bahnstrecke Winden–Karlsruhe die Kursbuchstrecke (KBS) 676 und der Abschnitt Winden–Wissembourg die KBS 679. Stündlich verkehrt je ein Zug der Regionalbahn (RB) und des Regional-Express (RE) von Karlsruhe nach Neustadt und jede Stunde einer der Regionalbahn von Neustadt nach Wissembourg, der jedoch zwischen Landau und Winden nicht hält. Planungen Ab Dezember 2024 soll die Regionalzuglinie Neustadt–Wissembourg über die französische Grenzstadt hinaus nach Strasbourg durchgebunden werden. Zum Einsatz kommen Alstom Coradia Polyvalent. Güterverkehr In den ersten Jahrzehnten diente die Maximiliansbahn vor allem dem Kohletransport nach Frankreich und in die Schweiz. 1860 verkehrten pro Tag ein Kohlezug und zwei weitere Güterzüge. Nachdem Elsaß-Lothringen ins Deutsche Kaiserreich eingegliedert worden und mit der Erweiterung des dortigen Eisenbahnnetzes eine Direktverbindung zwischen Saarbrücken und Straßburg entstanden war, verlor sie einen großen Teil ihrer Bedeutung. Anfang des 20. Jahrhunderts verkehrten auf der Strecke Güterzüge der Relationen Neustadt–Landau und Neustadt–Weißenburg. Ab den 1980er Jahren ging der Güterverkehr auf der Maximiliansbahn deutlich zurück. Bereits damals dominierten Übergabezüge das Betriebsgeschehen. Die Bahnhöfe Maikammer-Kirrweiler und Edenkoben wurden von Neustadt aus bedient, die restlichen von Landau aus. Der grenzüberschreitende Güterverkehr nach Wissembourg endete 1985. Der Rückgang des Güteraufkommens führte zum Gleisrückbau am Landauer Hauptbahnhof sowie an den Bahnhöfen Maikammer-Kirrweiler, Rohrbach, Winden und Schaidt. Vor allem die Bahnhöfe Winden und Schaidt hatten für den Zuckerrübentransport eine große Bedeutung, sie verfügten über eine Verladeeinrichtung, mit der die Zuckerrüben in die Güterwaggons gelangten. Anfang der 1990er Jahre gab die Deutsche Bundesbahn diesen Transportzweig auf, die Rübentransporte wechselten auf die Straße. Das Michelin-Werk in Landau an der mittlerweile stillgelegten Strecke nach Germersheim wurde bis 2013 regelmäßig von Neustadt aus bedient. ArcelorMittal in Edenkoben erhält einen Großteil der Waren per Bahn, wofür in 2009 ein neuer Gleisanschluss entstand. In Landau wird gelegentlich noch Holz verladen. Diese Transporte werden fast ausschließlich von DB Schenker durchgeführt. In Landau gab es zahlreiche Gütergleise, die bis in die Innenstadt führten. Teilweise sind noch die Trassen in Form von verwilderten „Wegen“ zwischen Gebäuden und Grundstücken sichtbar. Fahrzeugeinsatz Dampflokomotiven In den ersten Jahren fuhren auf der Maximiliansbahn Dampflokomotiven der Bauart Crampton. Diese erhielten nach Gründung der Pfälzischen Eisenbahnen die Betriebsnummern 26 bis 63. Um 1900 wurden für Schnellzüge von Wissembourg bis Bingerbrück Loks der Pfälzischen P3.I eingesetzt. Die P 5 fuhr ebenfalls über die Strecke. Anfang des 20. Jahrhunderts kam im Fernverkehr neben der P 3 die P 4 zum Einsatz. Im Güterverkehr fuhren die Baureihen G 3, G 4.I, G 4.II und G 5. Diese waren vorzugsweise in Ludwigshafen und Neustadt beheimatet, vereinzelt ebenso in Kaiserslautern. Nach der Verstaatlichung des pfälzischen Eisenbahnnetzes waren bayerische Loks wie die S 3/6 ebenfalls auf der Strecke anzutreffen und im Bahnbetriebswerk Ludwigshafen stationiert. Preußische Baureihen wie die P 8 und die S 10 waren ebenfalls eingesetzt. Im Rangierdienst auf den Bahnhöfen setzten zunächst die bayerischen Staatseisenbahnen und später die Deutsche Reichsbahn die Baureihe D VI ein. Zur Reichsbahnzeit versah eine Preußische G 8 – als Baureihe 55 geführt – den Dienst im Güterverkehr. Sie war im neu errichteten Bahnbetriebswerk Landau stationiert, daneben Loks der Baureihen 39, 44, 50, 56, 57 und 64, 75 und 86. Zum Teil fuhren sie zusätzlich in der Zeit der Deutschen Bundesbahn. Diesellokomotiven Sowohl für den Personen- als auch für den Güterverkehr wurden Diesellokomotiven der Baureihe V 100 eingesetzt, die ab den 1960er Jahren zunehmend die verbliebenen Dampflokomotiven verdrängten. In den 1980er Jahren zogen zeitweise Versuchslokomotiven der Baureihe 202 die Eilzüge der Relation Neustadt–Karlsruhe. Für Rangierarbeiten im Güterverkehr in und um Landau sowie zur Bedienung der städtischen Gleisanschlüsse dienten nach dem Krieg bis in die 1980er Jahre Diesellokomotiven Köf II und Köf III. Kürzer war die Einsatzzeit der V 160 und der V 200.0, die schon bald von der Baureihe 218 verdrängt wurden. Letztere übernahm bis 2010 mit Unterbrechungen einen Teil der seit 1997 verkehrenden Regional-Express-Züge zwischen Karlsruhe und Neustadt. Zudem verkehrte sie vor dem ehemals mit Doppelstockwagen ausgestatteten Elsass-Express. Triebwagen Ab 1900 verkehrten bis in die 1920er Jahre zwischen Neustadt und Winden Akkumulator-Triebwagen der Marken Pfälzischer MC und Pfälzischer MBCC. Von 1935 bis 1939 waren Dieseltriebwagen der Baureihe 137 auf der Maximiliansbahn anzutreffen, die mit Kriegsbeginn andernorts benötigt wurden. Nach dem Krieg dienten sie fast ausschließlich der Besatzungsmacht und wurden lediglich sporadisch für den Zivilverkehr verwendet. Im Zweiten Weltkrieg kamen ebenfalls selten Wittfeld-Akkumulatortriebwagen zum Einsatz. In den 1950er Jahren wurde das Landauer Betriebswerk Stützpunkt von Uerdinger Schienenbussen. Der Subtyp VT 95 verkehrte bis 1980. Der VT 98 war bis in die 1990er Jahre anzutreffen. Sehr selten waren nach dem Krieg Einsätze der ETA 150. Um 1980 tauchte vereinzelt die Baureihe 624 auf der Strecke auf. Ab den 1980er Jahren wurden die Schienenbusse durch Triebzüge der Baureihe 628 ersetzt. Für die Regional-Express-Züge zwischen Neustadt und Karlsruhe wurden zunächst Neigetechnik-Triebwagen der Baureihe 611 eingesetzt, die sich jedoch als sehr unzuverlässig erwiesen. Sie wurden bereits wenige Jahre später durch die Baureihe 612 ersetzt, bei der die Neigetechnik ausgeschaltet wurde. Die Nachfolge trat 2009 die Baureihe 642 an. Seit 2010 werden für die Regionalbahnen Triebzüge der Baureihe 643 eingesetzt. Für den Felsenland-Express verkehrt zwischen Winden und Landau ein Esslinger Triebwagen, für die sonntägliche Verbindung Neustadt–Straßburg ein X 73900. Seit der Zulassung für den grenzüberschreitenden Verkehr setzt das Unternehmen vlexx den LINT 81 für die Ausflugszüge „Elsass-Express“ und „Weinstraßen-Express“ ein. Streckenverlauf Die Maximiliansbahn verlässt den Neustadter Hauptbahnhof in östliche Richtung und überquert gemeinsam mit der Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken die Bundesstraße 39. Anschließend bildet sie eine lang gezogene Kurve nach Südosten und verläuft bis Edenkoben fast geradlinig. Anschließend folgt bis Landau eine lang gezogene, moderate S-Kurve. In diesem Bereich verläuft die Bundesautobahn 65 parallel zur Maximiliansbahn. Der Kropsbach, der Modenbach und der Hainbach werden überquert. Zwischen Knöringen-Essingen und Landau durchquert die Strecke ein Gebiet, in dem teilweise Erdöl gefördert wird und Ölförderpumpen das Landschaftsbild prägen. Die inzwischen stillgelegte Bahnstrecke Germersheim–Landau wird wenig später überbrückt, ehe diese niveaufrei in die Maximiliansbahn einfädelt. Im Bereich des Landauer Hauptbahnhofs überbrückt die Strecke die Queich. Südlich von Landau folgt eine weitere S-Kurve. Die Bahnstrecke Landau–Rohrbach biegt nach Westen ab, während die inzwischen stillgelegte Stichbahn nach Herxheim zunächst parallel zur Maximiliansbahn verläuft und anschließend nach Osten abbiegt. Kurz vorher überqueren beide Strecken den Birnbach, südwestlich erstreckt sich der Ebenberg. Bis Winden, wo die Strecken nach Bad Bergzabern und Karlsruhe abzweigen, ist sie eine Hauptbahn, zweigleisig ausgeführt und verläuft zum großen Teil an den Weinbergen des Haardtrand vorbei, die sich in Richtung Süden vereinzeln, der Pfälzerwald bleibt stets in Sichtweite. Südlich von Winden folgt eine Kurve, die Strecke führt fortan in Richtung Südwesten. Auf dem eingleisigen Streckenabschnitt Winden–Wissembourg, der als Nebenbahn klassifiziert ist, passiert sie zum großen Teil das Weideland des so genannten „Viehstrichs“ und verläuft in unmittelbarer Nähe des westlichen Randes des Bienwaldes. Kurz nach dem Haltepunkt Schweighofen passiert sie den gleichnamigen Flugplatz. Wenig später überschreitet sie mit der Überquerung der Lauter die deutsch-französische Grenze. Von Süden kommt die Strecke aus Vendenheim, mit der sie gemeinsam den Kopfbahnhof Wissembourg erreicht. Die Strecke führt durch verschiedene Landkreise: Die Haltepunkte von Neustadt an der Weinstraße bis Rohrbach sowie von Steinfeld bis Schweighofen liegen mit Ausnahme der kreisfreien Städte Neustadt an der Weinstraße und Landau im Landkreis Südliche Weinstraße, die Haltepunkte von Steinweiler bis Schaidt im Landkreis Germersheim und Wissembourg im französischen Arrondissement Wissembourg im Département Bas-Rhin. Betriebsstellen Neustadt (Weinstraße) Hauptbahnhof Ab 1847 war der Bahnhof, der in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens die Bezeichnung Neustadt an der Haardt trug, zunächst Endbahnhof der östlichen Ludwigsbahn-Teilstrecke, aus der später die heutige Bahnstrecke Mannheim–Saarbrücken hervorging. Mit Eröffnung der Maximiliansbahn wurde er nach Schifferstadt (1847) und Ludwigshafen (1853) der dritte Eisenbahnknotenpunkt innerhalb der Pfalz. Später kam die Pfälzische Nordbahn hinzu, die zunächst in Bad Dürkheim endete und seit 1873 bis nach Monsheim führt. Für letztere mussten die Bahnanlagen erweitert werden, denen das ursprüngliche Empfangsgebäude weichen musste. Ab dem 12. März 1964 war der Bahnhof elektrifiziert. 2003 wurde der Bahnhof im Zuge der Eingliederung in das Netz der S-Bahn RheinNeckar modernisiert. Sein Empfangsgebäude steht unter Denkmalschutz. Die Züge der Maximiliansbahn verkehren meistens auf Gleis 5 und vereinzelt auf Gleis 4. Neustadt (Weinstr.) Süd Der Haltepunkt Neustadt (Weinstr.) Süd wurde am 19. November 2013 in Betrieb genommen. Maikammer-Kirrweiler Der Haltepunkt und ehemalige Bahnhof Maikammer-Kirrweiler befindet sich auf der Gemarkung von Kirrweiler in einem Gewerbegebiet. Etwa einen Kilometer westlich liegt Maikammer. Ursprünglich lediglich als „Maikammer“ bezeichnet, wurde er 1910 in „Maikammer-Kirrweiler“ umbenannt. In den 1980er Jahren wurde er umgebaut und der Mittel- durch einen Seitenbahnsteig ersetzt. Das Empfangsgebäude entsprach der in der Pfalz üblichen Typenbauweise. Es hat wie die Güterhalle und die Laderampe für den Bahnbetrieb keine Bedeutung mehr. Inzwischen wurde er modernisiert, dabei wurden die Bahnsteige erhöht, sein Umfeld wurde umgestaltet. Edenkoben Der Bahnhof Edenkoben befindet sich am östlichen Rand der Stadt. Entlang des Streckenabschnitts Neustadt – Landau war er stets der bedeutendste Unterwegshalt. Ursprünglich war dort kein Bahnhof vorgesehen, erst als die Stadt dagegen interveniert hatte, wurden die Planungen abgeändert. Sein ursprüngliches Empfangsgebäude lehnte sich architektonisch an die unweit gelegene Villa Ludwigshöhe an. Es fiel im Januar 1945 in den Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs der Explosion eines mit Sprengstoff beladenen Militärzuges zum Opfer. Sein Nachfolgebau wurde 1956 fertig gestellt. Um die Jahrtausendwende wurde der Fahrkartenverkauf im Bahnhof eingestellt. Der Güterverkehr ging zur selben Zeit deutlich zurück. Seit der Inbetriebnahme des Elektronischen Stellwerkes Landau 2010 wird der Bahnhof ferngesteuert. Zeitgleich mit der Modernisierung der Bahnsteige Anfang der 2000er Jahre wurden fast alle Weichen entfernt, so dass der 2009 erneuerte Gleisanschluss zur Arcelor-Mittal ausschließlich an das Streckengleis in Richtung Neustadt angebunden ist. Neben Landau ist er die einzige Station entlang der Strecke mit Güterverkehr. In der Regel wird er ausschließlich von Regionalbahnen bedient, lediglich in der Hauptverkehrszeit halten dort vereinzelt Züge der Regional-Express-Linie Karlsruhe – Neustadt. Edesheim (Pfalz) Die Station befindet sich am östlichen Siedlungsrand der Ortsgemeinde Edesheim innerhalb einer lang gezogenen S-Kurve. Bis in die 1980er Jahre wurde der frühere Bahnhof zuletzt von Landau aus im Güterverkehr bedient. Bei Umbaumaßnahmen wurde der Mittel- durch einen Seitenbahnsteig ersetzt und der Bahnhof als Haltepunkt zurückgebaut. Das frühere Gütergleis wurde abgebaut. Das Empfangsgebäude entspricht der in der Pfalz üblichen Typenbauweise. Sein Kopfbau ist zur Bahnseite hin giebelständig. Die Fenster haben eine rechteckige Form. Das Bauwerk ist – wie der frühere Güterschuppen – vom Eisenbahnbetrieb freigestellt und wird als Restaurant genutzt. Knöringen-Essingen Der Haltepunkt und ehemalige Bahnhof Knöringen-Essingen befindet sich am östlichen Rand von Knöringen. Unmittelbar östlich davon verläuft die Bundesautobahn 65 parallel zur Bahnstrecke. In den ersten Jahren seines Bestehens trug er die Bezeichnung Knöringen. Später erhielt er aufgrund seiner Bedeutung für die sich östlich anschließende Gemeinde Essingen seinen heutigen Namen. Seit dem 16. April 2010 besitzt er Zwischenblocksignale. Das frühere Empfangsgebäude ist zur Gleisseite traufständig ausgelegt und mit rechteckigen Fenstern ausgestattet. Später wurde es mit einem Zwerchhaus erweitert. Für den Bahnbetrieb wird es nicht mehr genutzt und dient inzwischen einem örtlichen Unternehmen. Bis in die 1980er Jahre wurde der Bahnhof im Güterverkehr bedient, zuletzt von Landau aus. Der Güterschuppen wurde beim Bau der benachbarten Autobahn abgerissen. Abzweigstelle Hartwiesen Zwischen den Bahnhöfen Knöringen-Essingen und Landau Hauptbahnhof wurde von der Abzweigstelle Hartwiesen eine Verbindungskurve zur Bahnstrecke Germersheim–Landau angelegt, um in der Relation Neustadt (Weinstraße)–Germersheim den Landauer Hauptbahnhof umfahren zu können. Die Verbindungskurve ging mit dem Sommerfahrplan 1941, am 5. Mai 1941, in Betrieb. Landau (Pfalz) Hauptbahnhof und Bahnbetriebswerk Landau Der Landauer Hauptbahnhof hat von allen Zwischenbahnhöfen entlang der historischen Bahnstrecke die größte Bedeutung. Er entstand Mitte 1855 als vorläufiger Endpunkt der Maximiliansbahn. Das erste Empfangsgebäude war aufgrund militärischer Erfordernisse der Festung Landau ursprünglich ein Holzgebäude. 1872 wurde die Bahnstrecke Germersheim–Landau in den Bahnhof eingeführt, die sich zusammen mit der einige Jahre später errichteten Strecke nach Zweibrücken ab 1880 als Teil der Fernverkehrsmagistrale Bruchsal–Saarbrücken entwickelte. Dabei wurden seine Gleisanlagen erweitert und etwas nach Westen verlegt und der Bahnhof erhielt ein neues, nunmehr festes Empfangsgebäude. Letzteres wurde am 24. Dezember 1877 freigegeben. 1898 kam eine Stichstrecke nach Herxheim hinzu, von 1913 bis 1953 führte vom Bahnhofsvorplatz aus mit der Pfälzer Oberlandbahn eine schmalspurige Überlandstraßenbahn nach Neustadt, die mehrere Dörfer abseits der Maximiliansbahn anband. Das zweite Bahnhofsgebäude wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, das jetzige Anfang 1962 in Betrieb genommen. Ab 1984 wurde das seit den 1920er Jahren bestehende, weiter südöstlich gelegene Bahnbetriebswerk Landau stillgelegt und abgebrochen, ebenso verschwand der Landauer Rangierbahnhof. Der Güterverkehr in das Queichtal kam 1998 komplett zum Erliegen, innerhalb von Landau reduzierte er sich deutlich, auf diese Weise spielt der Bahnhof im Gütertransport nur noch eine untergeordnete Rolle, die einst umfangreichen Gütergleise wurden ab 1990 abgebaut. Von 2009 bis 2014 wurde der Bahnhof und sein Umfeld grundlegend renoviert und barrierefrei ausgebaut. Insheim Der Bahnhof Insheim wurde erst am 15. Dezember 1877 in Betrieb genommen. Mittlerweile ist er betrieblich nur noch ein Haltepunkt. Das frühere Empfangsgebäude dient nicht mehr dem Bahnbetrieb, sondern einem örtlichen Unternehmen. In den 1980er Jahren wurde bei Umbaumaßnahmen der Mittel- durch einen Seitenbahnsteig sowie der Hausbahnsteig am Empfangsgebäude durch einen Bahnsteig jenseits der Straßenkreuzung ersetzt. Rohrbach (Pfalz) Der Bahnhof Rohrbach (Pfalz) befindet sich am östlichen Ortsrand von Rohrbach. In den ersten 22 Jahren seines Bestehens war er der einzige Halt zwischen Landau und Winden. In den ersten Jahrzehnten seines Bestehens trug er die Bezeichnung Rohrbach b. Landau, später wurde er aufgrund seiner Bedeutung für die Gemeinde Steinweiler in Rohrbach-Steinweiler umbenannt. Am 1. Dezember 1892 wurde er Ausgangspunkt der Klingbachtalbahn nach Klingenmünster, die 1957 den Personen- und zehn Jahre später den Güterverkehr einbüßte. Mit der Einstellung des Güterverkehrs und dem Rückbau der Gleisanlagen folgte zusätzlich die Aufgabe des Bahnhofs als Blockstelle, so dass er seither nur noch ein Haltepunkt ist. Seit der Eröffnung des Haltepunktes Steinweiler 1999 führt er die jetzige Bezeichnung. Sein früheres Empfangsgebäude steht unter Denkmalschutz. Steinweiler Der barrierefreie Haltepunkt Steinweiler befindet sich am westlichen Ortsrand von Steinweiler. Unmittelbar südlich davon schließt sich die Brücke über einen Feldweg an. Der Halt wurde im Sommer 1999 oder im Jahr 2000 in Betrieb genommen, nachdem sich die Bebauung der Gemeinde in den 1990er Jahren immer weiter in die Nähe der Bahnstrecke entwickelt hatte. Die Baukosten bezifferten sich auf insgesamt 920.000 Euro. Bereits am 31. Januar 1868 hatte das Bezirksamt Germersheim angeregt, die Gemeinde mit einem Haltepunkt zu versehen, was jedoch keinen Erfolg hatte. Winden (Pfalz) Der Bahnhof Winden (Pfalz) befindet sich am südöstlichen Ortsrand von Winden. Von ihm zweigen die Strecken nach Karlsruhe (seit 1864) und Bad Bergzabern (seit 1870) ab. Dadurch wurde der Bahnhof nach Schifferstadt (1847), Ludwigshafen (1853), Neustadt an der Haardt (1855) und Homburg (1857) der fünfte Eisenbahnknotenpunkt innerhalb der Pfalz. Der Bahnhof hatte im Güterverkehr vor allem durch die Verladung von Zuckerrüben im Herbst eine große Bedeutung. Im Dezember 1992 wurden die Zuckerrübentransporte eingestellt und die Gütergleise im östlichen Bahnhofsbereich abgebaut. Im Zeitraum von 2005 bis 2007 wurde der Bahnhof modernisiert. Das Empfangsgebäude steht unter Denkmalschutz. Für den Bahnbetrieb hat es inzwischen keine Bedeutung mehr und bisher keinen neuen Verwendungszweck. Schaidt (Pfalz) Der Bahnhof Schaidt befand sich unweit des südwestlichen Ortsrands von Schaidt, jedoch bereits auf der Gemarkung der Gemeinde Steinfeld, deren Siedlungsgebiet rund zwei Kilometer entfernt liegt. Er hieß zunächst „Schaidt b. Weißenburg“, ab 1910 „Schaidt-Steinfeld“, und wurde, nachdem Steinfeld 1928 einen eigenen Haltepunkt erhalten hatte, in „Schaidt“ umbenannt. In der Folge des Zweiten Weltkriegs war im Bahnhof nur noch ein Gleis befahrbar, der Bahnhof betriebstechnisch also zum Haltepunkt geworden. Erst Mitte 1948 wurde ein Überholungsgleis wieder in Betrieb genommen, 1967 der Bahnhof aber erneut in einen Haltepunkt umgewandelt. Bei der Reaktivierung des Abschnitts Winden–Wissembourg 1997 wurde der alte Haltepunkt nicht wieder in Betrieb genommen, sondern durch einen wesentlich näher an der Ortsmitte von Schaidt liegenden mit der Bezeichnung „Schaidt (Pfalz)“ ersetzt. Steinfeld (Pfalz) Der Haltepunkt Steinfeld (Pfalz) befindet sich am südlichen Ortsrand von Steinfeld. Er entstand erst 1928 als Bahnhof, nachdem zunächst der Schaidter Bahnhof für diese Gemeinde zuständig war. Er erhielt ein kleines Empfangsgebäude und wurde ausschließlich im Personenverkehr bedient. Die Gemeinde musste 20.000 Reichsmark zu seiner Errichtung beisteuern und sich vertraglich verpflichten, keinen parallelen Kraftwagenverkehr einzurichten. 1967 wurde der Bahnhof in einen Haltepunkt umgewandelt und war nicht mehr besetzt. Kapsweyer Der heutige Haltepunkt und frühere Bahnhof Kapsweyer befindet sich am südlichen Ortsrand von Kapsweyer. Er entstand um 1875. Nach dem Ersten Weltkrieg erhielt er einen Güterschuppen und ein Zollgebäude, da er durch die Rückgabe von Weißenburg beziehungsweise Wissembourg nach Frankreich entlang der Strecke der letzte Bahnhof innerhalb Deutschlands war. Fortan fanden dort Zollkontrollen für Handgepäck statt. In den Jahren 1944 und 1945 wurde der Bahnhof bei den Kampfhandlungen des Zweiten Weltkrieges in Mitleidenschaft gezogen, was bis in die Folgejahrzehnte Spuren hinterließ. Trotz der Demontage des zweiten Gleises zwischen Winden und Wissembourg blieben die Gleisanlagen aufgrund seiner Funktion als Grenzbahnhof erhalten. 1967 gab die DB bekannt, das Empfangsgebäude abreißen zu wollen. Obwohl die Gemeinde sich darum bemühte, das gesamte Bahnhofsgelände zu kaufen und dafür entsprechend die Kosten für die Demontage (40.000 DM) zahlen wollte, wurde das Gebäude ein Jahr später mit den übrigen Bauten abgerissen. Schweighofen Der barrierefreie Haltepunkt Schweighofen befindet sich einen Kilometer südlich des Siedlungsgebietes von Schweighofen in der Nähe des örtlichen Flugplatzes und ist der letzte Haltepunkt auf deutschem Terrain. Unmittelbar südlich schließt sich der Bienwald an. Der Haltepunkt wurde erst 1997 im Zuge der Reaktivierung des Streckenabschnittes Winden–Wissembourg eingerichtet und dient vor allem dem Ausflugsverkehr. Im Zuge des Projektes „Lavendel-Linie“ mit Anspruch, die Attraktivität der Haltepunkte im Abschnitt Winden–Wissembourg zu steigern, wurden dort Hasen-Skulpturen aufgestellt. Wissembourg Der Bahnhof Wissembourg befindet sich am südlichen Stadtrand von Wissembourg. Er wurde am 23. Oktober 1855 als Endbahnhof der Bahnstrecke Vendenheim–Wissembourg eröffnet. Durch die Verlängerung der Maximiliansbahn einen Monat später wurde er Kopfbahnhof. In der Schlacht bei Weißenburg wurden seine Anlagen erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Von 1871 und 1918, als er wie das restliche Elsaß-Lothringen Teil des Deutschen Kaiserreiches war, trug er die Bezeichnung Weißenburg. Da der Kopfbahnhof für den Fernverkehr ein Hindernis darstellte, wurde eine Verbindungskurve zwischen der Maximiliansbahn und der Strecke nach Vendenheim geschaffen. 1900 kam die inzwischen nicht mehr existierende Bahnstrecke Lauterbourg–Wissembourg hinzu. Pläne, den Bahnhof in Richtung Nordwesten durchzubinden, wurden durch die Rückgabe an Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg vereitelt. Am 15. Dezember 1944 brannte das Bahnhofsgebäude ab. Sein linker Flügel diente in den beiden Folgejahrzehnten als Provisorium. Die Strecke nach Lauterbourg verlor 1947 den Personen- und 1958 den Güterverkehr. In der Folgezeit wurde sie abgebaut. 1968 wurde das heutige Empfangsgebäude fertiggestellt. Von 1975 bis 1997 fand lediglich über die Strecke aus Vendenheim Personenverkehr statt. Im Zuge der Streckenreaktivierung wurde im Bahnhofsgebäude ein Geldwechselautomat in Betrieb genommen, um den Fahrkartenverkauf zu erleichtern. Die Züge der Maximiliansbahn halten meistens auf Gleis A am Hausbahnsteig, die französischen Züge am äußersten Gleis C. Planungen Eine Elektrifizierung zwischen Neustadt und Winden soll frühestens 2025 geprüft werden. Das Land Rheinland-Pfalz hat die Maßnahmen für den Bundesverkehrswegeplan 2015 angemeldet. Unfälle Während des Regiebetriebes entgleiste am 23. Mai 1923 um 21:45 Uhr bei Insheim der Schnellzug D 103 der Relation Straßburg–Mainz. Am Morgen des 19. April 2017 versuchte am Bahnhof Edesheim eine 17-Jährige, den Zug nach Landau zu erreichen, und wollte trotz geschlossener Schranken die Bahnstrecke überqueren. Dabei wurde sie von einem entgegenkommenden Zug erfasst und getötet. Anmerkungen Literatur Nach Autoren / Herausgebern alphabetisch sortiert. Heinz Sturm: Die pfälzischen Eisenbahnen (= Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Band 53). Neuausgabe. pro MESSAGE, Ludwigshafen am Rhein 2005, ISBN 3-934845-26-6, S. 143–146, 173. Weblinks Einzelnachweise Bahnstrecke in Rheinland-Pfalz Bahnstrecke im Elsass Internationale Bahnstrecke Verkehr (Pfalz) Vorderpfalz Südpfalz Bahnstrecke in Grand Est Bahnstrecke Neustadt-Wissembourg
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Allgemeiner Friede
Der Allgemeine Friede ( / koinḕ eirḗnē) war neben dem Panhellenismus eine der prägenden politischen Ideen im Griechenland des 4. vorchristlichen Jahrhunderts. Der Begriff bezeichnet sowohl das allgemeine Konzept eines angestrebten, dauerhaften Friedenszustands zwischen den griechischen Poleis als auch eine bestimmte Art von Friedensverträgen, die alle drei grundlegenden Bestandteile dieses Konzepts enthalten: Ein Allgemeiner Friede musste sich erstens an alle griechischen Stadtstaaten wenden, zweitens musste er deren prinzipielle Autonomie und völkerrechtliche Gleichstellung anerkennen, unabhängig von ihrer tatsächlichen Macht, und er musste drittens ohne zeitliche Begrenzung angelegt sein. Seine Verfechter sahen in ihm eine Chance, den permanenten Kriegszustand zu beenden, der vom Beginn des Peloponnesischen Krieges an die griechische Staatenwelt über mehr als ein Jahrhundert erschütterte. Vom Königsfrieden 387/386 v. Chr. bis zur Gründung des Korinthischen Bundes 338 v. Chr. beeinflusste die Idee der koinḕ eirḗnē alle Friedensschlüsse zwischen den griechischen Poleis. Am Ende erwies sich jedoch, dass auf Dauer nur eine starke Hegemonialmacht einen umfassenden Frieden durchsetzen konnte. In der Neuzeit wieder aufgegriffen, bilden die Hauptprinzipien der koinḕ eirḗnē seit dem 20. Jahrhundert die Grundlage für Friedensorganisationen wie Völkerbund und UNO. Das Wesen des Allgemeinen Friedens Die Idee des Allgemeinen Friedens entwickelte sich aus älteren Vorstellungen, die in den politischen Verhältnissen des 5. Jahrhunderts v. Chr. in Griechenland allmählich umgeformt wurden. Ihre zeitweilige Durchsetzung verdankt sie aber weniger der Einsicht in die Notwendigkeit einer dauerhaften Friedensordnung als der Tatsache, dass sie den Interessen mehrerer aufeinander folgender Hegemonialmächte dienlich schien. Die Geschichte der koinḕ eirḗnē ist daher nicht nur ein Bestandteil der Ideen-, sondern mehr noch der Diplomatie-Geschichte Griechenlands in den Jahrzehnten zwischen dem Peloponnesischen Krieg und dem Auftreten König Philipps II. von Makedonien und Alexanders des Großen. Die Entstehung des Begriffs Das griechische Wort „Eirene“, das ursprünglich nur den „Friedenszustand“ bezeichnete, erfuhr zu Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. eine inhaltliche Erweiterung hin zu „Friedensvertrag“. Dies war Folge einer allgemein veränderten Einstellung zu Krieg und Frieden. Noch im 5. Jahrhundert v. Chr. waren Kriege zwischen den griechischen Poleis mit Verträgen beendet worden, die als spondai (σπονδαί), synthekai (συνθήκαι) oder dialysis polemou (διάλυσις πολέμου) bezeichnet wurden. Alle diese Begriffe bezeichneten im Grunde nur Waffenstillstände oder temporäre Unterbrechungen des Krieges. Nach den nicht enden wollenden Waffengängen seit Mitte des Jahrhunderts setzte sich aber allmählich die Erkenntnis durch, dass nicht der Kriegs-, sondern der Friedenszustand der anzustrebende Normalfall sein sollte. Dies schlägt sich ebenso in der gesteigerten Bedeutung des Worts „Eirene“ nieder wie auch in seiner Anwendung auf Friedensverträge. Der Begriff des Allgemeinen Friedens tauchte erstmals im Jahr 391 v. Chr. im Zusammenhang mit den gescheiterten Verhandlungen zwischen Athen und Sparta zur Beendigung des Korinthischen Krieges auf. Der athenische Politiker Andokides riet seinen Mitbürgern in einer Rede zur Annahme eines als koinḕ eirḗnē bezeichneten Friedens. Möglicherweise war der Begriff schon vorher in den allgemeinen Sprachschatz übergegangen; gesichert ist dies aber erst seit dieser Rede. Der erste Vertrag, auf den die Begriffe eiréne und koinḕ eirḗnē tatsächlich angewandt wurde, war der von Persien und Sparta 387/386 v. Chr. erzwungene Königsfriede. In einem offiziellen Dokument erscheint die Formulierung koinḕ eirḗnē zum ersten Mal im Friedensschluss nach der Schlacht von Mantineia im Jahr 362 v. Chr. Insgesamt ist der Begriff koinḕ eirḗnē zeitgenössisch nur spärlich belegt. Autoren wie Isokrates, Demosthenes und Xenophon gebrauchen ihn nirgendwo explizit. Aber sie benennen seine Wesensmerkmale genau für jene Friedensschlüsse, die der Geschichtsschreiber Diodor im 1. Jahrhundert v. Chr. regelmäßig als koinḕ eirḗnē bezeichnet. Die Tatsache wiederum, dass Diodor sich für die Darstellung der Zeit von 386 bis 361 v. Chr. eng an den zeitgenössischen Autor Ephoros anlehnt, lässt darauf schließen, dass der Begriff damals allgemein geläufig war. Inhaltliche Merkmale Aus der Rede des Andokides und den Bestimmungen des Königsfriedens lassen sich zwei Merkmale herauslesen, die für Friedensverträge jener Zeit neu sind. Zum einen sollen alle Griechenstädte – mit wenigen Ausnahmen – autonom sein, zum anderen wendet sich der jeweilige Vertragsentwurf an alle Städte. Er zielt also nicht mehr auf eine zweiseitige Übereinkunft zwischen ehemals verfeindeten Poleis oder Städtebünden, sondern auf einen multilateralen Vertrag, dem nach Möglichkeit auch alle nicht am Konflikt beteiligten Parteien beitreten sollen. Als drittes, nicht explizit erwähntes Merkmal, lässt sich das Fehlen einer zeitlichen Befristung feststellen. Im 5. Jahrhundert war eine festgelegte Gültigkeitsdauer in Friedensverträgen durchaus üblich. Der Dreißigjährige Friede, der 446/445 v. Chr. zwischen Athen und Sparta geschlossen wurde, verrät dies schon im Namen. Auch der Nikiasfriede von 421 v. Chr. war auf 50 Jahre festgelegt, wobei Verträge mit einer Gültigkeitsdauer von 100 Jahren faktisch eine Ewigkeitsklausel beinhalteten. Dies geht einesteils auf die schon erwähnte Tatsache zurück, dass der Frieden damals nur als Unterbrechung des Normalzustands Krieg angesehen wurde. Dazu kam die Vorstellung, dass Friede nicht zwischen den Stadtstaaten als solchen, sondern zwischen ihren Bevölkerungen geschlossen wurde und die längstmögliche Vertragsdauer nur die Lebenszeit einer – nur für sich selbst sprechenden – Generation sein konnte. Eine koinḕ eirḗnē war dagegen prinzipiell auf immerwährende Gültigkeit ausgelegt. Dass dies in den entsprechenden Verträgen nicht eigens erwähnt wurde, erklärt sich aus der inneren Logik der Autonomieklausel, denn eine Unabhängigkeit, die zeitlich begrenzt ist, wäre keine. Die Multilateralität Die erwähnten, zweiseitigen Friedensverträge des 5. Jahrhunderts zwischen Athen und Sparta ließen die Interessen der eigenen wie der gegnerischen Verbündeten zum Teil grob außer Acht. Diese wurden unter Umständen nicht einmal konsultiert. Auch der Vertrag von 404 v. Chr., der den Peloponnesischen Krieg beendete, war, wenn auch de facto ein Diktat von Seiten Spartas, formell ein Vertrag zwischen diesem und Athen. Er enthielt keine Bestimmungen über die Bundesgenossen Athens aus dem Attischen Seebund und wurde sogar gegen den Willen der Verbündeten Spartas abgeschlossen. Der Vertrag entsprach also ganz den Verhältnissen und Vorstellungen des 5. Jahrhunderts, in dem es nur zwei maßgebliche Hegemonialmächte in Griechenland gab, denen sich alle anderen Poleis unterzuordnen hatten. Die Idee einer panhellenischen Einigung auf multilateraler Ebene war indes schon damals nicht mehr neu. Zur Abwehr der Persergefahr war 481 v. Chr. ein allgemeiner Landfriede beschlossen worden, der allerdings befristet war. Im Jahr 450 v. Chr. wollte Perikles eine allgemeine Friedenskonferenz nach Athen einberufen. Diese kam jedoch aufgrund der Weigerung der Spartaner, die eine athenische Vorherrschaft befürchteten, nicht zustande. Abgesehen von einigen mehrseitigen Verträgen zwischen einigen Griechenstädten in Sizilien und in Ionien war der Kultverband der Amphiktyonie von Delphi das einzige multilaterale Bündnis des antiken Hellas von Dauer und Bedeutung. Der Amphiktioneneid verbot es, im Krieg Mitgliedsstädte zu zerstören oder ihnen das Wasser abzugraben. Eidbrüchige Städte wurden ihrerseits mit der Zerstörung bedroht. Im Amphiktionenfrieden ist möglicherweise ein Vorläufer der koinḕ eirḗnē zu sehen. Dass es seit 387 v. Chr. immer wieder zu Friedensschlüssen auf Basis einer koinḕ eirḗnē kam, hat einen einfachen Grund: Die jeweilige Hegemonialmacht sah sich nicht mehr einer, sondern mehreren etwa gleich starken Städten oder Bündnissen gegenüber. Mit ihnen konnte man sich nur noch gemeinsam oder gar nicht einigen. Für die allgemeine Akzeptanz einer solchen multilateralen Einigung war wiederum die Autonomieklausel die erste Voraussetzung. Die Autonomieklausel Die Griechen unterschieden zwischen „eleutheria“ (ἐλευθερία), der äußeren Freiheit einer Polis und der „autonomia“ (αὐτονομία), der inneren Freiheit einer Stadt. Mit „autonomia“ waren also das Recht und die Fähigkeit der Bürger einer Polis gemeint, sich nur ihrem eigenen Gesetz oder „nomos“ (νόμος), nicht aber dem eines anderen Staats beugen zu müssen. Seit sich die Polis als charakteristische Staatsform im antiken Griechenland durchgesetzt hatte, galt für ihre Beziehungen untereinander das ungeschriebene Gesetz, dass jede von ihnen – und sei sie noch so unbedeutend – autonom sein sollte. Davon ausgenommen waren nur die kleineren Städte Attikas und Lakoniens, die seit alters her Besitz der Athener bzw. der Spartaner gewesen waren. Es sollte im 4. Jahrhundert v. Chr. zu schweren Spannungen führen, als Theben versuchte, eine ähnliche Vorherrschaft über die Städte Böotiens zu etablieren. Mit Beginn der Perserkriege wuchs aber im 5. Jahrhundert v. Chr. die Bereitschaft, sich zu so genannten Symmachien, Kampfbünden unter der Führung einer Hegemonialmacht, zusammenzuschließen. Dies geschah jedoch auf freiwilliger Basis, so dass das Autonomieprinzip theoretisch nicht angetastet wurde. Als die persische Bedrohung nachließ, zeigte sich aber, dass Athen bestrebt war, den von ihm dominierten Delisch-Attischen Seebund in ein von Athen beherrschtes Seereich umzuwandeln. Dabei verletzten die Athener Grundsätze, die von jeher Kennzeichen der Autonomie gewesen waren: die Freiheit, nach der eigenen Verfassung leben zu dürfen ebenso wie die Freiheit von Garnisonen, Kleruchien, fremder Gerichtshoheit und Tributen. Die Einforderung von „phoroi“ (φόροι), d. h. von Abgaben zu Kriegszwecken, die Verlegung der Bundeskasse von Delos nach Athen und die erzwungene Einführung demokratischer Verfassungen nach athenischem Muster bei einigen Bundesgenossen brachten diese gegen ihre Vormacht auf. Spartas Politiker, deren Peloponnesischer Bund vergleichsweise locker organisiert war, entdeckten Mitte des 5. Jahrhunderts die Forderung nach Autonomie als diplomatische Waffe zur Schwächung des Seebunds. Sie machten sich die Beschwerden der athenischen Bündner zu eigen: Während und nach dem Peloponnesischen Krieg trat Sparta als Sachwalter der Unabhängigkeit aller Griechenstädte auf. Die Autonomieklausel wurde also nicht nur deshalb zum festen Bestandteil jeder koinḕ eirḗnē, weil kleinere Poleis durch sie ihre Eigenständigkeit gesichert sahen, sondern vor allem, weil die größeren Mächte sie zum Instrument ihrer Interessenpolitik machen konnten. Die Entwicklung der koinḕ eirḗnē im 4. Jahrhundert Ob ein Friedensschluss als koinḕ eirḗnē gelten kann oder nicht, ist bei einigen Verträgen umstritten. Im Folgenden wird der Begriff möglichst weit gefasst, um die Entwicklung der Idee des Allgemeinen Friedens deutlich zu machen. Ausschließliche Kriterien sind die Autonomieklausel und die Beitrittsmöglichkeit für alle griechischen Poleis, unabhängig davon, ob sie diese Möglichkeit tatsächlich wahrnahmen. Gescheiterter Friedensschluss des Jahres 391 v. Chr. Im Verlauf des Korinthischen Krieges unterbreitete Sparta 392/391 v. Chr. dem persischen Satrapen von Lydien, Tiribazos, ein erstes Friedensangebot. Sparta stand unter Druck, sich ohne Gesichtsverlust aus seinem aussichtslosen Krieg in Kleinasien zurückzuziehen und gleichzeitig seine Vormachtstellung in Griechenland zu wahren. Dazu musste man erstens Persien die Herrschaft über die ionischen Griechenstädte zugestehen und zweitens dessen Verbindungen zu den griechischen Gegnern Spartas, insbesondere zu Athen, lösen. Gleichzeitig musste der persische Großkönig davon überzeugt werden, dass sich im ägäischen Raum nicht erneut eine griechische Macht bilden könne, die seine Ansprüche auf die ionischen Städte anfechten könnte. Der geeignete Vorschlag zur Lösung all dieser Probleme war, dass Sparta und Persien die Autonomie aller Griechenstädte – mit Ausnahme derer in Kleinasien – durchsetzen sollten. Sparta hätte damit die Sicherung eines allgemein anerkannten Grundsatzes als Ergebnis des Krieges vorweisen können. Gleichzeitig wäre die Welt der griechischen Poleis in machtlose Einzelstaaten aufgesplittert worden, was sowohl die spartanische Hegemonie gesichert als auch das persische Sicherheitsbedürfnis befriedigt hätte. Die griechischen Stadtstaaten lehnten den Vorschlag naturgemäß sofort ab. Aber auch der persische Großkönig Artaxerxes II. war nicht geneigt, ihn anzunehmen. Er löste Tiribazos ab und ersetzte ihn durch den neuen Satrapen Struthas, der weiterhin dem Bündnis mit Athen zuneigte. Wenige Monate später versuchten die Spartaner daraufhin auf einer Konferenz in ihrer Stadt, mit ihren griechischen Gegnern ins Reine zu kommen. Wiederum schlugen sie das Autonomieprinzip als Basis einer Einigung vor, diesmal mit Zugeständnissen an Athen und Theben. Den Athenern sollten die Inseln Lemnos, Imbros und Skyros verbleiben, die Thebaner sollten lediglich die Unabhängigkeit von Orchomenos anerkennen. Bei diesen Verhandlungen wurde erstmals die Formulierung von einem allgemeinen – oder gemeinschaftlichen – Frieden für alle Griechen gebraucht. So verwendet sie der Athener Andokides in seiner Rede, in der er seinen Landsleute vergeblich zur Annahme der spartanischen Vorschläge riet: Andokides unterschied zwischen Verträgen und einem echten Frieden. Er appellierte an panhellenische Gefühle, indem er das Projekt des Allgemeinen Friedens idealisierte. Allerdings verschweigt er, dass die ionischen Städte, für deren Freiheit Athen 100 Jahre zuvor den Konflikt mit Persien in Kauf genommen hatte, von dem Vertrag ausgeschlossen sein sollen. So lehnten die Athener den Vertrag schließlich ab – auch, weil sie sich im Bunde mit Struthas in einer starken Position glaubten. Der Königsfriede Die Erfolge der attischen Flotte im Jahr 390 v. Chr. bewirkten aber ein Umdenken am persischen Hof, der eine allzu starke Machtstellung Athens fürchtete. Struthas wurde zwei Jahre später durch seinen Vorgänger Tiribazos abgelöst, der 387/386 v. Chr. zusammen mit dem spartanischen Gesandten Antalkidas den Königsfrieden durchsetzte. Das Abkommen, auch „Friede des Antalkidas“ genannt, enthielt im Wesentlichen die spartanischen Vorschläge von 392/91. Seine wichtigsten Bestandteile waren der Beitritt aller Griechenstädte sowie die Garantie ihrer Freiheit und Unabhängigkeit. Davon ausgeschlossen blieben nur die ionischen Städte, Zypern und Klazomenai, die weiter unter persischer Oberherrschaft blieben, sowie die drei bereits erwähnten athenischen Inseln. Alle anderen Gewinne musste Athen wieder herausgeben; auch die Auflösung aller Bündnisse wurde durch den Vertrag unausweichlich. Dessen entscheidender Passus lautete nach Xenophon, dessen Werk Hellenika die für diese Zeit wichtigste Quelle ist: Die meisten Forscher sehen im Königsfrieden das erste Beispiel einer koinḕ eirḗnē. Hermann Bengtson betrachtete den Allgemeinen Frieden als Teilwirkung des Vertrags, der zunächst nur ein Dekret des Großkönigs gewesen sei, von dem sich sein Name herleitet. Dieses Dekret wurde in Sparta von allen griechischen Städten beschworen – dies allerdings unter der Gewaltandrohung durch den Großkönig für den Fall der Weigerung. Dies und die genannten Ausnahmen zeigen, dass ein Allgemeiner Friede nicht vollkommen verwirklicht wurde. Dies sollte auch später nie der Fall sein. Wie weit die Autonomie und die Teilnahme aller Poleis gewährleistet wurde, hing stets von den Interessen derjenigen Mächte ab, die eine koinḕ eirḗnē initiierten und garantierten. Artaxerxes beabsichtigte mit dem Königsfrieden nicht, Griechenland eine dauerhafte Friedensordnung zu geben, sondern es politisch zu spalten und zu schwächen. Sparta zeigte neben dem Wunsch nach Frieden das Bestreben, die eigene Hegemonie zu sichern. Die spartanische Interpretation von Autonomie verlangte zwar die Auflösung aller Symmachien, nicht aber die des eigenen Peloponnesischen Bundes. Denn dieser war nicht einheitlich und zentral organisiert, sondern bestand aus einem System bilateraler Verträge, die Sparta mit jedem einzelnen seiner Mitglieder geschlossen hatte. Solche Verträge zwischen einzelnen Städten fielen aber aus spartanischer Sicht nicht unter das Verbot von Bündnissen unter einer Hegemonialmacht, obwohl der Peloponnesische Bund de facto genau dies war. Damit blieb Sparta die stärkste Militärmacht in Griechenland. Unter dem Vorwand, das Autonomieprinzip schützen zu wollen, übte die Stadt in den nächsten Jahren eine Vorherrschaft aus, welche die Autonomie anderer – etwa des Chalkidischen Bundes oder der Stadt Mantineia – grob missachtete. Der Allgemeine Friede von 375 v. Chr. Im Jahr 382 v. Chr. besetzten die Spartaner – mitten im Frieden – die Kadmeia, die Burg Thebens, dessen wachsende Macht ihnen ein Dorn im Auge war. Dieses Vorgehen kostete sie den Rest ihrer Glaubwürdigkeit als Verteidiger der Autonomie und brachte ihnen einen Krieg mit Theben und dem mit diesem verbündeten Athen ein. In dessen Verlauf kam es im Frühjahr 377 v. Chr. zur Gründung des Zweiten Attischen Seebundes. Dieses Bündnis stellte einen Verstoß gegen die Klauseln des Königsfriedens dar. Aber es wurde möglich, weil ein Großteil der ägäischen Inseln und der Küstenstädte nun in Athen – dank dessen Hilfe für Theben – den besseren Anwalt des Autonomieprinzips sahen. Der Bündnisvertrag wurde ausdrücklich geschlossen Die Athener hatten die Situation demnach propagandistisch geschickt genutzt und die Wiederherstellung des Seebunds ausdrücklich damit begründet, den Königsfrieden wahren zu wollen. Weniger als dreißig Jahre spartanischer Hegemonie hatten ausgereicht, um die Ansichten über Symmachien in ihr Gegenteil zu verkehren: Galt der erste Seebund noch als Bedrohung der Autonomie, sollte der zweite sogar deren Verteidigung dienen. Um eine erneute Vormachtstellung Athens zu verhindern, wurde das neue Bündnis nach den Prinzipien des Allgemeinen Friedens organisiert. Dies ist ein Hinweis darauf, dass diese Prinzipien damals allgemein akzeptiert wurden. Als der Krieg im Jahr 375 v. Chr. stagnierte, wuchs in Athen und Sparta die Bereitschaft zu einem Friedensschluss. Die Spartaner konnten nicht mehr auf einen Sieg hoffen, und die Athener hatten alle ihre Ziele erreicht: Die Freiheit Thebens von spartanischer Hegemonie und die Anerkennung ihres Seebunds galt nun als vereinbar mit den Bestimmungen des Königsfriedens. Diodor berichtet, eine Gesandtschaft des Großkönigs habe eine Erneuerung des Königsfriedens vorgeschlagen, da Persien Ruhe in Griechenland brauchte, um dort Söldner für einen Krieg in Ägypten anwerben zu können. Die Griechenstädte gingen auf den Vorschlag ein, so dass erneut eine koinḕ eirḗnē zustande kam. Der Allgemeine Friede wurde diesmal um einen Punkt erweitert: Wie bereits in den Bestimmungen des zweiten Attischen Seebunds vorgesehen, sollten alle fremden Garnisonen aus den Städten abgezogen werden. Dies richtete sich vor allem gegen Sparta, das in einigen südböotischen Städten wie Thespiai – wenn auch auf deren eigenen Wunsch zum Schutz gegen Theben – präsent war. Die Thebaner waren denn auch die Hauptnutznießer des Allgemeinen Friedens von 375. Sparta hatte den Krieg aus demselben Grund begonnen, aus dem Athen ihn nun zu beenden bereit war: ein weiteres Anwachsen der thebanischen Macht zu verhindern. Der Abzug der spartanischen Truppen unter dem Vorwand des Autonomieprinzips führte aber letztlich dazu, dass Theben freie Hand in Böotien erhielt. Aber auch die Athener gehörten eindeutig zu den Gewinnern: Ihr Erfolg lag in der Anerkennung des neuen Seebundes. Gegen ihn konnte nun weder Sparta noch Persien vorgehen, wie es zehn Jahre zuvor noch sicher geschehen wäre. Trotz der persischen Gesandtschaft kann der Allgemeine Friede von 375 als der erste bezeichnet werden, der im Wesentlichen auf rein griechische Initiativen zurückging und bei dem sich alle Parteien etwa gleich stark und dadurch gleichberechtigt gegenüberstanden. Zum ersten Mal schien eine Friedensregelung auch ohne den Druck einer Hegemonialmacht möglich zu sein. Die Verhandlungen vor und nach Leuktra In Athen hatten sich schon vor dem Vertrag von 375 v. Chr. zwei gegnerische politische Gruppierungen gebildet: Die eine strebte einen Ausgleich mit Sparta, die andere eine Fortsetzung des Bündnisses mit Theben an. Die antispartanischen Kräfte überschätzten jedoch Athens Stellung nach dem Friedensschluss und unterstützten auf der mit Sparta verbündeten Insel Kerkyra (heute: Korfu) einen demokratischen Umsturz. So hatte Sparta, das mit den Ergebnissen der vorangegangenen Auseinandersetzungen alles andere als zufrieden sein konnte, schon nach anderthalb Jahren wieder einen Kriegsgrund. Zusätzlich wurde die Lage dadurch verkompliziert, dass Theben 374/373 v. Chr. Plataiai zerstörte, das alte Bindungen zu Athen und seit 380 v. Chr. auch zu Sparta unterhielt. Die Spartaner entsandten daraufhin Truppen nach Phokis, um Theben zu bedrohen und die Misserfolge der letzten Jahre wettzumachen. So sah es 371 v. Chr. wieder einmal nach einem Krieg aller gegen alle aus. In Athen setzten sich jedoch die gemäßigten Politiker durch, die in der Neutralität die vorteilhafteste Lösung für ihre Stadt sahen und den erneuten Abschluss eine koinḕ eirḗnē vorschlugen. Auf die Seite Thebens zu treten hätte geheißen, dessen Machtstellung entscheidend zu stärken. Eine Unterstützung Spartas dagegen hätte die eigenen Bündner verschreckt, die in ihm eine Bedrohung ihrer Autonomierechte sahen. Dazu kamen weitere Bedenken: Hätte Sparta das angebotene Bündnis abgelehnt, wäre Athen gezwungen gewesen, gleich zwei Kriege führen zu müssen. So beschlossen die Athener, die Ereignisse um Plataiai zu übergehen und die Thebaner zu einer Friedenskonferenz nach Sparta einzuladen. Sparta war zu einem Frieden nun umso mehr bereit, da seine Aktionen in Phokis erfolglos verlaufen waren. Eine Bedrohung Thebens war damit unmöglich geworden; andererseits sahen sich die Spartaner von Theben noch nicht selbst bedroht. Der Allgemeine Friede, der nun auf Vorschlag Athens ausgehandelt wurde, brachte wiederum entscheidende Neuerungen. Die athenische Interpretation von Autonomie setzte sich weiter durch, und Sparta verpflichtete sich laut Xenophon, alle seine Harmosten (Garnisonskommandeure) aus fremden Poleis abzuziehen. Das war ein schwerwiegendes Zugeständnis, denn dafür kamen nach 375 nur noch die Städte auf der Peloponnes – Spartas ureigenem Einflussgebiet – in Frage. Noch wichtiger für die Weiterentwicklung der Friedensidee waren jedoch Regelungen, die eine allseitige Demobilisierung der Truppen und Flotten vorsahen und die es den Vertragspartnern erlaubten, sich bei einem Angriff gegenseitig Hilfe zu leisten. Die letztere Klausel, die allerdings keine Verpflichtung zum Beistand enthielt, kam auf Betreiben Athens zustande. Es wollte sich damit jederzeit die Möglichkeit offen halten, zwischen den beiden anderen Machtblöcken die Waage zu halten. Isoliert betrachtet, wäre dieser Friedensvertrag ein Meisterstück athenischer Diplomatie zu nennen. Da er jedoch nie wirksam wurde, kann nur darüber spekuliert werden, ob er einen dauerhaften Frieden begründet hätte. Immerhin hatten die Vertragspartner der Einsicht Rechnung getragen, dass man zur Sicherung des Friedens auch die nötigen Machtmittel gegen einen möglichen Friedensbrecher bereitstellen musste. Im Königsfrieden war dies noch die Drohung des Großkönigs gewesen. In einem Bund freier Staaten musste es die gemeinsame Absichtserklärung sein, einem Angriff auf einen Vertragspartner gemeinsam entgegenzutreten. Bei dem geplanten Abschluss des Vertrags kam es jedoch zu einem schweren Zerwürfnis zwischen Theben und Sparta. Thebens Gesandte hatten die Übereinkunft zunächst im Namen der eigenen Stadt beschworen und diesen auch unter den Vertrag setzen lassen. Tags darauf verlangten sie aber, den Namen Thebens durch den des Böotischen Bundes zu ersetzen, da sie sich berechtigt sahen, in dessen Vertretung zu handeln. Dies lehnten die Spartaner kategorisch ab, da nach ihrer Auffassung die böotischen Städte autonom sein sollten. Der Bruch führte zum Krieg und nur zwanzig Tage später zur Schlacht von Leuktra, die mit der ersten Niederlage Spartas in offener Feldschlacht endete und die Machtverhältnisse in Griechenland endgültig zu seinen Ungunsten veränderte. Nach der Schlacht flauten die kriegerischen Auseinandersetzungen zunächst ab. Theben ging vorerst nicht weiter militärisch gegen Sparta vor, und dieses entsandte lediglich Truppen zum Isthmus von Korinth, um im äußersten Fall einen thebanischen Angriff auf die Peloponnes abzuwehren. In dieser Situation ergriff wiederum Athen die Initiative und lud zu einem Friedenskongress ein, auf dem wieder der Königsfriede beschworen und ein neuer Vertrag ausgehandelt werden sollte. Dahinter stand die Absicht, eine weitere Machtentfaltung Thebens zu verhindern. Als Neuerung in diesem Friedensvertrag wurde daher die Möglichkeit, einem angegriffenen Vertragspartner gegen einen Friedensstörer beizustehen, in eine Verpflichtung umgewandelt. Dies war eine logische Fortentwicklung der vorherigen, gescheiterten koinḕ eirḗnē und fand von da an Eingang in jeden weiteren Allgemeinen Friedensschluss. Einige Forscher sehen im zweiten Vertrag von 371 aufgrund der Beistandsverpflichtung die Begründung einer Symmachie. Die Spartaner traten dem neuen Abkommen im eigenen Interesse sofort bei. Ihre Nachbarn, die Eleier, versuchten unterdessen bereits, die Schwäche Spartas zu nutzen und weigerten sich, die Autonomie einiger Grenzstädte anzuerkennen, die sie 399 v. Chr. auf spartanischen Druck hin abgetreten, nach Leuktra sich aber erneut angeeignet hatten. Schwerwiegender war, dass Theben dem Vertrag fernblieb, da ein Allgemeiner Friede seinen Ambitionen in seiner neu gewonnenen Machtstellung nur hinderlich sein konnte. Bengtson sah in dieser koinḕ eirḗnē nicht mehr als eine athenische „Geste gegen Theben ohne praktischen Wert“. Wenn die Idee des Allgemeinen Friedens je eine Chance hatte, auf der Basis allgemeiner Gleichberechtigung der Poleis verwirklicht zu werden, dann war es die kurze Zeitspanne zwischen 375 v. Chr. und der Schlacht von Leuktra. Nur damals gab es drei etwa gleich starke hellenische Großmächte, so dass die stärkste stets durch ein mögliches Bündnis der beiden anderen gezügelt werden konnte. Vorher und nachher dagegen existierte immer eine klar dominierende Hegemonialmacht – erst Sparta, dann Theben – die eine koinḕ eirḗnē entweder ablehnte oder für eigene Zwecke instrumentalisierte. Beides führte über kurz oder lang immer wieder zu kriegerischen Konflikten. Mit dem Scheitern der Vereinbarungen von 371 v. Chr. verlor der Gedanke des Allgemeinen Friedens als Mittel der praktischen Politik erheblich an Überzeugungskraft. Gescheiterte Friedensschlüsse 368 und 366 v. Chr. Im Jahr nach Leuktra baute Theben seine Hegemonie deutlich aus. Durch einen Kriegszug auf der Peloponnes erwirkte es die Unabhängigkeit Messeniens, das seit Jahrhunderten von Sparta beherrscht worden war, und unterstützte die Bildung des Arkadischen Bundes. Ein weiterer Krieg gegen ein Bündnis aus Sparta, Athen und Syrakus verlief dagegen ergebnislos. Daraufhin fanden sich alle Griechenstädte 369/368 v. Chr. auf Anregung Ariobarzanes', des persischen Satrapen von Phrygien zu einer Friedenskonferenz in Delphi bereit. Diese scheiterte aber an der strikten Weigerung Spartas, die Unabhängigkeit Messeniens anzuerkennen, und an der Unterstützung, die es in dieser Frage von Athen und dem persischen Gesandten Philiskos erhielt. Da Ariobazarnes wenig später einen Aufstand gegen den Großkönig entfachte, ist bis heute nicht eindeutig geklärt, ob er in dessen Auftrag gehandelt oder in den Verhandlungen eigene Interessen verfolgt hat. Als im Lauf der weiteren Auseinandersetzungen Dionysios II. von Syrakus seine Hilfe für die Spartaner einstellte, wandten diese sich wiederum an Persien um Vermittlung. So kam es 367/366 v. Chr. zu dem von dem Altertumsforscher Karl Julius Beloch so genannten „Wettkriechen“ der hellenischen Gesandten am Hof des Großkönigs, das der Thebaner Pelopidas am Ende für sich entschied. Persien erkannte nun Theben in gleicher Weise als Ordnungsmacht in Griechenland an wie Sparta 20 Jahre zuvor im Königsfrieden. Messenien sollte künftig von Sparta, Amphipolis von Athen unabhängig sein, und den Eleiern sollten die umstrittenen Grenzgebiete um Triphylia zugestanden werden. Ebenso sollten wieder alle Truppen und die Flotte der Athener abgebaut werden. Auch dieser Vorschlag zu einem Allgemeinen Frieden wurde von Sparta und Athen abgelehnt. Zudem gelang es Theben nicht, die übrigen Poleis einzeln zu seiner Annahme zu bewegen. Diese beiden Versuche einer koinḕ eirḗnē unter thebanischen Vorzeichen stellten im Grunde eine Rückentwicklung der Friedensidee auf den Stand von 387 v. Chr. dar: Persien versuchte, mittels einer innergriechischen Hegemonialmacht Einfluss zu nehmen und einen Allgemeinen Frieden zu erzwingen. Dass beide Vertragsentwürfe, anders als der Königsfriede, abgelehnt wurden, lag zum einen daran, dass die Drohung des Großkönigs, mit Gewalt gegen einen Friedensbrecher vorzugehen, wegen des Aufstands des Ariobarzanes und anderer Satrapen erheblich an Glaubwürdigkeit verloren hatte. Der wichtigste Grund dürften aber die Erfahrungen gewesen sein, die Griechenlands Städte nach dem Königsfrieden mit Sparta gemacht hatten. Die koinḕ eirḗnē von 362 Aufgrund des wachsenden Drucks Thebens auf Athen – etwa durch die Eroberung von Oropos im Jahr 366 v. Chr. – wurde auch dessen Politik wieder aggressiver, zumal wirkliche Hilfe von seinen Verbündeten ausblieb. Keine der griechischen Mächte konnte sich aber in den Folgejahren völlig durchsetzen. Auch der Konflikt, der aus der Spaltung des Arkadischen Bundes entstand, blieb letztlich unentschieden. Er gipfelte 362 v. Chr. in der Schlacht von Mantineia zwischen Theben und seinen Verbündeten einerseits und Sparta, Athen und ihren Bundesgenossen andererseits. Nach der Schlacht, in der Thebens überragender Heerführer Epameinondas fiel, betrachteten sich alle Beteiligten als Sieger und schlossen wieder einen Allgemeinen Frieden. Erstmals kam der Vertrag weder auf Betreiben einer oder mehrerer der führenden Mächte noch auf persischen Druck hin zustande. Darin und in der Ablehnung der Griechenstädte, den kleinasiatischen Satrapenaufstand gegen den Großkönig zu unterstützen, haben manche Forscher ein positives Element gesehen. Danach hätten die Griechen sich auf sich selbst besonnen und es geschafft, aus eigener Kraft Frieden zu schließen. Der wahre Grund für diese neuerliche koinḕ eirḗnē dürfte aber allein in der völligen militärischen und materiellen Erschöpfung aller Beteiligten zu sehen sein. An ein Eingreifen in Kleinasien war in ihrer Situation ohnehin nicht zu denken. Auf die weit verbreitete Kriegsmüdigkeit und den Wunsch, so rasch wie möglich Frieden zu machen, deuten vor allem die vertraglichen Regelungen hin, die es jeder Stadt erlaubten, zu behalten, was sie zum Zeitpunkt des Friedensschlusses gerade besaß. Territoriale Probleme wurden so zwar nicht gelöst, stellten aber auch kein Hindernis mehr für ein Abkommen dar. Der Arkadische Bund blieb in eine Nord- und eine Südhälfte gespalten, und Messenien blieb weiter unabhängig. Da die Hälfte des Grundbesitzes der Spartaner in diesem Gebiet lag, traten sie auch dieser koinḕ eirḗnē nicht bei. Andererseits waren sie aber auch nicht mehr in der Lage, den Krieg weiterzuführen. Der Althistoriker Hermann Bengtson sah im Jahr 362 eine Epochengrenze, da sich damals das Versagen der griechischen Poleis manifestiert habe. Keine von ihnen sei in der Lage gewesen, durch eine Hegemoniebildung Griechenland politisch neu zu ordnen. Vielmehr hätten sie sich im Kampf aller gegen alle verbraucht. Auch gemeinsam seien sie zu einer solchen Neuordnung nicht fähig gewesen, da letztlich weder der panhellenische Gedanke noch die Idee des Allgemeinen Friedens zu einer konstruktiven Politik geführt hätten. Die koinḕ eirḗnē als Grundlage des Korinthischen Bundes Die innergriechische Politik verlief nach Mantineia in den alten Gleisen. Als sich in den 50er Jahren des 4. Jahrhunderts immer stärker der Konflikt mit der aufsteigenden makedonischen Großmacht abzeichnete, lebte auch die Idee des Allgemeinen Friedens noch einmal auf. Zunächst machte Makedonien den Vorschlag, den Frieden des Philokrates, der den Dritten Heiligen Krieg beendet hatte, durch eine koinḕ eirḗnē zu ersetzen. Wegen der anhaltend aggressiven Politik Makedoniens gegen Athen setzten sich dort jedoch in den nächsten Jahren die Verfechter eines dezidiert antimakedonischen Kurses unter Demosthenes durch. Sie lehnten den Vorschlag ab und befürworteten stattdessen den Krieg gegen König Philipp von Makedonien. Tatsächlich brachten die Athener 340/339 v. Chr. einen großen Bund griechischer Staaten zusammen. Dessen Heer jedoch wurde 338 v. Chr. von Philipps Truppen in der Schlacht von Chaironeia vernichtend geschlagen. Die Makedonen gingen anschließend aber nur gegen Theben äußerst hart vor, während sie sich die Macht Athens und der anderen Poleis durch ein Bündnis zunutze machen wollten. Der von Philipp initiierte Korinthische Bund beruhte formal auf einer koinḕ eirḗnē. Der Bundesvertrag enthielt das ausdrückliche Verbot, mit Gewalt in die Verfassungen anderer Städte einzugreifen – eine wesentliche Präzisierung der Autonomieklausel –, außerdem erstmals generelle Verbote von Fehden und Kaperei sowie eine Garantie der freien Schifffahrt. Der Bund, dem wiederum nur Sparta nicht beitrat, bildete ein Synhedrion: einen Rat, der mit Philipp als Person eine Symmachie einging. Der Makedonenkönig wurde so zum Hegemon des Bundes. Theoretisch waren also Freiheit und Autonomie der griechischen Städte gesichert. In der Praxis wurde aber bereits das allgemeine Fehdeverbot als starke Einschränkung der Unabhängigkeit empfunden. Zudem erhielten die Makedonen das Recht, Besatzungen nach Theben, Akrokorinth und Chalkis zu verlegen – vorgeblich zur Wahrung der allgemeinen Sicherheit. Der Korinthische Bund war also die endgültige Absage an eine koinḕ eirḗnē auf der Grundlage völliger Gleichberechtigung und verband die Friedensidee wieder mit der Garantie durch eine starke Hegemonialmacht. Symmachie und koinḕ eirḗnē bedingten sich in dem Bündnisvertrag gegenseitig. Die panhellenische Vorstellung von einer Einigung Griechenlands und einem „Rachefeldzug“ gegen die Perser, wie ihn Alexander der Große wenige Jahre später propagierte, wurde erst durch diesen Allgemeinen Frieden ermöglicht. Chancen und Scheitern der Friedensidee Mit „Autonomie und Freiheit“ hatten die griechischen Poleis zu Beginn des 4. Jahrhunderts eine für alle Seiten akzeptable Formel für eine umfassende Friedensregelung gefunden. Ohne sie war nach 387 v. Chr. kein Friedensschluss mehr möglich, auch wenn die Vereinbarungen meist nur wenige Jahre hielten. Aber die Prinzipien des Allgemeinen Friedens fanden auch Eingang in Bündnisverträge wie die Gründungsakten des 2. Attischen Seebunds und des Korinthischen Bundes. Eine große Chance zur Verwirklichung einer wahren koinḕ eirḗnē lag auch darin, dass sich die Friedensidee als flexibel genug für Weiterentwicklungen erwies. Forscher wie Bengtson vertreten die Ansicht, die Poleis hätten bis zur Etablierung der makedonischen Hegemonie nicht genügend Zeit gehabt, die koinḕ eirḗnē als Instrument der Friedenspolitik und einer grundlegenden Neuordnung der griechischen Staatenwelt zu vervollkommnen. Die besten Chancen zu einer dauerhaften Friedenslösung auf gleichberechtigter Basis waren schon mit dem Scheitern der koinḕ eirḗnē von 371 vertan. Neun Jahre später, nach der Schlacht von Mantineia, sah man in einem Allgemeinen Friedensvertrag nur noch eine Notlösung. Ihre Wiederbelebung durch Philipp von Makedonien erfuhr sie nur, weil sie dessen Machtinteressen nützte, so wie zuvor schon den Interessen Persiens, Spartas, Athens und Thebens. Vieles spricht auch dafür, dass das Scheitern der koinḕ eirḗnē in ihrem Wesen begründet war, speziell in der weitgehenden Auslegung des Autonomiegebots. Die wechselseitige Machtkontrolle zwischen Staaten war im 4. Jahrhundert v. Chr. nur in Ansätzen möglich. In einer solchen Zeit musste ein Denken, das selbst Beschränkungen der Kriegsführung als Beschneidung der eigenen Autonomie und Freiheit empfand, eine dauerhafte Friedensordnung fast zwangsläufig scheitern lassen. Den Staatsmännern der Poleis war bewusst, dass guter Wille allein kein Garant einer koinḕ eirḗnē sein konnte. Je nach politischer Konstellation entwickelten sie daher Vertragsmechanismen, die Friedensstörer abschrecken sollten. Sie tasteten sich langsam zu der Erkenntnis vor, dass ein Allgemeiner Friede auf gleichberechtigter Basis nur dann möglich würde, wenn alle Beteiligten bereit wären, einem angegriffenen Bündnismitglied notfalls militärisch zu Hilfe zu eilen. Dies wiederum setzte ein ungefähres Gleichgewicht zwischen den griechischen Poleis voraus, das aber nur in der kurzen Zeit zwischen 375 v. Chr. und der Schlacht von Leuktra wirklich gegeben war. Vorher und nachher hatte ein Allgemeiner Friede nur dann eine Chance, wenn eine starke Garantiemacht bereit war, ihm notfalls mit Gewaltandrohung Geltung zu verschaffen. Immerhin: In der Diskussion um die koinḕ eirḗnē entwickelten die Griechen des 4. vorchristlichen Jahrhunderts Prinzipien, die in Europa erst ab dem 17. Jahrhundert n. Chr. erneut entwickelt und zur Grundlage dauerhafter Friedensschlüsse und -organisationen geworden sind. So gilt der Westfälische Friede als erste europäische Friedensordnung der Neuzeit, die auf der prinzipiellen Gleichrangigkeit souveräner Staaten und dem Grundsatz der Nichteinmischung in deren innere Angelegenheiten, also auf dem Wesen der Autonomie beruhte. Einen Schritt weiter ging Immanuel Kant in seiner Schrift Zum ewigen Frieden aus dem Jahr 1795. Darin vertritt er nicht nur das Prinzip der Nicht-Einmischung, sondern fordert darüber hinaus einen „Völkerbund“. Um den rechtlosen Naturzustand zwischen den Staaten zu beenden, solle dieser ein föderatives Verhältnis zwischen ihnen begründen, wie es so ähnlich die koinḕ eirḗnē nach der Schlacht von Leuktra vorgesehen hatte. Auf Kants Ideen wiederum beriefen sich im 20. Jahrhundert die Gründer des Völkerbunds und der Vereinten Nationen. Eine definitive Antwort auf die Frage nach einer dauerhaften Friedenssicherung, der Einhegung der Macht durch das Recht, hat die Welt von heute aber ebenso wenig gefunden wie die Welt der griechischen Poleis vor 2400 Jahren. Literatur Quellen Andokides: Über den Frieden mit den Lakedämoniern. Übersetzt und erläutert von Albert Gerhard Becker. Quedlinburg, Leipzig 1832 Andokides: Orationes, hrsg. von Fr. Blass, C. Fuhr. Teubner, Stuttgart 1965. Diodorus Siculus: Library of History. The Loeb Classical Library ´Bd. VI. Books 14–15.19, Band VII. 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Satz von Dirichlet (Primzahlen)
Der Satz von Dirichlet, gelegentlich auch Dirichletscher Primzahlsatz, benannt nach Peter Gustav Lejeune Dirichlet, ist eine Aussage aus dem mathematischen Teilgebiet der Zahlentheorie. Er besagt, dass eine aufsteigende arithmetische Progression unendlich viele Primzahlen enthält, wenn dies nicht aus trivialen Gründen, etwa bei , unmöglich ist. Eine arithmetische Progression ist dabei eine Folge ganzer Zahlen, sodass zwei aufeinanderfolgende Glieder stets dieselbe Differenz haben, wie zum Beispiel Ganz allgemein ist eine solche Folge für eine ganze Zahl und eine natürliche Zahl gegeben durch Die Folge ist dann im Sinne des Satzes von Dirichlet „trivial“, wenn und einen gemeinsamen Teiler haben, der größer als ist. Den ersten vollständigen Beweis der Aussage lieferte Dirichlet im Jahr 1837. Dabei wurden erstmals rein analytische Methoden für die Gewinnung eines zahlentheoretischen Satzes verwendet. Die Vermutung über Primzahlen in arithmetischen Folgen stammt von Adrien-Marie Legendre aus dem Jahr 1798, der in seinem Lehrbuch der Zahlentheorie einen fehlerhaften Beweis gab, wie Dirichlet darlegte. Anwendung findet der Satz innerhalb der Zahlentheorie, etwa im Beweis des Satzes von Hasse-Minkowski. Bezogen auf das Dezimalsystem sagt der Satz aus, dass es jeweils unendlich viele Primzahlen gibt, die auf eine 1, auf eine 3, auf eine 7 und auf eine 9 enden. Allgemeiner kann man sagen: Gibt es zwei verschiedene Primzahlen, die in einem Zahlensystem auf die gleiche Ziffernfolge enden, so gibt es unendlich viele weitere Primzahlen, die in diesem Zahlensystem auf diese Ziffernfolge enden. Etwa gibt es unendlich viele Primzahlen, die auf die Ziffern 419 enden. Die ersten Primzahlen mit dieser Eigenschaft sind und . Dirichlets Beweis war ein wichtiger Schritt zur Begründung der analytischen Zahlentheorie und führte zur Etablierung der Dirichletschen L-Funktionen, der Dirichlet-Charaktere und der analytischen Klassenzahlformel für quadratische Zahlkörper. Die Einführung der L-Funktion geschah in Analogie zu Leonhard Eulers Einführung der Zetafunktion bei der Primzahlverteilung. Tatsächlich konnte Dirichlet eine etwas stärkere Formulierung als die bloße Unendlichkeitsaussage gewinnen, denn er lieferte eine Verallgemeinerung des Satzes von Euler über Primzahlen: Addiert man also die Kehrwerte aller Primzahlen in der betroffenen arithmetischen Progression, ist das Ergebnis Unendlich. Diese Aussage impliziert die Unendlichkeit der entsprechenden Primzahlmenge, aber es existieren ganz allgemein unendlich lange Zahlfolgen, die in ihrer Kehrwertsumme beschränkt sind. Dirichlet zeigte dafür als entscheidenden Zwischenschritt das Nicht-Verschwinden der Dirichletschen L-Funktion an der Stelle . Hierbei wurde die Bedeutung des Nullstellenverhaltens von L-Funktionen in Form sog. Nichtverschwindungssätze für die Zahlentheorie erstmals offenkundig. Im Laufe der Zeit konnte der Satz immer weiter verbessert werden. So schätzt etwa der Primzahlsatz für arithmetische Progressionen die genaue Anzahl der Primzahlen in einer arithmetischen Folge, die eine obere Schranke nicht überschreiten. Eine Folgerung ist, dass bei fester Wahl von in unterschiedlichen Folgen stets asymptotisch gleich viele Primzahlen liegen. Der Fehlerterm in dieser beschriebenen Primzahlverteilung ist Gegenstand des Satzes von Siegel-Walfisz, des Satzes von Bombieri und Winogradow und der Vermutung von Elliott und Halberstam. Unter Annahme der verallgemeinerten Riemannschen Vermutung kann dieser Fehler zudem sehr deutlich verbessert werden. Notation Es werden durchweg folgende Bezeichnungen verwendet: , , , und bezeichnen die natürlichen, ganzen, rationalen, reellen bzw. komplexen Zahlen. Die Notation für asymptotische Beschränktheit durch Landau-Symbole: Es bedeutet , dass (wobei meist ). Analog wird mit gebraucht. Ferner bedeutet sogar . Es bezeichnet hierbei den Limes superior. Es bedeutet für schließlich Das Symbol bedeutet, dass sich dem Wert 1 unter der Bedingung nähert und ihm beliebig nahe kommt, etwa durch Es bezeichnen durchgängig und den Real- bzw. Imaginärteil der komplexen Zahl . Wie üblich ist durchgängig der natürliche Logarithmus von , und die natürliche Exponentialfunktion. Es bezeichnen den Integrallogarithmus und die Primzahl zählende Funktion. Allgemeiner ist die Anzahl aller Primzahlen , sodass durch teilbar ist. Teilt die Zahl die Zahl , so wird dies mit notiert. Es bedeutet die Schreibweise , dass , dass also die Zahl teilt, siehe auch Modulo. Es bezeichnet die Riemannsche Zeta-Funktion. Zudem wird mit reellen und geschrieben. Es bezeichnet die Eulersche Phi-Funktion. Es bezeichnet das Summenzeichen und das Produktzeichen. Aussage des Satzes Primzahlen Im Zentrum der Zahlentheorie, jenes Zweiges der Mathematik, der sich mit den Eigenschaften der natürlichen Zahlen 1, 2, 3, 4, … beschäftigt, stehen die Primzahlen 2, 3, 5, 7, 11, … Diese sind ausgezeichnet durch die Eigenschaft, genau zwei Teiler zu haben, nämlich die 1 und sich selbst. Die 1 ist keine Primzahl. Primzahlen bilden gewissermaßen die Atome der ganzen Zahlen, da sich jede positive ganze Zahl eindeutig multiplikativ in solche zerlegen lässt. Dieses Resultat wird auch als Fundamentalsatz der Arithmetik bezeichnet. Zum Beispiel gilt und . Trotz ihrer einfachen Definition ist nach mehreren Jahrtausenden Mathematikgeschichte bis heute kein Muster bekannt, dem sich die Primzahlen in ihrer Folge unterwerfen. Ihre Natur ist eine der bedeutendsten offenen Fragen der Mathematik. In der modernen Mathematik gibt es jedoch tiefliegende Vermutungen, die das Verhalten der Primzahlen als pseudozufällig einordnen und Verbindungen zur Quantenphysik sehen. All diese Aussagen liegen im Themenbereich der Riemannschen Vermutung. Der Satz von Dirichlet Eine arithmetische Progression ist eine Folge von ganzen Zahlen, wobei die Differenz zweier aufeinanderfolgender Zahlen konstant ist. Beispiele sind oder auch Der Satz von Dirichlet besagt, dass eine arithmetische Progression stets unendlich viele Primzahlen beinhaltet, es sei denn, dies ist aus trivialen Gründen unmöglich. In der einfachsten Fassung lautet der Satz: Es sei eine natürliche Zahl und eine zu teilerfremde natürliche Zahl. Dann enthält die arithmetische Progression unendlich viele Primzahlen. Anders formuliert: Es gibt unendlich viele Primzahlen, die kongruent zu modulo sind. Dabei ist die Voraussetzung der Teilerfremdheit notwendig. Wären und nicht teilerfremd und ein gemeinsamer Teiler, so wäre jedes Folgenglied durch teilbar; zwei verschiedene Primzahlen können aber nicht beide durch teilbar sein. Dass die Bedingung der Teilerfremdheit von und für die Existenz unendlich vieler Primzahlen in der entsprechenden Folge nicht nur notwendig, sondern auch hinreichend ist, ist genau die Aussage des Satzes von Dirichlet. Dirichlet konnte sogar etwas mehr zeigen. Es handelt sich um eine direkte Verallgemeinerung des Satzes von Euler über Primzahlen. Es gilt mit oberen Bedingungen: Diese Aussage ist stärker als die obere Version. Denn offenbar impliziert die Divergenz der Reihe die Unendlichkeit der Primzahlen in der betroffenen arithmetischen Folge. Es gibt allerdings unendliche Folgen, deren Kehrwertsumme beschränkt bleibt. Ein Beispiel bilden die Quadratzahlen (siehe Basler Problem), oder die Zweierpotenzen, es gilt Damit besagt die verstärkte Fassung des Satzes von Dirichlet, dass die Primzahlen in den relevanten arithmetischen Progressionen gewissermaßen „dicht“ unter den natürlichen Zahlen verteilt sind. Beispiele Aus dem Satz von Dirichlet folgt zum Beispiel, dass unendlich viele Primzahlen auf die Ziffern 1, 3, 7 oder 9 enden. Noch allgemeiner gibt es unendlich viele Primzahlen, deren letzte Ziffern auf 37, 113, 419 oder 567241 enden. Die ersten Primzahlen mit Endziffern 419 sind . Es gilt ferner Triviale Gründe, wann der Satz nicht gilt, liegen vor, wenn und nicht teilerfremd sind. Dann gibt es eine ganze Zahl , die sowohl als auch teilt. Damit teilt jede der Zahlen mit natürlichen und somit enthält diese Folge höchstens (einmal) die Primzahl , falls überhaupt prim ist. Etwa sind und nicht teilerfremd. In der Tat sind alle Zahlen der Progression durch teilbar. Damit enthält sie keine einzige Primzahl. Trivialerweise impliziert der Satz von Dirichlet den Satz des Euklid, der besagt, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Setzt man etwa , so besagt er, dass die Progression unendlich viele Primzahlen enthält. Geschichte Die mathematische Entdeckungsgeschichte über die Verteilung der Primzahlen reicht bis in die Antike zurück. Schon Euklid erkannte, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Sein Resultat wird als der Satz des Euklid bezeichnet. Ab dem 18. Jahrhundert wurde begonnen, dieses qualitative Resultat quantitativ zu vertiefen. Dabei spielten zunehmend Methoden aus der Analysis eine Rolle, die den alten Griechen noch nicht zur Verfügung standen. Eine Entdeckung Eulers Leonhard Eulers Entdeckungen zu den Primzahlen waren ein Wegweiser für die kommende Entwicklung von einer elementaren, in der Tradition der alten Griechen stehenden, hin zu einer modernen Form der Zahlentheorie. Im Jahr 1737, während seiner ersten Zeit in Sankt Petersburg, untersuchte Euler einen neuartigen Zugang zu den Primzahlen und fand heraus, dass sie „verhältnismäßig dicht“ unter den natürlichen Zahlen verstreut sind. Genauer bewies er Summiert man also nacheinander die Kehrwerte der Primzahlen, wird auf Dauer jede noch so große obere Schranke durchbrochen. Dies zeigt, dass Primzahlen eher „dicht“ unter den natürlichen Zahlen verstreut sind; zum Beispiel „dichter“ als die Quadratzahlen, denn ebenfalls Euler zeigte Quadratzahlen wachsen also langfristig schnell genug an, dass die Summe ihrer Kehrwerte den endlichen Wert 1,645 nicht überschreitet. Euler stand seiner Zeit nicht die mathematische Sprache zur Verfügung, diese Verschärfung des Euklidischen Satzes präzise zu interpretieren, und es gibt keinen Nachweis, dass er sich mit exakten Aussagen zur Verteilung von Primzahlen beschäftigte. Eulers Beweisstrategie für nutzt das sog. Euler-Produkt. Dabei spielt die eindeutige Zerlegbarkeit natürlicher Zahlen in Primfaktoren eine Schlüsselrolle. Das Euler-Produkt steht in Zusammenhang zu einem Objekt, das bis heute in der Primzahlforschung benutzt wird und in der modernen Mathematik als Riemannsche Zeta-Funktion bekannt ist. Die Zeta-Funktion spielt ebenfalls für die Riemannsche Vermutung eine zentrale Rolle. Die neuartige Leistung bestand darin, Fragen zu Primzahlen systematisch durch funktionale Zusammenhänge zwischen Zahlen anzugreifen. Euler gilt deswegen als Initiator der analytischen Zahlentheorie. Auch Euler hatte sich bereits Gedanken über Primzahlen in arithmetischen Progressionen gemacht. So behauptete er 1785, dass es zu jeder Zahl unendlich viele Primzahlen mit gibt. Erste vollständige Formulierung und Beweisversuche Zur Gänze wurde das Problem erstmals von Adrien-Marie Legendre im Jahre 1798 formuliert. Dies war verbunden mit dem ersten Beweisversuch, der ebenfalls von Legendre unternommen wurde. In der zweiten Auflage seines Buchs Essai sur la théorie des nombres (publiziert 1808) gab er 1798 einen fehlerhaften Beweis. In der dritten Auflage von 1830 wiederholte er denselben Fehler. Legendres Irrtum verbarg sich hinter den Worten „Wie man einfach sieht, …“, die am Ende des 409. Abschnittes der dritten Auflage auftauchten. Dort skizzierte er den Beweis eines für seinen Beweis zentralen Lemmas, das er in Abschnitt 410 formulierte: Es seien paarweise verschiedene, ungerade Primzahlen, und es bezeichne die -te Primzahl, dann gibt es stets innerhalb aufeinanderfolgender Terme in der arithmetischen Progression mit eine Zahl, die durch keinen der Werte teilbar ist. Die Unzulänglichkeit des Beweises von Legendre wurde bereits von Dirichlet hervorgehoben: Das Lemma von Legendre, das nach A. Desboves (1855) sogar die bis heute unbewiesene Legendre-Vermutung als Konsequenz gehabt hätte, stellte sich schließlich als falsch heraus. Der Fehler wurde zuerst von A. Dupré in einer bei der Paris Academy eingereichten Schrift benannt. Dupré zeigte, dass es bereits bei und mit der Wahl als die ersten Primzahlen mit oder scheitert. Dass das Lemma in dieser Konstellation sogar für alle scheitert, wurde 1930 von A. Brauer und H. Zeitz gezeigt. Alte Ideen, neuer Zugang: Dirichlet führt Eulers Überlegungen weiter aus Obwohl Euler das Problem über die Unendlichkeit von Primzahlen in geeigneten arithmetischen Progressionen nicht löste, lieferte er mit der von ihm gezeigten Divergenz der Reihe über alle Primzahlen bedeutende Vorarbeit. Der erste vollständige Beweis der Vermutung von Legendre wurde von Peter Dirichlet 1837 gegeben, der ihn am 27. Juli desselben Jahres bei einer Konferenz in der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin präsentierte. Er gab einen vollständigen Beweis für den Fall mit Primzahlabständen und hatte auch den allgemeinen Fall bis zu einem entscheidenden Punkt entwickelt. Hierfür wurde ein detaillierter Beweis 1839 von Dirichlet nachgeliefert. Dirichlets Beweis zeigte, dass falls zu teilerfremde ganze Zahlen sind, bereits gelten muss. Dies zeigte zudem, dass die Primzahlen in einem gewissen Sinne gleichverteilt unter den nichttrivialen Restklassen sind. Dies wird mit der, ebenfalls von Dirichlet gezeigten, Aussage verdeutlicht, wobei die Eulersche Phi-Funktion bezeichnet. Allerdings waren Dirichlets Methoden nicht geeignet, asymptotische Gleichverteiltheit tatsächlich zu zeigen. Er konnte also nicht beweisen, wobei die Anzahl der Primzahlen bezeichnet, sodass gilt. Ein dafür angefertigter Beweis von Legendre vom Jahr 1830 war fehlerhaft, und der erste korrekte Beweis für die Gleichverteiltheit wurde 1896 unabhängig von Jacques Hadamard und Charles-Jean de La Vallée Poussin erbracht. Elementare Beweise für spezielle Moduln Für gewisse Spezialfälle ist es möglich, einen elementaren Beweis für bestimmte Restklassen zu geben. Diese ähneln dem Beweis des Satzes von Euklid hinsichtlich Mittel und Methodik. Elementar bedeutet, dass nur Sätze aus der elementaren Zahlentheorie angewendet werden, die sämtlich auf Teilbarkeitseigenschaften, wie das Rechnen mit Resten und die Eigenschaft, dass sich jede natürliche Zahl eindeutig als Produkt von Primzahlen zerlegen lässt, aufbauen. Die Progression 1, 2, 3, 4, … Bei der Wahl erhält man die Progression In diesem Fall geht der Satz von Dirichlet in den aus der Antike bekannten Satz des Euklid über, der schlicht die Unendlichkeit der Primzahlen beinhaltet. Für den Beweis dieser Aussage kann man für ein beliebiges natürliches die Zahl betrachten, wobei die Fakultät von bezeichnet. Es ist dann durch keine der Zahlen teilbar. Also gibt es eine Primzahl . Da beliebig groß gewählt werden kann, folgt die Behauptung. Die Fälle 4n+1 und 4n+3 Für einen schnellen Beweis, dass es unendlich viele Primzahlen der Form gibt, betrachtet man unter der Annahme, dass die größte Primzahl dieser Form ist, das Produkt Es wird ausgenutzt, dass die Behauptung folgt, wenn es unendlich viele Primzahlen der Form gibt (Variablenwechsel ). Das Produkt enthält dabei alle ungeraden Primzahlen . Da von der Form ist, kann es wegen nach Annahme keine Primzahl sein. Andererseits übersteigen alle Primfaktoren von die Zahl , müssen also von der Form sein. Da das Produkt zweier, und damit beliebig vieler, Zahlen mit Rest 1 wegen wieder Rest 1 (modulo 4) hat, müsste auch den Rest 1 modulo 4 haben. Allerdings ist von der Form , und dies erzeugt einen Widerspruch. Um zu sehen, dass es unendlich viele Primzahlen von der Form gibt, betrachtet man für eine natürliche Zahl den Wert , wobei die Fakultät von bezeichnet. Dann ist offenbar eine ungerade Zahl und größer als 1. Es sei der kleinste Primfaktor von . Es teilt nach Konstruktion keine der Zahlen den Wert , daher muss gelten. Offenbar gilt zudem Potenziert man beide Seiten mit ( ist ungerade), so findet man Nach dem kleinen Satz von Fermat gilt , also folgt Da , sieht man damit schnell, dass gerade sein muss, also von der Form sein muss. Da und beliebig groß gewählt war, folgt die Behauptung. Die Restklasse 1 Auch für den Fall der Restklasse 1 gibt es elementare Argumente. Zunächst wird dafür gezeigt, dass es unendlich viele Zahlen gibt, sodass eine Primzahl mit existiert. Ein Beweis dieser Aussage von E. Wendt aus dem Jahre 1895 nutzt dabei die Polynome , die als kleinstes gemeinsames Vielfaches der Polynome mit und definiert sind. Wendt bewies als Zwischenschritt, dass es unendlich viele ganze Zahlen gibt, sodass die Werte und teilerfremd sind, was mit elementaren Mitteln gezeigt werden kann. Nach einer Wahl mit und und sei eine Primzahl, die teilt. Es gilt daher . Da folgt, dass für jeden echten Teiler von , hat man . Dies zeigt, dass die Ordnung von genau ist. Sätze von Schur und Murty Die Frage, ob sich für jede Restklasse der Satz von Dirichlet mit einem Argument des „Euklidischen Typs“, also Aufmultiplizieren von Zahlen mit einem abschließenden Widerspruchsargument, beweisen lässt, wurde negativ beantwortet. Issai Schur konnte 1912 zeigen, dass dies in den Fällen von Progressionen mit möglich ist. In all diesen Fällen kann ein Polynom mit ganzzahligen Koeffizienten so generiert werden, dass ein Widerspruch zur Endlichkeit der betroffenen Primzahlen durch eine Euklidische Strategie unter Verwendung des quadratischen Reziprozitätsgesetzes erzeugt werden kann. Etwa hat im Falle der Progression ein solches Polynom die Gestalt Dass es zusätzlich in keinem anderen Falle möglich ist als in den von Schur genannten, konnte M. Ram Murty im Jahr 1988 zeigen. Analytischer Beweis Benötigte Grundlagen Der Satz von Dirichlet wird mit analytischen Mitteln bewiesen. Unumgänglich für ein Verständnis des Beweises ist daher der Begriff der Funktion. Auch eine sichere Beherrschung der aus der Mittelstufe bekannten Potenzgesetze ist unabdingbar. Rechnen mit Resten Geht eine ganzzahlige Division nicht auf, kann dies durch die Angabe eines Restes ausgedrückt werden. Etwa ist geteilt durch gleich (Rest ). Man sagt auch, dass kongruent zu ist, modulo , kurz Nach diesem Prinzip lassen sich sämtliche ganze Zahlen durch die Angabe der entsprechenden Restklasse unterteilen. Bleibt man bei der Division durch 4, ergeben sich für die Reste usw. Es gibt also genau vier Restklassen modulo , und diese sind Dies setzt sich auch in die negativen Zahlen fort, etwa hat bei Division durch den Rest . Es liegen usw. alle in derselben Restklasse. Außerdem wird vereinbart, dass und stellvertretend für alle Zahlen stehen, die den jeweiligen Rest besitzen. Es wird also auch und mit der identifiziert, da diese Zahlen ebenfalls restlos durch teilbar sind. Entfernt man sich nun von der Vorstellung einer Zahl und reduziert das Augenmaß lediglich auf den Rest bei Teilung durch , gilt also , und dies ist die Schreibweise für die Gleichheit von Restklassen. Man kann mit Restklassen rechnen. Liegen zwei Zahlen und in den Restklassen und , so liegt in der Klasse zu . Etwa ist kongruent modulo und kongruent modulo , und die Summe ist kongruent modulo , was aber wieder dem Rest entspricht. Ähnliches gilt für Produkte von Restklassen. Somit kann gesagt werden, dass Reste „stabil“ unter Addition und Multiplikation sind: So ist es anschaulich gesprochen unerheblich, ob zuerst zwei Zahlen addiert/multipliziert werden, und anschließend mit Rest dividiert wird, oder die bereits ermittelten Einzelreste addiert/multipliziert werden. Eulersche Phi-Funktion Die Eulersche Phi-Funktion ordnet einer natürlichen Zahl die Anzahl der Zahlen zu, die teilerfremd zu sind. Dies ist von Bedeutung, weil dies genau der Anzahl an Restklassen entspricht, die gemeinsam mit eine arithmetische Progression liefern, sodass mit unendlich viele Primzahlen enthält. Man nennt diese Restklassen auch prim. Die vier Restklassen modulo werden durch repräsentiert. Nur zwei davon, nämlich und , sind prim, die entsprechenden Repräsentanten also teilerfremd zu , daher gilt . Reihen Unter einer Reihe versteht man, veranschaulicht, eine niemals endende Summe von Zahlen. Dies können reelle, aber auch komplexe Zahlen sein. Die Dezimalschreibweise einer reellen Zahl kann als Reihe aufgefasst werden, etwa oder auch mit der Kreiszahl . Die durch die Punkte angedeuteten Summen enden niemals, da die Dezimalentwicklung von periodisch und die Kreiszahl irrational ist. Es gibt Reihen, deren Wert nicht als Zahl darstellbar ist, aber auch solche, die gegen einen Grenzwert konvergieren (wie die oberen Beispiele mit Grenzwerten bzw. ). Reihen wie , die nicht konvergieren, nennt man divergent. Veranschaulichend gesagt kann eine Reihe nur dann konvergieren, falls die Glieder „schnell genug gegen 0 streben“. Aber nicht jede Reihe, deren Glieder gegen 0 streben, konvergiert, wie man an der harmonischen Reihe sieht. Eine ganz besondere Form der Konvergenz ist die absolute Konvergenz, bei der gefordert wird, dass die Summe der Absolutbeträge der Reihenglieder konvergiert. In diesem Fall lassen sich auch die Summanden in der Reihe nach Belieben umordnen, ohne den Grenzwert zu verändern. Dirichlet-Reihen Es ist auch möglich, Funktionen durch Reihen zu definieren. Ein für den Satz von Dirichlet zentrales Beispiel ist die sog. Riemannsche Zeta-Funktion: Für konvergiert diese Reihe immer gegen eine Zahl, die den Funktionswert an der Stelle Darstellt. Damit kann man die Zeta-Funktion auf dem Intervall definieren. Wegen der Divergenz der harmonischen Reihe gilt aber Allgemeiner kann man einer Folge von Zahlen eine Dirichlet-Reihe zuordnen, via Wächst nicht zu stark an, so gibt es eine Zahl , sodass die Reihe für alle Werte in konvergiert. Für den Fall, dass sogar beschränkt ist, kann stets gewählt werden, da dann wegen und der Konvergenz der Reihe für erst recht jene über folgt, siehe auch Majorantenkriterium. Dieses Prinzip spielt eine wichtige Rolle beim Beweis des Satzes von Dirichlet. Euler-Produkte Der Eckpfeiler zwischen Analysis und Zahlentheorie liegt im Euler-Produkt. Dieses ist eine Identität zwischen einem unendlichen Produkt und einer Reihe und gilt dann, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Haben die Koeffizienten einer Dirichlet-Reihe untereinander eine multiplikative Relation, gilt also für alle ohne gemeinsame Teiler und ferner , so findet man im Bereich der absoluten Konvergenz der Dirichlet-Reihe Die Formel lässt sich mittels des Prinzips, dass sich jede Zahl eindeutig als Produkt von Primzahlpotenzen schreiben lässt, und gewöhnliches Ausmultiplizieren von Klammern, erklären. Etwa ergibt sich für den Faktor auf der rechten Seite wegen : Dabei wurde die von geforderte Multiplikativität ausgenutzt – es sind naturgemäß Potenzen verschiedener Primzahlen ohne gemeinsame (nichttriviale) Teiler. Der Term zur Linken kann nun durch die entsprechende Auswahl an Summanden in den Klammern beim Ausmultiplizieren gewonnen werden. Eine noch stärkere Version des Euler-Produktes erhält man, wenn die Koeffizienten sogar vollständig multiplikativ sind, also für ausnahmslos alle natürlichen Zahlen erfüllt ist und erneut gilt. Dann gilt insbesondere für alle Primzahlen , und man erhält mit der geometrischen Reihe: Logarithmen Von entscheidender Bedeutung für den Beweis sind Logarithmen. Mit diesen wird ermöglicht, das Euler-Produkt (mit Primzahlfaktoren) auf eine Summe mit Primzahltermen zurückzuführen. Dabei wird die für Logarithmen eigentümliche Beziehung mit ausgenutzt, die sich unter gewissen Bedingungen aber auch auf komplexe Zahlen ausdehnt. Man erhält für vollständig multiplikative zusammen mit im absoluten Konvergenzbereich: Es wird stets der natürliche Logarithmus betrachtet, also jener zur Basis (Eulersche Zahl), weil dieser eine besonders einfache Ableitung besitzt, nämlich Wegen und ist die Ursprungsgerade für kleine Werte eine sehr gute Annäherung an , siehe Bild. Der Fehler ist hierbei quadratisch, es gilt also in Termen der Landau-O-Notation. Diese Annäherung, die erst durch die Differentialrechnung ermöglicht wird, ist von großer Bedeutung, da sie hilft, die auftretenden Logarithmen durch deutlich leichtere lineare Funktionen zu ersetzen, wobei der Fehler vernachlässigt werden kann. Zusammen mit erhält man mit und für Dabei steht die Abkürzung für eine Funktion, deren Werte für beschränkt sind. Eine erste Anwendung dieses Prinzips umfasst einen Beweis von . Da die Funktion offenbar stark multiplikativ ist, da Produkte von Einsen immer Einsen sind, gilt mit Da die harmonische Reihe divergiert und auch Logarithmen unbeschränkt anwachsen, gilt , also ist auch die rechte Primzahlreihe für unbeschränkt, da der beschränkte Term das durch die Gleichheit gegebene Wachstum nicht gewährleisten kann. Erläuterung der Strategie an einem Beispiel Die Erläuterung der Beweisstrategie von Dirichlet wird mit einem Beispielfall begleitet. Es wird der Fall und betrachtet, d. h., es wird exemplarisch gezeigt, dass die Progression unendlich viele Primzahlen enthält. Es wird sogar noch eine stärkere Aussage gezeigt: Dirichlet konnte nachweisen, dass die Summe über alle Kehrwerte der Primzahlen divergiert, also Definiert man auf den ganzen Zahlen eine Funktion , die nur an den „passenden“ Zahlen den Wert annimmt, und sonst nur , so kann man die zu untersuchende Reihe auch als Reihe über alle Primzahlen schreiben: Die Strategie sieht vor, die Divergenz der Eulerschen Primzahlreihe zu nutzen, um daraus die Divergenz der oberen Primzahlreihe zu erzwingen. Dafür führt man die Variable ein, und beweist Die Schlüsselidee ist, geeignete Abbildungen und auf den Restklassen zu definieren. Diese erweitern sich durch 4-Periodizität auf Abbildungen auf den ganzen Zahlen und sollen die folgende Eigenschaften haben: Ausschluss der trivialen Restklassen: Es nehmen beide Funktionen auf und den Wert an. Möglichkeit, nur Primzahlen in der passenden Restklasse zu betrachten: Es lässt sich jede -periodische Funktion auf und , also insgesamt den Zahlen , durch und durch geeignete Linearkombination erzeugen. Multiplikativität bzw. Euler-Produkt Eigenschaft: Es gilt für alle und , also sind die Erzeuger und vollständig multiplikativ. Durch die oberen Bedingungen lassen sich tatsächlich genau zwei solche Funktionen finden: Da die Vektoren und linear unabhängig sind, gilt Eigenschaft 2, und man kann aus diesen beiden Funktionen jede 4-periodische Funktion auf den ganzen Zahlen kombinieren, die auf geraden Zahlen verschwindet. Von Interesse ist die Abbildung für alle , und sonst, da man sich im Beispiel nur für Primzahlen in der Progression interessiert. Es gilt . Also gilt Offensichtlich gilt nach Euler da stets für alle ist, und der einzig fehlende Summand für natürlich nichts an der Divergenz ändert. Kann man außerdem zeigen, dass die Funktion für beschränkt ist, folgt insgesamt . Es ist vollständig multiplikativ, also folgt mit für : Es ist aber auch da die alternierende Reihe gegen eine positive Zahl konvergiert nach dem Leibniz-Kriterium. Es muss also für beschränkt sein. Der allgemeine Fall Im allgemeinen Fall ist es von entscheidender Bedeutung, Funktionen auf den nichttrivialen Restklassen modulo zu finden, die dort sämtliche Kombinationsfreiheit lassen und darüber hinaus vollständig multiplikativ sind. Dass dies immer möglich ist, ist nicht trivial. Solche Funktionen bezeichnet man auch als Dirichlet-Charaktere. Es gibt im Allgemeinen verschiedene sog. prime Restklassen , sodass also und teilerfremd sind. Im obigen Spezialfall hatte man , denn und sind teilerfremd zu , nicht aber und . Einem beliebigen Dirichlet-Charakter kann eine Dirichlet-Reihe zugeordnet werden: Diese wird auch als Dirichletsche L-Funktion zu bezeichnet. Es gilt für komplexe Zahlen mit Der Charakter, der auf allen Restklassen mit den Wert 1 annimmt (und ansonsten 0), heißt auch Hauptcharakter. Dieser korrespondiert zur Reihe von Euler über die Kehrwerte der Primzahlen, die bekanntermaßen divergiert. Alle anderen Charaktere nehmen auch Werte außer 0 und 1 an, im allgemeinen Fall komplexe Einheitswurzeln. Die oben demonstrierte Beweisidee ist im Allgemeinen die Gleiche. Als Ausgangspunkt wird die aus den Orthogonalitätsrelationen gewinnbare Identität genutzt. Wie im obigen Beispiel wird die benötigte Funktion, die nur für die interessanten Primzahlen den Wert annimmt, und sonst nur , durch Dirichlet-Charaktere linear kombiniert. Die hinteren Summen verhalten sich für wegen des Euler-Produktes, bzw. , im Wesentlichen wie . Dabei ist das komplex Konjugierte von . Die äußere Summe läuft dabei über alle Charaktere modulo . Da nur endlich viele Primzahlen auch erfüllen, folgt mit Eulers Resultat Es kann mit einer Verallgemeinerung des Leibniz-Kriteriums, des Kriteriums von Abel, gezeigt werden, dass im Gegensatz dazu existiert, falls nicht nur die Werte und annimmt. Im Beispiel war dies nur eine Reihe, und man hatte wobei die Reihe existierte und nicht war. Damit allgemein auch beschränkt bleibt, muss daher nur der Fall ausgeschlossen werden. Der Beweis dieses Nichtverschwindungslemmas bildet das Herzstück des Beweises des Satzes von Dirichlet. Der Beweis des Nichtverschwindungslemmas Es sind die Funktionen holomorph in , wenn kein Hauptcharakter ist. Dies folgt über die Konvergenz der Reihe in diesem Bereich, die sich mit den Orthogonalitätsrelationen und dem Kriterium von Abel nachweisen lässt. Für Hauptcharaktere modulo gilt zudem mit der Riemannschen Zeta-Funktion , sodass sich holomorph nach fortsetzen lässt, mit einem einfachen Pol in . Das Nichtverschwindungslemma besagt, dass gelten muss. Ein von Don Zagier gegebener Beweis durch Widerspruch nutzt den Satz von Landau. Dieser besagt, dass eine Dirichlet-Reihe mit ausschließlich nichtnegativen Koeffizienten am Rand ihres Konvergenzbereichs , präziser in , einen singulären Punkt haben muss, also dort nicht lokal holomorph ist. Man nutzt die Dirichlet-Reihe für die wegen der Euler-Produkte der L-Funktionen folgt. Dabei wird im zweiten Schritt die Taylor-Entwicklung der Funktion um ausgenutzt. Damit hat ausschließlich nichtnegative Koeffizienten. Wäre , so ließe sich holomorph nach fortsetzen, da die Nullstelle den Pol von weghebt und müsste demnach auf dieser gesamten Halbebene konvergieren. Nun gilt aber für reelle : Also ist die betrachtete Reihe für sicherlich nicht konvergent, ein Widerspruch. Darüber hinaus gibt es einige weitere Strategien, um das Nichtverschwindungslemma zu zeigen. Eine mögliche tiefere Interpretation liefert die analytische Klassenzahlformel. Eine Verschärfung der Aussage für reelle, primitive Charaktere ist der Satz von Siegel. Dieser besagt, dass für jedes ein existiert, dass für reelle, primitive Dirichlet-Charaktere modulo Varianten und Verallgemeinerungen Primzahlsatz für arithmetische Progressionen Bezeichnet wie oben die Anzahl der Primzahlen mit , so gilt für teilerfremde und bereits Dabei bezeichnet den Integrallogarithmus. Wegen für ist diese Aussage stärker als der Satz von Dirichlet, denn sie gibt zusätzlich eine quantitative Vorstellung von der Verteilung der Primzahlen in arithmetischen Progressionen. Wegen kann sie auch durch elementare Funktionen ausgedrückt werden: Als Spezialfall impliziert dies den Primzahlsatz. Zudem folgt, dass für festes die asymptotischen Häufigkeiten gleich sind. Ist also die Anzahl aller Primzahlen , folgt sofern und teilerfremd sind. Da die rechte Seite nicht mehr von abhängt, sind die Primzahlen in den in Frage kommenden Restklassen asymptotisch gesehen gleichverteilt. Der Beweis für den Primzahlsatz in arithmetischen Progressionen ist deutlich anspruchsvoller als der des Satzes von Dirichlet. Er erfordert ein detailliertes Studium der Funktionen in den komplexen Zahlen. Ein wichtiger Zwischenschritt ist die Aussage, dass für alle und Charaktere . Dies ist eine deutliche Verschärfung des oberen Nichtverschwindungslemmas. Für die Nullstellenfreiheit kann die Ungleichung für alle und genutzt werden. Im Anschluss kann die Aussage aus einem Taubersatz gewonnen werden, etwa jenem von Donald Newman, der auch für einen Beweis des Primzahlsatzes herangezogen werden kann. Mittels nullstellenfreier Gebiete für Dirichletsche L-Funktionen kann der Primzahlsatz für arithmetische Progressionen verschärft werden. Der Satz von Siegel-Walfisz besagt, dass es für jedes eine Konstante gibt, sodass für alle Moduln bereits gilt. Schärfere Aussagen zur Gleichverteilung Hinsichtlich der asymptotischen Gleichverteilung von Primzahlen in den geeigneten Restklassen sind im 20. Jahrhundert Fortschritte erzielt worden. Dabei spielte vor allen Dingen die Siebtheorie eine wichtige Rolle. Es wird in diesem Kontext vor allem die zu verwandte Funktion studiert. Ein Satz von M. B. Barban, Harold Davenport und Heini Halberstam besagt, dass für und jedes bereits gilt. Dies schätzt also die Mittelwerte der quadrierten Fehlerterme in der Approximation von durch ab, die eine äquivalente Alternative zur Approximation darstellt. Eine hierzu verwandte Aussage ist der Satz von Bombieri und Winogradow, der für eine feste Konstante Folgendes besagt: Ist und , so gilt Wichtiges Werkzeug zu dessen Beweis ist das große Sieb. Es kann die Konstante 4 im letzteren Exponenten durch für jedes verbessert werden. Die bis heute offene Vermutung von Elliott und Halberstam besagt, dass die linke Seite im Satz von Bombieri und Winogradow für mit beliebigem bereits ist, also im Quotienten mit für gegen 0 strebt. Ihre Richtigkeit würde in den meisten zahlentheoretischen Anwendungen sogar stärkere Folgerungen nach sich ziehen als die verallgemeinerte Riemannsche Vermutung. Darstellung von Primzahlen mittels Polynomen Der Satz von Dirichlet besagt, dass jedes der linearen Polynome für teilerfremde natürliche und und unendlich viele Primzahlen generiert. Analoge Aussagen für nichtkonstante Polynome in einer Variablen mit mindestens Grad 2 sind bis heute nicht bewiesen. So weiß man etwa nicht, ob unendlich viele Primzahlen die Gestalt haben. Allerdings konnte Henryk Iwaniec im Jahr 1978 zeigen, dass es unendlich viele gibt, sodass höchstens 2 Primfaktoren besitzt. Es wurden Erfolge für Polynome in mehreren Variablen erzielt. So konnte gezeigt werden, dass , wobei eine ganzzahlige quadratische Form mit nicht-verschwindender Diskriminante, die keine Quadratzahl ist, und , unendlich viele Primzahlen erzeugt. Ein bekanntes Beispiel ist die quadratische Form . Es kann gezeigt werden, dass sich genau jede Primzahl oder als Summe von zwei Quadraten schreiben lässt. Etwa ist Der Beweis kann mittels algebraischer Zahlentheorie geführt werden, durch die Primfaktorzerlegung in den Gaußschen Zahlen . Ebenfalls mittels algebraischer Zahlentheorie, insbesondere Hilbertscher Klassenkörper, konnte ein Kriterium erarbeitet werden, zu entscheiden, wann eine Primzahl von der Form mit ist. Dies gilt genau dann, wenn im Hilbertschen Klassenkörper von voll zerlegt ist. John Friedlander und Henryk Iwaniec zeigten 1998, dass es unendlich viele Primzahlen der Form gibt. Roger Heath-Brown zeigte 2001, dass unendlich viele Primzahlen von der Form sind. Satz von Green-Tao Im Jahr 2004 zeigten Ben Green und Terence Tao den Satz von Green-Tao, dass es in der Folge der Primzahlen beliebig lange arithmetische Progressionen gibt. Zum Beispiel ist 3, 5, 7 eine Progression von Primzahlen der Länge 3. Die längste bekannte (Stand 2020) arithmetische Progression von Primzahlen hat die Länge 27. Explizit ist sie gegeben durch Dünne Primzahlmengen Der Satz von Dirichlet identifiziert Teilmengen der natürlichen Zahlen, gegeben durch aufsteigende arithmetische Progressionen, die unendlich viele Primzahlen enthalten. Diese Teilmengen haben asymptotisch betrachtet aber eine positive Dichte. So hat etwa die Menge aller ungeraden Zahlen die Dichte . Allgemein gilt für : Im Jahr 2019 konnte James Maynard eine Teilmenge der natürlichen Zahlen angeben, die unendlich viele Primzahlen enthält, aber asymptotisch die Dichte 0 hat. Maynard bewies zum Beispiel, dass es unendlich viele Primzahlen gibt, die nicht die Ziffer 7 beinhalten. Die ersten dieser Primzahlen sind Sein Resultat gilt aber auch für alle anderen möglichen Ziffern von 0 bis 9. Der Beweis ist kompliziert und verwendet unter anderem die Kreismethode sowie Techniken aus der Fourier-Analysis. Im August 2022 wurde Maynard unter anderem für diese Leistung mit der Fields-Medaille ausgezeichnet. Anwendungen Der Satz von Dirichlet findet Anwendung in einigen Bereichen der reinen Mathematik, besonders in zahlentheoretischen Kontexten. So wird er an einer kritischen Stelle bei den Vorbereitungen des Beweises des Satzes von Hasse-Minkowski benötigt im Kontext mit Hilbert-Symbolen. Dies ist insofern bemerkenswert, da dieser Beweis ansonsten ausschließlich mit algebraischen und nicht analytischen Mitteln erbracht wird. Der Satz von Hasse-Minkowski liefert ein notwendiges und hinreichendes Kriterium dafür, dass quadratische Gleichungen mit rationalen Koeffizienten in mehreren Variablen lösbar sind. Damit gelten Gleichungen diesen Typs gewissermaßen als „verstanden“. Das Kriterium benutzt für jede Primzahl eine „Neuinterpretation“ der Gleichung in einem zu dieser Primzahl zugehörigen „Definitionsbereich“. Ferner wird der Satz von Dirichlet beim Beweis des Umkehrsatzes von Weil gebraucht. Dieser verallgemeinert den Umkehrsatz von Hecke, der eine 1:1-Korrespondenz zwischen Modulformen zur vollen Modulgruppe und gewissen L-Funktionen aufstellt. Im Fall von Weil dehnt sich dieses Resultat auf Kongruenzuntergruppen aus. Hierbei wird für primitive Dirichlet-Charaktere ein hinreichend großer Vorrat von Primzahlen in bestimmten Restklassen benötigt – und dieser unendliche Vorrat wird durch den Satz von Dirichlet garantiert. Modulformen gehören zu den bedeutendsten Objekten der Mathematik. Sie finden Anwendung zum Beispiel in der algebraischen Geometrie, der Darstellungstheorie, der Topologie, aber auch in der Physik. In Verbindung mit ihren L-Funktionen stehen Modulformen jedoch besonders im Zentrum der Zahlentheorie. So korrespondiert etwa zu jeder (nicht-singulären) elliptischen Kurve über , mit der Gestalt (), eine Modulform. Diese Aussage ist auch als Modularitätssatz bekannt. Dass die L-Funktion dieser Modulform etwas über die Anzahl der rationalen Punkte auf aussagt, ist eines der sieben Millennium-Probleme der Mathematik und auch als Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer bekannt. Literatur P. G. L. Dirichlet: Beweis des Satzes, dass jede unbegrenzte arithmetische Progression, deren erstes Glied und Differenz ganze Zahlen ohne gemeinschaftlichen Factor sind, unendlich viele Primzahlen enthält. In: Abhand. Ak. Wiss. Berlin, 48, 1837 (). Recherches sur diverses applications de l’analyse à la théorie des nombres. In: Journal für Reine und Angewandte Mathematik, Band 19, 1839, S. 324–369, Band 21, 1840, S. 1–12, 134–155 (und Dirichlet, Werke, Band 1). Winfried Scharlau, Hans Opolka: Von Fermat bis Minkowski. Springer, 1985, ISBN 978-3-540-10086-7. Władysław Narkiewicz: The development of prime number theory. Springer, 2000, ISBN 978-3-642-08557-4. Weblinks A. Granville, G. Martin: Prime Number Races. 2004, . Ivan Soprounov: A short proof of the prime number theorem for arithmetic progressions. Anmerkungen Einzelnachweise Dirichlet, Satz von (Primzahlen) Primzahl Peter Gustav Lejeune Dirichlet
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Francisco de Enzinas
Francisco de Enzinas (* 1. November 1518 in Burgos; † 30. Dezember 1552 in Straßburg), auch bekannt als Franciscus Dryander, Françoys du Chesne, Quernaeus, Eichmann, van Eyck (nach span. encina = [Stein-] Eiche), war ein spanischer Humanist und Protestant, der als Erster das Neue Testament aus dem Griechischen ins Spanische übersetzte. Francisco de Enzinas lebte als spanischer Protestant im 16. Jahrhundert auf der Flucht. Er hinterließ eine womöglich bis heute noch nicht in vollem Umfang erfasste Zahl von Übersetzungen antiker, insbesondere griechischer Autoren ins Spanische sowie zum Teil unter Pseudonym verfasste selbständige Schriften. Leben und Wirken Herkunft Francisco de Enzinas, der sich selbst auch Dryander nannte, kam laut Aussage eines Zeitgenossen am 1. November 1518 in Burgos, Spanien, zur Welt (so 2004 das Oxford Dictionary of National Biography, ältere biographische Quellen sagen 1520). Sein Vater Juan de Enzinas war ein erfolgreicher und wohlhabender Kaufmann. Die Mutter Ana starb früh (wohl 1527) und der Vater heiratete 1528 – da war Francisco 10 Jahre alt – ein zweites Mal, eine Beatriz de Santa Cruz (ca. 1495 bis ca. 1573), die einer einflussreichen Familie aus Burgos entstammte und die internationalen Beziehungen, die sich in der Folgezeit gepflegt wurden, in die Ehe einbrachte. Zur Verwandtschaft gehörte der Theologe Pedro de Lerma (1461–1541), der erste Kanzler der Universität Alcalá. Ein Onkel Franciscos, Don Pedro de Enzinas, war Archidiakon von Palenzuela und veranlasste 1566 den Bau einer Kapelle in der Kirche San Gil in Burgos, die neben dem sogenannten Cristo de Burgos auch die Grabmäler einiger Mitglieder der Familie Enzinas beherbergt. Werdegang Durch seine verwandtschaftlichen Beziehungen kam Francisco de Enzinas bereits in jungen Jahren in die Niederlande. In den Matrikeln der Universität Löwen taucht er 1539 auf. Hier lernte er u. a. Albert Ritzaeus Hardenberg kennen und wurde mit den Schriften und Ideen von Erasmus und Luther, wahrscheinlich auch mit denen Philipp Melanchthons, erstmals vertraut. Einer seiner Brüder, Diego de Enzinas, studierte mit ihm am Collegium Trilingue in Löwen und betreute 1542 in Antwerpen den Druck zweier Texte mit dem Titel Breve y compendiosa institución de la religión cristiana: einen Katechismus von Johannes Calvin, den Francisco ins Spanische übersetzt hatte, und die spanische Fassung von Luthers Von der Freiheit eines Christenmenschen. Diego starb 1547 in Rom auf dem Scheiterhaufen. Im Sommer 1541 reiste Francisco de Enzinas nach Paris, um seinen Verwandten Pedro de Lerma, unterdessen Dekan der theologischen Fakultät an der Sorbonne, zu besuchen, der im August desselben Jahres verstarb. Am 27. Oktober 1541 immatrikulierte er sich in Wittenberg und setzte sein Studium des Griechischen fort bei Philipp Melanchthon. Haft Möglicherweise hatte Francisco de Enzinas bereits in Löwen damit begonnen, das Neue Testament aus dem Griechischen ins Spanische zu übersetzen; in Wittenberg wohnte er im Hause Melanchthons, der das Vorhaben ausgesprochen unterstützte, und stellte die Übersetzung bis Ende 1542 fertig. Mit der für den Druck vorbereiteten Fassung reiste er im Winter 1542/43 in die Niederlande, wo er eher als in Wittenberg einen Drucker fürs Spanische finden konnte und die Vertriebswege nach Spanien günstiger waren, da die Niederlande zum Hoheitsbereich Karls V. gehörten. Im Oktober 1543 wurde El Nuevo Testamento de nuestro Redemptor y Salvador Jesu Christo in Antwerpen gedruckt. Am 25. November 1543 gelang es Francisco de Enzinas – wiederum durch verwandtschaftliche Beziehungen –, ein Exemplar seiner gedruckten Übersetzung persönlich Kaiser Karl V. in Brüssel zu überreichen. Am 13. Dezember 1543 wurde er auf Veranlassung von Pedro de Soto, Dominikaner und Beichtvater des Kaisers, verhaftet und ins Brunta-Gefängnis in Brüssel überstellt, in dem er knapp anderthalb Jahre einsaß. Das Nuevo Testamento wurde konfisziert. Durch die Beziehungen seiner Familie wurde Enzinas zu einem diplomatischen Fall. Anfang 1545 konnte er fliehen, zunächst nach Antwerpen und von dort nach Wittenberg, wo er im März des Jahres wieder bei Melanchthon war. Auf dessen Bitte schrieb er dort in wenigen Monaten seine Erlebnisse in den Niederlanden auf und betitelte sie Historia de statu Belgico et religione Hispanica. Er ließ sie zu seinen Lebzeiten nicht drucken. Leben auf Reisen Im Laufe des Jahres 1545 erhielt Francisco de Enzinas in Wittenberg unter Androhung der Todesstrafe und der Konfiszierung seines Besitzes die Aufforderung des Kaisers, ins Gefängnis zurückzukehren; Francisco kümmerte sich daraufhin in Leipzig zunächst um seine Finanzen. Anfang 1546 erfuhr er aus Spanien, dass auf Betreiben des kaiserlichen Beichtvaters de Soto nicht nur sein Erbe eingefroren, sondern über seine Familie auch der Bann gesprochen werden solle, sofern Francisco sich nicht nach Italien begeben werde. Franciscos Freund Juan Díaz, Spanier und Protestant wie er, schlug ein Treffen in Nürnberg vor; am 27. März wurde Díaz in Neuburg an der Donau auf Betreiben des eigenen Bruders Alfonso ermordet. Im Sommer 1546 reiste Francisco de Enzinas nach Straßburg zu Martin Bucer und besuchte anschließend in Zürich Heinrich Bullinger, in St. Gallen Joachim Vadian, in Lindau Hieronymus Seiler und in Konstanz Ambrosius Blarer von Giersberg, bevor er sich in Basel immatrikulierte. Hier schrieb er einen Bericht über die Ermordung des Juan Díaz, der im selben Jahr unter dem Pseudonym von Díaz’ Begleiter und Zeugen der Tat erschien: Historia vera de morti sancti viri Ioannis Diazii Hispani […] per Claudium Senarclaeum. Er ließ ein Traktat zum Trienter Konzil drucken, in dem er dieses Konzil, wie Eduard Böhmer (1893) bemerkt, „schneidig kritisiert“. Im Jahre 1547 unternahm Francisco de Enzinas eine weitere Reise durch die Schweiz und ließ im selben Jahr seine spanische Übersetzung von Plutarchs Kimon und Lukullus in Basel drucken. Dort erreichte ihn überdies die Nachricht, dass sein Bruder Diego in Rom als Ketzer verbrannt worden war. Er gab seinen Wohnsitz in Basel auf und zog nach Straßburg, da er sich in der Schweiz nicht mehr sicher fühlte. 1548 heiratete er in Straßburg Margarethe Elter (auch: Marguerite d'Elter). Obwohl de Enzinas über keinen formellen akademischen Abschluss verfügte, wurde er durch die Vermittlung von Bucer und Melanchthon als Regius Professor of Greek an die Universität Cambridge in England berufen. Im Oktober begann er dort mit dem Griechischunterricht, und seine Frau brachte ihr erstes Kind, eine Tochter namens Margarita, zur Welt. Francisco de Enzinas trieb in England seine Übersetzungen ins Spanische voran: Plutarch, Lukian, Livius. Nach gut einem Jahr verließ er seine kleine Familie, die er der Obhut des unterdessen ebenfalls in England niedergelassenen Bucer anvertraute, und reiste mit seinen Übersetzungen nach Basel, um sie dort bei Oporinus drucken zu lassen; er erhielt indes die dafür nötige obrigkeitliche Erlaubnis nicht. In Straßburg fand er einen Drucker, der 1550 mit dem Druck begann, so dass Enzinas beschloss, nicht mehr nach England zurückzukehren. Frau und Tochter kamen nach Straßburg. Francisco de Enzinas gründete dort einen Verlag für spanische Publikationen; 1551 wurde seine zweite Tochter Beatriz geboren. 1552 ereilte die Familie die in Straßburg heftig grassierende Pest. Francisco de Enzinas starb am 30. Dezember 1552, nur 34 Jahre alt; seine Frau erlag der Epidemie wenig später am 1. Februar 1553. Zurück blieben zwei kleine Töchter. Melanchthon bot sofort an, eins der Kinder bei sich aufzunehmen, auch die spanische Großmutter Beatriz kümmerte sich intensiv um das Sorgerecht. Gleichwohl blieben die Kinder in Straßburg, möglicherweise bei der dortigen Familie ihrer Mutter; es gibt aber auch Hinweise darauf, dass die Kinder in städtischer Obhut aufgewachsen sein könnten. Einige Quellen aus dem Sorgerechtsstreit mit Beatriz de Enzinas scheinen darauf hinzudeuten, dass die Mädchen später in Flandern lebten; was aus ihnen wurde, ist unbekannt. Quellenlage Vita Francisco de Enzinas’ Leben ist seit dem 16. Jahrhundert in verstreuten biografischen Notizen überliefert, seit dem 19. Jahrhundert vor allem in Vorworten von Textausgaben oder in Veröffentlichungen zu spanischen Humanisten des 16. Jahrhunderts. Mit der Herausgabe seiner Korrespondenz im Jahre 1995, aus der einzelne Briefe als Quelle bereits im 19. Jahrhundert herangezogen worden waren, kamen diese als bedeutende Quelle hinzu. Die vorstehende Lebensbeschreibung basiert auf dem Oxford Dictionary of National Biography und der dort verzeichneten Literatur, insbesondere der Darstellung von Eduard Böhmer, die umfangreiches Quellenmaterial nachweist. Der Abschnitt „Haft“ beruft sich auf Hedwig Böhmers Übersetzung der Historia de statu Belgico. das heißt auf die autobiographischen Aussagen des Francisco de Enzinas. Werke Von Francisco de Enzinas’ Werk hinterließen das Nuevo Testamento und seine zu Lebzeiten unveröffentlichte Schrift Historia de statu Belgico et religione Hispanica die nachhaltigsten Spuren. El Nuevo Testamento (1543) Textzeugen Der Antwerpener Druck von 1543 existiert in den Bibliotheken heute international durchweg als Microfiche oder Digitalisat; die meisten der wenigen nachgewiesenen Originaldrucke befinden sich in britischen Bibliotheken. Editionsgeschichte Als Stephan Mierdman 1543 in Antwerpen den Auftrag Francisco de Enzinas’ annahm, die spanische Fassung des Neuen Testaments zu drucken, verstieß er gegen den Alleinanspruch der römischen Kirche auf die Heilige Schrift und deren Auslegung auf der Grundlage nur einer kanonisierten lateinischen Fassung, der Vulgata. Übersetzungen in die Landessprachen wurden im 16. Jahrhundert von der römischen Kirche nicht nur unterbunden, sondern auch verfolgt; sie galten als Ursache für die Ketzerei, die Kontrollen waren strikt. Martin Luther wäre bei seiner Übersetzung der Bibel ins Deutsche ohne seinen fürstlichen Schutz nicht unbehelligt geblieben. Dieses Verbot für unzulässig zu erklären, war eines der Motive der Reformation. Nach der Verhaftung de Enzinas’ 1543 wurde Mierdmans Druck des Nuevo Testamento auf Veranlassung der spanischen Kirche in den Niederlanden konfisziert und vernichtet. Gleichwohl blieben Exemplare übrig, wie aus der Korrespondenz de Enzinas’, u. a. mit dem Drucker Mierdman in Antwerpen während seines Aufenthalts in England 1549, hervorgeht. 1556, vier Jahre nach de Enzinas’ Tod, erschien anonym El Testamento Nuevo de nuestro senor y salvador Iesu Christo. Nueva y fielmente traduzido del original Griego en romance Castellano. En Venecia, en casa de Iuan Philadelpho. Drucker und Druckort dieser „neuen“ Übersetzung, die nunmehr eine Widmung an Philipp II. enthielt und sich von der de Enzinas’, wie Jonathan L. Nelson feststellte, nur durch Inversionen unterschied, waren erfunden. Als Urheber dieser übernommenen Übersetzung ist Juan Pérez de Pineda (ca. 1500–1567), ein spanischer Protestant, belegt, der sie wahrscheinlich in Genf drucken ließ. Casiodoro de Reina (1515–1594) übernahm 1569 in seiner Übersetzung der Bibel, die Cipriano de Valera (1532–1602) überarbeitete, in den Evangelien ganze Kapitel und sogar einige Bücher von Pérez. Diese sog. Reina-Valera-Ausgabe wurde zur Grundlage für alle weiteren Bibel-Übersetzungen ins Spanische, nachdem die landessprachliche Übersetzung der Heiligen Schrift im 18. Jahrhundert endlich in Spanien offiziell genehmigt worden war. Historia de statu Belgico (1545) Quellenlage Ein Druck der Historia de statu Belgico et religione Hispanica zu Lebzeiten Francisco de Enzinas’ ist nicht bekannt, eine eigenhändige Niederschrift nicht erhalten. Es existieren zwei handschriftliche Kopien, die vermutlich von de Enzinas sogleich nach Beendigung der Niederschrift im Juli 1545 in Wittenberg in Auftrag gegeben worden sind. Eine dieser Kopien liegt seit 1623 in der Apostolischen Bibliothek des Vatikans, wohin sie mit der Bibliotheca Palatina aus Heidelberg über die Alpen verfrachtet worden war. Bis auf eine Abschrift ihres Anfangs im 19. Jahrhundert ist bislang keine Einsicht in diese Schrift bekannt geworden; ebenso ist unbekannt, wie sie in die Palatina gelangte. Die andere Kopie wird seit 1768 in der historischen Gymnasialbibliothek des Christianeums in Hamburg-Altona verwahrt; diesem Manuskript fehlt die erste Lage und damit auch der Titel, der handschriftlich auf dem Rücken des Pergamenteinbands aus dem 16. Jahrhundert vermerkt ist. Der Autor ist in den zahlreichen Einträgen der Vorbesitzer genannt; erst der Besitzer, der die Handschrift im 18. Jahrhundert erwarb, verzeichnete das Fehlen der ersten Lage. Editionsgeschichte Die Geschichte der Veröffentlichungen der von Francisco de Enzinas auf Latein verfassten Erzählung seiner Erlebnisse in den Niederlanden von 1542 bis 1545 ist auch eine Geschichte ihrer Übersetzungen. Diese wird durch eine Auswertung der in europäischen Archiven und Bibliotheken aufzufindenden Quellen von Jonathan L. Nelson und Ignacio J. García Pinilla (2001), die sich auf die Inspiration durch Vermaseren (1965) berufen, gründlich untersucht und dargestellt. 1558 erschien in St. Marie die Histoire de l’estat du Pais-Bas et du religion d’Espagne par Françoys du Chesne, als Herausgeber bzw. Drucker zeichnete ein François Perrin. Drucker und Ort sind bis heute rätselhaft. Fast gleichzeitig veröffentlichte Ludwig Rabus zwischen 1554 und 1558 in seinen Historien der heyligen auserwölten Gottes Zeügen, Bekennern und Martyrern Teile der Historia des Francisco de Enzinas auf Deutsch. Ein Druck des lateinischen Textes existierte zu dieser Zeit nicht. Nelson und Pinilla weisen nach, dass das Altonaer Manuskript auf keinen Fall Vorlage für diese Übersetzungen gewesen sein kann. Die Spur führt nach Straßburg und zu der heute in der Apostolischen Bibliothek aufbewahrten Kopie. Einige weitere, zwar ohne Nennung des Autors, aber deutlich auf die Historia zurückzuführende Geschichten (z. B. bei Paulus Crocius in seinem Groß Martyrbuch, 1606, oder in Jean Crespins Histoire des martyrs, 1608) basieren auf der französischen Übersetzung bzw. auf Rabus' Historien. Nelson und Pinilla konnten durch Textvergleiche auch die Vermutung begründen, dass es Rückübersetzungen ins Lateinische gegeben haben könnte. 1862/63 gab der belgische Verleger Campan die Mémoires de Francisco de Enzinas. Texte latin inedit heraus. Diese Edition stellte die französische Übersetzung von 1558 und einen lateinischen Text synoptisch gegenüber, wobei der Anfang nur auf Französisch vorliegt. Quelle des lateinischen Textes war das Altonaer Manuskript, dem der Anfang fehlt. Gleichzeitig ging eine Abschrift des Altonaer Manuskripts nach England, an Benjamin B. Wiffen. Eduard Böhmer, der die „Bibliotheca Wiffeniana“ aufarbeitete, wandte sich im Folgenden an einen Kollegen in Rom, der eine Abschrift des Anfangs aus dem vollständigen vatikanischen Manuskript veranlasste. Eduard Böhmer veröffentlichte diese Abschrift 1892 in einem Aufsatz in der Zeitschrift für Kirchengeschichte. Als seine Tochter Hedwig Böhmer 1893 ihre deutsche Übersetzung Denkwürdigkeiten vom Zustand der Niederlande und von der Religion in Spanien in nur hundert Exemplaren herausgab, hatte sie diese Abschrift und die Ausgabe von Campan zur Verfügung. Alle weiteren Editionen und Übersetzungen (vgl. Literatur) folgen bis heute Böhmers ZKG-Artikel von 1892 und der Campan-Edition von 1862/63; eine zweite Einsicht in das Manuskript des Vatikans ist nicht bekannt. In einem biografischen Kapitel über Francisco de Enzinas sagt Eduard Böhmer (1874) in einer Fußnote, dass er dessen Erlebnisse in den Niederlanden anhand der Historia de statu Belgico berichte; seine Darstellung ist also auch als Inhaltsangabe des Werkes zu lesen. Eine ausführliche Zusammenfassung der Historia lieferte Heinrich Nebelsieck (1918), kommentierte allerdings die Ereignisse aus seiner zeitgenössischen protestantischen Sicht recht tendenziös. Bedeutung Die Erwähnung auch anderwärts belegter Namen und Ereignisse machen diese autobiografische Schrift zu einer einmaligen historischen Quelle. Darüber hinaus trägt die Historia auch literarische Züge, zum Beispiel in ihrer wechselnden Dynamik, den Dialogen und der Präsenz des Ich-Erzählers. El Nuevo Testamento ist das Leitmotiv der Erzählung; die in der Historia dargestellten Reaktionen der spanischen Inquisition auf diese Veröffentlichung verdeutlichen, wie sehr die römische Kirche die Verbreitung von Schriften durch den expandierenden Buchdruck und den Vertrieb insbesondere landessprachlicher Drucke gefürchtet haben muss, so dass sie Leser wie Verfasser gleichermaßen verfolgte. Francisco de Enzinas’ Pseudonyme waren Programm; sie dienten ihm zum Schutz seiner Familie in Spanien. Gleichgesinnte wie Pérez benutzten sie zur Irreführung der spanischen Inquisitoren. Textzeugen El Nuevo Testamento De nuestro Redemptor y Salvador Iesu Christo. Traduzido de Griega en lengua Castellana, por Francisco de Enzinas, dedicado a la Cesarea Magestad. Mierdmann, Antwerpen 1543 Historia de statu Belgico et religione Hispanica. Wittenberg 1545 (zwei handschriftliche Kopien) Historia vera de morte sancti viri Ioannis Diazii Hispani, quem eius frater germanus Alphonsius Diazius, exemplum sequutus primi parricidae Cain, velut alterum Abelem, refariem interfecit. Per Claudium Senarclaeum (i.e.: F. de Enzinas). Oporinus, Basel 1546 Acta Consilii Tridenti Anno M.D.XLVI celebrati. Oporinus, Basel 1546 An Übersetzungen unter anderem nachgewiesen: Plutarch und weitere Titel bei Böhmer (1874/1962) Editionen und Übersetzungen Die Editionen und Übersetzungen sind chronologisch absteigend nach Erscheinungsjahr sortiert. Editionen Verdadera historia de la muerte del santo varón Juan Díaz, por Claude Senarclens. Hrsg. von Ignacio Javier García Pinilla. Ediciones del la Universidad de Castilla-La Mancha, Cuenca Santander 2008 (spanisch, PDF unvollständig, Edition des lateinischen Textes mit spanischer synoptischer Übersetzung; in den Fußnoten der Einleitung die deutschsprachigen Quellen zum Fall Dìaz) Breve y compendiosa institución de la religión cristiana (1542). Hrsg. von Jonathan L. Nelson. Ediciones críticas, Universidad de Castilla-La Mancha 2008, ISBN 978-84-8427-609-8. Epistolario. Edición crítica por Ignacio J. García Pinilla. Texto latino, traducción española y notas. Droz, Genève 1995. Francisco Enzinati Burgensis Historia de statu Belgico deque religione Hispanica. Edidit Franciscus Socas. Teubner, Stuttgart 1991. Der Anfang von Francisco de Enzinas’ „Historia de statu Belgico deque religione Hispanica“. Veröffentlicht von Ed. Böhmer. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte. Bd. 13 (1892), S. 346–359. Mémoires de Francisco de Enzinas. Texte latin inédit. La traduction française du XVIe siècle enregard 1543–1545. Publiés avec notice et annotations par Charles-Alcée Campan. La société de l’histoire de Belgique, Bruxelles 1862/63. Deux Tomes (Digitalisate der Bayerischen Staatsbibliothek: Tome Premier 1862, Tome Second 1863). Reprint: Kraus, Nendeln 1977. Übersetzungen Bericht over de toestand in de Nederlanden en de godsdienst bij de Spanjaarden. Uit het Latijn: Ton Osinga, Chris Heesakkers. Verloren, Hilversum 2002. Memorias. Traducidadas por Francisco Socas, con un esayo preliminar, notas e indices. Clásicas, Madrid 1992. Les Mémorables de Francisco de Enzinas traduit par Jean de Savignac. Librairie encyclopédique, Bruxelles 1963. Denkwürdigkeiten vom Zustand der Niederlande und von der Religion in Spanien. Übersetzt von Hedwig Böhmer. Mit Einleitung und Anmerkungen von Eduard Böhmer. Georgi, Bonn 1893 (hundert Exemplare, nicht im Handel; sechs Exemplare 2022 weltweit in Bibliotheken nachgewiesen, ein weiteres Exemplar in einer Hamburger Gymnasialbibliothek, Sign. K III 29/1a, im letzten Stadium von Säurefraß). Ein überarbeiteter Neudruck unbekannter Auflage erfolgte 1897 (Scan der Ausgabe von 1897 durch die Robarts Library, University of Toronto; deren Nachdruck als E-Book unter dem Titel Francisco de Enzinas: Denkwürdigkeiten, Melanchthon gewidmet, Norderstedt 2017). Histoire de l’estat du Pais-Bas et de la religion d’Espagne. Par Françoys du Chesne. François Perrin, St. Marie 1558. Ludwig Rabus: Historien der heyligen auserwölten Gottes Zeügen, Bekennern und Martyrern. Vol. VII, fol. 65r-164r; 176r-230v. Straßburg 1554–1558. Literatur Marcel Bataillon: El Hispanismo y los problemas de la historia de la espiritualidad espanola. Madrid 1977, S. 20 ff. Eduard Böhmer: Spanish Reformers of two Centuries from 1520. Their Lives and Writings according to the late Benjamin B. Wiffen’s Plan and with the Use of his Materials. Bibliotheca Wiffeniana. 3 Volumes. Straßburg/London 1874 (Vol. I), 1883(Vol. II), 1904(Vol. III). Neudruck: Franklin, New York ca. 1962, III Volumes; Vol.I, S. 133 ff. Carlos Gilly: Spanien und der Basler Buchdruck bis 1600. Ein Querschnitt durch die spanische Geistesgeschichte aus der Sicht einer europäischen Buchdruckerstadt. Helbing und Lichtenhahn, Basel 1985, ISBN 3-7190-0909-2, Kapitel 5 (Die Häretiker), d) Francisco de Enzinas (S. 326–353); bei academia.edu (kostenlose Registrierung erforderlich) Herbert Jaumann: Handbuch Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit. Band 1: Bio-bibliographisches Repertorium. Walter de Gruyter, Berlin/New York 2004, S. 248 (online). Heinrich Nebelsieck: Aus dem Leben eines spanischen Protestanten der Reformationszeit. Klein, Barmen 1918. Jonathan L. Nelson: Enzinas, Francisco de (known as Francis Dryander). In: Oxford Dictionary of National Biography. Vol. 18, Oxford University Press, Oxford 2004, S. 471 f. Stefan Osieja: Das literarische Bild des verfolgten Glaubensgenossen bei den protestantischen Schriftstellern der Romania zur Zeit der Reformation. Peter Lang, Frankfurt am Main 2002 (darin Kap. V, S. 265 ff.: Francisco de Enzinas’ Bild vom verfolgten Glaubensgenossen: der siegreiche Protestant). Ignacio J. García Pinilla, Jonathan L. Nelson: The Textual Tradition of the Historia de statu Belgico et religione Hispanica by Francisco de Enzinas (Dryander). In: Humanistica Lovaniensia. Journal of Neo-Latin Studies. Vol. 50 (2001), S. 267–286 (online). Heinz Scheible (Hrsg.): Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe (Regesten und Texte). Stuttgart-Bad Cannstatt 1977 ff., Band 11: Personen, S. 367. Bernard Antoon Vermaseren: Autour de l’édition de l’«Histoire de l’Estat du Pais Bas et de la religion d’Espagne», par F. de Enzinas, dit Dryander (1558) In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance. Bd. 27, Droz, Genève 1965, S. 463–494. Weblinks Jonathan L. Nelson zu den Versionen des Nuevo Testamento. 2000; § 3 (engl.) Post Reformation Digital Library, abgerufen am 20. Juni 2014 Memoires de Francisco Enzinas Digitalisate bei HathiTrust, abgerufen am 20. Juni 2014 Einzelnachweise Renaissance-Humanist Person des Protestantismus Altphilologe (16. Jahrhundert) Bibelübersetzer Regius Professor of Greek (Cambridge) Sachbuchautor (Theologie) Sachliteratur (Theologie) Spanier Geboren 1518 Gestorben 1552 Mann
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Gewöhnliche Robinie
Die Gewöhnliche Robinie (Robinia pseudoacacia), auch verkürzt Robinie, Gemeine Robinie, Weiße Robinie, Falsche Akazie, Scheinakazie, Gemeiner Schotendorn oder Silberregen genannt, ist ein sommergrüner Laubbaum. Sie stammt aus Nordamerika und wird überall in Europa seit fast 400 Jahren in Parks und Gärten gepflanzt. Sie wächst inzwischen auch wild. Die Gewöhnliche Robinie war Baum des Jahres 2020 in Deutschland. In der Schweiz wird die Art auf der Schwarzen Liste der invasiven Neophyten geführt. Taxonomie Die Gewöhnliche Robinie ist eine Pflanzenart aus der Unterfamilie der Schmetterlingsblütler (Faboideae) in der Familie der Hülsenfrüchtler (Fabaceae). Die Robinie wird landläufig, nach ihrem Artnamen pseudoacacia, auch als falsche Akazie bezeichnet. Sie ist zwar mit den Akazien (Acacia) nicht besonders nah verwandt, die ihrerseits zur Unterfamilie der Mimosengewächse (Mimosoideae) gehören, beide ähneln sich jedoch in der Form der gefiederten Blätter und Dornen. Aber bereits die Blütenformen sind sehr verschieden. Eine Verwechslung von Arten beider Gattungen ist in Mitteleuropa nahezu ausgeschlossen, da Akazien nur in subtropischen und tropischen Gebieten heimisch sind und in Mittel- und Westeuropa nur an ganz wenigen Orten mit besonders mildem Klima gedeihen. Die Arten der Gattung Robinia (Robinien) sind fast alle Sträucher, Bäume sind neben Robinia pseudoacacia nur noch Robinia neomexicana und Robinia viscosa. Inwieweit verschiedene Formen der Robinie auf Kreuzungen mit anderen Robinienarten oder Mutationen zurückgehen, ist nicht immer sicher. Bekannt ist Robinia pseudoacacia var. rectissima, welche 1936 in Long Island gefunden wurde. Markant für diese Varietät, deren Status allerdings umstritten ist, ist ein kerzengerader Schaft, der auch im Freistand ausgebildet wird. Diese Form hat ihr die Bezeichnung „Schiffsmast-Robinie“ eingebracht. Nachkommen dieser Bäume sind in der Forstpflanzenzüchtung begehrt. Namensherkunft Carl von Linné, der die Gattung der Robinien (Robinia) erstmals wissenschaftlich veröffentlichte, benannte diese nach Jean Robin, dem Hofgärtner der französischen Könige Heinrich III., Heinrich IV. und Ludwig XIII. Das wissenschaftliche Artepitheton pseudoacacia weist auf die (irreführende) Ähnlichkeit mit den Akazien hin. Die gelegentliche Verwendung des Trivialnamens Silberregen ist auf die traubenförmigen, herabhängenden weißen Blütenstände des Baums zurückzuführen – offenkundig in Anlehnung an die Namen der ebenfalls zu den Schmetterlingsblütengewächsen zählenden Gehölze Goldregen (Laburnum) und Blauregen (Wisteria). Beschreibung Erscheinungsbild (Habitus) Die Gewöhnliche Robinie ist ein sommergrüner Baum mit rundlicher oder locker schirmartiger Krone, der im Freistand Wuchshöhen von 12 bis 20 m und im geschlossenen Bestand Wuchshöhen von 20 bis 30 m erreichen kann. Der Stammdurchmesser kann über 1 Meter erreichen. Die raue, dicke Borke des Stamms ist grau- bis dunkelbraun, tief gefurcht und häufig längsrissig. Die Äste stehen gedreht an einem kurzen Stamm, der zur Ausbildung einer Doppelkrone neigt. Der Baum ist weitgehend winterfrosthart. Die Gewöhnliche Robinie begrünt sich erst sehr spät im Frühjahr. Die wechselständigen und unpaarig gefiederten Laubblätter besitzen eine Länge von 15 bis 30 cm. Sie bestehen aus einer leicht rinnigen Rhachis und etwa 9 bis 23 eiförmigen bis elliptischen oder länglichen, ganzrandigen und kurz gestielten, abgerundeten bis eingebuchteten, teils feinstachelspitzigen und 2–5 cm langen Einzelblättchen. Sie können sich durch kleine Gelenke bei großer Hitze senkrecht nach unten klappen (Thermonastien). Es sind schnell abfallende, nadelige und minutiöse Stipellen vorhanden. Während der Blütenstandsbereich und die Krone meist ohne Dornen sind, sind besonders an den Schösslingen die Nebenblätter zu bis 3 cm langen, rotbraun gefärbten Dornen umgebildet. Blütenstände und Blüten Die weißen, gestielten Blüten der Gewöhnlichen Robinie erscheinen in den Monaten Mai bis Juni. Jeweils 10 bis 25 der stark bergamotteartig duftenden Blüten sind zusammengefasst in zwischen 10 und 25 Zentimeter langen, hängenden und traubigen, achselständigen Blütenständen an den jungen Zweigen. Die typischen Schmetterlingsblüten mit grün-rötlichem, haarigem Kelch bieten reichlich Nektar und werden daher von vielen Insekten aufgesucht, gern auch von Honigbienen. Im Elsass waren deshalb Robinien als Bienenweide für „Akazienhonig“ gepflanzt worden. Nektar und Staubbeutel werden gleichzeitig reif. Setzt sich ein Insekt auf die Blüte, tritt zuerst die Narbe heraus, die den eventuell mitgebrachten Pollen vom Bauch abbürstet. Früchte und Samen Es werden seitlich stark abgeflachte, bespitzte und bauchseitig etwas geflügelte Hülsen gebildet. Sie sind braun, kurz gestielt, etwa 5 bis 12 Zentimeter lang und 1 bis 1,5 Zentimeter breit. Ihre Hülle ist pergamentig-ledrig. In den inneren Einbuchtungen der Hülsen liegen etwa 4 bis 14 Samen. Diese abgeflachten, rot- bis dunkelbraunen, etwas gesprenkelten und leicht nierenförmigen Samen, die im September ausgereift sind, sind 4 bis 7 Millimeter lang, glatt und sehr hartschalig. Die sie umgebende Hülse reißt allmählich während des Winters entlang der Rücken- sowie der Bauchnaht auf. Da die Früchte oder samenhaltigen Hülsen-Hälften mitunter bis in das nächste Frühjahr am Baum hängen bleiben und von starken Winden weit verweht werden, zählt die Gewöhnliche Robinie zu den sogenannten Winterstehern. Chromosomenzahl Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 20 oder 22. Ausbreitungsstrategie Die Gewöhnliche Robinie blüht und fruchtet bereits im sechsten Lebensjahr. Sie verbreitet ihre Samen durch den Wind (sogenannte Anemochorie), jedenfalls so lange sie noch in den Hülsen oder Hülsenhälften hängen. Die Distanz, die die Samen der Pflanze auf diese Weise überwinden können, ist wegen ihres hohen Gewichts verhältnismäßig gering. Nur selten werden die Samen weiter als 100 Meter verbreitet. Einzelsamen gehen auch bei Wind nur in der unmittelbaren Umgebung des Mutterbaumes zu Boden. Ihre Samen sind sehr lange keimfähig, die Dauer der Keimfähigkeit wird auf bis zu 30 Jahre geschätzt. Zur Keimung benötigen die Pflanzen jedoch sehr viel Sonnenlicht. Diese Eigenschaften bedingen die Pionierfähigkeit der Robinie. Ausgehend von bestehenden Samenbäumen kann die Robinie sehr schnell neue offene Standorte bewachsen; die Art neigt sehr stark zum Verwildern. Die Robinie vermehrt sich außerdem durch Wurzelschösslinge vegetativ. Diese auch als „klonales Wachstum“ bezeichnete Verbreitung wird begünstigt, wenn es zu Standortstörungen wie etwa Bränden oder Rodungen kommt. Die Gewöhnliche Robinie reagiert darauf mit einer verstärkten Ausbildung von Wurzelbrut, die zu einer Verdichtung bereits bestehender Bestände führt; andere Arten werden dadurch verdrängt. Verbreitung Natürliches Vorkommen Die Gewöhnliche Robinie ist im atlantischen Nordamerika beheimatet und im Gebiet der Appalachen sowie der US-Bundesstaaten Pennsylvania, West Virginia, Virginia, Kentucky, Tennessee, North Carolina, Georgia, Alabama und Arkansas verbreitet. Sie wächst dort als Pionierpflanze in Laubmischwäldern auf mäßig nährstoffreichen Sand- und Lehmböden in Höhen von bis zu 1600 Metern. Ihr natürliches Verbreitungsgebiet zeichnet sich durch ein humides Klima mit jährlichen Niederschlägen zwischen 1020 und 1830 Millimetern aus. Wie von Kowarik zitierten Untersuchungen zeigen, leitet die Gewöhnliche Robinie in ihrem ursprünglichen Verbreitungsgebiet die Waldregeneration nach „katastrophalen“ Störungen wie Waldbränden oder Kahlschlägen ein. Das neu besiedelte Gebiet wird für etwa 20 bis 30 Jahre von dieser Baumart dominiert, bis sie von anderen Baumarten wie dem Tulpenbaum verdrängt wird. Die Baumarten, welche die Gewöhnliche Robinie an ihrem Standort zu verdrängen vermögen, wachsen höher als sie und spenden sehr stark Schatten. In Waldbeständen der Appalachen, die sich seit längerer Zeit ungestört entwickeln konnten, beträgt der Anteil der Robinie weniger als 4 %. Verbreitungsgebiet Die anspruchslose Robinie wurde durch den Menschen in zahlreiche Gebiete verbreitet, die nicht zu ihrem ursprünglichen Verbreitungsraum gehören. Sie ist damit eine sogenannte hemerochore Pflanze und zählt aufgrund ihrer Einführung nach 1492 in Europa zu den Neophyten. Sie ist heute in Europa, Nordafrika, West- und Ostasien zu finden. Auch in Nordamerika hat sie, ausgehend von Anpflanzungen, ihr Verbreitungsgebiet sowohl räumlich als auch standortlich erheblich erweitert. Sowohl in Europa als auch in den neu besiedelten nordamerikanischen Verbreitungsgebieten wächst sie auf Standorten, die wesentlich trockener sind als die in ihrem ursprünglichen Verbreitungsgebiet. In den deutschen Wäldern kommt die Gewöhnliche Robinie nach den Ergebnissen der Dritten Bundeswaldinventur (2012) mit insgesamt 11.000 Hektar in der Hauptbestockung und 9.000 Hektar in der Jungbestockung vor, was einem Flächenanteil von deutlich unter einem Prozent entspricht. Daneben ist sie aber in Deutschland außerhalb der Wälder als Park- und Stadtbaum sowie „verwildert“ in trockenen Gebüschen, auf Brachflächen und entlang von Bahndämmen häufig vertreten. In der Schweiz wurde sie aufgrund ihres Ausbreitungspotenzials und der Schäden in den Bereichen Biodiversität, Gesundheit bzw. Ökonomie in die Schwarze Liste der invasiven Neophyten aufgenommen. Einführungsgeschichte in Europa Nach Europa wurde die Robinie, so die meisten Quellen, im Jahr 1601 von Jean Robin, dem Pharmazeuten und Botaniker der Könige von Frankreich, aus Virginia eingeführt. Im Jardin des Plantes und auf der Place René Viviani vor der Nordfassade der Kirche St. Julien-le-Pauvre unweit von Notre-Dame werden zwei von Robin gepflanzte Exemplare als älteste Bäume von Paris angesehen. Die Robinie auf der Place Viviani mit einem Stammumfang von 3,90 m ist vermutlich der ältere. Sie wurde im Ersten Weltkrieg durch Bomben beschädigt und von drei Betonpfeilern gestützt, blüht aber immer noch. Der Baum ist im Verzeichnis der bemerkenswerten Bäume Frankreichs (Arbres remarquables de France) aufgeführt. Aufgrund ihrer attraktiven Blütenstände und ihrer gefiederten Blätter wurde die gewöhnliche Robinie zuerst als exotisches Ziergehölz in Parks angepflanzt. 1640 gelangte sie nach England. In Italien wurde die Robinie 1662 eingeführt, das erste Exemplar im Botanischen Garten von Padua gepflanzt. Samen dieses Baumes wurden 1750 im Auftrag der Kaiserin Maria Theresia benützt, um den Baum in Österreich einzuführen. 1788 wurde ein Sprössling aus einem Samen aus Padua in den Garten des Arcispedale di Santa Maria Nova in Florenz gebracht und dann in den Giardino dei Semplici verpflanzt. In die Toskana führte sie der Arzt und Botaniker Ottaviano Targioni Tozzetti ein. Die Robinie hat sich seither vor allem in Oberitalien verbreitet: in Piemont (ca. 85.000 ha), in der Lombardei, in Venetien und in der Toskana. Erste Nachweise für einen Anbau in Deutschland liegen für das Jahr 1670 vor, als man sie im Berliner Lustgarten anpflanzte. Im Laufe des 18. Jahrhunderts sah man diese Holzart in der sich entwickelnden geregelten Forstwirtschaft als vielversprechend für arme Standorte an. Es bestand regional Hoffnung, der durch jahrhundertelange ungeregelte – in Waldvernichtung resultierender – Übernutzung entstandenen Holznot durch den Anbau der Robinie kurzfristig begegnen zu können. Mehr dazu in der Geschichte des Waldes in Mitteleuropa. Zwei Eigenschaften begünstigten ihre rasche Verbreitung: Die Robinie stellt nur geringe Anforderungen an den Boden, denn sie vermag, dank der Luftstickstoff bindenden Knöllchenbakterien an ihren Wurzeln, den Boden „aufzudüngen“. Sie ist damit für die Wiederaufforstung von durch Übernutzung zerstörten Wäldern geeignet und verhindert eine weitere Bodenerosion. Sie wird deshalb bis heute für Aufpflanzungen in Sandgebieten genutzt. Typische Standorte in Europa Die Gewöhnliche Robinie wird heute auf einem breiten Standortspektrum gezielt angebaut. Zu einer stärkeren natürlichen Verbreitung kommt es dabei vor allem in klimatisch besonders begünstigten Gebieten, da der Baum zur Samenausbildung auf hohe Wärmesummen in der Vegetationsperiode angewiesen ist. In diesen Gebieten breitet sie sich, ausgehend von Anpflanzungen, entlang von Waldrändern und Verkehrswegen auf Brachflächen sowie urbanindustriellen Standorten aus. Dabei dringt sie auch in Standorte wie Sandtrocken- und Kalkmagerrasen ein und verdrängt die dort wachsenden Arten. Die Gewöhnliche Robinie hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg außerdem auf Trümmerschuttflächen stark verbreitet. Die Zerstörungen und die anschließende mangelnde Pflege vieler Grundstücke führten dazu, dass in Städten wie Leipzig, Berlin, Stuttgart und Köln großräumige Flächen entstanden, die mit Robinien bewachsen sind. Die Robinie wurde auch bewusst zur Begrünung von Trümmerbergen eingesetzt. In einigen Gebieten Ungarns und der Slowakei ist die Robinie mittlerweile der wichtigste Forstbaum, wobei hier bevorzugt Zuchtformen angebaut werden, die geradstämmiger als die ursprüngliche Art sind. Auch in Südkorea wird die Gewöhnliche Robinie in sehr großem Maße angebaut. Weltweit nahm die Anbaufläche zwischen 1958 und 1986 von 227.000 auf 3.264.000 Hektar zu und hat sich damit mehr als verzehnfacht. Die Robinie ist die nach Pappeln und Eukalyptus weltweit am häufigsten in Plantagen kultivierte Laubbaumart. Forstwirtschaftlich ist die Robinie je nach anthropogen bedingter Immission auch deshalb von Bedeutung, weil sie als Leguminose in der Lage ist, Luftstickstoff mit Hilfe symbiotisch mit ihr lebender Knöllchenbakterien zu binden. Auf stickstoffarmen Standorten hat diese Baumart daher einen Konkurrenzvorteil gegenüber anderen Arten, der unter anderem dazu führen kann, dass der Holzertrag der Robinie, verglichen mit Kiefern oder Eichen, höher ist. Nutzung Holznutzung Die umfangreiche Verbreitung, welche die Robinie mittlerweile gefunden hat, ist auf die wirtschaftliche Nutzung ihres Holzes zurückzuführen. Das gegen Holzfäule widerstandsfähige Holz ist biegsam, fest und äußerst hart (Brinellhärte 46 N/mm²). Es wird im Schiff- und Möbelbau, als Grubenholz, als Schwellenholz, im traditionellen Bogenbau wie auch in der Landwirtschaft (z. B. Weinbau: Stickel) verwendet. Es gilt als widerstandsfähiger und dauerhafter als Eichenholz. Da es auch ohne chemische Konservierungsbehandlung bei einer Nutzung im Außenbereich lange stabil bleibt, ist es beispielsweise für den Bau von Geräten auf Kinderspielplätzen und Gartenmöbeln gut geeignet. Darüber hinaus wird es oft im Rahmen der Schutzwaldsanierung zur vorübergehenden Verbauung genutzt. Hier werden oftmals Schneerechen und Dreibeinböcke aus diesem Holz gebaut. Da das Robinienholz einen guten Ersatz für Tropenhölzer darstellt, wird es derzeit häufig angepflanzt. Bergbau Das Holz der Robinie wurde im Bergbau zum Stützen der Stollen verwendet. Die für Grubenstempel vorgeschriebenen Maße erreicht die Robinie bereits in einem Alter von 20 Jahren, die Kiefer benötigt im Vergleich dazu 30 bis 40 Jahre. Jedoch spielte Robinienholz im Bergbau nie eine große Rolle. Selbst in der Heimat der Robinie, den USA, betrug der Verbrauch 1923 mit nur 6997 m³ weniger als ein Prozent des Gesamtverbrauches. Heute wird, zumindest in Deutschland, kein Robinienholz im industriellen Bergbau mehr verwendet. Zur Eignung als Grubenholz wurden auch in Deutschland zahlreiche Untersuchungen durchgeführt. Im Jahre 1900 berichtete die Bergwerksdirektion Saarbrücken, dass Robinienholz nach zwei Jahren vollkommen gesund war, während Eichenholz in seinen äußeren Teilen bereits faulte. Aus Ungarn wurde berichtet, dass eingebautes Robinienholz dermaßen unangenehm roch, dass die Arbeit in dessen Nähe nicht möglich war. Dies liegt vermutlich auf dem aus Glykosiden (siehe Giftigkeit) unter anderem freigesetzten Cumarin. Besonders frisches Wurzelholz der Robinie hat einen unangenehmen Geruch, den es lange Zeit beibehält. Robinienholz splittert vor dem Bruch, und dieses Geräusch warnte die Bergleute. Dies ist allerdings bei den langfaserig brechenden Nadelhölzern besser ausgeprägt. Dafür biegen sich Robinienbalken vor dem Bruch stark durch, eine zusätzliche visuelle Warnung. Stempel aus Robinie sind aber schwerer als solche aus anderen Holzarten. Außerdem sind sie schwerer zu bearbeiten und zu nageln. Bienenweide Die Gewöhnliche Robinie zählt als bedeutende Frühsommertrachtpflanze zu den sogenannten Bienenweidepflanzen. Robinienblüten liefern viel Nektar mit einem hohen Zuckeranteil zwischen 34 und 59 Prozent. Eine einzelne Robinienblüte produziert in 24 Stunden Nektar mit einem Zuckergehalt von 0,2 bis 2,3 Milligramm. Durchschnittlich lassen sich je Baum und Blühsaison Honigerträge zwischen 0,66 und 1,44 Kilogramm erzielen. Wegen ihres hohen Zuckerwerts werden Robinien gelegentlich von Imkern gezielt als Trachtpflanze angepflanzt. Der Robinienblütenhonig, welcher in Deutschland auch unter der Bezeichnung „Akazienhonig“ verkauft wird, hat eine klare, wasserhelle bis hellgelbe Farbe, einen schwach blumigen, milden, schwach aromatischen Geschmack und ist flüssig. Er kristallisiert nur sehr langsam im Lauf mehrerer Jahre in Form eines Bodensatzes aus. Die langsame Kristallisierung ist durch den hohen Anteil an Fructose bedingt, da Fructose im Honig im Gegensatz zur bei vielen anderen Honigsorten überwiegenden Glukose nur wenig zur Kristallisation neigt. Zu den Ländern, in denen die Robinie neben der forstwirtschaftlichen Nutzung sehr intensiv als Imkerpflanze genutzt wird, zählen Frankreich und Ungarn. Auch in Brandenburg stellt die Robinie in guten Jahren bis zu 60 Prozent der Honigernte. Verwendung als Zierpflanze Nach wie vor finden Robinien als Zierpflanzen Verwendung. Aus diesem Grund sind mittlerweile eine Reihe von Zuchtsorten entstanden. Als Allee- und Stadtbaum wird die Gewöhnliche Robinie häufig verwendet. Sie verträgt das trockene Stadtklima sehr gut und ist unempfindlich gegen Rauch, Staub und Ruß. Nach Auffassung des Zentralverbands Gartenbau sollte jedoch auf eine Pflanzung in Reichweite gefährdeter Vegetationstypen und Offenlandbiotope, insbesondere bei Magerrasen verzichtet werden. Verwendung als Nahrungsmittel Die Blüten sind ungiftig, sie können zu Marmelade oder Sirup verarbeitet oder in Tees und Getränken verwendet werden. In Teilen Österreichs, wo der Baum Akazie genannt wird, werden die Blüten in Backteig zu so genannten Akazienstrauben ausgebacken. Verwendung der Samen Die sehr hartschaligen Samen ("Akazienbohnen") werden beim Mahlen von Mehl in Rüttelsiebe (Sifter) gegeben, um das Verstopfen dieser Siebe zu verhindern. Giftigkeit Die Pflanze, bis auf die Blüten, gilt als stark giftig, besonders die Rinde und die Früchte. Wegen der Giftigkeit für Pferde darf Robinienholz nicht zum Bau von Boxen verwendet werden. Hauptwirkstoffe in der Rinde etwa 1 bis 6 % Robin, Phasine, Syringin, 2 bis 7 % Protocatechingerbstoff in den Blättern Indican, Asparagin, Kämpferol und Acacetin in den Samen Lektine Vergiftungserscheinungen, immunbiologische Wirkungen Robin und Phasin sind sehr giftig. Beide Substanzen sind wie andere Toxalbumine echte Antigene und wirken agglutinierend auf rote Blutkörperchen und gewebezerstörend; durch Erhitzen geht die Toxizität des Robins verloren. Auch eine natürliche Immunität gegen diese Antigene ist möglich. Innerhalb einer Stunde können Erbrechen, Schlafsucht, Mydriasis und krampfhafte Zuckungen auftreten. Bei Pferden treten erst Erregungszustände, dann Apathie und zeitweise krampfhafte Zuckungen auf. 150 g Robinienrinde können für Pferde bereits eine tödliche Dosis darstellen. Durch den Verzehr von Samen und das Kauen der Wurzeln sind vereinzelt Vergiftungen mit zum Teil tödlichem Ausgang aufgetreten. Giftinformationszentren berichten über Fälle, bei denen schon nach Einnahme von vier bis fünf Samen Brechreiz auftrat, 30 – dann wahrscheinlich unzerkaut geschluckte – Samen aber auch schon symptomlos vertragen wurden. Wirkungen auf die Schleimhäute Der Pollen der Robinie gehört zu den Heuschnupfen-Erregern. Seine Bedeutung als inhalatives Allergen ist aber gering, da die Pollenkörner vom Wind nicht weit aus dem direkten Bereich der Bäume fortgetragen werden. Ökologische Bedeutung und Gefährdungspotential in Europa Bestandteil der Kulturlandschaft Aufgrund ihrer Eigenschaften als streusalz- und emissionsresistente Baumart ist die Robinie häufig besser als einheimische Arten für eine Begrünung von schwierigen urbanindustriellen Standorten geeignet. Die Robinie ist in einigen Regionen und im Vergleich zu anderen invasiven Neophyten bereits relativ lang Bestandteil der Kulturlandschaft. Die älteste und heute mit einem Stammumfang von etwa 7,7 m auch „dickste“ Robinie Deutschlands wurde vermutlich um 1850 im Park Branitz bei Cottbus gepflanzt. Die unmittelbar nach der Zerstörung Berlins entstandenen Robinienwälder haben einen historischen Zeugniswert. Derartige von Robinien dominierte Wälder zeichnen sich allerdings durch Artenarmut und Dominanz von stickstoffliebenden Pflanzen aus. Problematik: invasive Pflanze Die Robinie kann aufgrund ihres dauerhaften Holzes eine gute Alternative zu importiertem Tropenholz darstellen und sie kann für ingenieurbiologische Ziele eingesetzt werden. Allerdings muss sie als problematischer Neophyt betrachtet werden. Sie kann die Biodiversität bestimmter Standorte erheblich verändern und stellt deshalb ein Risiko für heimische Ökosysteme dar. Vor allem auf trockenen Standorten kann sie sich rasch ausbreiten. Wie alle Schmetterlingsblütler ist die Robinie in der Lage über Symbiosepartner (Wurzelknöllchenbakterien) Luftstickstoff zu binden. Dieser hat einen Düngeeffekt auf den Wuchsstandort und verändert dadurch das Konkurrenzgefüge für andere Pflanzen. Bei nährstofflimitierten Lebensräumen, auf die besonders viele seltene und gefährdete Organismen angewiesen sind, führt das mittlerbar zu Verdrängung stickstoffsensibler Pflanzen. Dadurch sind vor allem die Arten seltener Biotoptypen wie Magerrasen, Kalkmagerrasen und Sandtrockenrasen durch Robinieninvasion bedroht. Die Robinie kann aber auch in naturnahe mitteleuropäische Waldbestände eindringen. In Ungarn gefährdet sie beispielsweise im Kiskunság-Nationalpark die für dieses Gebiet charakteristischen Trockenrasen, und in Österreich sind 30 % der bedeutenden Trockenrasenbestände durch diese Baumart bedroht. Zu den deutschen Beispielen, in denen die Robinie ein Problem geworden ist, zählen unter anderem das Naturschutzgebiet Mainzer Sand, die Sandhausener Dünen, der Spitzberg bei Tübingen, das Mansfelder Hügelland und der Badberg im Kaiserstuhl. Untersuchungen, die der Invasionsbiologe Ingo Kowarik zitiert, zeigen, dass ein Robinienbewuchs auf solchen Standorten sehr schnell die Artenvielfalt reduziert und dass sich das Artenspektrum hin zu ungefährdeten und weit verbreiteten Arten verschiebt. Dies geht beispielsweise einher mit einer starken Veränderung der Spinnen- und Laufkäferfauna. Auch einheimische Pionierpflanzen wie Schlehe und Sandbirke bedrohen solche Standorte, bei ihnen verläuft der Übergang zum Wald jedoch wesentlich langsamer und sie verfügen nicht über die Möglichkeit zur Stickstoffbindung, weshalb ihre Auswirkungen viel eher reversibel sind. Bei Robinien erfolgt die Ausdehnung und Verdichtung der Bestände wegen des vegetativen Wachstums über Wurzelsprosse relativ schnell. Außerdem produziert die Art schon ab einem Alter von 6 Jahren Samen, die über den Wind verbreitet werden. Unter älteren Robinien bildet sich nicht selten eine relativ dichte Strauchschicht aus, die überwiegend aus Schwarzem Holunder besteht, der seinerseits einen eutrophierten Standort anzeigt. In ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet sorgen Insektenschäden sowie das Aufwachsen von Schattholzarten dafür, dass die Robinie nach etwa 20 bis 30 Jahren als dominante Baumart abgelöst wird und sich allmählich eine stärker gemischte Waldstruktur einstellt. In den Robinienbeständen Mitteleuropas kommt es dagegen nicht zu einer solchen Sukzession – die in den 1960er Jahren vermutete Umwandlung eines Robinienbestandes in einen Ahornwald hat sich bislang nicht bestätigt. Sowohl die mittlerweile 60 bis 70 Jahre alten Bestände am Kaiserstuhl als auch die etwas jüngeren Berliner Robinienwälder lassen darauf schließen, dass Robinienbestände in Mitteleuropa wesentlich dauerhafter sind als in ihrem ursprünglichen Verbreitungsgebiet. Die Robinie ist hier daher als „invasiver“ Neophyt zu werten und wird vom Bundesamt für Naturschutz auf der Warnliste invasiver Gefäßpflanzenarten in Deutschland geführt. Ergebnisse nischenbasierter Vorhersagemodelle legen nahe, dass die Robinie sich angesichts des globalen Klimawandels im Mitteleuropa, auch in Natura-2000-Schutzgebieten, deutlich weiter ausbreiten könnte. Der Mensch als Ursache für die Ausbreitung der Robinie Die Robinienbestände, von denen aus seltene Biotoptypen bedroht werden, lassen sich überwiegend unmittelbar auf Anpflanzungen zurückführen. Während beispielsweise der Riesen-Bärenklau aufgrund der Verwehbarkeit und der Schwimmausbreitung seiner Diasporen sehr schnell neue Gebiete entlang von Offenlandflächen und Fließgewässern erreicht, muss bei der Gewöhnlichen Robinie erst der Mensch für die Besiedelung eines Gebietes durch Anpflanzung eines Samenbaums sorgen. Auch die starke Vermehrung in Stadtgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg war nur möglich, weil dort Robinien als Ziergehölze bereits vorhanden waren. Bekämpfung von Robinien im Rahmen des Naturschutzes Die Beseitigung von etablierten Robinienbeständen ist sehr aufwändig und muss sich auf die Standorte begrenzen, an denen dies aus Gründen des Naturschutzes vordringlich ist. Selbst nach einer erfolgreichen Beseitigung von Robinien hat aufgrund der Stickstoffanreicherung des Bodens eine Biotopveränderung stattgefunden, so dass beispielsweise die ursprüngliche Magerrasen-Vegetation nicht wieder entstehen kann. Sinnvoll und wirkungsvoll sind Bekämpfungsmaßnahmen dort, wo Robinienbestände in der Nähe von durch sie gefährdeten Biotoptypen stehen und sie diese ohne weitere Eingriffe überwachsen könnten. Schwierig ist die Bekämpfung, weil die Robinie sowohl aus dem Stock wieder ausschlagen kann als auch Wurzelausläufer bildet. Wie die Erfahrungen in einzelnen Naturschutzgebieten gezeigt haben, führt ein simples Fällen der Bäume dazu, dass sich lediglich dichtere Bestände bilden. In den USA wird zur Bekämpfung von Robinien häufig nach der Rodung das Herbizid Roundup eingesetzt. Schonender und ebenfalls erfolgreicher als das Fällen, aber aufwändiger, ist eine angepasste Ringelung. Dabei wird an ausgewachsenen Bäumen während des Sommers in einem handbreiten Band die Rinde bis auf das Kernholz mit Ausnahme eines schmalen Steges entfernt. Anders als sonst reagieren die Bäume auf diese Beschädigung nicht mit der Ausbildung von Wurzelsprossen. Der verbleibende Steg wird im nächsten Frühjahr entfernt. Zwei Jahre nach der Ringelung kann man den Baum fällen, vorher schlägt er wie beim einfachen Fällen wieder aus. Fressfeinde und Parasiten Die Robinie wird von der Weißbeerigen Mistel befallen, sowohl in Europa als auch, nach ihrer Einbringung dort, in Nordamerika. Über hundert verschiedene Pilzarten leben auf beziehungsweise im Holz der Robinie in Nordamerika, viele aber auch in Europa. So wurden in Süddeutschland 69 holzbewohnende Pilze auf der Robinie gefunden, davon 43 parasitisch lebende wie beispielsweise der Schwefelporling oder der Flache Lackporling. Der Pilz Diaporthe oncostoma, Syn.: Phomopsis oncostoma, erzeugt einen Baumkrebs. Die Amerikanische Robinienblatt-Gallmücke (Obolodiplosis robiniae) lebt ausschließlich auf der Robinie und breitet sich auch schnell in Europa aus. Mittlerweile hat sich in Europa die Robinien-Miniermotte und die ebenfalls minierende Parectopa robiniella als ein auf die Gewöhnliche Robinie spezialisiertes Insekt als Neozoon etabliert. Die Raupen der Robinien-Miniermotte nutzen ausschließlich die Blätter dieses Baumes als Fraßpflanze. 1983 wurde dieses eigentlich in Nordamerika heimische Insekt das erste Mal in der Nähe von Basel entdeckt. Von dort aus hat es sich sehr rasch im übrigen Europa verbreitet. 1988 wurden die ersten Funde in Deutschland, Frankreich und Italien gemeldet, seit den 1990er Jahren werden Funde auch in Ungarn, Tschechien und Slowakei sowie Polen gemeldet. Diese Raupe hat kaum Fressfeinde in ihrem neuen Lebensraum, und ihre Ausbreitungsgeschwindigkeit hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Bis jetzt liegen noch keine detaillierten Erkenntnisse darüber vor, wie stark sie die Bäume schädigt. Literatur Eugen Vadas: Die Monographie der Robinie; Mit besonderer Rücksicht auf ihre forstwirtschaftliche Bedeutung. Joerges, Selmecbanya 1914. Kurt Göhre (Hrsg.): Die Robinie und ihr Holz. Deutscher Bauernverlag, Berlin 1952. Ulrich Hecker: BLV-Handbuch Bäume und Sträucher. BLV, München 1995, ISBN 3-405-14738-7. Ingo Kowarik: Biologische Invasionen. Neophyten und Neozoen in Mitteleuropa. Ulmer, Stuttgart 2003, ISBN 3-8001-3924-3. Angelika Lüttig, Juliane Kasten: Hagebutte & Co. Blüten, Früchte und Ausbreitung europäischer Pflanzen. Fauna, Nottuln 2003, ISBN 3-935980-90-6. Mario Ludwig, Harald Gebhard, Herbert W. Ludwig, Susanne Schmidt-Fischer: Neue Tiere & Pflanzen in der heimischen Natur. Einwandernde Arten erkennen und bestimmen. BLV, München 2000, ISBN 3-405-15776-5. Ruprecht Düll, Herfried Kutzelnigg: Taschenlexikon der Pflanzen Deutschlands und angrenzender Länder. Die häufigsten mitteleuropäischen Arten im Porträt. 7., korrigierte und erweiterte Auflage, Quelle & Meyer, Wiebelsheim 2011, ISBN 978-3-494-01424-1. Lutz Roth, Max Daunderer, Kurt Kormann: Giftpflanzen – Pflanzengifte. 6. Auflage, Nikol, Hamburg 2012, ISBN 978-3-86820-009-6. Weblinks Thomas Meyer: Datenblatt mit Bestimmungsschlüssel und Fotos bei Flora-de: Flora von Deutschland (alter Name der Webseite: Blumen in Schwaben) Zur Giftigkeit des Silberregens (Robinia pseudoacacia) Martin Wolfangel: Invasive gebietsfremde Pflanzen – eine Gefahr für die biologische Vielfalt Einzelnachweise Robinieae (Tribus) Baum des Jahres (Deutschland) Holzart Pflanze auf der Liste der invasiven Neophyten (Schweiz) Imkerei Baum
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https://de.wikipedia.org/wiki/Reichskrise%20des%203.%20Jahrhunderts
Reichskrise des 3. Jahrhunderts
Als Reichskrise des 3. Jahrhunderts bezeichnet die moderne Geschichtswissenschaft den Zeitraum von 235 bis 284/85 n. Chr. im Römischen Reich, als das Imperium mit einer Reihe von inneren und äußeren Krisen konfrontiert wurde. Diese Periode, die auch oft als Zeit der Soldatenkaiser bezeichnet wird, folgte im Anschluss an das Ende der Kaiserdynastie der Severer, die sich noch einmal als ein stabilisierender Faktor im Reich erwiesen hatte. Mehrere neue germanische Großverbände sowie das in Mesopotamien aggressiv auftretende neupersische Sāsānidenreich bedrohten das Imperium Romanum, das dadurch zeitweise gleichzeitig Invasionen im Norden und Osten abwehren musste und damit an die Grenzen seiner militärischen Leistungsfähigkeit gelangte. Zahlreiche Usurpationen und Bürgerkriege, die temporäre Abspaltung von Reichsgebieten (Gallisches Sonderreich und das Teilreich von Palmyra) sowie regionale wirtschaftliche Probleme belasteten das Imperium zusätzlich, das um 260 den Höhepunkt der Krise durchlief. Durch mehrere tiefgreifende Reformen im administrativen und militärischen Bereich konnte der römische Staat aber schließlich ebenso wie das Kaisertum wieder stabilisiert werden. Diese Endphase des Prinzipats endete mit dem Regierungsantritt Kaiser Diokletians im Jahr 284, dem eine Stabilisierung des Kaisertums gelang und mit dem in der Regel der Beginn der Spätantike verknüpft wird. Die römische Geschichte des 3. Jahrhunderts ist seit Jahren Gegenstand einer lebhaften Forschungsdiskussion. Manche Forscher folgen der traditionellen Sichtweise und gehen davon aus, dass es zu einem vollständigen Niedergang und einer Systemkrise des Reiches kam, die alle Lebensbereiche tangierte. Andere sind wesentlich vorsichtiger und stellen zwar die diversen Krisenerscheinungen besonders für die Jahre um 260 nicht in Frage, sehen den Zeitraum aber eher als eine Transformationsphase der antiken Welt hin zur Spätantike, in der es auch vielversprechende Ansätze zur Bewältigung der „Krise“ gegeben habe; zudem hätten mehrere Provinzen des Imperiums in dieser Zeit sogar eine regelrechte Blüte erlebt. Einige Forscher wiederum bezweifeln grundsätzlich die Anwendbarkeit des Begriffes „Krise“ auf die Zustände des 3. Jahrhunderts. Umstritten ist aufgrund der engen Verzahnung innen- und außenpolitischer Probleme auch, ob die Krisenphase durch interne Entwicklungen oder externe Faktoren ausgelöst worden war. Geschichte der „Reichskrise“ Von Maximinus „Thrax“ bis Valerian Der erste Soldatenkaiser? Maximinus und das Sechskaiserjahr Nachdem das Imperium Romanum nach den Wirren des zweiten Vierkaiserjahres (193) in der Regierungszeit des Septimius Severus noch einmal stabilisiert worden war, entglitt den späteren Severern immer mehr die Kontrolle. Das Heer, verwöhnt durch hohe Donative, wurde für die Kaiser immer schwerer kontrollierbar. Der junge, unerfahrene und eher schwache Kaiser Severus Alexander wurde im Jahr 235 bei Mogontiacum (Mainz) durch aufständische Truppen ermordet. An seiner Stelle wurde der Offizier Maximinus Thrax zum neuen Imperator ausgerufen. Mit ihm beginnt in der Forschung traditionell die Reihe der sogenannten Soldatenkaiser. Mehrere Details in Bezug auf Maximinus sind unklar, da die Quellen parteiisch gefärbt sind. Er war offenbar kein Senator, sondern gehörte nur (wie schon Macrinus) dem Ritterstand an. Zudem stammte er aus einer Familie, die wohl erst seit relativ kurzer Zeit das römische Bürgerrecht besaß, wenngleich seine Frau offenbar der Nobilität angehörte. Sein Verhältnis zum Senat war schlecht, da er darauf verzichtete, nach Rom zu ziehen und dem Organ mehr als nur oberflächlichen Respekt zu zeigen. Obwohl der Senat in der Kaiserzeit faktisch machtlos war, genoss er noch immer einen hohen symbolischen Stellenwert. Aber auch im Heer herrschte teils offenbar einige Unruhe, denn die Quellen berichten von Umsturzversuchen durch bei Mainz stationierte Truppen sowie im Osten, wenngleich beide Versuche (wenn sie überhaupt historisch sind) fehlschlugen. Maximinus konnte seine Macht erst nach und nach sichern und vergab Geldgeschenke an die Soldaten sowie an die Stadtbevölkerung von Rom. 235/36 führte er schließlich mehrere erfolgreiche, recht brutal geführte Feldzüge gegen die Germanen am Rhein durch. In diesen Kontext ist wahrscheinlich ein 2008 entdecktes antikes Schlachtfeld bei Kalefeld in Niedersachsen einzuordnen; trifft dies zu, so stießen Maximinus’ Truppen fast bis an die Elbe vor. Gegen Maximinus, dessen Verhältnis zu vielen Senatoren sich auch in der Folgezeit offenbar nicht entspannt hatte, kam es 238 zu einer Revolte in der Provinz Africa. Offenbar hatte Maximinus notgedrungen den Steuerdruck weiter erhöht, um die Legionen bezahlen zu können, wodurch in den Provinzen Unruhe entstand. Auch der Senat bezog gegen den Kaiser Stellung, zumal der in Africa ausgerufene Gegenkaiser Gordian I. über gute Kontakte nach Rom verfügte und Maximinus’ dortige Anhänger (so den Prätorianer- und den Stadtpräfekten) ermorden ließ. Auch etwa die Hälfte der Provinzen fiel vom Kaiser ab. Gordian ernannte seinen gleichnamigen Sohn zum Mitkaiser, doch dieser unterlag im Frühjahr 238 loyalen Truppen und wurde getötet; kurz darauf beging der verzweifelte Gordian I. Suizid. Der Senat, der mit Strafmaßnahmen des bereits auf dem Vormarsch befindlichen Maximinus rechnen musste, ernannte daraufhin mit den angesehenen Senatoren Pupienus und Balbinus zwei eigene „Senatskaiser“ – ein mehr als ungewöhnlicher Vorgang. Allerdings kam es in Rom daraufhin zu Unruhen, deren Ziel die Erhebung eines Kaisers war, der mit den Gordiani verwandt war. Notgedrungen erhob man den sehr jungen Gordian III., den Enkel Gordians I., zum Caesar, während Pupienus und Balbinus die Regierungsgeschäfte leiten sollten. Pupienus marschierte nun gegen Maximinus, der bei der Belagerung von Aquileia festsaß und schließlich von unzufriedenen Soldaten zusammen mit seinem Sohn ermordet wurde. Aber auch nach dem Tod des Maximinus kehrte keine Ruhe ein, vielmehr kam es nun zu Streitigkeiten zwischen Pupienus und Balbinus. Die Prätorianergarde, ein wichtiger Machtfaktor in Rom, bedrohte zusätzlich die Autorität der neuen Regierung. Die Garde war offenbar mit der Erhebung der neuen Senatskaiser nicht einverstanden, eventuell fürchtete man auch die Ersetzung durch eine neue Gardeeinheit. Noch im Jahr 238 verübten Prätorianer daher ein erfolgreiches Attentat auf Pupienus und Balbinus, im Anschluss daran erhoben sie Gordian III. zum neuen Kaiser (Augustus). Dieser, ein blutjunger Mann aus senatorischem Adel, orientierte sich in seiner Herrschaftspraxis wieder stärker am severischen Prinzipat. Rom in der Defensive: Die ersten Angriffe der Skythai und der Aufstieg des Sāsānidenreichs Auch nach dem Ende der Wirren des Sechskaiserjahres 238 stabilisierte sich die Lage nur vorübergehend: Die wirtschaftliche Situation war durch die hohen Ausgaben für den Krieg gegen Maximinus angespannt, hinzu kam die Bedrohung von außen. Am Rhein übten vor allem die Alamannen Druck aus, während an der Donau die Goten aufgetaucht waren und dort für Unruhe sorgten. Zwar waren diese Gebiete schon seit langer Zeit bedroht, im Grunde war die Situation also nicht neu, aber die Intensität der Angriffe nahm offenbar zu. Vor allem bildeten sich nun größere Stammeskonföderationen (gentes wie die Alamannen und Franken), deren Schlagkraft beträchtlich war und deren Ethnogenese wohl auch durch die Auseinandersetzung mit Rom vorangetrieben wurde. 238 brach der sogenannte „Gotensturm“ los: Die Goten begannen erste Angriffe auf römisches Gebiet und eroberten die südlich der Donau gelegene Stadt Histros, während die Karpen in die Provinz Moesia inferior (Niedermösien) einfielen. Die Geschichte der Kämpfe gegen diese germanischen Invasoren, die von den „klassizistisch“ orientierten griechischen Autoren im Rückgriff auf die traditionelle Ethnographie als Skythai bezeichnet wurden, schilderte der Geschichtsschreiber Dexippos in seinem (nur fragmentarisch erhaltenen) Werk Skythika. Für Dexippos soll das Jahr 238 den Beginn des „skythischen Krieges“ markiert haben. Bis 248 verhielten sich die Goten wieder ruhig, während die Karpen ihre Angriffe fortsetzten. Die Abwehrkämpfe, die Rom seit den 30er Jahren des 3. Jahrhunderts an der Donau zu bestehen hatte, waren jedoch nicht vergleichbar mit einer anderen Bedrohung, die dem Imperium fast zeitgleich im Osten erwuchs. Dort stellte das neupersische Sāsānidenreich eine weitaus größere Gefahr für Rom dar, als es die – wenigstens zunächst – vereinzelten Vorstöße germanischer Stämme waren. Die Sāsāniden hatten 224 bzw. 226 die Arsakiden gestürzt. Das Sāsānidenreich, das auch auf ein altes kulturelles Erbe zurückblicken konnte, sollte 400 Jahre lang der große Rivale Roms im Osten sein (zu den diesbezüglichen Kampfhandlungen siehe Römisch-Persische Kriege). Der persische König Ardaschir I., der durch militärische Erfolge wohl auch seine Legitimation unter Beweis stellen wollte, war bereits zur Zeit des Severus Alexander auf römisches Gebiet vorgestoßen, wohl 236 fielen die strategisch wichtigen Städte Nisibis und Karrhai an die Perser. Gemeinhin wird angenommen, dass die Gründung des Neupersischen Reiches für die Römer weitreichende Konsequenzen gehabt habe, doch ist diese Ansicht jüngst bezweifelt worden, da die Aggression (zumindest später) oftmals eher von römischer Seite als von den Sāsāniden ausgegangen ist. Gordian III. bemühte sich offenbar um ein gutes Verhältnis zum Senat sowie um das Wohlwollen der stadtrömischen Bevölkerung. Er erhob 241 Timesitheus zum Prätorianerpräfekten, dieser dominierte fortan die Regierungsgeschäfte; Gordian heiratete auch im selben Jahr dessen Tochter. Außenpolitisch blieb die Ostgrenze Roms ein Brennpunkt: Den Sāsāniden war es 240/41 gelungen, die bedeutende Stadt Hatra zu erobern, Hauptstadt des gleichnamigen Königreichs. Ob die Sāsāniden wirklich, wie von westlichen Quellen unterstellt, Ansprüche auf Territorien des alten Achämenidenreichs erhoben haben, ist jedoch fraglich und in der Forschung sehr umstritten. Genauere Kenntnisse der älteren Geschichte können bei den Sāsāniden nicht zwingend vorausgesetzt werden. Es könnte sich daher auch um eine römische Interpretation handeln. Der Untergang des Königreichs Hatra, das als ein wichtiger Pufferstaat in der römisch-persischen Grenzzone fungiert hatte, war der Grund für den Ausbruch neuer Kampfhandlungen zwischen Rom und Persien, die mit viel Symbolik verbunden waren: Gordian ließ die Tore des Janustempels in Rom öffnen, um zu unterstreichen, dass sich Rom im Krieg befand. Er bat zudem um den Beistand der Göttin Athene, die den Griechen in den Perserkriegen beigestanden habe, indem er in Rom einen Kult für die mit Athena identifizierte Göttin Minerva stiftete. Schließlich begab er sich 243 mit Timesitheus in den Osten des Reiches. Nach ersten Erfolgen, in deren Verlauf jedoch Timesitheus verstarb, erlitten die Römer in der Schlacht von Mesiche (wohl im Februar) 244 eine schwere Niederlage gegen die Perser unter ihrem neuen König Schapur I. Entweder infolge der Kämpfe oder aufgrund einer Intrige des neuen Prätorianerpräfekten Philippus Arabs kam Gordian ums Leben. Philippus, der arabischer Herkunft und Sohn eines Scheichs war, trat die Nachfolge Gordians an. Eine seiner ersten Maßnahmen war es, Frieden mit Persien zu schließen, offenbar erkauft mit hohen Geldzahlungen. Philippus war sehr auf die Legitimierung seiner Herrschaft bedacht und pflegte zum Senat anscheinend ein gutes Verhältnis. Den verstorbenen Gordian ließ er zum divus erheben; und er knüpfte wie dieser demonstrativ an severische Traditionen an. Dennoch kam es im Verlauf seiner Regierungszeit zu mehreren Erhebungen, die zwar (bis auf die letzte 249) relativ rasch niedergeschlagen werden konnten, aber doch einige Kräfte banden. 248 beging Philippus mit großem Aufwand die 1000-Jahr-Feier Roms, die nicht zuletzt propagandistischen Wert hatte. Vermutlich in diesem Zusammenhang fertigte Asinius Quadratus eine 1000-Jahr-Geschichte Roms an, die aber (bis auf wenige Fragmente) nicht erhalten ist. Die außenpolitische Lage blieb weiter angespannt, aber noch kontrollierbar: 245/46 führte Philippus erfolgreich Krieg gegen die Karpen im Donauraum, die schließlich Frieden schließen mussten. Die Donaugrenze blieb auch weiterhin eine der am meisten gefährdeten Grenzregionen, denn nach den Karpen griffen 248 auch die Skythai, also die Goten, wieder an und fielen in Thrakien ein. Sie belagerten auch die Stadt Marcianopolis, zogen aber schließlich ab. 249 kam es dann zur Usurpation eines Heerführers: Decius, der wohl erfolgreich gegen Germanen an der Donau vorgegangen war, ließ sich von seinen Truppen zum Kaiser ausrufen. Philippus fiel kurz darauf im Kampf gegen Decius. Decius, der sich als Kaiser den programmatischen Beinamen Traianus zulegte, stammte aus der senatorischen Oberschicht. Offenbar war er recht traditionalistisch veranlagt, denn er bemühte sich sehr um die Pflege der traditionellen Götterkulte und ging rigoros gegen Christen vor. Ein von ihm 250 erlassenes Opferedikt sollte alle Reichsbewohner zur Loyalitätskundgebung durch ein Götteropfer vor einer Kommission zwingen. Bei Widerspruch kam es zu Verhaftungen und Besitzkonfiszierungen, und es entwickelte sich faktisch die erste reichsweite Christenverfolgung. Wenig realistisch erscheint in der neueren Forschung, dass die Anwendung des Edikts gegen das Christentum von vornherein intendiert war; vielmehr scheint sich diese Lesart erst mit der Opferverweigerung erster Christen ergeben zu haben. Eine Religion wie das Christentum, die im Gegensatz zu den traditionellen Götterkulten stand, musste dem Traditionalisten Decius als Provokation erscheinen, kam doch den Göttern als Beschützern Roms eine wichtige Funktion im römischen Staat zu. Die Christen waren zunächst völlig überrascht. Während eine große Anzahl von ihnen sich mit der Situation arrangierten und entweder das Opfer darbrachten oder sich durch Bestechung davon befreien ließen (lapsi), erlitten auch mehrere den Tod oder starben infolge der Haftbedingungen, darunter der bedeutende Gelehrte Origenes. Entscheidend getroffen wurde das Christentum kaum, schon allein wegen der Kürze der Aktion: Decius sah sich aufgrund der Lage im Donauraum bald gezwungen, gegen die dortigen Goten vorzugehen, die bereits unter einem gewissen Ostrogotha römisches Gebiet überfallen hatten. 251 unternahm Decius einen Feldzug gegen sie, wurde aber von deren König Kniva geschlagen und kam zusammen mit seinem Sohn Herennius Etruscus ums Leben. Nachfolger des Decius wurde Trebonianus Gallus, einer der wenigen Soldatenkaiser, die aus Italien stammten. Er musste den Goten sehr weitreichende Zugeständnisse machen. Gallus sah sich auch mit weiteren Problemen konfrontiert: Die Cyprianische Pest, eine Seuche, die ihren Ursprung wohl im heutigen Äthiopien hatte, breitete sich bis nach Nordafrika aus und scheint auch auf weiter nördlich gelegene Regionen übergegriffen zu haben. Im Osten setzten die Sāsāniden ihre Angriffe auf die römischen Orientprovinzen fort; persische Truppen stießen 252 in das römische Mesopotamien vor und besetzten Armenien. Währenddessen scheinen im Norden die Alamannen aktiv geworden zu sein. Gallus blieb nicht mehr die Zeit, auf diese Bedrohungen zu reagieren, denn er wurde bereits 253 infolge der Usurpation des Aemilianus getötet. Aemilianus konnte sich nur wenige Wochen an der Macht halten; ihm trat der Befehlshaber Valerian, den noch Trebonianus Gallus zur Hilfe gerufen hatte, in Italien entgegen, und Aemilianus wurde von seinen eigenen Truppen ermordet. Mit dem neuen Kaiser Valerian stabilisierte sich die Lage zwar vorläufig, jedoch sollte das Reich erst während seiner Regierungszeit eine massive Eskalation der Probleme und die eigentliche Krisenzeit erleben. Von Valerian zu Claudius Gothicus: Äußere Bedrohung und innere Unruhe Valerian und Gallienus: Der vergebliche Versuch einer Stabilisierung des Reichs Der 253 an die Macht gekommene Valerian stammte wohl aus einer angesehenen senatorischen Familie, doch ist über sein Verhältnis zum Senat kaum etwas bekannt. Er hielt sich auch kaum in Rom auf, sondern wandte seine Aufmerksamkeit sofort der Bedrohung an den Grenzen zu, die nach Ansicht mancher Forscher sogar den eigentlichen Auslöser für die Krise darstellte. Einen besonders bedrohten Teil der Reichsgrenze stellte weiterhin der Balkanraum dar. Die Goten versuchten sich, zunächst zusammen mit dem Stamm der Boraner operierend, nun sogar als Seeräuber. 254 tauchten sie in der Ägäis auf und landeten bei Thessalonike. Nachdem Pityus im Pontos schon 254/55 erfolglos von den Boranern angegriffen worden war, fiel die Stadt 256 in die Hände der angreifenden Boraner und Goten, was sich stark demoralisierend auf die römischen Truppen in Kleinasien auswirkte; sogar Trapezunt wurde von gotischen Seeräubern geplündert. Städte, die aufgrund der Pax Romana seit Jahrhunderten keine Mauern gebraucht hatten, mussten nun notdürftig befestigt werden. Noch bedrohlicher war die Lage im Osten. Die Sāsāniden, die schon in den 30er Jahren des 3. Jahrhunderts mehrere Offensiven gegen die Römer unternommen hatten, begannen unter Schapur I. 253 oder vielleicht schon 252, offenbar die Wirren im Imperium nutzend, eine Großoffensive. Nachdem die Euphratlinie gesichert war, besiegte Schapur bei Barbalissos ein großes römisches Heer und stieß nach Syrien vor. Über diese Vorgänge informiert vor allem der dreisprachige Tatenbericht Schapurs, die sogenannten res gestae divi Saporis, der durch westliche Quellen ergänzt wird. Persischen Truppen gelang es sogar, Antiochia, eine der bedeutendsten und größten Städte des Imperiums, kurzzeitig zu erobern; bald darauf zog Schapur vorerst wieder ab. Die persische Offensive hatte zum weitgehenden Zusammenbruch der römischen Orientverteidigung geführt. Anscheinend waren die römischen Truppen zu keiner koordinierten Abwehr mehr in der Lage, denn der lokale Machthaber Uranius Antoninus, der Priesterkönig von Emesa, organisierte nun die Verteidigung gegen die Perser, wobei er in eine (mehr oder weniger offene) Konkurrenz zum legitimen Kaiser trat. Durch den frühen Tod des Priesterkönigs blieb dies zwar ohne Auswirkung, doch weist dieses Ereignis auf die folgende Entwicklung hin, die zur Bildung des Teilreichs von Palmyra führte. 256, im selben Jahr, in dem die Goten die Küste Kleinasiens heimsuchten, fiel erneut ein persisches Heer in Mesopotamien ein. Den Persern gelang nicht nur die Besetzung der Festung Circesium, sondern vor allem die Eroberung und Zerstörung der Festung Dura Europos, die eine Schlüsselrolle in der römischen Orientverteidigung spielte. Ein weiteres Vordringen der Sāsāniden konnte zwar von römischen Truppen verhindert werden, die wohl die Perser zum Rückzug zwangen. Dennoch hinterließ der äußere Druck deutliche Spuren: Mehrere Legionen wurden förmlich an den Fronten im Norden und Osten aufgerieben, auch wenn es zu einigen Lösungsansätzen kam, wie der Bildung einer berittenen Eingreifreserve, die an Brennpunkten eingesetzt werden konnte. 257 waren die Grenzen noch einmal kurzfristig stabilisiert worden. Dennoch befand sich das Reich in einer prekären Lage, denn weder an Rhein und Donau noch im Osten war die äußere Bedrohung beseitigt. Im Sommer 257 leitete Valerian, wohl aus Sorge um den „göttlichen Schutz Roms“ und in Anknüpfung an die Politik des Decius, eine neue Christenverfolgung ein. Es kam zu einer ganzen Reihe von Todesurteilen, aber auch zu Verbannungen und Konfiszierungen. Daher wurden in der Forschung oft auch fiskalische Motive vermutet. Der teils sehr blutigen valerianischen Verfolgung fiel unter anderem Cyprian von Karthago zum Opfer; eine Zurückdrängung der christlichen Gemeinden wurde aber nicht erreicht. Die Verfolgung wurde erst 260 von Valerians Sohn Gallienus beendet. Gallienus, seit 253 Mitkaiser, war von Valerian die Aufgabe übertragen worden, sich um die Verteidigung des Westens zu kümmern. Auch dort blieb die Lage weiter angespannt, wie ein Einbruch germanischer Stämme nur allzu deutlich zeigte: Die Franken drangen 257 oder 259 am Oberrhein auf römisches Gebiet vor und gelangten bis nach Hispanien, während die Alamannen 259/60 im Rahmen des sogenannten Limesfall den obergermanisch-raetischen Limes überwanden, nachdem die dort stationierten römischen Truppen aufgrund der inneren Konflikte wohl schon vorher weitgehend abgezogen worden waren. Die Alamannen stießen bis nach Oberitalien vor, wo Gallienus sie (wohl Mittsommer) 260 in der Nähe von Mailand besiegte. In der Folgezeit mussten die Römer jedoch das sogenannte Dekumatland räumen. Auch eine größere Gruppe Juthungen überwand die römische Grenzverteidigung, bevor sie in der Nähe von Augsburg geschlagen wurde, wie der sogenannte Augsburger Siegesaltar beweist. In Kleinasien rührten sich zudem wieder die Goten. 258 griffen sie mehrere kleinasiatische Städte an und plünderten die eroberten Städte; unter anderem fielen ihnen Chalkedon, Nikaia und Nikomedia zum Opfer. 259 trat ihnen Valerian im Norden Kleinasiens entgegen, doch hatten sie sich da schon zurückgezogen. Derweil plante Valerian im Osten das weitere Vorgehen gegen die Perser, doch kam ihm Schapur mit einer Offensive im Jahr 260 zuvor. Im Frühsommer 260 wurde die römische Armee, die Valerian persönlich ins Feld geführt hatte, in der Schlacht von Edessa vernichtend geschlagen, und Valerian geriet in persische Gefangenschaft, aus der er nicht mehr freikommen sollte. Im Tatenbericht Schapurs ist zur Gefangennahme Valerians – ein einmaliger und für die Römer zutiefst demütigender Vorgang – vermerkt: Valerian wurde zusammen mit mehreren anderen römischen Gefangenen nach Persien deportiert und starb in der Gefangenschaft. Die katastrophale Niederlage Valerians hatte noch weiterreichende Konsequenzen, da den Persern nun faktisch keine römische Armee mehr in Mesopotamien gegenüberstand, von kleineren Verbänden abgesehen. Die römischen Orientprovinzen standen den Persern offen. Offensichtlich verlor Rom kurzzeitig die Kontrolle über einen nicht geringen Teil dieser Grenzzone. In mehreren spätantiken Quellen (freilich nicht in der senatsfreundlichen Historia Augusta) wurden denn auch Valerian schwere Vorwürfe gemacht. Sein Nachfolger Gallienus stand vor einer großen Herausforderung. Die Alleinherrschaft des Gallienus: Der Höhepunkt der „Reichskrise“ Als die Alleinherrschaft des Gallienus (260 bis 268) begann, erreichte die Krise ihren Höhepunkt. Seine Handlungsmöglichkeiten waren begrenzt, denn fast zeitgleich wurden die Grenzen im Westen wie im Osten von Feinden bedrängt. Infolge der Gefangennahme Valerians kollabierte die restliche römische Grenzverteidigung im Orient weitgehend. Es kam zu einigen (allerdings nur kurzzeitigen) Usurpationen im Osten; so wurde Macrianus Minor zum Kaiser erhoben, doch unterlag er bereits 261 einem loyalen Heer. Gallienus unternahm (soweit aus den Quellen erkennbar) nichts, um seinen Vater frei zu bekommen; Valerian wurde wie ein toter Kaiser behandelt. Die Christenverfolgung wurde beendet und Gallienus kehrte zur alten Rechtspraxis zurück, die seit Trajan galt und trotz prinzipieller Strafbarkeit keine gezielte Verfolgung der Christen vorsah. Im Inneren kam das Reich nicht zur Ruhe, denn es erfolgten mehrere Usurpationsversuche: 260 erhoben sich Ingenuus auf dem Balkan und Regalianus im Donauraum; beide Usurpationen wurden niedergeschlagen. Diese und weitere lokal begrenzte Erhebungsversuche, die weitere Kräfte banden, zeigen ein fundamentales Problem der Soldatenkaiserzeit, besonders ab den 50er Jahren des 3. Jahrhunderts: Schon in den ersten Jahren der Soldatenkaiserzeit war es in oft schneller Folge immer wieder zum Wechsel der Herrscher gekommen, von denen kaum einer eines natürlichen Todes starb. Vor allem offenbarte sich zunehmend die inhärente Problematik des „Akzeptanzsystems“ des Prinzipats: Da die Position des Monarchen staatsrechtlich nicht vorgesehen war, ruhte die Legitimität jedes princeps grundsätzlich nur auf der Zustimmung von Heer, Senat und Bevölkerung von Rom. Verließ den Herrscher der Erfolg, musste er damit rechnen, von einem Gegenkaiser herausgefordert zu werden. Nun aber wurden die Kaiser meist alleine von Heeresgruppen bestimmt, die miteinander rivalisierten und daher oft unterschiedliche Kandidaten bevorzugten. Zugleich strebten gerade die römischen Truppen in Kampfzonen nach „Kaisernähe“. Wenn der princeps gerade an anderer Stelle gebunden war, neigten sie dazu, erfolgreiche Feldherren zu Kaisern auszurufen, was zu Bürgerkriegen führte, die wiederum die Abwehrkraft gegen äußere Feinde verringerten. Der jeweilige Sieger im Bürgerkrieg konnte sich dann wieder nur um eine Front gleichzeitig kümmern und musste daher erneut Feldherren entsenden, die im Erfolgsfall wiederum nur allzu leicht nach der Macht greifen konnten. Daher drohte besonders von den drei großen Heeresverbänden an Rhein, Donau und Euphrat (teils auch in Britannien) jederzeit eine Usurpation. Diese direkte und potentiell existentielle Bedrohung des Kaisertums erschwerte es Gallienus erheblich, seine Herrschaft zu stabilisieren. Die römischen Abwehrbemühungen gegen die Perser, die 260 Antiochia ein zweites Mal eingenommen hatten, erwiesen sich als recht ineffektiv, bis der Exarch (und spätere König) von Palmyra, Septimius Odaenathus, faktisch den Oberbefehl im Orient übernahm. Dieser hatte vorher wohl versucht, mit Schapur eine Übereinkunft zu erzielen, was aber scheiterte. Gallienus versah ihn nun mit dem imperium maius für den Osten und machte ihn als corrector totius Orientis zu seinem faktischen Stellvertreter dort. Gallienus blieb kaum eine andere Wahl, denn die Machtstellung des Odaenathus war ein unausweichliches Faktum und die römischen Ressourcen reichten nicht aus, um gleichzeitig gegen die Germanen, das gallische Sonderreich (siehe unten) und die Perser vorzugehen. Tatsächlich gelang es den palmyrenischen Truppen, die Perser, die durch die vorangegangenen Kämpfe geschwächt waren und nicht mit einem Angriff aus dieser Richtung gerechnet hatten, zurückzuwerfen: 262/63 stieß Odaenathus bis zur persischen Hauptresidenz Ktesiphon vor. Offenbar unterstellten sich während dieses Feldzugs, der vor allem dem Zweck diente, die 260 verlorenen Provinzen wieder für Rom zu sichern, auch reguläre römische Truppen seinem Kommando. Tatsächlich mussten sich die Perser zurückziehen. Damit wurde der bedeutende Handelsort Palmyra zum einzigen stabilisierenden Faktor an Roms Ostgrenze – und letztendlich auch zu einem Rivalen Roms. Odaenathus sah sich durch seine Erfolge gegen die Perser anscheinend in seiner Machtstellung bestärkt, denn er nannte sich nun rex regum („König der Könige“) – eine offensichtliche Anlehnung an den Titel der Sāsāniden (Shāhān shāh, dem König der Könige von Ērān und Anerān), was wohl die Erfolge des Palmyreners über deren König Schapur unterstreichen sollte. Gleichzeitig sank die Autorität der römischen Zentralregierung vor Ort immer mehr ab. 267 unternahm Odaenathus einen weiteren Persienfeldzug, brach diesen jedoch ab, nachdem Goten ins nördliche Kleinasien eingefallen waren. Im selben Jahr fiel Odaenathus wohl einem Verwandtenmord zum Opfer, möglicherweise wurde er aber auch im Auftrag des Gallienus, der die wachsende Macht des Odaenathus fürchtete, ermordet. Nach seinem Tod übernahm seine Witwe Zenobia die Regentschaft und nutzte die Schwäche Roms im Osten aus; in rascher Folge fielen große Teile der römischen Orientprovinzen (kurzzeitig) an Palmyra, darunter Syrien und (allerdings erst 269/70) die reiche Provinz Ägypten. So entstand das Teilreich von Palmyra, das sich für die Grenzverteidigung gegen die Perser als stabilisierender Faktor erwies und in dieser Situation eine Alternative zum offenbar überforderten römischen Staat darstellte. Dabei wurde der römische Herrschaftsanspruch offiziell nicht in Frage gestellt. Diese Entwicklung wurde von manchem im Osten wohl sogar begrüßt. Der Grieche Nikostratos von Trapezunt verfasste ein (nicht erhaltenes) Geschichtswerk über diese Zeit, welches wohl die Taten des Odaenathus verherrlichte. Der Rhetor und Geschichtsschreiber Kallinikos von Petra hat zudem möglicherweise seine Geschichte Alexandrias Zenobia gewidmet. Bereits 260 war es zur Loslösung von großen Teilen des westlichen Reichsteils und zur Bildung des gallischen Sonderreichs (Imperium Galliarum) gekommen, das zeitweilig neben Gallien auch Hispanien und Britannien umfasste. Dem Militärkommandeur Postumus war im Sommer 260 ein Sieg über einige Germanen gelungen, doch kam es bezüglich der Beuteverteilung zum Streit zwischen ihm und dem Caesar Saloninus, einem Sohn des Gallienus, der vom Kaiser in Gallien als Stellvertreter zurückgelassen worden war. Postumus belagerte daraufhin Köln, wo sich Saloninus aufhielt. Dieser wurde zusammen mit seinem Berater Silvanus schließlich ausgeliefert und beide wurden kurz darauf hingerichtet. Postumus selbst wurde von seinen Truppen zum Kaiser ausgerufen; er residierte entweder in Köln oder Trier. Postumus und seine Nachfolger behaupteten bis 274 einen nicht geringen Teil des Westens und konnten einige Erfolge bei der Grenzverteidigung verbuchen. Gallienus konnte aufgrund der verschiedenen anderen Krisenherde erst relativ spät gegen Postumus aktiv werden. 265 (manche Forscher nehmen auch 266/67 an) scheiterte eine Offensive gegen das gallische Sonderreich. 269 wurde aber auch zunehmend die Autorität des Postumus im Sonderreich in Frage gestellt, und er wurde, kurz nachdem er eine Usurpation niedergeschlagen hatte, ermordet. Auch seine Nachfolger blieben von Usurpationsversuchen nicht verschont, wobei auch wirtschaftliche Probleme eine Rolle spielten; so sank etwa der Edelmetallanteil in den Münzprägungen merklich. Durch die Bildung des Imperium Galliarum sowie durch die später erfolgte Errichtung des Teilreichs von Palmyra unterstanden um 267/68 lediglich Italien, der Balkanraum (einschließlich Griechenlands), die Provinz Africa sowie Teile Kleinasiens der direkten Kontrolle von Gallienus. Diese zentrifugalen Tendenzen im Reich waren wohl auch eine direkte Folge der ungenügenden Verwaltungseffizienz, was später zu einer deutlich stärkeren Zentralisierung der Verwaltung führte, sowie der Überbeanspruchung des Heeres. Immer wieder mussten Truppen von der einen Grenzzone abgezogen werden, die damit teils entblößt wurde, um feindliche Einbrüche an anderer Stelle zu bekämpfen, die zum Teil fast gleichzeitig stattfanden. Das Militär war mit der Verteidigung der Grenzen derart überfordert, dass es bisweilen regionalen Milizen oblag, diese Aufgabe zu übernehmen. Dies war bereits im Osten nach der Gefangennahme Valerians geschehen. Ein anderes Beispiel ereignete sich während des Herulereinfalls in Griechenland 267/68. Nachdem bereits 262 Goten wieder die Donau überschritten hatten und anschließend sogar über den Hellespont nach Kleinasien übergesetzt hatten, wobei sie mehrere kleinasiatische Städte überfielen, griffen die „Skythai“ 267 erneut an und plünderten an der Nordküste Kleinasiens. Ebenfalls 267 fielen die Heruler mit Schiffen über das Marmarameer in die Ägäis und schließlich nach Griechenland ein. Es gelang ihnen, eine ganze Reihe von Städten zu erobern und zu plündern, darunter Byzantion, Argos und Athen. Bei ihrem Rückmarsch aus Attika wurden sie von einer örtlichen Miliztruppe besiegt. Während dieser Kämpfe soll sich der Geschichtsschreiber Dexippos ausgezeichnet haben; in neuerer Zeit wird aufgrund eines neuen Quellenfunds seine Teilnahme aber wieder stark bezweifelt und es eher für wahrscheinlich gehalten, dass ein anderer Mann namens Dexippos an den Kämpfen teilnahm. Ein Fragment aus den Skythika des Dexippos, das sich auf dieses Ereignis bezieht, ist erhalten geblieben. Es stellt eine der wenigen zeitgenössischen Quellenaussagen dar und ist inhaltlich aufschlussreich, denn hier wird auch ein starker griechischer Lokalpatriotismus und eine Rückbesinnung auf die griechische Geschichte greifbar: Gallienus, der einen Feldzug gegen Postumus geplant und sich deshalb in Italien aufgehalten hatte, zog Truppen zusammen, sobald er Nachricht von dem Einfall der Heruler erhalten hatte, und besiegte sie im Frühjahr des Jahres 268 in einer großen Schlacht am Fluss Nestos auf dem Balkan. Faktisch war das Römische Reich zu dieser Zeit also dreigeteilt, wobei jedem Reichsteil die Verteidigung jeweils einer Flussgrenze (Rhein, Donau, Euphrat) oblag. Neben den militärischen Problemen ergaben sich auch eine ganze Reihe von Strukturproblemen. Der rasche Wechsel der Herrscher verhinderte eine kontinuierliche Reichspolitik. Zudem hingen die Soldatenkaiser so weitgehend von der Gunst ihrer Truppen ab, dass sie diese nicht mehr disziplinieren konnten. Nicht wenige der späteren Soldatenkaiser (seit 268) stammten aus dem Illyricum, welches vor allem als Rekrutierungsgebiet von großer Bedeutung war, und kamen aus einfachsten Verhältnissen. Auch wandelten sich seit etwa 260 die Strukturen in der kaiserlichen Administration, dem Heer und der Provinzialverwaltung, wie es auch teils zu einem wirtschaftlichen Verfall kam: Bereits gegen Kaiser Gordian III. kam es in den Randgebieten des Imperiums (wie in Africa) zu Aufständen, während sich in Senat und Armee eine gegenseitige Abneigung breit machte und die Ritter die Senatoren in der Verwaltung immer mehr verdrängten. Dennoch brach das Reich nicht dauerhaft auseinander und das Grundgerüst von Verwaltung und Herrschaftspraxis blieb im Wesentlichen intakt. Die Wirtschaft des Reiches stand dennoch wenigstens zeit- und gebietsweise am Rande des Zusammenbruchs: Es kam zu einer starken Geldentwertung, da die Ressourcen zur Finanzierung des Heeres und der Verwaltung kaum noch ausreichten. Seit etwa 270 begann die Inflation zu eskalieren. Zur Lösung dieser Schwierigkeiten nahm Gallienus offenbar Reformen in Angriff, die Aspekte der spätantiken Verwaltung unter Diokletian und Konstantin vorwegnahmen, zugleich aber mit vielem brachen, was in den vergangenen drei Jahrhunderten das Imperium geprägt hatte. So schloss er, obwohl selbst als einer der letzten Kaiser der alten Oberschicht (Nobilität) entstammend, Senatoren vom Militärdienst und dem Kommando der Legionen aus. Stattdessen wurde Rittern und Militärs der Zugang zu höheren Posten ermöglicht, darunter auch zu solchen, die bisher Senatoren vorbehalten gewesen waren. Gallienus spekulierte offenbar darauf, dass sich Personen, die ihm ihren Aufstieg verdankten, loyaler verhalten würden als ehrgeizige Senatoren; zudem wollte er offensichtlich lieber Berufssoldaten das Kommando übertragen. Faktisch besiegelte seine Maßnahme aber die Machterosion des Senats: Auch nach dem Ende der Republik war der Senat als Versammlung der zivilen und militärischen Reichselite immer wichtig geblieben; diese Zeit endete nun. Um 260 schuf Gallienus zudem eine berittene Eingreifreserve, die wohl das Vorbild für das spätere Bewegungsheer darstellte. Vor allem die Bedeutung der Donaulegionen, auf die sich der Kaiser stützte, nahm immer mehr zu. Trotz all dieser Reformmaßnahmen konnte sich Gallienus nicht mehr reichsweit als Kaiser durchsetzen: 267 oder 268 hatte sich Aureolus, ein Befehlshaber des Gallienus, in Oberitalien gegen den Kaiser erhoben; während der Belagerung Mailands fiel Gallienus im August/September 268 einem Mordkomplott zum Opfer. Die Bilanz der Regierungszeit des Gallienus, des am längsten regierenden Soldatenkaisers, fällt gemischt aus, was von den Quellen reflektiert wird: In der lateinischen Überlieferung wird Gallienus negativ, in der griechischen hingegen eher positiv bewertet, wobei sicherlich eine Rolle gespielt hat, dass sich Gallienus sehr für die griechische Kultur interessierte und diese förderte. Gallienus gelangen trotz der schwierigen Lage auch militärische Erfolge und einige wichtige innere Reformen, die den Weg aus der Krise wiesen, auch wenn es ihnen noch an Systematik fehlte. Dennoch erlebte das Reich unter seiner Herrschaft die vollen Auswirkungen der Reichskrise, die freilich vor allem auf Faktoren wie Invasionen und Usurpationen zurückzuführen ist, die vom Kaiser nicht beeinflusst werden konnten. Die Überwindung der „Krise“ Claudius Gothicus: Erste Ansätze der Stabilisierung Claudius Gothicus, der Nachfolger des Gallienus, sah sich mit den weiterhin ungelösten Problemen an den Grenzen konfrontiert. Seine Regierungszeit und die seines Nachfolgers Aurelian – beide werden zu den „illyrischen Kaisern“ gezählt – war militärisch ein Wendepunkt der Soldatenkaiserzeit: War das Reich vorher fast ausschließlich in der Defensive, gelang es diesen Kaisern, die Gefahr durch die Germanen einzudämmen und die verlorenen Gebiete im Osten und Westen zurückzugewinnen. Noch 268 stießen die Alamannen über die Donau vor, offenbar in der Absicht, in Italien einzufallen; Claudius gelang es jedoch, die Invasoren am Gardasee zu besiegen. Im Frühjahr 269 unternahmen dann die „Skythai“ (gemeint sind Goten, Heruler und andere Gruppen) eine großangelegte, seegestützte Offensive. Die Flotte segelte vom Schwarzen Meer in die Ägäis, ein Teil der Truppen landete dann bei Thessalonike, das vergeblich belagert wurde. Diese Invasion scheint auf erhebliche Gegenwehr gestoßen zu sein; es gelang den Angreifern nicht, die (inzwischen weitgehend befestigten) Städte einzunehmen. Als Claudius den Invasoren entgegentreten wollte, zogen sie ab. Sie wurden dann aber von den Römern im Sommer 269 bei Naissus gestellt. Hier besiegte Claudius, der vor allem seine Reiterei geschickt einsetzte, das feindliche Heer, was ihm den Beinamen Gothicus („Gotensieger“) einbrachte. Die zweite Gruppe der Invasoren wurde im Sommer 270 in mehreren Seegefechten besiegt. Innenpolitisch förderte Claudius Militärs aus dem Ritterstand; mehrere Illyrer verdankten ihm ihren Aufstieg. Waren bis 268 die meisten Herrscher Senatoren gewesen, änderte sich dies jetzt. Auch auf die formelle Verleihung der traditionellen kaiserlichen Vollmachten (imperium proconsulare maius und tribunicia potestas) durch den Senat scheinen Claudius und die meisten seiner Nachfolger verzichtet zu haben; die Ausrufung durch die Truppen genügte nun. Er scheint die beiden Sonderreiche, das gallische und das palmyrenische, ignoriert zu haben, wohl auch deshalb, weil beide die Grenzverteidigung gegen äußere Feinde gewährleisteten und er nicht durch Offensiven gegen sie Ressourcen verschwenden wollte. Allerdings schloss er Hispanien, das sich nach dem Tod des Postumus wieder der Zentralregierung unterwarf, seinem Herrschaftsbereich an. Ansonsten konzentrierte er sich auf die Verteidigung des Donauraums. Als 270 eine Pest auf dem Balkan ausbrach, erkrankte auch Claudius daran und verstarb bald darauf. Sein Verhältnis zum Senat, der ihm umfangreiche Ehrungen zuteilwerden ließ, scheint trotz allem gut gewesen zu sein. In der senatorischen Geschichtsschreibung wurde er heroisiert, was mit ein Grund für die fiktive genealogische Anknüpfung Konstantins des Großen an Claudius gewesen sein dürfte. Seine kurze Regierung gehörte offenbar zu den erfolgreichsten der Soldatenkaiserzeit. Aurelian Nach dem Tod des Claudius wurde zunächst dessen jüngerer Bruder Quintillus zum Kaiser erhoben. Im September 270 erhoben jedoch in Sirmium die Donaulegionen Aurelian, einen erfahrenen Kommandeur der Reiterei, zum Kaiser. Bald brach Aurelian nach Italien auf. Quintillus, den seine Truppen im Stich ließen, beging Selbstmord oder wurde von Soldaten ermordet. Es gelang Aurelian, die Krise zumindest teilweise zu überwinden, wobei er auf die Vorarbeit durch Kaiser wie Gallienus, der eine Professionalisierung der Armee eingeleitet hatte, zurückgreifen konnte. Aurelian musste eine Reihe von schweren Barbareneinfällen abwehren. Die Juthungen, die im Sommer 270 über die Donau ins Reich eingebrochen waren, konnte er im Herbst desselben Jahres besiegen. Im Frühjahr 271 wehrte er einen Vorstoß der Vandalen nach Pannonien ab; sie schlossen Frieden und zogen ab. Kurz darauf konnte Aurelian einen Angriff der Juthungen und Alamannen in Italien abwehren, wenn auch nur mit Mühe. Erhebungen zweier Usurpatoren namens Septimius und Urbanus wurden rasch niedergeworfen. Eine Revolte in Rom, die wohl durch das Vorrücken der Juthungen ausgelöst wurde, schlug der Kaiser blutig nieder, was manche Geschichtsschreiber später zu deutlicher Kritik veranlasste. Später war Aurelian um gute Beziehungen zum Senat bemüht. Er errichtete zum Schutz Roms die Aurelianische Mauer, womit erstmals eine mögliche militärische Bedrohung der Hauptstadt durch äußere Feinde in Betracht gezogen wurde. Im Donauraum blieb die Lage weiter unruhig: In der zweiten Jahreshälfte 271 zog Aurelian nach Osten und besiegte ein gotisches Aufgebot. Die allzu exponierte Provinz Dakien nördlich der Donau gab er auf. 272 wandte Aurelian seine Aufmerksamkeit dem Osten zu. Im Frühjahr begann er einen Feldzug gegen Palmyra, dessen Regierung sich 270 vergeblich um die Anerkennung Roms bemüht hatte. Erst jetzt nahm Zenobias Sohn Vaballathus den Kaisertitel an und betrieb damit die offene Usurpation. Das Heer Palmyras wurde im Juni/Juli 272 geschlagen, im August desselben Jahres zog Aurelian kampflos in Palmyra ein. Eine Belagerung, wie in der Historia Augusta dargestellt, fand wohl nicht statt; sehr wahrscheinlich hatte in der Oasenstadt eine „Friedenspartei“ die Oberhand gewonnen. Zenobia geriet in Gefangenschaft. Gegenüber den einheimischen Eliten setzte der Kaiser demonstrativ auf eine Politik der Milde (clementia), womit er offenbar deren Kooperation erreichte. Hinrichtungen wie die des Philosophen Longinos, der als Berater Zenobias fungiert hatte, waren die Ausnahme. So brachte Aurelian ohne größere Schwierigkeiten den Ostteil des Reiches wieder unter die Kontrolle der Zentralregierung. Ein Aufstand in Palmyra im Frühjahr 273 wurde rasch niedergeschlagen. Kurz darauf nahm Aurelian auch die Rückeroberung des gallischen Sonderreichs in Angriff. Im Frühjahr 274 wurden die gallischen Truppen bei Catalaunum geschlagen, worauf das gallische Sonderreich rasch zusammenbrach. Die abtrünnigen Provinzen unterstellten sich wieder der Zentralregierung. Aurelian kehrte im Spätsommer 274 im Triumphzug nach Rom zurück und wandte sich inneren Reformen zu. Er führte einen neuen Staatskult ein, den des Sonnengotts Sol Invictus, den er als „Herrn des Römischen Reichs“ und seinen persönlichen Beschützer betrachtete. Unverkennbar war eine Tendenz zu einer theokratischen Herrschaftslegitimation. Aurelian soll als erster Kaiser ein Diadem und ein goldenes Kleid getragen haben. Seine religiösen Maßnahmen spiegelten den in der Zeit der Reichskrise deutlich hervortretenden Trend zum Monotheismus oder Henotheismus, der auch – vor allem im Osten – das Vordringen des Christentums begünstigte. In den letzten Monaten seiner Herrschaft ging Aurelian gegen die Christen vor, nachdem er zuvor sogar eine Anfrage von Christen entgegengenommen hatte (siehe Paul von Samosata). Die Wirtschaft erholte sich spürbar, zumal das Imperium nun wieder über die West- und Ostprovinzen verfügte. Eine Münzreform des Kaisers scheiterte jedoch. Im September/Oktober 275 fiel Aurelian, der sich zu dieser Zeit in Thrakien aufhielt, einer Verschwörung zum Opfer, die der kaiserliche Sekretär Eros, dem wegen Fehlverhaltens eine Bestrafung drohte, organisiert hatte. Aber auch nach der Ermordung Aurelians wurde dessen eingeschlagener Konsolidierungskurs, der langsam Wirkung zeigte, beibehalten. Die Leistung Aurelians bestand vor allem in der Rückgewinnung der verlorenen Provinzen im Westen und Osten sowie der Stabilisierung der Grenzen. In der spätantiken Epitome de Caesaribus wurden seine Leistungen sogar mit denen Alexanders und Caesars verglichen. Die letzten Soldatenkaiser: Von Tacitus zu Carinus Die Nachfolge Aurelians trat der wohl aus der senatorischen Oberschicht stammende Tacitus an. Über seine Regierungszeit liegen nur wenige, teils unglaubwürdige Informationen vor. Dazu zählt die Behauptung in der Historia Augusta, der Kaiser sei mit dem gleichnamigen Geschichtsschreiber verwandt gewesen und habe Abschriften von dessen Werken anfertigen lassen. Die meisten (mehr oder weniger zuverlässigen) Informationen in den Quellen gehen auf eine gemeinsame senatsfreundliche Quelle zurück, die sogenannte Enmannsche Kaisergeschichte. Tacitus, der in hohem Alter zum Kaiser erhoben wurde, war vermutlich eher ein Verlegenheitskandidat. Er bemühte sich, seine Stellung durch die Verteilung von Geldgeschenken und andere Maßnahmen zu festigen. Vor allem war er darauf bedacht, sich das Wohlwollen des Senats zu sichern: Auf Münzen wurde er als restitutor rei publicae gefeiert, als Wiederhersteller der (senatorischen Adels-)Republik. Auch wenn davon zweifellos nicht die Rede sein konnte, so kann Tacitus doch durchaus als „Senatskaiser“ bezeichnet werden, der auf eine enge Kooperation Wert legte; dies erklärt auch seinen guten Ruf in den pro-senatorischen Quellen. Doch kurz nachdem Tacitus einen Sieg über gotische und herulische Invasoren errungen hatte, verstarb er Mitte 276. Möglicherweise fiel er einem Anschlag zum Opfer. Nachfolger des Tacitus wurde zunächst dessen Bruder Florianus, gegen den sich jedoch bald im Osten des Reiches Widerstand formierte. Der erfahrene, aus Sirmium stammende Offizier Probus wurde von seinen Truppen zum neuen Kaiser erhoben. Florianus marschierte Probus mit starken Truppenverbänden entgegen, dieser konnte sich jedoch behaupten. Florianus wurde in Tarsos im Südosten Kleinasiens getötet (August 276), woraufhin Probus seine Nachfolge antrat. Probus blieb nicht viel Zeit, seine Macht zu festigen, denn er musste sich wie alle Soldatenkaiser den Problemen an den Grenzen widmen. In Gallien hatten Alamannen und Franken die Rheinbefestigungen durchbrochen und hatten teils weitreichende Plünderungszüge unternommen. Probus führte daher in den Jahren 277/78 Feldzüge in Gallien durch und konnte einige Erfolge verbuchen. Auch wenn die Berichte in den Quellen wohl übertrieben sind, so gelang es doch, die Rheingrenze wieder zu stabilisieren. Im Frühjahr 278 brach Probus zur Donau auf, um auch dort die Lage unter Kontrolle zu bringen. Auf dem Weg dorthin besiegte er Burgunden und Vandalen. Seine Erfolge ließ der Kaiser durch neue Münzprägungen feiern. Fast gleichzeitig konnten in Ägypten die Blemmyer, die die Südgrenze des Nillandes wiederholt bedroht hatten, geschlagen werden, womit die Grenze wieder gesichert wurde. Die Beziehungen zum Sāsānidenreich hingegen scheinen zwar angespannt gewesen zu sein, es kam jedoch zu keinen ernsthaften Kampfhandlungen. In Kleinasien konnte eine Rebellion, die von einem gewissen Lydius angeführt wurde, geschlagen werden, wobei der Kaiser aber, wie auch in Ägypten, nicht selbst vor Ort war. Möglicherweise hatte sich Probus im Sommer 279 nach Rom begeben. In der Regierungszeit des Probus kam es zu mehreren erfolglosen Usurpationsversuchen. In Britannien erhob sich (280 oder 281) ein namentlich nicht bekannter Usurpator, ebenfalls 280/281 kam es zu den Usurpationen des Proculus und des Bonosus in Gallien (bzw. in Köln) sowie schließlich zu der des Julius Saturninus in Syrien. Alle vier fanden ein schnelles Ende, wobei Saturninus von eigenen Truppen ermordet wurde, ohne dass Probus eingreifen musste. 281 ließ Probus einen Triumphzug organisieren und Spenden an das Volk verteilen, um seinen Sieg über Blemmyer und Germanen zu feiern. Möglicherweise während der Planungen zu einem Persienfeldzug wurde Probus im September/Oktober 282 von unzufriedenen Soldaten in Sirmium ermordet. Ein Grund für diese Unruhen war möglicherweise die harte Disziplin, die Probus seinen Soldaten abverlangte. Probus scheint ein guter Administrator und Militär gewesen zu sein. Seine Regierungszeit wird in den Quellen überwiegend positiv bewertet und er wird als gerechter Herrscher beschrieben, der den von Aurelian eingeschlagenen Konsolidierungskurs systematisch weiterverfolgte. Neuer Kaiser wurde 282 der aus Südgallien stammende Carus, der noch während der Regierungszeit des Probus von seinen Truppen zum Kaiser ausgerufen worden war und nun allgemeine Anerkennung fand. Bald darauf erhob Carus seine beiden Söhne Carinus und Numerianus zu Mitkaisern. Über Sarmaten, die über die Donau ins Reich eingebrochen waren, errang Carus Anfang 283 einen Sieg. Danach setzte er Carinus als Herrscher im Westen ein, während er selbst mit Numerianus nach Osten aufbrach, um gegen die Sāsāniden in den Krieg zu ziehen. Der Grund für diesen Persienfeldzug ist unbekannt, über eine vorhergehende persische Aggression ist nichts überliefert, wenngleich kleinere persische Raubzüge möglich sind. Jedenfalls zeigt die Invasion, dass sich die militärische Schlagkraft des Reichs so weit gebessert hatte, dass man nun glaubte, gegen den großen Feind Roms im Osten wieder offensiv vorgehen zu können. Ein Motiv, neben Beute und kaiserlichen Ruhm im Falle eines Sieges, wird zudem sehr wahrscheinlich Rache für die demütigende Niederlage Valerians gewesen sein. Die Gelegenheit schien zudem besonders günstig zu sein: Der persische König Bahram II. war durch die Rebellion seines Verwandten Hormizd im Osten des Reiches beschäftigt und wurde von dem raschen römischen Vorstoß wohl völlig überrascht. Die römischen Truppen drangen bis in die Hauptresidenz der Sāsāniden Seleukeia-Ktesiphon vor. Sie nahmen die Stadt zwar ein, weitere römische Offensiven hatten aber keinen Erfolg. Bei Ktesiphon verstarb Carus Ende Juli 283 überraschend. Unklar ist, ob es ein gewaltsamer Tod war. Die Behauptung in manchen Quellen, er sei vom Blitz getroffen worden, spiegelt möglicherweise die Überraschung über seinen unerwarteten Tod, der auf ein plötzliches göttliches Eingreifen zurückgeführt wurde. Wahrscheinlicher ist aber, dass so ein Attentat vertuscht werden sollte. Das Heer forderte nach dem Tod des Carus den Rückzug und Numerianus stimmte notgedrungen zu. Auf dem Rückweg in den Westen verstarb im November 284 auch Numerianus unter unklaren Umständen. Das Heer rief daraufhin den Gardeoffizier Diocles zum neuen Kaiser aus, der sich nun Diokletian (Diocletianus) nannte. Im Weg stand ihm noch Carinus, der in der Zwischenzeit im Westen erfolgreich gegen Germanen gekämpft hatte und sich Diokletian auf dem Balkan entgegenstellte. In mehreren Kämpfen konnte sich Carinus behaupten, doch er fiel schließlich (wohl im Spätsommer/Anfang Herbst) 285 einer Intrige zum Opfer, wobei die Verschwörer wohl von Diokletian unterstützt wurden. Diokletian trat nun die uneingeschränkte Herrschaft an und betrieb in der Folgezeit weitreichende (in vielen Details in der Forschung aber umstrittene) Reformen, wodurch das Reich grundlegend umgestaltet wurde. Diokletian führte ein neues Steuersystem (Capitatio-Iugatio) ein und ordnete das Heer durch Aufteilung in Comitatenses als mobiles Feldheer und Limitanei als Grenztruppen neu. Das Reich überwand endgültig die Zeit der sogenannten Reichskrise – doch knüpften viele Reformen in der Spätantike an Maßnahmen an, die schon von einigen Soldatenkaisern, unter anderem Gallienus und Aurelian, eingeleitet worden waren. Zeitleiste 235: Tod des Kaisers Severus Alexander, damit Ende der Severerdynastie; Regierungsbeginn des ersten Soldatenkaisers Maximinus Thrax. 238: Sechskaiserjahr und Beginn der Angriffe der Skythai (Goten und andere germanische Stämme im Donaugebiet und im Schwarzmeerraum). 244: Erfolgloser Persienfeldzug des Kaisers Gordian III.; Niederlage der Römer in der Schlacht von Mesiche und Tod des Kaisers. 257: Beginn der Christenverfolgung Valerians, die erst 260 endet. 259/60: Erfolgreiche Vorstöße der Alamannen auf römisches Gebiet. Eine Gruppe Juthungen wird aber auf ihrem Rückmarsch von römischen Truppen beim heutigen Augsburg geschlagen (Augsburger Siegesaltar). 260: Gefangennahme Valerians durch die Sāsāniden; die Krise erreicht in der folgenden Zeit den Höhepunkt. In den 60er Jahren bilden sich das Teilreich von Palmyra und das gallische Sonderreich. 267: Plünderungszüge der Heruler und anderer Germanenstämme in der Ägäis. Unter anderem wird Athen verwüstet. 268/69: Den Römern gelingen Siege über Alamannen und Goten. 270: Aurelian wird zum Kaiser ausgerufen. Es gelingt ihm in den folgenden Jahren, sowohl Palmyra als auch das gallische Sonderreich wieder in das Imperium einzugliedern. Dakien hingegen gibt der Kaiser aufgrund der ungünstigen strategischen Lage auf. 285: Kaiser Carinus fällt einer Verschwörung zum Opfer. Der Ende 284 zum Kaiser ausgerufene Offizier Diokletian erlangt die Alleinherrschaft und strebt umfassende Reformen im Reich an. Charakteristika der Epoche Als in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts lateinische Geschichtsschreiber die Geschichte des 3. Jahrhunderts schilderten, fiel ihr Urteil einhellig negativ aus. Besonders kritisch wurde die Zeit der Kaiser Valerian und Gallienus betrachtet. Eutropius bezeichnete sie sogar als die Zeit, als „das römische Reich fast vernichtet war“. Nicht viel anders äußerten sich Aurelius Victor und der anonyme Verfasser der Historia Augusta. In der senatorischen Geschichtsschreibung haben die Ereignisse um die Mitte des 3. Jahrhunderts, als das Imperium faktisch an allen Grenzen zu kämpfen hatte und im Inneren sich Teile des Reichs loslösten sowie zahlreiche Usurpatoren die herrschenden Kaiser herausforderten, tiefe Spuren hinterlassen. Das überwiegend negative Bild, das die ältere Forschung von den Verhältnissen im 3. Jahrhundert zeichnete, ist denn auch zu einem nicht geringen Teil auf Wertungen in den Quellen zurückzuführen. Die heutige Forschung urteilt dagegen differenzierter und hat mehrere früher vorherrschende Ansichten revidiert. Ein Charakteristikum der „Reichskrise“ ist der oft rasche Herrscherwechsel. Zwar erhoben sich schon unter den Severern und auch in der Spätantike immer wieder Usurpatoren, doch im Gegensatz zur Soldatenkaiserzeit blieben in diesen Epochen die Rebellionen gewöhnlich erfolglos. Ein weiteres Merkmal der Reichskrisenzeit ist, dass viele Kaiser (aber keineswegs alle, was leicht übersehen wird) nicht der senatorischen Oberschicht entstammten. Mehrere Soldatenkaiser waren reine Militärs, relativ ungebildet und von niedriger Herkunft. Dies war aber ein Effekt der sich verschärfenden Krisensymptome und dem gleichzeitigen Verfall des Akzeptanzsystems der frühen Prinzipatszeit, während gleichzeitig die Heeresverbände in West und Ost die entscheidenden politischen Machtfaktoren wurden. Ein markantes Beispiel hierfür ist der erste von ihnen, Maximinus, dessen Machtübernahme daher besonders Anstoß erregte und insofern eine Zäsur darstellt. Doch leisteten diese Kaiser in Anbetracht der Umstände durchaus Beachtliches. Dass der Senat immer weiter marginalisiert wurde und manche Kaiser kaum Wert auf ein gutes Verhältnis zu ihm legten, wurde aber von den Geschichtsschreibern, die zumeist senatorischen Kreisen angehörten, negativ vermerkt. Der Senat spielte bei der Regierungsführung nun endgültig keine Rolle mehr und auch das Akzeptanzsystem des Prinzipats brach schließlich zusammen. Allerdings litt darunter auch die Stabilität der Kaiserherrschaft insgesamt. Für die Zeit der Soldatenkaiser ist eine institutionelle Krise auszumachen, der manche Kaiser durch ein religiöses Fundament ihrer Herrschaft (etwa Aurelians Sonnenkult) oder durch Herrschaftsteilung entgegenzuwirken versuchten, die aber erst in diokletianisch-konstantinischer Zeit überwunden werden konnte. Allen Soldatenkaisern ist gemeinsam, dass sie ihre Macht auf das Militär stützten und zwar auf die Soldaten der Feldheere, nicht auf die Prätorianer in Rom. Dazu passt, dass Rom seine Rolle als politisches Zentrum des Imperiums im Laufe des 3. Jahrhunderts stark einbüßte, wenngleich es freilich ideell weiterhin von großer Bedeutung war. Zur Legitimation und Sicherung ihrer Herrschaft bedurften die Kaiser des 3. Jahrhunderts vor allem militärischer Erfolge. Einen einheitlichen Typus eines Soldatenkaisers gab es aber nicht, zumal die Kaiser zum Teil nicht von Truppen erhoben wurden, sondern ihren Herrschaftsantritt einer dynastischen Erbfolge verdankten. Ein weiteres Merkmal der Epoche ist die dramatische Verschlechterung der äußeren Bedrohungslage. Sie ergab sich insbesondere auch aus einer beträchtlichen inneren Stärkung der Gegner. An Rhein und Donau hatten sich neue tribale germanische Großverbände formiert, die über eine erheblich größere Schlagkraft verfügten. Im Osten trat mit dem Sāsānidenreich ein Gegner auf, der Rom in vielerlei Hinsicht durchaus ebenbürtig war und eine aggressive Expansionspolitik betrieb. Daher nahm um die Mitte des 3. Jahrhunderts der Druck an den Grenzen zu, und das Reich musste eine Reihe von Rückschlägen verkraften. Die Gefangennahme Valerians durch die Perser im Jahr 260 und die darauffolgenden Ereignisse (zunehmende Angriffe der Skythai sowie Formierung des Gallischen Sonderreichs und des Teilreichs von Palmyra) brachten denn auch die Krise zu ihrem Höhepunkt. Aber diese Krise erfasste nicht alle Bereiche des täglichen Lebens und wirkte sich auch nicht auf alle Regionen des Imperiums aus. Trotz der militärischen und politischen Krisensymptome (insbesondere in der Zeit nach Gordian III. und dann um 260), deren Hauptursache die äußere Bedrohung war, scheint die Wirtschaft des Reiches sich besser behauptet zu haben, als oft vermutet wurde. In der älteren Forschung wurde bisweilen angenommen, dass im 3. Jahrhundert ganze Provinzen verarmten, die Infrastruktur zusammenbrach und der Druck des Staates auf die Bevölkerung ständig höher wurde, so dass die Verarmung zunahm und Menschen aus Städten und Dörfern flohen. Naturalwirtschaft bzw. Tauschhandel seien an Stelle der Geldwirtschaft getreten. In der neuen Forschung wird wesentlich differenzierter geurteilt: Zwar führte der durch die äußere Bedrängnis verursachte erhöhte Finanzbedarf des Staates etwa im Bereich der Münzprägungen zu einer Verschlechterung, und der Steuerdruck nahm zu. Aber der Steuerdruck wurde erst nach dem Scheitern der Münzreform Aurelians zu einem strukturellen Problem für den römischen Staat, ebenso wie erst in dieser Zeit die Inflation bedrohlich anstieg; vor den 270er Jahren ist eine solche aber nicht feststellbar, wie die Auswertung des Quellenmaterials in Ägypten (wo die Überlieferung bezüglich des Alltagslebens und der Wirtschaft mit am günstigsten ist) deutlich macht. Ob für das 3. Jahrhundert ein Bevölkerungsrückgang feststellbar ist, ist in der Forschung nun ebenfalls umstritten. Dasselbe gilt für die Frage, ob die Sklaverei in der römischen Wirtschaft dieser Zeit die Rolle gespielt hat, die ihr in der älteren Forschung zugeschrieben wird, und ob es zu einem Rückgang der Sklaven und damit zu einer wirtschaftlichen Krise gekommen sei, wie bisweilen angenommen. In den Quellen lässt sich dies nicht einwandfrei belegen, ebenso ist es fraglich, ob die Produktivität von Sklaven höher lag als von Halbfreien oder Freien und ob ein Rückgang der Sklaverei für die Wirtschaft schädigend gewesen sei. Sicherlich aber stiegen die Belastungen für die Bevölkerung an, worunter auch die Dekurionen (die lokalen städtischen Eliten), aber besonders die unteren Bevölkerungsschichten zu leiden hatten, doch kann auch dies nicht generalisierend auf das ganze Reich bezogen werden, zumal die Lebensverhältnisse nicht einheitlich waren. Zwar litt die strukturelle Integrität der Wirtschaft unter den militärischen Auseinandersetzungen dieser Zeit, ebenso wie die Inflation der 270er Jahre einen schweren Rückschlag darstellte, doch sie brach nicht zusammen, zumal wegen der vielschichtigen regionalen Unterschiede. Die neuere Forschung hat nachgewiesen, dass es durchaus Regionen gab, die sogar weiter prosperierten, wie etwa Ägypten, Africa und auch Hispanien. Aber selbst für Kleinasien, das direkt von Angriffen betroffen war, lässt sich kein allgemeiner Niedergang konstatieren. Während in mehreren Regionen der Handel und die Wirtschaft florierten, zumal mehrere Provinzen nicht von Kampfhandlungen betroffen waren, kam es in anderen Provinzen zu teils ernsthaften Problemen, was unter anderem Hortfunde in den nordwestlichen Provinzen des Imperiums belegen. Von einer allgemeinen Wirtschaftskrise im ganzen Reich und für die gesamte Soldatenkaiserzeit kann jedoch nicht gesprochen werden. Auch die in der älteren Forschung aufgestellte These, aus diversen paganen wie christlichen Quellenaussagen ließe sich ein allgemeines Krisenbewusstsein bei den Zeitgenossen ableiten, ist in jüngerer Zeit bestritten worden, denn von allgemein verbreiteten Untergangserwartungen in der Bevölkerung kann nicht die Rede sein. Im Bereich des Städtewesens kam es in der Zeit der Reichskrise auch nicht zu einem Verlust städtischer Selbstverwaltung oder einem allgemeinen Niedergang, wenngleich sich die Baumaßnahmen in gefährdeten Regionen auf Befestigungswerke konzentrierten. Einhergehend mit den Plünderungszügen der diversen Invasoren ist örtlich ein kultureller Verfall festzustellen, der sich auch in der Kunst niederschlug. In Athen kam es nach dem Herulereinfall 267 zu einem Niedergang. Dennoch war die Stadt auch in der Zeit der Reichskrise ein wichtiges Bildungszentrum, ebenso wie Rom, Karthago, Alexandria und Antiochia. Die Entwicklungen des 3. Jahrhunderts ermöglichten auch Personen von niedriger Herkunft den Aufstieg über eine militärische Karriere. Diese Aufsteiger sowie die neuen städtischen Führungsschichten übernahmen das traditionelle Wertesystem, in dem der Bildung eine wichtige Funktion zukam. Im philosophischen Bereich, wo Plotin, Porphyrios und Longinos tätig waren, entstand mit dem Neuplatonismus eine neue, den Bedürfnissen der Zeit entgegenkommende Strömung. Im religiösen Bereich erstarkte das Christentum, und bei den traditionellen Götterkulten zeigte sich ein Trend zur Konzentration auf eine einzige Gottheit (Henotheismus). Außerdem breitete sich eine neue Religion mit universalem Anspruch, der Manichäismus, vom Westen des Imperiums bis nach Zentralasien aus. Somit dürfen einzelne Krisensymptome nicht verallgemeinert und überbewertet werden, und es ist fraglich, ob selbst auf dem Höhepunkt der Krise von einer wirklich existentiellen Bedrohung gesprochen werden kann. Obwohl das Reich insgesamt geschwächt war, gelang es den Kaisern nach und nach, die Kontrolle zurückzugewinnen, wieder in die Offensive zu gehen und die zeitweilig abgespaltenen Reichsteile im Westen und Osten zurückzugewinnen. Die differenzierte Betrachtungsweise der neueren Forschung hat zu einer ausgewogeneren Gesamtbeurteilung geführt. Dabei wird unter anderem berücksichtigt, dass es in der Zeit des Kaisers Gallienus Reformansätze gab, die unter den folgenden Kaisern und noch in der Spätantike fortgesetzt wurden. Die Zeit der „Reichskrise“ lässt sich in drei Phasen unterteilen. Die erste umfasst die Zeit vom Ende der Severer (235) bis etwa 253, in der sich die Kaiser deutlich in die Tradition des severischen Prinzipats stellten. In der zweiten Phase, unter Valerian und Gallienus, häuften sich diverse Krisensymptome, bis um die Mitte des 3. Jahrhunderts die Krise ihren Höhepunkt erreichte. Festzuhalten ist aber auch, dass diese beiden Kaiser die Probleme erkannten und sich um deren Bewältigung bemühten. In der folgenden dritten Phase ab 268 ist eine deutliche Erholung erkennbar, die schließlich in die grundlegende Reichsreform der diokletianisch-konstantinischen Zeit einmündete. Somit war die Zeit der Soldatenkaiser eine Epoche des Übergangs vom Prinzipat zur Spätantike. Quellen Die Quellenlage für die Zeit der „Reichskrise“ zählt zu den problematischsten im Bereich der Alten Geschichte, nicht zuletzt weil eine zusammenhängende Geschichtsschreibung für diesen Zeitraum fehlt. Die (heute verlorenen) Kaiserbiographien des Marius Maximus reichten nur bis Elagabal. Das Geschichtswerk des Cassius Dio endet im Jahr 229, und das Werk des oft von Cassius Dio abhängigen Herodian, eine Geschichte des Kaisertums nach Marcus, reicht nur bis 238 und ist oft unergiebig. Für die folgenden Jahrzehnte, bis hinein in die diokletianisch-konstantinische Zeit, fehlt es völlig an zusammenhängenden zeitgenössischen Darstellungen. Die spätantike Historia Augusta, eine Sammlung lateinischer Kaiserbiographien – die entgegen den darin enthaltenen Angaben nicht von sechs Verfassern um 300, sondern von nur einem anonymen heidnischen Autor wohl um 400 verfasst worden ist –, berichtet zwar ausführlich über die verschiedenen Soldatenkaiser, die meisten Informationen sind aber falsch oder zumindest wenig glaubwürdig; manche Lebensbeschreibungen sind sogar vollständig erfunden. Im lateinischsprachigen Bereich sind ansonsten mehrere sogenannte Breviarien (kurzgefasste Geschichtswerke) aus dem 4. Jahrhundert erwähnenswert, so die Caesares des Aurelius Victor, das Breviarium ab urbe condita des Eutropius, das Werk des Rufius Festus sowie die anonyme Epitome de Caesaribus. Die Autoren dieser Breviarien nutzten als wichtige, oft sogar als einzige Quelle eine heute verlorene Kaisergeschichte, die als Enmannsche Kaisergeschichte bezeichnet wird. Sie ging vermutlich relativ ausführlich auf die diversen tyranni (Usurpatoren) ein und enthielt wohl einigermaßen zuverlässige Informationen. Andere lateinische Werke, die auf die Zeit der Soldatenkaiser mehr oder weniger ausführlich eingingen, sind verloren gegangen. Dazu gehören die betreffenden Passagen im Geschichtswerk des letzten bedeutenden lateinischen Geschichtsschreibers der Antike, Ammianus Marcellinus, der allerdings auch in den erhaltenen Partien seines Werks teils auf das 3. Jahrhundert eingeht, oder die Annales des Virius Nicomachus Flavianus. Von einer reichhaltigen lateinischen Geschichtsschreibung kann für das 3. Jahrhundert ohnehin nicht ausgegangen werden. Spätere lateinische Autoren stützten sich wohl auf Senatsberichte und griechischsprachige Werke, wenngleich manche Forscher annehmen, dass in der Zeit Diokletians möglicherweise auch andere (heute verlorene) lateinische Geschichtswerke entstanden sind. Eventuell verfasste in konstantinischer Zeit der Geschichtsschreiber Onasimos auch Viten über die letzten Soldatenkaiser, doch ist dies unsicher. Die griechischsprachige Historiographie florierte im Gegensatz zur lateinischen auch in der Zeit der „Reichskrise“. Nikostratos von Trapezunt verfasste ein Werk über die Zeit von 244 bis zur Gefangennahme Valerians durch die Perser; über diesen Perserkrieg berichtete auch Philostratos von Athen. Ephoros der Jüngere beschrieb ausführlich die Herrschaft des Gallienus und ein gewisser Eusebios behandelte in seiner Kaisergeschichte die Zeit bis Carus. Von all diesen Werken sind kaum mehr als die Namen ihrer Verfasser bekannt; nur aus der Geschichte des Philostratos und des Eusebios sind wenige Fragmente erhalten geblieben. Nicht viel besser erging es der 1000-Jahr-Geschichte Roms des Asinius Quadratus, von der nur, wie von seiner Parthergeschichte, wenige Zitate bei späteren Autoren erhalten sind. Einen Lichtblick stellen die Fragmente aus den Geschichtswerken des Dexippos dar, der in seiner 12 Bücher umfassenden Chronik die Zeit bis 270 und in seinen Skythika die Kämpfe gegen die Germanen von etwa 238 bis 270/74 in enger Anlehnung an den Stil des Thukydides schilderte. Dexippos, an dessen Chronik Eunapios von Sardes anschloss, wird oft als der bedeutendste Historiker seiner Zeit bezeichnet, was auch aufgrund der Quellenlage sicherlich zutrifft. Doch darf dies nicht den Blick darauf versperren, wie schlecht sich die Quellenüberlieferung für den behandelten Zeitraum darstellt: Die literarische Produktion brach (wenigstens im griechischsprachigen Osten des Reiches) nicht ein, sondern sie ging in der Folgezeit verloren. Die Fragmente des Dexippos liegen seit 2006 in einer neuen Edition mit deutscher Übersetzung vor, die freilich nicht die vor kurzer Zeit neu entdeckten Teile (Scythica Vindobonensia) beinhaltet. Alle anderen Fragmente der hier genannten (zeitgenössischen) Geschichtsschreiber sind 2016 in einer neuen Edition mit deutscher Übersetzung im Rahmen der Reihe Kleine und fragmentarische Historiker der Spätantike publiziert worden. Spätere Geschichtsschreiber konnten sich auf diese Werke stützen, so beispielsweise Zosimos (um 500) oder verschiedene byzantinische Autoren; entweder lagen ihnen die Originalwerke vor oder sie schöpften ihre Informationen aus Zwischenquellen. Zu ihnen gehören der sogenannte Anonymus post Dionem (wohl identisch mit den verlorenen Historien des Petros Patrikios), der Chronist Johannes Malalas, Johannes von Antiochia, Georgios Synkellos und Johannes Zonaras. Die Qualität der Berichte ist unterschiedlich. Sie liefern teilweise wertvolle, zuverlässige Informationen, etwa der Anonymus post Dionem und Zonaras; letzterer griff auch auf die sogenannte Leoquelle zurück. Von Bedeutung sind auch die Werke von Kirchenhistorikern wie Lactantius und Eusebius von Caesarea, der „Vater der Kirchengeschichtsschreibung“ genannt wird, sowie weiterer christlicher Autoren wie Origenes und Cyprian von Karthago. Der romanisierte Gote Jordanes, der im 6. Jahrhundert schrieb und sich in seiner Gotengeschichte auf heute verlorene Quellen stützen konnte, berichtet ebenfalls über Ereignisse aus der Zeit der Soldatenkaiser, ist aber nicht immer zuverlässig. Zahlreiche weitere Werke (in lateinischer und griechischer, aber auch syrischer, arabischer, armenischer oder persischer Sprache) enthalten weitere Informationen, die für die Rekonstruktion von Ereignissen in der Zeit der „Reichskrise“ von Bedeutung sind, doch können sie den Verlust einer durchgängigen Historiographie für das 3. Jahrhundert nicht kompensieren. Aus diesem Grund kommt gerade den nicht-literarischen Quellen eine erhebliche Bedeutung für die Zeit der Soldatenkaiser zu, seien es numismatische (vor allem als Belege für manche Kaiser, deren Existenz ansonsten zweifelhaft wäre), papyrologische (nicht zuletzt von Bedeutung für die Klärung chronologischer Fragen), inschriftliche (wie am Augsburger Siegesaltar) oder archäologische Befunde. Allerdings sind auch diese Quellen oft nicht leicht zu deuten und in den Kontext der Reichsgeschichte einzuordnen. Forschungsgeschichte Problematisch ist neben der allgemeinen Bewertung der Epoche schon ihre Abgrenzung. Mehrere Althistoriker meinten mit Berufung auf das bekannte Verdikt des Geschichtsschreibers Cassius Dio, wonach mit dem Tod Mark Aurels ein goldenes Zeitalter endete und eine Epoche von Eisen und Rost begann, dass man die Epoche der Soldatenkaiser mit Septimius Severus beginnen lassen solle. Dabei wurde zwischen der Zeit der Soldatenkaiser und der Zeit der eigentlichen „Reichskrise“ mehr oder weniger unterschieden. Heute lässt man jedoch allgemein die Zeit der Soldatenkaiser bzw. der Reichskrise (hier nur als Epochenbezeichnung gebraucht) mit dem Jahr 235 beginnen und mit dem Herrschaftsantritt Diokletians (284/85) enden. Die Zeit der „Reichskrise“ wurde schon in klassischen Darstellungen wie der Histoire des empereurs et autres princes qui ont régné pendant les six premiers siècles de l’Eglise von Louis-Sébastien Le Nain de Tillemont im späten 17. Jahrhundert oder in der History of the Decline and Fall of the Roman Empire von Edward Gibbon in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts behandelt, wobei Gibbon sich oft auf die Materialgrundlage Tillemonts stützte. Von einer wissenschaftlichen Erforschung dieser Zeit im eigentlichen Sinne kann allerdings erst ab dem 19. Jahrhundert gesprochen werden. Schon Gibbon betrachtete die Zeit seit Septimius Severus als eine Militärherrschaft, wobei er sich auf Cassius Dios Beurteilung stützte. Die Zeit von 248 bis 268, in der die Einfälle in das Imperium stetig zunahmen und die Römer mehrere Niederlagen erlitten, nennt er „twenty years of shame and misfortune“. Jacob Burckhardt widmete sich in seinem Klassiker Die Zeit Constantins des Großen (1853) auch den Soldatenkaisern. Burckhardt benutzte zur Charakterisierung dieser Zeit Begriffe wie „Soldatenkaisertum“ und „Krise“; wie Gibbon betrachtete er aber die „illyrischen Kaiser“ als Retter des Imperiums. Der weitgehend negativen Charakterisierung dieser Zeit folgten auch die diversen Kaisergeschichten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Große Bedeutung für die Fortschritte der Forschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten vor allem drei Gelehrte: Michael Rostovtzeff, Andreas Alföldi und Franz Altheim. So unterschiedlich diese Persönlichkeiten waren – Rostovtzeff war geprägt von den Folgen der Russischen Revolution 1917, Alföldi von der Zeit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie; Altheim, eigentlich ein origineller Denker, driftete bald in die nationalsozialistische Ideologie ab –, so unterschiedlich waren auch ihre Forschungsansätze. Rostovtzeff, der die Zeit ab 235 als „Militäranarchie“ charakterisierte (eine in der französischen Forschung heute noch recht geläufige Bezeichnung), ging von einer ökonomisch-sozialen Betrachtungsweise aus und glaubte, einen Antagonismus zwischen der damaligen Stadt- und Landbevölkerung ausmachen zu können. Alföldi veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zur Zeit der Reichskrise, darunter zwei maßgebliche Beiträge im 12. Band der alten Cambridge Ancient History, welche seinerzeit einen Meilenstein für die Forschung darstellten und auch heute noch nützlich sind. Alföldi war der Meinung, dass die inneren und äußeren Krisensymptome sich im 3. Jahrhundert zuspitzten und sich niemand fand, der den römischen Staat dagegen schützen konnte. Auch Alföldi sah die illyrischen Kaiser als die Retter des Reiches an, die die notwendigen Reformen in Angriff nahmen. Altheim widmete ebenfalls mehrere Arbeiten den Soldatenkaisern, wobei er den Begriff auch weiten Teilen der Öffentlichkeit geläufiger machte und als Beginn der Epoche das Jahr 193 ansah. In seinem Buch Die Soldatenkaiser (1939), welches durch Gelder der SS-nahen Forschungsanstalt „Das Ahnenerbe“ finanziert wurde, stellte Altheim die These von dem Gegensatz der Regionen in der Zeit der Soldatenkaiser auf; so habe ein illyrisch-germanischer Gegensatz im Heer bestanden. Der Reichsgedanke habe immer mehr Anhänger verloren, bis er in der Zeit des Gallienus wieder stärker zum Tragen kam. Sein „rassenkundlicher Ansatz“ veranlasste Altheim zum Versuch, das „Germanentum“ des Maximinus Thrax nachzuweisen. Dafür wurde er unter anderem von Wilhelm Enßlin kritisiert, der – selbst während der NS-Zeit in Deutschland tätig – danach fragte, welche Rolle dies überhaupt spiele. Altheim, dessen Betrachtungen wie die von Rostovtzeff stark zeitgebunden waren, deutete die Zeit der Soldatenkaiser als den Endpunkt einer langen Zeit der schleichenden Krise, die Rom befallen habe. Der Begriff „Reichskrise“ spielte aber erst in späteren, überarbeiteten Auflagen seines Werks eine Rolle. Trotz vieler problematischer bzw. unhaltbarer Wertungen bleibt es ein Verdienst Altheims, die Randgebiete des Imperiums stärker in die Darstellung einbezogen zu haben. Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm die Beschäftigung mit der Zeit der Reichskrise nicht ab. Maßgebliche Beiträge stammen von Géza Alföldy, der die Ansicht vertritt, dass bei Zeitgenossen ein Krisenbewusstsein greifbar sei, etwa im Werk Herodians; David S. Potter, der meint, dass breite Schichten der Bevölkerung von der Krise wenig betroffen waren und dass viele Reformen der Soldatenkaiser auf die diokletianisch-konstantinische Zeit vorausweisen; Klaus-Peter Johne, der zwischen einer militärischen und einer längerfristigen Krise unterscheidet, sowie Karl Strobel und Christian Witschel. Vor allem Strobel und Witschel kritisierten das traditionelle Krisenmodell, das zur Erklärung der Entwicklungen im 3. Jahrhundert untauglich sei. Eine allumfassende Krise, gar eine „Weltkrise“ (wie eingängig von Alföldi formuliert) habe es nicht gegeben. Sie wiesen darauf hin, dass manche Regionen des Imperiums florierten und von den militärischen Bedrohungen dieser Zeit nicht tangiert wurden. Witschel, der mehrere Krisenmodelle entwarf, vertrat den Standpunkt, dass es zwar lokal und zeitlich begrenzte Krisen gegeben habe, diese aber durch Reformen überwunden worden seien; sie seien letztlich nur ein Abschnitt einer langfristigen Transformation gewesen. Auch Strobel ging von einem Strukturwandel im 3. Jahrhundert aus, bestritt aber die Existenz eines „Krisenbewusstseins“ zur damaligen Zeit, da die Menschen die vielen einzelnen Probleme und regionalen Katastrophen im Unterschied zu späteren Beurteilern nicht zu einem Gesamtbild zusammengefügt hätten. Allerdings vertreten nach wie vor mehrere Forscher (unter anderem Lukas de Blois) einen anderen Ansatz, nämlich den einer umfassenderen Krise, die aber erst um 250 voll ausgebrochen sei. Traditionell wurde die Zeit der Soldatenkaiser meistens negativ gewertet und in Zusammenhang mit einer Reichskrise gestellt. Manche Gelehrte sahen Zerfallserscheinungen im Inneren, die durch die äußeren Bedrohungen nur verschärft wurden, als Hauptursache (Gibbon, Rostovtzeff), während andere die äußere Bedrohung für ausschlaggebend hielten (Altheim). Derartige monokausale Betrachtungsweisen – ebenso wie die Meinung mehrerer marxistischer Forscher, die inneren Probleme könnten vor allem auf eine „Krise der Sklavenwirtschaft“ zurückgeführt werden – haben sich jedoch als völlig untauglich erwiesen. Seit den 1990er Jahren urteilt man wesentlich differenzierter; die Zeit der Soldatenkaiser wird eher als eine Epoche des Wandels verstanden. Tatsächlich sind in der modernen Forschung die Gegner und die Befürworter des Krisenbegriffs nicht so weit voneinander entfernt, wie es zunächst den Anschein haben mag. Unbestritten ist, dass manche Regionen während der Zeit der Reichskrise prosperierten, aber auch, dass das Imperium wenigstens zeitweise mit ernsthaften Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Der Unterschied liegt letztendlich in der Gewichtung dieser Aspekte. Grundlegend für die Beschäftigung mit dem 3. Jahrhundert ist derzeit das 2008 von Klaus-Peter Johne herausgegebene Handbuch Die Zeit der Soldatenkaiser, in dem auf Grundlage der aktuellen Forschung die Quellen sowie die politische Geschichte, die Nachbarvölker des Imperiums, Kultur, Wirtschaft und politische Strukturen behandelt werden. Literatur Andreas Alföldi: Studien zur Geschichte der Weltkrise des 3. Jahrhunderts nach Christus. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1967.(Sammlung diverser Aufsätze Alföldis; noch heute teils nützlich.) Géza Alföldy: Römische Sozialgeschichte. 4., völlig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Steiner, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-515-09841-0, S. 254–272.(Eine nützliche Zusammenfassung der Forschungsdiskussion bis 2011.) Clifford Ando: Imperial Rome AD 193 to 284. The Critical Century. Edinburgh University Press, Edinburgh 2012, ISBN 978-0-7486-2050-0. Bruno Bleckmann: Die Reichskrise des III. Jahrhunderts in der spätantiken und byzantinischen Geschichtsschreibung. Untersuchungen zu den nachdionischen Quellen der Chronik des Johannes Zonaras (= Quellen und Forschungen zur antiken Welt. Band 11). tuduv-Verlags-Gesellschaft, München 1992, ISBN 3-88073-441-0 (Zugleich: Köln, Universität, Dissertation, 1991). (Detaillierte Quellenforschung zu den byzantinischen Autoren, die sich mit der Reichskrise befassten.) Alan K. Bowman, Peter Garnsey, Averil Cameron (Hrsg.): The Crisis of Empire A.D., 193–337 (= The Cambridge Ancient History. Band 12). 2. Auflage. Cambridge University Press, u. a. Cambridge 2005, ISBN 978-0-521-30199-2.(Überblickswerk, wenngleich bezüglich der politischen Geschichte sehr knapp und in Teilen bereits überholt.) Henning Börm: Die Herrschaft des Kaisers Maximinus Thrax und das Sechskaiserjahr 238. Der Beginn der „Reichskrise“? In: Gymnasium. Band 115, 2008, S. 69–86 (Digitalisat). Henning Börm: A Threat or a Blessing? The Sasanians and the Roman Empire. In: Carsten Binder, Henning Börm, Andreas Luther (Hrsg.): Diwan. Studies in the History and Culture of the Ancient Near East and the Eastern Mediterranean. Wellem, Duisburg 2016, S. 615–646.(Diskutiert die Bedeutung, die die Gründung des Sassanidenreichs für die Römer hatte.) Stephanie Brecht: Die römische Reichskrise von ihrem Ausbruch bis zu ihrem Höhepunkt in der Darstellung byzantinischer Autoren (= Althistorische Studien der Universität Würzburg. Band 1). Leidorf, Rahden/Westfalen 1999, ISBN 3-89646-831-6.(Beinhaltet übersetzte Quellenauszüge.) Michel Christol: L’empire romain du IIIe siècle. Histoire politique (De 192, mort de Commode, à 325, concile de Nicée). 2. tirage. Éditions Errance, Paris 1998, ISBN 2-87772-145-0. John F. Drinkwater: The Gallic Empire. Separatism and Continuity in the North-Western Provinces of the Roman Empire A.D. 260–274 (= Historia. Einzelschriften. Band 52). Steiner, Stuttgart 1987, ISBN 3-515-04806-5. Thomas Fischer (Hrsg.): Die Krise des 3. Jahrhunderts n. Chr. und das Gallische Sonderreich. Akten des Interdisziplinären Kolloquiums Xanten 26. bis 28. Februar 2009 (= Schriften des Lehr- und Forschungszentrums für die Antiken Kulturen des Mittelmeerraumes – Centre for Mediterranean Cultures (ZAKMIRA). Band 8). Reichert, Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-89500-889-4. Felix Hartmann: Herrscherwechsel und Reichskrise. Untersuchungen zu den Ursachen und Konsequenzen der Herrscherwechsel im Imperium Romanum der Soldatenkaiserzeit (3. Jahrhundert n. Chr.) (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften. Band 149). Lang, Frankfurt am Main u. a. 1982, ISBN 3-8204-6195-7 (Zugleich: Hamburg, Universität, Dissertation, 1979). Udo Hartmann: Das palmyrenische Teilreich (= Oriens et Occidens. Band 2). Steiner, Stuttgart 2001, ISBN 3-515-07800-2 (Zugleich: Berlin, Freie Universität, Dissertation, 2000). Olivier Hekster: Rome and its Empire. AD 193–284. Edinburgh University Press, Edinburgh 2008, ISBN 978-0-7486-2304-4.(Knappe, informative Darstellung mit ausgewählten Quellenauszügen in englischer Übersetzung.) Olivier Hekster, Gerda de Kleijn, Daniëlle Slootjes (Hrsg.): Crises and the Roman Empire. Proceedings of the seventh workshop of the International Network Impact of Empire (Nijmegen, June 20–24, 2006) (= Impact of Empire. Band 7). Brill, Leiden u. a. 2007, ISBN 978-90-04-16050-7. Klaus-Peter Johne, Thomas Gerhardt, Udo Hartmann (Hrsg.): Deleto paene imperio Romano. Transformationsprozesse des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert und ihre Rezeption in der Neuzeit. Steiner, Stuttgart 2006, ISBN 3-515-08941-1.(Nützliche Aufsatzsammlung zu unterschiedlichen Themenbereichen der Reichskrise.) Klaus-Peter Johne (Hrsg.): Die Zeit der Soldatenkaiser. Krise und Transformation des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert n. Chr. (235–284). 2 Bände. Akademie-Verlag, Berlin 2008, ISBN 978-3-05-004529-0.(Ehrgeiziges Projekt, das den aktuellen Forschungsstand durch die Beiträge zahlreicher Experten darzustellen versucht. Es stellt das derzeit grundlegende Handbuch für die Zeit der Soldatenkaiser dar.) Christian Körner: Transformationsprozesse im Römischen Reich des 3. Jahrhunderts n. Chr. In: Millennium. Band 8, 2011, S. 87–124, .(Guter einführender Überblick auf Grundlage der zum Zeitpunkt aktuellen Forschung.) Fergus Millar: P. Herennius Dexippus. The Greek World and the Third Century Invasions. In: Journal of Roman Studies. Band 59, 1969, S. 12–29, .(Wichtiger Artikel zur Geschichtsschreibung des 3. Jahrhunderts.) Fritz Mitthof, Gunther Martin, Jana Grusková (Hrsg.): Empire in Crisis. Gothic Invasions and Roman Historiography. Verlag Holzhausen, Wien 2020.(Wichtige Sammlung von Fachaufsätzen, wobei die neuen Dexippos-Fragmente einbezogen werden.) David S. Potter: The Roman Empire at Bay. AD 180–395. Routledge, London u. a. 2004, ISBN 0-415-10058-5.(Sehr gute Gesamtdarstellung, wobei auch die soziokulturellen Aspekte beleuchtet werden.) David S. Potter: Prophecy and History in the Crisis of the Roman Empire. A Historical Commentary on the „Thirteenth Sibylline Oracle“. Clarendon Press, Oxford u. a. 1990, ISBN 0-19-814483-0. Michael Sommer: ‚A vast scene of confusion‘. Die Krise des 3. Jahrhunderts in der Forschung. In: Ulrike Babusiaux, Anne Kolb (Hrsg.): Das Recht der „Soldatenkaiser“. Rechtliche Stabilität in Zeiten politischen Umbruchs. De Gruyter, Berlin u. a. 2015, ISBN 978-3-05-006032-3, S. 15–30.(Knapper, aber relativ aktueller Forschungsüberblick). Michael Sommer: Die Soldatenkaiser. 4. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2020 (Geschichte kompakt), ISBN 9783534272242.(Knappe und informative Einführung, die in der 4. Auflage den neueren Forschungen Rechnung trägt.) Karl Strobel: Das Imperium Romanum im „3. Jahrhundert“. Modell einer historischen Krise? Zur Frage mentaler Strukturen breiterer Bevölkerungsschichten in der Zeit von Marc Aurel bis zum Ausgang des 3. Jh. n. Chr. (= Historia. Einzelschriften. Band 52). Steiner, Stuttgart 1993, ISBN 3-515-05662-9 (Zugleich: Heidelberg, Universität, Habilitations-Schrift, 1988/1989: Mundus ecce mutat et labitur?).(Wichtige Darstellung, in der gegen die Betrachtung einer allumfassenden Krisenzeit im 3. Jahrhundert argumentiert wird.) Gerold Walser, Thomas Pekary: Die Krise des Römischen Reiches. Bericht über die Forschungen zur Geschichte des 3. Jahrhunderts (193–284 n. Chr.) von 1939 bis 1959. De Gruyter, Berlin 1962. Christian Witschel: Krise – Rezession – Stagnation? Der Westen des römischen Reiches im 3. Jahrhundert n. Chr. (= Frankfurter althistorische Beiträge. Band 4). Clauss, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-934040-01-2 (Zugleich: Frankfurt am Main, Universität, Dissertation, 1998).(Sehr faktenreiche Untersuchung zu den Veränderungen des dritten Jahrhunderts, die besonders die Krisenproblematik beleuchtet und ausführlich darlegt, dass strukturell erst um 600 der entscheidende Umbruch stattgefunden habe, während die Unterschiede zwischen Prinzipat und Spätantike in vielen Punkten überschätzt würden.) Anmerkungen Im Literaturverzeichnis angegebene Literatur wird abgekürzt aufgeführt, alle anderen Darstellungen werden vollständig zitiert. Römische Kaiserzeit 3. Jahrhundert
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https://de.wikipedia.org/wiki/Honda%20NSX
Honda NSX
NSX bezeichnet einen zwischen 1990 und 2005 in verschiedenen Versionen angebotenen zweisitzigen Mittelmotor-Sportwagen von Honda. In Nordamerika und Hongkong wurde er unter dem Markennamen Acura verkauft. Rennversionen des Wagens wurden mit Werksunterstützung allerdings auch noch bis Ende 2009 im Motorsport eingesetzt. Der NSX gilt in mehrfacher Hinsicht als technischer Vorreiter: Er ist das erste Serienkraftfahrzeug, das praktisch vollständig aus Aluminium gebaut wurde und das sowohl eine elektronische Lenkunterstützung als auch eine elektronische Drosselklappen-Steuerung hat (Drive-by-Wire). Sein V6-Motor erreicht Drehzahlen bis 8000 min−1 und hat Titan-Pleuel und Zündkerzen mit Platin-Elektroden. Entwicklung und Vorstellung Nach Angaben des damaligen Leiters der Entwicklungsabteilung und späteren Firmenchefs Nobuhiko Kawamoto begann das Honda-Sportwagenprojekt Anfang 1986. Entwicklungsvorgabe unter der Gesamtprojektleitung des Chefingenieurs Shigeru Uehara, der auch als „Vater des NSX“ gilt, war unter anderem eine weitgehende Leichtbauweise mit einem kompakten Motor, eine ausgewogene Aerodynamik mit möglichst geringem Auftrieb bei hohen Geschwindigkeiten und eine fahrerorientierte Ergonomie mit größtmöglicher Rundumsicht (311,8 Grad). Weitere Stylingeinflüsse lassen sich auf die frühere Zusammenarbeit von Honda mit den italienischen Pininfarina-Designern zurückführen, die 1984 auf dem Turiner Autosalon den Prototyp „HP-X“ (für Honda/Pininfarina-Experimental) vorstellten. Dieses Fahrzeug war auch als Mittelmotorauto konzipiert; allerdings mit einem 2-Liter-Sechszylinder-Motor. Es war von einem Honda-Formel-2-Motorenprojekt abgeleitet, das wegen der Reglement-Änderung 1985, als die Formel 2 durch die Formel 3000 mit 3-Liter-Motoren ersetzt wurde, nicht mehr zum Einsatz kam. Eine große Ähnlichkeit besteht außerdem mit dem 1985 auf der IAA in Frankfurt von der MG Rover Group vorgestellten Prototyp MG EX-E, dessen Gestaltung nach Angaben des Designers Roy Axe auch schon vom F-16-Jet sowie von seinem privaten Ferrari 308 beeinflusst worden war. Honda besaß in den 1980er-Jahren zeitweise 20 Prozent der MG-Rover-Aktien und half bei der Entwicklung verschiedener Modelle der britischen Marke. Bis 1989 dauerten die grundlegenden Entwicklungs- und Abstimmungsarbeiten für den NSX. Während dieser Zeit soll Honda rund 400 damit zusammenhängende Patente angemeldet haben. Die letzten Feinabstimmungen fanden 1990 unter anderem mit Formel-1-Pilot Ayrton Senna auf der Nürburgring-Nordschleife statt. Das erste Vorserienmodell wurde im Februar 1989 bei der Automobilmesse Chicago Auto Show und im Oktober 1989 auf der Tokyo Motor Show als Honda bzw. Acura NS-X (New Sportscar [Bindestrich] eXperimental) präsentiert. Nach Honda-Informationen stand dieses Akronym während des vorangegangenen Entwicklungsprozesses für New Sports und X als Variable für eine unbekannte Größe. Vor allem die US-amerikanische Fachpresse reagierte positiv auf den NSX. 1990, im Jahr der weltweiten Markteinführung, wurde das Auto vom Automobile Magazine als „Automobile of the year“, vom Industrial Designers Institute als „Design of the year“ und von der Zeitschrift Road & Track als „eines der 10 besten Autos der Welt“ ausgezeichnet. Im Jahr darauf bezeichnete die Fachzeitschrift Motor Trend den NSX als „den besten jemals gebauten Sportwagen“. Im ersten kompletten Verkaufsjahr 1991 wurden allein in den USA rund 3160 Exemplare abgesetzt. Ausstattung und Fahrwerk Die beim NSX – bis auf ein Teil im Interieur – vollständig aus Aluminium gefertigten Karosserie-, Fahrwerks- und Motorkomponenten waren zwar nach Werksangaben rund 200 kg leichter als vergleichbare Teile aus Stahl oder Grauguss, das Gesamtgewicht lag mit rund 1350 kg dennoch auf dem Niveau der damals konventionell gefertigten Konkurrenzmodelle. Dies erklärt sich aus der für einen Sportwagen umfangreichen Komfort- und Sicherheitsausstattung: Klimaautomatik, HiFi-System mit CD-Wechsler, elektrisch verstellbare Ledersitze, Airbags sowie Polster- und Dämmmaterial. Wenn sie entfernt werden, reduziert sich das Gesamtgewicht des NSX um rund 100 kg, was nachträglich auch durch die 2002 vorgestellte und nur 1244 kg schwere NSX-R-Modellversion bestätigt wurde. Die Karosserie wurde auch aus Strangpressprofilen aus Aluminium gefertigt, eine Neuheit bei Automobilen. Das Gesamtgewicht verteilt sich beim Serienmodell zu 42 % auf die Vorder- und 58 % auf die Hinterachse. Der NSX wurde lediglich in vier Farben angeboten: Sebring Silber Metallic (NH 552 M), Berlina Schwarz (NH 547), Formula Rot (R 77) und Indy Gelb Pearl (Y 52 P). Als Technologietransfer aus dem Honda-Formel-1-Engagement bis 1992 erhielt der NSX ein Aluminium-Fahrwerk mit Einzelradaufhängung, doppelten Dreiecksquerlenkern, Schraubenfedern, Teleskop-Stoßdämpfern und Querstabilisatoren. Diese Kombination war damals im Rennsport verbreitet. Die Vorteile sind dabei unter anderem die geringeren ungefederten Massen und die auch bei extremer Belastung spurstabile Radführung. Außerdem gehen bei Kurvenfahrt die kurvenäußeren Räder weiter in negativen Sturz, was die Reifenaufstandsfläche vergrößert und die Fahrstabilität erhöht. Speziell für den NSX gab es dazu auf das Fahrwerk abgestimmte, laufrichtungs- und seitengebundene Reifen, die nur von Yokohama und Bridgestone hergestellt wurden. Da die Vorderreifen außerdem kleiner waren als die Hinterreifen, sind alle vier Reifen unterschiedlich und nicht untereinander austauschbar. Die Räder- und Reifendimensionen wurden, unabhängig vom Modellwechsel, bis zur Produktionseinstellung zweimal geändert. Ursprünglich wurden 205/50 ZR 15 vorn und 225/50 ZR 16 hinten eingebaut. Ab 1994 wechselte man auf 215/45 ZR 16 und 245/40 ZR 17, 2002 dann auf 215/40 ZR 17 und 255/40 ZR 17. Ebenfalls zweimal vergrößert wurden die innenbelüfteten Festsattel-Scheibenbremsen mit jeweils hydraulisch betätigten zwei Kolben vorne und einem Kolben hinten. Dass eine US-Automobilmesse bei der Erstvorstellung den Vorzug vor einer japanischen erhielt, verdeutlichte von Anfang an eine starke Orientierung des NSX am nordamerikanischen Markt mit seinen Komfortansprüchen – eine Marketingentscheidung, die später durch die dort im Vergleich zum Rest der Welt erzielten überproportionalen Verkaufszahlen bestätigt wurde. Allein in den USA wurden bis zur Einstellung des Modells knapp 9000 NSX verkauft, rund die Hälfte der Gesamtproduktion. Die im Vergleich zu den Wettbewerbern relativ große Bodenfreiheit (unbeladen über 16 cm) und die „weiche“ Fahrwerksabstimmung nahmen ebenfalls Rücksicht auf die Anforderungen des US-Marktes. Allerdings gab es hinter dem Motor sportwagentypisch nur einen 155 Liter fassenden Kofferraum. Hier wurde auch der anfangs als Zubehör lieferbare und später serienmäßige CD-Wechsler montiert. Unter der Fronthaube war wegen der dort eingebauten Batterie, des Kühlers, des Falt-Notrads und der Zusatzaggregate kein zusätzlicher Gepäckraum. Modellvarianten und -pflege NSX NA1 (1990–1997) Die erste ab August 1990 verkaufte Modellversion (Code NA1) hatte einen quer zwischen Fahrgastzelle und Kofferraum eingebauten 3,0-Liter-V6-Saugmotor mit vier -obenliegenden Nockenwellen und 90 Grad Zylinderbankwinkel (Motorcode C30A; eine Weiterentwicklung der bereits ab 1985 in Honda- und Rover-Modellen eingesetzten C-Motorenfamilie), mit vier Ventilen pro Zylinder, programmgesteuerter Saugrohreinspritzung (PGM-FI), 201 kW (274 PS), 284 Nm Drehmoment (Prospektangabe Honda-Deutschland), einer Höchstdrehzahl von 8000 min−1 und – erstmals bei einem außerhalb Japans angebotenen Honda-Modell – einer durch Öldruck gesteuerten, variablen Ventilsteuerung (VTEC). Das erste DOHC-VTEC hatte Honda bereits 1989 im ausschließlich in Japan erhältlichen Integra eingesetzt. Die Kraft des NSX-Motors wurde über eine Zweischeibenkupplung und ein 5-Gang-Schaltgetriebe übertragen. Die 6-in-2-Auspuffanlage enthielt zwei geregelte Katalysatoren. Von Beginn an wurde in allen Modellversionen ein 4-Kanal-Antiblockiersystem (ABS) verwendet, das jedes Rad individuell kontrollieren und regeln kann. Nach Werksangaben sollte es für ein präziseres Handling bei einer Vollbremsung sorgen. NSX NA2 (1997–2002) Die zweite Baureihe ab 1997 (Modellcode NA2) erhielt einen ebenfalls quer eingebauten 3,2-Liter-DOHC-V6-Motor (Motorcode C32B) mit offiziell 206 kW (280 PS, US-Angabe 290 PS nach SAE-Richtlinie) und 298 Nm (US-Angabe 304 Nm) sowie ein 6-Gang-Schaltgetriebe. Weitere Unterschiede zum Vorgängermodell waren unter anderem eine effizientere Ansaug- und Abgasanlage sowie eine Einscheibenkupplung mit einem von der deutschen LuK Gruppe entwickelten und produzierten Zweimassenschwungrad. Allerdings erwies sich bei Beschleunigungstests der Zeitschrift sport-auto 1997 die neue Kupplung als zu schwach dimensioniert für das Leistungsvermögen des Motors und die konzeptbedingt gute Traktion der Antriebsräder. Auch im Rennstreckenbetrieb mit Slicks kam es häufig zum Durchdrehen der Kupplungsscheiben und in letzter Konsequenz durch die große Hitzeentwicklung zum völligen Versagen der Kupplung. Automatik-Version Der 3-Liter-Motor wurde auch nach 1996 noch in der bereits von Anfang an erhältlichen Viergang-Automatik-Version (ab 1995 als teilweise manuell schaltbare F-matic) weiterverwendet; die offizielle Leistungsangabe blieb hier über die gesamte Laufzeit des NSX bei 188 kW (256 PS) und das maximale Drehmoment lag bei 284 Nm. Diese Version war ebenfalls den Bedürfnissen des US-Marktes angepasst und fand hier auch die weitaus meisten Käufer; je nach Modelljahr zwischen 5 und 15 Prozent der insgesamt in den USA verkauften NSX-Modelle, während in Europa nur einzelne Exemplare auf den Markt kamen. Weitere Modellvarianten Zwischen November 1992 und 1995 wurde nur in Japan zusätzlich der NSX Type R angeboten, eine gewichtsreduzierte Version mit dem Motor der NA1-Version, etwas strafferer Federung und sportlichem Interieur. Ebenfalls nur in Japan gab es ab 1997 die NA2-Varianten NSX Type R, Type S und Type S zero. Weltweit wurde ab 1995 der NSX-T (für Targa-Top) mit herausnehmbarem Dachmittelteil verkauft. In den USA war in diesem Modelljahr das Coupé nicht mehr erhältlich, ab 1996 wurde es dort nur noch auf spezielle Order ausgeliefert; die T-Version war somit die einzige reguläre NSX-Variante. Leistungs- und Verbrauchswerte Honda gab für die handgeschalteten Modelle eine Beschleunigung von 5,9 (NA1) bzw. 5,7 Sekunden (NA2) von 0 auf 100 km/h und eine Höchstgeschwindigkeit von 270 km/h (F-matic 260 km/h) an, je nach marktspezifischer Motorelektronik und Auspuffanlage wurden auch noch andere Werte veröffentlicht. Die offiziellen Leistungsangaben waren allerdings eher zu niedrig gegriffen, da von 1989 bis 2004 in Japan eine freiwillige Binnenmarkt-Selbstbeschränkung auf maximal 280 PS existierte und viele Modelle (auch von anderen Marken) diesen Wert de facto zum Teil deutlich übertrafen. Der erste japanische Wagen mit offiziell mehr als 206 kW (221 kW/300 PS) war im Oktober 2004 der 3,5-Liter-Honda Legend. Auch beim 3,2-Liter-NSX-Motor waren zuvor schon Exemplare mit annähernd 220 kW auf dem Prüfstand gemessen worden. Alle Modellversionen verfügten über einen 70 Liter fassenden Benzintank und waren für Super bleifrei mit mindestens 95 ROZ ausgelegt. Die angegebenen Durchschnittsverbrauchswerte lagen zwischen 11,8 l (Version F-Matic) und 12,4 l (ab Baujahr 2002) auf 100 km, er konnte allerdings auch mit gut 9 l/100 km bewegt werden. Technische Innovationen Der NSX war das erste Serienauto der Welt mit einer praktisch vollständig aus Aluminium gefertigten selbsttragenden Karosserie. Als erstes Serienauto der Welt erhielt die Automatikversion des NSX von Beginn an eine elektrisch unterstützte Zahnstangen-Servolenkung, die ab 1993 (in den USA erst 1995) in einer weiterentwickelten und leichteren Bauweise auch in die Versionen mit Schaltgetriebe eingebaut wurde. Die Lenkunterstützung wurde geschwindigkeitsabhängig ausgelegt und entfaltet ihre volle Wirkung nur im Stand und bei sehr langsamer Fahrt. Ab etwa 50 km/h ist die Servounterstützung der Lenkung deaktiviert, um ein direkteres Lenkgefühl zu ermöglichen. Von Anfang an hatte der NSX ein variables Sperrdifferenzial (engl.: Limited Slip Differential, kurz LSD). Diese Konstruktion aus mehreren Reibscheiben (nach dem Prinzip einer Visco-Kupplung) und einem Planetengetriebe kann bis zu einem festgelegten Maß die von den ABS-Sensoren gemessenen Drehzahlunterschiede zwischen den Antriebsrädern ausgleichen. Im Unterschied zu anderen Differenzialen ähnlicher Bauart soll es beim NSX nicht nur die Traktion verbessern, sondern auch die Spurabweichung bei starkem Seitenwind minimieren. Die Abstimmung des LSD wurde während der Bauzeit mehrmals leicht verändert; die höchste Sperrwirkung lag bei knapp über 50 Prozent (157 Nm) des maximalen Drehmoments. Eine höhere Sperrung hätte nach Angaben von Honda ein zu starkes Untersteuern bei Kurvenfahrt verursacht. Ab Baujahr 1995 wurde die Drosselklappe von einem Servomotor gesteuert; das Gaspedal ist somit nicht mehr über einen Seilzug, sondern nur noch über elektrische Leitungen mit der Drosselklappe verbunden. Das System wird deshalb als Drive-by-Wire (DBW) oder Throttle-by-Wire (TBW) bezeichnet. Beim NSX steuert das System zusätzlich die elektronische PGM-FI-Saugrohreinspritzung, den serienmäßigen Tempomat und die Antriebsschlupfregelung (Traction Control System/TCS). Diese wiederum wird von den ABS-Raddrehzahlsensoren und einem Lenkwinkelsensor mit Steuerdaten versorgt, um die Regelung der aktuellen Fahrsituation anpassen zu können. Facelift und Produktionsende 2002 wurde eine modellgepflegte NSX-Baureihe vorgestellt; ohne Klappscheinwerfer, stattdessen mit festen Xenon-Leuchten für Fern- und Abblendlicht, modifizierten Heckleuchten und geänderten Front- und Heckschürzen, deren aerodynamische Wirkung den Strömungswiderstandskoeffizienten () von 0,32 auf 0,30 senkte und die Höchstgeschwindigkeit auf 280 km/h erhöhte. Der Modellcode blieb auch nach dem Facelift NA2. Die davon abgeleitete, auf 1244 kg erleichterte und mit Sportreifen ausgerüstete NSX-R-Version war erneut nur als Rechtslenker für den japanischen Markt erhältlich; allerdings wurde ein Exemplar zu Testzwecken von Honda in Deutschland per Einzelabnahme zugelassen. Bei einem sport auto-Supertest im Sommer 2002 erzielte dieser Wagen signifikant bessere Ergebnisse als der 1997 getestete NSX. Nach einigen in limitierter Stückzahl hergestellten Sondermodellen, zum Beispiel der 1999 nur in den USA erhältlichen „Zanardi-Edition“, von der 50 Exemplare gebaut wurden, oder der Last Edition in einer Auflage von zwölf Exemplaren 2005 in Großbritannien, wurde die Produktion im September 2005 eingestellt. Als Hauptgrund für die Einstellung nannte Honda die inzwischen verschärften Abgasbestimmungen vor allem in den USA, die weitreichende und damit zu teure Nachbesserungen des inzwischen mehr als 15 Jahre alten Motor- und Auspuff-Grundkonzepts erfordert hätten. Deutschlandweit wurden bis dahin 271 NSX verkauft, in der Schweiz waren es rund 260, in Österreich 49, weltweit wurden etwa 18.000 Stück ausgeliefert. Die effektiven Verkaufspreise des NSX lagen in den 1990er Jahren zwischen 140.000 und 175.000 DM (die höheren Preise für das T-Modell) und ab 2001 bei etwa 80.000 bis 90.000 EUR. Diese für einen japanischen Wagen ungewöhnlich hohen Beträge und die im Konkurrenzvergleich mangelnde Motorleistung machten den NSX schon im Lauf der 1990er Jahre außerhalb Japans zu einem schwer verkäuflichen Exoten. Die Kombination aus Alltagstauglichkeit, Handling und Fahrleistungen wurde jedoch noch bis zum Ende seiner Bauzeit von vielen Autojournalisten als außergewöhnlich bezeichnet. Nachfolgemodell Honda NSX 2016 Im Rahmen der Detroit Auto Show 2015 wurde die Serienversion des neuen Acura NSX enthüllt. Angetrieben wird der neue Honda NSX von einem völlig neu entwickelten V6-Biturbo-Mittelmotor mit einem 9-Gang-Doppelkupplungsgetriebe. Die ersten Kundenfahrzeuge wurden 2016 ausgeliefert. Auch auf der IAA in Frankfurt wurde das Modell gezeigt. Abgebrochene Nachfolgemodell-Entwicklungen Honda präsentierte am 7. Januar 2007 bei der North American International Auto Show in Detroit ein GT-Sportwagenkonzept namens Acura Advanced Sports Car Concept. Der Prototyp hat nach Firmenangaben vier Sitzplätze, einen V10-Frontmittelmotor (Einbaulage hinter der Vorderachse) und den bereits vom Honda Legend bekannten SH-AWD-Allradantrieb, der hier jedoch erstmals auch als reiner Heckantrieb agieren kann. Beim komplett im kalifornischen Acura Design Studio in Torrance bei Los Angeles unter der Leitung von John Ikeda entworfenen Prototyp wurden sowohl Stylingelemente des ursprünglichen NSX als auch der aktuellen Honda-Formen wie denen des S2000 verwendet. Leistungs- oder Hubraumdaten des Saugmotors wurden nicht bekannt gegeben, jedoch sprach Honda-Vorstandsvorsitzender Takeo Fukui vom stärksten Serienantrieb der Firmengeschichte. Genaue Angaben zur Markteinführung eines Serienmodells wurden nicht gemacht; Fukui stellte einen Zeitrahmen von drei bis vier Jahren in Aussicht. Im Frühsommer 2007 wurde über Fahrversuche auf der Nürburgring-Nordschleife berichtet, bei denen Honda einen rund 500 PS starken V10-Motor in einem für diese Zwecke umgebauten S2000 getestet haben soll. Im Dezember 2007 erklärte Tetsuo Iwamura, Präsident und CEO von American Honda, dass er mit einer Markteinführung im Jahr 2010 rechne. Im Frühsommer 2008 wurde ein getarntes Versuchsfahrzeug bei Testfahrten auf der Nürburgring-Nordschleife gesehen, dessen Aussehen und Leistung die bereits vermuteten technischen Merkmale zu bestätigen schienen. Im Dezember 2008 gab Honda-Chef Fukui bei seiner Jahresabschluss-Ansprache den Abbruch der NSX-Nachfolgemodell-Entwicklung bekannt und begründete das mit den Folgen der weltweiten Finanzkrise. Im November 2009 bestätigte Honda jedoch, dass ein aus dem Acura Advanced Sports Car Concept entwickelter Rennwagen mit Frontmotor und Heckantrieb ab 2010 in der japanischen Super-GT-Rennserie eingesetzt werden solle, um das geänderte Reglement zu erfüllen. Da weiterhin keine Serienfertigung eines Straßenmodells vorgesehen ist, erhält Honda eine ausnahmsweise Befreiung vom Homologationszwang. Beim Honda Indy 200, einem Autorennen, das im Rahmen der IndyCar-Serie auf dem Mid-Ohio Sports Car Course in Lexington (Ohio, USA) ausgetragen wird, bestritt der Supersportler am 4. August 2013 das Vorprogramm. Zwei Runden absolvierte der Bolide auf der 2,25 Meilen langen Strecke. Eine bereits im Herbst 2003 in Tokio als NSX-Nachfolger vorgestellte Studie namens HSC mit NSX-ähnlichem Design und 3,4-Liter-V6-Mittelmotor war ebenfalls nicht in eine neue Serie umgesetzt worden. Der Honda NSX Concept-GT stellte eine Rennversion des NSX Concept dar. Sein Renndebüt feierte der Honda NSX Concept-GT bei der „Autobacs Super GT“, die im Rahmen des fünften Laufs zur Super GT-Serie am 17. und 18. August in Suzuka (Japan) ausgetragen wurde. Der Rennwagen entsprach dem vom japanischen Automobilverband für 2014 festgelegten GT500-Reglement und sorgte für wichtige Erkenntnisse einer späteren Serienversion. 2012 wurde auf der North American International Auto Show in Detroit ein Konzeptfahrzeug präsentiert, und es wurde spekuliert, dass der neue NSX mindestens 400 PS haben werde. Genauere Details zum folgenden Serienfahrzeug wurden damals noch nicht bekannt gegeben. 2016 erschien der neue Honda NSX, je nach Markt als Acura NSX. Besonderheiten Der teuerste japanische Seriensportwagen wurde bereits nach wenigen Modelljahren in Deutschland mit zum Teil erheblichen Rabatten auf den Listenpreis verkauft. Einige der rund ein Dutzend von Honda für den Verkauf und die Wartung des NSX autorisierten deutschen Händler vertrauten darauf, dass die „Flaggschiffe“ (bevorzugt mit Händler-Werbeaufklebern) im Straßenverkehr neue Kunden für die „Brot-und-Butter-Modelle“ von Honda in die Schauräume locken könnten. Dieser Imagetransfer war auch dem Stammwerk erhebliche Verluste pro verkauftem Wagen wert; die Schätzungen gehen hier bis zu 100.000 DM pro Auto. Genaue Angaben sind nicht möglich, da die Entwicklungskosten nie offiziell beziffert wurden. Typischerweise waren damals mindestens 2 Milliarden DM für ein neues Automodell anzusetzen (inklusive der neu zu bauenden Fertigungsstätte; andere Quellen sprechen sogar von 3 bis 6 Milliarden US-Dollar), so dass der Deckungsbeitrag pro Fahrzeug über die gesamte Modelllaufzeit bei über 110.000 DM gelegen hätte. Hinzu kamen die ebenfalls nicht bekanntgegebenen Herstellungskosten. Der NSX-Käufer bekam andererseits trotz der hohen Listenpreise und dank der Händlernachlässe einen vergleichsweise preiswerten Exoten mit umfangreicher Serienausstattung und zahlreichen technischen Besonderheiten wie ein „elektronisches Gaspedal“, ein variables Sperrdifferenzial, Titan-Pleuel, Platin-Zündkerzen, Tempomat, Klimaautomatik, zwei geregelte Dreiwege-Katalysatoren, SRS-Sicherheitssystem (mit zwei Airbags, Gurtstraffern und Notstromversorgung) und Bose-HiFi-Anlage mit Alpine-CD-Wechsler und Motorantenne. Der Unterhalt war noch dazu günstiger als etwa bei einem Ferrari 348 oder F355. Die Versicherungsprämien lagen allerdings ähnlich hoch; vor allem wegen der teuren Unfallreparaturen, die bei Arbeiten an der Aluminiumkarosserie besondere Schweißmaschinen und Schweißkenntnisse erforderten. Die Gesamtkostenbilanz wird außerdem durch den hohen Wertverlust getrübt; die US-Zeitschrift Forbes Magazine stufte vor allem deshalb den NSX 2005 auf Platz 9 der weltweit 10 kostspieligsten Automodelle ein. Rund 200 Techniker hatten, weitgehend in Handarbeit, bis zu 25 NSX pro Tag in einer eigens dafür gebauten Fertigungsstätte in Utsunomiya (Präfektur Tochigi) produziert, wo ab 1999 auch der Honda S2000 und der Honda Insight gebaut wurden. 2004 wurde die Fertigung der drei Modellreihen nach Suzuka verlegt, weil Honda den Standort Utsunomiya zu einem neuen Forschungs- und Entwicklungszentrum umwandelte, in dem seit Juni 2008 auch der Honda FCX Clarity produziert wird. Gebaut und geliefert wurden die NSX-Neufahrzeuge nur auf Bestellung mit einer Wartezeit von zuletzt mindestens sechs Monaten. Bei der Bestellung verlangte Honda zeitweise eine Vorauszahlung von rund 10 Prozent. Dieses Geld holten sich die Händler meist direkt vom Kunden. Im Dezember 2002 wurde der NSX mit der Fabrikationsnummer „01“ in London versteigert. Das erste Serienexemplar der Modellreihe NA1 aus dem Jahr 1990 lag mit einem Zuschlagspreis von umgerechnet rund 175.000 Euro etwa 30.000 Euro über der vom Auktionshaus Christie’s erwarteten Preisspanne. Die weltweit größte private NSX-Sammlung wird bei Hassanal Bolkiah, dem Sultan von Brunei, vermutet, der nach einem Bericht der Zeitschrift sport auto „zahlreiche Honda NSX“ in seinem Besitz hat. Die genaue Zahl wurde nicht beziffert. Haltbarkeit Der NSX gilt als relativ unproblematischer 1990er-Jahre-Sportwagen, der auch für den Alltagsgebrauch geeignet ist. Bei Beachtung der Wartungsvorschriften, vor allem des vorgeschriebenen Zahnriemenwechsels alle 100.000 Kilometer oder acht Jahre zeigt er nach Angaben von Honda auch mit hohen Laufleistungen von über 200.000 km mit dem ersten Motor kaum Ausfallerscheinungen. Eine große Rolle spielt dabei das nicht rostende Aluminium. Eine nicht genau bezifferte Anzahl von handgeschalteten Exemplaren der Modelljahre 1991 und 1992 war allerdings von einem Produktionsfehler am Getriebegehäuse betroffen. Dadurch konnte der Sicherungsring an einem Lager der Getriebe-Zwischenwelle durch zu hohe Belastung auseinanderbrechen und große Schäden im gesamten Getriebe verursachen, die zu einem Totalausfall des betroffenen Wagens führten. Dieses in den USA als snap ring failure bekannt gewordene Problem löste zwar keine Rückrufaktion aus, veranlasste Honda aber zu einem Technical Service Bulletin (TSB) mit der Anweisung an die Acura-Werkstätten in Nordamerika, das Getriebe kostenlos auszutauschen. Das Problem wurde laut Honda bei außerhalb von Nordamerika ausgelieferten Wagen nicht festgestellt, veranlasste Honda aber 1992, eine Getriebe-Produktionsmaschine in Utsunomiya zu modifizieren. Praxiserfahrungen Nach den Statistiken des US-Instituts J. D. Power ist die Zufriedenheit der NSX-Kunden hoch. Laut Testberichten verschiedener Auto-Journalisten könne der Sportwagen mit „außergewöhnlichem Komfort und der Umgänglichkeit eines Civic“ problemlos auch als Alltagsfahrzeug eingesetzt werden. Das Fahrverhalten gilt als einfach, spaßbringend, und trotzdem sehr schnell. In verschiedenen Slalom- und Wedeltests wurde bei sehr hohen Geschwindigkeiten auch die Neigung zu „Konterschwüngen“ festgestellt. Vor allem bei ausgeschalteter Traktionsregelung konnte das Heck zu einer Seite hin ausbrechen und bei nicht exakter Reaktion des Fahrers blitzartig zur anderen Seite schwenken. Dieses Verhalten wurde etwa von „sport auto“ der relativ weichen Fahrwerksabstimmung mit starker Seitenneigung bei Kurvenfahrt angelastet. Schon Formel-1-Fahrer Ayrton Senna hatte bei einem Vorserientest 1990 auf der Nürburgring-Nordschleife das Auto als „sehr schnell“, das Fahrwerk aber als „zu weich“ bezeichnet. Andererseits kam diese Abstimmung Wintereinsätzen auf glatten Straßen zugute, die mit entsprechenden Reifen auch dank der konzeptbedingt guten Traktion kein Problem darstellten. Gordon Murray, der Entwickler des McLaren F1, bezeichnete das Fahrwerk des NSX als "verblüffend". Bei seiner Suche nach einer Vorlage, nach dem der F1 entwickelt werden sollte, stach der NSX die damaligen Modelle von Lamborghini, Ferrari, Jaguar und Porsche aus. "Best Motoring" erzielte mit dem NSX der ersten Serie auf der Nürburgring-Nordschleife eine Zeit von 8:16. Renneinsätze Rennsport-Versionen des NSX und des NSX-R wurden und werden weltweit in verschiedenen Rennserien und Einzelrennen eingesetzt; unter anderem in der japanischen JGTC/Super-GT-Serie, wo 2000 sowie 2007 der GT500-Gesamtsieg erzielt und 2004 die Meisterschaft in der GT300-Klasse gewonnen wurde. In Deutschland kamen NSX zum Beispiel beim Langstreckenpokal auf dem Nürburgring und dem dortigen 24-Stunden-Rennen zum Einsatz. Die Anfänge und die NSX GT2 Von 1991 bis 1993 gewann der von einem modifizierten NSX-Motor angetriebene und von Parker Johnstone gefahrene Sportprototyp Comptech Acura-Spice dreimal in Folge die „GTP lights“-Team- und Fahrermeisterschaft der International Motor Sports Association (IMSA) in den USA. 1993 gab es die weltweit ersten professionellen und offiziell von Honda unterstützten Renneinsätze von zwei weitgehend seriennahen NSX des deutschen Teams Seikel beim deutschen ADAC GT Cup, bei dem Armin Hahne gleich das zweite Saisonrennen in Zolder gewinnen konnte und Meisterschafts-Dritter wurde. Den zweiten NSX fuhr der Däne John Nielsen nur auf den elften Gesamtrang. Die Fahrzeuge hatten offiziell und wogen rund 1300 kg. 1994 ließ Honda von der britischen Firma Thompson Composites des Konstrukteurs John Thompson die Chassis für drei neue NSX nach dem damaligen GT2-Reglement bauen und gab die Verantwortung für deren Einsätze bei den 24-Stunden-Rennen von Le Mans und beim ADAC GT Cup an das deutsche Kremer-Racing-Team, der bis dahin vorwiegend als Porsche-Spezialist bekannt war. Die nur rund 1040 kg schweren Fahrzeuge unterschieden sich optisch kaum von der Serie, hatten aber unter anderem Karosserien aus einer CFK-Aluminium-Kombination mit verbesserter Aerodynamik, ein sequenzielles Hewland-Sechs-Gang-Getriebe, AP-Rennbremsen unter größeren Rädern und auf rund leistungsgesteigerte Saugmotoren. Kremer setzte nur einen dieser NSX beim GT Cup ein; das Resultat waren drei Siege und die Vizemeisterschaft für den bereits NSX-erfahrenen Armin Hahne. NSX GT1 und GT2 in Le Mans Alle drei Kremer-NSX starteten 1994 in Le Mans und erreichten das Ziel auf den für Honda unbefriedigenden Plätzen 14, 16 und 18. Danach zog sich Kremer Racing aus der Zusammenarbeit mit Honda zurück; die drei GT2-NSX wurden verkauft und fuhren in den Folgejahren mit Privatteams bei verschiedenen Veranstaltungen, darunter ein Exemplar für Kunimitsu in Le Mans. 1995 übernahm Honda selbst die Kontrolle über die Einsätze von zwei unterschiedlich konstruierten NSX; erneut aufgebaut von Thompson Composites. Ein Exemplar wurde von einem 410 PS starken V6-Saugmotor angetrieben, das andere erhielt ein Turboaggregat mit rund 600 PS. Beide etwa 1050 kg schweren Wagen starteten wenig erfolgreich in der „großen“ GT1-Klasse: Der Turbo-NSX schied schon nach sieben Runden wegen eines Kupplungsschadens aus, das zweite Fahrzeug schaffte wegen technischer Probleme zwar Rang 23, aber nicht die erforderliche Rundenzahl, um offiziell klassifiziert zu werden. Dafür holte zur Überraschung des Werksteams der nun rund 1055 kg schwere, ehemalige 1994er Kremer-GT2-NSX des privaten japanischen Teams Kunimitsu mit einem auf 390 PS erstarkten Saugmotor den Klassensieg und den 8. Platz im Gesamtklassement; pilotiert von den japanischen Fahrern Keiichi Tsuchiya, Akira Iida und Kunimitsu Takahashi. Dieser Erfolg bewog Honda, den offiziellen Le-Mans-Einsatz 1996 mit stark reduziertem Aufwand und nur diesem Auto von Kunimitsu betreuen zu lassen. Das Resultat war allerdings nur noch ein 16. Gesamtrang und der 3. Platz in der GT2-Klasse. Im Dezember 2003 wurde der Wagen im Auftrag vom Auktionshaus Christie’s in London für umgerechnet rund 150.000 Euro versteigert. NSX GT500 und GT300 1996 entwickelte die japanische Konstruktionsfirma Dome im Auftrag von Honda einen knapp 1100 kg schweren Rennwagen auf Basis des NSX für die GT500-Klasse der All-Japan Grand Touring Car Championship (JGTC). Das großzügige Reglement erlaubte weitreichende Abweichungen vom Serienwagen ohne die sonst dafür notwendige Homologation. So hatten die Fahrwerksaufhängungen, die Federungs- und Dämpferelemente, die Bremsen, das sequenzielle Getriebe sowie die Einbaulage des Motors nichts mehr mit dem Serien-NSX gemeinsam. Als einziges nicht verändertes Gleichteil blieb die Aluminium-Rohkarosserie. Die Motorleistung wurde gemäß dem Klassenreglement auf rund 500 PS angehoben; anfangs ohne zusätzlichen Turbolader. Eine besondere Herausforderung beim NSX war hier wie bei verschiedenen anderen Rennserien die Integration des geforderten Stahl-Überrollkäfigs in die Aluminiumstruktur, da direkte Schweißverbindungen zwischen Stahl und Aluminium nicht möglich sind. Somit mussten geschraubte und geklebte Halter aus Stahl installiert werden, an denen wiederum die Käfigelemente befestigt wurden. Ab 1997 übernahm die Honda-Tochterfirma Mugen, die 2004 in M-TEC umbenannt wurde, zum Teil in Zusammenarbeit mit Dome die Entwicklung des Renn-NSX und setzte ab 1998 eine auf 3,5 Liter Hubraum erweiterte Version des neuen 3,2-Liter-Serienmotors ein, die über 600 PS leistete. Damit erreichte ein NSX im Jahr 2000 die GT500-Fahrer-Meisterschaft, ohne jedoch nur ein einziges Rennen gewinnen zu können. 2002 gelang Mugen/Dome mit den beiden eingesetzten NSX der Gewinn der Meisterschafts-Teamwertung. Nach Änderungen im Reglement für 2003 entstand eine weitere Motorenvariante auf Basis des in der Serie nicht mehr verwendeten 3,0-Liter-Triebwerks. Der Motor wurde im Gegensatz zur Serie längs statt quer eingebaut und durch zwei Turbolader ergänzt. Mugen hatte sich für diese Lösung entschieden, weil die bis 2002 verwendeten Saugmotoren bei den zum Teil höher gelegenen japanischen Rennstrecken wegen des Sauerstoffmangels zu viel Leistung verloren hatten. Die erfolgreicheren Konkurrenzfahrzeuge Toyota Supra und Nissan Skyline GTR waren dagegen von Anfang an mit Turbomotoren ausgerüstet und hatten dieses Problem nicht. Weitgehend seriennah waren die hauptsächlich von Privatteams eingesetzten NSX in der Klasse GT300. Hier sind die Modifikationsmöglichkeiten stark eingeschränkt und die Motorleistung auf 300 PS begrenzt. Meisterschaftserfolge gelangen dem NSX in dieser Klasse lange Zeit nicht. Erst als die neu gegründete Firma M-TEC in der Saison 2004 die früheren Mugen-Aktivitäten von der GT500- auf die GT300-Klasse verlagerte und einen professionell vorbereiteten und gefahrenen NSX einsetzte, konnte die erste GT300-Meisterschaft gefeiert werden. Dieser Erfolg kam eher unerwartet, da Mugen den Einsatz hauptsächlich als Trainingsprogramm für junge japanische Fahrer zur Vorbereitung auf spätere GT500-Einsätze geplant hatte. Damit sollte mittelfristig der auffällig häufige Einsatz von im Vergleich schnelleren europäischen NSX-Fahrern in der „großen“ Klasse, wie André Lotterer, Sébastien Philippe oder Ralph Firman zurückgedrängt werden. Im Oktober 2007 gelang dem Autobacs Racing Team Aguri (ARTA) von Aguri Suzuki mit dem Fahrerduo Ralph Firman/Daisuke Itō und einem Sieg beim vorletzten Lauf der Saison auf der Anlage von Autopolis in der japanischen Präfektur Ōita vorzeitig der Gewinn der Super-GT500-Meisterschaft. 2008 und 2009 wurden erneut jeweils fünf NSX für die Teilnahme in der GT500-Klasse gemeldet. Das letzte Einsatzjahr des Modells in dieser Rennserie endete am 8. November 2009 auf dem Twin Ring Motegi mit einem Sieg des ARTA-NSX mit den Fahrern Ralph Firman/Takuya Izawa und dem Gewinn des Vizemeisterschaft. Da die Super-GT-Regeln seit 2010 nur noch den Einsatz von Autos mit Frontmotor erlauben, konnte der NSX mit seinem Mittelmotor dort nicht mehr starten. NSX-R und „24h-Special“ Ab 2003 startete ein modifizierter, rechtsgelenkter NSX-R sowohl im Langstreckenpokal (bis 2005) als auch beim 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring. Der von wechselnden Teams und mit verschiedenen Sponsoren-Kombinationen eingesetzte Wagen war unter anderem mit einem auf 316 PS leicht leistungsgesteigerten 3,2-Liter-Motor, aerodynamischen Anbauteilen, Nachrüst-Bremsen und verstärkten Fahrwerksteilen ausgerüstet, aber weitgehend gleich mit den in Japan verkauften Serienfahrzeugen. 2005 erreichte der unter anderem von Fernsehmoderator Klaus Niedzwiedz gefahrene n-tv-NSX-R beim 24-Stunden-Rennen Gesamtrang 12 und den „A 6“-Klassensieg; im Jahr 2007 gelang noch Gesamtrang 26 und Platz 6 in der Klasse „SP 6“. Im Juni 2004 setzten Honda Deutschland und die Zeitschrift „sport auto“ beim 24-Stunden-Rennen am Nürburgring einen von „GS Motorsport“ modifizierten NSX GT500 aus der JGTC-Serie des Jahres 2002 ein. Der rund 1200 kg schwere ehemalige Mobil 1-Wagen wurde unter anderem durch den Einbau von Motorteilen eines NSX GT300 standfester gemacht, aber auch leistungsreduziert auf etwa 420 PS aus rund 3,4 l Hubraum. Schon bei den Vortests hatte sich jedoch gezeigt, dass der ursprünglich für relativ ebene Rennstrecken gebaute Wagen Probleme mit welligen Streckenverläufen hatte. Die Verbindungen zwischen Motor, Getriebe und Differenzial reagierten zum Teil mit Lecks auf die durch Bodenunebenheiten verursachten starken Belastungen. Beim Rennen selbst fiel der unter anderem von Armin Hahne pilotierte „Gebrauchtwagen“ deshalb nach gut 8 Stunden durch Differenzialschaden aus. Honda verbuchte den Einsatz dennoch als Achtungserfolg, da das offiziell NSX 24h-Special genannte und optisch spektakuläre Auto bis zur letzten Fahrt in die Box schon Gesamtrang 10 unter mehr als 200 Startern erreicht hatte. In den folgenden Jahren wurde der Wagen nicht mehr beim 24-Stunden-Rennen eingesetzt. NSX-R GT und weitere Renneinsätze 2005 legte Honda eine Kleinstserie von fünf Exemplaren eines straßenzugelassenen NSX-R GT auf, mit denen die Homologationsbestimmungen des neuen Super-GT-Reglements erfüllt werden sollten. Jedes dieser handgebauten und nur in Japan verkauften Exemplare kostete umgerechnet rund 376.000 Euro, unterschied sich aber nur durch andere Karosserie- und neue Anbauteile vom NSX-R und nicht durch bessere Leistungsdaten. Trotzdem waren die Autos schon vor der Fertigstellung verkauft. Im selben Jahr erreichte der Arta-NSX vom Team Honda Racing die Super-GT-Vizemeisterschaft hinter einem Toyota Supra. 2006 wurde ein vom Team Kunimitsu eingesetzter Raybrig-NSX Vizemeister hinter einem Lexus SC 430. Zwischen 1992 und 2005 wurde vom NSX & Honda Sportcars Club mit Sitz in der Schweiz auf Rennstrecken in Frankreich, Belgien und Italien eine European Trophy-Rennserie veranstaltet, bei der zuerst nur NSX-Modelle in drei Klassen (serienmäßig, modifiziert und Prototypen) gegeneinander antraten. Zeitweise waren hier auch die ehemaligen Seikel-GT2-NSX (aus der ADAC-GT-Cup-Saison 1993) am Start. Zuletzt wurde in der Trophy auch die Teilnahme anderer sportlicher Honda-Modelle in eigenen Klassen erlaubt. Die Privatfahrer und die zum Teil professionellen Teams kamen aus Europa, den USA und Japan. 1997 wurde ein NSX des Teams Realtime Meister der Klasse T1 in der US-Serie SCCA World Challenge. Der NSX in den Medien (Auswahl) In der ab 1990 ausgestrahlten US-Fernsehserie Beverly Hills, 90210 fuhr Tiffani-Amber Thiessen als Valerie Malone zeitweise einen NSX. Im 1994 veröffentlichten Film Pulp Fiction fährt Harvey Keitel als der „Problemlöser“ Winston Wolf einen silberfarbenen NSX, den er als „meinen Acura“ bezeichnet und der ihn laut seiner Aussage dreimal so schnell ans Ziel bringt, wie es üblicherweise dauere (Zitat: „It’s 30 minutes away – I’ll be there in 10“). 1995 wurde im Film Terminal Justice (in Deutschland als Cybertech P. D. veröffentlicht) ein NSX mit offener Fronthaube und darunter hervorquellendem Rauch am Straßenrand gezeigt; der Motor des NSX ist zwar nicht vorne, sondern hinter der Fahrgastzelle eingebaut, der Motorkühler befindet sich aber dennoch vorne. Im Film Executive Target (1997, im deutschen Fernsehen auch als The Stuntdriver gesendet) bestreitet die Hauptfigur Nick James (Michael Madsen) eine Verfolgungsfahrt mit einem roten NSX. Im Video der Red-Hot-Chili-Peppers-Single Californication war 2000 ein roter NSX zu sehen. Verschiedene NSX-Versionen sind in Rennspielen wie Gran Turismo, Need for Speed: Pro Street, Need for Speed: Shift, Race Driver: GRID und DTM Race Driver 3 programmiert. In der Serie Baywatch Nights wird ein roter NSX-Targa regelmäßig von David Hasselhoff gefahren. Im Film The Avengers wird ein Honda/Acura NSX-CONCEPT-Car gefahren, der aber auf einem „alten“ NSX aufbaut, dessen äußere Anbauteile dem neuen Concept-Design entsprechen. The Fast and the Furious: Tokyo Drift: Gelber NSX mit Veilside-Kit Fast & Furious – Neues Modell. Originalteile.: Schwarzer NSX Type-R (2002) am Ende des Films Fast & Furious Five: Schwarzer NSX Type-R am Anfang des Films (Szene von Teil 4 am Ende wird hier am Anfang fortgesetzt) Zitate Daten Modell NA1 (Ab 1990, Werksangaben) Daten Modell NA2 (Ab 1997, Werksangaben) Literatur Mark Cole, François Hurel, Wolf Töns: GT international – die Autos 1993–1998. Art Motor-Verlag, Rösrath 1999, ISBN 3-929534-10-X. Diverse Autoren, Vorwort von L.J.K Setright: The NSX. BBC Enterprises, London, ISBN 0-9517751-0-3. Keine Autorenangabe: NSX: Technical Information and Development History. Acura USA, 1991 (nicht im Buchhandel, exklusiv als Beigabe für Käufer), download. Brian Long: Acura NSX – Honda’s Supercar. Veloce Publishing Ltd., Dorchester 2005, ISBN 1-904788-43-2 (englisch) R. M. Clarke: Acura-Honda NSX 1989–1999 Performance Portfolio. Brooklands Books, Cobham (Surrey) 2000, ISBN 1-85520-428-2 (englisch) Weblinks NSX-FAQ auf nsxprime.com (englisch) Einzelnachweise Nsx Coupé Rennwagen des 24-Stunden-Rennens von Le Mans
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https://de.wikipedia.org/wiki/Nationalsozialistische%20Filmpolitik
Nationalsozialistische Filmpolitik
Die nationalsozialistische Filmpolitik wurde im Wesentlichen nach der Machtübernahme Hitlers und seiner NSDAP zur Errichtung einer völkisch-nationalistischen Diktatur im Deutschen Reich betrieben (vgl. Zeit des Nationalsozialismus). Sie ist untrennbar mit Joseph Goebbels’ Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda verbunden. Goebbels ernannte sich selbst zum „Schirmherrn des deutschen Films“, der durch eine Vielzahl von Maßnahmen wie Steuerung und Kontrolle der Filmproduktion, Zensur, „Arisierung“, Repressionen sowie Förderung einzelner Künstler und Unternehmer die deutsche Filmindustrie zu einem wichtigen Teil des NS-Propagandaapparates machte. Da Unterhaltung im Nationalsozialismus eine politische Funktion hatte, ist es kein Widerspruch, dass die Mehrzahl der Spielfilme im Dritten Reich scheinbar unpolitischer Natur war. Nachdem die NSDAP bereits in der Stummfilmzeit Erfahrung mit der Produktion von Wahlkampffilmen gesammelt hatte, konzentrierte sich die nationalsozialistische Filmpolitik nach dem Regierungsantritt (1933) auf die Gleichschaltung und Indienstnahme der deutschen Filmindustrie. Dieser Gleichschaltungsprozess verlief außerordentlich erfolgreich und integrierte 1938 auch die Filmwirtschaft des angeschlossenen Österreichs (Ostmark bzw. Alpen- und Donaugaue). Der Prozess erreichte seinen Abschluss 1942 mit der Gründung des staatsmonopolistischen UFA-Konzerns. Über alle politischen Ziele hinaus waren Joseph Goebbels, Hermann Göring und Adolf Hitler vom Film auch persönlich fasziniert. Ziele der nationalsozialistischen Filmpolitik Goebbels sah das Medium Film als ein wirkungsvolles Werbemittel, das dem nationalsozialistischen Regime Glamour verleihen sollte. Eine Filmlandschaft, in der die NSDAP und ihre Tagespolitik allgegenwärtig gewesen wäre, hätte dieses Ziel kaum erreicht. Die offene Propaganda fand ihren Platz in Wochenschauen, Lehr- und Dokumentarfilmen. Im Spielfilm erscheinen die NSDAP und ihre Symbole bzw. Organisationen – wie SA, Hitler-Jugend oder Reichsarbeitsdienst – nur vereinzelt. Selbst die so genannten Propagandafilme politisch linientreuer Regisseure wie Veit Harlan oder Karl Ritter bildeten gegenüber der Flut der mehr oder weniger leichten „Unterhaltungsfilme“ eine Minderheit von weniger als 20 %. Vorgeschichte Bereits lange vor 1933 hatte die NSDAP begonnen, den Film als mediale Ausdrucksform für ihre Zwecke zu nutzen. So besaß die im Juni 1926 eingerichtete Reichspropagandaleitung der NSDAP ein „Amt Film“, das den Einsatz von Propagandafilmen vorbereitete. 1927 wurde der erste parteiamtliche Film über einen Nürnberger Parteitag – Eine Symphonie des Kampfwillens – produziert. Nachdem solche Filme anfangs nur für die interne Verwendung hergestellt worden waren, übernahm im November 1930 die neu gegründete Reichsfilmstelle der NSDAP die Produktion und Verbreitung von Filmen, die nun auch zur Wahlkampfwerbung eingesetzt wurden. Behörden und Dienststellen Nach dem Machtantritt der NSDAP im Januar 1933 liefen die Fäden der nationalsozialistischen Filmpolitik vor allem in zwei Behörden zusammen: in der Abteilung Film des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda und in der Reichsfilmkammer. Einfluss nahmen jedoch auch die Reichskulturkammer und das Amt Film der Reichspropagandaleitung der NSDAP. Goebbels stand all diesen Behörden und Dienststellen vor. Daher konnte er – dem nationalsozialistischen Führerprinzip entsprechend – in einer Fülle filmischer und filmpolitischer Belange direkt entscheiden; die eigentlich zuständigen Stellen musste er nicht anhören. Einfluss nahm er überliefertermaßen auf die Rollenbesetzung mancher Filme; auch bei der Filmzensur und der Filmprädikatisierung hatte er das letzte Wort. In welchem Umfang Goebbels diese Sonderbefugnisse angesichts seiner Arbeitsbelastung tatsächlich in Anspruch nahm, ist heute jedoch umstritten. Der einzige Bereich, für den ein anderes Reichsministerium die Kompetenzen besaß, war der Unterrichtsfilm. Hier entschieden Kultusminister Bernhard Rust und die von ihm eingerichtete Reichsstelle für den Unterrichtsfilm. Filmpolitische Maßnahmen (Übersicht) Die wichtigste Maßnahme zur politischen Indienstnahme und Gleichschaltung des Films im deutschen Reich zwischen 1933 und 1945 war die Unterstellung unter das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Das Propagandaministerium war dadurch vom März 1933 an mit einem Kompetenzmonopol ausgestattet. Es musste keine Einmischungen aus anderen Ministerien erdulden und konnte eine hocheffiziente Filmpolitik verwirklichen. Ein großer Teil der filmpolitischen Maßnahmen der NSDAP zielte auf eine Umstrukturierung der Filmwirtschaft ab. Durch staatliche Eingriffe konnte die Branche nach und nach vollständig saniert und damit zu einer schlagkräftigen Propagandaindustrie ausgebaut werden. Der erste Schritt bestand in der Gründung der Filmkreditbank GmbH, mit deren Hilfe politisch linientreuen Produktionsgesellschaften finanzielle Aufbauhilfen zugeschoben wurden. Da eine zusammengefasste Filmindustrie nicht nur effizienter funktionieren würde als eine unübersichtliche Landschaft aus Hunderten von Kleinunternehmen, sondern auch leichter zu kontrollieren und zu steuern wäre, folgte dann die radikale Konzentration des gesamten Produktions- und Verleihsektors. Von über 100 Produktionsgesellschaften, die zwischen 1930 und 1932 in der Weimarer Republik aktiv gewesen waren, blieb 1942 nur noch ein einziges Unternehmen – der staatseigene Ufi-Konzern (Ufa-Film GmbH) – übrig. Über die Zwangskonzentration hinaus hatte die nationalsozialistische Politik von vornherein im Sinn, der deutschen Filmwirtschaft die europäischen Absatzmärkte zu sichern und sie von der existenzbedrohenden US-amerikanischen Konkurrenz zu befreien. Diesem Ziel diente 1935 die Gründung einer Internationalen Filmkammer. Auch der deutsche Invasionskrieg ab 1939 war für die deutsche Filmindustrie – wirtschaftlich gesehen – ein Glücksfall. Denn in den besetzten Ländern wurden nicht nur deutsche Filme mit Profit vermarktet, sondern auch die Produktionseinrichtungen geraubt und der deutschen Filmindustrie einverleibt. Diese protektionistische Politik dankte die „gesund“ geschrumpfte Filmbranche dem nationalsozialistischen Regime mit bedingungsloser Loyalität. Über die Förderung der Filmindustrie hinaus kam es auch zu direkten Gleichschaltungsmaßnahmen. So wurde ein Reichsfilmdramaturg eingesetzt, der sämtliche Drehbücher, Manuskripte und Filmentwürfe noch vor Produktionsbeginn zu prüfen hatte. Die Filmzensur, die bereits in der Weimarer Republik bestanden hatte, wurde fortgeführt und verschärft. Von 1934 an konnten auch solche Filme verboten werden, die in den Augen der Staatsführung geeignet waren, „das nationalsozialistische, religiöse, sittliche oder künstlerische Empfinden zu verletzen, verrohend oder entsittlichend zu wirken, das deutsche Ansehen oder die Beziehungen Deutschlands zu auswärtigen Staaten zu gefährden“. Gesellschaftskritische Filme wie Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? (1932) oder Robert Siodmaks Voruntersuchung (1931), aber auch filmhistorisch bedeutende Filme von Fritz Lang und Georg Wilhelm Pabst durften nicht mehr gezeigt werden. Aufgrund der sehr wirksamen Vorzensur war es praktisch ausgeschlossen, dass neue, politisch missliebige Filme überhaupt noch fertiggestellt wurden. Manche Filme, die zur Drehzeit noch als unbedenklich gegolten hatten, wurden nach ihrer Fertigstellung jedoch verboten, weil sie angesichts einer politischen Lage, die sich inzwischen verändert hatte, nicht mehr opportun erschienen. Dies gilt z. B. für den 1935 fertiggestellten Film Friesennot, der nach dem Hitler-Stalin-Pakt ein merkwürdiges Licht auf die zeitweilig vorgegebene Freundschaft des Deutschen Reiches zur UdSSR geworfen hätte. Auch die Filmkritik wurde schließlich verboten. Die Produktion politisch erwünschter Filme sollte durch die Einführung neuer Filmprädikate und die Vergabe eines nationalen Filmpreises („Deutscher Staatspreis“) gefördert werden. Auf eine personelle Gleichschaltung zielten die Zwangserfassung der in der Filmbranche Tätigen in nationalsozialistischen Berufsverbänden (Reichsfachschaft Film) und die Einrichtung einer staatlichen Ausbildungseinrichtung für linientreue Filmkünstler (Deutsche Filmakademie Babelsberg) ab. Alle Personen, die im Deutschen Reich beim Film tätig waren, mussten Mitglied in der Reichsfachschaft sein. Unerwünschten Personen wie Regimekritikern oder Juden wurde die Mitgliedschaft verweigert, was einem Berufsverbot gleichkam. Filmproduktion Die deutsche Filmindustrie geriet Mitte der 1930er Jahre in ihre bis dahin schwerste Krise. Das hatte mehrere Ursachen. Erstens hatten viele der besten Filmkünstler das Reich nach dem Machtantritt Hitlers verlassen; andere waren von der Reichsfilmkammer unter Berufsverbot gestellt worden. Ersatz war nicht leicht zu beschaffen. Zweitens stiegen die Gagen der verbliebenen Filmkünstler und damit die Filmherstellungskosten, und zwar zwischen 1933 und 1936 um 95 %. Häufig gelang es nicht, die hohen Produktionskosten in den Kinos wieder einzuspielen. Drittens wurden Filme aus dem Reich im Ausland zunehmend boykottiert, sodass die Exportzahlen dramatisch sanken. Hatte der Export 1933 noch 44 % der Herstellungskosten gedeckt, so waren es 1935 noch 12 % und 1937 nur noch 7 %. Mehr und mehr Filmproduktionsunternehmen gingen in Konkurs. Von den 114 deutschen Produktionsgesellschaften, die in den Jahren 1933–1935 Spielfilme hervorgebracht haben, arbeiteten in den Jahren 1936–1938 noch 79. 1939 traten noch 32, 1940 25 und 1941 16 Unternehmen in Erscheinung. Die Gesamtzahl der produzierten Filme sank dadurch keineswegs, denn den wenigen verbliebenen Unternehmen ging es immer besser, und sie produzierten immer mehr Filme. Goebbels ging noch weiter und ließ durch eine private Holdinggesellschaft, die Cautio Treuhand GmbH, die Aktienmehrheiten aller verbliebenen Filmproduktionsgesellschaften aufkaufen. 1937 erwarb die Cautio die größte deutsche Filmgesellschaft, die Ufa-Film GmbH, die 1942 mit den fünf daneben noch verbliebenen Unternehmen – Terra Film, Tobis-Tonbild-Syndikat, Bavaria, Wien-Film und Berlin-Film – zum UFI-Konzern zusammengeschlossen wurde. Die Filmproduktion war damit praktisch verstaatlicht, behielt aber – anders als z. B. in der Sowjetunion unter dem Stalinismus – ihre privatwirtschaftliche Struktur. Zwar wurde zur Unterstützung der Filmindustrie die Filmkreditbank GmbH eingerichtet, diese trieb ihre Geldmittel jedoch bei privaten Investoren auf. Eine staatliche Bezuschussung der Filmindustrie gab es im Nationalsozialismus nicht. Die Filmindustrie war damit weiterhin gezwungen, sich zu rentieren und die Erwartungen des Kinopublikums zu befriedigen. Kassenergebnisse spielten selbst dann eine vorrangige Rolle, wenn der NSDAP an Filmprojekten besonders gelegen war. In den Produktionsgesellschaften wurde unter dem Nationalsozialismus das Führerprinzip eingeführt. Während der Regisseur für die künstlerische Gestaltung des Filmvorhabens verantwortlich war, kümmerte der Herstellungsgruppenleiter sich um alle nichtkünstlerischen Belange. Beiden übergeordnet war der Produktionschef, der das Jahresprogramm der Filmgesellschaft ausarbeitete und die Stoffe vorgab. Von 1942 an war den Produktionschefs wiederum ein Reichsfilmintendant übergeordnet. Ganz im Sinne des Führerprinzips hat Joseph Goebbels sich in praktische Produktionsfragen häufig auch direkt eingeschaltet. Filmverleih und Bildstellen Eine Konzentration wurde auch im Verleihsektor herbeigeführt. Die Deutsche Filmvertriebs GmbH (DFV), eine Tochtergesellschaft der verstaatlichten Ufa mit Sitz in Berlin, löste 1942 alle bis dahin noch bestehenden Verleihunternehmen ab. Das System der Bildstellen, das bereits in der Weimarer Republik bestanden hatte, wurde der Reichsstelle für den Unterrichtsfilm unterstellt und weiter ausgebaut. 1943 gab es im Reichsgebiet 37 Landesbildstellen, zu denen ein Subsystem von 12.042 Stadtbildstellen gehörte. Parallel bestand das Bildstellennetz der Reichspropagandaleitung, die bereits 1936 über 32 Gau-, 171 Kreis- und 22.357 Ortsgruppenfilmstellen verfügte. Diese Bildstellen hatten gut sortierte Filmlager und verliehen auch transportable Projektoren für 16-mm-Filme, mit denen in Schulräumen, in den Seminarräumen der Universitäten und bei Heimabenden Filme vorgeführt werden konnten. Kinos und Publikum Anders als im Produktions- und Verleihsektor fand bei den Lichtspielhäusern keine Verstaatlichung statt. Abgesehen von der Ufa-Kino-Kette waren die meisten der 5506 Lichtspieltheater, die 1939 im sog. Altreich (ohne Österreich und Sudetenland) existierten, Kleinunternehmen in privater Hand. Die unternehmerische Freiheit dieser Kinos war durch Gesetze und durch Anordnungen der Reichsfilmkammer allerdings stark eingeschränkt. Vorgeschrieben war z. B. ein Beiprogramm aus Kultur- bzw. Dokumentarfilm und Wochenschau. Festgelegt war auch, dass an bestimmten Feiertagen ernste Filme gezeigt werden mussten. Mit dem Gesetz über die Vorführung ausländischer Bildstreifen vom 23. Juni 1933 war die Reichsregierung auch ermächtigt, die Vorführung ausländischer Filme zu verbieten. Bereits aus der Weimarer Republik stammte eine Kontingentregelung, die festlegte, wie viele ausländische Filme importiert werden durften. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde der Import von Filmen aus bestimmten Ländern erstmals ganz verboten. Ab 1941 z. B. durften in deutschen Kinos keine amerikanischen Filme mehr gezeigt werden. Die nationalsozialistische Medienpolitik setzte ganz auf die emotionale Wirkung, die das Ansehen von Spielfilmen und Wochenschauen in großen, vollbesetzten Kinosälen auf den einzelnen Menschen ausübte. Auch in Kasernen und Betrieben wurden daher Filmprogramme veranstaltet. Das Massenerlebnis verstärkte die Effekte der Propaganda, besonders beim jugendlichen Publikum. Um alle Altersgruppen mit der Filmpropaganda erreichen zu können, wurde mit dem Lichtspielgesetz vom 16. Februar 1934 die bis dahin noch bestehende Altersgrenze von 6 Jahren für Kinobesuche aufgehoben. Der Hitler-Jugend wurden Kinosäle für die so genannten Jugendfilmstunden zur Verfügung gestellt. Um auch ländliche Gegenden mit Filmprogrammen versorgen zu können, stellte die Reichspropagandaleitung Tonfilmwagen zur Verfügung, die alles Gerät enthielten, das gebraucht wurde, um Filmveranstaltungen z. B. in Sälen von Gastwirtschaften durchzuführen. Dann fand nachmittags eine Filmveranstaltung für die Hitler-Jugend statt und abends ein normales Kinoprogramm für die Erwachsenen. Mit Hilfe dieser Wanderkinos erreichte die nationalsozialistische Filmpropaganda in erheblichem Umfange auch solche Zuschauer, die bis dahin noch nie Gelegenheit gehabt hatten, ein Kino zu besuchen. Durch den Rückgang der Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Verbesserung des Lebensstandards stieg der Kinobesuch im Deutschen Reich von Jahr zu Jahr: 1939 wurden 624 Millionen Kinokarten verkauft, 1944 waren es 1,1 Milliarden. Von den USA abgesehen, hatte kein Land der Erde mehr Kinositzplätze als Deutschland. Während Schulen und Theater ihre Tore schlossen, wurde der Kinobetrieb trotz schwierigster Bedingungen bis zum Kriegsende aufrechterhalten. In Berlin z. B. wurden noch 1944 Flak-Truppen zum Schutz von Kinos abgestellt. Sogar der Umbau von Kinos in Hospitäler und Lazarette, der durch die massiv ansteigende Anzahl von Kriegsverletzten infolge der zunehmenden alliierten Luftangriffe gegen das Reichsgebiet dringend erforderlich gewesen wäre, wurde von politischen Entscheidungsträgern oftmals verhindert. Ab 1. September herrschte für sämtliche Theater Spielverbot. Die Kinos durften jedoch weiterbespielt werden. Daraus resultierte, dass manche Theater vorübergehend zu Kinos umfunktioniert wurden. Die Wiener Volksoper war ab 6. Oktober für mehrere Monate das zweitgrößte Kino der Stadt. Nationalsozialistische Filmpropaganda Offen wurde die nationalsozialistische Ideologie in den nichtfiktionalen Genres propagiert: in den Wochenschauen, in Unterrichts-, Kultur- und Dokumentarfilmen. Die Deutsche Wochenschau wurde von einer Unterabteilung der Abteilung Film im Reichspropagandaministerium produziert und von Goebbels in jeder Phase der Herstellung überwacht. Bis zum Winter 1942/43 übernahm Hitler die Kontrolle oft sogar selbst. Unterrichtsfilme, die an Universitäten und Schulen eingesetzt wurden, dienten in vielen Fällen der direkten Verbreitung zentraler Elemente der nationalsozialistischen Ideologie wie Sozialdarwinismus, Rassenlehre und Antisemitismus. Kulturfilme, die in den Kinos ein breites Publikum fanden, erfüllten häufig denselben Zweck. Hier kamen auch solche Themen zur Sprache, die im Spielfilm normalerweise nicht behandelt wurden. So wurde dem Thema „Euthanasie“ bzw. „Tötung Behinderter“ nur ein einziger Spielfilm (Ich klage an, 1941) gewidmet, es gab jedoch eine ganze Reihe von nichtfiktionalen Filmen (z. B. Das Erbe (1935), Erbkrank (1936), Opfer der Vergangenheit (1937), Alles Leben ist Kampf (1937), Was du ererbt (1939)). Anders als in der Sowjetunion, wo die Spielfilmregisseure darum wetteiferten, dem Diktator Stalin ein Denkmal zu errichten, wurde im Reich kein einziger Spielfilm über die Person des Diktators Hitler produziert. Nachdem sich die Filmindustrie 1933 beim neuen Regime in vorauseilendem Gehorsam mit drei hastig abgedrehten NSDAP-Spielfilmen (S.A. Mann Brand, Hitlerjunge Quex, Hans Westmar) angedient hatte, wurden solche Filme später nur noch vereinzelt hergestellt. Breiten Raum zur Selbstdarstellung fand die NSDAP hingegen in den Wochenschauen und in Dokumentarfilmen wie Der Marsch zum Führer und Leni Riefenstahls Parteitagsfilmen Der Sieg des Glaubens (1933) und Triumph des Willens (1935). Unter den Filmen, die im In- und Ausland für das nationalsozialistische Deutschland werben sollten, war der im Staatsauftrag produzierte und ebenfalls von Leni Riefenstahl inszenierte zweiteilige Film Olympia anlässlich der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin das erfolgreichste Beispiel. Eine Reihe von biografischen Spielfilmen, die thematisch unter der Überschrift „Große Deutsche“ zusammengefasst werden können, erfüllten jedoch dieselbe Funktion, z. B. Das unsterbliche Herz, Robert Koch, der Bekämpfer des Todes (beide 1939), Friedrich Schiller – Triumph eines Genies (1940), Friedemann Bach (1941), Andreas Schlüter (1942) und Der unendliche Weg (1943). Mit Porträts wie Das große Eis. Alfred Wegeners letzte Fahrt (1936), Joseph Thorak – Werkstatt und Werk (1943) und Arno Breker – Harte Zeit, starke Kunst (1944) griff auch der Kulturfilm das Motiv bereitwillig auf. Die Zahl der Spielfilme mit eindeutig antisemitischem Sprachgebrauch oder Inhalt ist relativ klein; unverhüllten Antisemitismus propagierten die Filme Die Rothschilds und Jud Süß (beide 1940). Wiederum waren es die nichtfiktionalen Genres, in denen die antisemitische Propaganda ihr eigentliches Forum fand, z. B. in Der ewige Jude (1940), aber auch in weniger bekannten Dokumentarfilmen wie Juden ohne Maske (1937), Juden, Läuse, Wanzen (1941) und Aus Lodz wird Litzmannstadt (1941/42). Obwohl diese Filme bis zum Äußersten gingen und sensible Zuschauer leicht erraten konnten, auf welche Maßnahmen diese Propaganda letztlich hinauslief, sucht man nach expliziten Hinweisen auf den bevorstehenden Massenmord in diesen Filmen vergeblich. Im Gegenteil, mit Filmen wie Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet (1945) lenkten die Filmemacher von der politischen Realität noch ab, als Millionen von Juden bereits deportiert oder ermordet waren. Wochenschauaufnahmen, die die unsäglichen Lebensbedingungen im Warschauer Ghetto kurz vor der Deportation der Bewohner in die Vernichtungslager zeigten, wurden zurückgehalten. Andere dunkle Konzepte der nationalsozialistischen Ideologie, wie der Germanenkult oder das Blut-und-Boden-Motiv, fanden ihren filmischen Niederschlag fast ausschließlich in den nichtfiktionalen Genres, z. B. in Hanns Springers Filmepos Ewiger Wald (1936). Ähnliches gilt für das emotional hochbesetzte Thema des überseeischen Kolonialismus bzw. der ehemaligen deutschen Kolonien (von den 1880er Jahren bis 1918), womit sich nur wenige Spielfilme (Die Reiter von Deutsch-Ostafrika, 1934; Ohm Krüger, 1941; Carl Peters, 1941), aber viele Kulturfilme beschäftigten, z. B. Unser Kamerun (1936/37), Der Weg in die Welt (1938) und Sehnsucht nach Afrika (1938). Den bequemsten, am wenigsten auffälligen Einzug in die Spielfilmlandschaft hatte die nationalsozialistische Kriegspropaganda, da das Kriegsfilmgenre beim Publikum noch aus der Zeit des Ersten Weltkrieges gut eingeführt war. Allerdings wurden kriegskritische Filme wie die nicht lange vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten international erfolgreichen Produktionen Westfront 1918 von G. W. Pabst oder die Oscar-prämierte amerikanische Verfilmung des Remarque-Klassikers Im Westen nichts Neues verboten. Bei Letzterem konnte Goebbels ein zeitweiliges Verbot der Aufführung bereits vor der Machtergreifung Hitlers noch während der Weimarer Republik durchsetzen. 3 % der NS-Spielfilme waren Kriegsfilme (33 Filme), darunter viele hoch prädikatisierte Filme wie Der alte und der junge König (1935), Patrioten, Urlaub auf Ehrenwort (beide 1937), Pour le Mérite (1938), Kampfgeschwader Lützow (1939), Der große König (1942) und der Durchhaltefilm Kolberg (1945). Die schärfste Kriegshetze fand sich jedoch wiederum in Dokumentarfilmen wie Der Westwall (1939), Feuertaufe (1939/40) und Feldzug in Polen (1940). Die politische Propaganda im nationalsozialistischen Spielfilm konzentrierte sich weitgehend auf die Themen Opfer, Gefolgschaft, Verherrlichung des Deutschtums, Kriegswerbung und Feindbilder (Engländer, Kommunisten, Juden). Über den genauen Anteil der Propagandafilme an der gesamten Spielfilmproduktion besteht wenig Einigkeit. Von der nationalsozialistischen Filmprüfstelle erhielten 7 % aller vorgelegten Spielfilme das Prädikat „staatspolitisch wertvoll“ oder „staatspolitisch besonders wertvoll“; am höchsten ausgezeichnet wurden die Filme Ohm Krüger, Heimkehr, der Bismarck-Film Die Entlassung und zwei Filme von Veit Harlan: der Fridericus-Rex-Film Der große König und der im Staatsauftrag produzierte Durchhaltefilm Kolberg. Unterhaltungsfilm In den Kurz- und Spielfilmen lassen sich politisch-propagandistische Inhalte grundsätzlich seltener nachweisen als in den nichtfiktionalen Genres. Der Filmhistoriker Gerd Albrecht, der in den späten 1960er Jahren die erste umfangreiche Datenerhebung zum NS-Spielfilm durchführte, bezifferte den Anteil der Propagandafilme an der gesamten Spielfilmproduktion auf 14,1 %. Wenn man ein vollständigeres Sample zugrunde legt, als Albrecht zur Verfügung stand – z. B. hat er keine internationalen Koproduktionen berücksichtigt –, beträgt der Anteil der Propagandafilme sogar nur 12,7 %. Die größte Gruppe innerhalb der Spielfilmproduktion der NS-Zeit bilden die heiteren Filme. 569 Filme – das sind 47,2 % der Gesamtproduktion – lassen sich als Komödie, Verwechslungslustspiel, Schwank, Groteske, Satire oder Ähnliches einstufen. Dass die Zugehörigkeit zum heiteren Genre nicht immer ideologische Unbedenklichkeit garantiert, zeigen etwa die zeitgenössischen Militärkomödien (z. B. Soldaten – Kameraden, 1936), aber auch Lustspiele wie Robert und Bertram (1939) und Venus vor Gericht (1941), in denen starke antisemitische Momente vorhanden sind. In der Mehrzahl der heiteren Filme, für die Die Feuerzangenbowle das bekannteste und noch heute populärste Beispiel bildet, finden sich jedoch kaum Hinweise auf nationalsozialistische Propaganda. Die zweite große Gruppe bilden Filme, die vor allem an ein weibliches Publikum adressiert sind. 508 NS-Spielfilme (42,2 %) sind Liebes- oder Ehefilme bzw. lassen sich einem der verwandten Genres – wie Frauenfilm, psychologischer Film, Sittenfilm, Arztfilm, Schicksalsfilm, Jungmädchenfilm usw. – zuordnen. Auch in dieser Gruppe gibt es Filme, die eine hochbrisante Mischung aus Propaganda und Unterhaltung boten: z. B. Annemarie (1936), Wunschkonzert (1940), Auf Wiedersehn, Franziska (1941) und Die große Liebe (1942). Wunschkonzert und Die große Liebe waren sogar die kommerziell erfolgreichsten Filme der gesamten NS-Zeit. Diesen offensichtlich mit NS-Ideologie angereicherten Filmen stand jedoch wiederum eine Vielzahl von weitgehend unauffälligen Filmen gegenüber, die – wie Der Schritt vom Wege (1939) oder Romanze in Moll (1943) – noch heute ihr Publikum finden. Die Tatsache, dass in der Mehrzahl der NS-Spielfilme offene NS-Propaganda kaum nachzuweisen ist, hat Filmhistoriker und Filmsoziologen immer wieder herausgefordert, in den Unterhaltungsfilmen der Zeit nach Spuren subtiler und verborgener Propaganda zu forschen. Auch den gesellschaftlichen Grundaussagen dieser Filme – z. B. dem Frauenbild – ist besondere Aufmerksamkeit geschenkt worden. Der Erkenntnisgewinn aus diesen Untersuchungen ist insgesamt jedoch gering, denn das Menschenbild der NS-Spielfilme stimmt mit den Vorgaben der nationalsozialistischen Ideologie nur selten eng überein. Die meisten der Hauptfiguren entsprechen dem Typus des Durchschnittsmenschen, der mit den zu Gebote stehenden Mitteln um sein kleines persönliches Glück kämpft und dabei durchaus modernen Werten huldigt. Obwohl in Einzelfällen Frauen als aufopferungsvolle Mütter einer vielköpfigen Kinderschar gezeigt werden (z. B. in Mutterliebe, 1939), ist die Mehrzahl der weiblichen Hauptfiguren kinderlos und berufstätig. Unter den männlichen Hauptfiguren bilden nicht Soldaten und Helden, sondern ganz alltägliche Zivilisten die wichtigste Gruppe, besonders solche Männer, die als Liebhaber zwar etwas ungeschickt und hölzern, dafür jedoch durch und durch nett und verlässlich sind. Eine Idealisierung der Filmfiguren im Sinne des nationalsozialistischen Menschenbildes hätte dem Publikum die Möglichkeit der Identifikation und dem Medium die Attraktivität geraubt. Der hohe Anteil der scheinbar unpolitischen Spielfilme ist nur dann überraschend, wenn man nicht in Rechnung stellt, dass Spielfilme im Kino immer mit einem Beiprogramm aus Wochenschau und Dokumentarfilm gezeigt wurden. Bei alledem sorgten die Unterhaltungsfilme mit ihrer Illusion einer heilen Welt mit Happy End auch in scheinbar aussichtslosen Situationen in den letzten Kriegsjahren für eine gewünschte Zerstreuung und Ablenkung von der immer deutlicher werdenden Alltagsrealität des Krieges. Vor der Situation der Zeit waren diese Filme oft einer subtilen Form der Durchhaltepropaganda geschuldet. Gute Laune sollten auch die Musikfilme verbreiten. Genau beziffern lässt sich diese Gruppe nicht. Zwar können 194 Filme (16,1 %) eindeutig einem musikalischen Genre – wie Musikfilm, Operette, Sängerfilm oder Revuefilm – zugeordnet werden, die Zahl der Filme, in denen gesungen oder getanzt wird oder mit denen ein neuer Schlager herausgebracht werden sollte, ist jedoch beträchtlich höher. Selbst einschlägige Propagandafilme wie Jud Süß (1940), Ohm Krüger (1941) oder Kolberg (1945) hatten ihre musikalischen „Ohrwürmer“. Wenn Liebes- und Ehefilme auf der Skala der Filmgenres den weiblichen Pol markieren, so findet man am „männlichen“ Ende die aktionsbetonten Genres. 333 NS-Spielfilme (27,6 %) sind Abenteuer-, Kriminal-, Kriegs-, Spionage- oder Sensationsfilme. Der Anteil der Propagandafilme ist in dieser Gruppe auffällig hoch, es sind 75 Einzelfilme, also fast ein Viertel aller vornehmlich für ein männliches Publikum produzierten Spielfilme. Am stärksten belastet sind die Kriegs- und Spionagefilme. Kriminalfilme dienen in Einzelfällen (z. B. Im Namen des Volkes, 1939) propagandistischen Zwecken und suchen die Ursache für Verbrechen grundsätzlich eher in der charakterlichen Veranlagung der Täter als in ihrer sozialen Situation; diese Dramaturgie ist jedoch keine Besonderheit des NS-Kinos; in den Kriminalfilmen der präfaschistischen und der Nachkriegszeit findet man sie ebenso. Am niedrigsten ist der Anteil der Propagandafilme bei den Abenteuer- und Sensationsfilmen, in denen die eskapistischen Momente überwiegen und deren Protagonisten – z. B. Hans Albers, Harry Piel und Luis Trenker – zu den populärsten männlichen Stars des NS-Kinos zählten. Eine vierte große Gruppe von Unterhaltungsfilmen wird durch die Heimatfilme begründet, die in den 1950er Jahren angesichts von mehr als 14 Millionen Vertriebenen zwar zusätzliche emotionale Bedeutung erlangten, als Genre jedoch keine Neuigkeit waren. 179 NS-Spielfilme (14,8 %) sind im Hochgebirgs- oder Dorfmilieu angesiedelt, darunter klassische Heimatfilme wie Der Jäger von Fall (1936), Der Edelweißkönig (1938) und Die Geierwally (1940). Fast 90 % dieser Filme weisen keine offene Propaganda auf. Eine Sondergruppe stellen die Filmbiografien und Historienfilme dar, die an der Spielfilmproduktion der NS-Zeit einen Anteil von 5,9 % haben. Auffällig viele dieser Filme besitzen politisch-propagandistischen Charakter; fast alle der 19 Historienfilme, von denen viele den preußischen Königshof zum Schauplatz haben, nutzen die Gelegenheit zu einer Geschichtslektion im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie. Von den 52 Filmbiografien enthält fast jede zweite propagandistische Elemente, bilden die Helden dieser Filme in ihrer Gesamtheit doch sozusagen eine „Hall of Fame“ von – in den Augen der nationalsozialistischen Machthaber – herausragenden Deutschen. Obwohl Filmbiografien und Historienfilme von den Nationalsozialisten besonders häufig als Propagandamedium genutzt worden sind, sind sie andererseits keine Erfindung des NS-Kinos, sondern Teil einer langen Tradition des Genres, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg einsetzt, weit in die Geschichte des Nachkriegsfilms hinein reicht und keineswegs auf Deutschland beschränkt war. (Die Zahlen in diesem Abschnitt summieren sich zu mehr als 100 % auf, weil die meisten Filme mehreren Genres gleichzeitig angehören.) Starsystem und Medienverbund Im Deutschen Reich hatte es vor 1933 zwar Filmstars gegeben, das Starsystem jedoch steckte – vor allem im Vergleich zu Hollywood – noch in den Kinderschuhen. Um das Image des Hitler-Reiches aufzubessern, trieb Goebbels die Entwicklung des Starsystems massiv voran. Dies gelang nicht auf Anhieb, da viele Filmgrößen nicht bereit waren, sich der Diktatur zur Verfügung zu stellen. Marlene Dietrich hatte das Reich ebenso verlassen wie die erfolgreichen Regisseure Ernst Lubitsch, Georg Wilhelm Pabst, Fritz Lang und Billy Wilder. Sowohl Marlene Dietrich, die das NS-Regime offen ablehnte, als auch die im Reich ebenfalls erfolgreiche Schwedin Greta Garbo ließen sich trotz verlockender Angebote von Joseph Goebbels nicht als Galionsfiguren vorspannen. Andere, wie Heinrich George oder Gustaf Gründgens, die der Hitler-Diktatur anfangs ebenfalls unverhohlen kritisch gegenübergestanden hatten, ließen sich schließlich doch auf eine Zusammenarbeit ein. Wieder andere Stars wurden neu aufgebaut. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist die Schwedin Zarah Leander, die 1937 von der Ufa verpflichtet wurde und sich innerhalb weniger Jahre zur prominentesten und bestbezahlten Filmschauspielerin in Deutschland entwickelte. Den Werbefeldzug für Zarah Leander führte die Pressestelle der Ufa. Ihre früheren, in Schweden produzierten Filme wurden verschwiegen; es wurde gleich auf ihren Nimbus als Gesangsstar gesetzt. Die Presse wurde durch vorverfasste Personenbeschreibungen darüber informiert, wie der neue Star zu präsentieren sei. Zarah Leander wurde detailliert angewiesen, wie sie in der Öffentlichkeit aufzutreten habe. Spielfilme dienten sehr oft auch als Werbemaßnahmen für neue Schlager. Nicht nur Zarah Leander, auch andere populäre Filmstars – wie Hans Albers, Marika Rökk, Johannes Heesters, Ilse Werner, sogar Heinz Rühmann – bescherten der Schallplattenindustrie Rekordumsätze. Die Filmstars nahmen durch Platteneinspielungen oft mehr Geld ein als mit ihren Filmgagen. Manche Schlager – wie Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n und Davon geht die Welt nicht unter (beide von Zarah Leander 1942 in Die große Liebe gesungen) – wurden gezielt in Umlauf gebracht, da sie neben ihrer sentimentalen Bedeutung auch einen politischen Subtext besaßen, der als Slogan im Sinne der nationalsozialistischen Durchhaltepolitik genutzt wurde. Filmstars waren im Alltagsleben nicht nur durch Film und Schallplatte, sondern auch im Hörfunkprogramm des Großdeutschen Rundfunks allgegenwärtig. Sogar im Programm des Fernsehsenders Paul Nipkow, der im Großraum Berlin seit 1936 ein regelmäßiges Programm ausstrahlte, hatten Filme und Filmstars ihren festen Platz. Darüber hinaus schloss der Medienverbund auch Printmedien wie Künstlerpostkarten, die überaus populären Zigarettensammelbilder und den täglich erscheinenden Illustrierten Filmkurier ein, der in vielen Haushalten die Tageszeitung ganz ersetzte. Wie untrennbar das NS-Kino mit anderen Medien verwoben war, zeigt z. B. der Erfolgsfilm Wunschkonzert, in dessen Mittelpunkt eine reale Berliner Schlagerveranstaltung steht, die während des Krieges allwöchentlich im Hörfunk übertragen wurde. Ein Novum in der Selbstdarstellung von Politik war, dass hochrangige Politiker wie Hitler, Goebbels und Göring sich in der Öffentlichkeit mit Filmstars präsentierten. Besonders die weiblichen Stars sollten dem männerbündischen Charakter der nationalsozialistischen Veranstaltungen Glamour verleihen. Zu Hitlers bevorzugten Tischdamen gehörten Olga Tschechowa und Lil Dagover. Hermann Göring heiratete 1935 die beliebte Schauspielerin Emmy Sonnemann. Auch über Joseph Goebbels’ Beziehungen zu prominenten Filmschauspielerinnen sind zahlreiche Einzelheiten überliefert. Die persönliche Nähe zur politischen Führung bestimmte oftmals darüber, ob Karrieren gefördert oder gebremst wurden. Renate Müller zum Beispiel machte sich Goebbels zum persönlichen Feind. Es gab Listen, die darüber entschieden, wie häufig ein Darsteller eingesetzt wurde. Es gab fünf Kategorien. Diese reichten von „Unter allen Umständen ohne Vakanz zu besetzen“ (z. B. Zarah Leander, Lil Dagover, Heinz Rühmann) bis zu „Einsatz unter keinen Umständen mehr erwünscht“. Wie wichtig die Filmstars für das Image des nationalsozialistischen Regimes waren, wird auch daraus ersichtlich, dass Hitler 1938 Steuererleichterungen für prominente Künstler (Filmschauspieler und Regisseure) erließ, die von da an 40 % ihrer Einnahmen als Werbekosten absetzen konnten. Der Krieg bewirkte eine Profanierung des Images der Stars. Sie traten im Rahmen der Truppenbetreuung auf kleinen Frontbühnen auf und sammelten auf der Straße fürs Winterhilfswerk. Obwohl die meisten männlichen Filmstars unabkömmlich gestellt waren, gab es auch Schauspieler wie z. B. Heinz Rühmann, die – von Drehteams der Wochenschau begleitet – an militärischen Lehrgängen teilnahmen. An die Front geschickt wurden Filmkünstler nur, wenn sie sich missliebig gemacht hatten. Personalpolitik Jede Tätigkeit in den Bereichen Filmproduktion, Verleih und Kino war seit 1933 an die Mitgliedschaft in der Reichsfachschaft Film der Reichsfilmkammer gebunden. Diese Behörde diente neben der Kontrolle der in der Filmindustrie Tätigen vor allem dem Ausschluss unerwünschter Personen. In einem Fragebogen mussten die Bewerber Angaben nicht nur zu ihrer politischen Vorgeschichte (z. B. Parteimitgliedschaften), sondern auch zu ihrer „rassischen Abstammung und Religion“ – einschließlich der ihrer Ehepartner, Eltern und Großeltern – machen. Die Angabe „jüdisch“ bzw. ein vorausgegangenes Engagement in einer linken Partei oder Organisation führte fast immer zur Ablehnung des Bewerbers. Die Nichtaufnahme in die Reichsfachschaft Film bzw. der Ausschluss aus ihr kam einem Berufsverbot gleich. Es wird geschätzt, dass die Zahl der auf diese Weise arbeitslos gewordenen Personen mehr als 3000 betrug. Viele davon gingen ins Ausland, andere wurden verhaftet oder deportiert. Bei sehr populären Künstlern wurde in Einzelfällen eine Sondergenehmigung erteilt. Die Weiterarbeit ermöglichte Goebbels etwa den Regisseuren Kurt Bernhardt und Reinhold Schünzel, dem Schauspieler Horst Caspar und dem Sänger Jan Kiepura. Wegen ihrer „Mischehen“ waren auch die Schauspieler Paul Bildt, Karl Etlinger, Paul Henckels, Wolfgang Kühne, Theo Lingen, Hans Moser, Heinz Rühmann, Wolf Trutz und Erich Ziegel und der Regisseur Frank Wysbar auf eine Sondererlaubnis angewiesen. Bei Gustaf Gründgens wurde über dessen Homosexualität und sozialistische Vergangenheit ebenso hinweggesehen wie über Heinrich Georges frühere KPD-Mitgliedschaft. Manche Regisseure, die politisch bisher nicht eingeordnet werden konnten oder deren bisherige Filme zwar von nationalsozialistischen Vorstellungen abwichen, aber künstlerisch und kommerziell sehr erfolgreich waren, wurden zu einem filmischen „Treuebekenntnis“ aufgefordert. Hierbei wurden die Regisseure zur Inszenierung eines in jeder Hinsicht der nationalsozialistischen Ideologie entsprechenden Filmes aufgefordert, oder es wurde ihnen unmissverständlich nahegelegt, solch einen Film herzustellen. Erfüllten die Regisseure ihre „Aufgabe“, konnten sie ihre Karriere im Reich bis auf weiteres fortsetzen. Weigerten sie sich, so war ihre Karriere vorbei, und es folgte häufig die Einberufung an die Front. So geschehen bei Werner Hochbaum, der Drei Unteroffiziere, ein Loblied auf soldatische Pflichterfüllung, inszenieren sollte, den Film aber mit kritischen Untertönen unterlegte. Auch Peter Pewas ereilte dieses Schicksal. Carl Junghans wiederum weigerte sich auf andere Weise, einen „linientreuen“ Film herzustellen. Bei Einreichung von Altes Herz geht auf die Reise (1938) wurde ihm ein NS-Propagandist zur Seite gestellt, der das Drehbuch entsprechend überarbeitete, woraufhin Junghans die Drehgenehmigung erteilt wurde. Junghans wagte dennoch mit der Originalversion des Drehbuchs zu arbeiten, was bei der internen Uraufführung auch durchschaut wurde. Er floh daraufhin umgehend über die Schweiz in die Vereinigten Staaten. Ein letzter Ausweg für Filmschaffende, die nicht mit dem Nationalsozialismus kooperieren wollten, war die Einstellung oder Einschränkung der Tätigkeit beim Film. Dies erforderte zumeist das Abtauchen in den Untergrund, um auch der Einberufung zum Kriegsdienst zu entgehen, was natürlich eine anstrengende und riskante Methode war. Der gefragten Kostümdesignerin Gerdago gelang es, so den Nationalsozialisten zu entkommen. Andere Künstler traf die Politik in ihrer ganzen Wucht. Joachim Gottschalk z. B. beging 1941 mit seiner ganzen Familie Selbstmord, weil seine Frau, die Schauspielerin Meta Wolff, ins Konzentrationslager deportiert werden sollte. Ein ähnliches Schicksal erlitten der Drehbuchautor Walter Supper und seine Frau. Um einer angekündigten Deportation zuvorzukommen, gingen auch zwei weitere Schauspieler – Paul Otto und Hans Henninger – in den Freitod; Ersterer wurde als Jude verfolgt, Letzterer wegen seiner Homosexualität. Der Schauspieler Theodor Danegger und der Schlagertexter Bruno Balz saßen wegen homosexueller Handlungen zeitweilig in Haft. Im KZ oder auf der Deportation dorthin starben die Schauspieler Ernst Arndt, Eugen Burg, Max Ehrlich, Kurt Gerron, Fritz Grünbaum, Kurt Lilien, Paul Morgan und Otto Wallburg und der Regisseur Hans Behrendt. Hingerichtet bzw. von Nationalsozialisten ermordet wurden die Schauspieler Horst Birr, Robert Dorsay, Hans Meyer-Hanno und Hans Otto. Auf der anderen Seite wurden politisch linientreue Künstler gelegentlich mit hohen Posten in der Filmbürokratie belohnt. Zu höchsten Ehren gelangte auf diese Weise z. B. der Regisseur Carl Froelich, der seit 1937 den Kunstausschuss der Ufa leitete und seit 1939 als Präsident der Reichsfilmkammer vorstand. Der Schauspieler und Regisseur Wolfgang Liebeneiner durfte nicht nur die Reichsfachschaft Film, sondern auch die künstlerische Fakultät der Deutschen Filmakademie Babelsberg leiten. Auch die Regisseure Fritz Hippler und Willi Krause und der Schauspieler Carl Auen übten hohe Ämter aus. Andere, wie der Regisseur Karl Ritter und die Schauspieler Eugen Klöpfer, Paul Hartmann und Mathias Wieman, wurden in den Aufsichtsrat der Ufa berufen. Heinrich George, Gustaf Gründgens, Karl Hartl, Heinz Rühmann und andere nahmen in der Filmindustrie als Herstellungsleiter zeitweilig einflussreiche Positionen ein. Wenn die Zahl der vakanten Posten nicht ausreichte, konnte – wie im Falle von Veit Harlan – auch ein Professorentitel verliehen werden. Viele Propagandafilme wurden als Staatsauftragsfilme produziert, und Joseph Goebbels hat sich in praktische Produktionsfragen wie z. B. die Rollenbesetzung häufig direkt eingeschaltet. Welchem Druck Filmregisseure in der NS-Zeit wirklich ausgesetzt waren, ist unter Filmhistorikern heute jedoch umstritten. Neben politisch angepassten oder eindeutig für den Nationalsozialismus eintretenden Regisseuren, die – wie Fritz Peter Buch, Carl Froelich, Wolfgang Liebeneiner, Herbert Maisch, Johannes Meyer, Heinz Paul, Karl Ritter, Hans Steinhoff, Gustav Ucicky und Veit Harlan – bereitwillig immer wieder Propagandafilme inszeniert haben, gab es auch solche, die gar keine Propagandafilme gedreht haben, darunter z. B. Boleslaw Barlog, Harald Braun, Erich Engel, Willi Forst, Carl Hoffmann, Theo Lingen, Karl Heinz Martin, Harry Piel, Reinhold Schünzel und Detlef Sierck. Obwohl die meisten NS-Spielfilme auf künstlerische Experimente und Innovationen vollständig verzichteten, gingen manche Regisseure – wie Géza von Bolváry, Erich Engel, Arnold Fanck, Gustaf Gründgens, Rolf Hansen, Wolfgang Liebeneiner, Arthur Maria Rabenalt, Detlef Sierck, Herbert Selpin, Hans Steinhoff, Gustav Ucicky, Viktor Tourjansky, Paul Verhoeven und Frank Wysbar – wiederholt doch über das Mittelmaß hinaus. Wie die künstlerisch überaus interessanten Filme von Helmut Käutner beweisen, hatten Regisseure auch innerhalb der engen Vorgaben der NS-Filmpolitik weitaus mehr Freiheit, als die meisten Zeitgenossen in Anspruch zu nehmen gewagt haben. Expansion der Filmindustrie Mit der Expansion des Reiches erlangte die Reichsfilmindustrie neue Absatzmärkte. Die Produktionseinrichtungen der besetzten Länder wurden, wo immer es lohnend erschien, geraubt und reichsdeutschen Unternehmen einverleibt; einheimische Künstler wurden vielfach zwangsverpflichtet und in den Dienst der großdeutschen Propaganda gestellt. Noch vor dem Anschluss 1938 wurde das deutsche Österreich das erste Land in Europa, dessen Filmindustrie unter den direkten Einfluss der Politik Hitlers geriet. Bereits am 20. April 1936 wurden die Bestimmungen über den Film und seine Mitwirkenden fast eins zu eins auf den deutschen Film aus Österreich umgelegt. Die Reichsfilmkulturkammer unterzeichnete mit dem Bund österreichischer Filmproduzenten in Berlin einen dementsprechenden Vertrag. Von Beginn an setzte das nationalsozialistische Regime das austrofaschistische Regime in Österreich unter Druck, im Reich missliebige Personen von der Mitarbeit am Film abzuhalten. Als stärkstes Druckmittel wurde die Androhung eines totalen Importverbotes eingesetzt, wobei bereits ab 1934 ohnehin sämtlichen Filmen von im Reich missliebigen Personen die Einfuhr verweigert wurde. Die größte österreichische Filmproduktionsgesellschaft, die Wiener Tobis-Sascha Film AG, die sich bereits vor 1938 nach Androhung eines Verbotes, ins Reich zu exportieren, zur Umsetzung der antijüdischen Politik Hitlers gezwungen sah und keine jüdischen Künstler mehr beschäftigte, wurde als Wien-Film GmbH neu gegründet. Da die Cautio Treuhandgesellschaft in Kooperation mit der Creditanstalt bereits einige Monate zuvor die Aktienmehrheit an der Tobis-Sascha erworben hatte, war diese Übernahme praktisch legal. Wien wurde danach neben Berlin und München mit Regisseuren wie Willi Forst, Gustav Ucicky, Hans Thimig, Leopold Hainisch und Géza von Cziffra zu einem Zentrum der nationalsozialistischen Filmproduktion. Vielbeschäftigte Schauspieler waren hier etwa Paula Wessely, Marte Harell, Hans Moser sowie Attila und Paul Hörbiger. Es entstanden rund 50 Spielfilme sowie 60 Kulturfilme. (Siehe auch Geschichte des frühen österreichischen Tonfilms.) Auf die Heimat Hitlers Österreich folgte die Tschechoslowakei, die am 30. September 1938 zunächst das gesamte von Deutschen besiedelte Grenzgebiet an das Großdeutsche Reich völkerrechtlich verbindlich abtreten musste und deren verbliebenes Staatsgebiet der Diktator am 15. März 1939 von Wehrmachtstruppen besetzen ließ und den tschechischen Teil zum Protektorat Böhmen und Mähren erklärte. Das tschechische Produktionsunternehmen AB-Filmfabrikations AG mit seinen berühmten Atelieranlagen in Barrandov und Hostivař wurde „arisiert“ und am 21. November 1941 in die Prag-Film AG umgewandelt, die – meist mit einheimischen Regisseuren – von 1942 an als Filiale des Ufi-Konzerns deutsch- und tschechischsprachige Filme produzierte. Nur zwei tschechische Unternehmen – National Film und Lucernafilm – durften weiterarbeiten. Als während des Bombenkrieges Filmaufnahmen im Reich immer schwieriger wurden, wurde Prag für die deutsche Filmproduktion eine unverzichtbare Ausweichadresse. Die polnische Filmindustrie hörte nach dem Einmarsch der Wehrmacht am 1. September 1939, der Besetzung des Landes und der Einrichtung des Generalgouvernements offiziell auf zu existieren; die Künstler gingen in den Untergrund, die Filmproduktion wurde gänzlich eingestellt. (Siehe auch Polnische Filmgeschichte.) Am 9. April 1940 besetzte die Wehrmacht auf Befehl Hitlers auch Dänemark, dessen Filmindustrie von der Reichsfilmpolitik weitgehend unberührt blieb. Deutsche Filme wurden vom dänischen Publikum stillschweigend boykottiert. Die Filmwirtschaft des Nachbarlandes Norwegen war zum Zeitpunkt der deutschen Besetzung zu wenig entwickelt, als dass sie bei den Besatzern Interesse hätte erregen können. Die wenigen aktiven norwegischen Filmregisseure konnten fast ungestört weiterarbeiten. Am 10. Mai 1940 folgte die Besetzung der Benelux-Staaten. In den Niederlanden wurden die drei aktiven Ateliers, die durch die Fluchtwelle aus Nazi-Deutschland bis dahin geblüht hatten, der Ufa einverleibt, die keine holländischen Filme drehte und die Einrichtungen für eigene Zwecke nutzte. Viele niederländische Regisseure verließen das Land. Die belgische Filmindustrie war trotz ihrer bedeutenden Dokumentarfilmschule ebenso wie die norwegische zu wenig entwickelt, um bei den Besatzern Begehrlichkeiten zu wecken. Die Weiterarbeit der Filmleute wurde weitgehend toleriert. Frankreich zerfiel nach der militärischen Niederlage und dem Waffenstillstand von Compiègne am 22. Juni 1940 in einen besetzten Teil und den unbesetzt gebliebenen Marionettenstaat von Vichy. In Vichy-Frankreich wurde die Industrie zwar nach dem Muster des faschistischen Italien reorganisiert, die südfranzösische Filmindustrie mit ihrem Hauptstandort Nizza konnte ihre Arbeit jedoch weitgehend uneingeschränkt fortsetzen. In Paris und dem gesamten Norden Frankreichs hingegen regierte das deutsche Militär. Dieser Landesteil wurde mit synchronisierten deutschen Wochenschauen und Spielfilmen überschwemmt. Anfang 1941 wurde die Continental Film gegründet, ein Tochterunternehmen von Ufa und Tobis, das über alle Filmateliers im Großraum Paris verfügte und das bis zur Befreiung des Landes 27 französischsprachige Filme produzierte. (Siehe auch Französische Filmgeschichte.) Mit der Fortführung des Expansionskrieges 1941 auf das Gebiet der UdSSR erlangte die nationalsozialistische Führung Zugriff auch auf sowjetische Filmproduktionsanlagen, vor allem im lettischen Riga, im estnischen Reval (heute: Tallinn) und im ukrainischen Kiew. Die beschlagnahmten Einrichtungen wurden in den Besitz der im November 1941 gegründeten Zentralfilmgesellschaft Ost überführt, die von Berlin aus die Filmpropaganda in den besetzten sowjetischen Gebieten organisierte. (Siehe auch Russische Filmgeschichte.) Umgang mit der NS-Filmpropaganda nach 1945 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, dem Tod des Diktators und der Zerschlagung der NS-Diktatur leiteten die alliierten Siegermächte im Rahmen der Entmilitarisierung, Demokratisierung und Entnazifizierung des besetzten Landes verschiedene Programme zur Ausschaltung der noch verbliebenen nationalsozialistischen Ideologie ein. Unter anderem unterzog das Oberkommando der Alliierten alle im Umlauf befindlichen deutschen Filme einer Zensur und stellte dabei 19 % der Spielfilme unter Aufführungsverbot, weil ihre Prüfungskommission sie als NS-Propaganda einstufte. Gerd Albrecht hat den Anteil der Propagandafilme an der gesamten Spielfilmproduktion auf 14,1 % beziffert. Während der Anteil bis 1939 11 % betrug, stieg er im Zeitraum 1940–42 – also nach Beginn des Zweiten Weltkrieges – auf 24 % an und ging in der zweiten Hälfte des Krieges auf 6 % zurück. Die Erklärungsansätze für den 1942 erfolgten Umschwung in der Filmpolitik konzentrieren sich auf die Vermutung, dass das Publikum inzwischen propagandamüde war und dass ein Kino, das gute Laune verbreitete, unter den Lebensbedingungen des beginnenden Bombenkrieges selbst eine bessere Werbung für das NS-Regime darstellte als jeder Propagandafilm. Die meisten der von den alliierten Besatzungsbehörden verbotenen Filme erhielten in der 1949 neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland eine FSK-Freigabe. Eine kleine Zahl so genannter Vorbehaltsfilme – darunter viele Kriegsfilme und alle antisemitischen Propagandafilme – ist der Öffentlichkeit weiterhin nur eingeschränkt zugänglich. Siehe auch Deutscher Film (Filme der NS-Zeit) Österreichische Filmgeschichte (Die Wien-Film in der NS-Zeit) Kinder- und Jugendfilm im Nationalsozialismus Liste bekannter Darsteller des deutschsprachigen Films (Schauspieler der NS-Zeit) Liste deutscher Filmregisseure (Regisseure der NS-Zeit) Liste bekannter deutschsprachiger Emigranten und Exilanten (1933–1945) Liste der am höchsten prädikatisierten NS-Spielfilme Liste der im Nationalsozialismus verbotenen Filme Liste der unter alliierter Militärzensur verbotenen deutschen Filme Liste der während der Zeit des Nationalsozialismus im Deutschen Reich gezeigten US-amerikanischen Spielfilme Literatur Gerd Albrecht: Nationalsozialistische Filmpolitik. Eine soziologische Untersuchung über die Spielfilme des Dritten Reichs. Enke, Stuttgart 1969. Alfons Maria Arns: „Das verruchte Erbe“. Die Filme des „Dritten Reichs“ in ihrer Einheit von Propaganda und Unterhaltung. 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Carl Peter Thunberg
Carl Peter Thunberg (* 11. November 1743 in Jönköping; † 8. August 1828 auf Tunaberg bei Uppsala) war ein schwedischer Mediziner und Naturforscher. Er leistete bedeutende Beiträge zur botanischen und entomologischen Erforschung der südafrikanischen Kapregion sowie Japans. Sein offizielles botanisches Autorenkürzel lautet „“. In der Zoologie wird „“ als Autorenname verwendet. Nach seinem Studium an der Universität Uppsala wurde Thunberg, gefördert durch Carl von Linné, nach Paris geschickt, um dort seine medizinischen Kenntnisse zu vervollkommnen. Bei einem Zwischenaufenthalt in Amsterdam bei Johannes und Nicolaas Laurens Burman entstand die Idee, Thunberg zur japanischen Handelsstation der Niederländischen Ostindien-Kompanie auf der Insel Dejima zu entsenden. Nachdem die Finanzierung der Reise durch einflussreiche Amsterdamer Bürger sichergestellt war, trat Thunberg für sieben Jahre in deren Dienst. Nach einem knapp dreijährigen Aufenthalt in der niederländischen Kapkolonie (Südafrika) verbrachte Thunberg anderthalb Jahre in Japan. Auf dem Rückweg forschte er für kurze Zeit in Batavia (Indonesien) und auf Ceylon (Sri Lanka). Nach fast neunjähriger Abwesenheit kehrte Thunberg nach Uppsala zurück. Dort war er in verschiedenen Positionen Nachfolger von Carl von Linné dem Jüngeren, zunächst als botanischer Demonstrator am Botanischen Garten von Uppsala, später als ordentlicher Professor der Medizin und Botanik. Es entstanden die Florenwerke Flora Japonica (1784) und Flora Capensis (1823), deren botanische Systematik auf Linnés Sexualsystem der Pflanzen beruht. Sein von 1788 bis 1793 veröffentlichter Reisebericht Resa uti Europa, Africa, Asia, förrättad åren 1770–1779 wurde in mehrere Sprachen übersetzt, darunter ins Deutsche. Von 1780 bis 1828 wurden unter Thunbergs Vorsitz knapp 300 Dissertationen verteidigt. Thunberg ist Erstbeschreiber zahlreicher botanischer und zoologischer Taxa. Leben Herkunft und Ausbildung Carl Peter Thunberg wurde in Jönköping in der südschwedischen Landschaft Småland geboren. Er war der Sohn von Johan Thunberg († 1751) und dessen Frau Margareta, geborene Starkman. Sein Vater war Buchhalter der Eisenhütte von Hörle und betrieb nebenher einen kleinen Handel, den seine Mutter nach dem Tod ihres Mannes weiterführte. 1753 heiratete Thunbergs Mutter den Kaufmann Gabriel Forsberg (1722–1788), wodurch sich die finanzielle Situation der Familie verbesserte. Ursprünglich sollte Thunberg zu einem Kaufmann in die Lehre geschickt werden. Auf Anraten seines Lehrers besuchte er dann aber ab dem zwölften Lebensjahr die Trivialschule. Thunbergs Eltern ermöglichten ihm darüber hinaus Privatunterricht beim Theologen, Philologen und Konrektor Håkan Sjögren (* 26. Januar 1727; † 20. März 1815), später Dekan am Dom zu Växjö. Am 17. September 1761 wurde Thunberg an der Universität Uppsala immatrikuliert. Aufgrund seiner Herkunft trat er der Smålands nations Kamratförening bei, der Carl von Linné seit 1744 vorstand. Neben dem Studium unterrichte Thunberg die Kinder des Akademiebeamten und seines späteren Schwiegervaters Gabriel Ruda (1726–1798). Als Anwärter der Philosophie (Cand. phil.) verteidigte er am 2. Juni 1767 unter dem Vorsitz von Linné die Dissertation mit dem Titel Venae Resorbentes. Mit seiner zweiten Dissertation De Ishiade (Über Ischias) vom 28. Juni 1770 unter dem Anatomen Jonas Sidrèn (1723–1799) erlangte er den akademischer Grad eines Lizenziaten der Medizin. Amsterdam und Paris Um seine Studien im Ausland fortzusetzen zu können, erhielt Thunberg aufgrund einer Empfehlung durch Linnè ein Stipendium Kåhreanum aus dem 1684 von Gudmund Kåhre (?–1689) gestifteten Stipendienfond. Von Uppsala aus begab er sich nach Stockholm und blieb anschließend eine Zeitlang in Jönköping. Über Helsingborg gelangte Thunberg nach Helsingør, wo er auf seine Schiffspassage nach Amsterdam wartete und zwischenzeitlich Kopenhagen aufsuchte. Am 18. September 1770 begann die Überfahrt nach Amsterdam. Am 1. Oktober 1770 landete er auf der Insel Texel an und erreichte vier Tage später schließlich Amsterdam. Hier verkehrte Thunberg im Haus von Johannes Burman, Professor der Medizin und Botanik am Athenaeum Illustre Amsterdam (bei dem Linné 1735 zu Gast gewesen war und dort sein Werk Bibliotheca Botanica fertiggestellt hatte), und dessen Sohn Nicolaas Laurens Burman (der unter Linné studierte). Er hatte dort Zugang zu Burmans naturhistorischer Sammlung und der Bibliothek. In der Sammlung bestimmte er für die Burmans zahlreiche Minerale, Insekten und Pflanzen, hauptsächlich Gräser und Moose. Thunberg beeindruckte die Burmans mit seinen Fertigkeiten. Es entstand die Idee, Thunberg zu einer der entlegenen Handelsstationen der Niederländischen Ostindien-Kompanie (Vereenigde Oostindische Compagnie, VOC) zu entsenden. Während seines Aufenthaltes besuchte Thunberg den von David van Royen geleiteten Hortus Botanicus in Leiden und unternahm einen Ausflug nach Den Haag. Am 26. Oktober schiffte er sich ein, um seine Reise nach Paris fortzusetzen. Sie führte ihn über Texel und Le Havre nach Rouen. Dort stattete er dem dortigen Jardin des Plantes einen Besuch ab und traf dessen Leiter, den Arzt und Botaniker Amable Guy Bertrand Pinard (1713–1796). Am 1. Dezember 1770 traf Thunberg schließlich in Paris ein. Während seines über sieben Monate währenden Aufenthaltes in Paris vertiefte Thunberg seine medizinischen Kenntnisse über Anatomie, Chirurgie und Geburtshilfe. In Paris erreichte Thunberg ein auf den 24. März 1771 datierter Brief, in dem Nicolaas Burman ihm anbot, im kommenden Herbst nach Japan zu reisen. Thunberg informierte sogleich Linné über dieses Angebot und erbat seinen Rat. In seiner Antwort drängte Linné ihn, sich auf die Reise zu begeben, da noch nie ein Botaniker, der sich zum Linnéschen System der Pflanzen bekennt, dort gewesen sei. Linné erwähnte einige Pflanzen, über die er gern mehr Kenntnisse hätte: Sie entstammten dem fünften Teil von Engelbert Kaempfers Amoenitatum exoticarum (1712), der sich zwischen 1690 und 1692 in Japan aufgehalten hatte. Thunberg plante daraufhin, bis zum Juli in Paris zu bleiben, um die hiesigen Gärten, beispielsweise den Jardin du Roi, und die Pariser Umgebung zu erforschen. Am 18. Juli 1771 verließ er Paris in Richtung Rouen. Bei seiner Ankunft am 30. August 1771 in Amsterdam hießen ihn die Burmans herzlich willkommen. Vorbereitung der Japanreise Inzwischen konnten die Burmans mehrere einflussreiche Amsterdamer Bürger für die Finanzierung von Thunbergs Reise nach Japan gewinnen: Egbert Vrij Temminck (* 22. Dezember 1706; † 27. Juni 1785):Direktor der Niederländischen Westindien-Kompanie von 1738 bis 1742, Direktor der Ostindien-Kompanie von 1742 bis 1785, Bürgermeister von Amsterdam von 1749 bis 1784, Kommissar des Amsterdamer Hortus Medicus von 1766 bis 1784. David ten Hoven (* 8. März 1724; † 27. Juni 1787):Kaufmann, Amsterdamer Regierungsbeamter und Schwager von Temminck; siehe Gattung Hovenia Jan van de Poll Pietersz (* 9. September 1726; † 16. August 1781):Direktor der Sociëteit van Suriname von 1770 bis 1781, Bürgermeister von Amsterdam 1779; siehe Gattung Pollia Jean Deutz (* 9. Dezember 1743; † 29. Januar 1784):Jurist, Amsterdamer Regierungsbeamter, Direktor der Sociëteit van Suriname von 1782 bis 1784; siehe Gattung Deutzia Da es nur Mitgliedern der Niederländischen Ostindien-Kompanie gestattet war, Japan zu betreten, begann Thunberg am 30. September 1771 seinen Dienst in der Kompanie. Er bekleidete den Rang eines Ondermeester (außerordentlicher Chirurg) mit einem monatlichen Gehalt von 22 Gulden. Die nötigen Kenntnisse der niederländischen Sprache sollte Thunberg bei einem längeren Aufenthalt in der Kapkolonie erwerben. Ausgestattet mit Empfehlungsschreiben, unter anderem von Pieter van Reede van Oudtshoorn (* 8. Juli 1714; † 23. Januar 1773) an den dortigen Gouverneur Ryk Tulbagh, brach er am 10. Dezember 1771 erneut nach Texel auf. An Bord der Schoonzigt, die vom schwedischen Kapitän Jan Rodecrantz befehligt wurde, verließ er am 30. Dezember 1771 den Hafen von Texel. Niederländische Kapkolonie (1772 bis 1775) Nach einer etwa dreieinhalb Monate dauernden Überfahrt ging der Schiffskonvoi am 16. April 1772 in der Tafelbucht vor Anker. Am darauffolgenden Tag ging Thunberg mit dem Kapitän an Land und bezog Quartier bei Hendrik Fehrsen. Er machte dem Vize-Gouverneur Joachim van Plettenberg, der nach dem Tod von Tulbagh geschäftsführend im Amt war, seine Aufwartung und übergab ihm sein Empfehlungsschreiben. Plettenberg sagte ihm für die geplanten Unternehmungen seine Unterstützung zu. Thunberg verbrachte den Winter in Kapstadt und machte sich mit dem Ort und dessen unmittelbarer Umgebung bekannt. Unerwartet traf er auf seinen Landsmann Anders Sparrman, der vier Tage vor ihm angekommen war und mit dem er kleinere Sammeltouren unternahm. Thunberg suchte den Superintendenten des Gartens der Niederländischen Ostindien-Kompanie in Kapstadt Johan Andreas Auge auf, der den Entdecker Hendrik Hop (1716–1771) von 1761 bis 1762 in die Karasberge und das Namaqualand begleitete. Im Juni und Juli besuchte er unter anderem die Weinberge von Paarl, unternahm Spaziergänge nach Constantia und Stellenbosch. Außerdem erklomm er mehrmals den Tafelberg. Erste Reise (1772 bis 1773) Im August, als sich der Winter seinem Ende näherte, begann Thunberg mit den Vorbereitungen für die erste Reise ins Landesinnere. Er besorgte Kisten und Beutel für Zwiebeln und Samen, Schachteln und Stecknadeln für Insekten, ein Arrakfässchen für Schlangen und Amphibien, Baumwolle, um Vögel auszustopfen, und Kisten, um diese darin einzupacken, sowie grobes Papier zum Trocknen von Pflanzen. Seine Equipage bestand aus einem Reitpferd und einem mit Segeltuch bedeckten Karren, der von einem Gespann aus sechs Ochsen gezogen wurde. Thunbergs Reisebegleiter waren Johann Andreas Auge, Daniel Ferdinand Immelman (1756–ca. 1800), der später auch Anders Sparrman begleitete, der Armeesergeant Christiaan Hector Leonhardy sowie zwei Einheimische. Die Reisegesellschaft brach am 7. September 1772 in Kapstadt auf. Sie begann ihre Reise in nördliche Richtung über Theefontein zur Saldanha Bay. Dort wandten sie sich ostwärts. Über Piketberg, Tulbagh und entlang des Breede River über Worcester gelangten sie nach Swellendam. Sie reisten über Heidelberg, Riversdale, Mossel Bay, Knysna und Plettenberg Bay, entlang des Keurbooms River über die Outeniqua-Berge nach Avontuur in der Lange Kloof bis zum Gamtoos River. Der Rückweg führte erneut durch die Lange Kloof weiter nach Oudtshoorn und Swellendam. Von dort ging es auf direktem Weg über Caledon nach Kapstadt, das sie am 4. Januar 1773 erreichten. Um seine finanzielle Situation zu verbessern, praktizierte Thunberg nach seiner Rückkehr einige Male als Mediziner. Er unternahm wiederholt kurze Ausflüge in die Umgebung von Kapstadt. Seine Begleiter in dieser Zeit waren Pierre Sonnerat, Francis Masson und Robert Jacob Gordon (1743–1795). Zweite Reise (1773 bis 1774) Auf seiner zweiten und längsten Reise, die am 11. September 1773 begann, wurde Thunberg von Francis Masson, einem europäischen Diener und vier Einheimischen begleitet. Die Route begann nördlich nach Mamre, Saldanha Bay und Vredenberg bis zum Berg River. Von dort führte sie ostwärts nach Bridgetown, dann nordwärts nach Cirusdal weiter über Ceres, Worcester nach Swellendam und dann nach Osten über Riversdale nach Mossel Bay. Sie passierten Attaquas Kloof zum Lange Kloof, dessen Verlauf er bis Humansdorp folgte und erneut den Gamtoos River erreichte. Sie überquerten den Fluss und erreichte die Umgebung des Sundays River. Die Rückreise folgte derselben Route bis nach Swellendam, um dann auf dem bekannten Weg über Caledon nach Kapstadt zurückzukehren, wo sie am 28. Januar 1774 ankamen. Nach seiner Rückkehr machte Thunberg die Bekanntschaft der englischen Sammlerin Lady Anne Monson (1726–1776). Ein Angebot der Kompanie, nach Madagaskar zu reisen, lehnte er ab. Stattdessen empfahl Thunberg seinen Landsmann Franz Pehr Oldenburg, mit dem er zuvor einige kürzere Ausflüge unternommen hatte. Dritte Reise (1774) Erneut in Begleitung von Francis Masson brach Thunberg am 29. September 1774 zu seiner kürzesten Reise ins Landesinnere auf. Wieder reisten sie zunächst nach Norden über Paarl, Bridgetown, Leipoldtville bis zum Doring River. Anschließend ging es in östliche Richtung nach Nieuwoudtville und Calvinia und dann nach Süden über das Roggeveld nach Worcester. Von dort aus traten sie über Tulbagh den Rückweg an. Diese letzte Reise endete am 29. Dezember 1774. Nach jeder Rückkehr von einer Reise ins Landesinnere sichtete und ordnete Thunberg zunächst seine Sammelausbeute. Anschließend verpackte er das Sammelgut so, dass es verschifft werden konnte. Dafür wurden die gesammelten Samen getrocknet, Pflanzen auf große Papierbogen aufgeklebt, lebendes Pflanzenmaterial in Kästen einpflanzt sowie Vögel und Insekten in Kisten untergebracht. Die gesamte Sendung verteilte Thunberg auf mehrere Schiffe mit dem Ziel Niederlande. Dort wurden sie zu den botanischen Gärten in Amsterdam und Leiden weitertransportiert. Überzähliges Material ließ Thunberg seinen schwedischen Freunden und Gönnern Carl von Linné, Abraham Bäck, Peter Jonas Bergius und Lars Montin zukommen. Zwischenstopp auf Java (1775) Am 2. März 1775 brach Thunberg an Bord der Loo nach Batavia auf, wo er am 18. Mai anlangte. Dank seiner Empfehlungsschreiben konnte er auf die Unterstützung durch Petrus Albertus van der Parra (1714–1775), seit 1761 Generalgouverneur von Niederländisch-Ostindien, bauen. Während Thunberg in Batavia auf seine Passage nach Japan wartete, genoss er die Gastfreundschaft von Jacob Cornelis Mattheus Radermacher und Friedrich von Wurmb, mit denen er kleinere Ausflüge in die nähere Umgebung unternahm. Thunberg erlernte etwas Malaiisch und erwarb einen Narwalzahn – ein in Japan begehrtes Aphrodisiakum – um ihn dort gewinnbringend zu veräußern. Nachdem er in Abwesenheit bereits am 15. Juni 1772 zum Doktor der Medizin promoviert worden war, beförderte man ihn nun zum „Oppermeester“ (erster Chirurg). Am 20. Juni ging Thunberg an Bord der Stavenisse, mit der er am nächsten Tag in Richtung Japan segelte. Japan (1775 bis 1776) Am 13. August 1775 traf Thunberg im Hafen von Nagasaki ein. Sein Aufenthalt war auf die niederländische Faktorei auf der künstlichen Insel Dejima beschränkt, die er ohne Erlaubnis nicht verlassen durfte. Thunberg behalf sich zunächst damit, das von den Japanern dreimal täglich gelieferte Futtergras nach interessanten Pflanzen zu durchsuchen. Er ersuchte den Gouverneur von Nagasaki um die Erlaubnis, in der Umgebung von Nagasaki botanisieren zu dürfen, was zunächst abgelehnt wurde. Thunberg entwickelte gute Beziehungen zu den japanischen Dolmetschern, die ihn mit Sammelgut versorgten und ihn bei einem erneuten Antrag an den Gouverneur unterstützten. Am 7. Februar 1776 wurde seinem Ansinnen stattgegeben und er unternahm jede Woche ein bis zwei Ausflüge in die Umgebung von Nagasaki. Am 4. März 1776 begann die jährliche „Hofreise“ nach Edo (Tokio), um dem Shōgun die Aufwartung zu machen. Aufgrund seiner Stellung als Arzt durfte Thunberg den Leiter der Handelsniederlassung Arend Willem Feith (1745–1782) und dessen Sekretär Herman Köhler begleiten. Neben den drei Europäern bestand der Tross aus ungefähr 200 japanischen Beamten, Dolmetschern und Dienern. Die Route war vorgegeben und entsprach in etwa derjenigen, auf der Engelbert Kaempfer in den Jahren 1691 und 1692 nach Edo gereist war. Sie führte unter anderem durch Kokura, Osaka sowie Kyoto. Insbesondere in den Bergen von Hakone in der Nähe von Fuji gelangen Thunberg zahlreiche Neuentdeckungen. Nach ihrer Ankunft am 27. April durfte die Delegation das ihnen zugewiesene Quartier nicht verlassen, aber Besucher empfangen. Unter den regelmäßig wiederkehrenden Besuchern waren die jungen Ärzte Katsuragawa Hoshū und Nakagawa Jun’an, mit denen sich ein reger Gedankenaustausch entwickelte. Sie beschafften Thunberg Pflanzen und Mineralien sowie – trotz strengen Verbots durch das Tokugawa-Shogunat – japanische Bücher, Münzen und Karten. Zur Audienz beim Shōgun Tokugawa Ieharu am 18. Mai 1776 war nur Arend Willem Feith zugelassen. Eine Woche später begann die Delegation ihren Rückweg nach Dejima, wo sie am 30. Juni wieder eintraf. Dort sichtete und bearbeitete Thunberg seine verschiedenen Sammlungen. Während der „Hofreise“ hatte er unter anderem Drucke von Suzuki Harunobu und Isoda Koryūsai erworben. Der Dolmetscher Yoshio Kōsaku besorgte ihm verschiedene japanische Münzen. Vom 1. September 1775 bis zum 31. Oktober 1776 maß Thunberg vier Mal täglich mit einem Quecksilberthermometer die Lufttemperatur in Grad Fahrenheit. Er schuf damit die erste systematische Aufzeichnung dieser Art für Japan. An Bord der Stavenisse traf am 2. August 1776 der neue Faktoreileiter Hendrick Gottfried Dürkopp ein. Am 23. November 1776 verabschiedete sich Thunberg von Dejima und segelte zur Stavenisse, die vor der Takaboko-Insel (Papenberg-Insel) in der Bucht von Nagasaki ankerte. Von dort aus verließ Thunberg am 3. Dezember 1776 Japan. Erkundungen auf Java (1777) Nach seiner zweiten Ankunft auf Java am 4. Januar 1777 unternahm Thunberg auf Grund des Wetters zunächst in der Umgebung von Batavia einige kleine Sammelreisen. Erpicht darauf, das Landesinnere zu erkunden, ging er am 23. März an Bord der Vreedelust und segelte entlang der Nordküste Javas nach Samarang, wo er am an 9. April eintraf. Zu Pferd brach Thunberg am 23. April ins Landesinnere nach Salatiga auf und unternahm einen Abstecher in das am nördlichen Fuß des Marbabu gelegene Dorf Kopping. Von Salatiga aus ging es am 27. April weiter nach Tundang. Am 1. Mai kam er wieder am Ausgangspunkt seiner Reise an. Dort erstattete Thunberg dem neuen Gouverneur Jeremias van Riemsdijk (1712–1777) Bericht. Die zweite längere Exkursion begann am 14. Mai, als Thunberg an Bord eines niederländischen Schiffs nach Japara weiterreiste. Sechs Tage später ritt er nach Juana. Am 1. Juni war er wieder in Batavia zurück. Während er auf seine Schiffspassage nach Ceylon wartete, unternahm er in Begleitung von Friedrich von Wurmb weitere Ausflüge. Der weiteste führte über Chipinong und Chimangis nach Buitenzorg. Bevor Thunberg am 7. Juli 1777 Java verließ, besuchten sie noch den Landsitz von Hendrick Gottfried Dürkopp. Ceylon (1777 bis 1778) Am 5. Juli 1777 ging Thunberg an Bord der Mars. Zwei Tage später begann die Überfahrt nach Ceylon, das er am 30. Juli erreichte. Mitgebracht hatte Thunberg die notwendigen Empfehlungsschreiben, unter anderem an den Gouverneur Iman Wilhelm Falck. Von Columbo aus unternahm er zunächst kleine Ausflüge in die unmittelbare Umgebung und erwarb für die Bibliothek von Uppsala einige der hier gedruckten Schriften. Am 28. Oktober wurden Thunberg und einige andere gebeten, eine aus dem Königreich Kandy gelieferte Ladung Zimt zu begutachten. Zimt wurde auf Ceylon aus Linnés Laurus cinnamomum gewonnen und war die wichtigste Handelsware der Insel. Am 4. November begann Thunberg in Begleitung eines Herrn Frobus einen Ausflug in das etwa 160 Kilometer entfernte Mature. Über mehrere Zwischenstationen erreichten sie vier Tage später Gale und am 10. November ihren Zielort. Am 13. November verließen sie Mature wieder und erreichten Columbo nach sechs Tagen. Auf einer zweiten Reise im Dezember 1777 nach Mature erweckten die dort in der Umgebung gewonnenen Minerale und Edelsteine sein Interesse. Torbern Olof Bergman half ihm nach seiner Rückkehr nach Uppsala bei der Bestimmung der gesammelten Proben. Sein letzter, am 17. Januar 1778 begonnener, Ausflug führte ihn nach Negumbo, wo er am folgenden Tag ankam. Am 20. Januar war er wieder Columbo zurück. Am 28. Januar verließ Thunberg Columbo um sich in Gale für seine Weiterreise einzuschiffen. Rückweg nach Schweden Am 6. Februar 1778 ging Thunberg in Gale an Bord der Loo, die am 27. April in der Tafelbucht vor Kapstadt ankerte. Er bezog erneut Quartier bei Hendrik Fehrsen und machte die Bekanntschaft von William Paterson. Nach kurzem Aufenthalt verließ Thunberg am 15. Mai 1778 Kapstadt in Richtung Europa. Amsterdam erreichte er im Oktober 1778. Thunberg bezog Quartier bei seinem Landsmann Eric Floberg. Er verkehrte regelmäßig bei den Burmans und unternahm einen Ausflug in die Nähe von Haarlem, um seinen Förderern Jan van de Poll, Jean Deutz und David ten Hoven seinen Respekt zu zollen. Außerdem besuchte Thunberg verschiedene Sammlungen, die aus Vögeln, Insekten und Münzen bestanden. Nachdem Thunberg seine Verpflichtungen gegenüber der Niederländischen Ostindien-Kompanie erfüllt hatte, beschloss er, einen Teil des Winters in London zu verbringen, das er am 14. Dezember 1778 erreichte. Durch seine schwedischen Landsleute Jonas Dryander und Daniel Solander wurde Thunberg dem Naturforscher und Weltumsegler Joseph Banks vorgestellt, der amtierender Präsident der Royal Society war. Thunberg erhielt freien Zugang zu Banks’ naturhistorischer Sammlung und seiner umfangreichen Bibliothek. Mit besonderem Interesse studierte er im British Museum die dort vorhandenen Manuskripte und die Herbarsammlung von Engelbert Kaempfer. Während seines Aufenthaltes unternahm Thunberg mehrere Ausflüge in die Londoner Umgebung, so nach Kew zu den Royal Botanic Gardens, in die Gärtnerei von James Lee (1715–1795) in Hammersmith und zum Garten von John Fothergill in Chelsea. Bei Johann Reinhold Forster konnte Thunberg die bei dessen Südseereise gesammelten Pflanzen und Konchylien begutachten. Am 30. Januar 1779 verließ Thunberg London in Begleitung von Carl Olof Cronstedt. Von Harwich aus überquerten sie den Ärmelkanal nach Rotterdam und reisten nach Amsterdam weiter. Am 16. Februar brachen sie nach Groningen auf. Von dort aus ging es über Bremen weiter nach Hamburg. Der weitere Weg führte über Lübeck, Wismar, Rostock und Damgarten nach Stralsund, das sie am 2. März erreichten. Während Thunberg und Cronstedt auf das Paketschiff warteten, das sie nach Ystad bringen sollte, unternahmen sie einen Ausflug nach Greifswald. Uppsala Am 14. März 1779 erreichte Thunberg nach fast neun Jahren sein Heimatland Schweden, das er nie wieder verließ. Bereits am 31. Mai 1777 war er als Nachfolger von Carl von Linné dem Jüngeren auf den Posten des botanischen Demonstrators des Botanischen Gartens von Uppsala berufen worden. Er kam allerdings mit Carl von Linné dem Jüngeren nicht gut aus; dieser erlaubte ihm nicht, den Botanischen Garten zu betreten. Als Dozent unterrichtete er an der Universität Uppsala, bevor man ihn zunächst am 7. November 1781 zum außerordentlichen Professor und schließlich am 7. September 1784, nach dem Tod von Linné dem Jüngeren, zum ordentlichen Professor der Medizin und Botanik berief. Jeweils 1785, 1786, 1795 und 1804 amtierte Thunberg für ein Semester als Rektor der Universität Uppsala. Thunberg heiratete am 8. April 1784 Brigitta Charlotta Ruda (* 1. August 1752; † 22. Mai 1813), die er bereits während seiner Tätigkeit als Hauslehrer bei Gabriel Ruda kennengelernt hatte. Die Ehe blieb kinderlos. Das Paar adoptierte zwei junge Verwandte, eine Tochter Birgitta Elisabeth und einen Sohn Per. Außerdem lebte Thunbergs Neffe Carl Peter Forsberg (1793–1832) bei ihnen. Am 5. Juli 1785 schenkte Thunberg seine Sammlung der Universität Uppsala. Sie bestand unter anderem aus etwa 23.500 Herbarblättern, 25.000 Insekten, 6000 Muschelschalen, 300 ausgestopften Säugetieren und 1200 Vögeln. Unter dem Titel Museum Naturalium Academiae Upsaliensis inventarisierten Thunbergs Schüler von 1787 bis 1821 die gesamte Sammlung der Universität. Mit den Objekten aus Thunbergs Schenkung befassten sich 12 zoologische und 34 botanische der insgesamt 58 Dissertationen. Der überfüllte, alte Universitätsgarten wurde häufig überflutet, da er am Ufer des Fyrisån lag. Thunberg konnte Gustav III. davon überzeugen, den Garten des Schlosses von Uppsala der Universität für botanische Zwecke zu überlassen. Außerdem stellte der König Geld für ein neues Gebäude zur Verfügung, in dem Thunbergs Naturaliensammlung untergebracht werden sollte. Die Grundsteinlegung für die als „Linneanum“ bezeichnete und von Olof Tempelman entworfene Orangerie erfolgte am 17. August 1787. Durch den Tod von Gustav III. verzögerte sich der Bau. Das „Linneanum“ wurde zwanzig Jahre später anlässlich Linnés 100. Geburtstags mit einer Rede Thunbergs eröffnet. Thunberg starb am 8. August 1828 auf seinem Landgut „Tunaberg“ bei Uppsala, von dem er in den Sommermonaten mit einem klapprigen, von seinen Studenten spöttisch „Klapperschlange“ genannten Gefährt zur Universität fuhr. Er wurde am 17. August 1828 auf dem Alten Friedhof von Uppsala beigesetzt. Wirken Erste Veröffentlichungen Bereits während seines Auslandsaufenthaltes begann Thunberg zu publizieren. Seine erste wissenschaftliche Schrift befasste sich 1773 mit einer Bleiweißvergiftung, an der während seiner Überfahrt nach Kapstadt zahlreiche Besatzungsmitglieder verstarben und die ihn selbst fast das Leben gekostet hätte. Thunbergs erste botanische Schrift beschäftigte sich mit der Art Hydnora africana, einem an Wolfsmilcharten (Euphorbia) wachsenden Wurzelparasiten, den er irrtümlich für einen Pilz hielt und für den er die neue Gattung Hydnora aufstellte. Weitere Erstbeschreibungen waren der Sagopalmfarn Cycas caffra, Retzia capensis (die einzige Art der Gattung Retzia) und 28 Arten der Gattung Crassula. In der ersten zoologischen Abhandlung stellte Thunberg die südafrikanische Heuschreckengattung Pneumora auf. Reisebericht Der erste Band von Thunbergs vierbändigen Reisebericht Resa uti Europa, Africa, Asia, förrättad åren 1770–1779 erschien 1788, der vierte und letzte Band 1793. Die ersten beiden Bände befassen sich mit seinem Aufenthalt in den Niederlanden, Frankreich, der Kapkolonie und auf Java. Der dritte Band beschreibt seine Reise nach Japan und den Aufenthalt dort. Diese drei Bände ordnen die Ereignisse im Wesentlichen chronologisch. Der erste Teil des vierten Bandes behandelt seine Reise als Ganzes und fasst in enzyklopädischer Weise seine Erkenntnisse über Flora und Fauna, Geografie und Kultur der von ihm bereisten Länder zusammen. Der restliche Teil beschreibt seine Rückkehr von Japan nach Schweden. Der Reisebericht enthält lediglich vier Illustrationen. Sie sind am Ende des vierten Bandes zu finden. Die Illustrationen stammen von Thunbergs Schüler Jonas Niclas Ahl (1765–1817). Anders Sparrman hatte den ersten Teil seines Reiseberichts zum Kap der Guten Hoffnung bereits 1783 veröffentlicht. Systematische Aufarbeitung Thunbergs botanische Systematik folgte Linnés Sexualsystem der Pflanzen, von dessen 24 Klassen er allerdings nur 20 akzeptierte. Die Linnésche Klasse Gynandria sowie dessen dikline Klassen Monoecia, Dioecia und Polygamia verwarf er. Er unterstützte im Sommer 1779 Linné den Jüngeren bei dessen Arbeit am Supplementum plantarum, das auf dem fast fertigen Manuskript Mantissa tertia seines Vaters beruhte. Thunbergs Beitrag zu dem im April 1782 veröffentlichten Werk war die Beschreibung von etwa 500 neuen Pflanzenarten, die auf dem auf seiner Reise gesammelten Material basierten. Als Taxonom arbeitete er rein beschreibend und war trotz seiner leichten, von praktischen Erwägungen geleiteten Veränderungen am Linnéschen System – die Pflanzen in den von ihm nicht übernommenen Klassen passten seiner Meinung nach besser in andere Klassen – nicht an einer grundlegenden theoretischen Überarbeitung interessiert. Nach seinem Biografen Gunnar Eriksson hatte er keine Neigung zu spekulativen Überlegungen. Er folgte im Wesentlichen Linnés damals schon etwas veraltetem taxonomischen System. Seine Stärke lag in seiner guten Beobachtungsgabe, prägnanten Beschreibungen und unermüdlicher Sammellust. Er beschrieb wahrscheinlich die meisten neuen Pflanzenarten und -gattungen unter den Botanikern seiner Zeit. 1784 wurde Thunbergs Flora Japonica veröffentlicht. Das mit 39 Kupferstichen illustrierte Werk enthält die Beschreibung von 812 in Japan wachsenden Pflanzenarten, davon waren etwa 300 Engelbert Kaempfer noch nicht bekannt. Weitere 50 Abbildungen japanischer Arten wurden von 1794 bis 1805 in fünf Faszikeln als Icones plantarum Japonicarum publiziert. Seine Erkenntnisse über die Fauna Japans wurden erst 1822/1823 in zwei als Fauna Japonica betitelten Schriften seiner Schüler gedruckt. Thunberg ist der Erstbeschreiber der Schildkrötenart Testudo japonica (1787), ein subjektives Synonym von Chelonia mydas, der Schwanzlurchart Lacerta japonica (1787) und der Fischarten Ostracion hexagonus (1790), ein subjektives Synonym von Kentrocapros aculeatus, und Sciaena cataphracta (1790), ein subjektives Synonym von Monocentris japonica. Die umfangreiche Aufarbeitung seiner botanischen Sammlungen in der Kapkolonie begann mit dem 1794 und 1800 in zwei Teilen veröffentlichten Prodromus plantarum Capensium. Dem ersten Teil waren drei Illustrationen von Erik Acharius beigefügt. Ihr vorausgegangen waren taxonomische Monografien über die dort beheimateten Gattungen Protea (1781), Oxalis (1781), Ixia (1783), Gladiolus (1784), Aloe (1785), Erica (1785), Moraea (1787), Restio (1788), Hermannia (1794), Diosma (1797), Drosera (1797), Aspalathus (1802) und Phylica (1804). Eine nach dem Vorbild der Flora Japonica illustrierte Flora, die in einem Brief vom 15. Juni 1795 von Martinus van Marum erwähnt wurde und bei einem Berliner Verleger erscheinen sollte, kam nie zustande. Der erste Band der Flora Capensis erschien 1807, 1811 und 1813 in drei Teilen in Uppsala. Er umfasste die ersten vier Klassen des Linnéschen Sexualsystem der Pflanzen. Der zweite Band enthielt die nächsten beiden Klassen und wurde 1818 und 1820 in Kopenhagen veröffentlicht. Zur Vervollständigung des Werkes wandte Thunberg sich an Joseph August Schultes. Die endgültige, von Schultes herausgegebene Fassung der Flora Capensis erschien 1823 in der Stuttgarter Cotta’schen Verlagsbuchhandlung. Laut dem vorangestellten Conspectus generum umfasste das Gesamtwerk 447 Gattungen mit 2776 Arten der Bedecktsamer sowie einige Gefäßsporenpflanzen, Moose und Kryptogamen. Aufgrund seiner Sammeltätigkeit in der Kapkolonie konnte Thunberg 48 Gattungen und 1175 Arten erstmals beschreiben. Bis zum Erscheinen der von William Henry Harvey und Otto Wilhelm Sonder im Jahr 1860 begonnenen und 1933 vollendeten siebenbändigen Flora Capensis blieb Thunbergs Werk die wichtigste Informationsquelle über die Kapflora. Thunbergs Schriften enthalten die Beschreibung von über 900 Insektenarten, die ihren Lebensraum in der Kapkolonie haben. Von ihm stammen einige weitere kleinere Beträge zur südafrikanischen Fauna. 1784 veröffentlichte Thunberg eine Liste mit fünf Kaparten der Vogelgattung Loxia, denen kurze schwedische Beschreibungen beigefügt waren. Die Schrift Mammalia Capensia aus dem Jahr 1811 war eine Revision der bekannten südafrikanischen Säugetiere, die 59 Arten mit kurzen Beschreibungen umfasste. Thunberg beschrieb die Greifvogelart Falco canorus (1799), die Schleichkatzenart Viverra felina (1811), die Antilopenart Antilope monticola (1811), die Vogelart Tetrapteryx capensis (1818), ein subjektives Synonym von Grus paradisea, und die Hyänenart Hyaena brunnea (1820) erstmals. Von Ende 1780 bis Mitte 1828 wurden unter Thunbergs Vorsitz 294 Dissertationen seiner Schüler verteidigt, die aus seiner Feder stammten. Seine Floren von Java (Florula javanica) und Ceylon (Florula ceilanica) wurden 1825 als Dissertationen seiner Studenten veröffentlicht. Darüber hinaus veröffentlichte Thunberg 194 Beiträge in Zeitschriften. Von all seinen Veröffentlichungen waren etwa 65 Prozent auf Lateinisch und etwa 25 Prozent auf Schwedisch verfasst. Hauptsächlich befassen sie sich thematisch zu 47 Prozent mit Botanik, zu 23 Prozent mit Zoologie und zu 6 Prozent mit Medizin. Ungefähr 90 seiner 159 zoologischen Veröffentlichungen waren Beiträge zur Insektenkunde. Insgesamt beschrieb Thunberg 1513 neue Insektenarten, davon etwa 250 allein in der Gattung parasitärer Wespen Ichneumon. Rezeption und Nachwirkung Sammlungen Thunbergs umfangreiche naturhistorische Sammlung wird im Evolutionsmuseet (Evolutionsmuseum) der Universität Uppsala aufbewahrt. Das Ethnografische Museum Stockholm beherbergt etwa 100 Gegenstände, die Thunberg während seines Aufenthaltes in Japan sammelte. Seine Münzsammlung befindet sich im Stockholmer Kungliga Myntkabinettet (Königliches Münzkabinett). In der Uppsala universitetsbibliotek (Universitätsbibliothek Uppsala) wird die 36 Bände umfassende Korrespondenz Thunbergs aufbewahrt. Sie besteht hauptsächlich aus Briefen, die an ihn adressiert sind. Außerdem beherbergt die Bibliothek die aus 26 Schachteln mit Notizen, Manuskripten, Artikel und Nachdrucken zu verschiedenen Themen bestehende Sammlung „Thunbergiana“. Rezeption Alexander von Humboldts erste wissenschaftliche Veröffentlichung Sur le Bohon-Upas über die Art Antiaris toxicaria beruhte auf Thunbergs Arbor toxicaria Macassariensis von 1788. Thunbergs Reisebericht wurde ins Deutsche, Englische und Französische übersetzt. Den Anfang machte eine gekürzte, von Kurt Sprengel übersetzte Ausgabe, die 1792 im Verlag von Christian Friedrich Voß in Berlin erschien. Ihr folgte eine durch Christian Heinrich Groskurd übersetzte, zweibändige Fassung. Die erste französische Übersetzung aus dem Jahr 1794 orientierte sich an der deutschen Übersetzung von Sprengel. Zwei Jahre später erschien die durch Louis-Mathieu Langlès (1763–1824) übersetzte vierbändige Version des Werkes. Von 1793 bis 1795 wurde die englische Fassung eines anonymen Übersetzers herausgegeben. Thunbergs Zeitgenossen interessierten sich vor allem für die im dritten und vierten Band enthaltene Darstellung der japanischen Gesellschaft und ihrer Kultur. Nach Einschätzung des niederländischen Historikers Peter Rietbergen enthielt Thunbergs Bericht keine Informationen, die über die Berichte seiner Vorgänger Arnoldus Montanus (1669) und Engelbert Kaempfer (1727) hinausgingen. Auf Anregung von Philipp Franz von Siebold wurde Thunbergs Flora Japonica von Itō Keisuke 1829 ins Japanische übertragen. Dadurch wurde das Linnésche System in Japan bekannt. 1989 erschien ein Katalog aller Typusexemplare aus Thunbergs Insektensammlung. Diese erste Fassung wurde bis 2001 mehrmals aktualisiert. In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedene Insektengruppen aus Thunbergs Sammlung genauer untersucht: 1985 die Schmetterlinge, 1987 die Marienkäfer, 2009 die Schwarzkäfer und 2019 Teile einiger Unterfamilien der Blattkäfer. In den Publikationen wurden Arten Lectotypen zugewiesen sowie neue Synonyme und Umkombinationen vorgeschlagen. 1993 wurde Thunbergs fragmentarische Autobiografie anlässlich einer zu seinem 250. Geburtstag in der Universitätsbibliothek Uppsala stattfindenden Gedenkausstellung vom Zoologen Lars Wallin (* 1933) herausgegeben. 1994 wurden über 300 Zeichnungen japanischer Pflanzen, die sich im Besitz des Komarow-Instituts in Sankt Petersburg befinden, der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. 2013 gab das Evolutionsmuseum der Universität Uppsala bekannt, dass sämtliche Herbarbelege von Thunbergs japanischer Pflanzensammlung digitalisiert werden. Ein in Form eines fiktiven Tagebuches verfasster Roman der schwedischen Autorin Monica Braw (* 1945) beschäftigt sich mit Thunbergs Leben. Er erschien 2002. Vom 24. April bis 26. August 2018 wurde in Tokio eine Sonderausstellung gezeigt, die das Wirken der schwedischen Naturforscher Olof Rudbeck, Carl von Linné und Thunberg würdigte. Auszeichnungen und Würdigung Am 21. November 1785 wurde Thunberg Ritter des Wasaordens. Gustav IV. Adolf beförderte ihn am 12. August 1815 zum Kommandeur dieses Ordens. Thunberg war der erste Gelehrte, dem diese Ehre zuteilwurde. Thunberg war Mitglied von 66 wissenschaftlicher Akademien und Gelehrtengesellschaften. Hierzu zählten unter anderem die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften, in die er am 7. Februar 1776 aufgenommen wurde, die Leopoldina, die ihn am 22. März 1778 unter der Matrikel-Nr. 827 mit dem akademischen Beinamen Oribasius aufnahm, und die Royal Society, in die er am 3. April 1788 gewählt wurde. 1801 wurde er Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg. 1804 wurde er zum auswärtigen Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften gewählt. 1784 war Thunberg Präsident der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Im Kräutergarten von Dejima errichtete Philipp Franz von Siebold 1826 zu Ehren von Thunberg und Engelbert Kaempfer einen Gedenkstein mit der Inschrift „E. KAEMPFER, C. P. THUNBERG ECCE VIRENT VESTRÆ HIC PLANTÆ FLORENTQUE QUOTANNIS CULTORUM MEMORES SERTA FERUNTQUE PIA DR. FRANZ SIEBOLD“ (etwa „E. Kaempfer, C. P. Thunberg schaut her! Eure Pflanzen prangen und blühen hier jedes Jahr. Im Gedenken an die Pflanzer bilden sie einen liebevollen Kranz. Dr. Franz Siebold“). Siebold stellte 1835 eine Abbildung dieses Gedenksteins dem ersten Teil seiner Flora Japonica als Kupfertitel voran. Bis 1832 wurde Thunberg bereits mit acht zoologischen und 26 botanischen Artnamen geehrt. Darüber hinaus sind die Pflanzenfamilie Thunbergiaceae (1870) sowie die Pflanzengattungen Thunbergia (1773, nom. rej.), Thunbergia (1780, nom. cons.), Thunbergianthus (1897) und Thunbergiella (1922) nach ihm benannt. Die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften gab 1832 eine Gedenkmedaille heraus, die vom Graveur Mauritz Frumerie (1775–1853) entworfen wurde. Am 22. September 1973 veröffentlichte die Schwedische Post ein Markenheftchen zum Thema Forschungsreisende. Es besteht aus fünf Briefmarken mit einem Nennwert von je einer Krone, darunter ein Porträt von Thunberg (Michel-Nr. 810). Die seit 1986 vom Evolutionsmuseum der Universität Uppsala herausgegebene botanische Zeitschrift Thunbergia wurde nach ihm benannt. Thunberg gilt als ein „Apostel“ Linnés. Sein Schaffen brachte ihm die Ehrenbezeichnungen „Vater der südafrikanischen Botanik“ sowie „Japans Linné“ und „Vater der Japanischen Botanik“ ein. Schriften Eigene Dissertationen Venae Resorbentes. Uppsala 2. Juni 1767 (online) – Dissertation unter Carl von Linné. De Ischiade. Uppsala 28. Juni 1770 (PDF) – Dissertation unter Jonas Sidrén. Bücher Flora Japonica. J. G. Müller, Leipzig 1784 (online). Resa uti Europa, Africa, Asia, förrättad åren 1770–1779. 4 Bände, Joh. Edman, Upsala 1788–1793 (online). Reisen in Afrika und Asien, vorzüglich in Japan, während der Jahre 1772 bis 1779. Auszugsweise übersetzt von Kurt Sprengel. Voss, Berlin 1792 (online). Reise durch einen Theil von Europa, Afrika und Asien, hauptsächlich in Japan, in den Jahren 1770 bis 1779. Aus dem Schwedischen frey übers. von Christian Heinrich Groskurd. Band 1: Haude und Spener, Berlin 1792 () / Band 2: Haude und Spener, Berlin 1794 () Travels in Europe, Africa, and Asia, performed between the years 1770 and 1779. 4 Bände: 1. Auflage, Richardson & Egerton, London 1793 Band 1, Band 2, Band 3, F. & C. Rivington, London 1795 Band 4. 2. Auflage, F. & C. Rivington, London 1795 Band 1, Band 2, Band 3, Band 4. 3. Auflage, F. & C. Rivington, London 1796 (online). Voyage en Afrique et en Asie, principalement au Japon, pendant les années 1770–1779. Paris 1794 (online). Voyages de C.P. Thunberg, au Japon, par le Cap de Bonne-Espérance, les iles de la Sonde &c. Paris 1796, 4 Bände: Band 1, Band 2, Band 3, Band 4. Prodromus plantarum Capensium, quas, in Promontorio Bonae Spei Africes, annis 1772–1775, collegit. J. Edman, Uppsala 1794–1800. Teil 1: Joh. Edman, Uppsala 1794 (online). Teil 2: Joh. Fr. Edman, Uppsala 1800 (online). Icones plantarum Japonicarum, quas in insulis Japonicis annis 1775 et 1776 collegit et descripsit. J. Edman, Uppsala 1794–1805. Teil 1: Johann. Fred. Edman, Uppsala 1794 (online). Teil 2: Johann. Fred. Edman, Uppsala 1800 (online). Teil 3: Johann. Fred. Edman, Uppsala 1801 (online). Teil 4: Johann. Fred. Edman, Uppsala 1802 (online). Teil 5: Johann. Fred. Edman, Uppsala 1805 (online). Flora Capensis, sistens plantas Promontorii Bonae Spei Africes, secundum Systema Sexuale emendatum redactas ad Classes, Ordines, Genera et Species, cum differentiis specificis, synonymis et descriptionibus. 1. Auflage, Band 1, Uppsala 1807–1813: Teil 1: Joh. Fr. Edman, Uppsala 1807 (online). Teil 2: Stenhammar et Palmblad, Uppsala 1811 (online). Teil 3: Stenhammar et Palmblad, Uppsala 1813 (online). Neue Auflage, 2 Bände, Kopenhagen 1818–1820: Band 1: Bonnier, Kopenhagen 1818 (online) – Neuauflage des 1. Bandes der 1. Auflage. Band 2, Teil 1: Bonnier, Kopenhagen 1818 (online). Band 2, Teil 2: Bonnier, Kopenhagen 1820 (online). 2. Auflage, 2 Bände: J. G. Cotta, Stuttgart 1823 (online) – eingeleitet und bearbeitet von Joseph August Schultes. Zeitschriftenbeiträge (Auswahl) Botanik Beskrifning på en ganska besynnerlig och obekant svamp, Hydnora africana, ifrån Goda Hoppets Udde i Africa intånd. In: Kungl. Svenska vetenskapsakademiens handlingar. Band 36, 1775, S. 68–75, Tafel 11 (online). Beschreibung eines ganz sonderbaren, noch zur Zeit unbekannten Schwamms, Hydnora africana, vom Vorgebürge der guten Hoffnung in Afrika. In: Der Königl. Schwedischen Akademie der Wissenschaften neue Abhandlungen aus der Naturlehre, Haushaltungskunst und Mechanik. Leipzig 1781, Band 37, S. 68–74, Tafel 11 (online). Cycas Caffra, nova palmae species. In: Nova acta Regiae Societatis Scientiarum Upsaliensis. Band 1, 1775, S. 283–288 (online). Beskrifning på et nytt Örte-genus, kalladt Rademachia, hvilket redan utaf Rumphius blifvet afritadt och, fastån ofullkomligen, beskrifvit; men nu efter sexual-methoden noga undersökt. In: Kungl. Svenska vetenskapsakademiens handlingar. Band 37, 1776, S. 250–255 (online). Beschreibung einer neuen Gattung von Pflanzen Rademachia; schon von Rumph abgezeichnet und beschrieben aber unvollkommen. Jetzo nach der Sexualmethode genau untersucht. In: Der Königl. Schwedischen Akademie der Wissenschaften neue Abhandlungen aus der Naturlehre, Haushaltungskunst und Mechanik. Leipzig 1782, Band 87, S. 253–258 (online). Retzia Capensis, et nytt Ort-slag, funnit och beskrifvet. In: Physiographiska Sällskapets handlingar. Band 1, Nr. 1, Carlbohm, Stockholm 1776, S. 55–56 (online). Crassulae generis XXVIII. Novas Species in Capite Bonae Spei detectas & descriptas. In: Nova Acta Physico-Medica Academiae Caesareae Leopoldino-Carolinae Naturae Curiosorum. Band 6, Nürnberg 1778, S. 328–341 (online). Zoologie Pneumora, Et nytt Genus ibland Insecterne, uptäckt och beskrifvit. In: Kungl. Svenska vetenskapsakademiens handlingar. Band 36, Stockholm 1775, S. 254–260 (online). Pneumora, eine neue Gattung von Insekten. In: Der Königl. Schwedischen Akademie der Wissenschaften neue Abhandlungen aus der Naturlehre, Haushaltungskunst und Mechanik. Band 37, Leipzig 1781, S. 252–259 (online). Anmarkningar om några foglar af Loxiae slägte på Goda Hopps Udden. In: Kungl. Svenska vetenskapsakademiens handlingar. 2. Folge, Band 5, Stockholm 1784, S. 286–289 (online). Bemerkungen über einige Vögel vom Vorgebürge der guten Hoffnung, zur Gattung der Kernbeisser (Loxia) gehörig. In: Der Königl. Schwedischen Akademie der Wissenschaften neue Abhandlungen aus der Naturlehre, Haushaltungskunst und Mechanik. Band 5, Leipzig 1786, S. 287–290 (online). Beskrifning på några sällsynte och okände Ödlor. In: Kungl. Svenska vetenskapsakademiens handlingar. 2. Folge, Band 8, 1787, S. 123–128 (online). Von einigen seltnen und unbekannten Eydexen. In: Der Königl. Schwedischen Akademie der Wissenschaften neue Abhandlungen aus der Naturlehre, Haushaltungskunst und Mechanik. Band 8, Nr. 1, Leipzig 1788, S. 115–119 (online). Beskrifning på Trenne Sköld-Paddor. In: Kungl. Svenska vetenskapsakademiens handlingar. 2. Folge, Band 8, Stockholm 1787, S. 178–180 (online). Beschreibung dreyer Schildkröten. In: Der Königl. Schwedischen Akademie der Wissenschaften neue Abhandlungen aus der Naturlehre, Haushaltungskunst und Mechanik. Band 8, Nr. 2, Leipzig 1788, S. 171–173 (online). Beskrifning på tvänne Fiskar ifrån Japan. In: Kungl. Svenska vetenskapsakademiens handlingar. 2. 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Jahrhundert) Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Royal Society Mitglied der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Korrespondierendes Mitglied der Académie des sciences Träger des Wasaordens Schwede Geboren 1743 Gestorben 1828 Person (niederländische Kolonialgeschichte) Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Microvision
Microvision
Das Microvision ist eine tragbare Videospielkonsole des US-amerikanischen Spielwarenherstellers Milton Bradley. Ab 1979 nur in den USA erhältlich, kam das mikroprozessorgesteuerte Gerät später auch in anderen Ländern in den Handel. In der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise wurde das Handheld Anfang der 1980er Jahre vertrieben. Das Microvision war das erste Handheld mit einer pixelbasierten Flüssigkristallanzeige, die wesentlich mehr grafische Darstellungsmöglichkeiten als die bis dahin weithin verwendeten Leuchtdioden bot. Erstmals konnten so verschiedene Spiele auf ein und demselben portablen Gerät realisiert werden. Die von Milton Bradley angebotenen austauschbaren Steckmodule enthielten aber nicht nur Festwertspeicher mit der Spielesoftware, sondern auch große Teile der Computertechnik zu ihrer Ausführung. Der Einsatz solcher mikrocontroller-basierten Steckmodule war neben der Verwendung eines LC-Displays ebenfalls ein Novum in der Geschichte tragbarer Videospielkonsolen. Geschichte Das Aufkommen preisgünstiger Mikroprozessoren ermöglichte ab 1976 auch tragbare Geräte für Videospiele, die sogenannten Handhelds. Im Gegensatz zu stationären Konsolen wurden sie zur Visualisierung des Spielgeschehens nicht an ein Fernsehgerät angeschlossen, sondern enthielten eine LED-Anzeige, die im Wesentlichen aus mehreren Leuchtdioden bestand. Der Einsatz von stromsparenden Flüssigkristallanzeigen (englisch Liquid Crystal Display, kurz LCD), wie man sie bereits von Digitaluhren und Taschenrechnern kannte, scheiterte zunächst an deren eingeschränkten Anzeigeoptionen von nur drei Zeilen. Entwicklung Die Entwicklung und Herstellung eines für Videospiele geeigneten pixelbasierten LC-Displays gelang erstmals Jay Smith. Kurz darauf begann er zusammen mit Gerald S. Karr und Lawrence T. Jones ein darauf basierendes Handheld zu konstruieren. Durch das für verschiedene Grafiken geeignete neuartige LC-Display sollten mit dem Gerät verschiedene – auch zukünftig zu erstellende – Spiele ausgeführt werden können. Mit bereits existierenden Handhelds war ein solcher Spielewechsel nicht möglich. Vielmehr musste für jedes neue Spiel ein neues Handheld erworben werden. Nach etwa einjähriger Entwicklungszeit stellte Smith einen Prototyp des Handhelds bei verschiedenen US-amerikanischen Spielzeugherstellern vor. Das Gerät hatte er zuvor im Oktober 1978 zum Patent angemeldet. Kurz darauf lizenzierte Milton Bradley das Gerät und die dortigen Ingenieure übernahmen die weitere Entwicklung. So wurde beispielsweise das Gehäuse vergrößert, um das Handheld wertiger erscheinen zu lassen. Der US-amerikanischen Öffentlichkeit wurde das Microvision genannte Gerät nebst einigen Spielen erstmals auf der Spielwarenmesse Toy Fair Anfang 1979 in New York vorgestellt. Daneben präsentierte der Hersteller auch die Spiele Block Buster, Bowling, Pinball und Connect 4. Die Produktion startete im Frühling 1979. Vermarktung Das Microvision kam Ende November 1979 in den US-amerikanischen Einzelhandel. Es konnte in Warenhäusern und Spielzeugläden zu einem Preis von etwa 50 US-Dollar (entspräche heute inflationsbereinigt ca. Euro) erworben werden. Das Spiel Block Buster war dabei im Lieferumfang enthalten. Weitere Spielmodule von Milton Bradley kosteten bis zu 18 US-Dollar. Der Verkauf wurde durch umfangreiche Werbung im US-amerikanischen Fernsehen, womit Milton Bradley bereits im Oktober begonnen hatte, begleitet. Zusätzlich unterstützt durch Printwerbung und Zeitungsanzeigen mit dem Slogan „Play video-type games anytime, anywhere!“ („Spielen Sie Videospiele jederzeit und überall!“) konnte der Hersteller so 1979 einer Schätzung der Zeitschrift Das Spielzeug zufolge etwa 500.000 Geräte und ungefähr genausoviele Steckmodule absetzen. Getrübt wurde die gute Bilanz des Jahres 1979 lediglich durch hohe Ausschussquoten, die im Herbst bis zu 60 Prozent erreicht hatten. Hinzugekommen war eine ungewöhnlich hohe Zahl an Reklamationen bei funktionstüchtig ausgelieferten Geräten. Ein nachzurüstender Schutz vor elektrostatischen Entladungen hatte diese Probleme aber bereits für die Produktionsserien im Spätherbst lösen können. 1980 begann Milton Bradley mit der Erschließung der internationalen Märkte, vor allem in Europa. Der deutschen Öffentlichkeit vorgestellt wurde das Microvision erstmals auf der Nürnberger Spielwarenmesse im Februar 1980 durch die Milton Bradley GmbH aus Fürth. Auf einem Werbeblatt pries der Hersteller sein „neue[s] elektronische[s] Super-Spielsystem“ als „klein genug zum Überallhin-Mitnehmen“ und als „ganz großartig wegen seiner vielfältigen Spielmöglichkeiten“ an. Erhältlich war das Microvision ab 1981 in Kaufhäusern und Spielwarengeschäften für 149 DM (entspräche heute inflationsbereinigt ca. Euro). Zur selben Zeit konnte das Gerät auch in Frankreich, Großbritannien und Italien erworben werden. 1982 kündigte Milton Bradley mit Super Block Buster und Barrage letztmals neue Spiele an, wobei Super Block Buster ausschließlich in der Bundesrepublik Deutschland und Barrage gar nicht mehr in den Handel gelangen sollte. In den USA war das Microvision vermutlich schon ein Jahr zuvor von seinem Hersteller aufgegeben worden. Spiele Für das Microvision erschienen insgesamt zwölf verschiedene Spiele, wobei das Spiel Block Buster bereits im Lieferumfang enthalten war. In den USA waren elf Spiele erhältlich, in der Bundesrepublik Deutschland dagegen nur acht. Technische Informationen Im Gegensatz zu stationären Spielkonsolen bietet ein Handheld wegen seiner geringeren Abmessungen wenig Platz für elektrische und mechanische Baugruppen. Auch dürfen die eingesetzten elektronischen Bauelemente nur wenig Strom verbrauchen, damit für den notwendigen Batteriebetrieb eine hohe Betriebsdauer gewährleistet werden kann. Die Entwickler entschieden sich daher für den Einsatz eines Einchipmikrorechners (auch Microcontroller genannt), der sämtliche Baugruppen eines einfachen Computers – Mikroprozessor, Ein-/Ausgabeeinheiten und Arbeitsspeicher – in sich vereint. Der Festwertspeicher mit den auszuführenden Programmdaten ist ebenfalls in einen solchen Chip integriert und nach dessen Herstellung nicht mehr änderbar. Für den Wechsel eines Spiels muss deshalb der Chip, d. h. der gesamte Computer, und nicht nur der ROM-Festwertspeicher wie in stationären Spielkonsolen ausgetauscht werden. Ein solcher Wechsel ist mit erhöhter elektrostatischer Störanfälligkeit des Microcontrollers verbunden und kann bis zu seiner Zerstörung führen. Milton Bradley schwenkte vom zunächst verwendeten Microcontroller Intel 8021 nur wenig später auf den in ausreichenden Mengen lieferbaren TMS1100 von Texas Instruments um. Dieser basiert jedoch auf einer anderen Hardware-Architektur, weshalb die ursprünglich für den Intel 8021 entwickelten Spiele vollständig neu programmiert werden mussten. Basisgerät Das ungefähr 24,5 cm lange und 9 cm breite Basisgerät des Microvision enthält eine einzelne Platine mit dem LC-Display und seinem Treiberbaustein. Daneben befinden sich im Plastikgehäuse ein Lautsprecher, die Batterien, ein Drehregler (englisch paddle), ein Kontaktgitter für die Steuerungstasten und ein Schiebeschalter. Um das Microvision mit letzterem in Betrieb nehmen zu können, muss zuvor ein Steckmodul eingesetzt werden. Dieses wird in flachem Winkel in eine Kontaktleiste am oberen Ende des Basisgeräts geschoben und anschließend nach unten gedrückt, bis es am unteren Ende einrastet und damit arretiert ist. Mit dem etwa 3,5 cm messenden quadratischen LC-Display lassen sich bis zu 16 × 16 rasterförmig angeordnete quadratische Bildpunkte darstellen. Es wird mithilfe des in CMOS-Technologie gefertigten LSI-Treiberbausteins Hughes 0488 im Multiplexverfahren betrieben. Entsprechend den vom Spielemicrocontroller zugeführten Signalen werden die zugehörigen Pixel zur Darstellung des Spielgeschehens aktiviert bzw. deaktiviert. Wegen der noch unausgereiften Fertigungsmethoden der damaligen Zeit sind im Laufe der Zeit viele Displays durch chemische und physikalische Zersetzungsprozesse – beschleunigt insbesondere durch direkte Sonneneinstrahlung – unbrauchbar geworden. Steckmodule Die auch Cartridges genannten Steckmodule enthalten jeweils eine Platine mit herausgeführten Kontaktzungen, die durch eine bewegliche Plastikabschirmung geschützt werden. Die Plastikabschirmung verhindert zudem unerwünschte elektrostatische Entladungsprozesse beim Einstecken oder Entfernen des Steckmoduls, die zu Beschädigungen am empfindlichen Microcontroller führen können. Befindet sich ein Steckmodul in der Basiseinheit, ist gleichzeitig die Plastikabschirmung durch einen speziellen Mechanismus zur Seite geschoben und eine leitende Verbindung mit der Elektronik im Inneren der Basiseinheit hergestellt. Der in fast allen Spielmodulen verbaute 28-polige Einchipmikrorechner TMS1100 gehört zur TMS1000-Familie von Mikrocontrollern und basiert auf einer Verarbeitungsbreite von 4 Bit. Für die Ausführung eines Spiels, dessen Programmdaten im 16384 Bit umfassenden Festwertspeicher hinterlegt sind, stehen 512 Bit Arbeitsspeicher zur Verfügung. Es sind Taktraten zwischen 100 und 400 kHz möglich, die vom Hersteller der Spielmodule voreingestellt wurden und ohne Lötarbeiten nicht änderbar sind. Zur Steuerung des Spielgeschehens dienen je nach Spiel bis zu zwölf verschiedene, jeweils gefederte Plastikknöpfe. Diese sind im Gehäuse des entsprechenden Steckmoduls untergebracht. Ist das Modul eingesteckt, wird durch die Betätigung einer Taste eine leitende Verbindung im darunterliegenden Kontaktgitter der Basiseinheit hergestellt. Das entstandene elektrische Signal kann anschließend durch den Microcontroller im Steckmodul ausgewertet werden. Die US-amerikanische Variante des Microvision unterscheidet sich von der europäischen Variante dabei in der Art der Tastenfederung: Für den US-amerikanischen Markt gefertigte Steckmodule benutzen die Rückstellwirkung eines geschäumten Kunststoffes, europäische Geräte dagegen eine elastische Plastikverbindung zwischen Taste und Steckmodulgehäuse. Neben den Tasten und der Platine enthalten die Steckmodule eine durchsichtige Sichtscheibe, die teilweise bedruckt sein kann. Nach Einlegen eines Steckmoduls wird damit das monochrome LC-Display überdeckt und durch die teils farbige Bedruckung das optische Erscheinungsbild eines Spiels aufgewertet und so die Immersion gestärkt. Rezeption Zeitgenössisch Bereits vor dem Verkaufsstart wurde das Gerät vom US-amerikanischen Sachbuchautoren David H. Ahl im Mai 1979 als „einer der innovativsten Neuzugänge“ und das Spiel Block Buster als „Herausforderung“ und „süchtig machend“ bezeichnet. Im selben Monat äußerte sich auch die US-Zeitschrift Computer Weekly über das Handheld: Es repräsentiere den „Fortschritt der Ingenieurskunst“ und habe „das Zeug zur erfolgreichsten Anwendung des Jahres für große LC-Displays“. Allerdings werde es vergleichsweise teuer sein, so Computer Weekly weiter. Auch nach Erscheinen im November 1979 äußerte sich die Presse wohlwollend. Das Gerät kombiniere den mobilen Einsatz von Handhelds mit der Vielseitigkeit der stationären Videospiele, so der Sachbuchautor Howard J. Blumenthal. Das Design beinhalte laut der US-Zeitschrift On Computing eine „attraktive“ Alternative zum Röhrenbildschirm, so dass für Videospiele nun nicht länger ein Fernsehgerät vonnöten sei, wie die Zeitschrift Popular Science schrieb. Das eingebaute Display sei aber laut Ahl sehr klein, weshalb man zum Ablesen „gute Augen“ und das „richtige Licht“ brauche, so Blumenthal weiter. Auch müsse sich laut On Computing das Auge erst an die Trägheit der Anzeige und die damit verbundene Schlierenbildung gewöhnen. Die deutsche Zeitschrift Das Spielzeug beschrieb dagegen den „eigenen kleinen Bildschirm“ als „gut lesbar“. Durch die geringe grafische Auflösung des Spielgeschehens seien die Spiele der US-Zeitschrift Electronic Games nach nur als „simpel“ zu bezeichnen. Sie erforderten laut On Computing daher ein „gewisses Maß an Vorstellungskraft“. Trotz der einfachen Grafik seien die Spiele aber actionreich und würden selbst erfahrene Spieler herausfordern, so On Computing weiter. Ahl sah das ähnlich und bezeichnete das mitgelieferte Block Buster als „spaßig“ und „ziemlich herausfordernd“. Auch die anderen Spiele erforderten eine gute Hand-Auge-Koordination und gehörten laut Blumenthal zu den „besten auf dem Handheld-Markt erhältlichen“. Die deutsche Zeitschrift Chip lobte in einer Kurzvorstellung 1981 die austauschbaren „Kassetten“ und die damit verbundenen „abwechslungsreichen Spielvarianten“. Hinzu komme eine einfache Bedienung und Netzunabhängigkeit, wobei gleichzeitig der Bedarf von zwei Batterien bemängelt wurde. Allerdings sei das Gehäuse „unverhältnismäßig groß“ und der Preis des „kompletten Spielsystems“ zu hoch, so Chip weiter. Retrospektiv Das Microvision wird übereinstimmend als die erste tragbare Spielkonsole mit austauschbaren Spielmodulen eingeordnet. Gemessen an den Standards des Jahres 2018 sei ihre Technik jedoch „sehr primitiv“, so der Sachbuchautor Rusel DeMaria. Der Spielejournalist Winnie Forster kommt zu einer ähnlichen Einschätzung und bezeichnet das Gerät als „äußerst minimalistisch“. Wenngleich das Display auch klein und die Grafikdarstellung „blockig“ sei, so erlaubte es laut dem Sachbuchautoren Leonard Herman doch mehr „Bewegung“ als noch die LED-basierten Anzeigen anderer zeitgenössischer Handhelds. Seiner einfachen Technik geschuldet sei auch die Forster gemäß „spartanisch-effektiv[e]“ und laut Brett Weiss „umständliche“ Bedienung. Zudem sei das Gerät sehr empfindlich und für Fehler anfällig, so die Zeitschrift Game Informer. Die Veröffentlichung nur weniger Spiele und die als nicht ausreichend empfundene Unterstützung des Handhelds durch Milton Bradley hätten bald zu einem Nischendasein geführt. So habe es der Hersteller laut DeMaria beispielsweise versäumt, wie damals üblich, populäre Spiele auch anderer Hersteller zu lizenzieren und umzusetzen. Für Forster ist das „Ur-Handheld“ und der „Game-Boy-Vorläufer“ schlicht „zu früh für den technischen Stand oder den Massenmarkt“ erschienen. Ähnlich sieht es Herman, der bemerkt, dass die Welt „überraschenderweise“ noch nicht bereit für ein solches programmierbares Handheld gewesen sei. Weiss zufolge hätte sich dagegen für viele potentielle Käufer einfach nur der „Aufwand“ zum Erwerb neuer Steckmodule wegen der Einfachheit der Spiele nicht gelohnt. Die Zeitschrift Retro Gamer führt die schnell nachlassenden Verkaufserfolge des Handhelds darauf zurück, dass „dank des überwältigenden Erfolges von Space Invaders auf dem Atari VCS die Konsolen 1980 wieder die Oberhand gewinnen konnten“ und so das Microvision Opfer dieser Entwicklung geworden sei. Dennoch bleibe die Konsole laut Retro Gamer „eine wichtige Fussnote in der reichhaltigen Geschichte der Videospiele“, Weiss zufolge nehme sie sogar einen „bedeutenden“ Platz darin ein. Der Journalist Benj Edwards fasst seine Sichtweise folgendermaßen zusammen: Das Microvision ist ständiges Ausstellungsstück in verschiedenen Museen, darunter das Computerspielemuseum Berlin. Weblinks Werbespot (Video, englisch) Homebrew Tetris für das Microvision (Video, englisch) Emulator und Dokumentationen (englisch) Übersicht der Emulatoren (englisch) Einzelnachweise Handheld-Konsole
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Fletcher-Klasse
Die Fletcher-Klasse war eine Klasse von Zerstörern der United States Navy. Die Schiffe wurden ab 1941 gebaut und dienten ab 1942 in der Navy. Bis 1944 wurden 175 Schiffe in elf verschiedenen Werften gebaut. Damit ist die Fletcher-Klasse eine der zahlenmäßig stärksten Klassen von Überwasserkriegsschiffen der Welt. Die Schiffe nahmen an allen großen Operationen der US Navy während des Pazifikkriegs teil. Die Dienstzeit in der US-Marine dauerte mit Unterbrechungen bis 1971, etliche Zerstörer wurden an andere Nationen, darunter auch Deutschland, abgegeben und blieben noch lange im aktiven Dienst. Das letzte Schiff der Klasse, die BAM Cuitlahuac (die ehemalige USS John Rodgers), wurde 2002, nach insgesamt 60 Jahren Dienstzeit, bei der mexikanischen Marine ausgemustert. Geschichte Planungen Nach dem Eintritt Großbritanniens in den Zweiten Weltkrieg 1939 ging die US-amerikanische Regierung unter Franklin D. Roosevelt davon aus, dass die Vereinigten Staaten ebenfalls in den Krieg hineingezogen würden und dass Japan der Hauptgegner sein würde. Roosevelt sah in der Aufrüstung ein Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit; der drohende Kriegseintritt machte jedoch deutlich, dass die Flotte tatsächlich verstärkt werden musste. Die Zerstörer der US-Marine waren zum größten Teil veraltete Modelle aus der Zeit des Ersten Weltkriegs; die Produktion der neuen Zerstörer der Gleaves- und der Benson-Klasse lief nur langsam an, die Zerstörerklassen aus der Zwischenkriegszeit waren zum größten Teil noch nach Entwürfen aus dem Ersten Weltkrieg gebaut worden oder unterlagen den Begrenzungen der Washingtoner Flottenabkommen.Die Planungen für neue Schlachtschiffe und Flugzeugträger mit einer Geschwindigkeit von über 30 Knoten machten schnelle Zerstörer mit einer Höchstgeschwindigkeit zwischen 35 und 38 Knoten erforderlich, die eine entsprechend starke Antriebsanlage benötigten. Das für die Planungen zuständige General Ship Board erhielt sechs verschiedene Entwürfe für die neue Schiffsklasse, die sich an den Vorgaben (1.600 Tonnen Verdrängung, vier bis fünf 5-Zoll-Geschütze, 6.500 Seemeilen Reichweite bei 12 Knoten) und den Vorgängerbauten der Gleaves-, Benson- und Sims-Klassen orientierten. Um die Jahreswende 1939/1940 wurden drei neue Entwürfe vorgelegt, die sich gegenüber den vorherigen Entwürfen durch die Rückkehr zum Flushdecker-Konzept auszeichneten und eine gestiegene Wasserverdrängung für die geforderte Panzerung der Brücken-, Führungs- und Maschinenräume nutzten. Ebenfalls konnte so gegenüber den Vorentwürfen die Flugabwehrbewaffnung von vier 12,7-mm-Maschinengewehren mit einer 28-mm-Vierlingsflak verstärkt werden und die Antriebskraft auf 60.000 WPS für 38 Knoten Konstruktionsgeschwindigkeit gesteigert werden. Am 27. Januar 1940 fällte das Board seine Entscheidung für den Entwurf des renommierten Konstruktionsbüros Gibbs & Cox mit fünf Einzeltürmen und vergab die Bauaufträge für die ersten 130 Schiffe der Fletcher-Klasse. Davon wurden elf Schiffe, darunter zwei Prototypen für alternative Antriebe, später wieder gestrichen. 1941 wurden 16, 1942 40 weitere Zerstörer bewilligt. Bau Um die große Anzahl an Zerstörern innerhalb kurzer Zeit fertigzustellen, wurden die Bauaufträge an elf Werften vergeben, darunter auch solche, die zuvor noch kein Schiff für die US-Marine gebaut hatten. Bethlehem Steel erhielt den Auftrag für 43 Schiffe und verteilte diese auf die Standorte San Francisco (18), Staten Island (15) und San Pedro (10). Mit 31 Schiffen erhielt Bath Iron Works in Bath, Maine den größten Auftrag als einzelne Werft. 29 Zerstörer wurden bei der Federal Shipbuilding and Drydock Company in Kearny, New Jersey gebaut, 21 bei Seattle-Tacoma Shipbuilding in Seattle, Washington. Im Boston Navy Yard wurden 14 Schiffe auf Kiel gelegt, bei Consolidated Steel Shipyards in Orange, Texas, zwölf, beim Charleston Navy Yard zehn, im Puget Sound Naval Shipyard acht und bei Gulf Shipbuilding in Chickasaw, Alabama, sieben Zerstörer gebaut. Die Kiellegung der ersten Schiffe, USS Nicholas und USS O’Bannon, erfolgte am 3. März 1941 bei Bath Iron Works. Das Typschiff, die USS Fletcher, wurde am 2. Oktober 1941 bei Federal Shipyards in Kearny auf Kiel gelegt. Die Nicholas lief am 19. Februar 1942 als erstes Schiff vom Stapel, die Indienststellung erfolgte am 4. Juni 1942, dreieinhalb Wochen vor dem Typschiff der Klasse. Das letzte Schiff, die USS Rooks, lief am 6. Juni 1944 bei Seattle-Tacoma vom Stapel. Änderungen Noch während des Baus der ersten Einheiten flossen bereits die ersten Erfahrungen aus dem Krieg in die Konstruktion ein. Es zeigte sich, dass die ursprünglichen runden Steuerhäuser der ersten Schiffe eine schlechte Rundumsicht boten. Sie wurden daher bei den späteren Schiffen durch einen die Vorderseite umgebenden Umlauf ergänzt, der die beiden Brückennocken miteinander verband. Nur wenige Einheiten wurden mit dem ursprünglich vorgesehenen 28-mm-Vierling und 12,7-mm-Maschinengewehren ausgerüstet, ersterer wurde durch eine 40-mm-Doppellafette ersetzt, zudem gehörten nun sechs 20-mm-Flugabwehrgeschütze zum Entwurf. Der Mangel an Aluminium während des Krieges machte es nötig, die oberen Aufbauten ebenfalls aus Stahl zu fertigen, was eine Gewichtserhöhung um 50 Tonnen mit sich brachte und die Topplastigkeit der Schiffe erhöhte. Um dem entgegenzuwirken, wurde die Feuerleitanlage um zwei Meter nach unten verlegt, außerdem wurde auf einen Großteil der Panzerung der Kommandobrücke verzichtet. Dabei wurde ebenfalls die Brücke dahingehend modifiziert, dass der von Beginn an offene Umlauf ins Deckshaus integriert war. Der geschlossene Teil wurde weiter nach achtern versetzt und hatte nunmehr eine eckige Form. Mitte 1942 wurde deutlich, dass zur Koordination der Waffen und zur Verarbeitung der Informationen an Bord ein zentraler Lageraum notwendig war. Die Schiffe wurden daher mit einem Combat Information Center (CIC) nachgerüstet, das sich unterhalb der Kommandobrücke auf dem Niveau des Hauptdecks befand und in dem alle Informationen während des Gefechts zusammenliefen. Umbauten Zweiter Weltkrieg Schon 1940 gab es Planungen, sechs Zerstörer mit einer Bordfluganlage für ein Bordflugzeug auszurüsten, um auch kleineren Zerstörerverbänden Luftaufklärungskapazitäten zu geben. Bei fünf Schiffen (DD-476 bis DD-480) wurden während des Baus 1942/43 die notwendigen Änderungen vorgenommen, jedoch nach wenigen Monaten Ende 1943 wieder rückgängig gemacht. Gründe hierfür waren unter anderem, dass die Flugzeuge auf den kleinen Schiffen nicht mit ihrer vollen Waffenlast ausgerüstet werden konnten, aber es zeigte sich auch, dass das Konzept aufgrund der mittlerweile angewachsenen Trägerflotte und der vergrößerten Anzahl von Kreuzern und Schlachtschiffen, die Aufklärungsflugzeuge trugen, überflüssig geworden war. Dazu kam, dass eine weitere Ausrüstung der Zerstörer mit Luftabwehr aufgrund fehlender Platz- und Gewichtsreserven unmöglich war. Das sechste Schiff DD-481 wurde 1943 nicht mehr umgerüstet, sondern in der ursprünglichen Konfiguration fertiggestellt. Als Reaktion auf die verstärkten japanischen Angriffe mit Tokkotai-Fliegern (Kamikaze) wurde bei über 50 Schiffen der Fletcher-Klasse die Luftabwehrbewaffnung im Sommer 1945 drastisch verstärkt. Die Geschütze wurden zum Teil mit Radarsteuerungen ausgerüstet, viele 20-mm-Einzelgeschütze durch Doppellafetten ersetzt und die Torpedobewaffnung verringert. Kalter Krieg Mit dem Anwachsen der Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion und der sowjetischen Aufrüstung im Marinebereich wurde deutlich, dass die US-amerikanische Marine mehr U-Jagdschiffe benötigte. Aus diesem Grund wurden 1948 aus der Reserveflotte 18 eingemottete Fletcher-Zerstörer wieder reaktiviert und mit verstärkter U-Jagdbewaffnung ausgestattet. Zusätzlich zu den 18 U-Jagdzerstörern wurden zu Beginn des Koreakriegs über 60 weitere Fletchers aus der Reserveflotte geholt und für ihren neuen Einsatzzweck teilweise umgebaut. Bei 43 Schiffen wurde der mittlere Geschützturm entfernt, an seiner Stelle wurden zwei 76-mm-Doppellafetten installiert. Zusätzlich erhielten die Schiffe neue Feuerleitanlagen. Diese Schiffe wurden inoffiziell als La-Valette-Klasse bezeichnet. Die restlichen reaktivierten Schiffe behielten ihre Bewaffnung aus dem Zweiten Weltkrieg und wurden als Daly-Klasse bezeichnet. FRAM II Ursprünglich war 1957 beschlossen worden, alle 18 Schiffe, die bereits 1948 den U-Jagdumbau erhalten hatten, nach FRAM II umzubauen. 1958 begann der Umbau der USS Hazelwood, die als Testschiff für die Drone Anti-Submarine Helicopter dienen sollte. In der Folge wurden drei Zerstörer (USS Radford, USS Jenkins und USS Nicholas) in Pearl Harbor umgebaut und mit einem Startplatz sowie einem Hangar für die DASH-Drohnen ausgerüstet. 1961 wurden die Umbaupläne für die 15 übrigen DDEs gestrichen, so dass es bei drei Umbauten der Fletcher-Klasse blieb. Diese Schiffe wurden inoffiziell als Radford-Klasse bezeichnet. Die drei Zerstörer verließen auch als erste Schiffe des FRAM-II-Programms 1969 die US-Marine. Dienstzeit Die Zerstörer der Fletcher-Klasse wurden zwischen 1942 und 1944 in Dienst gestellt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden 145 der verbliebenen Zerstörer stillgelegt und der Reserveflotte zugeteilt. Zu Beginn des Koreakrieges wurden zusätzlich zu den 18 umgebauten U-Jagdzerstörern aus den Jahren 1948/49 über 60 weitere Zerstörer reaktiviert, 19 davon wurden nach Ende der Kampfhandlungen in Korea wieder ausgemustert. Die übrigen Zerstörer blieben bis Ende der 1960er Jahre, Anfang der 1970er Jahre in Dienst. Das letzte Schiff der Klasse, das bei der US-Marine außer Dienst gestellt wurde, war die USS Mullany, die am 6. Oktober 1971 stillgelegt und aus den Schiffsregistern gestrichen wurde. Zwischen 1958 und 1960 wurden sechs Schiffe der Fletcher-Klasse (USS Anthony, USS Ringgold, USS Wadsworth, USS Claxton, USS Dyson und USS Charles Ausburne) als Waffenhilfe an die damals noch im Aufbau befindliche Bundesmarine übergeben, wo sie als Klasse 119 (Schiffsnamen: Zerstörer 1 bis Zerstörer 6) bis in die 1980er Jahre im Einsatz waren. Ursprünglich als Artillerieunterstützer für amphibische Landungen gedacht, wurden sie später zumeist als U-Jagdschiffe in den NATO-Verbänden im Nordatlantik sowie zur Sicherung der Ostseezugänge eingesetzt. Die Schiffe wurden durch die Fregatten der Bremen-Klasse ersetzt. Zerstörer 1 wurde 1979 vor Kreta während einer Übung versenkt, Zerstörer 6 wurde 1968 verschrottet. Zwei der Zerstörer (Zerstörer 2 und Zerstörer 3) wurden im Anschluss an ihren Einsatz in der Bundesmarine noch einige Jahre lang von Griechenland eingesetzt, die beiden anderen (Zerstörer 4 und Zerstörer 5) wurden als Ersatzteillager von der griechischen Marine ausgeschlachtet. 45 weitere Zerstörer wurden Ende der 1950er Jahre an andere Verbündete der Vereinigten Staaten verkauft oder verpachtet. Brasilien erhielt acht Schiffe, an die Marinen von Argentinien, Griechenland, Spanien und der Türkei wurden jeweils fünf Schiffe übergeben. Vier Schiffe der Fletcher-Klasse gingen an Taiwan, jeweils drei an Peru, Italien und Südkorea. Japan erhielt zwei ehemalige US-Zerstörer, zusätzlich wurden zwei weitere Schiffe 1958 neu gebaut. Mexiko und Chile erwarben ebenfalls zwei Schiffe, ein Zerstörer ging an Kolumbien. Verbleib Schiffe, die nicht an andere Marinen abgegeben wurden, wurden entweder zwischen 1968 und 1976 verschrottet oder dienten als Zielschiffe für Waffentests. Vier Schiffe der Fletcher-Klasse sind als Museumsschiffe erhalten geblieben, drei in den Vereinigten Staaten, eines in Griechenland USS Cassin Young (DD-793), in Boston, Massachusetts USS The Sullivans (DD-537), in Buffalo, New York USS Kidd (DD-661), in Baton Rouge, Louisiana Velos (D16) ex. USS Charrette (DD-581) im Schiffsmuseum Trokadero Marina in Griechenland Die 2002 bei der mexikanischen Marine ausgemusterte John Rodgers sollte seit Ende 2006 von der Beauchamp Tower Corporation in Lázaro Cárdenas für die Verlegung nach Mobile, Alabama vorbereitet werden, wo sie als Museumsschiff dienen soll, die Verlegung scheiterte aber an finanziellen und bürokratischen Hürden. 2008 kündigten die mexikanischen Behörden an, das Schiff zu beschlagnahmen und zu verschrotten, um die mittlerweile angefallenen Liegegebühren und sonstigen Kosten in Höhe von einer Million US-Dollar einzutreiben. Anschließend wurde das Schiff 2010 und 2011 demontiert und verschrottet. Siehe auch: Liste der Einheiten der Fletcher-Klasse Fotodetails Oben zu sehen: Die Fletcher im Jahre 1942 kurz nach Indienststellung, unten dasselbe Schiff 1964, hier mit Teilen der Mannschaft an der Reling. Oben zu erkennen die fünf Geschütztürme, die Torpedorohrgruppen sowie die ursprüngliche SC-Radaranlage über der Brücke. Am Bug ist die kleine Kennnummer zu sehen, der Rumpf ist im Tarnmuster Schema 12 splotch gestrichen. 1964 sind drei der fünf Geschütze entfernt, ebenso die ursprünglichen Torpedorohre. Anstelle des zweiten vorderen Geschützes befindet sich ein U-Jagdraketenwerfer Mark 108 Alfa, zwei der hinteren Geschütze wurden durch Flugabwehrkanonen ersetzt. Der hintere Schornstein trägt nun ebenfalls einen Mast, auf dem vorderen Mast befinden sich neuere Radaranlagen. Am Bug prangt nun eine große Kennnummer, das Schiff ist einheitlich grau gestrichen Schematische Darstellung Technik Schiffsmaße Die Schiffe der Fletcher-Klasse hatten eine Gesamtlänge von 114,7 m und eine Kielwasserlinie von 112 m. Die Breite betrug 11,82 m und der Tiefgang 5,40 m. Die Verdrängung lag bei 2.276 tn.l. Die Schiffe verfügten über ein durchgehendes Hauptdeck, die Decksaufbauten nahmen etwa die mittlere Hälfte der Schiffslänge ein. Höchster Punkt an Bord war die Feuerleitstelle für die 127-mm-Geschütze, die sich oberhalb der Kommandobrücke befand. Hinter den Brückenaufbauten befanden sich ein Mast mit Radaranlagen und die beiden Schornsteine. Der hintere Decksaufbau trug zu Beginn der Einsatzzeit zwei starke Suchscheinwerfer, diese wurden später aus Gewichtsgründen entfernt, und beherbergte den Notsteuerplatz für den Fall eines Verlusts der Kommandobrücke. Die Schiffe verfügten über keine große zusätzliche Panzerung, lediglich im Bereich des Maschinenraums und des Steuerhauses wurde eine 1,2 cm dicke Zusatzpanzerung aus gehärtetem Stahl angebracht, die vor schwerem Maschinengewehrfeuer und Bombensplittern schützen sollte, die Schiffsseiten wurden über den lebenswichtigen Bereichen durch 19-mm-Panzerstahl geschützt. Antrieb Der Antrieb der Schiffe erfolgte durch zwei Dampfturbinen von General Electric, die ihre Leistung an zwei Wellen mit je einem Propeller abgaben. Der für die Turbinen benötigte Dampf wurde in vier Babcock & Wilcox-Wasserrohrkesseln mit einem Arbeitsdruck von 42 bar und einer Temperatur von 4,54 Grad Celsius erzeugt. Die Turbinen waren in zwei Zweiergruppen mittschiffs angeordnet. Die Gesamtleistung der Turbinen betrug 60.000 Shp (44.130 kW), die Höchstgeschwindigkeit lag bei 35 Knoten. Mit einem Treibstoffvorrat von 492 tn.l. Schweröl hatten die Schiffe bei einer Marschgeschwindigkeit von 12 Knoten (22,2 km/h) eine maximale Reichweite von 4.800 Seemeilen (8.889 Kilometer). Die Schiffe verfügten über ein elektrisch angesteuertes Einzelruder. Im Notfall konnte das Ruder auch von Hand aus dem Ruderraum betätigt werden. Bewaffnung Hauptbewaffnung Die Hauptbewaffnung bestand aus fünf 127-mm-Geschützen in fünf Einzelgeschütztürmen; zwei vor und drei hinter den Aufbauten. Die Geschütze waren auf Mk-30-Lafetten mit einem Gewicht von 18 tn.l. gelagert. Die Geschützrohre waren 5,68 m lang und wogen 1,8 Tonnen. Der Höhenrichtbereich betrug maximal 85°, womit die Geschütze bei einer Mündungsgeschwindigkeit von 792 m/s eine Reichweite von 11.340 m besaßen. Der Schwenkbereich war von der Geschützposition abhängig und betrug zwischen 284 und 330°. Die Drehgeschwindigkeit lag bei bei 34° und die Erhöhungsgeschwindigkeit bei 18° pro Sekunde. Der Antrieb erfolgte durch einen 7,4-kW-Motor. Zur Bedienung befanden sich neun Besatzungsmitglieder in jedem Turm, vier weitere im Munitionsraum unter dem Geschütz, wohin die Granaten mittels eines Aufzugs aus dem Magazin im Schiffsrumpf befördert wurden. Das Geschütz musste von Hand geladen werden. Dies konnte aber bei jedem Winkel geschehen, was die Feuergeschwindigkeit erhöhte. Die Kadenz lag normalerweise bei 15 bis 20 Schuss pro Minute, gut eingespielte Mannschaften erreichten bis zu 30 Schuss pro Minute. Verschossen wurden entweder Mark.49-Splittergranaten zur Luftabwehr oder panzerbrechende Mark-46-Granaten. Bei einer Entfernung von zehn Kilometern konnten die 24,5 kg schweren panzerbrechenden Granaten, bis zu 51 mm Rumpfpanzerung durchschlagen. Die 25 kg schweren Luftabwehrgranaten hatten bei einer Mündungsgeschwindigkeit von 762 m/s eine Gipfelhöhe von fast zwölf Kilometern. Nach dem Feuern lief das Rohr um bis zu 38 cm zurück, bevor es hydraulisch gedämpft wurde. Luftabwehrbewaffnung Die Flugabwehrbewaffnung wurde im Laufe des Krieges immer mehr verstärkt, ursprünglich bestand sie aus einem 28-mm-Vierling und sechs 20-mm-Oerlikon-Maschinenkanonen. Die 28-mm-Geschütze erreichten eine Kadenz von rund 100 Schuss pro Minute, die maximale Reichweite betrug etwa vier Seemeilen. Die Vierfachlafette war um 360° drehbar und um bis zu 110° nach oben und 15° nach unten schwenkbar. Die 20-mm-Kanonen verschossen zwischen 250 und 320 Schuss pro Minute, die Reichweite lag bei etwa zwei Seemeilen. Die Gipfelhöhe betrug knapp 3000 m. Die Zahl der 20-mm-Kanonen wurde im Laufe des Krieges auf bis zu zwölf pro Schiff erhöht, zum Teil wurden die älteren Einzellafetten durch Doppellafetten ersetzt, was die Feuerkraft noch einmal erhöhte.Der 28-mm-Vierling wurde bald durch einen 40-mm-Zwilling ersetzt, dazu kamen weitere Zwillinge, zum Teil waren sie halbautomatisch radargesteuert. Die Kadenz der 40-mm-Kanonen betrug bis zu 160 Schuss pro Minute, die maximale Reichweite lag bei vier Kilometern. Die maximal erreichbare Höhe der 0,9 kg schweren Explosivgranaten betrug 6797 Meter. 1945 befanden sich auf einigen Zerstörern zwei 40-mm-Vierlinge und drei Zwillinge, was den Schiffen mit insgesamt 14 40-mm-Geschützen eine große Luftabwehrkapazität gab. Während des Kalten Kriegs wurden die im aktiven Dienst verbliebenen Einheiten mit drei 76,2-mm-Zwillingsgeschützen ausgerüstet, welche die 40-mm-Bofors-Kanonen und teilweise den Turm 53 ersetzten. Die 76,2-mm-Kanonen hatten eine Kadenz zwischen 45 und 50 Schuss pro Minute. Die 5,9 kg schweren Explosivgranaten hatten eine Reichweite von über sieben Seemeilen, die maximale Schusshöhe lag bei über 9000 Metern. Die Feuerleitung erfolgte über ein Mark-56-Radar. Torpedorohre Zum Einsatz gegen Schiffe befanden sich zehn 21-Zoll-(533-mm-)Torpedorohre in zwei drehbaren Fünfergruppen auf den Aufbauten mittschiffs. Die Torpedorohre konnten mittels eines Krans, der am vorderen Schornstein angebracht war, nachgeladen werden. Die Torpedos wogen 1.004 kg und besaßen einen 353-kg-Sprengkopf mit Aufschlagzünder. Die Reichweite betrug etwa 7,5 Seemeilen, die maximale Geschwindigkeit der Torpedos lag bei 45 Knoten. Kurs, Tiefe und Geschwindigkeit wurden vor dem Abschuss der Waffe eingestellt.Der vordere Rohrsatz wurde 1945 bei 50 Schiffen zugunsten stärkerer, radargesteuerter Luftabwehrbewaffnung entfernt. U-Jagdbewaffnung Auf dem Heck befanden sich zur U-Jagd sechs Wasserbombenwerfer für 300-lb-(136-kg)-Bomben mit insgesamt 30 Wasserbomben sowie zwei Ablaufschienen für bis zu 26 600-lb-(272-kg)-Wasserbomben. Die ursprünglich verwendeten, tonnenförmigen Mark 7 „ash can“ (Ascheneimer)-Ladungen wurden ab 1943 durch stromlinienförmige Mark 9 „tear drop“ (Tränen) ersetzt, die schneller sanken und durch ihre Stabilisierungsflossen besser kontrollierbar waren. Mit der U-Jagd-Umrüstung 1948 erhielten 18 Zerstörer einen schweren Mark-15-Hedgehog-Werfer sowie vier Mark-24-U-Jagdtorpedorohre in den achteren Aufbauten. Wenig später wurden dann acht dieser DDEs mit einem Mark-108-U-Jagdraketenwerfer (Weapon Alfa), der pro Minute zwölf Wasserbomben zwischen 700 und 900 m weit befördern konnte, vor der Brücke ausgerüstet. Ab 1958 erhielten die U-Jagdzerstörer dann zusätzlich je zwei kurze Mark-32-Drillingstorpedorohre auf jeder Seite der Aufbauten. Defensivmaßnahmen Um sich und verbündete Schiffsverbände vor optischer Erfassung zu verbergen, verfügten die Zerstörer über zwei Möglichkeiten, Rauch- und Nebelwände zu legen. Durch Einspritzung des Treibstoffs (Schweröl) in die Schornsteine wurde dichter, schwarzer Rauch erzeugt. Am Heck der Zerstörer befanden sich zudem Tanks, in denen sich Schwefeltrioxid und Chlorsulfonsäure befand. Diese Komponenten wurden gemischt und versprüht, was einen dichten weißen Nebelvorhang hinter dem Schiff erzeugte. Während der Schlacht vor Samar wurde diese Taktik erfolgreich von Taffy 3, einem Zerstörerverband, angewendet. Aufklärung und Feuerleitung Hauptradar der Zerstörer war das SC-Radar von General Electric in verschiedenen Versionen, dessen rechteckige, etwa 4,6 Meter × 1,4 Meter große Antenne sich an der Mastspitze befand. Das Radar konnte Flugzeuge auf eine Entfernung bis zu 30 Seemeilen orten, spätere Versionen besaßen eine doppelt so große Reichweite. Die Ortungsreichweite bei Schiffen lag je nach Größe des Ziels zwischen 5 und 20 Seemeilen. Im Laufe des Kriegs wurden die Schiffe dann zusätzlich mit einer Anlage zur Freund-Feind-Erkennung ausgerüstet, deren Antenne sich an der Radarantenne befand. Zur Ortung von Oberflächenzielen verfügten die Schiffe über ein SG-Radar von Raytheon mit einer Reichweite von bis zu 22 Seemeilen, das auch eingeschränkt zur Ortung von Flugzeugen eingesetzt werden konnte. Die Antenne befand sich etwas unterhalb der Mastspitze. Nach dem Krieg wurden diese Anlagen durch das SPS-6-Radar ersetzt, das eine Erfassungsreichweite von bis zu 140 Seemeilen besaß. Die Antenne war 5,5 Meter × 1,5 Meter groß, wog etwa 400 kg und hatte eine Leistung von 500 kW. Einige Schiffe erhielten auch das SPS-29-Radar mit 270 Seemeilen Reichweite. Als Feuerleitanlage für die 5"-Geschütze wurde auf den Schiffen ein Mark-37-System verwendet, das sich oberhalb der Brücke befand. Es bestand aus dem drehbaren Aufbau, der die optischen Erfassungsanlagen sowie das Mark-4-Feuerleitradar trug sowie dem darunter liegenden Teil, der die elektromechanischen Mark-1-Feuerleitrechner beherbergte. Die gesamte Anlage war mit 18,1 Tonnen Gewicht nur unwesentlich leichter als ein 5-Zoll-Geschützturm. Zur Bedienung waren zwölf Besatzungsmitglieder nötig. Luftziele konnten im Horizontalflug bis zu Geschwindigkeiten von 400 Knoten verfolgt werden, im Sturzflug bis zu 250 Knoten. Die quadratische, 1,8 Meter × 1,8 Meter messende Mark-4-Antenne wurde später durch eine etwas kleinere Mark-12/22-Doppelantenne ersetzt, die eine verbesserte Verfolgung von Luftzielen ermöglichte. Die 40-mm-Geschütze wurden im Laufe des Krieges zum Teil mit Mark-63-Blindfeuerleitgeräten ausgestattet, die Anlage wurde ebenfalls bei den 76,2-mm-Geschützen verwendet. Zur Ortung von Unterwasserzielen waren die Fletchers mit einer Sonaranlage ausgestattet, deren Ortungs- und Peilanlagen sich im vorderen Rumpfbereich befanden. Das Sonar konnte sowohl aktiv als auch passiv betrieben werden. Die drei nach FRAM II umgebauten Zerstörer erhielten außerdem ein SQA-10-Schleppsonar. Flugzeuge Für die Aufnahme der Bordfluganlage und des Aufklärungsflugzeuges musste bei den fünf umgerüsteten Zerstörern das mittlere Geschütz (53), der achtere Torpedorohrsatz sowie das Deckhaus zwischen den Geschütztürmen 53 und 54 entfernt werden. Anstelle der Aufbauten wurde ein Mark-VI-Flugzeugkatapult aufgestellt, mit dem die Vought Kingfisher gestartet wurde. Zur Bergung des Flugzeugs wurde am achteren Schornstein auf der Backbordseite ein Mast mit einem Ausleger installiert, der als Flugzeugkran diente. Zusätzlich wurden Tanks für 435 Liter Flugbenzin und 35 Liter Schmieröl an Bord untergebracht. Die 40-mm-Flugabwehrkanone, die sich ursprünglich auf dem Deckhaus befand, wurde mitsamt dem Feuerleitradar auf das Achterschiff verlegt. Drohnen Um Platz für den Hangar und die Landefläche zu schaffen, wurde das achtere Deckhaus entfernt, ebenso die Geschütze 53 und 54. An ihrer Stelle wurde ein Hangar für zwei QH-50-Drohnen mit Wartungs- und Betankungseinrichtungen gebaut, an den sich die Landefläche anschloss. Die Drohnen wurden von Bord des Schiffes ferngesteuert und trugen zwei Mark-44-Torpedos. Wegen schwerer Probleme mit der Steuerung und der Zuverlässigkeit wurde das Programm aber schnell wieder aufgegeben. Besatzung Die Besatzung eines Zerstörers der Fletcher-Klasse bestand 1942 aus 273 Mann, darunter neun Offiziere. Kommandant war ein Offizier im Dienstgrad Lieutenant Commander oder Commander. Die Verstärkung der Luftabwehrbewaffnung und der Einbau der Kommandozentrale an Bord erhöhte die Zahl der Besatzungsmitglieder auf 329. Die Besatzung war in vier Schiffsdivisionen aufgeteilt. 1. Schiffsdivision: seemännisches Deckspersonal 2. Schiffsdivision: Geschütz-, Waffenpersonal 3. Schiffsdivision: Elektrik, Maschinenpersonal 4. Schiffsdivision: Schiffspersonal (z. B. Funker, Plotter, Waffenleitung über Radar), Versorgung, Küche, Personalbüro, Stewards Der größte Teil der Besatzung war für die Bedienung der Bewaffnung zuständig, in der Kommandozentrale waren etwa ein Dutzend Besatzungsmitglieder eingesetzt; die Aufsicht dort hatte der Erste Offizier. Für die Versorgung der Besatzung war die Kombüse zuständig; an Bord gab es auch eine Wäscherei, die meist einmal wöchentlich wusch. Einsatzprofil Zweiter Weltkrieg Obwohl die meisten Schiffe der Klasse an der Ostküste der Vereinigten Staaten gebaut wurden, kamen alle Zerstörer auf dem pazifischen Kriegsschauplatz zum Einsatz. Ihre Hauptaufgabe war die Begleitung und der Schutz anderer Schiffe. Mit ihrer umfangreichen Sonar- und U-Jagdausrüstung stellten sie die U-Bootabwehr in größeren Schiffsverbänden, aber auch die Verteidigung gegen feindliche Schiffe wurde von den Fletchers übernommen. Mit der Verstärkung der japanischen Luftangriffe und der Einrichtung des Combat Information Centers an Bord wurden die Schiffe auch vermehrt als Radar- und Luftabwehrvorposten von Trägerkampfgruppen und schweren Einsatzverbänden eingesetzt. In dieser Position fungierten die Schiffe dann auch als Jägerleitstellen für die amerikanischen Marineflieger gegen angreifende japanische Flugzeuge. Zum Teil waren die Zerstörer aber auch in kleineren Einsatzverbänden ohne die Begleitung von Trägern und Schlachtschiffen unterwegs. Diese Zerstörer- oder Kreuzergeschwader operierten zu Beginn des Krieges meist eigenständig, im Verlaufe des Krieges wurden sie zumeist größeren Kampfverbänden unterstellt. Aufgrund ihrer starken Artilleriebewaffnung wurden die Fletchers auch oft zur Vorbereitung und Unterstützung amphibischer Landungsoperationen eingesetzt, sie lieferten auch oft Artillerieunterstützung für bereits gelandete Einheiten. Kalter Krieg Die 18 zu U-Jagdzerstörern umgebauten Schiffe wurden ab 1949 zusammen mit den U-Jagdflugzeugträgern (CVS) der Navy in U-Jagdkampfgruppen, so genannten „Hunter-Killer-Groups“ eingesetzt. Ihr Haupteinsatzziel war das Aufspüren und Jagen der sowjetischen Atom-U-Boote mit Interkontinentalraketen. Die Schiffe der La-Valette- und Daly-Unterklassen wurden während des Koreakriegs und zum Teil noch während des Vietnamkriegs als Luftabwehrschiffe in Flugzeugträgerverbänden, aber zumeist für Küstenbeschießungen eingesetzt, da die Luftabwehrgeschütze gegen die immer schneller werdenden Jet-Flugzeuge nur unzureichend eingesetzt werden konnten. Beschädigungen und Verluste Die Verluste unter den Fletchers während des Zweiten Weltkriegs waren relativ hoch; etwa 10 % der Schiffe wurden versenkt, nahezu die Hälfte wurde zum Teil schwer beschädigt. Der erste Zerstörer der Klasse, der verlorenging, war die USS De Haven, die am 1. Februar 1943, nicht ganz ein halbes Jahr nach ihrer Indienststellung, vor Savo Island nach mehreren Bombentreffern sank. Während der letzten Kriegsmonate waren die Verluste besonders hoch, zwischen April und Juli 1945 wurden elf Zerstörer durch Feindeinwirkung, zumeist Kamikazeflugzeuge, versenkt, die meisten davon während der Schlacht um Okinawa. Insgesamt gingen während des gesamten Krieges 18 Zerstörer durch Feindeinwirkung verloren. Die USS Spence kenterte am 18. Dezember 1944 in einem schweren Taifun und sank. Viele Zerstörer wurden im Verlauf des Krieges durch Bomben und Kamikazeangriffe beschädigt, sechs davon so schwer, dass sie vorzeitig außer Dienst gestellt und verschrottet wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden drei weitere Zerstörer bei Unfällen schwer beschädigt und ausgemustert. Literatur Weblinks Fletcher-Klasse bei globalsecurity.org (englisch) Fletcher-Klasse bei destroyerhistory.org (englisch) Anmerkungen Einzelnachweise Militärschiffsklasse (Vereinigte Staaten) Zerstörerklasse
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke%20Berlin%E2%80%93Wriezen
Bahnstrecke Berlin–Wriezen
|} Die Bahnstrecke Berlin–Wriezen, auch Wriezener Bahn genannt, ist eine 1898 eröffnete Nebenbahn in Berlin und Brandenburg. Sie führt vom Bahnhof Berlin-Lichtenberg (bis 1938: Lichtenberg-Friedrichsfelde) über Ahrensfelde, Werneuchen und Tiefensee nordostwärts nach Wriezen im Oderbruch. Zusammen mit der in Wriezen anschließenden sechs Jahre älteren Bahnstrecke Wriezen – Jädickendorf bestand bis 1945 ein direkter Schienenweg von Berlin über Königsberg (Neumark) nach Stargard im heutigen Polen. Ausgangspunkt der Strecke ist der Bahnhof Berlin-Lichtenberg. Von Beginn an fuhren einzelne Reisezüge auch in Verlängerung über die Ostbahn ab dem zentraler gelegenen Schlesischen Bahnhof (heute: Ostbahnhof). Im Jahr 1903 ging nordöstlich des Schlesischen Bahnhofs der Wriezener Bahnsteig in Betrieb. Der ab 1924 als Wriezener Bahnhof bezeichnete Flügelbahnhof war bis 1949 Ausgangspunkt der Reisezüge in Richtung Wriezen. Anfang der 1970er Jahre wurde der Streckenteil zwischen Berlin-Lichtenberg und Berlin-Marzahn aufgegeben. Die Züge fuhren seitdem über das einen Kilometer östlich gelegene Biesdorfer Kreuz auf einer parallel zur Ostbahn ostwärts und dem Berliner Außenring nordwärts errichteten Neubaustrecke. Im Jahr 1998 wurde der Verkehr zwischen Tiefensee und Wriezen und 2006 ab Werneuchen eingestellt. Seit 2004 findet von Tiefensee bis zum Prötzeler Ortsteil Sternebeck ein touristischer Draisinenbetrieb statt. Zwischen Sternebeck und Wriezen ist seit 1997 der Verein MEV Museumseisenbahn Sternebeck aktiv für die Freihaltung der Bahnanlagen tätig. Geschichte Vorgeschichte Pläne für eine Eisenbahnverbindung von Berlin in die Neumark datierten aus dem Jahr 1863. Ein Komitee unter Vorsitz des Königsberger Bürgermeisters bat beim preußischen Handelsministerium um die Erlaubnis für Vorarbeiten einer Bahnstrecke Stargard – Pyritz – Zehden – Freienwalde – Berlin. Der zuständige Minister lehnte das Vorhaben mit Verweis auf die nicht näher ausgeführte Beschaffung von Geldmitteln ab. Nach erneuter Vorstellung gestattete der Minister am 11. August 1864 die Vorarbeiten für die Strecke Stargard – Königsberg – Freienwalde unter dem Vorbehalt, dass daraus kein Anspruch auf eine Konzession entstünde. Selbige wurde nach Abschluss der Arbeiten mehrmals verweigert, da das Ministerium die Wirtschaftlichkeit nicht gegeben sah. So fiel die Distanz zwischen Berlin und Stargard nur um 0,8 Meilen (≈ 6,0 Kilometer) kürzer aus als über die seit 1846 bestehende Verbindung. Demgegenüber stand aber die deutlich ungünstigere Trassierung über den Barnim mit stärkeren Steigungen. Ein Verbesserungsvorschlag zielte darauf ab, die Strecke über Wriezen statt über Freienwalde zu führen, da dieser Verlauf eine günstigere Trassierung aufwies. Neben dem Vorschlag des Königsberger Komitees, dem auch der Oberbarnimer Landrat Alexis von Haeseler angehörte, gab es in der Gründerzeit weitere Projekte ähnlicher Natur. Unter anderem beabsichtigten sowohl die Berlin-Stettiner als auch die Breslau-Schweidnitz-Freiburger Eisenbahn-Gesellschaft den Bau einer Bahnstrecke quer durch das Oderbruch. Die Berlin-Stettiner-Eisenbahn-Gesellschaft schloss Wriezen 1866 über eine Zweigbahn aus Eberswalde an das Eisenbahnnetz an. 1873 erhielt die Direktion der Königlichen Ostbahn den Auftrag, allgemeine Vorarbeiten für den Bau einer Strecke von Berlin über Wriezen und Pyritz nach Stargard vorzunehmen. Erwähnt sei auch der Vorschlag des Wriezener Bürgermeisters Mahler einer Bahnstrecke von Berlin über Wriezen nach Konitz, den dieser dem Staatsministerium 1874 vorlegte. Die Vorhaben zerschlugen sich infolge der Gründerkrise in den späten 1870er Jahren. Bau und Inbetriebnahme Ausgehend von der Initiative des Königsberger Landrats Bernd von Gerlach verabschiedete der Preußische Landtag am 19. April 1886 ein Eisenbahn-Anleihegesetz zur Finanzierung der Strecke Wriezen – Jädickendorf inklusive der Herstellung einer Oderbrücke für den Eisenbahn- und Fuhrwerksverkehr. Im Jahr darauf begann die Königliche Eisenbahndirektion Berlin (KED Berlin) mit den Vorarbeiten zur Herstellung einer Nebenbahn von Lichtenberg-Friedrichsfelde nach Wriezen. Das Vorhaben wurde am 8. April 1889 per Gesetz bewilligt. Das Eisenbahn-Anleihegesetz sah eine Investitionssumme von vier Millionen Mark vor, davon waren rund 433.000 Mark für den Grunderwerb, 313.000 Mark für die Beschaffung von Dampflokomotiven und 106.000 für den Ankauf von acht Personen- und zwei Gepäckwagen vorgesehen. Die gewählte Linienführung wich im Westabschnitt stark von der 1874 vorgeschlagenen Linie ab. Der Vorschlag sah als Ausgangspunkt einen eigenen Berliner Endbahnhof nördlich des Friedrichshains und eine Streckenführung über Hohenschönhausen, Altlandsberg, Strausberg, Prötzel, Möglin und Bliesdorf nach Wriezen vor. Da diese zu nah an der Ostbahn verlaufen wäre, wurde stattdessen eine Streckenführung über Werneuchen gewählt. Ausgangspunkt war der Bahnhof Lichtenberg-Friedrichsfelde an der Ostbahn, als Zwischenhalte waren der Haltepunkt Marzahn, die Haltestellen Ahrensfelde, Blumberg und Seefeld, der Bahnhof Werneuchen sowie die Haltestellen Tiefensee, Sternebeck und Schulzendorf vorgesehen. Auf Antrag des Gutsbesitzers Ernst von Eckardstein-Prötzel, der für den Bahnbau Grund und Boden auf neun Kilometern Streckenlänge unentgeltlich abtrat und das Vorhaben mit 5500 Mark unterstützte, wurde eine weitere Haltestelle bei Leuenberg zwischen Tiefensee und Sternebeck in das Projekt aufgenommen. Zunächst verzögerten Probleme beim Grunderwerb den Bahnbau. So widerrief der Gutsherr von Harnekop, General Gottlieb von Haeseler die von seinem Vater 1874 geäußerte Zusage zur Abtretung von Grund und Boden für den Bahnbau. Er wünschte stattdessen, dass die Strecke zwischen Schulzendorf und Sternebeck soweit nach Süden verlegt wird, dass sein Besitz nicht davon berührt würde. Der Minister der öffentlichen Arbeiten Karl von Thielen entsprach dem Wunsch des Grafen Haeseler, wodurch der Schulzendorfer Bahnhof weit außerhalb der Gemeinde entstand. Der Kreis Niederbarnim war nicht bereit, die Kosten für den Grunderwerb im Kreisgebiet zu übernehmen, da sich die Kreisverwaltung einen erheblich geringeren Nutzen von der Bahn versprach als die weiter entfernt liegenden Kreise Oberbarnim und Königsberg/Nm. Interessenten aus dem Oberbarnim boten dem Kreis daraufhin Subventionen in Höhe von 25.000 Mark an. Die Stadt Berlin war nicht bereit, das von der Bahntrasse durchschnittene Gelände durch die Irrenanstalt Herzberge und die städtischen Rieselfelder bei Bürknersfelde, Falkenberg und Ahrensfelde entschädigungslos und lastenfrei abzutreten. Die seit 1895 für den Bahnbau zuständige Königliche Eisenbahndirektion Stettin (KED Stettin) musste sich bereit erklären, die Kosten für den Eingriff in die Rieselfelder zu übernehmen. Außerdem erwirkte die Berliner Stadtverordnetenversammlung den Bau eines Haltepunkts beim Zentralfriedhof Friedrichsfelde. Die Verhandlungen mit beiden Verwaltungen zogen sich bis ins Jahr 1896 hin. Im Frühjahr 1897 begann dann der Streckenbau, der bis September 1898 abgeschlossen werden konnte. Die Strecke wurde in zwei Teilen eröffnet. Am 1. Mai 1898 ging der 23,57 Kilometer lange westliche Abschnitt von Lichtenberg-Friedrichsfelde nach Werneuchen in Betrieb, gleichzeitig übernahm die KED Berlin die Strecke von der KED Stettin. Der Weiterbau verzögerte sich, da insbesondere im Bereich des Gamengrundes bei Tiefensee umfangreiche Erdarbeiten nötig waren, um den 50 Meter hohen Damm aufzuschütten. Der große Höhenunterschied zwischen Schulzendorf () und Wriezen () erforderte bei dem maximalen Gefälle von 10 Promille eine Streckenverlängerung um 900 Meter. Im letzten Baulos bereiteten vor allem Geschiebe den Bauarbeitern große Mühe. Auf Betreiben des Oberbarnimer Landrates Heinrich von Oppen entstand bei Vevais eine Überführung, da ein Bahnübergang an gleicher Stelle schwer einzusehen gewesen wäre. Arbeitermangel verzögerten die Fertigstellung der Strecke schließlich um weitere zwei Wochen, sodass anstelle des anvisierten Termins am 1. Oktober die Strecke am 15. Oktober freigegeben wurde. Der 33,18 Kilometer lange Ostabschnitt von Werneuchen nach Wriezen verblieb nach der Inbetriebnahme bei der KED Stettin. In Wriezen ging das Streckengleis nach Kreuzung mit der Strecke Eberswalde – Frankfurt (Oder) direkt in das Streckengleis nach Jädickendorf über. Die Unterwegsstationen erhielten neben dem Hauptgleis in der Regel ein Kreuzungsgleis, ein Ladegleis sowie ein kleines Empfangsgebäude aus rotem oder gelbem Ziegelmauerwerk. Die Empfangsgebäude umfassten jeweils einen Dienstraum, zwei Wartesäle, Aborte und Geräteschuppen. Für den Sommerverkehr wurden einige Gebäude mit offenen Hallen ergänzt. Werneuchen als betrieblicher Mittelpunkt der Strecke und Endpunkt der Verstärkerzüge aus Berlin erhielt einen zweiten Dienstraum und eine Bahnhofsgaststätte. Für den Güterverkehr standen Kopf- und Seitenrampen sowie in Tiefensee, Sternebeck und Leuenberg Holzumschlagplätze zur Verfügung. Für die Beamten entstanden auf dem Bahnhofsgelände Dienstwohnungen. Den Forderungen des Kriegsministeriums entsprechend, waren Werneuchen und Schulzendorf mit 500 Meter langen Kreuzungsgleisen für die Begegnung von Militärzügen ausgestattet, die übrigen Stationen erhielten anfangs 270 Meter lange Gleise. 1900 bis 1920 In den ersten Jahren nach Eröffnung der Wriezener Bahn gab es auf der Ostbahn, in die die Wriezener Bahn in Lichtenberg-Friedrichsfelde mündete, merkliche Kapazitätsengpässe in Richtung Berlin. Nur ein einziges tägliches Reisezugpaar der Wriezener Bahn konnte ab Lichtenberg-Friedrichsfelde weiter in Richtung Schlesischer Bahnhof geführt wurde. Zur Jahrhundertwende wurden die Anlagen von Ostbahn und Schlesischen Bahn umfassend umgebaut. An beiden Strecken entstanden separate Gleispaare für die Stadt- und Vorortzüge getrennt von den Fern- und Gütergleisen. Die Fernzüge der Ostbahn und die Züge aus Richtung Strausberg fuhren ab 1901 über die weiter östlich verlaufende VnK-Strecke und die Ferngleise der Schlesischen Bahn zur Stadtbahn. Die Vorortzüge zur Stadtbahn nutzten von Lichtenberg-Friedrichsfelde die Vorortgleise der Ostbahn. Parallel dazu verkehrten die Güterzüge auf separaten Gleisen zum nördlich an die Anlagen des Schlesischen Bahnhofs und östlich an die Fruchtstraße angrenzenden Güterbahnhof der Ostbahn. Eine direkte Verbindung von diesen Gleisen und damit von der Wriezener Bahn zur Stadtbahn bestand nicht. Die Wriezener Personenzüge nutzten nach dem Umbau ebenfalls die Gütergleise der Ostbahn. Am Südwestende des Ostgüterbahnhofs und unmittelbar nordöstlich der Bahnhofshalle des Schlesischen Bahnhofs wurde ein kleiner Flügelbahnhof mit Empfangsgebäude und einem Mittelbahnsteig in Betrieb genommen. Es gab dort zwei Bahnsteiggleise und ein Lokomotivumfahrgleis, die über ein kurzes Verbindungsgleis mit den Gütergleisen der Ostbahn verbunden waren. Ein Fußgängertunnel verband den Bahnsteig mit dem Schlesischen Bahnhof. Die am 1. Oktober 1903 eröffnete Station hieß zunächst Berlin Schlesischer Bahnhof (Wriezener Bahnsteig), inoffiziell auch Wriezener Bahnhof genannt. Ab 1924 wurde Berlin Wriezener Bahnhof zum offiziellen Namen der Station. Am 15. Juli 1903 ging auf Betreiben der Genossenschaft für Viehverwertung Berlin zwischen Lichtenberg und Marzahn der Bahnhof Magerviehhof in Betrieb. Die Genossenschaft verpflichtete sich, die Kosten für die Einrichtung eines Personenbahnsteigs sowie eines zusätzlichen Haltepunktes Friedrichsfelde Ost an der Ostbahn zu übernehmen. Bis zur Eröffnung des Haltepunkts am 1. Oktober 1903 pendelten zusätzliche Züge zwischen Lichtenberg-Friedrichsfelde und Magerviehhof. Da der unweit des Magerviehhofs gelegene Haltepunkt Friedrichsfelde Ost im Geltungsbereich des Berliner Vororttarifs lag und häufiger Fahrtmöglichkeiten zur Berliner Innenstadt bot, war nach seiner Inbetriebnahme kein Bedarf mehr für die Pendelzüge gegeben. In Lichtenberg-Friedrichsfelde erhielt die Wriezener Bahn 1909 einen eigenen Bahnsteig, um den Zustieg mit den billigeren Vororttarif-Fahrkarten für die Stadt- und Vorortzüge zu verhindern, welcher in den Zügen der Wriezener Bahn nicht galt. In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg nahm die KED Berlin weitere Ausbaumaßnahmen an der Strecke vor. Der Bahnhof Blumberg erhielt 1903 Einfahrsignale, zwei Jahre darauf wurde die Streckenhöchstgeschwindigkeit von 40 auf 50 km/h angehoben. Am 1. Dezember 1907 ging auf Initiative des Rittergutbesitzers Eduard Arnhold die Haltestelle Werftpfuhl zwischen Werneuchen und Tiefensee in Betrieb, im Jahr darauf der Bahnhof Ahrensfelde Friedhof. Die Bahnhöfe Werneuchen, Magerviehhof, Seefeld und Ahrensfelde erfuhren von 1908 bis 1910 ebenfalls Erweiterungen. Nördlich vom Bahnhof Magerviehhof gingen 1908 die Abzweigstelle Iab (Industriebahn Abzweig) und die Industriebahn Tegel – Friedrichsfelde in Betrieb. Seit 1904 bestand südlich von Wriezen die Anschlussstelle Krautwurst zur Zementfabrik . 1904 lehnte die KED Berlin einen ersten Antrag zur Einführung des Berliner Vororttarifs auf der Strecke bis Werneuchen ab. 1909 bildete sich in Werneuchen und fünf weiteren Ortschaften eine Interessensgemeinschaft mit dem Ziel, den Vororttarif wenigstens auf den Verstärkerzügen zwischen Berlin und Werneuchen einzuführen. Die Budgetkommission des Abgeordnetenhauses lehnte die Petition ab. Zu dieser Zeit stand die Elektrifizierung der Berliner Stadt-, Ring- und Vorortbahnen bevor, deren Finanzierung eine Tariferhöhung erfordert hätte. Eine Ausweitung des Vororttarifs wurde daher nicht empfohlen. Der Berliner Synodalverband unternahm 1911 einen weiteren Vorstoß. Das Ministerium verwies darauf, dass bei Einführung des verbilligten Vororttarifs mit einer erhöhten Auslastung zu rechnen sei, die den Ausbau der eingleisigen Nebenbahn zu einer zweigleisigen Hauptbahn und die Beseitigung sämtlicher höhengleicher Übergänge erfordern würde. Als ein wesentlicher Grund wurde angeführt, dass nur wenige Siedlungen bestünden und durch die Rieselfelder um Marzahn und Ahrensfelde auch keine größere Siedlungstätigkeit zu erwarten sei. Am 23. Mai 1913 stellte die KED Stettin den Antrag zur strecken- und sicherungstechnischen Umwandlung der Strecke Berlin – Wriezen – Jädickendorf in eine Hauptbahn. Der Umbau sollte von 1916 bis 1919 erfolgen. Die KED Berlin griff den Vorschlag auf und stellte an das Ministerium der öffentlichen Arbeiten einen Ergänzungsantrag, um für den Streckenabschnitt Lichtenberg-Friedrichsfelde – Werneuchen einen Damm aufschütten zu können. Von den 37 Bahnübergängen entlang der Strecke wiesen neun einen zunehmenden Kraftverkehr auf, darunter die Chaussee Weißensee – Freienwalde. Eine Denkschrift der KED Berlin bezifferte die Kosten für den Streckenausbau auf 6,2 Millionen Mark bis Ahrensfelde Friedhof und 11,3 Millionen Mark bis Werneuchen. Am 29. November 1913 entschied der zuständige Minister Breitenbach, dass die mit dem Ausbau verbundenen Kosten in keinem Verhältnis zur künftigen Verkehrsentwicklung stünden. Wiederholte Eingaben der Stadt Werneuchen veranlassten den Minister der öffentlichen Arbeiten im März 1918 zu erneuten Untersuchung bezüglich der Ausweitung des Vororttarifs. Der zuständige Regierungsrat Giese bestätigte zwar, dass die Anzahl der Fahrten zwischen 1912 und 1917 von 777.000 auf 1,5 Millionen angestiegen waren. Er kam aber zu dem Schluss, dass die Zunahme „auf Ursachen zurückzuführen sei, die irgendwie mit dem Kriege zusammenhängen“. Damit waren eine Zunahme des Militärverkehrs, Hamsterfahrten und die Beschäftigung der Landbevölkerung in der Berliner Kriegsindustrie gemeint. Er nahm daher an, dass zu Friedenszeiten mit einem Rückgang der Zahlen zu rechnen sei. Weimarer Republik und Drittes Reich Mit Wirkung vom 1. April 1920 ging die Preußische Staatsbahn in der Deutschen Reichsbahn auf. Die Eisenbahndirektionen Berlin und Stettin wurden 1922 in Reichsbahndirektionen umgewandelt, das Direktionsgebiet änderte sich in Bezug auf die Wriezener Bahn nicht. Am 1. Oktober 1920 trat das Groß-Berlin-Gesetz in Kraft, das die Eingemeindung mehrerer Berliner Vorortgemeinden in die Hauptstadt zur Folge hatte. Die Berliner Stadtgrenze dehnte sich bis unmittelbar hinter den Bahnhof Ahrensfelde aus, die gleichnamige Gemeinde blieb hingegen im Kreis Niederbarnim. In der Nachkriegszeit sank die Nachfrage sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr. Bereits zum 1. Juli 1918 schloss die KED Berlin den Haltepunkt Friedrichsfelde Friedhof. Ab dem 15. April 1924 war Ahrensfelde Friedhof betrieblich ein Haltepunkt, an dem die Züge nur nachmittags hielten. Ab dem Frühjahr 1925 hielten wieder alle Züge. Der Zerfall der Habsburgermonarchie und die damit verbundenen politischen Änderungen hatten einen Rückgang im Viehaufkommen zur Folge. Dies hatte wiederum Auswirkungen auf den Fahrgastandrang im Bahnhof Magerviehhof, der zum 5. Oktober 1924 für den Personenverkehr geschlossen wurde. Aus Rücksicht auf die im Viehhof arbeitenden Pendler hielt vom 1. August 1925 an bis 1945 täglich ein Zugpaar aus Richtung Werneuchen/Tiefensee am Magerviehhof. Der Berliner Endbahnhof erhielt am 1. Oktober 1924 die Bezeichnung Berlin Wriezener Bahnhof. 1932 wurde der Oberbau zwischen Berlin und Werneuchen planmäßig durchgearbeitet. Im Zusammenhang mit dem Bau des Flugplatzes Werneuchen errichtete man 1936 einen Gleisanschluss vom Bahnhof Werneuchen zum Flugplatzgelände. 1938 erhielt der Bahnhof zudem ein drittes Überholgleis. Der Fliegerhorst war letztlich ausschlaggebend für die Einführung des Vororttarifs bis Werneuchen zum 15. Mai 1938. Der Bahnhof Lichtenberg-Friedrichsfelde wurde am gleichen Tag in Berlin-Lichtenberg umbenannt. Die ab 1937 aufgestellten Pläne der Reichsbahnbaudirektion Berlin zur Umgestaltung der Bahnanlagen im Großraum Berlin sahen mehrere Baumaßnahmen entlang der Wriezener Bahn vor. Der Wriezener Bahnhof sollte geschlossen und mit dem Ostgüterbahnhof zu einem Ortsgüterbahnhof Ost ausgebaut werden. Der Abschnitt zwischen Lichtenberg-Friedrichsfelde und Marzahn sollte unterbrochen werden und die zweigleisig auszubauende Strecke stattdessen an den neu zu errichtenden Güteraußenring (GAR) beidseitig angeschlossen werden. Der Bahnhof Magerviehhof wäre den Plänen nach weiterhin von Lichtenberg-Friedrichsfelde aus mit Übergabezügen bedient worden. Von Friedrichsfelde Ost sollte eine zweigleisige S-Bahn-Strecke über den Bahnhof Springpfuhl am GAR nach Marzahn gebaut werden, zwischen Marzahn und Werneuchen war ein Gemeinschaftsbetrieb der S-Bahn mit dem übrigen Verkehr vorgesehen. Der Fernverkehr von und nach Berlin sollte ab Blumberg über eine Neubaustrecke zur Stettiner Bahn und weiter zum neuen Nordbahnhof an der Ringbahn geleitet werden. Für den Durchgangsgüterverkehr war bei Lindenberg eine Verbindungskurve von der Neubaustrecke zum GAR und damit zum geplanten Rangierbahnhof Buchholz vorgesehen. Von den genannten Vorhaben wurde lediglich der Güteraußenring eingleisig und in teilweise geänderter Trassierung bis 1941 realisiert. Von Marzahn führte eine 0,9 Kilometer lange eingleisige Verbindungskurve nach Süden zum Kreuzungsbahnhof Springpfuhl am GAR. Die Kurve hatte insbesondere für Truppenbewegungen aus Richtung Süden über die Wriezener Bahn nach Stettin große Bedeutung. Die Strecke blieb außerhalb Berlins bis 1945 weitgehend von Kampfhandlungen verschont. In Berlin war vor allem der Abschnitt um den Schlesischen und Wriezener Bahnhof sowie zwischen Lichtenberg und Marzahn schwer betroffen, da sich östlich des Magerviehhofs ein militärischer Bereich befand. Von Sommer 1943 bis vermutlich Ende 1944 waren im Bahnhof zudem zwei Eisenbahngeschütze stationiert. Der Bahnhof in Wriezen erlitt während des Oderübergangs der Roten Armee erheblichen Schaden, ebenso die Fortsetzung der Strecke nach Jädickendorf. Beim Rückzug aus Wriezen am 16. April 1945 zerstörte die Wehrmacht den Gleiskörper an zwei oder drei Stellen zwischen Wriezen und Schulzendorf sowie zwischen der Reichsautobahnbrücke bei Blumberg und Ahrensfelde mit einem Schienenwolf. Zwischen Ahrensfelde und Marzahn machten mehrere Bombentrichter die Strecke unbefahrbar. Am 20. April 1945 erreichten sowjetische Verbände Werneuchen, einen Tag später die Berliner Stadtgrenze. Nachkriegszeit und DDR Nach Kriegsende befand sich die Wriezener Bahn in der Sowjetischen Besatzungszone. Vielerorts mussten Strecken- und Bahnhofsgleise zu Reparationszwecken an die UdSSR abgebaut werden. In Marzahn, Ahrensfelde Friedhof und Seefeld wurde jeweils das Kreuzungsgleis ausgebaut, die am Oderübergang unterbrochene Jädickendorfer Strecke gar gänzlich demontiert. Sowjetische Verbände nagelten den Streckenabschnitt Lichtenberg – Marzahn und die Industriebahn Tegel – Friedrichsfelde auf Breitspur um, um aus den dort gelegenen Industriebetrieben Reparationsgüter abtransportieren zu können. Über die Verbindung Ringbahn – Lichtenberg/Rummelsburg bestanden breitspurige Verbindungen zum Bahnhof Weißensee an der Ringbahn einerseits, sowie über den Betriebsbahnhof Rummelsburg zur Frankfurter Bahn andererseits und damit in Richtung Sowjetunion. Am 18. September 1945 befahl die Transportabteilung der SMAD die Wiederherstellung der normalspurigen Streckenabschnitte. Am 25. November 1945 nahm die Reichsbahn den Verkehr zwischen Berlin-Lichtenberg und Werneuchen mit vier Personenzugpaaren wieder auf. Die Züge hielten nicht mehr am Bahnhof Magerviehhof. Vor allem Kleingärtnern und Hamsterern kam die Verbindung zugute. Ab dem 4. Mai 1947 wurden der Wriezener Bahnhof in Berlin sowie ab dem 17. Mai 1945 Tiefensee wieder angefahren. Die Wiederinbetriebnahme bis Wriezen verzögerte sich indes, da der Wiederaufbau der Oderbruchbahn Vorrang hatte. Durch das Oderhochwasser vom März 1947 wurden die instandgesetzten Streckenabschnitte teilweise wieder zerstört. Der Leiter der Kraftverkehrsstelle des Kreises Oberbarnim suchte daraufhin ein privates Unternehmen zur Streckensanierung. Die Anliegergemeinden erklärten sich bereit, den Wiederaufbau finanziell zu unterstützen. Die seit 1945 für den Streckenabschnitt zuständige Reichsbahndirektion Greifswald lehnte das Vorhaben zunächst ab mit der Begründung, dass die Reichsbahn für den Wiederaufbau dieser strategischen Strecke verantwortlich sei, ließ aber bald von der Kritik ab. Am 18. August 1947 nahm die Reichsbahn den Verkehr zwischen Werneuchen und Wriezen wieder auf. Am 12. Dezember 1949 schloss sie den Wriezener Bahnhof in Berlin für den Personenverkehr und zog die Züge bis Berlin-Lichtenberg zurück. Der Bahnhofsname Berlin Wriezener Bahnhof ging 1950 auf den Ostgüterbahnhof über. Der Schlesische Güterbahnhof südlich der Frankfurter Bahn erhielt wiederum den Namen Berlin Ostgüterbahnhof. Die DDR-Führung beabsichtigte kurz nach der Staatsgründung, den Reiseverkehr möglichst aus West-Berlin fernzuhalten. Dies verlangte die Schließung der nur über die Westhälfte erreichbaren Kopfbahnhöfe und die Umleitung der Züge nach Ost-Berlin. Der 1947 demontierte Güteraußenring wurde hierzu einschließlich der Verbindungskurve Springpfuhl – Marzahn bis zum 1. April 1950 wiederhergestellt. Am 24. Mai 1950 ging die nordwestliche Kurve zwischen dem Güteraußenring und der Wriezener Bahn in Betrieb. Sie zweigte an der Abzweigstelle Sgn (Springpfuhl Nord) vom GAR ab und traf an der Abzweigstelle Aff (Abzweig Friedrichsfelde, ehemals Iab) auf die Wriezener Bahn. Diese sogenannte Herzbergkurve ermöglichte Fahrten vom nördlichen Güteraußenring nach Berlin-Lichtenberg, der ab dem 2. Oktober 1952 planmäßiger Halt von Fernreisezügen war. Zur Kontrolle der Ein- und Ausreise aus der Viersektorenstadt führte die DDR ab demselben Jahr Passkontrollen an der Stadtgrenze ein. Der Sommerfahrplan vom 18. Mai 1952 sah dafür planmäßig 20 Minuten Aufenthalt in Ahrensfelde Friedhof vor. Die Kontrollen blieben auch nach dem Mauerbau bis zum 10. Dezember 1961 bestehen. Um 1953/54 unterbrach die Reichsbahn den Abzweig zur Industriebahn Tegel-Friedrichsfelde beim Abzweig Aff und bediente den Ostabschnitt der Strecke künftig über den Bahnhof Berlin-Blankenburg an der Stettiner Bahn. Etwa zeitgleich gab man den Bahnhof Magerviehhof als Tarifbahnhof auf. Die nun nicht mehr dem Viehumschlag dienenden Gleisanlagen blieben aber weiterhin in Betrieb. Ab dem 1. Januar 1954 unterstand der Abschnitt Werftpfuhl – Wriezen der Rbd Berlin. Sie übernahm ihn von der Rbd Greifswald, die 1945 aus der Reichsbahndirektion Stettin hervorging. Ende der 1950er Jahre schloss die Reichsbahn die Bahnhöfe Berlin-Marzahn, Ahrensfelde und Seefeld für den Stückgutverkehr. Am 10. Februar 1966 entfielen die Bahnhöfe Ahrensfelde, Seefeld, Werftpfuhl, Tiefensee und Sternebeck als Tarifbahnhöfe für den Wagenladungsverkehr, Schulzendorf folgte 1969, Blumberg 1971. Die Anschlussstelle Krautwurst ging spätestens in den 1960er Jahren außer Betrieb. In Berlin-Marzahn und Leuenberg bestanden noch Anschlussgleise. Seefeld erlangte ab dem 1. August 1968 wieder größere Bedeutung durch die Inbetriebnahme einer Anschlussbahn zu einem Mitte der 1960er Jahre errichteten Tanklager der Minol. Der Bahnhof selbst wurde wenige Jahre später um 150 Meter nach Südwesten verlegt und mit einem neuen Empfangsgebäude ausgestattet. 1967/68 führte die Deutsche Reichsbahn eine Oberbausanierung zwischen Berlin-Marzahn und Wriezen durch, die Achsfahrmasse konnte dadurch auf 21,0 Tonnen angehoben werden, was den Einsatz von Großdiesellokomotiven der Baureihe V 200 (ab 1970: Baureihe 120) – insbesondere vor den Kesselwagenzügen – ermöglichte. Bau des Biesdorfer Kreuzes und der S-Bahn-Strecke Die eingleisige und bei Magerviehhof steigungsreiche Wriezener Bahn stellte einen betrieblichen Engpass dar, rollten doch sämtliche Züge aus dem Norden der DDR nach Berlin-Lichtenberg über diesen Abschnitt. Den ebenfalls eingleisigen Güteraußenring ersetzte die Reichsbahn 1957 durch den zweigleisigen und günstiger trassierten Berliner Außenring. Zwischen 1965 und 1967 plante die Reichsbahn mit dem Vorhaben „Springpfuhl-Wuhlheide-Eichgestell“ die Begradigung des Außenrings. Gleichzeitig sollte durch den Bau von Verbindungskurven die Verknüpfung mit der Ostbahn und der Frankfurter Bahn, somit auch der Bahnhöfe Lichtenberg und Ostbahnhof, verbessert werden. Die Wriezener Bahn war zwischen Berlin-Marzahn und Magerviehhof stillzulegen. Die Züge sollten künftig den Weg über den BAR nach Berlin-Lichtenberg nehmen. Die Planung sah weiterhin den Bau einer S-Bahn-Strecke nach Berlin-Marzahn vor. Am 31. August 1971 ging die erste Baustufe des Biesdorfer Kreuzes in Betrieb. Diese umfasste den neuen Bahnhofs Springpfuhl am Berliner Außenring und zwei eingleisige Strecken für den Güter- und Reisezugverkehr von Springpfuhl nach Marzahn. Gut zwei Wochen später ging der Abschnitt Magerviehhof – Berlin-Marzahn am 14. September 1971 außer Betrieb. Während der Bauarbeiten bestand zwischen Marzahn und Lichtenberg Schienenersatzverkehr. Der Abschnitt bis Magerviehhof blieb zunächst als Anschlussgleis in Betrieb. Ab 1981 entfielen die Übergabefahrten von Berlin-Lichtenberg nach Magerviehhof. Nach der Fertigstellung einer nördlichen Verbindung zum Bahnhof Berlin Nordost am Außenring wurde der Anschluss zum Heizkraftwerk Lichtenberg von dort aus bedient. Bis März 1980 fanden weitere Ausbauarbeiten statt, so am 1. April 1978 die Inbetriebnahme des Relaisstellwerks Bik (Bauart ). Nach Abschluss standen zwischen dem Biesdorfer Kreuz und Berlin-Lichtenberg vier Fernbahngleise zur Verfügung. Parallel hierzu erweiterte man den Bahnhof Lichtenberg um zwei weitere Bahnsteige und errichtete ein neues Empfangsgebäude. Bei der Umsetzung der ersten Ausbaustufe des Biesdorfer Kreuzes erhielt der neue Bahnhof Springpfuhl bereits einen Mittelbahnsteig für die spätere S-Bahn-Strecke. Entgegen vorherigen Pressemitteilungen hielten die Vorortzüge ab dem 17. September 1971 nicht in Springpfuhl. Die fehlende Sicherungstechnik ermöglichte nur die Nutzung des Gütergleises. Erst nach der Verlegung der Außenringgleise im Kreuzungsbereich mit der Ostbahn im Januar 1975 konnte der Bau der S-Bahn-Gleise in Angriff genommen werden. In die Bauzeit fiel im Februar 1975 der Beschluss zum Aufbau des IX. Stadtbezirks Marzahn beiderseits der Wriezener Bahn. Östlich der Strecke sollten bis 1985 insgesamt 35.000 Wohnungen für rund 100.000 Einwohner fertiggestellt werden, auf der Westseite war der Aufbau eines Gewerbegebiets mit 28.000 Arbeitsplätzen vorgesehen. Der S-Bahn-Verkehr sollte daher über Marzahn bis Ahrensfelde ausgedehnt werden. Der erste Abschnitt von der Abzweigstelle Fro (Friedrichsfelde Ost, heute Berlin Biesdorfer Kreuz S-Bahn) bis Marzahn ging am 30. Dezember 1976 in Betrieb, zwei Jahre bevor die ersten Mieter die neu errichteten Plattenbauten bezogen. Bis Springpfuhl verlief die Neubaustrecke zweigleisig, von Springpfuhl bis Marzahn nutzte sie das 1971 aufgebaute Personengleis. Die Vorortzüge Richtung Werneuchen endeten bereits ab dem 26. September 1976 in Marzahn, um den Fernbahnhof Lichtenberg zu entlasten. Für das zweite elektrische Streckengleis mussten die beiden bestehenden Gleise nochmals neu trassiert werden, da die Ausfädelung einer S-Bahn-Strecke entlang des BAR zum Karower Kreuz vorbereitet werden sollte. Zudem war nördlich von Springpfuhl der Bau eines zusätzlichen Haltepunkts Springpfuhl Nord vorgesehen. Der Mittelbahnsteig durfte keine Krümmungen aufweisen, da die Abfertigung durch Fernbeobachtungsanlagen erfolgen sollte. Nach der Errichtung des Bahnsteigs ging das zweite Streckengleis östlich davon am 20. Dezember 1978 in Betrieb. Das bestehende, nun stadteinwärtige Gleis und das Gütergleis wurden anschließend im April 1979 auf die neue Trasse verlegt. Der neue S-Bahnhof ging am 28. September 1979 unter dem Namen Karl-Maron-Straße in Betrieb. Der Bau des 3,6 Kilometer langen Abschnittes von Marzahn nach Ahrensfelde begann 1978. Die zweigleisige S-Bahn-Strecke verlief parallel zum bestehenden Streckengleis auf der Westseite und der neu errichteten Heinrich-Rau-Straße auf der Ostseite (seit 1992: Märkische Allee). Als erstes wurde der 1,7 Kilometer lange Abschnitt von Marzahn über den S-Bahnhof Bruno-Leuschner-Straße (Arbeitstitel: Marzahn Mitte) zum S-Bahnhof Otto-Winzer-Straße (Arbeitstitel: Marzahn Nord) in Angriff genommen. Das spätere stadtauswärtige Gleis ging mitsamt den beiden S-Bahnhöfen am 15. Dezember 1980 in Betrieb und kam hier wiederum zuerst den Bauarbeitern des Wohngebietes zugute. Die Fernzüge endeten zunächst in Marzahn und fuhren auf dem späteren stadteinwärtigen Gleis ohne Halt an den beiden S-Bahnhöfen Richtung Ahrensfelde, während das Wriezener Ferngleis zu dieser Zeit erneuert wurde. Ab dem 1. Februar 1981 endeten die Fernzüge am stadteinwärtigen Bahnsteig am Haltepunkt Otto-Winzer-Straße. Im April 1981 stellte die Reichsbahn das Ferngleis von Marzahn bis südlich Otto-Winzer-Straße fertig. Das stadteinwärtige S-Bahn-Gleis konnte ab dem 1. September 1981 bis Bruno-Leuschner-Straße befahren werden. Betrieblich bestanden neben dem Ferngleis daher zwei eingleisige S-Bahn-Strecken (Marzahn – Bruno-Leuschner-Straße und Marzahn – Otto-Winzer-Straße). Am 30. Dezember 1982 eröffnete Reichsbahn den Streckenabschnitt Otto-Winzer-Straße – Ahrensfelde und nahm den zweigleisigen Betrieb auf der Gesamtstrecke auf. Der Endbahnhof Ahrensfelde erhielt als einziger S-Bahnhof ein neues Empfangsgebäude auf der Ostseite. Das mechanische Stellwerk aus der Eröffnungszeit ersetzte man durch ein Relaisstellwerk. Die Anlage mit einem Seitenbahnsteig für die S-Bahn und einen gemeinsamen Mittelbahnsteig für S- und Fernbahn ermöglichte den ebenerdigen Umstieg zwischen beiden Verkehrsmitteln. Mit der Inbetriebnahme verlagerte sich der Endbahnhof der Fernzüge ebenfalls nach Ahrensfelde. Den zur Hauptbahn aufgewertete Abschnitt Springpfuhl – Ahrensfelde befuhren künftig nur Güter- und Leerreisezüge. Auf Wunsch von Militärangehörigen ging am 29. Mai 1983 der Haltepunkt Ahrensfelde Nord in Betrieb. Aus dem Bahnhofslageplan von Ahrensfelde und Protokollen zur Gestaltung des Empfangsgebäudes ging hervor, dass eine spätere Verlängerung der S-Bahn-Strecke bis Ahrensfelde Nord vorgesehen war. Die Wriezener Bahn nach 1990 Die Wende in der DDR führte zu mehreren Veränderungen entlang der Strecke. Der politische Wechsel äußerte sich in der Umbenennung zahlreicher Straßen, die zuvor nach DDR-Politikern benannt waren. Damit verbunden war auch eine Änderung der Bahnhofsnamen Karl-Maron-Straße, Bruno-Leuschner-Straße und Otto-Winzer-Straße zum 1. Februar 1992 in Poelchaustraße, Raoul-Wallenberg-Straße und Mehrower Allee. Wirtschaftlich zeigte sich der Wandel im Rückgang des Personen- und besonders des Güterverkehrs. Bis Mitte der 1990er Jahre reduzierte sich das Aufkommen auf die Bedienung eines Baustoffanschlusses in Werneuchen. Im Gegenzug verlängerte die 1994 gegründete Deutsche Bahn (DB) die nun als Regionalbahn bezeichneten Vorortzüge am 29. Mai 1994 bis Berlin-Lichtenberg. Außerhalb des S-Bahn-Tarifs war die Auslastung hingegen sehr gering, insbesondere nach der Unterbrechung der durchgehenden Verbindung in Tiefensee am 31. Mai 1997. Obwohl es im Oktober 1997 zu einer Vereinbarung zwischen dem brandenburgischen Verkehrsminister Meyer (SPD) und Triebfahrzeugführern der DB kam, der unter anderem die Wiederaufnahme der durchgehenden Zugverbindung vorsah, wurde der Abschnitt Tiefensee – Wriezen am 19. April 1998 eingestellt. Am 10. November 1999 genehmigte das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) die Stilllegung des Abschnittes, der am 15. Dezember 1999 vollzogen wurde. 2004 erwarb die Mittenwalder Eisenbahnimmobiliengesellschaft (MEIG) den Abschnitt von Tiefensee (ausschließlich) bis Sternebeck, auf dem seit Ostern 2004 eine Draisinenbahn besteht. Der 1999 gegründete Verein Museumseisenbahn Sternebeck plant die Einrichtung eines Museumsbetriebs auf dem stillgelegten Streckenteil. Da die Strecke bei Wriezen seit dem Neubau einer Ortsumgehung für die Bundesstraße 167 unterbrochen ist und bis Tiefensee noch regulärer Zugverkehr bestand, war der Bau von zwei neuen Endbahnhöfen außerhalb von Tiefensee sowie bei Vevais vorgesehen, nach jüngeren Berichten war ein Betrieb bis zur ehemaligen Anschlussstelle Krautwurst vorgesehen. Zum Fahrplanwechsel am 10. Dezember 2006 wurde der Personenverkehr zwischen Tiefensee und Werneuchen eingestellt. Im Jahr 2004 begannen Planungen zur Errichtung eines Haltepunkts am Gewerbegebiet Ahrensfelde-Rehhahn. Der Bahnhof sollte nach ursprünglichen Planungen im Dezember 2008 in Betrieb gehen. Dieser Termin konnte nicht gehalten werden, da keine Einigung über die Höhe der Betriebskosten und der Stationsgebühren erzielt werden konnte. Überlegungen, die Station durch einen privaten Anbieter betreiben zu lassen, stand das geltende Eisenbahnrecht im Wege. Schließlich ging der Haltepunkt nach dreimonatiger Bauzeit am 16. August 2013 unter dem Namen Blumberg-Rehhahn in Betrieb. Die Kosten der Verkehrsstation von 290.000 Euro trugen das Land und die Gemeinde, weitere 200.000 Euro wurden in den Vorplatz mit PKW-Stellplätzen und überdachten Fahrradstellplätzen investiert. 150 Fahrgäste pro Tag werden an der Station erwartet. Um die Attraktivität der Wriezener Bahn insgesamt weiter zu stärken, setzt sich der Berliner Fahrgastverband IGEB darüber hinaus für den Wiederaufbau des Regionalbahnsteigs in Berlin-Marzahn sowie für einen neuen Haltepunkt an der Schloßparksiedlung zwischen Blumberg und Seefeld ein. Im Jahr 2009 wurde der Regionalbahnsteig am Bahnhof Ahrensfelde von 90 Zentimeter auf 55 Zentimeter abgesenkt. Die MEIG kaufte den Streckenabschnitt Tiefensee – Werneuchen (ausschließlich) im Dezember 2012 von der DB Netz, übergab die Betriebsrechte im August 2015 an die Regio Infra Nord-Ost. Diese schrieb den Streckenabschnitt am 17. Januar 2017 zur Übernahme durch andere Eisenbahninfrastrukturunternehmen aus, ein Verkauf unterblieb bislang. 2018 erfolgte eine Modernisierung inklusive barrierefreiem Ausbau der Stationen Ahrensfelde Nord, Blumberg (b Berlin), Seefeld (Mark) und Werneuchen. Die Bahnsteige wurden dabei auf 76 Zentimeter erhöht, während die Bestandsbahnsteige in Ahrensfelde und Blumberg-Rehhahn eine Höhe von 55 cm aufweisen. Die auf der Strecke eingesetzten Fahrzeuge der Niederbarnimer Eisenbahn (NEB) vom Typ Bombardier Talent weisen eine Einstiegshöhe von 80 Zentimetern auf; somit ist an den modernisierten Bahnsteigen ein barrierefreier Einstieg möglich. Ab dem 10. Juli 2018 war die Strecke vollgesperrt. In diesem Zeitraum wurde die Erhöhung der Bahnsteige und die Aufschaltung der elektronischen Stellwerke Blumberg und Werneuchen bei gleichzeitiger Außerbetriebnahme der vorhandenen Stellwerke vorgenommen. Die Bedienung erfolgt seitdem durch den Fahrdienstleiter Beeskow. Weiterhin ließ die DB Netz drei Durchlässe, vier Bahnübergänge und insgesamt anderthalb Kilometer Streckengleis erneuern. Die Streckengeschwindigkeit konnte durch die Maßnahme auf 80 km/h angehoben werden. Eine angedachte Umstellung auf Zugleitbetrieb wurde nicht umgesetzt. Am 20. August fand die feierliche Wiedereröffnung der Strecke unter Anwesenheit von Brandenburgs Infrastrukturministerin Schneider statt. Von einer Modernisierung des Haltepunkts Ahrensfelde Friedhof nahm man wegen Unstimmigkeiten mit der Gemeinde Ahrensfelde zunächst Abstand. Im November 2019 ging am Biesdorfer Kreuz das elektronische Stellwerk für den Bereich der S-Bahn in Betrieb, ebenso die Ausrüstung der S-Bahnstrecke zwischen Lichtenberg und Ahrensfelde mit dem Zugbeeinflussungssystem S-Bahn Berlin (ZBS). Anfang 2021 folgte ein ebensolches Stellwerk für die Fernbahn. Zukünftige Planungen und Vorhaben Im Rahmen der Regionalkonferenzen für den Landesnahverkehrsplan 2018–22 wurde für die Vergabe des Personenverkehrs auf der Strecke ab Ende 2024 die Überlegung getätigt, eine Doppeltraktion oder eine Taktverdichtung vorzunehmen. Im Rahmen der Untersuchungen für das ÖPNV-Konzept 2030 des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg (VBB) wurde im Nullfall eine Erhöhung der Fahrgastfahrten von 1400 (2013) auf 2100 pro Tag im Jahr 2030 prognostiziert. Bei Einführung eines Halbstundentaktes in der Hauptverkehrszeit ist eine weitere deutliche Steigerung (1600 Fahrgastfahrten pro Tag, 900 Fahrten mehr gegenüber dem Nullfall) zu erwarten. In der Empfehlung spricht sich der VBB jedoch lediglich für eine Erhöhung der Fahrzeugkapazität aus. In einem gemeinsamen Positionspapier sprechen sich die Gemeinde Ahrensfelde und die Stadt Werneuchen für einen Halbstundentakt aus, dieser soll unter anderem zu einer Entlastung der überlasteten Bundesstraße 158 führen. Die Brandenburger Landesregierung stellte am 27. November 2018 in Aussicht, ab dem Jahr 2022 zwischen Berlin Ostkreuz und Werneuchen einen Halbstundentakt einrichten zu wollen. Zur Realisierung der Taktverdichtung seien laut Infrastrukturministerin Schneider der Bau eines zweiten Bahnsteigs in Blumberg sowie eventuell zusätzliche Weichen erforderlich. Für eine Reaktivierung des Personenverkehrs auf der restlichen Strecke zwischen Werneuchen und Wriezen gibt es derzeit keine konkreten Pläne. Dennoch befinde sich laut Benjamin Raschke der Abschnitt Werneuchen – Wriezen mit der Priorität B auf der Liste der reaktivierungswürdigen Strecken des VDV. Das entsprechende Ministerium kündigte im Mai 2019 die Absicht an, einen Stilllegungsantrag des Teilabschnitts bis Tiefensee zurückziehen zu wollen. Am 16. Januar 2020 sagte Guido Beermann, Minister für Infrastruktur und Landesplanung des Landes Brandenburg, dass das Ministerium Gespräche mit der DB Netz AG zur Aufnahme des Ausbaus in Blumberg in die kommende Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung für den Förderzeitraum ab 2020 führen würde. Mit einer Inbetriebnahme vor 2022 sei jedoch nicht zu rechnen. Zu einer Reaktivierung des Streckenabschnitts Wriezen–Tiefensee sagte der Minister, dass ein positives volkswirtschaftliches Kosten-Nutzen-Verhältnis nicht zu erwarten sei, aufgrund des notwendigen vollständigen Neubaus ab Werneuchen und der zu erwartenden Fahrgastzahlen. Der Streckenabschnitt Werneuchen–Tiefensee werde seit dem 1. Februar 2013 nur für gelegentliche Überführungsfahrten genutzt. Am 22. Mai 2020 wurde das Vergabeverfahren für das sogenannte „Netz Ostbrandenburg“ gestartet. Darin werden unter anderem auch Leistungen auf der Wriezener Bahn (RB 25) für den Zeitraum vom 15. Dezember 2024 bis zum 13. Dezember 2036 bestellt. Es sollen batterieelektrische Züge mit Kapazitäten von 120 bis 140 Sitzplätzen zum Einsatz kommen. Das Angebots- und Bedienkonzept sieht einen stündlichen Grundtakt zwischen Berlin Ostkreuz und Werneuchen vor, der von Montag bis Freitag (außer Feiertage) im Zeitraum zwischen 6 und 20 Uhr auf einen angenäherten 30-Minuten-Takt zwischen Werneuchen und Berlin-Lichtenberg erweitert werden soll. Dabei sollen beide Taktgruppen ein differenziertes Haltekonzept aufweisen. So sollen die die Züge des Grundtaktes alle Halte bedienen, während die Verdichterleistungen zum 30-Minuten-Takt zwischen Blumberg und Ahrensfelde infrastrukturbedingt nicht halten sollen. Es wird angestrebt, dass im Verlauf des Verkehrsvertrages alle Stationen durch alle Fahrten der Linie bedient werden sollen, hierfür ist der Bau einer zweiten Bahnsteigkante in Ahrensfelde vorgesehen. Die Züge des stündlichen Grundtaktes sollen zu dem in einem gemeinsamen Fahrzeugumlauf mit der Linie RB12 verkehren. Am Abend sollen es gegenüber dem heutigen Fahrplan (2020) drei weitere Fahrten geben, so soll eine letzte Fahrt um 0:40 Uhr in Ahrensfelde beginnen und um 0:59 Uhr in Werneuchen eintreffen. Anfang November 2020 wurde das Empfangsgebäude Tiefensee mitsamt der Bahnstrecke Tiefensee – Werneuchen an das Gleisbauunternehmen KGT verkauft. Der Geschäftsführer von der KGT plant auf der ehemaligen Verladerampe eine Werkstatt zu errichten, sowie im Empfangsgebäude ein Büro mit Schlafunterkunft einzurichten. Der Geschäftsführer der KGT ist Mitglied des Vorstandes der „Initiative Wriezener Bahn e.V.“. Der Verein wurde 2019 gegründet, um die Bemühungen verschiedener Gruppierungen um die Reaktivierung der Strecke zu bündeln. Mittlerweile sind die Landkreise Barnim und Märkisch-Oderland, die Städte Wriezen, Werneuchen, Ahrensfelde sowie die Ämter Barnim-Oderbruch und Falkenberg-Höhe Mitglieder; Vorstandsvorsitzender ist der Wriezener Einwohner Steffen Blunk. Am 2. Juni 2021 hat der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg bekanntgegeben, dass die Niederbarnimer Eisenbahn den Zuschlag für das Vergabeverfahren für das Netz Ostbrandenburg erhalten hat. Ab der Fahrplanumstellung im Dezember 2024 sollen damit auf der RB 25 batterieelektrische Fahrzeuge vom Typ Siemens Mireo Plus B zum Einsatz kommen und der 30-Minuten-Takt an Wochentagen umgesetzt werden. Der Vertrag hat eine Laufzeit von zwölf Jahren. Verlauf Die Wriezener Bahn nahm ihren Ausgangspunkt seit 1903 am Wriezener Bahnhof (bis 1924 Berlin Schlesischer Bahnhof, Wriezener Bahnsteig). Die Anlage befand sich nordöstlich des Schlesischen Bahnhofs (seit 2000: Berlin Ostbahnhof) jenseits der Straße der Pariser Kommune. Die Strecke führte weiter parallel zu den Vorortgleisen der Ostbahn über den Bahnhof Lichtenberg bis auf Höhe des heutigen Bahnhofs Friedrichsfelde Ost. Das Streckengleis führte anschließend weiter nach Norden und erreichte nördlich des Bahnhofs Springpfuhl die Bestandsstrecke. Seit 1971 nutzen die Züge die weiter östlich gelegene Verbindung über das Biesdorfer Kreuz und den Berliner Außenring. Bis zum Bahnhof Ahrensfelde unmittelbar südlich der Berliner Landesgrenze verläuft östlich zur Fernstrecke die zweigleisige Hauptbahn für den S-Bahn-Verkehr, parallel hierzu führt die Bundesstraße 158 im Zuge der Märkischen Allee. Die Nebenbahn verfügt bis Ahrensfelde über keine weiteren Betriebsstellen. Bis Leuenberg steigt das Streckenprofil auf 114,2 Meter über Normalnull an, die Trassierung weist bis hierhin kaum Besonderheiten auf. Östlich von Tiefensee waren hingegen umfangreiche Erdarbeiten vonnöten, da das Gelände abwechselnd Höhenzüge und tiefe Täler aufwies; so wird der Gamengrund auf einem fast 50 Meter hohen Damm überquert. Die Strecke holt in diesem Abschnitt stärker nach Osten aus und wendet sich ab Schulzendorf wieder stärker nach Norden. Auf den letzten acht Kilometern Schulzendorf und Wriezen fällt das Streckenprofil von 72 Meter auf fünf Meter vergleichsweise stark ab. Die Strecke führte von Süden kommend in den Bahnhof Wriezen. Der Abschnitt von Berlin Wriezener Bahnhof bis Berlin-Lichtenberg wird als Bestandteil der Gütergleise der Ostbahn unter der VzG-Streckennummer 6078 (Berlin Wriezener Bf – Küstrin-Kietz Grenze) geführt. Der Streckenabschnitt von Berlin-Lichtenberg über Biesdorfer Kreuz nach Ahrensfelde trägt die Streckennummer 6072. Der stillgelegte Streckenabschnitt über Magerviehhof trägt die Streckennummer 6531 (Abzw Biesdorfer Kreuz West – Abzw Springpfuhl Nord). Der Streckenabschnitt Ahrensfelde – Wriezen wird unter der Nummer 6528 geführt. Die S-Bahn-Strecke von der Abzweigstelle Biesdorfer Kreuz S-Bahn nach Ahrensfelde S-Bahn hat die Streckennummer 6011. Verkehr Personenverkehr Regionalverkehr Im Eröffnungsjahr verkehrten zwischen Lichtenberg-Friedrichsfelde und Werneuchen täglich fünf Zugpaare mit maximal vier Wagen. Ab dem 15. Oktober fuhren drei Zugpaare zwischen Lichtenberg-Friedrichsfelde und Königsberg (Neumark) und ein weiteres Zugpaar zwischen Lichtenberg-Friedrichsfelde und Wriezen. Ein Zug nach Königsberg begann bereits im Schlesischen Bahnhof in Berlin und fuhr bis Lichtenberg-Friedrichsfelde über die Ostbahngleise. Hinzu kam ein morgendlicher Zug von Werneuchen nach Lichtenberg-Friedrichsfelde, der abends zurückfuhr. Ab dem 1. Mai 1899 begannen und endeten zwei der Königsberger Zugpaare im Schlesischen Bahnhof. Ab 1901 waren zwischen Lichtenberg-Friedrichsfelde und Wriezen fünf Zugpaare unterwegs, ab dem 15. Mai 1903 fuhren davon vier Zugpaare bis Königsberg durch. Im Sommer 1905 legte die Bahnverwaltung ein weiteres Zugpaar zwischen Berlin und Jädickendorf ein, das nur auf den wichtigsten Unterwegsbahnhöfen hielt. Die aus Richtung Berlin kommenden Züge begannen und endeten ab dem 1. Oktober 1903 am neu errichteten Wriezener Bahnsteig des Schlesischen Bahnhofs, dem späteren Wriezener Bahnhof. Zwischen Berlin und Werneuchen fuhren zusätzlich zu den darüber hinaus verkehrenden Zügen vom 1. Oktober 1906 an täglich sechs, ab 1. Oktober 1907 täglich sieben Zugpaare. Die meisten Züge hielten ab dem 1. Februar 1909 nicht mehr im Haltepunkt Friedrichsfelde Friedhof. Ab 1. Mai 1913 fuhr täglich ein Friedhofszugpaar zwischen Berlin und Ahrensfelde Friedhof, das ab dem 1. Oktober 1913 durch zwei weitere Zugpaare verstärkt wurde. Im Frühjahr 1919 stellte die KED Berlin die Züge wieder ein. Ab dem 1. Mai 1909 verlängerte die KED einzelne bislang in Werneuchen endende Zugläufe an Sommersonntagen bis Tiefensee, ab dem 1. Mai 1914 auch werktags. Zur Entlastung des Schlesischen Fernbahnhofs fuhren ab dem 15. Mai 1918 einzelne Vorortzüge Richtung Strausberg vom Wriezener Bahnsteig ab. Nach der Elektrifizierung der Stadtgleise stellte die Reichsbahn diese Züge ein. Bis 1937 fuhren einzelne Züge an Sonntagabenden von der Ostbahn kommend zum Wriezener Bahnhof. Ab dem Sommerfahrplan vom 15. Mai 1928 fuhren täglich vier Zugpaare zwischen Berlin und Jädickendorf, weitere zwei bis vier Zugpaare zwischen Berlin und Wriezen sowie weitere fünf beziehungsweise werktags zehn Zugpaare zwischen Berlin und Werneuchen. Im Sommerfahrplan von 1939 waren zwischen Berlin und Jädickendorf beziehungsweise Königsberg täglich fünf Zugpaare unterwegs, weitere drei Zugpaare fuhren zwischen Berlin und Wriezen. Zusammen mit den rund 13 Zugpaaren zwischen Berlin und Werneuchen beziehungsweise Tiefensee bestand tagsüber zwischen Berlin und Werneuchen eine annähernd stündliche Verbindung. Sämtliche Züge durften bis Werneuchen zum Vororttarif genutzt werden. Während des Krieges dünnte die Reichsbahn das Angebot zwischen Werneuchen und Wriezen auf täglich drei Zugpaare, davon zwei weiter bis Königsberg, aus. Auf der Vorortstrecke blieb das Angebot hingegen weitgehend beständig. Nach der erneuten Teilinbetriebnahme von Berlin-Lichtenberg nach Werneuchen am 25. November 1945 fuhren auf diesem Abschnitt zunächst täglich vier Zugpaare. Der Halt am Magerviehhof wurde nicht mehr bedient. Ab dem 4. Mai 1947 fuhren die Züge wieder bis Berlin Wriezener Bahnhof, ab dem 17. Mai 1947 fuhren zwei Zugpaare wieder bis Tiefensee. Am 18. August 1947 nahm die Deutsche Reichsbahn den durchgehenden Verkehr von Berlin nach Wriezen mit einem gemischten Zugpaar auf. Im Winterfahrplan 1947/48 waren je zwei Zugpaare ab Berlin bis Werneuchen, Tiefensee und Wriezen vorgesehen. Ab dem Sommerfahrplan 1949 waren zwischen Berlin und Werneuchen zehn Zugpaare vorgesehen, von denen zwei bis Tiefensee weitergeführt werden. Die beiden Zugpaare Richtung Wriezen endeten hingegen seit Sommer 1948 in Werneuchen. Am 12. Dezember 1949 wurde der Wriezener Bahnhof für den Reiseverkehr geschlossen und die Züge zum Bahnhof Lichtenberg zurückgezogen. Ab Sommer 1956 fuhren die Wriezener Züge wieder bis Berlin-Lichtenberg durch. Das Zugangebot blieb in den Folgejahren mit etwa fünf Zugpaaren zwischen Berlin und Wriezen weitgehend konstant. Auf dem Abschnitt Berlin – Werneuchen verdichteten zusätzliche Zugpaare das Angebot auf einen annähernden Stundentakt. Etwa die Hälfte dieser Züge fuhr bis beziehungsweise ab Tiefensee. Der Winterfahrplan 1981/82 sah ab Berlin sechs Züge bis Werneuchen, weitere sieben bis Tiefensee und fünf bis Wriezen vor. In der Gegenrichtung waren fünf Züge ab Wriezen, weitere acht Züge ab Tiefensee und nochmals sechs Züge ab Werneuchen nach Berlin vorgesehen. Der Berliner Endbahnhof befand sich vom 18. Februar 1974 bis 28. September 1975 vorübergehend und ab dem 25. September 1976 dauerhaft in Marzahn. Am 1. Februar 1981 zog die Reichsbahn die Reisezüge bis Berlin Otto-Winzer-Straße (seit 1992: Berlin Mehrower Allee) zurück, ab 30. Dezember 1982 endeten die Züge in Ahrensfelde. Mit dem ab 31. Mai 1992 gültigen Fahrplan führte die Deutsche Reichsbahn auf der als Regionalbahnlinie R7 bezeichneten Verbindung den Stundentakt zwischen Ahrensfelde und Werneuchen ein. Sechs Zugpaare fuhren über Werneuchen hinaus bis Wriezen. Ab 23. Mai 1993 weitete die Reichsbahn das Angebot zwischen Werneuchen und Wriezen auf acht Zugpaare aus, von denen drei über Bad Freienwalde (Oder) nach Angermünde verlängert wurden. Zudem ging der Abschnitt Ahrensfelde – Berlin-Lichtenberg wieder in Betrieb. Der Jahresfahrplan 1994/95 sah zwischen Wriezen und Werneuchen insgesamt sieben Zugpaare vor, die allesamt bis Bad Freienwalde (Oder) verkehrten. Im Jahr darauf wechselte die Linienbezeichnung von R7 in RB25. Ab dem Jahresfahrplan 1996/97 zog die Deutsche Bahn die Züge wieder bis Wriezen zurück und führte mit neun Zugpaaren auf dem Ostabschnitt einen durchgehenden Zweistundentakt ein. Wegen der geringen Auslastung des Ostabschnittes teilte die Deutsche Bahn die Verbindung am 31. Mai 1997 in die Linien RB25 und RB30 mit Brechpunkt in Tiefensee auf. Während der Stundentakt auf der RB25 zwischen Berlin-Lichtenberg und Werneuchen bestehen blieb, fuhren acht Zugpaare weiter bis Tiefensee, wo jeweils Anschluss zur RB30 und umgekehrt bestand. Je ein Früh- und Spätzug fuhr ab Berlin-Lichtenberg bis Wriezen durch sowie morgens ein Zug der Gegenrichtung. Am 19. April 1998 wurde schließlich die RB30 eingestellt. Ab 2004 führte die Ostdeutsche Eisenbahn (ODEG) den Personenverkehr von Berlin bis Tiefensee unter der Linienbezeichnung OE25 durch. Mit Beginn des Fahrplanes 2006/2007 am 10. Dezember 2006 wurde der Personenverkehr auf dem Abschnitt Werneuchen – Tiefensee ebenfalls eingestellt. Zum Fahrplanwechsel am 9. Dezember 2012 erhielt die Linie wieder die alte Bezeichnung RB25. S-Bahn-Verkehr Die ab dem 30. Dezember 1976 verkehrende S-Bahn fuhr mit der Zuggruppe P (Funkname „Paula“) tagsüber zwischen Warschauer Straße und Berlin-Marzahn im Zwanzigminutentakt. Ab dem 28. September 1979 ergänzte sie die Zuggruppe R („Richard“) zu den Hauptverkehrszeiten, ab 1986 ganztags. Die Zuggruppe Paula fuhr ab dem 15. Dezember 1980 bis Otto-Winzer-Straße, die Zuggruppe Richard ab dem 7. September 1981 bis Bruno-Leuschner-Straße (seit 1992: Berlin Raoul-Wallenberg-Straße). Ab dem 30. Dezember 1982 endeten beide Zuggruppen in Ahrensfelde. Die Zuggruppen wurden stadtseitig bis Berlin Alexanderplatz, später auch Friedrichstraße verlängert und ab 1985 durch eine weitere Zuggruppe RI („Siegfried“) in den Hauptverkehrszeiten verstärkt. Seit dem 2. Juni 1991 sind die Zuggruppen in der Linie S7 zusammengefasst. Westlicher Endpunkt der Linie ist seit 1993 Potsdam Stadt (seit 1999: Potsdam Hbf). 1994 änderten sich die Zuggruppenbezeichnungen von P, R und RI auf O („Otto“), OI („Olaf“) und OII („Olive“). Güterverkehr Mit dem Bau der Strecke bestand die Möglichkeit, die land- und forstwirtschaftlichen Erträge aus dem Oderbruch und den Hängen des Barnim auf kürzerem Wege nach Berlin zu transportieren. Einen weiteren Aufschwung im Viehtransport bescherte der 1903 eröffnete Magerviehhof Friedrichsfelde. Insbesondere Obst, Gemüse und Kartoffeln kamen über die Wriezener Bahn zum Ostgüterbahnhof, teilweise wurden diese nachts über die Stadtbahn zur Zentralmarkthalle am Bahnhof Alexanderplatz überführt. Im Eingang waren vor allem Bau- und Brennstoffe sowie Dünge- und Futtermittel zu verzeichnen. Den 1903 eröffneten Magerviehhof bedienten separate Übergabezüge ab Lichtenberg. Der 1938 eröffnete Flugplatz Werneuchen erhielt seine Treibstoffe ebenfalls über die Bahn. Anfang der 1960er Jahre war auf der Strecke täglich ein Nahgüterzugpaar von Berlin-Rummelsburg Rbf nach Wriezen und in der Gegenrichtung von Wriezen nach Berlin-Pankow eingelegt. Zwischen 1966 und 1971 schloss die Reichsbahn dann nahezu sämtliche Bahnhöfe für den Güterverkehr und konzentrierte den Einzelwagenverkehr auf Werneuchen, wo ein Agrochemisches Zentrum bestand. Werneuchen und Leuenberg wurden in den 1970er Jahren von Wriezen aus bedient. In den 1980er Jahren waren täglich zwei Nahgüterzugpaare zwischen Berlin Wuhlheide Rbf und Wriezen eingelegt. Das ab 1968 vom PCK-Werkbahnhof in Stendell aus bediente Großtanklager bei Seefeld fertigte täglich zwei Güterzüge Richtung Berlin-Pankow sowie später nach Seddin ab. Im Sommer 1991 wurden die Frachten ab Werneuchen über Wriezen und Eberswalde Hbf abgefahren. Im Jahresfahrplan 1992/93 wurden die Bahnhöfe Leuenberg, Werneuchen und Seefeld von Wriezen aus bedient. Übergabefahrten für Berlin-Marzahn übernahm der Bahnhof Berlin Nordost. Am 10. Januar 1993 stellte die Deutsche Reichsbahn den Güterverkehr zwischen Werneuchen und Wriezen ein, im gleichen Jahr wurde der Gleisanschluss zur Berliner Werkzeugmaschinenfabrik in Berlin-Marzahn abgebaut. Um 1996 endeten die Bedienfahrten für Seefeld, sodass Werneuchen nunmehr den letzten Unterwegsbahnhof mit Güterverkehr darstellt. Anstelle von Treibstoffen werden seit der Wende vor allem Baustoffe transportiert. Die Wagen werden von Berlin Nordost aus zugeführt. Betriebsmaschinendienst Für den Betriebsmaschinendienst auf der Wriezener Bahn waren insbesondere die Bahnbetriebswerke (Bw) Berlin-Lichtenberg und Wriezen verantwortlich. In Werneuchen und Sternebeck befanden sich Wasserstationen, in Werneuchen ab 1899 ferner auch ein zweiständiger Lokschuppen für die hier einsetzenden Vorortzüge. Die Betriebswerkstätte (Bwst) Lichtenberg, wie das Bw zur Länderbahnzeit hieß, stellte die Lokomotiven bereits während des Streckenbaus für die Arbeitszüge. Es waren anfangs dreifach gekuppelte Schlepptenderlokomotiven der Gattungen G 3 (spätere BR 5370–71) und G 41 (BR 5376). Im Personenverkehr zwischen Lichtenberg und Werneuchen waren zunächst Tenderlokomotiven der Gattung T 92 (BR 910–1) im Einsatz. Die Bwst Wriezen beteiligte sich nach der Streckenvollendung im Oktober 1898 an der Zugbildung. Im Güterverkehr waren anfangs auch Lokomotiven der KED Bromberg anzutreffen, der einer der beiden Lichtenberger Lokschuppen gehörte. Die Züge wurden mit Maschinen der Gattungen G 3, G 51 (BR 540), G 52 (BR 542–3), G 71 (BR 550–6), G 72 (BR 557–14) und T 3 (BR 8970–75) bespannt. Vor Personenzügen waren vornehmlich Tenderlokomotiven der Typen T 7 (BR 8978), T 93 (BR 913–18) und T 11 (BR 740–3), später auch T 12 (BR 744–13) anzutreffen. Teilweise bespannte auch das Bw Berlin-Friedrichsfelde die Vorortzüge. Im Jahr 1920 erhielt das Bw Wriezen zwei Heißdampf-Lokomotiven der Gattung G 81 (BR 5525–56). Kurz darauf, nach anderer Quelle bereits 1918, kamen die ersten Maschinen der Gattung G 10 (BR 5710–35). Die Baureihe 57 dominierte den Güterzugdienst bis in die 1940er Jahre, bevor diese Lokomotiven an die Ostfront abkommandiert wurden. Als Ersatz kamen Lokomotiven der Baureihe 562–8 sowie ab 1942 die Einheitsdampflokomotiven der Baureihe 50, später die Kriegslokomotiven der Baureihe 52 zum Einsatz. Ab 1923 waren die ersten Tenderlokomotiven der Gattung T 18 (BR 780–5) im Reisezugdienst anzutreffen, Ende der 1930er Jahre dominierten sie den Reisezugverkehr auf der Wriezener Bahn. Im Vorortverkehr zwischen Berlin und Werneuchen beziehungsweise Tiefensee fuhr vornehmlich die Baureihe 744–13. Die Tenderlokomotiven waren bevorzugt, da weder in Werneuchen noch am Wriezener Bahnhof in Berlin eine Drehscheibe existierte. Ob die ab 1928 in Wriezen stationierten Einheitslokomotiven der Baureihe 24 auch auf der Strecke zum Einsatz kamen, ist nicht belegt. Ende der 1930er Jahre beabsichtigte das Reichsverkehrsministerium den Einsatz von Verbrennungstriebwagen für den Zuglauf Berlin – Königsberg (Neumark). Die Reichsbahndirektion Berlin lehnte das Vorhaben ab mit Verweis auf die fehlenden Fahrzeuge und die noch zu errichtenden Tankanlagen. Sie schlug stattdessen die Elektrifizierung der Strecke mittels Stromschiene und die Ausdehnung des Vororttarifs bis Werneuchen vor, um das Umsteigen in Berlin-Lichtenberg zu vermeiden. Letzteres wurde 1938 umgesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war neben vereinzelten Lokomotiven der Baureihe 780–5 vorwiegend die Baureihe 744–13 im Reisezugdienst anzutreffen. Die Baureihe 52 war sowohl im Reisezug- als auch im Güterverkehr anzutreffen. Nach der Verstaatlichung der Oderbruchbahn sollen Anfang der 1950er Jahre einzelne Leistungen zwischen Wriezen und Tiefensee von einer 8962 mit Schlepptender erbracht worden sein. Ab 1959 waren für den Personenzugverkehr Lokomotiven der Baureihe 3810–40 in Wriezen stationiert, sie übernahmen in der Folgezeit einen Großteil der Leistungen auf der Wriezener Bahn. Im Güterzugverkehr waren vermehrt die Maschinen der Baureihe 52 des Bw Wriezen anzutreffen, nachdem zuvor auch andere Bahnbetriebswerke wie Eberswalde einzelne Leistungen übernommen hatten. Nach der Auflösung des Bw Wriezen Ende der 1960er Jahre und der Ausmusterung der letzten Vertreter der Baureihe 38 waren kurzzeitig Lokomotiven der Baureihen 62 und 6510 anzutreffen, vereinzelt auch Neubauloks der Baureihe 2310 (ab 1970 BR 3510) Ab 1973 kamen die ersten Diesellokomotiven der Baureihe 110 (später BR 112, ab 1992: BR 202) auf der Strecke zum Einsatz. Drei Jahre darauf führte die DR auf der Strecke den Wendezugbetrieb ein. In den 1990er Jahren übernahmen teilweise die sechsachsigen Maschinen der Baureihe 119 (ab 1992: BR 219) die Bespannung. Die Deutsche Bahn setzte parallel hierzu auch Verbrennungstriebwagen der Baureihe 628 ein. Auf der 1997 kurzzeitig eingerichteten Regionalbahnlinie RB30 zwischen Tiefensee und Wriezen kamen Leichtverbrennungstriebwagen der Baureihen 772 zum Einsatz. Mit der Übernahme der Personenbeförderung durch die Ostdeutsche Eisenbahn kamen Triebwagen des Typs Stadler Regio-Shuttle RS1 (BR 650) auf die Strecke. Die Niederbarnimer Eisenbahn setzte anfangs ebenfalls Regio-Shuttles sowie Triebwagen vom Typ Bombardier Talent (BR 643) ein. Der Einsatz von Triebwagen des Typs Pesa Link (BR 632) sollte ab Dezember 2015 erfolgen, im Juni 2016 erhielten die ersten Triebwagen ihre Zulassung vom EBA. Literatur Weblinks Axel Mauruszat: Bahnstrecken im Land Brandenburg. Wriezener Bahn. In: bahnstrecken.de Jens Dudczak, Uwe Dudczak: Bahnen im Berliner Raum. Wriezener Bahn In: berliner-bahnen.de Draisinenbahnen Berlin-Brandenburg: Willkommen bei der Draisinenbahn Tiefensee! In: draisinenbahn.de Einzelnachweise Bahnstrecke in Berlin Bahnstrecke in Brandenburg S-Bahn Berlin Verkehr (Landkreis Barnim) Verkehr (Landkreis Märkisch-Oderland)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Neuseel%C3%A4ndische%20Rugby-Union-Nationalmannschaft
Neuseeländische Rugby-Union-Nationalmannschaft
Die Neuseeländische Rugby-Union-Nationalmannschaft der Männer vertritt Neuseeland auf internationaler Ebene in der Sportart Rugby Union. Sie ist weitaus bekannter unter ihrem Spitznamen All Blacks, der auf die vollständig schwarze Kleidung der Spieler zurückzuführen ist. Rugby Union ist Neuseelands Nationalsport und die All Blacks gelten als beste Mannschaft der Welt, da sie gegen jeden bisherigen Gegner eine positive Bilanz aufweisen und die Weltrangliste in der Regel anführen. Die Mannschaft gilt regelmäßig als Favorit auf den Gewinn der alle vier Jahre stattfindenden Weltmeisterschaft. Bisher konnte sie den Titel dreimal (1987, 2011 und 2015) gewinnen und ist damit neben Südafrika Rekordweltmeister. Darüber hinaus treten die All Blacks jedes Jahr bei der Rugby Championship gegen Argentinien, Australien sowie Südafrika an und sind Rekordgewinner dieses Turniers. Bei der Integration der Maori in die britisch geprägte neuseeländische Gesellschaft spielte Rugby Union eine wichtige Rolle, da der Sport den physischen Fähigkeiten des indigenen Volks Neuseelands entgegenkam und diese rasch als gleichwertige Mitspieler akzeptiert wurden. Vor jedem ihrer Spiele tanzen die All Blacks traditionellerweise einen Haka (Ritualtanz der Maori), um die gegnerische Mannschaft einzuschüchtern und sich selbst zu motivieren. Seit jeher gehört die in fast ausschließlich schwarzen Trikots auftretende Mannschaft zu den besten der Welt und der Zentralverband des Landes, New Zealand Rugby (NZR) zählt neben zehn anderen zur ersten Stärkeklasse (first tier) des Weltverbandes World Rugby. Die Nationalmannschaft ist aktuell (Juli 2023) auf dem dritten Platz der World-Rugby-Weltrangliste. 2005, 2006, 2008, 2010, 2011, 2012, 2013, 2014, 2015 und 2016 zeichnete World Rugby sie als „Mannschaft des Jahres“ aus. 18 ehemalige Spieler wurden in die World Rugby Hall of Fame aufgenommen. Organisation Verantwortlich für den Spielbetrieb auf sämtlichen Stufen ist New Zealand Rugby (NZR, bis 2013 New Zealand Rugby Football Union bzw. NZRFU). Die NZRFU wurde am 16. April 1892 gegründet. Neben der eigentlichen Nationalmannschaft stellt NZR weitere Auswahlmannschaften auf. Die talentiertesten Jugendlichen, die noch schulpflichtig sind, bilden die Mannschaft NZ Schools. Die weitere Stufe auf dem Weg zum Kader der All Blacks ist die U-20-Juniorennationalmannschaft, die an den entsprechenden Weltmeisterschaften teilnimmt. Neben dieser gemäß dem Alter zusammengesetzten Mannschaft gibt es solche, die nach besonderen Kriterien aufgestellt werden. Die Junior All Blacks sind trotz ihres Namens keine Juniorennationalmannschaft, sondern die altersunabhängige Reservemannschaft der All Blacks. Sind ausländische Mannschaften in Neuseeland zu Gast, treten diese in der Regel auch gegen die Māori All Blacks an. Um dieser Mannschaft anzugehören, muss ein Spieler zu mindestens 1/16 maorischer Abstammung sein. Die Mannschaft Heartland XV ist aus Amateurspielern zusammengesetzt. Hinzu kommen die All Blacks Sevens, die Nationalmannschaft für Siebener-Rugby. Auf nationaler Ebene spielen Vereine nur eine lokale oder regionale Rolle. Von weitaus größerer Bedeutung sind die 26 Regionalverbände (17 auf der Nordinsel und 9 auf der Südinsel), die je eine Auswahlmannschaft in der Profiliga Mitre 10 Cup oder in der halbprofessionellen Heartland Championship stellen. Der nationalen Meisterschaft übergeordnet ist die zusammen mit Mannschaften aus Australien, einer in Fidschi und einer im Stillen Ozean (faktisch die Cookinseln, Fidschi, Samoa und Tonga) ausgetragene internationale Meisterschaft Super Rugby. Da sich die Spielzeiten nur wenig überschneiden, kommen zahlreiche Spieler in beiden Ligen zum Einsatz. Die Statuten der NZRU schreiben zwingend vor, dass Spieler bei neuseeländischen Mannschaften im ITM Cup und/oder in Super Rugby unter Vertrag stehen müssen, wenn sie dem Kader der All Blacks angehören wollen. Ist ein Spieler im Ausland engagiert, ist er automatisch nicht für die Nationalmannschaft spielberechtigt. Diese Regelung, die andere bedeutende Rugbynationen nicht kennen, hat zur Folge, dass die besten Spieler zunächst einige Jahre in Neuseeland bleiben und dann ihren Rücktritt aus der Nationalmannschaft erklären, um bei den meist finanzkräftigeren Vereinen der englischen Aviva Premiership und der französischen Top 14 zu spielen. Geschichte Einführung von Rugby in Neuseeland Eingeführt wurde Rugby in Neuseeland im Jahr 1870 durch Charles Monro. Der Sohn des damaligen Speakers des neuseeländischen Repräsentantenhauses hatte das Spiel kennengelernt, als er Schüler des Christ's College Finchley in London gewesen war. Das erste schriftlich belegte Spiel in Neuseeland fand am 14. Mai 1870 in Nelson statt. 1879 folgte die Gründung des ersten Verbandes, der Canterbury Rugby Football Union. 1882 wurden die ersten internationalen Spiele ausgetragen, als die Auswahlmannschaft der Southern Rugby Union (die spätere New South Wales Rugby Union) eine Tour durch Neuseeland unternahm. Die Australier trafen nicht auf eine nationale Auswahl, sondern gegen verschiedene Provinzauswahlteams; sie gewannen vier Spiele und verloren dreimal. Zwei Jahre später reiste die erste neuseeländische Auswahlmannschaft ins Ausland. Sie spielte gegen verschiedene Teams aus New South Wales und gewann alle Spiele. Ein privat organisiertes britisches Team, die späteren British and Irish Lions, reiste 1888 durch Neuseeland. Es gab weiterhin keine eigentlichen Test Matches, sondern Spiele gegen Auswahlmannschaften der Provinzen. Die ersten internationalen Spiele 1888 und 1889 waren die New Zealand Natives, eine von Privatleuten gesponserte, inoffizielle und fast ausschließlich aus Maori zusammengesetzte Mannschaft, die erste Auswahl aus einer britischen Kolonie, die in Großbritannien Spiele austrug. 1892 erfolgte die Gründung der New Zealand Rugby Football Union (NZRFU). Der Verband repräsentierte zunächst sieben Provinzen. Die Provinzverbände von Canterbury, Otago und Southland traten erst einige Jahre später bei, um gegen die Regelung zu protestieren, dass sämtliche Mitglieder des NZRFU-Exekutivkomitees in Wellington Wohnsitz nehmen mussten (diese Regelung wurde erst 1986 abgeschafft). Die erste offizielle, von der NZRFU sanktionierte neuseeländische Mannschaft reiste im Juli 1893 durch New South Wales und Queensland. Das erste Test Match (Länderspiel) im heutigen Sinne fand am 15. August 1903 vor über 30.000 Zuschauern im Sydney Cricket Ground statt und endete mit einem 22:3-Sieg der Neuseeländer über Australien. 1905 reiste erstmals eine offizielle neuseeländische Auswahl durch Großbritannien, Irland, Frankreich und Kalifornien. Während dieser Tour entstand der Begriff All Blacks (dt. etwa „die ganz in Schwarz Gekleideten“), weshalb man diese Mannschaft auch als Original All Blacks bezeichnet. Sie trugen 35 Spiele aus, darunter fünf Länderspiele. Die einzige Niederlage mussten die Neuseeländer in Cardiff gegen die walisische Nationalmannschaft hinnehmen, ansonsten feierten sie ausnahmslos Siege. Mit dieser Tour begründeten die Neuseeländer ihren Ruf, eine der besten Rugby-Mannschaften der Welt zu sein. 1908 stattete eine aus Engländern und Walisern zusammengesetzte britische Auswahl Neuseeland einen Besuch ab; sie verlor zwei Spiele gegen die All Blacks und erreichte ein Unentschieden. Mit Ausnahme einer zweimonatigen Tour 1913 durch den Westen der USA und British Columbia spielten die All Blacks bis nach dem Ersten Weltkrieg ausschließlich gegen Australien und diverse Provinzmannschaften. In den Jahren 1915 bis 1919 war der internationale Spielbetrieb eingestellt. Zwischenkriegszeit Nach Kriegsende spielte eine Auswahl der neuseeländischen Armee in England an einem internationalen Turnier um den King’s Cup. Das Team gewann den Pokal und bildete in den folgenden Jahren die Kerngruppe der All Blacks. Die bis heute andauernde Rivalität mit Südafrika nahm mit der Australasientour 1921 ihren Anfang, als die Springboks (wie die südafrikanische Mannschaft üblicherweise genannt wird) erstmals nach Neuseeland kamen. Die aus drei Begegnungen bestehende Länderspielserie (engl. test series) endete ausgeglichen mit je einem Sieg, einem Unentschieden und einer Niederlage. Der Gegenbesuch der All Blacks folgte 1928, auch diese Serie endete ausgeglichen. Nach einer Unterbrechung von fast zwanzig Jahren organisierte die NZRFU im Jahr 1924 wieder eine Tour nach Europa, die neben 28 Spielen gegen Vereine und Provinzmannschaften auch vier Länderspiele umfasste. Die Mannschaft erhielt den Spitznamen The Invincibles („die Unbesiegbaren“), weil sie kein einziges Spiel verlor. Allerdings wurde ihr die Chance verwehrt, den ersten Grand Slam (Siege gegen alle britischen Mannschaften in derselben Saison) zu erzielen: Schottland weigerte sich zu spielen, da die Tour durch die englische Rugby Football Union organisiert worden war. Die erste wirklich repräsentative britische Mannschaft, bestehend aus Spielern aus allen vier Landesteilen (heute unter der Bezeichnung British and Irish Lions bekannt), unternahm 1930 eine Tour nach Neuseeland. Obwohl die Lions das erste Länderspiel gewannen, siegten die All Blacks nach einer Umstellung der Mannschaft in den drei weiteren Spielen und konnten die Serie mit 3:1 für sich entscheiden. Die nächste Europatour der All Blacks folgte 1935/36. Von 30 ausgetragenen Spielen verloren sie nur drei, darunter zwei Länderspiele. Erstmals gelang dem Rugby-Mutterland England ein Sieg gegen Neuseeland, dank zwei erfolgreichen Versuchen des emigrierten russischen Fürsten Alexander Obolenski. Als die Südafrikaner 1937 zu Besuch in Neuseeland waren, gewannen sie die Länderspielserie mit 2:1. Die All Blacks siegten zwar im ersten Test Match, verloren aber die zwei darauf folgenden. In der Folge wurde die 1937er-Mannschaft Südafrikas oft als die beste bezeichnet, die jemals in Neuseeland gespielt hat. In den Jahren 1939 bis 1945 konnten die All Blacks wegen des Zweiten Weltkrieges erneut kein einziges Spiel austragen. 1940er bis 1970er Jahre Die nächste größere Tour außerhalb Ozeaniens folgte im Jahr 1949, als die All Blacks zu Besuch in Südafrika waren. Obwohl die vier Test Matches alle mit einem knappen Ergebnis endeten, mussten die Neuseeländer vier Niederlagen hinnehmen – bis heute eine der schlechtesten Leistungen in der Geschichte der All Blacks. Zur selben Zeit reisten die reisten Australier durch Neuseeland, weil die Maori wegen der Bestimmungen der Apartheid-Politik zuhause bleiben mussten und zusammen mit Reservespielern eine eigene Mannschaft bildeten. Somit spielten die Südafrikaner ausschließlich gegen Pākehā (Neuseeländer europäischer Herkunft). Die Einschränkung für nicht-weiße neuseeländische Spieler blieb bis vor der Tour 1970 in Kraft, als vier Spieler maorischer und samoanischer Herkunft als „Ehrenweiße“ nach Südafrika reisen durften. Am Nachmittag des 3. September (neuseeländische Zeit) unterlag das Maori-Team in Auckland den Australiern 3:9. Am selben Nachmittag (südafrikanische Zeit) verlor die erste Mannschaft in Durban mit 6:11 gegen Südafrika. 1949 gilt für die All Blacks als „annus horribilis“, da sämtliche sechs Länderspiele verloren gingen und Australien erstmals den Bledisloe Cup für sich entscheiden konnte. Die NZRFU beschloss als Folge der Niederlagenserie, künftig die Kräfte zu bündeln und keine zweite Mannschaft gleichzeitig spielen zu lassen. Als die Südafrikaner 1956 in Neuseeland zu Besuch waren, gelang den All Blacks die Revanche: Sie gewannen drei der vier Länderspiele und konnten die Serie erstmals für sich entscheiden. Der 3:1-Erfolg in der Länderspielserie gegen die British and Irish Lions im Jahr 1959 erwies sich als Beginn einer besonders erfolgreichen Phase. Während der 1960er Jahre dominierten die All Blacks die britischen Teams fast nach Belieben. Bei ihrer Europatour 1963/64 verpassten sie den Grand Slam denkbar knapp: Nach Länderspielsiegen gegen Irland, Wales und England folgte ein punkteloses Unentschieden gegen Schottland. Die einzige Niederlage auf dieser Tour mussten sie am 30. Oktober 1963 gegen den walisischen Verein Newport RFC hinnehmen. Eine weitere Chance, den Grand Slam zu schaffen, bot sich bei der Europatour 1967. Doch nach drei gewonnenen Spielen musste die Begegnung gegen Irland wegen eines Ausbruchs der Maul- und Klauenseuche abgesagt werden. Von 1965 bis 1970 blieben die All Blacks in allen 17 Länderspielen ungeschlagen, was damals die längste Siegesserie bedeutete; dieser Rekord wurde 1998 von Südafrika egalisiert und 2010 von Litauen übertroffen. Als die Lions 1966 in Neuseeland zu Gast waren, fügten ihnen die All Blacks vier Niederlagen zu. 1971 kehrten die Lions nach Neuseeland zurück und entschieden die Länderspielserie mit 2:1 Siegen für sich (hinzu kam ein Unentschieden). Bis heute ist dies die einzige Serie, welche die Briten in Neuseeland für sich entscheiden konnten. 1972/73 unternahmen die All Blacks eine 32 Spiele umfassende Tour durch Europa. Erneut misslang der Versuch, gegen die vier Nationalmannschaften der britischen Inseln einen Grand Slam zu erzielen, da Irland den All Blacks ein Unentschieden abrang. Für Schlagzeilen sorgte die vorzeitige Heimreise des Spielers Keith Murdoch, der bei einer Siegesfeier in Cardiff in eine Schlägerei verwickelt gewesen sein soll. 1978 waren die Grand-Slam-Bemühungen schließlich erfolgreich, als die All Blacks alle britischen Mannschaften bezwingen konnten. Das Spiel gegen Wales, das mit 13:12 endete, wurde allerdings erst in der letzten Spielminute entschieden, nachdem der Schiedsrichter einen umstrittenen Penalty gepfiffen hatte. Die einzige Niederlage während dieser Tour mussten die All Blacks gegen eine Provinzmannschaft hinnehmen, als sie in Limerick mit 0:12 gegen das Team von Munster Rugby verloren. Der sensationelle Erfolg Munsters inspirierte den irischen Theaterregisseur John Breen, das Stück Alone It Stands zu schreiben. Kontroversen Aus rein sportlicher Sicht war die 24 Spiele umfassende Tour nach Südafrika im Jahr 1976 wenig erfolgreich: Die All Blacks verloren drei Spiele gegen Provinzmannschaften und auch drei der vier Länderspiele gegen die Springboks. Weitaus größere Auswirkungen hatte die Tour auf politischer Ebene. Wegen der südafrikanischen Apartheid-Politik weigerten sich zahlreiche Maori, dort zu spielen. Seit Beginn der 1960er Jahre war immer wieder durch öffentliche Proteste und politischen Druck versucht worden, die NZRFU dazu zu bewegen, entweder überhaupt keine Maori zu nominieren oder ganz auf Spiele in Südafrika zu verzichten. Während Premierminister Norman Kirk 1973 eine Tour der All Blacks untersagte, gab sein Nachfolger Robert Muldoon die Erlaubnis dazu. Dieser kontroverse Beschluss hatte den Protest zahlreicher afrikanischer Staaten zur Folge, die ultimativ den Ausschluss Neuseelands von den Olympischen Sommerspielen 1976 forderten. Das Internationale Olympische Komitee ging nicht darauf ein, mit der Begründung, Rugby Union sei keine olympische Sportart. 28 überwiegend afrikanische Staaten boykottierten daraufhin die Spiele in Montreal. Als Reaktion auf diese umstrittene Tour unterzeichneten die Regierungen der Commonwealth-Staaten 1977 die Gleneagles-Vereinbarung, die sportliche Beziehungen mit Südafrika ächtete. Noch umstrittener war die Neuseeland-Tour der Springboks im Jahr 1981. Von Ende Juli bis Mitte September trugen die von der NZRFU eingeladenen Südafrikaner 17 Spiele aus, darunter drei Test Matches gegen die All Blacks. Schon lange vorher stieß die Tour auf Kritik. Viele verurteilten sie als Unterstützung der weißen Herrschaft in Südafrika, während andere auf angespannte Beziehungen zu den Maori im eigenen Land hinwiesen. Erneut lehnte Muldoon jegliche Einmischung ab. Er vertrat den Standpunkt, die Politik dürfe sich nicht in den Sport einmischen. Die Spiele waren gut besucht, doch in zahlreichen Städten gab es zum Teil heftige Protestkundgebungen. In Hamilton rissen 350 Demonstranten die Abschrankungen nieder, stürmten das Spielfeld und erzwangen den Abbruch des Spiels. Auch in Timaru musste ein Spiel abgesagt werden und in Wellington kam es mehrmals zu Straßenschlachten. Während des letzten Spiels in Auckland wurden von einem tief fliegenden Flugzeug aus Mehlsäcke, Flugblätter und ein Transparent zu Ehren von Steve Biko auf das Spielfeld im Eden Park abgeworfen. 1985 plante die NZRFU eine Tour nach Südafrika. Zwei Anwälte reichten eine Klage ein und argumentierten, dieses Vorhaben sei ein Verstoß gegen die Verbandsstatuten. Das Court of Appeal verbot daraufhin die Durchführung dieser Tour. Zahlreiche Spieler, die sich selbst als The Cavaliers („die Kavaliere“) bezeichneten, hielten sich nicht an das Verbot und organisierten 1986 eine inoffizielle Tour nach Südafrika. Nach ihrer Rückkehr wurden sie vom Verband mit mehrmonatigen Spielsperren bestraft. Erst 1992, nach dem Ende der Apartheid, fanden wieder Länderspiele zwischen Neuseeland und Südafrika statt. Die ersten Weltmeisterschaften 1987 veranstalteten Neuseeland und Australien gemeinsam die erste Rugby-Union-Weltmeisterschaft. Die All Blacks wurden ihrer klaren Favoritenrolle gerecht. Nach drei deutlichen Siegen in der Vorrundengruppe 1 gegen Italien, Fidschi und Argentinien bezwangen sie ebenso deutlich Schottland im Viertel- und Wales im Halbfinale. Das Endspiel im Eden Park in Auckland gegen Frankreich gewannen sie mit 29:9. In sechs Spielen erzielten sie 43 Versuche und mussten nur 52 Punkte hinnehmen. Die Überlegenheit der All Blacks zeigte sich auch 1988 während der Tour in Australien, als die Mannschaft unbesiegt blieb (zwölf Siege und ein Unentschieden). Noch besser lief es 1989, als die All Blacks sämtliche 19 ausgetragenen Spiele gewannen (darunter sieben Länderspiele). Im August 1990 verloren sie gegen Australien nach vier Jahren erstmals wieder ein Spiel. Bei der Weltmeisterschaft 1991 galt die Mannschaft als überaltert. Sie gewann zwar alle drei Vorrundenspiele, konnte sich dabei aber gegen England und Italien nur mit Mühe durchsetzen. Nachdem sie im Viertelfinale Kanada besiegt hatten, verloren die All Blacks das Halbfinale an der Lansdowne Road in Dublin gegen den späteren Weltmeister Australien mit 6:16. Gegen Schottland sicherten sie sich den dritten Platz. Nach Ende dieser Weltmeisterschaft gab es zahlreiche Rücktritte. Die deutlich verjüngte Mannschaft spielte vorerst nicht auf dem gewohnt hohen Niveau und verlor unter anderem 1994 zwei Heimspiele hintereinander gegen Frankreich. Die Weltmeisterschaft 1995 fand in Südafrika statt, und wieder galten die All Blacks als Favoriten. Diese Favoritenrolle bestätigten sie mit Siegen gegen Irland und Wales in der Vorrunde. Japan wurde mit 145:17 geschlagen, was bis heute der deutlichste Sieg der All Blacks ist. Nach dem Viertelfinalsieg über Schottland wurden sie den Vorschusslorbeeren auch im Halbfinale gerecht, als sie mit 45:29 gegen England gewannen. Zwei Tage vor dem Endspiel litt ein großer Teil der Mannschaft an Gastroenteritis. Die geschwächten Neuseeländer verloren schließlich mit 12:15 nach Verlängerung gegen den Gastgeber Südafrika. Trainer Laurie Mains behauptete, eine mysteriöse Kellnerin namens „Suzie“ habe Kräuter in die Getränke der Spieler gemischt, welche dieselben Symptome wie bei einer Lebensmittelvergiftung auslösen würden. Beginn des Professionalismus Im August 1995 beschloss der International Rugby Board, Rugby Union für Profispieler zu öffnen, um so der zunehmenden Abwerbung guter Spieler durch finanzkräftige Rugby-League-Vereine zu begegnen. Noch im selben Jahr gründeten die Verbände Südafrikas, Neuseelands und Australiens das Konsortium SANZAR, um Fernsehübertragungsrechte für zwei neue Wettbewerbe zu verkaufen, die internationale Liga Super 12 (heute Super Rugby) und das Tri-Nations-Turnier (heute The Rugby Championship). Da die neuen Wettbewerbe keine Zeit für monatelange Überseetouren mehr ließen, nahm diese Tradition der Amateurära ein rasches Ende. Die erste Austragung von Tri Nations im Jahr 1996 gewannen die All Blacks. Dieser Erfolg hatte auch eine besondere historische Bedeutung. Erstmals überhaupt war es den Neuseeländern gelungen, eine Länderspielserie in Südafrika für sich zu entscheiden. Kapitän Sean Fitzpatrick stufte diesen Erfolg höher ein als den Gewinn des Weltmeistertitels, an dem er ebenfalls beteiligt gewesen war. Die All Blacks gewannen bei Tri Nations 1997 alle Spiele und verteidigten den Titel. 1998 jedoch gingen alle vier Spiele verloren. Es war das erste Mal seit 1949, dass die All Blacks viermal in Folge als Verlierer vom Platz gehen mussten. Am 28. August 1999 verloren sie in Sydney mit 7:28 gegen Australien, gleichbedeutend mit der bis 2023 höchsten Niederlage. Nur knapp einen Monat später konnten sich die All Blacks während der Weltmeisterschaft 1999 in Wales wieder auffangen. Sie dominierten ihre Vorrundengruppe fast nach Belieben und siegten gegen Tonga, England und Italien. Nachdem sie sich im Viertelfinale gegen Schottland durchgesetzt hatten, trafen die All Blacks im Halbfinale auf Frankreich. Nach Ende der ersten Halbzeit lagen sie zwar 17:10 vorne, doch die Franzosen waren in der zweiten Halbzeit überraschenderweise die klar bessere Mannschaft und siegten mit 43:31. Im Spiel um Platz 3 unterlagen die All Blacks auch Südafrika. 2000 und 2001 belegten die All Blacks im Tri-Nations-Turnier jeweils den zweiten Platz, in den zwei darauf folgenden Jahren gewannen sie das Turnier. Nach den Tri-Nations-Erfolgen galten die Neuseeländer im Vorfeld der Weltmeisterschaft 2003 in Australien erneut als Favoriten für den Weltmeistertitel. Die Vorrundengegner Italien, Kanada und Tonga waren chancenlos, nur Wales vermochte längere Zeit Gegenwehr zu leisten, wenn auch letztlich ohne Erfolg. Nach einem deutlichen Viertelfinalsieg über Südafrika trafen die All Blacks im Halbfinale auf den amtierenden Weltmeister Australien. Neuseeland verlor das Spiel mit 10:22, der Sieg im Spiel um Platz 3 gegen Frankreich war nur noch von geringer Bedeutung. Die Ära Henry/Hansen Unter dem neuen Trainer Graham Henry feierten die All Blacks im Juni 2004 zwei klare Heimsiege gegen den neuen Weltmeister England, doch das Tri-Nations-Turnier im selben Jahr beendeten sie auf dem letzten Platz. 2005 waren die British and Irish Lions auf Tournee in Neuseeland. Die All Blacks entschieden die Länderspielserie mit 3:0, gewannen das Tri-Nations-Turnier 2005 und schafften den ersten Grand Slam gegen die Nationalmannschaften von den Britischen Inseln seit 1978. Die All Blacks wurden vom International Rugby Board als „Mannschaft des Jahres“ ausgezeichnet, Graham Henry erhielt die Auszeichnung als „Trainer des Jahres“ und Daniel Carter jene als „Spieler des Jahres“. Aufgrund ihrer herausragenden Leistungen waren die All Blacks als „Mannschaft des Jahres“ bei den Laureus World Sports Awards 2006 nominiert. Die Erfolgsserie hielt im folgenden Jahr weiterhin an. Nach einem klaren Turniersieg bei Tri Nations 2006 folgten Ende des Jahres deutliche Siege gegen Frankreich, England und Wales. Die All Blacks bauten ihre Vormachtstellung weiter aus und wurden folgerichtig vom IRB erneut als beste „Mannschaft des Jahres“ geehrt, während Richie McCaw den Preis als „Spieler des Jahres“ entgegennehmen konnte. Auch 2007 waren die All Blacks bei den Laureus World Sports Awards als „Mannschaft des Jahres“ nominiert. Nachdem sie das Tri-Nations-Turnier gewonnen hatten, galten sie im Vorfeld der Weltmeisterschaft 2007 wiederum als meistgenannte Favoriten, was sie mit zwei deutlichen Siegen in Vorbereitungsspielen gegen die Franzosen unterstrichen. Bei der in Frankreich stattfindenden Weltmeisterschaft dominierten die All Blacks ihre Vorrundengruppe nach Belieben, mit klaren Erfolgen gegen Italien, Portugal, Rumänien und Schottland (jeweils mit über 40 Punkten Differenz). Im Viertelfinale scheiterten sie überraschend mit 18:20 an Frankreich; dies war gleichbedeutend mit ihrem schlechtesten WM-Ergebnis überhaupt. Trotz dieses Misserfolgs verlängerte die NZRFU Henrys Trainervertrag, was in der Öffentlichkeit verschiedentlich auf Kritik stieß. Bei Tri Nations 2008 gelang erneut der Turniersieg. Allerdings mussten die All Blacks in Dunedin eine 28:30-Niederlage hinnehmen, womit eine 30 Spiele dauernde Ungeschlagenheit bei Heimspielen zu Ende ging. Die Saison 2009 begann mit einer 22:27-Heimniederlage gegen Frankreich, ebenfalls in Dunedin. Zwar folgte ein 14:10-Sieg eine Woche später in Wellington, doch aufgrund der Punktedifferenz mussten die Neuseeländer erstmals die Dave Gallaher Trophy abgeben. Das Tri-Nations-Turnier beendeten sie aufgrund zweier Niederlagen gegen Südafrika auf dem zweiten Platz. Die Revanche gelang ihnen bei Tri Nations 2010 mit drei Siegen gegen Südafrika, auch bei den drei Begegnungen gegen Australien blieben sie ungeschlagen. Die All Blacks beendeten das Tri-Nations-Turnier 2011 auf dem zweiten Platz hinter Australien. Da sie die Weltrangliste deutlich anführten, galten sie vor der Weltmeisterschaft 2011 im eigenen Land dennoch als meistgenannte Favoriten auf den WM-Titel. In der Vorrundengruppe A setzten sie sich erwartungsgemäß deutlich durch und standen nach Siegen gegen Tonga, Japan, Frankreich und Kanada als Gruppensieger fest. Im Viertelfinale schlugen sie Argentinien mit 33:10, im Halbfinale Australien mit 20:6. Das WM-Finale am 23. Oktober 2011 im Eden Park von Auckland war sehr ausgeglichen. Am Ende setzten sich die All Blacks knapp mit 8:7 gegen Frankreich durch und konnten sich somit zum zweiten Mal nach 1987 als Weltmeister feiern lassen. Nach der Weltmeisterschaft trat Graham Henry zurück und die NZRFU bestimmte seinen bisherigen Assistenten Steve Hansen zum neuen Nationaltrainer. 2012 wurde Tri Nations mit der Aufnahme Argentiniens zur Rugby Championship erweitert. Die All Blacks entschieden das erste Turnier im neuen Format mit sechs Siegen in ebenso vielen Spielen für sich. Im Verlaufe des Jahres blieben sie unbesiegt, mit Ausnahme des letzten Auswärtsspiels gegen England, das sie mit 21:38 verloren. 2013 empfingen die Neuseeländer Frankreich zu einer Serie von drei Länderspielen, die alle mit einem Sieg der All Blacks endeten. Auch bei der Rugby Championship 2013 blieben sie ungeschlagen. Im November 2013 wurde Neuseeland die erste Nation in der professionellen Ära, die in einem Kalenderjahr eine Erfolgsquote von 100 % aufwies. Während der Rugby Championship 2014 spielten die All Blacks auswärts gegen Australien Unentschieden und verloren gegen Südafrika, konnten nach Siegen in den anderen vier Spielen das Turnier jedoch für sich entscheiden. Die verkürzte Rugby Championship 2015 schlossen die All Blacks nach einer Niederlage gegen Australien als Zweiter ab. Ihnen gelang jedoch im Rückspiel um den Bledisloe Cup gegen die Wallabies die Verteidigung der Trophäe. Bei der WM 2015 besiegten die All Blacks nach einer souveränen Vorrunde mit Siegen gegen Argentinien, Namibia, Tonga und Georgien im Viertelfinale den kolportierten Angstgegner aus Frankreich mit 62:13 Punkten, der größten Punktdifferenz in Ausscheidungsspielen einer Weltmeisterschaft. Im Halbfinale setzte sich die Mannschaft gegen die südafrikanischen „Springboks“ denkbar knapp mit 20:18 durch, im Finale gegen die „Wallabies“ mit 34:17. Neuseeland verteidigte damit als erste Mannschaft einen WM-Titel und wurde mit dem insgesamt dritten WM-Titelgewinn alleiniger Rekordweltmeister. Die All Blacks unter ihrem neuen Kapitän Kieran Read blieben auch während der Rugby Championship 2016 unbesiegt und erzielten in jedem Spiel einen Bonuspunktsieg. Bei den End-of-year Internationals 2016 verloren die All Blacks erstmals in 111 Jahren ein Test Match gegen Irland, als man im Chicagoer Soldier Field mit 29:40 unterlag. Neuseeland gelang jedoch die Revanche, als die All Blacks eine Woche später das Rückspiel in Dublin mit 21:9 gewannen. 2017 unternahmen die British and Irish Lions ihre zweite Neuseeland-Tour in der professionellen Ära. Die Testserie endete Unentschieden. Die All Blacks gewannen das erste Test Match mit 30:15, die Lions das zweite mit 24:21 und das letzte Test Match endete 15:15-Unentschieden. Das Unentschieden der Lions-Tour, zusammen mit der Niederlage gegen Irland im Jahr zuvor, deutete einigen Zeitungsberichten zufolge auf ein schwächeln der All Blacks und ein Aufholen der Mannschaften aus der Nordhemisphäre. Dagegen gewannen die All Blacks die Rugby Championship 2017 unbesiegt und verteidigten auch den Bledisloe Cup, nachdem man Australien beide Male schlagen konnte. Zu Beginn der 2018-Saison gewannen die All Blacks die Testserie gegen die besuchenden Franzosen mit 3:0 und man verteidigte zu Beginn der Rugby Championship 2018 den Bledisloe Cup gegen Australien. Danach bezwangen die All Blacks die Pumas deutlich, unterlagen jedoch erstmals seit 2009 den Springboks daheim in Wellington, wenn auch denkbar knapp mit 34:36. Während den End-of-year Internationals 2018 gelang den All Blacks nur ein knapper Sieg gegen England (16:15), gefolgt von der zweiten Niederlage gegen Irland überhaupt. Während der verkürzten Rugby Championship 2019 gelang Neuseeland nur der dritte Platz, das schlechteste Abschneiden seit dem Beitritt Argentiniens 2012; das letzte Mal landete Neuseeland während den Tri Nations 2004 auf dem dritten (und damals letzten Platz). Während des Turniers kamen die All Blacks gegen die Springboks nicht über ein Unentschieden hinaus, worauf eine Rekordniederlage gegen die Wallabies (26:47) folgte. Trotzdem gelang den All Blacks die Verteidigung des Bledisloe Cups, nachdem man das Rückspiel gegen Australien mit 36:0 gewinnen konnte. Der Auftakt zur WM 2019 gegen die Springboks wurde im Vorfeld als Highlight der Vorrunde angepriesen. Dabei setzten sich die All Blacks mit 23:13 durch. Es folgten Siege gegen Kanada und Namibia, während das letzte Vorrundenspiel gegen Italien wegen des Taifuns Hagibis abgesagt werden musste. Nach dem Viertelfinalsieg gegen Irland verloren die All Blacks im Halbfinale gegen England mit 7:19. Ein Titel-Hattrick war somit nicht möglich und das letzte Spiel der Neuseeländer war jenes um Platz 3 gegen Wales. Sowohl für Steve Hansen als auch für Warren Gatland war es auch das letzte Spiel als Trainer, sodass beide Mannschaften ihrem Trainer einen schönen Abschied bereiten wollten. Dies gelang den All Blacks besser und sie gewannen mit 40:17. Der Spitzname „All Blacks“ Billy Wallace, der letzte lebende Spieler der Original All Blacks von 1905/06, sagte 1955 in einem Interview, ein Journalist der Zeitung Daily Mail habe die Neuseeländer nach dem Spiel gegen Hartlepool als „all backs“ bezeichnet. Er meinte damit, die üblicherweise schweren und großen Spieler der Vordermannschaft (engl. forwards) seien im Gegensatz zu ihren Gegnern schnell und wendig und beherrschten das Passspiel ebenso gut wie die Hintermannschaft (engl. backs). Sie würden also alle wie die Hintermannschaft spielen („as if they were all backs“). Wallace behauptete ferner, wegen eines Druckfehlers in einem Artikel vor dem nächsten Spiel gegen Somerset sei die Mannschaft in der Folge von Zuschauern und Medien nur noch als „All Blacks“ bezeichnet worden. Wallaces Darstellung wird heute weitgehend abgelehnt, da sich aus dem Zeitraum 1905/06 keine einzige englische Zeitung finden lässt, die von „All Backs“ (ohne l) schreibt. Der Begriff „All Blacks“ (mit l) erschien tatsächlich erstmals nach der Begegnung mit Hartlepool in einem Spielbericht der Regionalzeitung Northern Daily Mail, die in der Folge von der nationalen Ausgabe der Daily Mail übernommen wurde. Autor dieses Artikels ist J. A. Buttery, Rugby-Korrespondent der Daily Mail während der Tour der Neuseeländer, der mit dem Spitznamen Bezug auf die (mit Ausnahme des Silberfarns) gänzlich schwarze Spielkleidung der Mannschaft nahm. Spielkleidung Das aktuelle Trikot der All Blacks ist vollkommen schwarz – mit Ausnahme des Logos des offiziellen Trikotsponsors Adidas, des stilisierten Silberfarns (Logo der NZRU) und des Logos des Verbandssponsors Altrad auf der Vorderseite sowie der Rückennummer (alle in weiß). Bei ihrer ersten Auslandsreise, der 1884er-Tour nach Australien, trugen die neuseeländischen Rugbyspieler Spielkleidung, die sich von der heutigen stark unterscheidet. Sie bestand aus einem dunkelblauen Hemd mit einem goldenen Farn auf der linken Vorderseite. 1893 beschloss die NZRFU auf ihrer jährlichen Generalversammlung, dass die Spielkleidung künftig aus einem schwarzen Hemd mit Silberfarn und weißen Knickerbockern bestehen solle. Fotos aus jener Epoche lassen jedoch darauf schließen, dass stattdessen weiße Shorts getragen wurden. Irgendwann nach 1897 gab es eine Veränderung, denn 1901 trat die Mannschaft gegen New South Wales in schwarzen Segeltuchhemden ohne Kragen, schwarzen Shorts und schwarzen Socken an. Seit 2000 tragen die All Blacks bei Spielen in Frankreich im Monat November Hemden mit einer auf dem rechten Ärmel aufgestickten roten Mohnblume. Damit soll der Soldaten des Australian and New Zealand Army Corps gedacht werden, die während des Ersten Weltkriegs auf den Schlachtfeldern Europas ihr Leben ließen. Äußerst selten treten die All Blacks bei Auswärtsspielen nicht in Schwarz auf, in der Regel in Spielen gegen Mannschaften, die ebenfalls dunkle Spielkleidung tragen (beispielsweise das schottische Dunkelblau). 2006 wurde das früher in solchen Fällen verwendete weiße Hemd gegen ein graues getauscht, drei Jahre später kehrte man zum üblichen Weiß zurück. Der Haka Vor jedem Länderspiel führen die All Blacks den Haka auf, einen Ritualtanz der Maori, um ihre Gegner einzuschüchtern und um sich selbst zu motivieren. Der Haka wird oft als Herausforderung zum Kampf beschrieben. Seit der Tour der New Zealand Natives von 1888/89 ist der Haka ein fester Bestandteil des neuseeländischen Rugby. Die Natives tanzten den Haka Ake Ake Kia Kaha, die 1903 in Australien tourende Mannschaft den spöttischen Haka Tupoto koe, Kangaru! Die Tradition des heutzutage bekanntesten Haka mit dem Titel Ka Mate – komponiert zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Te Rauparaha, dem Stammesführer der Ngāti Toa – begründeten die All Blacks im Jahr 1905. Die All Blacks von 1924 verwendeten den eigens komponierten Haka Ko Niu Tireni, kehrten dann aber zu Ka Mate zurück. Der Haka wurde bis 1986 traditionell im Ausland aufgeführt, in Neuseeland selbst regelmäßig ab der Weltmeisterschaft 1987. Er musste allerdings geübt werden, um ein vorher fehlendes Niveau an Rhythmusgenauigkeit und Intensität zu erreichen. Eine Schlüsselrolle hierbei spielten die Spieler Wayne Shelford und Hika Reid. Vor einem Tri-Nations-Spiel gegen Südafrika am 28. August 2005 in Dunedin führten die All Blacks den völlig neuen Haka Kapa o Pango auf. Dieser war komponiert worden, „um die multikulturelle Zusammensetzung der neuseeländischen Bevölkerung zu betonen, insbesondere den wachsenden Einfluss der Polynesier“. Der neue Haka wird nur zu besonderen Anlässen aufgeführt und soll Ka Mate nicht ersetzen. Kapa o Pango endet mit einer umstrittenen, auf das gegnerische Team gerichteten Geste des „Hals-Durchschneidens“. Dies führte zu Vorwürfen, der neue Haka rufe zu Gewalt auf und sende ein falsches Signal an die Fans. Eine von der NZRFU eingesetzte Expertenkommission kam zum Schluss, dass die Geste in der Kultur der Maori eine völlig andere Bedeutung hat. Laut Komponist Derek Lardelli steht sie für das Ziehen lebenswichtiger Energie in die Herzen und Lungen. Spielen die All Blacks in Wellington, wird aus Respekt gegenüber Te Rauparaha immer der Ka Mate aufgeführt. An anderen Spielorten entscheiden sich der Kapitän und der Führer des Hakas in den Tagen vor dem Spiel für den Haka, der stimmungsmäßig am besten zur Spielsituation passt. Stadien Wie in den Rugbynationen Argentinien, Australien, Frankreich und Südafrika gibt es in Neuseeland kein offizielles „Nationalstadion“, vielmehr absolvieren die All Blacks in zahlreichen verschiedenen Orten Neuseelands ihre Heimspiele. Besonders häufig verwendet werden der Eden Park in Auckland, das Wellington Regional Stadium in Wellington und das Waikato Stadium in Hamilton. Vor dem Bau des Westpac Stadium im Jahr 1999 war der Athletic Park die traditionelle Spielstätte in Wellington. Dort war am 13. August 1904 das erste Heimspiel der All Blacks gegen Großbritannien ausgetragen worden. Das erste Spiel außerhalb der Ballungszentren Auckland, Christchurch, Dunedin und Wellington fand am 7. Juni 1996 im McLean Park in Napier statt. Austragungsort des Finalspiele der Weltmeisterschaften 1987 und 2011 war der Eden Park. Im Hinblick auf die Rugby-Union-Weltmeisterschaft 2011 wurden die Zuschauerkapazitäten des Eden Park und des AMI Stadium in Christchurch signifikant erhöht. Als Alternative zur Erweiterung des Eden Park hatte die neuseeländische Regierung den Bau eines Nationalstadions am alten Hafen von Auckland vorgeschlagen. Dieses Vorhaben stieß bei den Behörden von Stadt und Region Auckland auf Widerstand und wurde Ende November 2006 fallengelassen. Carisbrook, die traditionelle Spielstätte in Dunedin, wurde 2011 durch das Forsyth Barr Stadium ersetzt. Das Christchurch-Erdbeben vom Februar 2011 richtete große Schäden am AMI Park an, weshalb die dort geplanten WM-Spiele an andere Orte verlegt werden mussten. Spieler Aktueller Kader Die folgenden Spieler bildeten den Kader während der Weltmeisterschaft 2023: Herausragende Spieler 18 ehemalige Spieler der All Blacks sind aufgrund ihrer herausragenden Leistungen in die World Rugby Hall of Fame aufgenommen worden. Ebenfalls in die Hall of Fame aufgenommen wurden der Weltmeistertrainer Graham Henry sowie die Mannschaft der New Zealand Natives. 14 Spieler sind zweifache Weltmeister: Daniel Carter, Ben Franks, Owen Franks, Jerome Kaino, Richie McCaw, Keven Mealamu, Ma’a Nonu, Kieran Read, Colin Slade, Conrad Smith, Victor Vito, Sam Whitelock, Sonny Bill Williams und Tony Woodcock (alle 2011 und 2015). World Rugby zeichnete fünf All Blacks als „Spieler des Jahres“ aus: Daniel Carter (2005, 2012 und 2015), Richie McCaw (2006, 2009 und 2010), Kieran Read (2013), Brodie Retallick (2014) und Beauden Barrett (2016 und 2017). Rekorde Nachfolgend sind die wichtigsten Statistiken aufgelistet, die Spieler der All Blacks betreffen. Die mit * markierten Spieler sind noch aktiv und können sich weiter verbessern. Der Unterschied zwischen der Gesamtanzahl absolvierter Spiele (matches) und den Länderspielen gegen andere Nationalmannschaften (tests) ist dadurch erklärbar, dass in der Zeit vor Einführung der Weltmeisterschaft die All Blacks weitaus mehr Spiele gegen Vereine oder Regionalmannschaften austrugen als heute üblich. (Stand: Juli 2023) Trainer Da die Definition und Rolle der Trainer der All Blacks bis zur Tour nach Südafrika 1949 sehr stark variierte, beinhaltet die folgende Tabelle nur Trainer, die seitdem angestellt wurden. Alle Trainer der All Blacks waren ausnahmslos Neuseeländer. Stand: 26. September 2022 Erfolge Die All Blacks weisen gegen jede Nationalmannschaft, gegen die sie bisher gespielt haben, eine positive Bilanz auf. Sie gewannen 483 der 627 ausgetragenen Test Matches (Länderspiele), was einer Erfolgsquote von 77,03 % entspricht. Damit sind die All Blacks die international erfolgreichste Nationalmannschaft überhaupt. Drei Mannschaften, die vom Weltverband World Rugby in die erste Stärkeklasse eingeteilt worden sind, haben noch nie gegen Neuseeland gewonnen (Italien, Japan und Schottland). Die schlechteste Siegquote weist Neuseeland gegen Südafrika auf (60,58 %). Gegen Nationalmannschaften aus dem deutschsprachigen Raum sind die All Blacks wegen des zu großen Unterschieds bei der Spielstärke noch nie angetreten. Seit Einführung der Weltrangliste im Oktober 2003 lag Neuseeland die meiste Zeit an erster Position. Neuseelands Statistik der Test Matches gegen alle Nationen, alphabetisch geordnet, ist wie folgt (Stand: 29. August 2023): Nicht inbegriffen sind Spiele gegen diverse Auswahlmannschaften im Rahmen der Überseetouren der Amateur-Ära sowie die von New Zealand Rugby nicht offiziell anerkannten Begegnungen mit den New South Wales Waratahs (1920–1928). Auch Begegnungen mit den Barbarians werden von New Zealand Rugby nicht als Test Matches anerkannt. Weltmeisterschaft Obwohl die All Blacks stets zu den meistgenannten Favoriten zählen, konnten sie den Webb Ellis Cup, die Trophäe der alle vier Jahre ausgetragenen Rugby-Union-Weltmeisterschaft, bisher erst dreimal entgegennehmen: bei der ersten Austragung 1987 in Neuseeland und Australien, bei der siebten Austragung 2011 im eigenen Land sowie 2015 in England. Damit sind die All Blacks die erste Rugby-Mannschaft, die den Titel verteidigen konnten. 1991 verloren sie das Halbfinale gegen Australien, 1995 das Finale gegen Gastgeber Südafrika. Das zweitschlechteste Ergebnis war 1999 der vierte Platz. 2003 verloren sie erneut im Halbfinale gegen Australien. Ihr schlechtestes Ergebnis erreichten sie 2007, als sie bereits im Viertelfinale gegen Frankreich ausschieden. Neuseeland war 2011 Gastgeber der Weltmeisterschaft und holte den Pokal im Finale wo die Mannschaft gegen Frankreich mit 8:7 gewann. 2015 gewannen die All Blacks wieder die Weltmeisterschaft, im Endspiel besiegten sie Australien mit 34:17. Die All Blacks halten mehrere Weltmeisterschaftsrekorde: Die meisten Spielpunkte in einem einzelnen Spiel (145 gegen Japan bei der WM 1995), die meisten Spielpunkte bei allen Weltmeisterschaften insgesamt (1384), die meisten Versuche (35) und Erhöhungen insgesamt (137). Mehrere neuseeländische Spieler sind ebenfalls Rekordhalter: Jonah Lomu erzielte die meisten Versuche insgesamt (15), Sean Fitzpatrick absolvierte die meisten WM-Spiele (17 zwischen 1987 und 1995), Marc Ellis erzielte die meisten Versuche in einem einzigen Spiel (6 gegen Japan im Jahr 1995) und Grant Fox hält den Rekord für die meisten Spielpunkte während eines Turniers (126 im Jahr 1987). Tri Nations/Rugby Championship Das einzige jährliche Turnier der All Blacks ist die seit 1996 ausgetragene Rugby Championship (bis 2011 unter der Bezeichnung Tri Nations) gegen Australien, Südafrika und (seit 2012) Argentinien. Mit 20 Turniersiegen (1996, 1997, 1999, 2002, 2003, 2005–2008, 2010, 2012–2014, 2016–2018 und 2020–2023) liegen die All Blacks deutlich vor ihren Kontrahenten. Im Rahmen der Rugby Championship spielen die All Blacks gegen Australien um den Bledisloe Cup (seit 1932) und gegen Südafrika um den Freedom Cup (seit 2004). Die Punkte werden wie folgt berechnet: 4 Punkte bei einem Sieg, 2 Punkte bei einem Unentschieden, 0 Punkte bei einer Niederlage (vor möglichen Bonuspunkten), 1 Bonuspunkt für mindestens drei erfolgreiche Versuche mehr als der Gegner, 1 Bonuspunkt bei einer Niederlage mit weniger als sieben Punkten Unterschied. Weitere Test Matches Während der Amateur-Ära tourten die All Blacks zum Teil monatelang ins Ausland, um gegen andere Nationalteams sowie gegen Regionalauswahlen und Vereinsmannschaften anzutreten. Ebenso waren sie Gastgeber von durch Neuseeland tourenden Nationalteams. Viermal gelang Südafrika ein Grand Slam, das heißt je ein Sieg gegen die Home Nations England, Irland, Schottland und Wales während derselben Tour (dies betrifft die Touren von 1978, 2005, 2008 und 2010). Die Touren nach alter Tradition kamen um das Jahr 2000 zum Erliegen. Heute stehen für Test Matches gegen Teams der nördlichen Hemisphäre jedes Jahr zwei Zeitfenster zur Verfügung. Bei den Mid-year Internationals im Juni kommen Teams aus Europa nach Neuseeland, bei den End-of-year Internationals im November kommen die Neuseeländer nach Europa. Einer der traditionsreichsten Wettbewerbe im Rugby Union ist jener um den Bledisloe Cup. Er wird seit 1932 zwischen Australien und Neuseeland ausgetragen, seit 1996 im Rahmen von Tri Nations bzw. Rugby Championship. Ebenfalls ein Teil von Tri Nations ist seit 2004 der alle zwei Jahre ausgetragene Wettstreit mit Südafrika um den Freedom Cup. Seit 2000 spielt Neuseeland außerdem gegen Frankreich um die Dave Gallaher Trophy (benannt nach David „Dave“ Gallaher, dem Kapitän der „Original All Blacks“ von 1905/06, der während des Ersten Weltkrieges in Frankreich starb) und musste die Trophäe bisher nur 2009 abgeben. Seit 2008 spielt Neuseeland gegen England um die Hillary Shield (benannt nach Edmund Hillary, der 2008 starb), die die All Blacks bisher nur 2012 abgeben mussten. Rivalitäten mit anderen Nationalmannschaften Südafrika Seit dem ersten Aufeinandertreffen 1921 in Neuseeland besteht zwischen den Springboks und den All Blacks, die als die besten beiden Rugby-Union-Nationalmannschaften der Welt angesehen werden, eine große Rivalität. Bereits damals galten beide Teams als die besten der Welt, was auch mit dem unentschiedenen Ausgang der ersten Testserie bestätigt wurde. Die zweite Testserie beim Gegenbesuch 1928 in Südafrika endete wiederum ausgeglichen. 1937 gelang den Springboks in Neuseeland der Seriensieg gegen die All Blacks. 1949 gewannen die Südafrikaner die Heimserie gegen die All Blacks mit einem bis heute bestehenden Negativrekord für die Neuseeländer. 1956 gewannen die All Blacks dagegen die Heimserie gegen die Springboks. 1960 waren die Springboks wieder während der Heimserie gegen die All Blacks erfolgreich, die Tour blieb aber eher wegen ihrer politischen Querelen als wegen der Erfolge in Erinnerung. Danach waren die gegenseitigen Touren vor allem von der südafrikanischen Apartheidpolitik und dem Tauziehen um neuseeländische Maori-Spieler in der Mannschaft der All Blacks gegen die Springboks geprägt. Bis in die 1980er Jahre unternahm man gegenseitige Touren, die aber auf starken politischen Widerstand seitens Apartheidsgegnern stießen und demzufolge von Protesten auch anderer Staaten begleitet wurden. Das Festhalten der neuseeländischen Regierung an der Tour nach Südafrika 1976 und die Weigerung des Internationalen Olympischen Komitees (Rugby war damals keine Olympische Sportart), Neuseeland nach Protesten seitens afrikanischer Staaten von den Olympischen Sommerspielen 1976 auszuschließen, führten gar zum Boykott der Spiele durch 30 überwiegend afrikanische Staaten. Erst mit dem Ende der Apartheid kehrte Normalität in die gegenseitige Rivalität ein. Bis heute ist die Bilanz der Springboks lediglich gegen die All Blacks negativ. Die Rivalität erweiterte sich seither um den Aspekt der Weltmeisterschaften, da sowohl die All Blacks als auch die Springboks die bisher einzigen Dreifachweltmeister sind (bei bisher neun Weltmeisterschaften insgesamt). Beide Nationalmannschaften trafen bei Weltmeisterschaften bisher fünfmal aufeinander, wobei die All Blacks drei Spiele gewannen und die Springboks zwei. Der wichtigste Sieg für die Südafrikaner war das Finale der Weltmeisterschaft 1995, als man in der Verlängerung mit 15:12 gewann. Seit 1996 treffen beide Mannschaften bei den jährlichen Tri Nations bzw. der Rugby Championship aufeinander. Während der Rugby Championship 2017 fügten die All Blacks den Springboks die bisher höchste Niederlage bei: 0:57. Aufgrund der Geschichte der Springboks unterstützen noch heute einige Südafrikaner die All Blacks anstelle der Springboks, auch über Generationen hinweg. Dies hat seinen Ursprung in der Apartheid, als dessen Gegner die jeweils gegnerische Mannschaft als Geste des Widerstands gegen die Apartheid und dessen Symbole unterstützten. Von anderen Südafrikanern wird dies nach dem Ende der Apartheid dagegen als „unpatriotisch“ und „Verrat“ kritisiert. Australien Wie in anderen Sportarten (vor allem Cricket, Rugby League, Netball und bei den Commonwealth Games) pflegt Neuseeland eine traditionelle Rivalität mit dem Nachbarn Australien, die oft als „Geschwisterrivalität“ (sibling rivalry) bezeichnet wird. Das erste Test Match zwischen beiden Nationalmannschaften fand 1903 während des neuseeländischen Besuches in Australien statt. Seit 1932 spielen beide Teams um den Bledisloe Cup, eine der ältesten Trophäen im internationalen Rugby. Neuseeland und Australien trafen bisher 176 Mal aufeinander, wobei Neuseeland 123 Test Matches gewinnen konnte und Australien 45, dazu kommen acht Unentschieden. Bei Weltmeisterschaften spielten beide Mannschaften bisher viermal gegeneinander (1991, 2003, 2011 und 2015), wobei beide Mannschaften je zwei Spiele gewannen. Beide Länder waren gemeinsam Ausrichter wichtiger Rugbyturniere wie der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 1987. Ursprünglich sollte die Rugby-Union-Weltmeisterschaft 2003 ebenfalls in beiden Ländern ausgetragen werden, nach rechtlichen Auseinandersetzungen zwischen dem neuseeländischen Verband und dem Weltverband wurde das Turnier jedoch komplett nach Australien vergeben. Außerdem traf man im Finale der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 2015 aufeinander, das Neuseeland gewann. Auszeichnungen Die italienische Sportzeitung Gazzetta dello Sport wählte die neuseeländische Nationalmannschaft 2005 zur „Weltmannschaft des Jahres“. Der International Rugby Board, seit 2014 World Rugby, zeichnete Neuseeland elfmal als „Mannschaft des Jahres“ aus (2005, 2006, 2008, 2010, 2011, 2012, 2013, 2014, 2015 und 2016). Ebenso wurden die All Blacks bei den Laureus World Sports Awards als „Mannschaft des Jahres“ ausgezeichnet (2016). Literatur Weblinks Webauftritt der All Blacks (englisch) Spiel- und Spielerstatistiken der All Blacks (englisch) Eintrag Neuseelands bei World Rugby (englisch) Neuseeland auf Planet Rugby (englisch) Video mit dem Haka der All Blacks Einzelnachweise Rugby-Union-Nationalmannschaft Rugbyunion Gegründet 1903
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https://de.wikipedia.org/wiki/Badminton
Badminton
Die Ballsportart Badminton ist ein Rückschlagspiel, das mit einem Federball und jeweils einem Badmintonschläger pro Person gespielt wird. Dabei versuchen die Spieler, den Ball so über ein Netz zu schlagen, dass die Gegenseite ihn nicht den Regeln entsprechend zurückschlagen kann. Es kann sowohl von zwei Spielern als Einzel, als auch von vier Spielern als Doppel oder Mixed gespielt werden. Es wird in der Halle ausgetragen und erfordert wegen der Schnelligkeit und der großen Laufintensität eine hohe körperliche Fitness. Weltweit wird Badminton von über 14 Millionen Spielern in mehr als 160 Nationen wettkampfmäßig betrieben. Im Unterschied zum Freizeitspiel Federball, bei dem der Spielspaß mit möglichst langen Ballwechseln und ohne Spielfeld oder Netz im Vordergrund steht, ist Badminton ein Wettkampfsport mit festen Regeln und dem Ziel zu siegen. Allgemeines Badminton ist ein Rückschlagspiel für zwei Spieler (Einzel) oder vier Spieler (Doppel). Es hat gewisse Ähnlichkeit mit Tennis, unterscheidet sich davon jedoch in grundlegenden spieltechnischen und taktischen Aspekten. Das Badmintonspielfeld ist, verglichen mit dem Tennisspielfeld, deutlich kleiner. Ein Badmintonschläger ist wesentlich leichter als ein Tennisschläger. Der Spielball (Federball) darf den Boden nicht berühren. Er ist mit einem Feder- oder Plastikkranz bestückt, wodurch er seine besonderen Flugeigenschaften erhält. Badminton stellt hohe Ansprüche an Reflexe, Grundschnelligkeit und Kondition und erfordert weiterhin für ein gutes Spiel Konzentrationsfähigkeit und taktisches Geschick. Lange Ballwechsel und eine Spieldauer ohne echte Pausen fordern eine gut entwickelte Ausdauer. Die Tatsache, dass durch den leichten Schläger Änderungen in der Schlagrichtung ohne deutliche Ausholbewegungen zu erreichen sind, macht Badminton zu einem extrem raffinierten und täuschungsreichen Spiel. Dem schnellen Angriffsspiel ist nur durch gute Reflexe und sehr bewegliche Laufarbeit zu begegnen. Der Wechsel zwischen hart geschlagenen Angriffsbällen, angetäuschten Finten sowie präzisem, gefühlvollem Spiel am Netz ist es, was die Faszination von Badminton ausmacht. Gezählt wird nach Punkten und nach Sätzen. Seit 2006 wird nach der sogenannten Rally-Point-Methode gezählt. Dabei wird auf zwei Gewinnsätze bis auf 21 Punkte gespielt und jede Partei erzielt, unabhängig vom Aufschlagsrecht, bei einem Fehler des Gegners, einen Punkt. In den Jahren davor wurden zwei Gewinnsätze bis 15 Punkte gespielt (Ausnahme ist das Dameneinzel – bis 11 Punkte), wobei nur die aufschlagende Partei punkten konnte. Als Fehler gilt es unter anderem, wenn der Ball das Netz nicht überfliegt oder Boden/Wand/Hallendecke (oder Gegenstände die darunter hängen) berührt, wobei eine Deckenberührung je nach Hallenhöhe immer oder nur beim Aufschlag auch eine Wiederholung nach sich ziehen kann. Auch das Berühren des Netzes mit Körper oder Schläger ist ein Fehler. Im Gegensatz zu den meisten anderen Rückschlagspielen wird beim Badminton auch dann weitergespielt, wenn der Ball beim Aufschlag das Netz berührt, solange er danach seinen Weg weiter in das Aufschlagfeld des Gegners fortsetzt. Geschichte Bereits lange vor der Entstehung des Namens Badminton gab es Rückschlagspiele, die dem heutigen Federball ähnelten. In Indien gefundene Höhlenzeichnungen belegen, dass dort bereits vor 2000 Jahren mit abgeflachten Hölzern kleine, mit Hühnerfedern gespickte Holzbälle geschlagen wurden. Auch bei den Inkas und den Azteken waren Rückschlagspiele mit gefiederten Bällen bekannt. In Europa zur Zeit des Barock entwickelte sich ein unter dem Namen Battledore and Shuttlecock oder Jeu de Volant bekanntes Federballspiel zu einer der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen des höfischen Adels. Ziel bei dieser Variante des Federballspiels war es, dass zwei Spieler sich mit einfachen Schlägern einen Federball so oft wie möglich zuspielen, ohne dass dieser den Boden berührt. Ein urkundlich erwähnter Rekord aus dem Jahre 1830 beläuft sich auf 2117 Schläge für einen Ballwechsel zwischen Mitgliedern der Somerset-Familie. Das heutige Spiel verdankt seinen Namen dem englischen Landsitz des Duke of Beaufort aus der Grafschaft Gloucestershire. Auf diesem Landsitz mit dem Namen Badminton House wurde 1872 das von dem britischen Kolonialoffizier aus Indien mitgebrachte und als Poona bezeichnete Spiel vorgestellt. 1893 wurde in England der erste Badmintonverband gegründet, und schon 1899 fanden die ersten All England Championships statt, die heutzutage unter Badmintonanhängern den gleichen Stellenwert haben wie das Turnier von Wimbledon für die Tennisfreunde. Der neue Sport erfreute sich großer Beliebtheit. Schwierigkeiten bereitete es nur, geeignete Sportstätten zu finden. Es musste oft an ungewöhnlichen Orten gespielt werden, denn die einzigen uneingeschränkt geeigneten Räumlichkeiten zu dieser Zeit waren Kirchen. Das hohe Mittelschiff einer Kirche bot dem Federball freie Flugbahn, und die Kirchenbänke dienten den Zuschauern als Logenplätze. Mitte der 1920er Jahre breitete sich der organisierte Badmintonsport vermehrt auch in Nordeuropa, Frankreich, Australien und Nordamerika aus, so dass bereits im Juli 1934 die International Badminton Federation (IBF), der Welt-Dachverband (heute BWF), gegründet werden konnte. Entwicklung in Deutschland In Deutschland wurde im Jahr 1902 der erste Badminton-Sportverein auf dem europäischen Festland gegründet – der Bad Homburger Badminton-Club. Fehlende Schläger und Federbälle verhinderten jedoch die weitere Ausbreitung der Sportart im Land, und auch der Homburger Verein löste sich wieder auf. Erst zu Beginn der 1950er Jahre erfuhr Badminton einen neuen Popularitätsschub in Deutschland. Die ersten deutschen Meisterschaften fanden am 17. und 18. Januar 1953 in Wiesbaden statt. Am selben Wochenende wurde der Deutsche Badminton-Verband (DBV) aus der Taufe gehoben, der noch im gleichen Jahr in die IBF eintrat. Erster Präsident des DBV war der Industrielle Hans Riegel aus Bonn (HARIBO). Er ließ im selben Jahr mit dem Haribo-Center direkt auf dem Betriebsgelände in Bonn-Kessenich die erste reine Badmintonhalle Deutschlands errichten. Im Mai des darauf folgenden Jahres wurde der DBV als 26. Fachverband in den Deutschen Sportbund (DSB) aufgenommen, und 1967 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der European Badminton Union (EBU). 1958 entstand auch in der damaligen DDR ein Federballverband, dessen Landesverbände 1990 in den DBV eingegliedert wurden. Das bedeutendste Turnier des DBV sind die seit 1955 ausgetragenen Internationalen Deutschen Meisterschaften, die German Open. Während in den 1960er Jahren eine gewisse Stagnation der Mitgliederzahlen zu beobachten war, erfolgte in den 1970er Jahren im Zuge der Erstellung zahlreicher neuer Sporthallen ein wahrer Badminton-Boom. Dieser Aufschwung mit teilweiser Verdreifachung von Mitgliederzahlen in Verbänden und Vereinen hielt bis Ende der 1980er Jahre an, als viele Tennishallen zu Badminton-Zentren umgebaut wurden. In den 1990er Jahren wurde erneut eine leichte Stagnation spürbar, und seit der Jahrtausendwende sind die Mitgliederzahlen im DBV sogar leicht rückläufig, trotz der Integration von Badminton in den Schulsport. Dem Deutschen Badminton-Verband gehören derzeit 16 Landesverbände mit etwa 217.000 Mitgliedern in 2.700 Vereinen an. Darüber hinaus gibt es etwa 4,5 Millionen Freizeitspieler ohne Vereinszugehörigkeit, die Badminton mehr oder weniger regelmäßig in einem der vielen Zentren betreiben. Badminton international Große Popularität genießt Badminton in seinen europäischen und asiatischen Hochburgen England, Dänemark, China, Indonesien, Malaysia, Singapur, Thailand, Indien und Korea. In diesen Ländern haben große Badminton-Veranstaltungen ähnlichen Stellenwert wie in Deutschland Fußball oder Leichtathletik. In den Siegerlisten der bedeutenden internationalen Turniere findet man deshalb hauptsächlich dänische oder asiatische Namen. 1934 wurde die International Badminton Federation (IBF) als Dachorganisation gegründet. Der Name des Verbandes wurde 2006 in Badminton World Federation (BWF) geändert. Derzeit sind 156 Nationen, darunter auch Deutschland, mit insgesamt über 14 Millionen Spielern Mitglied in der BWF. Seit 1977 finden Weltmeisterschaften statt, seit 1983 alle zwei Jahre. Im Jahr 2006 wurde zu einem jährlichen Rhythmus übergegangen. Mit dem Davis-Cup im Tennis vergleichbar sind die Mannschaftsweltmeisterschaften im Badminton: seit 1949 der Thomas Cup für Herren-Nationalteams sowie seit 1957 der Uber Cup für Damen-Nationalteams. Im Jahr 1989 wurde der Sudirman Cup ins Leben gerufen, die offizielle Nationalmannschafts-Weltmeisterschaft für gemischte Teams (Damen und Herren). Das Turnier findet in einem zweijährigen Rhythmus statt und war ursprünglich an die Individual-WM gekoppelt. Seit 2003 wird der Sudirman Cup als eigenständige Veranstaltung ausgetragen. Die damalige IBF führte 1983 den Grand Prix Circuit ein. Hier wurden die internationalen Meisterschaften der verschiedenen Länder zusammengefasst. Von 1983 bis 1999 wurde das Jahr stets mit dem Grand Prix Final abgeschlossen, ein Turnier, bei dem die besten Spieler des Jahres gegeneinander antraten. Nach der Asienkrise Ende der 1990er Jahre fand das Turnier nicht mehr statt. Im Jahre 2007 führte die BWF die BWF Super Series ein, die den Grand Prix nach 23 Jahren ablöste. Zur Super Series gehören zwölf Turniere, bei denen die Turnierveranstalter ein Mindestpreisgeld von 200.000 US-Dollar aufbringen müssen. Acht Turniere finden in Asien und vier in Europa (England, Schweiz, Dänemark und Frankreich) statt. Die seit 1955 ausgetragenen Internationalen Deutschen Meisterschaften – German Open – gehören nicht mehr dazu. Sie sind derzeit mit einem Preisgeld von 120.000 US-Dollar dotiert. Olympische Spiele und Special Olympics Wettbewerbe Bereits 1972 bei den Olympischen Sommerspielen in München war Badminton als so genannte Demonstrationssportart vertreten, wurde jedoch erst 1985 vom IOC für 1992 ins olympische Programm aufgenommen. 1988 in Seoul konnte Badminton als Vorführsportart der künftigen olympischen Disziplin mit ausverkauften Wettkämpfen noch einmal punkten, ehe es 1992 in Barcelona mit vier Wettbewerben regulär im Programm der Spiele vertreten war. 1996 wurden dann alle fünf Disziplinen, inklusive des gemischten Doppels, bei den Spielen von Atlanta ausgetragen. Badminton (Special Olympics) beruht auf den Regeln von Badminton und wird in Wettbewerben und Trainingseinheiten der Organisation Special Olympics weltweit für geistig und mehrfach behinderte Menschen angeboten. Badminton ist seit 1995 bei Special Olympics World Games vertreten. Das Spiel Spielfeld In der Regel wird Badminton in der Halle gespielt, da schon leichte Luftbewegungen die Flugbahn des Balles stark beeinflussen können. Die Halle muss dabei eine Mindesthöhe von 5 m aufweisen. Üblicherweise gilt es als Fehler, wenn der Ball während des Spiels die Decke berührt, jedoch wird bei Deckenberührung beim Aufschlag oder bei Berühren von herunterhängenden Teilen (z. B. der Deckenkonstruktion) auf Wiederholung entschieden. Erst ab 9 m Deckenhöhe ist eine Halle uneingeschränkt bespielbar und damit jede Deckenberührung ein Fehler. Das Spielfeld ist dem des Tennis sehr ähnlich, ist allerdings mit 13,40 m Länge und 6,10 m Breite deutlich kleiner. Das Netz ist nach den Regeln so zu spannen, dass die Netzhöhe an den Pfosten 1,55 m und in der Netzmitte 1,524 m beträgt. Die Linien sind 4 cm breit und Teil des Spielfeldes, das sie begrenzen. Die Distanz vom Netz zur vorderen Aufschlaglinie beträgt 1,98 m. Einzel Im Einzel stellt die innere Begrenzungslinie die seitliche Feldbegrenzung dar, das Spielfeld ist somit nur 5,18 m breit. Der Aufschlag darf von der vorderen Aufschlaglinie bis zur hinteren Grundlinie ausgeführt werden. Doppel Beim Doppel ist das komplette Feld zu bespielen, der Aufschlag muss allerdings zwischen vordere und hintere Aufschlaglinie geschlagen werden. Schläger Die Form des Badmintonschlägers ist mit der eines Tennisschlägers vergleichbar. Er ist jedoch etwas kleiner, deutlich leichter als die Tennisvariante und dünner besaitet. In der einfachsten Ausführung mit Stahlschaft und Stahlkopf wiegt ein Badmintonschläger etwa 120 Gramm. Gehobenere Modelle bestehen aus einem Stück (Carbon) und wiegen nur noch 70 bis 80 Gramm. Je steifer der Rahmen, desto präziser lässt sich damit spielen. Dabei ist aber eine gute Schlagtechnik erforderlich, da bei ungenauem Treffen des Balles Vibrationen entstehen, die durch den steifen Rahmen durchgeleitet werden und unter Umständen zum sogenannten Tennisarm führen können. Je flexibler der Rahmen, desto ungenauer ist der harte Schlag, aber desto armschonender ist der Schläger bei normalem Spiel. Zur Bespannung bieten die Hersteller unterschiedliche Varianten an Saiten an. Im Anfängerbereich werden Schläger hauptsächlich mit einfachen, aber günstigen Kunststoffsaiten bespannt. Fortgeschrittene und Profis verwenden eher die teureren Naturdarmsaiten oder mehrfach geflochtene Kunststoffsaiten, die bessere Ballkontrolle und längere Haltbarkeit bieten. Je nach Spielertyp können Badmintonschläger unterschiedlich hart bespannt werden (Zugbelastung ca. 70 – 130 N, entspr. der Gewichtskraft von 7 – 13 kg). Im Unterschied zum Tennisschläger werden bei einem Badmintonschläger die Quersaiten meist um 0,5 – 1 kg härter bespannt als die Längssaiten. Je nach Bespannung verändern sich die Schlageigenschaften eines Schlägers. Mithilfe einer härteren Bespannung können Schläge präziser ausgeführt werden. Dies setzt jedoch einiges mehr an spielerischen Fertigkeiten voraus und ist deshalb nur für erfahrene Spieler geeignet. Eine weichere Bespannung ermöglicht unter vergleichsweise geringerem Kraftaufwand eine stärkere Ballbeschleunigung aufgrund der weiter nachgebenden Bespannung. Zur Verbesserung des Griffs wird in der Regel ein zusätzliches Griffband eingesetzt. Man setzt es ein, um eine bessere Schlägerkontrolle, bessere Dämpfung oder auch verbesserte Rutschfestigkeit beim Griff zu erreichen. Spielball Bei Wettkämpfen wird in den höheren Spielklassen und auf internationaler Ebene mit Naturfederbällen gespielt. Der Kopf ist aus Kork, der Federkranz besteht in der Regel aus 16 Gänse- oder Entenfedern, die in den Kork eingeklebt und miteinander verschnürt sind. Federbälle werden hauptsächlich in Asien handgefertigt und zeichnen sich durch besondere Flugeigenschaften aus. Durch die spezielle Anordnung der Federn wird der ca. 5 g leichte Naturfederball während des Fluges von der durchströmenden Luft in Rotation um seine Längsachse versetzt, wodurch der Flug stabilisiert wird. Dennoch wird er in besonderem Maße von den Umgebungsbedingungen wie Temperatur, Luftdruck und Luftfeuchtigkeit beeinflusst. So können Flughöhe, Geschwindigkeit und damit Reichweite eines lang geschlagenen Balles in Hallen unterschiedlicher Höhenlage stark variieren. Um solche Einflüsse zu kompensieren, sind Naturfederbälle in unterschiedlichen Geschwindigkeiten erhältlich. Vor einem Spiel testen die Spieler durch das so genannte Durchschlagen die Geschwindigkeit der verwendeten Federbälle, indem die Bälle mit kraftvollen Unterhandschlägen von der hinteren Grundlinie flach über das Netz geschlagen werden. Solche, die innerhalb des Spielfelds in einem Bereich zwischen 53 und 99 cm entfernt von der gegenüberliegenden Grundlinie landen, haben die richtige Geschwindigkeit. Alle anderen werden bei internationalen Spielen meistens direkt aussortiert, oder es wird versucht, die Ballgeschwindigkeit zu beeinflussen, indem man die oberen 2 bis 3 mm der Federspitzen nach außen bzw. innen knickt. Der Ball bietet dadurch mehr oder weniger Luftwiderstand und fliegt entsprechend kürzer bzw. weiter. Es muss dafür gesorgt werden, dass stets genügend durchgeschlagene Bälle einer Sorte für die Dauer des Spiels zur Verfügung stehen. Dadurch soll vermieden werden, dass vor allem konditionsschwache Spieler das Durchschlagen von neuen Bällen mitten in einem Satz als Erholungspause nutzen. Naturfedern brechen relativ leicht, besonders bei technisch unsauber ausgeführten Schlägen. Bedingt durch den größeren Verschleiß und wegen der etwas höheren Kosten von Naturfederbällen haben sich im Freizeit- und Jugendbereich Imitate aus Kunststoff durchgesetzt. Sie sind günstiger und haltbarer, haben allerdings andere Flugeigenschaften als Naturfederbälle und bieten weniger Möglichkeiten für ein variantenreiches, schnelles Spiel. Fällt ein Naturfederball nach einem Clear (lange, hohe Flugbahn) fast senkrecht, so folgt der Kunststoffball noch weitgehend einer parabelförmigen Flugbahn, wodurch weite Bälle leichter erlaufen werden können. Technik Schlägerhaltung Es existieren verschiedene Möglichkeiten, den Badmintonschläger zu greifen. Typischer Anfängerfehler und aus dem Freizeitbereich bekannt ist der so genannte Bratpfannengriff, der für effizientes Spielen nur in zwei Situationen brauchbar ist. Das Töten am Netz und der Drive vor dem Körper sind mit dem Rush-Griff ausführbar. Alle anderen Schläge sind nur unzureichend zu realisieren. Bei der optimalen Schlägerhaltung bildet die Schlagfläche quasi eine Verlängerung der geöffneten Handfläche. Um dies zu erreichen, legt man die Handfläche auf die Bespannung und führt die Hand, ohne den Winkel zum Schläger zu verändern, in Richtung Griff. Am untersten Ende kurz vor dem spürbaren Wulst umschließt die Hand den Griff. Die schmale Schlägerseite liegt dabei im durch Zeigefinger und Daumen gebildeten V. Mit dieser Griffhaltung können im Prinzip alle Vorhandschläge ausgeführt werden. Für Schläge mit der Rückhand wird der Schläger leicht gedreht, so dass der Daumen auf der breiten Seite des Griffes Druck ausüben kann. Bei fortgeschrittener Spielweise sind weitere Schlägerhaltungen üblich. Der Schläger wird schlagabhängig in verschiedenen Positionen gehalten, wie z. B. der sog. Pinzettengriff für ein Spiel am Netz oder beim Aufschlag oder der Rush-Griff beim Drive vor dem Körper. Ebenso wird die Griffhaltung der Schlaghärte angepasst. Für die weiten, kräftigen Schläge wird eher an der Basis (Langgriff) zugegriffen. Bei kurzem und präzisem Netzspiel wandert die Hand dagegen weiter den Griff nach oben (Kurzgriff). Schlagarten Zum Schlagrepertoire eines guten Badmintonspielers gehört eine Reihe von Grundschlägen, die in zahlreichen Varianten angewendet werden können. Die wichtigsten Schläge sind: Clear Langer, hoher Ball bis zur Grundlinie als Befreiungsschlag (1); daher der Name (Clear, engl.: klar, frei). Eine Variante ist der so genannte Angriffs-Clear (2), der flacher und schnell gespielt wird, um den Gegner unter Druck zu setzen. Eine andere Variante ist der so genannte Unterhand-Clear, der dicht am Netz gespielt wird. Drive Schneller, flacher Ball auf Augenhöhe, knapp über das Netz geschlagen (3). Smash Der klassische Angriffsschlag. Ein hart geschlagener, geradliniger Schmetterschlag steil nach unten (4). Der Ball kann dabei eine Anfangsgeschwindigkeit von über 300 km/h erreichen. Drop Auch Stoppball genannt. Kurzer Ball knapp hinter das Netz (5). Er ist besonders wirkungsvoll, wenn bei der Schlagbewegung ein Clear oder Smash angetäuscht wird. Unterschieden werden dabei der langsame und der schnelle Drop. Der langsame Drop wird sehr dicht hinter das Netz geschlagen und soll dem Gegner eine möglichst tiefe Schlagposition aufzwingen und es damit schwer machen, den Ball hoch in die hinteren Regionen des Feldes zurückzubefördern. Daher wird er oft als Auftakt zum Angriffsspiel eingesetzt, da der Gegner im günstigsten Fall gezwungen ist, den Ball steil nach oben zu spielen und sich dadurch die Gelegenheit für einen Smash bietet. Durch den langsamen Flug birgt er allerdings das Risiko, am Netz vom Gegner getötet zu werden. Der schnelle Drop, auch geschnittener Drop, zeichnet sich durch einen schnellen Ballflug aus, um dem Gegner wenig Zeit zu lassen, den Ball zu erreichen. Er sollte jedoch nicht weiter als bis zur vorderen Aufschlaglinie fliegen, da ansonsten der Vorteil dieses Schlages verloren geht. Stop (Drop am Netz) Auch Netzspiel genannt. Der Ball muss so knapp wie möglich über die Netzkante gehoben werden (6). Gespielt werden können diese Schläge geradlinig (engl. longline) oder diagonal (cross). Daraus ergeben sich typische Spielzüge, die jeder Spieler auf sich und sein Spiel abstimmt und versucht, in sein Spiel einzubauen. Schlagbereiche Bei den einzelnen Schlägen unterscheidet man auch, wo der Ball getroffen wird. Aus der Schlagart und den Schlagbereichen setzt sich die genaue Beschreibung eines Badminton-Schlages zusammen. Beispiele: Aufschlag Neben den Grundschlägen aus dem Spiel heraus gibt es zahlreiche Aufschlagvarianten. Grundlegend unterscheidet man jedoch Vorhandaufschläge und Rückhandaufschläge. Bei den Vorhandaufschlägen wird der Schläger seitlich am Körper des Spielers vorbei beschleunigt und der Ball in die Bahn des Schlägers geworfen. Diese Variante eignet sich besonders für den hohen Aufschlag. Im Doppel und in höheren Spielklassen auch im Einzel wird zumeist auf den Rückhandaufschlag zurückgegriffen. Bei diesem wird der Schläger mit dem Griff nach oben vor dem Körper platziert, der Ball davor in Position gebracht und dann unter Einsatz des Daumens und mit einer Drehung des Handgelenkes gespielt. Der Aufschlag beim Badminton bietet zwar kaum die Möglichkeit, direkt zu punkten wie z. B. beim Tennis, Volleyball oder Faustball, dennoch versucht der Spieler, sich schon beim Aufschlag einen Vorteil zu verschaffen und die Oberhand für den kommenden Ballwechsel zu gewinnen. Ein regelgerechter Aufschlag gemäß internationaler Regeln muss beim Badminton in den diagonal gegenüberliegenden Teil des Spielfelds erfolgen. Des Weiteren muss der aufschlagende Spieler mit beiden Füßen im Aufschlagfeld stehen, ohne dabei die Linien zu berühren, und der gesamte Ball muss im Moment, in dem der Schläger den Ball trifft, weniger als 1,15 m vom Boden entfernt sein. Bei nationalen Veranstaltungen im Bereich des DBV gilt jedoch eine abgewandelte Variante: Der Ball muss sich – im Moment der Berührung mit dem Schläger – unterhalb der Taille des Aufschlägers befinden. Die Taille ist als imaginäre Linie um den Körper beschrieben und befindet sich dort, wo die unterste Rippe zu suchen ist. Zudem müssen der Schaft und der Schlägerkopf – im Augenblick des Treffpunktes mit dem Ball – in eine Abwärtsrichtung zeigen. Berührt der Ball beim Aufschlag das Netz, so ist das im Gegensatz zu vielen anderen Ballsportarten kein Fehler. Kurzer Aufschlag Der kurze Aufschlag (1) ist die Standard-Spieleröffnung beim Doppel und hat sich vorwiegend in höheren Spielklassen auch im Einzel durchgesetzt. Die Flugkurve des Balles sollte ihren höchsten Punkt vor dem Überqueren des Netzes haben und möglichst flach sein, so dass es dem Gegner nicht oder nur schwer möglich ist, mit einem direkten Angriff zu reagieren. Ein getäuschter (z. B. geschnittener) kurzer Aufschlag Richtung Außenlinie kann gerade im Doppel als erfolgreiche Variante eingesetzt werden, wenn der Gegner versucht, die Aufschläge besonders aggressiv zu attackieren. Drive-Aufschlag Ein Überraschungsaufschlag, bei dem versucht wird, durch einen schnellen, harten und möglichst flachen Aufschlag z. B. die Rückhandseite des Gegners anzuspielen oder direkt auf den Körper zu treffen (2). Der Schläger wird dabei möglichst hoch genommen, muss aber der Regel genügen, dass der Schlägerschaft abwärts gerichtet ist (Griff oben) und der Ball unterhalb der Taille getroffen wird. Eine Variante ist der Drive-Aufschlag vom Spielfeldrand (3). Der von der Seite kommende Ball ist schwer abzuschätzen, und die Aufschlagannahme ist schwierig, wenn der Ball auf die Rückhandseite gespielt wird. Swip-Aufschlag Bei dieser Variante wird ein kurzer Aufschlag angetäuscht, der Schläger aber im letzten Moment aus dem Handgelenk beschleunigt und der Ball überfliegt den Gegner (4). Der Aufschlag muss dabei so ausgeführt werden, dass der Gegner den Ball nicht schon im Vorbeiflug erwischt, sondern nur im Zurücklaufen. Die Flugbahn sollte auch nicht zu hoch sein, um dem Gegner möglichst wenig Zeit zum Erlaufen des Balles zu geben. Misslingt dieser risikoreiche Aufschlag, beendet meist ein Smash den Ballwechsel zu Ungunsten des Aufschlägers. Hoher Aufschlag Der hohe Aufschlag wird in der Regel mit der Vorhand ausgeführt. Er stellt besonders im Einzel eine Alternative zum kurzen Aufschlag dar. Der Ball wird kraftvoll möglichst hoch und bis zur hinteren Grundlinie des Feldes geschlagen (5). Im Idealfall ist der höchste Punkt der Flugkurve kurz vor der Grundlinie. Der Gegner wird so gezwungen, zum Erreichen des Balles bis zum Spielfeldende zu laufen. Der schnelle und steile Fall des Balles erschwert zudem das Abschätzen des optimalen Balltreffpunktes für den Rückschlag. Nachteilig wirkt sich jedoch die direkte Angriffsmöglichkeit des Gegners aus, weshalb diese Aufschlagvariante mit wachsendem Niveau des Gegners und der Spielklasse immer seltener gesehen wird. Lauftechnik Um aus der Ausgangsposition, der Spielfeldmitte, schnell die Feldecken erreichen zu können, ist eine ausgefeilte Lauftechnik erforderlich. Im Laufe der Zeit entwickelten sich, vor allem in den international erfolgreichen Badminton-Nationen, unterschiedliche Lauftechniken. So bevorzugten etwa die Engländer noch bis vor einigen Jahren lange, weiche, raumgreifende Schritte ohne Sprünge, während die Chinesen Ende der 1980er Jahre dazu übergingen, schnelle, kurze Schritte kombiniert mit einem abschließenden Sprung zum Ball in ihr Spiel zu integrieren. Diese Techniken wurden von den meisten asiatischen Spielern erfolgreich kopiert, da für sie die englischen Schrittfolgen aufgrund ihrer meist geringeren Körpergröße nicht hinreichend effektiv waren. Gute Lauftechnik zeichnet sich dadurch aus, dass der Spieler möglichst schnell und mit geringem Energieaufwand den Ball erreicht und anschließend zur Spielfeldmitte zurückkehrt. Automatisierte Schrittfolgen sorgen dafür, dass dies kraftsparend, raumgreifend und effektiv geschieht, diese sind jedoch nur durch jahrelanges Training zu erreichen. Zentrale Elemente der Lauftechnik sind: Stemmschritt Bei Situationen, in denen der Spieler viel Zeit zur Verfügung hat (beispielsweise nach hohem Aufschlag im Einzel) wird häufig der Stemmschritt eingesetzt. Bei dieser Technik wird das auf der Schlaghand befindliche Bein zunächst hinter dem Körper aufgestellt. Ein Abdruck von diesem hinteren Bein leitet die Vorwärtsbewegung ein. Die dadurch automatisch entstehende Rotation des Oberkörpers kann für effektive und kraftschonende Vorhandschläge genutzt werden. Ausfallschritt Um einen Ball im vorderen oder seitlichen Spielfeldbereich zu erreichen, stellt der Spieler am Ende seiner Vorwärtsbewegung das sich auf der Schlaghandseite befindliche Bein mit einem großen Ausfallschritt nach vorne, ähnlich wie ein Fechter beim Stoß. Dadurch bremst er abrupt seine Vorwärtsbewegung ab und kann nach dem Schlag sofort wieder in eine Rückwärtsbewegung übergehen. Umsprung Mit dieser Technik wird die Rückwärtsbewegung nach einem Schlag gestoppt. Beim Schlag findet während des Sprungs eine Drehung der Hüften statt, und das Bein, das sich auf der entgegengesetzten Körperseite der Schlaghand befindet, wird nach hinten gestellt, um die Rückwärtsbewegung abzufedern und den Körper wieder nach vorne zu beschleunigen. Chinasprung Diese Technik wurde in der Volksrepublik China entwickelt und dient dazu, einen Ball im Sprung zu erreichen. Im Gegensatz zum Umsprung wird die Bewegung jedoch mit dem Bein auf der Schlaghandseite gestoppt, was wegen der leichten Verdrehung des Oberkörpers beim Schlag anatomisch gesehen zwar ungünstig, aber in der Praxis dennoch effektiv ist. Sowohl der Absprung als auch die Landung finden hier immer mit beiden Beinen gleichzeitig statt. Ein Chinasprung kann sowohl parallel zum Netz auf die Vorhand- und Rückhandseite als auch diagonal nach hinten erfolgen. Der Schlag, der während des Sprunges ausgeführt wird, ist jedoch immer ein Vorhandschlag. Sprung-Smash Eine weitere chinesische Technik. Der Spieler springt beidbeinig hoch in die Luft und schlägt den Ball mit vollem Körpereinsatz ins gegnerische Feld, ähnlich wie beim Smash im Volleyball. Untersuchungen haben ergeben, dass hierdurch zwar keine höheren Geschwindigkeiten erzeugt werden können, jedoch kann der Spieler einen früheren Treffpunkt und einen besseren Winkel erreichen. Malayen-Schritt Technik, die es erlaubt, möglichst ökonomisch die hintere Rückhand-Ecke zu erreichen (bei Rechtshändern die hintere linke Ecke). Ziel ist dabei, die Rückhand zu umlaufen und mit dem wirksameren Links-vom-Kopf-Schlag höhere Variabilität zu erzielen. Der Malayen-Schritt ist gekennzeichnet durch einen raumgreifenden Schritt mit links nach hinten, einen kleinen Sprung mit links, um die Hüfte zu drehen, und ein bis drei Nachstellschritte. Zählweise Im Badminton wird, wie auch im Tennis oder Volleyball, nach Sätzen gespielt. Die seit dem 1. Februar 2006 bei internationalen IBF-Wettkämpfen testweise eingeführte sogenannte Rallypoint-Zählweise (auch Running Score genannt) ist seit der letzten Generalversammlung der IBF am 6. Mai 2006 in Tokio für alle IBF-Mitgliedsverbände gültig. Im Bereich des Deutschen Badminton-Verbandes (DBV) gilt die neue Zählweise seit dem 1. August 2006, also seit der Saison 2006/2007. Durch die bis zu diesem Zeitpunkt geltende Regel, dass Punkte nur bei eigenem Aufschlagrecht erzielt werden konnten, variierte die Spieldauer sehr stark, wodurch die Einhaltung eines Spielplanes z. B. bei Turnieren nur schwer zu erreichen war. Bei einem Feldtest während der Dutch International 2006 zeigte sich, dass kurze Spiele im Durchschnitt zwar etwas länger dauern als bei der alten Zählweise, die durchschnittliche Spielzeit sich bei der Rallypoint-Zählweise über ein ganzes Turnier jedoch um ca. 10 Minuten pro Spiel verringert. Insgesamt vereinfacht sich die Planung und Organisation von Turnieren durch die einheitlichere Spieldauer. Ein weiterer Grund für die Einführung der neuen Zählweise war, dass das Verschleppen eines Spielstandes für konditionsschwache Spieler nun nicht mehr möglich ist. Dadurch soll dem Leistungsgedanken vermehrt Rechnung getragen werden. Nicht zuletzt führt auch dies zu einer verkürzten Spielzeit. Rallypoint-Zählweise Jede Partei kann unabhängig vom Aufschlag punkten. Es werden zwei Gewinnsätze bis 21 Punkte je Satz gespielt. Pausenregelung: „Erreicht in einem Satz die führende Partei 11 Punkte, so gibt es eine Pause von maximal einer Minute. Zwischen zwei Sätzen (erstem zu zweiten, bzw. zweitem zu dritten) gibt es eine Pause von jeweils maximal zwei Minuten.“ Eine Partei hat einen Satz gewonnen, wenn sie als erste 21 Punkte erreicht und dabei mindestens 2 Punkte mehr als die gegnerische Partei hat. Bei 20:20 wird das Spiel solange verlängert, bis eine Partei mit 2 Punkten führt oder 30 Punkte erzielt hat. Ein Satzergebnis von 30:29 ist demnach möglich. Für jeden gewonnenen Ballwechsel wird ein Punkt vergeben. Zusätzlich erhält die Partei, die den vorangegangenen Ballwechsel für sich entschieden hat, das Aufschlagsrecht. Zu Beginn des Spiels wird ausgelost, wer Seitenwahl bzw. den ersten Aufschlag erhält. Eine gängige Methode der Auslosung ist, einen Badmintonball hochzuwerfen oder ihn umgekehrt auf die Netzkante zu legen und fallen zu lassen. Diejenige Partei, zu welcher der Korkfuß des Balles zeigt, darf wählen, ob sie den ersten Aufschlag machen möchte, ob sie den ersten Rückschlag machen möchte oder auf welcher Feldhälfte sie beginnen möchte (Seitenwahl). Die andere Partei entscheidet sich für eine der verbleibenden Möglichkeiten. Die Auslosung kann statt mit einem Federball auch mit einem anderen Los stattfinden. Nach jedem Satz werden die Seiten gewechselt. Die Partei, die den vorherigen Satz gewonnen hat, hat im folgenden Satz das Aufschlagrecht. Kommt es zu einem dritten Satz, wird erneut die Seite gewechselt, sobald eine der beiden Parteien 11 Punkte erreicht hat. Bei der Seitenwahl ist es aus taktischen Gründen sinnvoll, zunächst auf der Seite mit der „schlechteren“ Sicht zu spielen, weil man dann in der Schlussphase eines möglichen dritten Satzes auf der wieder „besseren“ Seite spielen darf. Die in anderen Rückschlagspielen weitgehend unbekannte Regelung, sich zwischen erstem Aufschlag und erstem Rückschlag entscheiden zu dürfen, hatte hauptsächlich nach der früheren Zählweise in den Doppeldisziplinen ihren Sinn, als man Punkte nur bei Besitz des Aufschlagrechts erzielen konnte. Eine weitere Neuerung ist die Erweiterung der Coaching-Regel. Ein am Feld sitzender Coach darf nun auch zwischen den Ballwechseln seinem Spieler durch Zuruf Ratschläge erteilen. Dies darf jedoch nicht den Gegner stören und darf auch nicht während eines laufenden Ballwechsels passieren. Besonderheiten der Zählweise in der Bundesliga In den Bundesligen gilt ebenso wie sonst die Rallypoint-Zählweise, jedoch werden verkürzte Sätze gespielt. Statt zwei Gewinnsätzen bis 21 werden hier drei Gewinnsätze bis 11 gespielt. Bei einem Stand von 10:10 wird so lange verlängert, bis eine Partei mit zwei Punkten führt oder ein Endstand von 14:15 erreicht wurde. Kommt es also dazu, dass es 14:14 steht, entscheidet der kommende Ballwechsel darüber, welche Partei den Satz gewinnt. Frühere Zählweise Bis zum 31. Juli 2006 konnte ein Punkt nur von der Partei erzielt werden, die auch den Aufschlag ausführt. Machte die aufschlagende Partei einen Fehler, verlor sie ein Aufschlagsrecht. Beim Doppel hatte jede Partei zwei Aufschlagsrechte: eins pro Spieler, beginnend bei dem Spieler, der zu diesem Zeitpunkt rechts stand. Ausnahme: Bei einem Fehler nach dem allerersten Aufschlag eines Satzes wechselte das Aufschlagsrecht direkt zur gegnerischen Partei. Ein Satz galt in der Regel als gewonnen, wenn eine Partei 15 Punkte erlangt hatte (Ausnahme: im Damen-Einzel auf 11). Ein Spiel war gewonnen, wenn eine Partei zwei Sätze für sich entschied. Nach jedem Satz erfolgte Seitenwechsel. Bei einem Entscheidungssatz (3. Satz) wurde die Seite gewechselt, wenn eine Partei 8 (im Damen-Einzel 6) Punkte erreicht hatte. Sonderregel „Verlängerung“: Bei einem Spielstand von 14:14 konnte die Partei auf 17 (im Damen-Einzel von 10:10 auf 13) verlängern, die den Spielstand von 14 (bzw. 10 im Dameneinzel) Punkten zuerst erreicht hatte. Wurde auf dieses Recht verzichtet, dann endete das Spiel bei 15 Punkten (11 Punkten). Eine noch ältere Regel, zusätzlich bereits beim Spielstand von 13:13 auf 18 zu verlängern, wurde zum 1. August 1998 gestrichen. Durch diese alte Regel erklären sich Satzergebnisse früherer Spiele von z. B. 18:17. Ebenso konnte vor diesem Zeitpunkt im Dameneinzel beim Stande von 9:9 oder 10:10 auf 12 verlängert werden. Schiedsrichter Ein Badmintonspiel wird in den höheren Spielklassen und im internationalen Wettkampf von einem Schiedsrichterteam („Technische Offizielle“) geleitet. Der Schiedsrichter sitzt, ähnlich wie beim Tennis, auf einem Hochstuhl und ist für den Ablauf des Spiels, für das Spielfeld und für direkt zum Spielfeld gehörende Dinge verantwortlich. Er wird von einem Aufschlagrichter unterstützt, der speziell den aufschlagenden Spieler beobachtet und eventuelle Regelverstöße durch den Ruf Fehler und entsprechende Handzeichen meldet. Darüber hinaus sind für jede Spielfeldhälfte bis zu fünf Linienrichter eingeteilt, die Seiten-, Mittel- und Grundlinien beobachten und Aus-Bälle ebenfalls durch Ruf- und Handzeichen melden. In unteren Spielklassen oder bei Turnieren kann von dieser aufwändigen Regel abgewichen werden. Dann leitet entweder ein einzelner Schiedsrichter eine Partie, oder die Spieler entscheiden selbst über Regelverstöße, Gut- oder Aus-Bälle. Da jeder vom anderen dieselbe Fairness erwartet, die er selbst zu geben bereit ist, ist diese Regelung durchaus praktikabel und bewährt. Selbst in der Badminton-Bundesliga wird typischerweise nur mit einem Schiedsrichter und ggf. einigen Linienrichtern für kritische Linien gearbeitet. Spielbetrieb Disziplinen Badminton wird wettkampfmäßig in fünf verschiedenen Disziplinen ausgetragen: Damen-Einzel Herren-Einzel Damen-Doppel Herren-Doppel Gemischtes Doppel (Mixed) Damen- und Herreneinzel In der Einzeldisziplin stehen sich zwei Spieler gleichen Geschlechts gegenüber. Beim Aufschlag muss der Aufschläger in seinem Aufschlag-Halbfeld stehen, der Rückschläger im Feld diagonal dazu. Der Federball muss beim Aufschlag in das diagonal gegenüberliegende Aufschlagfeld gespielt werden. Während des laufenden Ballwechsels dürfen sich beide Spieler beliebig in ihrer Feldhälfte aufhalten. Bei geradem Punktestand des Aufschlägers (0, 2, 4, …) erfolgt der Aufschlag aus der rechten Feldhälfte seiner Sicht, bei ungeradem Punktestand (1, 3, 5, …) von links. Beide Spieler können, unabhängig vom Aufschlagrecht, Punkte erzielen. Jeder Fehler führt also automatisch zu einem Punktgewinn für den Gegner. War der Gegner im vorangegangenen Ballwechsel der Rückschläger, erhält er zusätzlich das Aufschlagrecht. Aus taktischen Gründen versucht man, den Gegner durch Anspielen in die Eckpunkte des Spielfeldes in Schwierigkeiten zu bringen. Um alle Feldecken gleich schnell erreichen zu können, versucht deshalb jeder Spieler, nach jedem gespielten Ball so schnell wie möglich in die beste Ausgangsposition für den nächsten gegnerischen Ball zu gelangen. Diese befindet sich ca. eine Schrittlänge hinter dem T-Punkt. Von hier aus sind alle Feldbereiche mit wenigen kurzen, schnellen Schritten erreichbar. Damen- und Herrendoppel In der Doppeldisziplin stehen sich zwei Spielerpaare gleichen Geschlechts gegenüber. Beim Aufschlag befinden sich Aufschläger und Rückschläger im jeweiligen Aufschlag-Halbfeld, der Aufschlag muss diagonal gespielt werden. Die beiden nicht am Aufschlag beteiligten Spieler dürfen sich beliebig auf dem Spielfeld positionieren. Nach der alten Zählweise erfolgte der erste Aufschlag eines Satzes und jeder erste Aufschlag nach dem Wechsel des Aufschlagsrechts aus dem rechten Aufschlagfeld. Bei der neuen Rallypoint-Zählweise hingegen wechselt die Reihenfolge der Aufschläger nach jedem Fehler wie folgt: Erster Aufschläger (0:0, Beginn im rechten Aufschlagfeld) Partner des ersten Rückschlägers Partner des ersten Aufschlägers Erster Rückschläger Erster Aufschläger usw. Es gibt, entgegen der alten Zählweise, keinen zweiten Aufschlag mehr. Auch die Regel, den Aufschlag beim Wechsel des Aufschlagrechts immer von rechts auszuführen, existiert nicht mehr. Die Positionen der Spieler eines Doppels bleiben bei Aufschlag oder Rückschlag so lange bestehen, bis sie bei eigenem Aufschlag einen Punktgewinn erzielen. Erst dann wechseln sie zum nächsten Aufschlag das Halbfeld. Bei Punktgewinn mit gleichzeitigem Aufschlagwechsel wird die Position nicht gewechselt. Die Spieler merken sich also ihre letzte Position, nicht mehr (wie früher) die Aufstellung zu Satzbeginn. Aus der Aufschlagreihenfolge in Verbindung mit der neuen Zählweise im Doppel folgt, dass das Aufschlagfeld bei einem Aufschlagwechsel stets von der eigenen Punktezahl bestimmt wird (wie im Einzel): Aufschlagwechsel bei eigenem geraden Punktestand (0, 2, 4, …): Aufschlag durch den Spieler, der rechts steht Aufschlagwechsel bei eigenem ungeraden Punktestand (1, 3, …): Aufschlag von links „0“ gilt dabei als gerade Zahl, und somit wird auch bei der neuen Zählweise der erste Aufschlag jedes Satzes von rechts ausgeführt. Punkte können bei jedem Ballwechsel erzielt werden. Jedes Doppel hat solange Aufschlagrecht, bis es einen Fehler macht. Dann erhält die gegnerische Partei einen Punkt, zusätzlich wechselt entsprechend der Aufschlagreihenfolge das Aufschlagrecht zum gegnerischen Doppel. Bei einem Satzwechsel schlägt das Doppel auf, das den letzten Satz gewonnen hat. Die Aufstellung beider Spieler einer Doppel-Paarung während des laufenden Ballwechsels ist beliebig und wird von der aktuellen Spielsituation und den technischen Fähigkeiten der Spieler abhängig gemacht. Idealerweise stellen sich beide zur Abwehr nebeneinander und decken die jeweils eigene Seite des Spielfelds ab. Beim eigenen Angriff dagegen steht man hintereinander, der hintere attackiert mit harten, steil nach unten geschlagenen Angriffsbällen (Smash) oder mit gefühlvoll kurz hinter das Netz geschlagenen Stoppbällen (Drop), während sein Partner vorne am Netz agiert und versucht, schlecht abgewehrte gegnerische Bälle zu erreichen und zu verwerten. Diese ständig wechselnde Aufstellung innerhalb eines Ballwechsels erfordert jahrelange Übung, ein gutes Auge für die Spielsituation und Verständnis im Zusammenspiel mit dem Partner. Beispielhafter Ablauf eines Doppels Doppel A: Erster Aufschläger A1 und Partner des ersten Aufschlägers A2. Doppel B: Erster Rückschläger B1 und Partner des ersten Rückschlägers B2. 0:0 Aufschlag A1 (erster Aufschläger) von rechts. Punktgewinn aufschlagendes Doppel A. Das aufschlagende Doppel A wechselt die Positionen, Doppel B nicht. 1:0 Aufschlag A1 (erster Aufschläger) von links. Fehler durch aufschlagendes Doppel A. Aufschlagwechsel, alle Positionen werden beibehalten. 1:1 Aufschlag B2 (Partner des ersten Rückschlägers) von links. Fehler durch aufschlagendes Doppel B. Aufschlagwechsel, alle Positionen werden beibehalten. 2:1 Aufschlag A2 (Partner des ersten Aufschlägers) von rechts. Punktgewinn aufschlagendes Doppel A. Aufschlagendes Doppel A wechselt die Positionen, Doppel B nicht. 3:1 Aufschlag A2 (Partner des ersten Aufschlägers) von links. Fehler durch aufschlagendes Doppel A. Aufschlagwechsel, alle Positionen werden beibehalten. 3:2 Aufschlag B1 (erster Rückschläger) von rechts. usw. Im Beispiel erreichte Doppel B zwei Punkte, hat die Positionen aber nicht getauscht, da die Punkte nicht bei eigenem Aufschlag erzielt wurden. Doppel A erzielte hingegen zwei seiner drei Punkte bei eigenem Aufschlagrecht und tauschte deshalb jedes Mal die Positionen. Man kann hier auch gut erkennen, wie aus dem eigenen Punktestand auf das Aufschlagfeld geschlossen werden kann. Gemischtes Doppel Beim gemischten Doppel oder Mixed (engl.: gemischt) bilden ein weiblicher und ein männlicher Spieler zusammen eine Doppel-Paarung. Die Regeln sind identisch mit denen des Damen- bzw. Herren-Doppels. Aufstellung und taktisches Verhalten im gemischten Doppel weichen üblicherweise von dem der beiden anderen Doppel-Disziplinen ab, da man versucht, geschlechterspezifische Fähigkeiten ins eigene Spiel zu integrieren. So bewegt sich der Mann in der Regel hauptsächlich im hinteren Feldbereich, von wo aus er seine Reichweiten- und Kraftvorteile zu druckvollem Angriffsspiel nutzen kann. Die Frau dagegen übernimmt das präzise Spiel in der vorderen Feldhälfte, insbesondere am Netz. Um bereits zu Beginn des Ballwechsels zu dieser Aufstellung zu gelangen, steht der Mann meist schon beim Aufschlag hinter der Frau. Mannschaftsaufstellung Ein Mannschaftsspiel umfasst in den Seniorenklassen in der Regel folgende acht Einzelspiele: Vor Beginn der Saison gibt der Verein eine Mannschaftsmeldung mit Ranglisten für die Herren und die Damen an den Verband ab. Die Aufstellung der Paarungen für Herreneinzel und -doppel richtet sich nach dieser Rangliste. Dabei ist bei der Doppelpaarung die Summe der Ranglistenplätze der beteiligten Spieler ausschlaggebend (eigentlich werden vier gültige Badmintonpaarungen gemeldet, die dieser Regel unterliegen. Diese müssen vom regionalen Badminton-Verband genehmigt werden. Hier sind in Einzelfällen sogar Ausnahmen von der Summenregel möglich). Alle weiteren Spiele haben sich nicht nach der Rangliste zu richten, da sie nur einmal pro Begegnung ausgetragen werden. Eine komplette Mannschaft besteht aus mindestens vier Herren und zwei Damen. Jeder Spieler darf maximal zwei Spiele pro Begegnung bestreiten. Nach Ausfüllen des Spielberichtsbogens vor der Begegnung ist die Aufstellung unveränderbar. Vorgesehene Auswechselspieler müssen auf dem Bogen eingetragen sein und können nicht während der Begegnung nachgemeldet werden. Muss ein Spiel z. B. wegen Verletzung abgebrochen werden, gilt es als verloren. Allerdings kann eine Mannschaft mit bis zu acht Herren und vier Damen antreten, so dass alle Spieler nur ein Spiel bestreiten. Es ist aus taktischen Gründen gängige Praxis, mehr Spieler einzusetzen als nötig, um auf diese Weise spielstärkere Spieler gezielter einsetzen zu können. Abhängig von den Regeln der einzelnen Landesverbände ist es auch möglich, in den unteren Spielklassen Mannschaftsspiele mit weniger Spielern zu bestreiten (meist max. fünf Herren und drei Damen). Saison Innerhalb der Saison treten alle Mannschaften einer Liga/Klasse in jeweils einem Hin- und Rückspiel gegeneinander an und spielen auf diese Weise Auf- und Absteiger aus. In der höchsten Liga, der 1. Bundesliga (Deutschland, Österreich) bzw. NLA (Schweiz) wird die Meisterschaft ausgespielt. Ranglistenturniere Unabhängig von der Saison werden Ranglistenturniere in allen fünf Disziplinen ausgetragen. Für die nationalen Ranglisten unterschiedlicher Spielstärken qualifiziert man sich durch die Teilnahme in einer Liga höherer Spielstärke oder durch den Erwerb einer entsprechenden Anzahl an Ranglistenpunkten durch erfolgreiche Teilnahme an den Ranglistenturnieren geringerer Spielstärke. In der Badminton-Weltrangliste werden alle Badmintonspieler gelistet, die in den zurückliegenden 12 Monaten an mindestens zwei der von der Badminton World Federation dafür anerkannten, internationalen Turnieren teilgenommen haben. Die für das Ranking ausschlaggebende Punktzahl ergibt sich aus der Platzierung bei diesen Turnieren. Hohe Platzierungen in der Weltrangliste berechtigen zur Teilnahme an den Olympischen Spielen und den Weltmeisterschaften der einzelnen Disziplinen. Spielklassen Die Bezeichnung und Anzahl der Spielklassen, in denen im Badminton Mannschaftswettkämpfe ausgetragen werden, ist abhängig von den Ländern bzw. Landesverbänden. In Deutschland und Österreich heißen die höchsten Spielklassen 1. Bundesliga, in der Schweiz NLA, in den Niederlanden Eredivisie, in Indonesien Indonesian League. Sonstiges Fachjargon Innerhalb der Badmintonszene haben sich zwecks einfacher Verständigung unter Spielern und Trainern zahlreiche Begriffe entwickelt, um badmintonspezifische Sachverhalte zu bezeichnen: Bratpfannengriff Anfänger-Schlägerhaltung, bei der Rückhandschläge fast unmöglich sind, da der Schlägerkopf in einem 90-Grad-Winkel zum Arm steht, statt im üblichen 0-Grad-Winkel. Wird in Ausnahmefällen beim Töten oder Wischen benutzt. Chinasprung Schlag im seitlichen Sprung und Landung nicht im Umsprung, sondern Bein auf Schlaghandseite fängt den Sprung ab. Heben Spiel am Netz: leichtes Anheben des Balles, so dass er ohne zu trudeln so knapp wie möglich über die Netzkante fliegt. IGEA Isoliert gespannte erregte Aktionsbereitschaft: Grundhaltung eines Spielers, in der er den gegnerischen Ball erwarten soll. Pinzettengriff Schläger wird mit den Fingerspitzen gehalten. Bevorzugte Schlägerhaltung beim Spiel am Netz, besonders beim Stechen. Stechen Der Ball wird beim Spiel am Netz mit einer ruckartigen Vorwärtsbewegung ins Trudeln gebracht und dabei so knapp wie möglich über das Netz befördert. Durch das Trudeln ist er für den Gegner nur schwer zu kontrollieren. T (T-Punkt) Sinnbild für die vordere Aufschlaglinie in Verbindung mit der Mittellinie. Der T-Punkt ist der Kreuzungspunkt beider Linien. Ca. eine Schrittlänge dahinter befindet sich die Grundposition (ideale Ausgangsposition zur Erwartung des gegnerischen Balles). Töten Beenden des Ballwechsels durch schnelle, peitschenartige Bewegung des Schlägers vorne am Netz, der Ball wird steil nach unten geschlagen. Wischen Eine Variante des Tötens, bei der man, um das Netz nicht zu berühren, den Ball mit einer schnellen scheibenwischerähnlichen Bewegung trifft. Wissenswertes Badminton kann als eine der Sportarten angesehen werden, die höchste Ansprüche an den Spieler stellt. Um auch auf hohem Niveau siegreich sein zu können, werden ihm nicht nur körperliche Fähigkeiten unterschiedlichster Prägung abverlangt, sondern auch besondere geistige und charakterliche Voraussetzungen. Das in der Badminton-Szene viel zitierte, oft vereinfacht oder unvollständig wiedergegebene Zitat von Martin Knupp, einem Autor vieler Badminton-Lehrbücher, soll dies verdeutlichen: Diese metaphorisch formulierten Ansprüche werden, zumindest was die körperliche Fitness betrifft, durch einen wissenschaftlich nicht bestätigten Vergleich dänischer Sportjournalisten untermauert. Verglichen wurde das Badminton-WM-Finale von 1985 in Calgary zwischen Han Jian (Volksrepublik China) und Morten Frost (Dänemark) mit dem Tennis-Endspiel von Wimbledon im gleichen Jahr zwischen Boris Becker und Kevin Curren. Die Analyse beider Spiele liefert interessante Hinweise auf die Belastung bei beiden Sportarten: Bemerkenswert ist hierbei die Tatsache, dass die Badmintonspieler in weniger als der halben Spieldauer etwa doppelt so viel liefen und etwa doppelt so viele Ballberührungen hatten. Dies ist allerdings vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, dass Rasentennisspiele wie das hier zum Vergleich herangezogene Wimbledon-Finale in dieser Beziehung für die Sportart Tennis eher untypisch sind. Besonders bei aufschlagstarken Serve-and-Volley-Spielern wie Becker und Curren sind auf diesem Belag die Ballwechsel und damit die Laufwege extrem kurz, und die körperliche Belastung ist entsprechend niedrig. Badminton ist die schnellste Ballsportart gemessen an der Geschwindigkeit, die der Ball nach dem Abschlag erreichen kann. Im August 2013 stellte Tan Boon Heong aus Malaysia einen neuen Weltrekord mit 493 km/h auf. Dieser Rekord ist von Guinness World Records zertifiziert. In keiner anderen Sportart erreichen Bälle eine derart hohe Geschwindigkeit. Varianten In den letzten Jahren haben sich, zum Teil aus kommerziellem Interesse, einige Varianten des Badmintonsports gebildet: Beachminton Beachminton (engl. „beach“: Strand) wurde 1997 erfunden und wird im Sand ausgetragen. Damit das Spiel auch außen, vornehmlich am Strand, ausgetragen werden kann, ist der Spielball im Vergleich zum Badmintonball deutlich weniger windanfällig. Speed Badminton Speed Badminton wurde 2001 vom Berliner Bill Brandes erfunden. Ziel war es, eine Sportart mit Badminton-Elementen zu entwickeln, die im Freien gespielt werden kann. Gespielt wird mit einem Schläger ähnlich dem Squash-Schläger, einem wenig windanfälligen Ball (dem so genannten Speeder) und ohne Netz. Seit dem 1. Januar 2016 heißt die Sportart offiziell Crossminton, um Verwechslungen mit der Speedminton GmbH zu vermeiden. Die beiden Feldhälften liegen 12,8 Meter auseinander; durch andere Flugeigenschaften und anderes Equipment vermischen sich bei Speed Badminton neben Elementen des Badmintons auch Aspekte des Squash und Tennis. Die Speed-Badminton-Bälle sind kleiner, aber dafür massiver als normale Badmintonbälle. Wettkampf-Bälle (sogenannte Match Speeder) können bis zu 290 km/h erreichen. Nächtliches Speed Badminton bzw. in dunkler Umgebung heißt Blackminton. Es gibt eine Blackminton-Variante, bei der die Spieler Leuchtbänder tragen. Eine aufwändigere Variante von Blackminton funktioniert mit UV-Licht-Lampen, bei der das Spielgerät, Feld und Spieler durch die Benutzung von fluoreszierenden Materialien und Farben kenntlich gemacht werden. Bei beiden Blackminton-Varianten werden die dafür verwendeten, speziellen Bälle (Night Speeder) mit so genannten Speedlights, ähnlich Knicklichtern beim Angeln, die in die Ballkappe gedrückt werden, zum Leuchten gebracht. Parabadminton Parabadminton ist eine Variante von Badminton für Menschen mit Körperbehinderung. Je nach Art der Behinderung erfolgt eine Einteilung in Wettkampfklassen, beispielsweise für Menschen mit Rollstuhl oder mit Prothesen. Grundlage des Spiels ist das übliche Badminton-Regelwerk, je nach Spielklasse werden Änderungen wie Herabsetzen der Netzhöhe oder Verkleinern des Felds vorgenommen. Parabadminton ist seit 2011 in die Badminton World Federation integriert und wird 2020 erstmals Teil der Paralympischen Spiele sein. Literatur Wend-Uwe Boeckh-Behrens: Badminton heute. intermedia, Krefeld 1983, ISBN 3-9800795-0-3. Bernd-Volker Brahms: Handbuch Badminton. Meyer & Meyer, Aachen 2009, ISBN 978-3-89899-428-6. Marcus Busch: Badminton Schlagtechnik-Übungen. SMASH, Velbert 2003, ISBN 3-9808183-1-4. Michael Dickhäuser: Badminton Tips & Tricks. Aktiv, Stans 1998, ISBN 3-909191-10-X. Barbara Engel: Badminton-Handbuch – Grundlagentraining mit Kindern. Nürtingen 1992, ISBN 3-928308-01-7. Klaus Fuchs, Lars Sologub: Badminton. Technik. Taktik. Training. Falken, Niedernhausen 1996, ISBN 3-8068-0699-3. Martin Knupp: Badminton-Praxis. Rowohlt, Reinbek 1989, ISBN 3-499-18629-2. Martin Knupp: Badminton verständlich gemacht. Copress, München 1993, ISBN 3-7679-0392-X. Martin Knupp: 1011 Spiel- und Übungsformen im Badminton. Hofmann, Schorndorf 1996 (6. Aufl.), ISBN 3-7780-6316-2. Hans Werner Niesner, Jürgen H. Ranzmayer: Badminton – Training, Technik, Taktik. Rowohlt, Reinbek 1985, ISBN 3-499-17042-6. Detlef Poste, Holger Hasse: Badminton Schlagtechnik. SMASH, Velbert 2002, ISBN 3-9808183-0-6. Weblinks Kroton.de – Badminton Ergebnisdienst (DBV-Bundesligen, DBV-Gruppen und 8 Landesverbände) Badminton Online-Magazin – News, Training, Interviews Verbände Badminton World Federation – Seite des Welt-Badminton-Verbandes Badminton Europe – Seite des europäischen Dachverbandes badminton.de – Seite des Deutschen Badminton-Verbands e. V. badminton.at – Seite des Österreichischen Badminton-Verbandes swiss-badminton.ch – Seite des Schweizerischen Badminton-Verbandes Regelwerke und Trainingstipps Neue Regeln, gültig ab 1. August 2006 (PDF) – Aktualisierte Badminton-Spielregeln (211 kB) Spielregeln des DBV Kurzübersicht Rallypoint-Zählweise (PDF; 200 kB) badminton.de – Inoffizielle Erläuterungen zur neuen Rallypoint-Zählweise im Badminton Badminton-Übungen – Übungen zum Badmintontraining Badminton-Tricks – Training, Technik und Regeln Quellen Rückschlagspiel Olympische Sportart
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https://de.wikipedia.org/wiki/Galerie%20291
Galerie 291
Die Galerie 291 oder kurz 291 war eine avantgardistische Kunstgalerie in der Fifth Avenue in New York. Sie wurde 1905 als Little Galleries of the Photo-Secession von den US-amerikanischen Fotografen Alfred Stieglitz und Edward Steichen gegründet. Die 291 zeigte neben fotografischen Arbeiten auch afrikanische Kunst und präsentierte erstmals europäische Künstler der Moderne in den Vereinigten Staaten. Ihr Galerist Alfred Stieglitz war eine Schlüsselfigur in der Fotografie- und Kunstgeschichte und einer der ersten modernen Ausstellungsmacher. Die Galerie und ihre Hauszeitschriften Camera Work und 291 waren wichtige Künstlerforen und impulsgebend für prädadaistische Tendenzen, den New-York-Dada und die darauf folgende Entstehung erster moderner Kunstrichtungen in den Vereinigten Staaten des frühen 20. Jahrhunderts. Geschichte Photo-Secession, Camera Work und der Piktorialismus Die Entstehungsgeschichte der Galerie ist eng mit der Photo-Secession verbunden, einer Fotografenvereinigung, die 1902 von Stieglitz gemeinsam mit seinem Protegé, dem Maler und Fotografen Edward Steichen, nach dem Vorbild der Londoner Brotherhood of the Linked Ring als „elitärer Club“ gegründet wurde. Der Begriff „Secession“ spielte auf die Künstler der Wiener Secession an, die sich vom akademischen Establishment abgespalten hatten. Stieglitz sah die Secession als „Protest und Spaltung vom Geist der Doktrinären und der Kompromissler.“ Die Photo-Secession nahm von 1902 bis 1904 Gestalt an. Die ersten Mitglieder waren, neben Steichen und Stieglitz, international namhafte Fotografen des Piktorialismus wie Frank Eugene, Gertrude Käsebier, Joseph Keiley und Clarence Hudson White. Etwas später schlossen sich Anne Brigman, Alvin Langdon Coburn und George Henry Seeley an. Begleitend gab Stieglitz das aufwändig gestaltete, im teuren Heliogravüre-Verfahren produzierte Hochglanzmagazin Camera Work heraus, um die Fotografien der Photo-Secessionisten und den von ihm proklamierten Piktorialismus zu verbreiten. Das Magazin erschien vierteljährlich von 1902 bis 1917 mit insgesamt 50 Ausgaben und diente Stieglitz bis zur Schließung der Galerie als „Hauszeitschrift“, die neben Essays und Theorieentwicklung zur Fotografie aktuelle Exponate vorstellte. Neben der Analyse fotografischer Arbeiten der Secessionisten boten die frühen Ausgaben wissenschaftliche Artikel und naturalistische Fotografien, spätere Ausgaben konzentrierten sich auf ebenso applaudierende wie harte Kunstkritiken der von Stieglitz organisierten Ausstellungen. Gründung Die Wanderausstellungen der Photo-Secessionisten und Camera Work wurden mit großem Zuspruch angenommen. Dennoch sah Stieglitz seine Position als Leitfigur der Fotografengemeinde ernsthaft gefährdet, als der professionelle Fotograf Curtis Bell, der zugleich Präsident der American Federation of Photographic Societies war, im Dezember 1904 die Ausstellung The First American Photographic Salon in der New Yorker Clausen Gallery veranstaltete. Das Ausstellungskuratorium bestand aus namhaften Künstlern wie William Merritt Chase, Kenyon Cox und Robert Henri; die Schau präsentierte amerikanische und europäische Fotografen und wurde von vielen als direkter Angriff auf Stieglitz’ Vorherrschaft betrachtet. Stieglitz sah sich nun genötigt, sich und die Photo-Secession „von der Mittelmäßigkeit und Selbstgefälligkeit, die die künstlerische Fotografie bedrohen“, loszulösen. 5th Avenue 291 und 293 1902 kehrte Edward Steichen aus Paris nach New York zurück und mietete im obersten Stock des Gebäudes an der Fifth Avenue Nummer 291, zwischen 30. und 31. Straße, ein kleines Studio. Das Haus, um 1870 im Stil des Neoklassizismus gebaut, war vierstöckig, aus braunem Klinker (Brownstone) ausgeführt und schloss oben mit einer prägnanten Attika, als Aufkantung des Flachdachrandes, ab. Im ersten und zweiten Stock war ein Erker (bay window) mit großen Fenstern vorgebaut. Die nebeneinander liegenden Häuser 291 und 293 verband ein großer Hausflur (Hallway), ein kleiner, „klappriger“ Aufzug konnte dadurch von beiden Häusern benutzt werden. Die Häuser wurden 1935 abgerissen und durch Neubauten ersetzt, die heute noch bestehen. Der Standort kam Steichen sehr entgegen, da der Camera-Club ganz in der Nähe in der 29. Straße eine gut ausgerüstete Dunkelkammer, seine Versammlungsräume und seine Bibliothek hatte. 1905 zog Steichen, der inzwischen geheiratet und Kinder hatte – quer durch die Hallway – in größere Räume in das Haus Nummer 293. Dadurch wurde sein ehemaliges Studio frei und Stieglitz konnte es, auf Vermittlung von Steichen, für 50 Dollar im Monat mieten. Zusätzlich konnte er zwei zusätzliche Räume hinzunehmen, um dort eine Galerie, die er The Little Galleries of the Photo-Secession nannte, zu betreiben. Die von Steichen gestaltete Galerieräume wurde in der April-Ausgabe 1906 von Camera Work beschrieben: „Einer der größeren Räume ist in matten Olivtönen gehalten, die Jutetapeten in einem warmen Olivgrau; die Holzverkleidung und die Leisten sind in einer ähnlichen Farbe, aber wesentlich dunkler. Die Wandbehänge sind aus olivgrünem Seidensatin und die Decke und der Baldachin sind von einem sehr tiefen, cremefarbenen Grau. Der kleine Raum ist speziell für Drucke auf sehr hellen Passepartouts oder in weißen Rahmen konzipiert. Die Wände dieses Raumes sind mit einem gebleichten, natürlichen Sackleinen bespannt; die Holzarbeiten und Leisten sind reinweiß, die Vorhänge in matten Naturfarben. Das dritte Zimmer ist in Graublau, mattem Lachs und Olivgrau gehalten.“ Die Galerie bestand lediglich aus drei Räumen; der größte maß 4,50 × 5,10 m, der mittlere 4,50 × 4,50 m und der schmalste nur 4,50 × 2,50 m. In einem Leitartikel erklärte Camera Work, dass „291 ein Laboratorium, eine Versuchsstation [sei] und nicht als Kunstgalerie im herkömmlichen Sinne angesehen werden darf.“ Aus der Befürchtung heraus, es gäbe nicht genügend fotografische Werke, um eine Galerie zu unterhalten, und mit dem Wunsch, Fotografie mit „den anderen Künsten“ zu vergleichen, entschieden sie sich, nicht nur die „allerbesten Fotografien der Welt“, sondern auch Malereien, Zeichnungen und Skulpturen zu zeigen und diese in Beziehung zueinander zu setzen. Die Galerie sollte zugleich ein kommerzieller Raum sein, obwohl Stieglitz eine ausgesprochene Abneigung gegen die Kommerzialisierung der Kunst sowie finanzielle Diskussionen im Allgemeinen hatte. Stieglitz betrachtete dies als eine Form der Prostitution, und wenn er bemerkte, dass jemand ein Kunstwerk wie ein Konsumgut behandelte, zögerte er nicht, plötzlich den doppelten Preis dafür zu verlangen. 1908 sollte die Miete für seine drei Räume in 5th Avenue 291 erheblich steigen. Stieglitz und seine Freunde von der Photo-Secession sah sich außerstande, diesen Betrag in Verbindung mit einem langfristigen Mietvertrag, aufzubringen. Der Kunstmäzen Paul Haviland half der Gruppe finanziell und Stieglitz konnte im Nachbarhaus 5th Avenue 293 einen dreijährigen Mietvertrag, wenn auch für kleinere Räume, abschließen. Der Umzug – wieder quer durch den Hallway – fand im Januar 1908 statt. Der neue Ausstellungsraum maß nur 4,60 × 4,60 m, umfasste jedoch auch kleinere Nebenräume. „Nachdem Haviland ihn davon überzeugt hatte, dass der neue Raum praktikabel war, trommelte Stieglitz einige andere Freunde zusammen und brachte zusätzliche Mittel für Betriebskosten, Material, Druck und Rahmung auf.“ Obwohl sich nun die Hausnummer in ”293“ geändert hatte, beschlossen die Freunde, die „291“ („two-nine-one“) weiterhin als Galeriename zu nutzen. Eröffnung, erste Ausstellungen 1905–1906 Die Little Galleries of the Photo-Secession, die alsbald in 291 umbenannt wurde, eröffnete am 25. November 1905. Wie die Zeitschrift Camera Work sollte die Galerie den Piktorialisten ein Forum bieten, als Präsentationsfläche dienen und das Medium Fotografie als eigenständige Kunstform im Kunstbetrieb etablieren. Überdies sollten die Fotografien mit dem dezenten Hinweis „Preise auf Anfrage“ zum Verkauf angeboten werden. Die offizielle Eröffnungsausstellung im Januar 1906 präsentierte Gummibichromatdrucke der französischen Fotografen Robert Demachy, René Le Bègue und Constant Puyo. Der Ausstellung folgte eine Zwei-Personen-Schau mit Fotoarbeiten von Gertrude Käsebier und Clarence H. White, sowie vier weitere Ausstellungen im selben Jahr, in denen britische Fotografen gezeigt und erste Drucke von Edward Steichen vorgestellt wurden. Eine Schau war deutschen und österreichischen Fotografen gewidmet und eine weitere den Photo-Secessionisten. Richtungswandel zur Kunstgalerie der Moderne 1907–1908 Die Galerie beschränkte sich nur kurzfristig auf Einzel- und Gruppenausstellungen der Fotografen. Bereits im Januar 1907 zeigte Stieglitz Zeichnungen der englischen Illustratorin Pamela Colman Smith, die mit der Gestaltung des Waite-Smith Tarot bekannt wurde. Über Edward Steichen, der 1906 nach Paris zurückkehrte, entstanden viele wichtige Kontakt zur europäischen Avantgarde. Steichen lernte die meisten Künstler über die dort lebende einflussreiche amerikanische Sammlerfamilie Stein – Michael, Sarah, Leo und Gertrude Stein – kennen. Er erinnerte sich später „[…] bei den Steins sah ich sämtliche Arten der modernen Malerei, von Cézanne und Renoir bis zu Matisse und Picasso.“ Stieglitz bezeichnete Steichen einmal humorvoll als „seinen Kunst-Scout vor Ort“. Unter Steichens Einfluss zeigte die Galerie ab 1908 Werke der europäischen Künstler-Avantgarde wie Georges Braque, Paul Cézanne, Henri Matisse, Francis Picabia, Pablo Picasso, Henri de Toulouse-Lautrec oder die Bildhauer Constantin Brâncuși und Auguste Rodin, sowie amerikanische Künstler die zeitweise in Europa arbeiteten, wie Marsden Hartley, Arthur Dove oder Alfred Maurer. In einem Brief an Stieglitz regte Steichen von Paris aus an, „wir sollten die moderneren Werke rotieren lassen, sodass sowohl Fotografien als auch konventionelle, verständliche Kunstwerke gezeigt werden. Und als ‚rotes Tuch‘ könnten wir Picasso nehmen, um die Rechnung zu begleichen, wenn wir ihn bekommen, denn er ist ein verrückter Steinzeitmensch [,] hasst Ausstellungen etc. wie auch immer, wir werden es mit ihm versuchen.“ Die Ausstellungssaison 1907/08 begann Stieglitz mit einer Werkschau der Photo-Secessionisten, gefolgt von einer Ausstellung mit Rodins spontanen, minimalistischen Aquarellzeichnungen, die eine für die damalige Zeit schockierend sexuelle Thematik besaßen. Die 58 Zeichnungen wurden erstmals öffentlich gezeigt. Rodin hegte zwar kein besonderes Interesse an einer Werkschau in den Vereinigten Staaten, dennoch hatte Steichen ihn überreden können, die Arbeiten nach Übersee zu verschicken. Allgemein sahen die meisten europäischen Künstler zu der Zeit wenig Sinn darin, ihre Werke ohne Erfolgsbilanz und Aussicht auf gute Verkäufe an eine kleine amerikanische Galerie zu geben, und Rodin brauchte 1908 weder Geld noch Aufmerksamkeit, obgleich er wusste, dass er viele Bewunderer in den Staaten hatte. Stieglitz präsentierte Rodins Zeichnungen ungerahmt hinter Glas in den beiden schmaleren Räumen der Galerie. Im Frühjahr 1910 folgte eine weitere Rodin-Ausstellung mit 41 Zeichnungen, gruppiert um einen Denker in der Mitte der Galerie. Der Rodin-Ausstellung folgte eine Fotoausstellung von George Seeley, einem jüngeren Mitglied der Photo-Secession, und eine Gemeinschaftsausstellung mit Exlibris des deutschen Malers Willi Geiger, Radierungen von D. S. MacLaughlan und Zeichnungen von Pamela Coleman Smith. Die Saison endete mit aktuellen Fotografien von Steichen und einer kontroversen Ausstellung von Henri Matisse mit Aquarellen, Lithografien, Radierungen, Zeichnungen und einem kleinen Ölgemälde. Die Matisse-Ausstellung war von Steichen wieder von Paris aus zusammengestellt worden. Im Januar 1908 schrieb er an Stieglitz: „Ich habe eine weitere absolute Spitzenausstellung für dich, genauso ausgezeichnet wie Rodin. Zeichnungen von Henri Matisse, dem Modernsten der Modernen.“ Im April des Jahres verschickte Stieglitz Einladungen, in denen er Matisse als „den führenden Kopf einer modernen Gruppe französischer Maler, die sich Les Fauves nennen“, ankündigte und dass es für die Photo-Secession „ein großes Glück ist, die Ehre zu haben, Matisse dem amerikanischen Publikum und den amerikanischen Kunstkritikern vorzustellen.“ Doch viele Besucher und Kritiker fassten die „unfertigen Malereien“ – ausschließlich weibliche Akte – des Franzosen als Affront auf. Die Kritiker hatten Schwierigkeiten, Matisse in einen kunstkritischen Kontext zu stellen: In New York hatte es bisher weder von Cézanne, van Gogh noch von Gauguin Ausstellungen gegeben. Die einhellige Bezeichnung, die sie für Matisse’ Werk fanden, war „hässlich.“ Besonders die Matisse-Ausstellung bewies Stieglitz, dass seine neue Art, Ausstellungen zu gestalten, auf Resonanz stieß. Er notierte: „[…] hier war das Werk eines neuen Mannes, mit neuen Ideen – ein echter Anarchist in der Kunst, so scheint es. Die Ausstellung führte zu vielen hitzigen Kontroversen; sie erwies sich als stimulierend.“ Sowohl Künstler wie Publikum wurden mit neuen Sichtweisen konfrontiert, über die in der Galerie ausgiebig diskutiert werden konnte. Die Ausstellungen der letzten fünf Monate beinhalteten sämtliche Ausdrucksformen des weiblichen Aktes in der Fotografie wie in der Malerei, dazu von so unterschiedlichen Künstlern wie Rodin, Seeley, Smith und Matisse. Das Interesse für den Akt kam hierbei nicht von ungefähr, denn Steichen und Stieglitz beschäftigten sich zu diesem Zeitpunkt selbst mit der Aktfotografie. Eigenständige amerikanische Tendenzen, „The Stieglitz Circle“ 1909–1910 Die Ausstellungssaison 1909 begann mit Karikaturen des mexikanischen Künstlers Marius de Zayas. Die 25 Kohlezeichnungen zeigten Porträts von Prominenten der Zeit und waren 30 Autochromes des Fotografen und Kunstkritikers J. Nilsen Lauvrik gegenübergestellt. Die Ausstellung stand unter Stieglitz’ Bestreben, einen Dialog zwischen Abstraktion und Fotografie zu finden. De Zayas ging im Folgejahr nach Paris, um sich mit den neuesten und radikalsten Kunstrichtungen auseinanderzusetzen, er schloss sich dem Kreis um Apollinaire an und knüpfte dabei zahlreiche Kontakte. Bald fungierte er neben Steichen als Stieglitz’ rechte Hand in Europa; de Zayas zeichnete unter anderem für die Picasso-Ausstellung 1911 in der Galerie verantwortlich, organisierte 1914 die Schau afrikanischer Kunstobjekte und verfasste bedeutende Kunstkritiken zum Modernismus in Camera Work. Im Unterschied zu Stieglitz bestand de Zayas auf dem kommerziellen Aspekt der Kunst und gründete 1915 die Modern Gallery in der 500 Fifth Avenue. Eine zunächst gedachte Kooperative der beiden Galerien schlug alsbald fehl, und Camera Work berichtete: „Nach drei Monaten des Experimentierens befand Mr. de Zayas, dass das praktische Geschäftsleben in New York inkompatibel mit der 291 ist.“ Im April 1909 zeigte Stieglitz eine Gemeinschaftsausstellung der Maler John Marin und Alfred Maurer. Maurer, ursprünglich ein akademischer Maler in der Tradition Whistlers, hatte sich während seines langjährigen Aufenthalts in Paris mit zahlreichen modernen Stilen auseinandergesetzt und war bei einer fauvistischen Bildsprache angelangt. Von ihm wurden Landschaftsbilder in Öl gezeigt. Marin hingegen war ein Aquarellmaler, der sich während seines Studiums mit Architektur und Technologie befasst hatte und die zunehmende Urbanisierung in seinen Bildern thematisierte. Waren Maurers Werke noch „europalastig“, deuteten Marins Aquarelle bereits auf eine eigenständige amerikanische Richtung hin. In den nächsten vier Jahren stellte Stieglitz turnusmäßig abwechselnd europäische und junge amerikanische Künstler aus. Im Verlauf dieser Ausstellungszyklen „kultivierte“ Stieglitz einen ausgewählten Kreis heimischer Maler, der von Kunstkritikern später als The Stieglitz Circle bezeichnet wurde. Jeder dieser Künstler folgte auf seine Weise der Theorie Kandinskys, dass durch reine abstrakte Formen Gefühle und Ideen vermittelt werden können. Währenddessen wandten sich die piktorialistischen Fotografen verärgert von der Galerie und von Stieglitz ab. Sie waren irritiert, dass der Fürsprecher der Photo-Secession nichtfotografischen Kunstwerken eine solche Bedeutung beimaß. Die Fotografin Gertrude Käsebier, die anfangs stark unter Stieglitz Einfluss stand, trennte sich schließlich 1910 von den Photo-Secessionisten und gründete mit Clarence H. White den Pictorial Photographers of America als rivalisierende Vereinigung. Nach 1912 fanden insgesamt nur noch zwei Fotoausstellungen statt: 1913 mit Stieglitz’ eigenen Arbeiten und eine weitere mit Paul Strand 1916. Die Ausstellungssaison 1909/1910 eröffnete mit Monotypien des realistischen amerikanischen Malers Eugene Higgins, Lithografien von Henri de Toulouse-Lautrec und Farbfotografien im Autochromverfahren von Edward Steichen. Es folgte die zweite Matisse-Ausstellung, in der Zeichnungen und Schwarzweißfotografien von Gemälden des Künstlers – darunter das Schlüsselwerk Le bonheur de vivre  von 1905/06 – gezeigt wurden, die Steichen im Herbst 1909 in Paris aufgenommen hatte. Im Anschluss an Matisse arrangierten Stieglitz und Steichen mit Younger American Painters eine umfangreiche Gemeinschaftsausstellung der amerikanischen Modernisten Arthur Beecher Carles, Arthur Dove, Laurence Fellows, Daniel Putnam Brinley, Marsden Hartley, John Marin, Alfred Maurer, Edward Steichen und Max Weber. Die Ausstellung sollte zeigen, dass diese Künstler nicht einfach nur „Gefolgsleute“ von Matisse waren, sondern ihre ganz eigene, individuelle Kunst schufen. Stieglitz erwies sich dabei als ebenso polarisierender wie strategischer Ausstellungsmacher: Der rein amerikanischen Ausstellung folgten nacheinander Schauen der befreundeten Maler Henri Rousseau und Max Weber – diesmal ein Franzose und ein Amerikaner polnischer Abstammung. Obwohl der Blickpunkt der Ausstellungen deutlich auf amerikanische Künstler gerichtet war, sollte keinesfalls eine Befürwortung amerikanischer Kunst erreicht werden. Die beiden folgenden Ausstellungen im Jahr 1911 konzentrierten sich mit einer umfangreichen Retrospektive von Cézannes Aquarellen und Lithographien sowie einer umfassenden Werkschau von Pablo Picasso auf zwei europäische Wegbereiter der Moderne. Cézannes Arbeiten kündigten den Schritt vom Post-Impressionismus zum Kubismus an, den Picasso schließlich vollzog. Cézanne, Picasso, Matisse und die Neudefinition von Ästhetik 1911–1913 Zu Beginn der Ausstellungssaison 1910/11 führte Stieglitz das amerikanische Publikum an die Kunst Cézannes heran. Der Galerist präsentierte zunächst die drei Lithografien Porträt von Cézanne (1896–1897), Kleine Badende (1896–1897) und Die Badenden (undatiert) sowie etwa ein Dutzend Schwarzweißfotografien, die Gemälde von Cézanne zeigten. Die Fotografien stammten aus dem Besitz Max Webers, der sich gerade mit Cézannes Werk auseinandersetzte und seine eigenen Malereien und Zeichnungen begleitend in der 291 vorstellte. Unter dem Titel An Exhibition of Water-Colors by Paul Cézanne folgte nur drei Monate danach, vom 1. bis zum 25. März 1911, die erste Einzelausstellung Cézannes in den Vereinigten Staaten. Stieglitz’ persönliches Interesse an dem französischen Maler war erst durch Roger Frys vielbeachtete Ausstellung Manet and the Post-Impressionists in London geweckt worden. Erst im Januar des Jahres hatte ihm Steichen aus Paris mitgeteilt, dass Cézannes Aquarelle als Leihgabe der Galerie Bernheim-Jeune zur Verfügung stünden. Stieglitz antwortete: „Sende sie mir. Natürlich bin ich neugierig, wie die Aquarelle, über die ich 1907 noch gelacht habe, jetzt hier in der 291 ausgepackt auf mich wirken werden.“ Steichen schickte eine Kiste mit 28 Aquarellen, die er mit dem Pariser Kunstkritiker Félix Fénéon ausgewählt hatte, nach New York. Trotz des moderaten Preises von 200 Dollar pro Werk, verkaufte sich lediglich ein einziges Aquarell: Arthur B. Davies erwarb die Quelle im Park Château Noir (1895–1898). Im Oktober 1911 erschien ein kurzer Essay über Aquarellmalerei in Camera Work No. 36. Der unsignierte Text stammte von Stieglitz, der darin ein deutlich formalistisches Plädoyer für die Ästhetik der Werke hielt: „Der erste Blick auf diese paar Spuren Farbe, die Cézannes Aquarelle ausmachen … als Betrachter ist man geneigt auszurufen: ‚Ist das alles?‘ Aber wenn man es zulässt, erliegt man der Faszination dieser Kunst. Weißes Papier erscheint nicht länger als Leerraum, es wird zu strahlendem Sonnenlicht. Das Fingerspitzengefühl des Künstlers ist so sicher, jeder Strich so gekonnt, jeder Wert so wahr …“ Gleich im Anschluss, am 28. März 1911, präsentierte die Galerie Pablo Picasso. Die Werkschau war die erste Ausstellung des Spaniers, die in den Vereinigten Staaten gezeigt wurde. Picasso selbst hatte die Arbeiten gemeinsam mit dem Fotografen Paul Burty Haviland, dem mexikanischen Künstler Marius de Zayas und Edward Steichen in Paris zusammengestellt. Steichen verschiffte insgesamt 83 Exponate nach New York. Durch die Enge der Galerie eingeschränkt, hängte Stieglitz lediglich 49 unter Glas gerahmte Aquarelle und Zeichnungen; einige Arbeiten waren thematisch gruppiert, 34 weitere Zeichnungen wurden auf Anfrage gezeigt. Die Aquarelle, Kohle- und Tuschezeichnungen und -skizzen dokumentierten fast vollständig Picassos Entwicklung zum Kubismus, lediglich einige aktuelle Arbeiten sollen gefehlt haben. Da von der Ausstellung keinerlei Fotografien existieren, kann nicht genau gesagt werden, welche Werke von Picasso damals gezeigt wurden. Lediglich zwei Zeichnungen konnten definitiv zugeordnet werden: Studie einer nackten Frau von 1906 und Stehender weiblicher Akt  von 1910. „Zeitgenössische Rezensionen in dreizehn Zeitungen deuten auf eine Vielzahl von Möglichkeiten hin“, so äußerte sich Charles Brock, assistierender Kurator der Retrospektive Modern art and America: Alfred Stieglitz and his New York galleries, die im Frühjahr 2001 in der National Gallery of Art in Washington D.C. gezeigt wurde. Brock bezeichnete dies als „eines der großen Mysterien in der Frühgeschichte des Modernismus in Amerika […] der Mangel an Fotografien erschwert das Verständnis der Picasso-Installation von 1911.“ Die Ausstellung wurde vom New Yorker Publikum mit Fassungslosigkeit und Entrüstung aufgenommen und festigte die etablierte Meinung, dass die Avantgarde absurd sein musste. Der Maler und Kunstkritiker Arthur Hoeber (1854–1915) rezensierte die Picasso-Ausstellung im New York Globe seinerzeit folgendermaßen: „Diese Zurschaustellung ist die außergewöhnlichste Kombination aus Extravaganz und Absurdität, die man New York bislang angetan hat, und Gott weiß, davon gab es in der Vergangenheit schon viele. Jede vernünftige Kritik steht gänzlich außer Frage, jede ernsthafte Analyse wäre vergebens. Die Resultate deuten auf die schlimmste Abteilung einer Irrenanstalt hin, die verrücktesten Absonderungen eines gestörten Geistes, das Kauderwelsch eines Wahnsinnigen!“ Pablo Picasso, 1911 (externe Weblinks) Mühle in Horta, 1909* Stehender weiblicher Akt, 1910 *) vermutlich in der Galerie gezeigt Stieglitz’ Bewunderung für Picasso wuchs indes mit der Ausstellung. Trotz der Negativkritiken fühlte er sich „ungeheuer befriedigt“ ob des breitgefächerten Interesses. Er schrieb an de Zayas: „Die Ausstellung war ein großer Erfolg. Wir haben wieder einen Treffer in einem psychologischen Moment gelandet. In gewisser Hinsicht war das eine der wichtigsten Ausstellungen, die wir bisher hatten … die Zukunft schaut leuchtender aus.“ Neben Steichen erwies sich Marius de Zayas als Gesandter in Paris, der die Beziehung zu Picasso festigte, als personeller Zugewinn für Stieglitz. Im Sommer 1911 reiste Stieglitz schließlich selbst nach Paris, wo ihn de Zayas mit Picasso bekannt machte. 1912 erwarb Stieglitz Picassos Bronze Kopf der Fernande Olivier von dem Kunsthändler Ambroise Vollard. Außerdem verlegte er Gertrude Steins prosaisches Porträt über Picasso sowie Kandinskys Über das Geistige in der Kunst, ebenfalls in Bezugnahme auf Picasso, in einer Sonderausgabe von Camera Work im August 1912. Die Saison 1911/12 eröffnete mit Aquarellen des amerikanischen Illustrators und Kinderbuchautoren Gelett Burgess, gefolgt von dem Franzosen Adolphe de Meyer, einem Pionier der Modefotografie, und dem Maler Arthur Beecher Carles, der bereits 1910 an der Gemeinschaftsausstellung Younger American Painters teilgenommen hatte. Es folgten Malereien und Zeichnungen von Marsden Hartley sowie die erste Einzelausstellung von Arthur Garfield Dove. Unter dem Titel Ten Commandments (Die zehn Gebote) zeigte Stieglitz eine Serie von Pastellmalereien von Dove, die als erste nicht gegenständliche Werke eines amerikanischen Künstlers gelten. Diese Schau festigte Doves Reputation als innovativster und produktivster amerikanischer Maler seiner Zeit. Henri Matisse: Skulpturen-Ausstellung, 1912 (externe Weblinks) Le Serf (Der Leibeigene), 1900–1903 La Serpentine, 1909 Kopf der Jeannette II, 1910 Mitte März 1912 zeigte Stieglitz die weltweit erste Skulpturen-Ausstellung von Henri Matisse, darunter die Bronze La Serpentine (1909), die zu den innovativsten skulpturalen Arbeiten dieser Zeit zählt. Die Schau war die schwierigste und anspruchsvollste der insgesamt drei Matisse-Ausstellungen in der 291. Als Zeichner wurde Matisse von den New Yorker Kritikern zwar mittlerweile wahrgenommen, nicht jedoch als Bildhauer. Bei den Rezensenten herrschten Ideale vor, die sich vielmehr an griechisch-römischen Statuen orientierten. Sie betrachteten jegliche anti-klassizistische oder primitive Machart als persönlichen Angriff auf das eigene Ästhetikempfinden. Ein besonders unbeherrschter Kommentar kam wieder von Arthur Hoeber im New York Evening Globe, der Matisse’ Arbeiten als „dekadent“, „ungesund“, „unreal“ deklassierte und sie mit „einem furchtbaren Alptraum“ verglich. James Huneker schrieb in der Sun: „Nach Rodin – was? Bestimmt nicht Henri Matisse. Wir können Matisse’ Kraft und Individualität sehen … als Zeichner, aber als Bildhauer erzeugt er Gänsehaut.“ Die schrittweise Verfremdung des menschlichen Körpers durch die europäischen Künstler, ausgehend von Rodin über Picasso hin zu Matisse’ Plastiken, lösten bei den Betrachtern ob der Infragestellung und Neudefinition von Ästhetik teilweise heftige Reaktionen und Debatten über das Kunstverständnis aus. Stieglitz’ Intention war jedoch weniger der Schockeffekt, als vielmehr die Hinführung des amerikanischen Publikums an neue Sichtweisen. Überdies diente ihm dieser forcierte Richtungswandel dazu, sein bevorzugtes Medium, die Fotografie, von ihrem als überaltert empfundenen Symbolismus zu befreien und Möglichkeiten einer neuen Bildsprache aufzuzeigen, die sich bald am Realismus orientieren sollte. Insofern nahm Stieglitz das Konzept der kommenden Armory Show von 1913 vorweg. „Ein diabolischer Test“ – Reaktion auf die Armory Show 1913 Bildvergleich: Studien von New York City (externe Weblinks) Alfred Stieglitz: Old and New New York, 1910 John Marin: Woolworth Building, No. 31, 1912 Francis Picabia: New York, 1913 (1913 in der Galerie gezeigt) An der epochalen Armory Show war Stieglitz zwar nicht direkt beteiligt, er fungierte allerdings gemeinsam mit Isabella Stewart „Mrs Jack“ Gardner, Mabel Dodge Luhan, Claude Monet und Odilon Redon als Sponsor, war „Ehren-Vizepräsident“ der Schau und steuerte einige Exponate aus seiner eigenen Sammlung bei. Während der Schau erwarb er zahlreiche Ausstellungsstücke, darunter The Garden of Love (Improvisation Number 27) von Wassily Kandinsky. Auf die eigentliche Schau, die vom 17. Februar bis zum 15. März 1913 stattfand, reagierte Stieglitz mit einer Serie streng konzipierter Ausstellungen: Zuerst zeigte er in einer Einzelausstellung Aquarellarbeiten von John Marin. Anschließend stellte Stieglitz eigene fotografischen Arbeiten vor, gefolgt von den Werken des französischen Modernisten Francis Picabia. Jede dieser Ausstellungen enthielt Bildvergleiche und Studien von New York City, die dem Betrachter deutlich machen sollten, wie sich die Sichtweise der europäischen Künstler von den amerikanischen Zeitgenossen unterschied. John Marin Die John-Marin-Ausstellung lief vom 20. Januar bis zum 15. Februar 1913 und endete somit zwei Tage vor Beginn der Armory Show. Die Ausstellung zeigte unter anderem 14 Aquarelle mit Ansichten von New York City. Im Ausstellungskatalog vermerkte Marin hierzu, dass die New-York-Bilder dieser Ausstellung einer Erklärung bedürften. Er schrieb: „Sollen wir das Leben in einer großen Stadt nur auf Menschen und Tiere auf den Straßen und in den Häusern begrenzt betrachten? Sind die Gebäude selbst denn tot? Ich sehe großartige Kräfte am Werk; große Bewegungen … schiebend, ziehend, Seitenwege, abwärts, aufwärts, ich kann den Klang ihres Wettstreits förmlich hören und da wird eine große Musik gespielt. Und so versuche ich, mit grafischen Mitteln auszudrücken, was die Stadt macht.“ Marins abstrakte Gebäudeansichten, vornehmlich die des Woolworth Buildings, fanden bei den Kritikern großes Interesse. Einer von ihnen verglich die Aquarelle mit der Kathedralen-Serie von Monet. Ein weiterer bemerkte die spielerische Auflösung solider Gebäude im Tumult der Großstadt mittels schriller Farben und herrlicher Lichter. „Als würden die großen Gebäude im Tanz davon swingen.“ W. B. McCormick von der New York Press verglich eine Ansicht der Fifth Avenue mit „einer Austernschale, die sich über einem Kriegsschiff öffnet.“ Paul Haviland lobte die Ausstellung in Camera Work als „eines der frühreifsten Werke eines amerikanischen Modernisten und als eine radikale Abkehr von sämtlichen früheren Interpretationen von New York.“ Bereits im Vorfeld hatte Stieglitz in einem Interview des New York American angekündigt, „er beabsichtige einen amerikanischen Künstler zu platzieren, und, noch viel ehrgeiziger, New York selbst, an die Spitze der internationalen Avantgarde-Bewegung.“ Stieglitz Botschaft kam an: Reproduktionen von Marins Woolworth Building erschienen in sämtlichen New Yorker Zeitungen, drei davon lenkten den Blick mit großen Artikeln gleichzeitig auf den kontroversen Franzosen Francis Picabia, der gerade in Amerika angekommen war. Alfred Stieglitz Eine Woche nach Premiere der Armory Show, eröffnete Stieglitz eine Ausstellung mit eigenen Fotografien. Er zeigte insgesamt 30 Arbeiten von 1892 bis 1912, darunter Sujets aus Paris, Pferderennen, Bauernhöfe in Tirol, Ozeandampfer, Flugzeuge, Badende und Swimmingpools. Sein vorherrschendes Thema war jedoch die Stadt New York, der er 13 Fotografien widmete. Mit der Fotografie zeigte Stieglitz ein Medium, das von der Armory Show ausgeschlossen war. Er nannte es einen „diabolischen Test“, in dem er die Stärke der Fotografie auf die Probe stellen wollte, wobei, wie Paul Haviland in Camera Work betonte, „nicht so sehr Stieglitz’ Werk im Vordergrund stehen soll, sondern die Rolle der Fotografie in der Entwicklung der modernen Kunst. Und welches Werk könnte das besser ausdrücken, wenn nicht das von Stieglitz? Seine Drucke zeigen die reinste Form der reinen Fotografie, das Beste aus der Bilanz eines der ehrenwertesten Fotografen …“ In den Rezensionen zur Ausstellung wurden Stieglitz’ Gedanken zur Fotografie weitgehend kritiklos aufgenommen. Francis Picabia Unmittelbar nach der Armory Show zeigte Stieglitz die Ausstellung An Exhibition of Studies Made in New York mit abstrakten Arbeiten von Francis Picabia. Begleitet von einem Katalog, der eine kurze Erklärung des Künstlers enthielt, wurden 16 Werke gezeigt: zwei nicht identifizierte Sujets, zwei Porträts der polnischen Tänzerin Stacia Napierkowska, die Picabia während seiner Reise nach Amerika kennengelernt hatte, zwei bildnerische Umsetzungen afroamerikanischer Songs, die er in New York gehört hatte, sowie zehn Bilder, die seine Erlebnisse in der Stadt darstellten. Picabia hatte die Bilder während Stieglitz’ Fotoausstellung gemalt. Er bemerkte, dass ihm die Fotografien halfen, die wahre Natur der Kunst zu realisieren: „Die Kamera kann keine gedanklichen Sachverhalte wiedergeben. Reine Kunst kann keine materiellen Fakten schaffen. Sie kann nur immaterielle oder emotionale Sachverhalte liefern. Deshalb sind Kunst und Fotografie Gegensätze.“ Die Idee, Kunst im Entstehungsprozess zu präsentieren, war neuartig. In einem Interview mit Henry Tyrell, dem Kunstkritiker vom New York World, erklärte Picabia: „Malte ich das Flatiron Building oder das Woolworth Building, als ich meine Impressionen der großartigen Wolkenkratzer eurer großen Stadt malte? Nein. Ich gab euch den Rausch der Aufwärtsbewegung, das Gefühl derer, die versuchten, den Turm zu Babel zu bauen – der Traum der Menschen, den Himmel zu erreichen, um Grenzenlosigkeit zu erlangen.“ Kurz vor der Ausstellung in der 291 wurden drei Aquarelle von Picabia in der New York Tribune abgedruckt, flankiert von zwei spöttischen Cartoons, die Kinder mit Bauklötzen spielend zeigten. Brâncuși und afrikanische Kunst – experimentelle Ausstellungen 1914–1915 Stieglitz fühlte sich durch die Armory Show in seiner Mission, den europäischen Modernismus nach Amerika zu bringen, in den Hintergrund gedrängt. Während er bislang versucht hatte, mit Sorgfalt und Diskrimination für neue Kunst zu werben, verwandelte die Armory Show moderne Kunst „in einen Zirkus“, wie er fand. Plötzlich schien die 291 ihr Qualitätsmerkmal zu verlieren – die Verkäufe stagnierten, die Kritiken wurden lustloser. Die beachtliche Resonanz der Armory Show trieb zudem auch andere New Yorker Galeristen an, ihrerseits Ausstellungen mit moderner europäischer Kunst zu organisieren. Unwillig, „mit der Masse zu schwimmen“, wechselte Stieglitz erneut die Richtung und begann, experimentellere Werkschauen zu konzipieren. Constantin Brâncuși 1914 Für den Bildhauer Constantin Brâncuși bedeutete die Ausstellung in der 291 einen Wendepunkt in seiner Karriere. Selbst in seiner Wahlheimat Paris galt der Rumäne, der kurzzeitig für Rodin gearbeitet hatte, als ein Geheimtipp unter Kritikern. Edward Steichen war 1907 im Pariser Salon des Indépendants auf Brâncuși aufmerksam geworden. Wann er Stieglitz vorschlug, eine Ausstellung mit dem Bildhauer zu organisieren, ist unbekannt, ebenso gilt es als unwahrscheinlich, dass sich Brâncuși und Stieglitz persönlich begegnet sind. Vielmehr entstand der Kontakt über den Künstler Walter Pach, dem Mitorganisator der Armory Show, der mit Brâncuși befreundet war. Die Ausstellung von März bis April 1914 zeigte einen Querschnitt durch Brâncușis Werk der vergangenen drei Jahre. Es wurden jeweils vier Variationen weiblicher Figuren gezeigt: Die Schlafende Muse und Muse waren ursprünglich von einem Porträt der Baroness Renée Frachon angeregt; die Danaïde und Mademoiselle Pogány waren von der jungen ungarischen Kunststudentin Margit Pogány inspiriert. Die Figuren zeigten das weibliche Gesicht als stark schematisierte (Ei-)Formen, die, ohne Anspruch auf eine realistische Darstellung, unterschiedliche Charaktere suggerieren sollten. Die Figuren waren aus weißem Marmor gefertigt, von Mademoiselle Pogány und der Muse hatte Brâncuși zusätzliche Bronzen gegossen. Mit den unterschiedlichen Ausführungen wollte er demonstrieren, dass die Form der Skulptur durch das unterschiedliche Material völlig neu definiert werden kann. Des Weiteren lieferte Brâncuși die Bronze Maiastra, eine der über dreißig Vogelfiguren, die er während seiner Laufbahn fertigte, und Progigal Son (Der verlorene Sohn), seine erste Skulptur aus Holz, die als ein Fingerzeig auf afrikanische Artefakte galt. Von Progigal Son existieren lediglich Fotografien, denn Brâncuși zerstörte die Figur in Paris nach deren Rückkehr. Constantin Brâncuși, 1914 (externe Weblinks) Schlafende Muse, 1909–10 Maiastra, um 1911 Mademoiselle Pogány, 1912 (La Muse), 1912 Danaïde, 1913 (Abbildung: ein Guss von 1918) Die Kritiker äußerten sich weitgehend positiv. Im Juni 1914 druckte Camera Work sechs Zeitungsberichte ab. Eine Rezension stammte von Henry McBride, einem jungen Kunstkritiker der Sun, der bemerkte: „Brancusis Kunst scheint sich zu erweitern, zu entfalten und eine überraschende Klarheit anzunehmen.“ Brâncuşi in Europa hingegen war äußerst besorgt über die Ausstellung, wie erhaltene Korrespondenzen zwischen ihm, Steichen und Stieglitz belegen. So gab es anfangs Probleme mit dem Zoll, der die Objekte nicht deklarieren konnte, weshalb sich die Ausstellungseröffnung um einen Monat, von Februar auf März, verzögerte. Stieglitz löste das Zollproblem mittels einer Geldzahlung. Des Weiteren gab es Differenzen zwischen Stieglitz und Brâncuși, da Brâncuși ein Arrangement mit Walter Pach getroffen hatte, dass der Gewinn direkt an ihn geschickt werden sollte, so dass Stieglitz keine Kommission für die Werke nehmen konnte. Dennoch war die Ausstellung ein wirtschaftlicher Erfolg: Brâncuși hatte die Preise festgelegt, die Stieglitz ohne Gegenfrage akzeptierte. Ein Objekt wurde bereits vor der Eröffnung verkauft: Die marmorne Schlafende Muse ging an Arthur B. Davies, der außerdem die Muse erwarb; die Bronzen Danaïde und Maiastra wurden an das Kunstsammler-Ehepaar Agnes und Eugene Meyer, prominenten Förderern der 291, verkauft, die darüber hinaus den Versand und die Versicherung der gesamten Brâncuși-Ausstellung übernahmen und zu lebenslangen Freunden des Künstlers wurden. Der vermögende Anwalt John Quinn, der sich bereits während der Armory Show als generöser Kunstpatron gezeigt hatte, erwarb mit der Mademoiselle Pogány zu 6000 Francs das teuerste Objekt der Ausstellung und wurde ein weiterer Mäzen des Bildhauers. Stieglitz selbst kaufte die dritte Bronze der Schlafenden Muse. Lediglich die marmorne Danaïde und Prodigal Son wurden nicht verkauft. Die Ausstellung in der 291 blieb die einzige Zusammenarbeit Brâncușis mit Stieglitz. Afrikanische Kunst 1914/1915 Im Juni 1914 kündigte Stieglitz in Camera Work für die kommende Saison im Herbst bis dato Ungewöhnliches an: Statuary in Wood by African Savages – The Root of Modern Art (Bildhauerkunst in Holz von afrikanischen Wilden – Die Wurzel der modernen Kunst), so der Titel, sollte einen radikalen Bruch zum bisherigen Wechselspiel zwischen europäischer und amerikanischer Kunst bringen. Stieglitz spielte dabei auf den Primitivismus an, ein Trend der zeitgenössischen europäischen Künstler, Anleihen bei der afrikanischen Volkskunst zu machen, was speziell in Frankreich zu dieser Zeit als art nègre populär war; Beispiele finden sich bei Maurice de Vlaminck, André Derain, Henri Matisse sowie in Picassos afrikanischer Periode. Auf den Einladungskarten beschrieb Stieglitz die Präsentation als „das erste Mal, in der Ausstellungsgeschichte, dass Negerplastiken unter dem Blickpunkt der Kunst gezeigt werden.“ Wobei der Formulierung „unter dem Blickpunkt der Kunst“ eine besondere Bedeutung zukam, da Artefakte aus Afrika bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich in einem ethnografischen und naturwissenschaftlichen Kontext behandelt wurden, nicht jedoch im Sinne von Volkskunst als eigenständige Kunstform. Marius de Zayas, der mittlerweile als „Chef-Kurator“ der Galerie galt, zeichnete in Europa für die Auswahl der Ausstellungsstücke verantwortlich. Im 19. Jahrhundert hatten die europäischen Museen eine Unmenge an afrikanischen Artefakten aus ihren Kolonien importieren lassen, da die Vereinigten Staaten jedoch nicht über solche Bezugsquellen verfügten, musste sich de Zayas auf die Suche nach einem europäischen Händler machen. In Paul Guillaume fand er einen Ansprechpartner. Guillaume hatte im Februar 1914 eine Galerie in Paris eröffnet, in der er zeitgenössische Kunst und afrikanische Skulpturen anbot. De Zayas schrieb an Stieglitz: „Ich glaube … ich kann eine Ausstellung mit bemerkenswerten Negerskulpturen arrangieren. Der Kunsthändler Guillaume hat eine sehr wichtige Sammlung und er wäre einverstanden, sie uns auszuleihen …“ Inspiriert vom Ausdruck und der Spiritualität konzentrierte sich Stieglitz vornehmlich auf Exponate aus West- und Zentralafrika. Mit der Ausstellung suchte Stieglitz eine Debatte über die Beziehung zwischen Kunst und Natur, westlicher und afrikanischer Kunst und intellektueller und angeblich „naiver“ Kunst zu entfachen und so reagierten die Kritiker entsprechend unterschiedlich. Allen gemein war das Verständnis für Stieglitz’ lehrbuchhafte Darstellung des Einflusses der afrikanischen Kunst auf die europäische Avantgarde. Elizabeth Luther Carey von der New York Times schrieb knapp: „Wie die Ausstellung deutlich zeigt, haben die Post-Impressionisten und die Wilden vom Kongo viel gemein.“ Geringschätzig hingegen war die Rezension der New York Evening Post: „Im Fall dieser Ausstellung ist es wohl nicht notwendig zu erklären, dass es sich um Wilde handelt. Wilde fürwahr! Der widerliche Geruch von Wildheit attackiert den Besucher umgehend, wenn er den kleinen Raum betritt. Diese rohen Schnitzereien gehören zu den schwarzen Vertiefungen des Dschungels. Manche Beispiele sind kaum menschlich und kraftvoller Ausdruck so grober Brutalität, dass die Muskeln zittern.“ Andere Kritiker siedelten die afrikanischen Arbeiten indessen auf einem höheren ästhetischen Niveau an, als die europäische Avantgarde, so schrieb die New York World: „Die französischen Apostel haben noch einen weiten Weg vor sich, bis sie in Rufweite ihrer afrikanischen Vorläufer kommen.“ Picasso und George Braque 1914/1915 In einer weiteren Ausstellung zum Jahreswechsel 1914/1915 kombinierte Stieglitz Werke von Picasso und Georges Braque mit Reliquien des Volkes der Kota aus Gabun und einem Wespennest. Die Masken der Kota hatten Picasso seinerzeit während der Arbeit an Les Demoiselles d’Avignon (1907) inspiriert. Sowohl die von Picasso wie die von Braque gezeigten Arbeiten sind nicht mehr eindeutig zu identifizieren. Vermutlich handelte es sich um aktuelle Arbeiten, so zeigte Camera Work im November 1915 ein Papier collé von Braque auf der Titelseite und eine entsprechende Violinen-Zeichnung von Picasso auf der Rückseite. Beide Arbeiten wurden von dem Kunstsammler-Ehepaar Arensberg erworben. Ein weiteres Werk der Ausstellung, Braques Glass, Bottle and Guitar aus dem Jahr 1913, floss in die Sammlung von Katherine S. Dreier ein. Wie zuvor bei der Armory Show reagierten die Kritiker mit Schmähungen auf die kubistischen Künstler. Für Stieglitz war die Ausstellung ohne Profit, der Verkaufserlös ging an die Picabias, aus deren Sammlung die gezeigten Werke stammten. Im mittleren Raum der Galerie zeigte Stieglitz außerdem archaische mexikanische Keramiken und Schnitzereien aus Paul Havilands Sammlung. Die Zeitschrift 291 1915 Während des Ersten Weltkriegs wurde die Galerie 291 zum wichtigsten Forum der europäischen Avantgarde und zur sprichwörtlichen „Triebfeder“ des internationalen Dadaismus. 1915 gründeten Stieglitz, de Zayas und Picabia mit der Unterstützung des Fotografen Paul Burty Haviland und der Journalistin Agnes E. Meyer eine neue Zeitschrift, die sie, gleichnamig wie die Galerie, kurz 291 nannten. Weitere Autoren waren, neben John Marin, die Dichter Max Jacob und Georges Ribemont-Dessaignes. Inspiriert durch de Zayas’ abstrakte Porträtzeichnungen, veröffentlichte Picabia darin eine Reihe von Maschinenzeichnungen, die sogenannten mechanomorphischen Bilder. Darunter das signifikante Werk Fille née sans mère (Mädchen, ohne Mutter geboren),  das Picabias Abkehr vom Kubismus kennzeichnen sollte. Überdies porträtierte Picabia de Zayas, Haviland und Stieglitz als Maschinen; so wurde aus dem Konterfei von Stieglitz eine Kamera-Konstruktion, die mit dem Zusatz Ici, c’est ici Stieglitz / foi et amour (Hier, das ist Stieglitz hier / Glaube und Liebe)  versehen war. Das ironische Stieglitz-Porträt erschien auf der Titelseite von 291. Vor dem Hintergrund des Krieges war der Tenor von 291 überaus patriotisch, wobei die Vereinigten Staaten als „modernste Nation der Welt“ bejubelt wurden, die Autoren ihre Leser aber auch hinterfragten, ob sie wüssten und würdigten, welch eine zentrale Rolle die Maschine in ihrem Leben mittlerweile spiele. 1917 führte Marcel Duchamp diesen Gedankengang künstlerisch weiter, indem er ein maschinengefertigtes Objekt, ein beliebiges Urinal, das er Fountain betitelte, als Ready-made deklarierte und zum Kunstobjekt erhob. Duchamp war zu diesem Zeitpunkt Mitglied der Society of Independent Artists und hatte bereits in der Armory mit seinem Gemälde Akt, eine Treppe herabsteigend Nr. 2 Aufsehen erregt. Mit dem zusätzlichen Skandal um das unter einem Pseudonym in der Jahresausstellung der Society of Independent Artists eingereichte und von der Jury zurückgewiesene Urinal hatte Duchamp eine medienwirksame Popularität erworben, die sich Stieglitz zunutze machen wollte. Schließlich gelang es ihm, Duchamp davon zu überzeugen, das Urinal in der 291 auszustellen. Alfred Stieglitz persönlich fotografierte das Exponat, dem nun, dank Bilddokument durch den seinerzeit renommiertesten Fotografen der Ostküste, innerhalb kürzester Zeit internationale Aufmerksamkeit als Kunstobjekt geschenkt wurde. Die Fotografie wurde im selben Jahr in dem von Duchamp, Henri-Pierre Roché und Beatrice Wood herausgegebenen Dada-Journal The Blind Man (Ausgabe Nr. 2 im Mai 1917) veröffentlicht. Spätestens seit der Armory Show fühlte sich Stieglitz zunehmend den amerikanischen Künstlern verpflichtet und konzentrierte sich nach 1915 hauptsächlich auf deren Arbeiten. Nach Ansicht seiner engsten Freunde, Marius de Zayas und Francis Picabia, war Stieglitz’ Innovationsfreude seit der Armory Show deutlich gebremst, vornehmlich sein Anliegen, die amerikanische Moderne voranzutreiben, schien im Sande zu verlaufen. Stieglitz „brauchte“ also förmlich einen neuen, modernen amerikanischen Künstler, möglichst einen Fotografen, der dem Medium neue Impulse geben würde. Paul Strand 1916 Mit Paul Strand handelte es sich um die erste Fotoausstellung in der Galerie seit Stieglitz’ „diabolischem Test“ während der Armory Show vor drei Jahren. Obwohl Stieglitz die Schau als „bahnbrechendes Ereignis für die moderne Fotografie“ angekündigt hatte, muss es sich eher um eine „zusammengewürfelte Mischung von Fotografien“ gehandelt haben, wie Sarah Greenough, Kuratorin der Stieglitz-Retrospektive in der National Gallery of Art in Washington D. C. 2001, bei der Rekonstruktion der Ausstellung befand. Paul Strand, 1916 (externe Weblinks) Pears and Bowls, 1916 Blind, 1916 Portrait, Washington Square Park, 1916 The White Fence, 1916 (vermutlich in der Galerie gezeigt) Wie für die meisten Ausstellungen der Galerie existieren keinerlei Kataloge oder Listen der Exponate. Lediglich fünf Fotografien können der Ausstellung sicher zugeordnet werden: City Hall Park, The River Neckar von 1911, Railroad Sidings von 1914, Maid of the Mist, Niagara Falls und Winter, Central Park New York. Die Bilder gelten als studentische Frühwerke des Fotografen. Zeitgenössische Kritiken deuten darauf hin, dass es sich fast ausschließlich um piktorialistische Arbeiten gehandelt haben muss. Der konservative Kritiker Royal Cortissoz von der New York Herald Tribune, der die Arbeiten der Modernisten allgemeinhin als „dumme hässliche Bilder“ abklassifizierte, lobte Strands „bemerkenswerte Fotografien“ als „silbrige Bilder von überragender Anmut.“ Ein Kritiker beschrieb The White Fence: „Man kann kaum mehr Kontrast, Betonung, Überspanntheit und Hässlichkeit innerhalb der vier Seiten eines Bildes kombinieren“; lediglich der Kunstkritiker Charles Caffin bemerkte einen Unterschied zu den anderen Piktorialisten dieser Tage. Paul Strand verband wesentliche Aspekte des Modernismus in seinen Fotoarbeiten: Wie seine Vorbilder Cézanne, Picasso und Braque experimentierte er mit Alltagsgegenständen (Pears and Bowls, 1916); wie die Kubisten demontierte er die Bildkompositionen, in dem er die Strukturen, Lichter und Schatten überbetonte (The White Fence, 1916); er interessierte sich für die Maschine (Wire Wheel, 1917), ein essentielles Element, das sich auch bei Duchamp und Picabia findet; hinzu kam eine neuartige, sozialdokumentarische Komponente, die er vermutlich von Lewis Hine übernommen hatte: die Empathie für den gemeinen Menschen auf der Straße (Blind, 1916) sowie das Interesse für die ethnische Vielfalt der Emigranten (Portrait Washington Square Park, 1916). Die letztgenannten Arbeiten wurden im Juni 1917 in der letzten Ausgabe von Camera Work abgedruckt. Marsden Hartley 1916 Im Anschluss an Paul Strand stellte Marsden Hartley seine Berlin-Gemälde in der 291 aus. Hartley und Stieglitz kannten sich bereits seit 1909. Damals hatte Stieglitz dem Maler nach nur einem kurzen Blick auf dessen Werke eine Ausstellung zugesagt. Auf dem Vertrauen des Galeristen in den Künstler baute sich eine nachhaltige Freundschaft auf. 1912 war Hartley nach Paris gegangen, doch bereits nach nur einem Jahr nach Berlin umgezogen, weil ihm die Seine-Metropole als zu dichtgedrängt erschien und er es genoss, als Amerikaner in Berlin eher eine Ausnahmeerscheinung zu sein. Hartley blieb bis Ende 1915 in Berlin und hatte seit seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten kein weiteres Gemälde mehr gefertigt: „Nun bin ich für alle Verbindungen vorbereitet … ich werde mich für sämtliche Ideen der Ausstellung so frei machen, wie möglich …“ Marsden Hartley, 1916 (externe Weblinks) Indian Fantasy, 1914 Portrait of a German Officer, 1914 The Iron Cross, 1915 Die Ausstellung markierte den Höhepunkt in der ersten Phase von Hartleys Karriere. Etwa 40 Gemälde wurden gezeigt, die Schau galt als die umfangreichste Antwort eines amerikanischen Künstlers auf die europäische Moderne. Die Bilder waren, wie Hartley es nannte, „vom kosmischen Kubismus geprägt“, wobei Einflüsse von Kandinsky und Franz Marc sichtbar wurden. Wohingegen einige Arbeiten deutlich von der Bildsprache der amerikanischen Ureinwohner inspiriert waren und beispielsweise Tipis, Adler, Kanus oder Kriegsbemalungen zeigten. Hartley hatte diese indianischen Artefakte erst im Pariser Trocadéro (heute Palais de Chaillot) und im Berliner Museum für Völkerkunde kennengelernt, sie bewirkten jedoch sein nachhaltiges Interesse für die indianische Kultur. Mit Fortschreiten des Krieges verdrängte Hartley die amerikanischen Themen jedoch aus seinem Werk und baute zunehmend deutsche Versatzstücke ein, was einerseits als malerische Trauerarbeit über den Fall seines Freundes Karl von Freyburg zu verstehen ist, andererseits um in gewissem Maße dem deutschen Publikum zu entsprechen. Die Reaktionen auf die Ausstellung waren weitgehend negativ. Hartleys Status als radikalster Künstler in Deutschland wurde zwar gefestigt, seine Malereien zielten jedoch auf das Berliner Publikum ab, was vor dem Hintergrund des Kriegsgeschehens äußerst ungünstig war. Die Reporter der New York Times konnten sich nicht recht entscheiden, ob Hartleys Werke pro- oder antideutsch interpretiert werden sollten. Robert J. Cole von der Evening Sun lobte zumindest die Farbgebung der Flaggen und Schachbrettmuster in den Gemälden: „Die Soldatenstücke geben weniger die Zerstörung auf den Schlachtfeldern wieder, weil dieser sehr moderne Künstler vielmehr auf die Glorie des Rittertums und dessen Heraldik zurückgreift.“ Ein weiterer Kritiker zog den direkten Vergleich zwischen Indianer-Tipis und Militärzelten. Georgia O’Keeffe, 1916 und 1917 Georgia O’Keeffe, 1916/1917 (externe Weblinks) No. 20 – From Music – Special, 1915 Blue Lines, 1916 Blue II, 1916 Die ersten Arbeiten, die Stieglitz von Georgia O’Keeffe im Januar 1916 sah, waren relativ grobe, abstrakte Kohlezeichnungen. Die 29-Jährige war zu diesem Zeitpunkt eine vollkommen unbekannte Kunstlehrerin. Er war begeistert über die rätselhaft anmutenden Abstraktionen: „Das sind wirklich feine Sachen – du sagst eine Frau hat die gemacht – sie ist eine ungewöhnliche Frau – sie ist aufgeschlossen – sie ist größer als die meisten Frauen, aber sie hat diese Feinfühligkeit – ich wusste, dass sie eine Frau ist – siehe diese Linie. Das sind die reinsten, feinsten, aufrichtigsten Dinge, die seit langem in die 291 gelangt sind. Es würde mir nichts ausmachen, sie eine Zeit lang in einem dieser Räume zu zeigen.“ Also entschied er sich dazu, im Mai 1916 einige ihrer Zeichnungen in der Galerie auszustellen, ohne O’Keeffe darüber zu informieren. O’Keeffe war unter anderem von Alon Bement, der am Teachers College, Columbia University Kunstkurse gab, und von dem Künstler, Fotografen, Drucker und Kunstlehrer Arthur Wesley Dow beeinflusst. Bement machte O’Keeffe mit den europäischen Künstlern vertraut und schlug ihr vor, sich mit Kandinsky, insbesondere mit dessen Gedanken, Kunst als Selbstausdruck zu verstehen, auseinanderzusetzen. Dow indes hatte sich mit chinesischer und japanischer Kunst auseinandergesetzt, was ihn schließlich zur Ablehnung des tradierten, in den Kunstschulen gelehrten Realismus brachte. Dow war der Überzeugung, ein Künstler solle die Natur nicht imitieren, stattdessen lieber deren Gefühle und Ideen zum Ausdruck bringen, was im Idealfall durch harmonische Arrangements aus Linien, Farben und Tonwerten erzielt werden könnte. Stieglitz machte keine besonderen geschlechtlichen Unterschiede, er betrachtete und behandelte männliche und weibliche Künstler gleich, ebenso wie er die kreative Energie der sexuellen Energie gleichstellte. Er schrieb 1916: „Neben anderen Werten sind Miss O’Keeffes Zeichnungen unter einem psychoanalytischen Aspekt interessant. Die 291 sah nie zuvor eine Frau, die sich so freizügig selbst ausgedrückt hat.“ Stieglitz war überzeugt, O’Keeffes Arbeiten besäßen eine verborgene Bedeutung, derer sich die Künstlerin selbst nicht bewusst sei. Darüber entstand ein reger postalischer Disput, in dessen Folge sie ihre Werke erst zurückforderte, dann Stieglitz endlich ihre Gedanken erklärte, einer Ausstellung zusagte und mit der Frage schloss: „Denken Sie ich bin eine Idiotin?“ Im Februar 1917 hatte O’Keeffe genügend Werke für eine Einzelausstellung geschaffen. Die 23 ausgestellten Werke demonstrierten ihren kontinuierlichen Schritt in die Abstraktion. Die Ausstellung, die vom 3. April bis zum 14. Mai 1917 gezeigt wurde, war zugleich die letzte in der Galerie 291. O’Keeffe war eigens aus Texas angereist, um ihrer Ausstellung beizuwohnen. In New York machte sie Bekanntschaft mit Paul Strand und weiteren Künstlern des Stieglitz Circle, wie Arthur Dove oder John Marin. Zu Stieglitz entwickelte sich indes eine intensive Liebesbeziehung, die über die nächsten zehn Jahre anhalten sollte. Von 1918 bis 1937 fertigte Stieglitz über 300 Fotografien von O’Keeffe. Sie heirateten 1924 (Stieglitz erste Ehe mit Emmeline Obermeyer wurde 1918 geschieden). Schließung der Galerie 1917 Im Juni 1917, zwei Monate nach dem Kriegseintritt der USA, sah sich Stieglitz, der die Galerie überwiegend vom Vermögen seiner ersten Ehefrau Emmeline Obermeyer finanziert hatte, aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage gezwungen, die 291 zu schließen. Mit dem Ende der Galerie löste sich gleichfalls die bedeutungslos gewordene Photo-Secession auf, und die kostenintensive Zeitschrift Camera Work wurde eingestellt. Zwischen 1917 und 1918 zog sich Stieglitz für mehrere Monate in einen Raum im Stockwerk unter den nunmehr verlassenen Ausstellungsräumen zurück. In diesem Raum, den er seine „Gruft“ nannte, konnte er es „über sich ergehen lassen“, Gedankenaustausch mit den Künstlern, Fotografen und Autoren, die ihn weiterhin besuchten, zu betreiben. „Nun, in Kriegszeiten, ohne Ausstellungsraum oder neue Kunstwerke scheint das freie Experimentieren und das Gefühl völliger künstlerischer Freiheit nicht länger möglich“, wie er sagte. Ihm war klar, „dass der Modernismus völlig neu überdacht werden musste.“ Hinzu kam, dass zahlreiche seiner Freunde und Kollegen, sowie viele andere, die die kollektive Kunstszene belebt hatten, New York verließen und aus seinem Umfeld verschwanden. Paul Haviland war bereits 1915 nach Paris gegangen. Marius de Zayas verfolgte mit der Modern Gallery eigene Ziele, die zum Bruch mit Stieglitz führten. Edward Steichen trat als Freiwilliger der U.S. Army bei und wirkte in Frankreich bei der Luftaufklärung mit. Er betätigte sich in späteren Jahren weiterhin als Ausstellungsmacher und war von 1947 bis 1962 Direktor der Fotoabteilung des New Yorker Museum of Modern Art, für das er ab 1951 die umfangreiche Fotoausstellung The Family of Man kuratierte. Im Oktober 1917 ging Francis Picabia mit seiner Frau Gabrielle Buffet-Picabia zurück nach Frankreich und kehrte nie wieder in die USA zurück. Marcel Duchamp verließ New York in Richtung Südamerika. Mit den Weggefährten Charles Demuth, Arthur Dove, Marsden Hartley, John Marin, Georgia O’Keeffe und Paul Strand kristallisierte sich schließlich eine Gruppe von Künstlern heraus, die als Seven Americans den amerikanischen Modernismus weiterentwickelten und festigten. In den Folgejahren gründete Stieglitz noch weitere Galerien in New York: Die Intimate Gallery (1925–1929) und An American Place (1929–1946), in denen er bevorzugt Werke dieser sowie weiterer, vornehmlich amerikanischer Künstler, präsentierte. Resümee Vor allem die letzten Ausstellungen hatten Stieglitz deutlich gemacht, welche extreme Wandlung die Kunst in der letzten Dekade vollzogen hatte und dass jeder Künstler die Entwicklungen der europäischen Moderne auf seine eigene Weise im Werk rezipiert und zu einem neuen Vokabular in der Bildsprache gefunden hatte. Marsden Hartley beispielsweise war von Kandinsky inspiriert; John Marin gab in seinen Aquarellen mit urbanen, oft menschenleeren Sujets eine Vorlage für den späteren Präzisionismus; Arthur Dove emanzipierte sich als erster abstrakter amerikanischer Künstler, und Georgia O’Keeffe hatte mit ihren halbabstrakten Arbeiten zu einem eigenen, von den Europäern scheinbar gänzlich unbeeinflussten Stil gefunden. Viele weitere Künstler verfolgten zunächst kubofuturistische Anordnungen, um über den Präzisionismus zu einem regionalistischen oder, wie die Maler der The Eight (um 1934 als Ashcan School geläufig), zu einem sozialkritischen Realismus zu gelangen, der übergreifend als American Scene bekannt wurde. Ihnen gemein ist die deutliche Verbundenheit zur Fotografie, die in den Vereinigten Staaten den stärksten Einfluss auf die bildenden Künste nahm. Als Vertreter der sozialdokumentarischen Fotografie sei hier Paul Strand genannt. Nur wenige Zeitgenossen übernahmen prädadaistische Elemente, wie beispielsweise der New Yorker Maler und Fotokünstler Man Ray, der sich noch ganz am Anfang seiner Künstlerkarriere Anregungen in Stieglitz’ Galerie geholt hatte. Zusammen mit Duchamp und Picabia formulierte Man Ray etwa zeitgleich den kurzlebigen New-York-Dada, bevor er sich von der US-amerikanischen Kunst abwandte. Die Tendenzen des modernen Kunstbetriebs konnten Alfred Stieglitz nie dazu bewegen, New York zu verlassen. Zu der Zeit, als sich zahlreiche amerikanische Künstler wie beispielsweise Charles Demuth, Marsden Hartley oder Man Ray nach Paris orientierten, bat Stieglitz die Redakteure der avantgardistischen Zeitschrift Broom, einem Periodikum, das von Amerikanern in Italien herausgegeben wurde, den Blick wieder nach New York zu richten. Vier Jahre nach Schließung der Galerie sah Stieglitz die Idee der 291 aktiver denn je; er schrieb: „vieles kristallisiert sich gerade jetzt – vieles wird in Bewegung gesetzt – alle streben in eine Richtung.“ In Paris befürchteten Künstler wie Kunstkritiker, dass es ohne einen ambitionierten Sprecher wie Stieglitz kein Zentrum und keinen amerikanischen Treffpunkt mehr geben würde: Stieglitz’ Galerie sei Mittelpunkt und Anlaufstelle für Auseinandersetzungen und Kunstdiskussionen, für Ausstellungen und Vermittlungen gewesen. Alfred Stieglitz starb 1946. Nach seinem Tod wurden die meisten Werke der 291 aus seinem Besitz von Georgia O’Keeffe anteilig als Alfred Stieglitz Collection der National Gallery of Art in Washington, D.C., der Fisk University in Nashville, Tennessee, sowie dem Museum of Fine Arts in Boston, gestiftet. Rezeption Marius de Zayas, Francis Picabia, Agnes E. Meyer, der Kunstsammler Walter Conrad Arensberg und weitere junge Protagonisten aus dem Umfeld von Alfred Stieglitz, eröffneten im Oktober 1915 mit der Modern Gallery eigene Ausstellungsräume in der Fifth Avenue, die zwar unter dem legendären Geist der 291 firmierten, aber im Unterschied zu Stieglitz’ Mäzenatentum vornehmlich auf den kommerziellen Aspekt setzten. Somit gehörten sie zu den Pionieren des bald rasant wachsenden New Yorker Kunsthandels und markierten den Beginn des Wandels der Stadt zur neuen Kunstmetropole. Francis Picabia veröffentlichte ab Januar 1917 in Barcelona das Dada-Periodikum 391, in dem er seine Maschinenbilder präsentierte und „Anti-Kunst“ und „Anti-Literatur“ proklamierte. Titel und Aufmachung der Zeitschrift waren eine bewusste Anspielung auf die Hauszeitschrift der Galerie 291, die er zuvor mit Stieglitz herausgegeben hatte. 391 erschien erfolgreich bis zum Oktober 1924 auch in New York, Zürich und Paris. In den 1920er Jahren entstand eine Vielzahl weiterer kommerzieller Galerien in New York, wie beispielsweise Bourgeois, Belmaison, Daniel oder Montross und Institutionen wie das Metropolitan Museum of Art oder das Brooklyn Museum of Art wurden gegründet, „doch die Lücke in der New Yorker Kunstwelt, die mit der Schließung der 291 nach dem Krieg entstanden war, wurde nur langsam geschlossen“, so die Kuratorin Sarah Greenough. Mit Gründung der Société Anonyme Inc. 1920 versuchte die Kunstsammlerin und Malerin Katherine Sophie Dreier gemeinsam mit den befreundeten Marcel Duchamp und Man Ray an Stieglitz anzuknüpfen und eine Organisation zur Förderung moderner Kunst in New York zu etablieren. Die Société veranstaltete eine Reihe wichtiger Ausstellungen – so wurde beispielsweise die erste Werkschau von Alexander Archipenko in den USA organisiert. Dreier scheiterte jedoch langfristig an dem Plan, ihre eigene umfangreiche Sammlung in einen staatlich subventionierten, musealen Kontext zu bringen. Ebenfalls 1920 zeigten die von Henry Fitch Taylor gegründeten Modern Artists of America sowie der Whitney Studio Club (aus dem 1930 das Whitney Museum of American Art resultierte) moderne Arbeiten ihrer Mitglieder. Der Maler Thomas Hart Benton, ein führender Vertreter des Amerikanischen Regionalismus, attackierte Alfred Stieglitz 1935 in einem Rückblick in der Zeitschrift Common Sense, indem er dessen „amerikanische Ästhetik“ in Frage stellte: „Es ist nicht so sehr seine Kunst, die amerikanisch ist, es ist vielmehr sein Selbstverständnis als ‚Seher‘ und ‚Prophet‘, darin liegt seine wahre Beziehung zu unserem Land. Amerika produziert mehr von denen, als irgend ein Land dieser Welt. Dieser Platz ist voll von Kulten, die von Individuen angeführt werden, die sich selbst als das Maß aller Dinge betrachten.“ Über die 291 schrieb Benton: „Ich bin mir sicher, dass an keinem anderen Ort auf der Welt mehr beknacktes Zeug produziert wurde […] die Verseuchung mit intellektueller Blödheit nahm dort unglaubliche Ausmaße an.“ Ansel Adams, der Mitte der 1930er Jahre in Stieglitz’ Galerie An American Place ausstellte, erinnerte sich in seiner 1984 erschienenen Autobiografie an Stieglitz als Ausstellungsmacher: „Er sagte anderen Künstlern, was ihr Werk ihm bedeutete. Waren sie groß genug, die Wahrheit seiner ehrlichen Meinung zu akzeptieren, so bereicherte sie das. Er glaubte, daß in der Kunst die Möglichkeit gegeben war, essentielle Aussagen über das Leben zu machen – auszudrücken, was der einzelne in Beziehung zur Welt und seinen Mitmenschen empfindet.“ Susan Sontag betrachtete Stieglitz’ Bestreben, die amerikanische Kunst zu emanzipieren, unter dem Aspekt „einer großen amerikanischen Kulturrevolution“, die Walt Whitman bereits 1855 im Vorwort zu Leaves of Grass (dt. Grashalme) prophezeit hatte, „ … die aber nie stattfand“, so Sontag. In ihrem Essay Über Fotografie bemerkte sie: „Angefangen mit den Bildern, die in Camera Work reproduziert und konsekriert und in der 291 ausgestellt wurden – wobei Zeitschrift und Galerie das anspruchsvollste Forum Whitmanscher Prägung darstellten –, hat der Weg der amerikanischen Fotografie von der Bejahung über die Aushöhlung bis zur Parodie von Whitmans Programm geführt […] wie Whitman sah Stieglitz keinen Widerspruch darin, die Kunst zum Werkzeug der Identifikation mit der Gemeinschaft zu machen und gleichzeitig den Künstler als heroisches, romantisches, sich selbst zum Ausdruck bringendes Ich zu verherrlichen.“ Im Frühjahr 2001 zeigte die National Gallery of Art in Washington, D.C. die umfangreiche Ausstellung Modern art and America: Alfred Stieglitz and His New York Galleries, die erstmals Alfred Stieglitz’ Bedeutung in seiner Rolle als Fotopionier, Galerist und Verleger für die Entwicklung der modernen US-amerikanischen Kunst hervorhob. Die Schau zeigte unter anderem eine Rekonstruktion von Stieglitz’ experimenteller 1914er Ausstellung mit afrikanischer Kunst und Skulpturen von Constantin Brâncuşi. Der amerikanische Kulturwissenschaftler Michael North hinterfragt in seinen 2005 veröffentlichten Betrachtungen zur ästhetischen Moderne und zur Fotografie die Multidisziplinarität von Alfred Stieglitz’ Zeitschrift Camera Work, in der neben fotografischen Werken auch Malerei und literarische Texte – hier sei insbesondere Gertrude Stein genannt – publiziert wurden. North unterstellt, dass Literatur und visuelle Künste durch die Fotografie in ein neues Verhältnis rückten: „Durch die Zeitschrift ist die Fotografie zu einem wichtigen Vehikel für abstrakte Kunst und experimentelle Literatur geworden“. Der Autor macht dies an einer Anekdote aus dem Jahr 1912 fest, als ein Leser von Camera Work erstaunt fragte, was „Picasso & Co“ mit Fotografie zu tun hätten. Eine umfangreiche Dada-Retrospektive, die 2005/2006 im Pariser Centre Georges Pompidou gezeigt wurde, stellte Alfred Stieglitz’ Galerie 291 als Zentrum des New-York-Dada vor, das allerdings durch weniger kollektiv organisierte Aktivitäten gekennzeichnet war. Liste der Ausstellungen Die Daten sind der Zeitschrift Camera Work und dem Kunstkalender der New York Evening Post entnommen. Literatur Alfred Stieglitz. Könemann, Köln 2002, ISBN 3-89508-607-X. Robert Doty: Photo-Secession: Stieglitz and the Fine-Art Movement in Photography. Dover Publications Inc., 1978, ISBN 0-486-23588-2. (englisch) Sarah Greenough: Modern art and America: Alfred Stieglitz and his New York galleries. Ausstellungskatalog der National Gallery of Art, Washington D. C., bei Bulfinch Press (= Little, Brown and Company), 2001, ISBN 0-8212-2728-9. (englisch) Sarah Greenough: The Alfred Stieglitz Collection of Photographs at the National Gallery of Art, Washington, Volume I & II; Harry N. Abrams, 2002, ISBN 0-89468-290-3. (englisch) R. Scott Harnsberger: Four artists of the Stieglitz Circle: A sourcebook on Arthur Dove, Marsden Hartley, John Marin, and Max Weber. Greenwood Press, 2002, ISBN 0-313-31488-8. William Innes Homer: Alfred Stieglitz and the American Avant-Garde. Secker & Warburg, 1977, ISBN 0-436-20082-1. (englisch) William Innes Homer: Alfred Stieglitz and the Photo-Secession. Little, Brown and Company, Boston 1983, ISBN 0-8212-1525-6. (englisch) Beaumont Newhall: Geschichte der Fotografie; amerikanische Originalausgabe History of Photography: From 1839 to the Present. New York 1937; deutsche Übersetzung als Neuauflage bei Schirmer/Mosel, München 2005, ISBN 3-88814-319-5. Michael North: Camera Works – Photography and the Twentieth-Century Word. Oxford University Press, New York 2005, ISBN 0-19-517356-2. (englisch) Simone Philippi, (Hrsg.), Ute Kieseyer (Hrsg.), Julia Krumhauer et al.: Alfred Stieglitz Camera Work – The Complete Photographs 1903–1917. Taschen, 2008, ISBN 978-3-8228-3784-9 (mehrsprachig; Texte von Pam Roberts, deutsche Übersetzung von Gabriele-Sabine Gugetzer) Susan Sontag: Über Fotografie; amerikanische Originalausgabe On Photography bei Farrar, Straus & Giroux, New York 1977; deutsche Übersetzung im Fischer Taschenbuch Verlag, 18. Auflage 2008, ISBN 978-3-596-23022-8. Marius de Zayas, Francis M. Naumann (Hrsg.): How, When, and Why Modern Art Came to New York. MIT Press, 1998, ISBN 0-262-54096-7. (englisch) Auszüge bei Google Bücher Weblinks The 291 Gallery in der National Gallery of Art (englisch) In the American Grain: Dove, Hartley, Marin, O’Keeffe and Stieglitz (englisch) Alfred Stieglitz’s Gallery 291 auf georgia-okeeffe.com (englisch) Anmerkungen und Einzelnachweise Soweit nicht anders verzeichnet, basieren die Angaben auf Sarah Greenough et al.: Modern art and America: Alfred Stieglitz and his New York galleries. Ausstellungskatalog der National Gallery of Art, Washington D. C., bei Bulfinch Press (= Little, Brown and Company), 2001, ISBN 0-8212-2728-9. Abbildungen Galerie in den Vereinigten Staaten Fotografie (Vereinigte Staaten) Fotoausstellung Kultur (New York City) Gegründet 1905 Aufgelöst 1917
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https://de.wikipedia.org/wiki/Am%20Turme
Am Turme
Am Turme (Originalschreibung Am Thurme) ist ein im Jahr 1842 erstmals erschienenes Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff. Darin bringt das lyrische Ich den drängenden Wunsch zum Ausdruck, die ihm gesetzten Grenzen zu überwinden und kraftvoll handelnd in die Welt einzugreifen. Gleichzeitig erkennt es jedoch, dass dies unmöglich ist. Der Text wurde zunächst als Erlebnisgedicht gedeutet, das einzelne Handlungsschritte in zeitlicher Abfolge schildert. In jüngerer Zeit wird die „Erlebnisfiktion“ im Gedicht betont. Demnach werden die beschriebenen Beobachtungen ausschließlich in der Vorstellung der Sprecherin lebendig und die eigentliche Sprechsituation setzt erst mit dem Lösen des geflochtenen Haares am Textende ein. Neben einer biografischen Lesart wurde das Gedicht auch feministisch interpretiert. Die Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger nannte es im Jahr 1994 „das erste und vielleicht das beste feministische Gedicht in deutscher Sprache“. Am Turme zählt zu Drostes bekanntesten lyrischen Texten und zum Kanon deutscher Gedichte. Hintergrund Entstehung Das Gedicht entstand während des ersten Aufenthaltes Annette von Droste-Hülshoffs auf der Burg Meersburg am Bodensee, wo die Schriftstellerin vom 30. September 1841 bis zum 29. Juli 1842 ihre ältere Schwester Jenny besuchte. Diese war mit Joseph von Laßberg verheiratet und bewohnte die Burg mit ihrer Familie seit 1838. In den Jahren zuvor war der Schriftsteller Levin Schücking zu einem engen Vertrauten Drostes geworden, die ihn im Rüschhaus regelmäßig empfing. Das geschah in der Regel unter Aufsicht ihrer Mutter Therese, was einen längeren ungestörten Austausch der beiden erschwerte. Für den Besuch am Bodensee hatten die Schwestern organisiert, dass Schücking gleichzeitig mit Droste auf der Meersburg sein konnte, und hielten den Plan vor der Mutter geheim. Die Schriftstellerin bewohnte ein rundes Turmzimmer im nordöstlich gelegenen Kapellenturm. Während ihres Aufenthalts auf der Meersburg war Droste von alltäglichen Pflichten befreit und verbrachte viel Zeit mit Schücking, der inspirierend auf sie wirkte. Dadurch wurden die Monate auf der Meersburg zu einer außerordentlich produktiven Schaffensphase. Insgesamt schrieb die Schriftstellerin dort rund 60 Gedichte, die einen Grundstock für ihre 1844 erschienene, zweite Gedichtsammlung bildeten, neben Am Turme auch Die Taxuswand, Der Knabe im Moor und Die Mergelgrube. Veröffentlichung Auf dem Arbeitsmanuskript aus dem Meersburger Nachlass (Abb. oben) steht Am Thurme links neben dem Gedicht Die beste Politik; umseitig notiert sind Die Taxuswand und Guten Willens Ungeschick. Der Text muss bis Anfang Februar 1842 entstanden sein: Zu dieser Zeit sandte Schücking ihn mit neun weiteren Gedichten zur Veröffentlichung an das Morgenblatt für gebildete Leser, das bereits am 16. Februar Der Knabe im Moor abdruckte. Am 25. August 1842 erschien Am Turme, drei Monate vorher war dort bereits die Novelle Die Judenbuche veröffentlicht worden. Die Möglichkeit, die Texte in absehbarer Zeit zu publizieren, ging auf die engen Kontakte Schückings zum Cotta-Verlag zurück und wirkte sich förderlich auf die literarische Produktion aus. Das Morgenblatt hat dieser Ausgabe ein Motto aus dem Drama Heinrich VI. von William Shakespeare vorangestellt, das in einem thematischen Bezug zu Am Turme steht. Mit den Worten “My courage try, / And thou shalt find, that I exceed my sex” („Prüfe meinen Mut, / Und du wirst sehen, dass ich mein Geschlecht übertreffe.“) fordert Jeanne d’Arc den Dauphin Charles auf, sie in den Kampf gegen die englische Besatzung einzubeziehen. Wie sich später zeigte, stieß die Gedichtveröffentlichung im Morgenblatt auf große Resonanz: Im Dezember 1843 erfragte die Redaktion von Droste weitere Beiträge. Eine entsprechende Bitte zitierte die Schriftstellerin in einem Brief: „Die Erzählung ›die Judenbuche‹ hat in ihrer Eigenthümlichkeit auf die Besten unserer Leser den größten Eindruck gemacht, und die Gedichte ›der Knabe im Moor, die Taxuswand, Am Thurme, u.s.w.‹ werden von den Kennern und Freunden der Poesie sehr hoch gestellt.“ Für die große Gedichtausgabe von 1844 nahm Droste den Text in die Gruppe Fels, Wald und See auf. Dort ist er das dritte von insgesamt zehn Gedichten, die von 1832/1833 (Fragment) bis 1843/1844 (Das öde Haus) entstanden sind und einen Bezug zur Bodensee-Region aufweisen. Diese Gedichte sind hinsichtlich ihrer Strophenformen und Reimschemata sowie ihrer Motive vielgestaltig. Am Thurme verfügt über ein lyrisches Ich – wie Das öde Haus und Am Bodensee – und schildert „eine Seelenlandschaft von einem hohen Überblickspunkt aus“ – wie Die Schenke am See. Von einer Epochenzuordnung des Drosteschen Œuvres, welches früher vielfach dem Biedermeier oder der Spätromantik zugerechnet worden war, ist man mittlerweile abgekommen. Text Am Turme Ich steh’ auf hohem Balkone am Turm, Umstrichen vom schreienden Stare, Und laß’ gleich einer Mänade den Sturm Mir wühlen im flatternden Haare; O wilder Geselle, o toller Fant, Ich möchte dich kräftig umschlingen, Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand Auf Tod und Leben dann ringen! Und drunten seh’ ich am Strand, so frisch Wie spielende Doggen, die Wellen Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch, Und glänzende Flocken schnellen. O, springen möcht’ ich hinein alsbald, Recht in die tobende Meute, Und jagen durch den korallenen Wald Das Walroß, die lustige Beute! Und drüben seh’ ich ein Wimpel wehn So keck wie eine Standarte, Seh auf und nieder den Kiel sich drehn Von meiner luftigen Warte; O, sitzen möcht’ ich im kämpfenden Schiff, Das Steuerruder ergreifen, Und zischend über das brandende Riff Wie eine Seemöwe streifen. Wär ich ein Jäger auf freier Flur, Ein Stück nur von einem Soldaten, Wär ich ein Mann doch mindestens nur, So würde der Himmel mir raten; Nun muß ich sitzen so fein und klar, Gleich einem artigen Kinde, Und darf nur heimlich lösen mein Haar, Und lassen es flattern im Winde! Anmerkungen Form Das Gedicht besteht aus 4 Strophen mit jeweils 8 Versen. Diese weisen im regelmäßigen Wechsel vier Hebungen mit einer männlichen Kadenz und drei Hebungen mit einer weiblichen Kadenz auf und bilden durchgehend einen Kreuzreim. Alle Verse beginnen mit einem Auftakt, an den überwiegend im Daktylus angeschlossen wird. Jede Strophe gliedert sich in zwei Hälften, die jeweils eine Satz- und Sinneinheit bilden und in Beziehung zu anderen Strophen stehen: „In den Mittelstrophen beschreibt der erste Satz Wahrgenommenes, der zweite Erwünschtes. […] In der ersten folgt auf die Darstellung der wirklichen die der ersehnten Situation; in der letzten Strophe ist es umgekehrt.“ Was als „wirklich“ anzusehen ist, ist Gegenstand der Interpretation. Räumlich ist die erste Strophe oben „auf hohem Balkone“ verortet, die zweite „drunten“ (in der Nähe), die dritte „drüben“ (in der Ferne), was den „Wunsch nach immer weiter ausgreifender Aktivität“ unterstützt. Inhaltlich lassen sich vier „Aussagefelder“ erkennen: Anfangs steht das Ich auf dem Balkon und sein Ringen mit dem Sturm im Mittelpunkt, danach der Gedanke, ins Meer einzutauchen und zu jagen, dann wünscht sich das Ich an das Steuerruder eines Schiffs, bevor schließlich die Sehnsucht betont wird, dies in anderen Rollen zu erleben, und die Erkenntnis folgt, dass das nicht möglich ist. Die im Verborgenen gelösten Haare bilden einen Rahmen zu den „flatternden Haaren“ vom Anfang. Verbunden werden die Strophen durch häufige Wiederholungen der Versanfänge – allein neun Verse beginnen mit einem „Und“ –, die für eine schnelle Abfolge der Eindrücke sorgen und ihre Fülle unterstreichen. Am Schluss verweist der „Jäger“ (V. 25) zurück auf die zweite und der „Soldat[]“ (V. 26) auf die dritte Strophe. Die Dynamik des Textes entsteht auch durch die Verwendung zahlreicher Verben der Bewegung, die häufig im Infinitiv stehen, etwa „springen“, „jagen“, „streifen“. Hinzu kommen als Attribute einige Präsenspartizipien, die ihre Bezugswörter ebenfalls in Bewegung versetzen, etwa „spielende Doggen“, „tobende Meute“, „brandende[s] Riff“. Dem Verb kommt eine „beherrschende Stilfunktion“ zu, allerdings wird die Bewegung vom lyrischen Ich „nicht vollzogen, sondern aus der Distanz des Beobachters wahrgenommen oder im Modus des Wunsches imaginiert“. „Meute“ und „Beute“ lassen sich dem Wortfeld „Jagd“ zuordnen, „Standarte“ und „Soldaten“ dem Bereich „Krieg“. Dabei steht die „tobende Meute“ der Doggen als Bild für die bewegten Wellen. Zählt man „gleich einer Mänade“ und „gleich einem artigen Kinde“ hinzu, treten Vergleiche in jeder Strophe auf. Sie verstärken die Bildhaftigkeit des Textes. Dabei ist die Jagd auf das Walross „durch den korallenen Wald“ ein „naturwidriges Bild […]; denn einen Korallenwald gibt es nur im warmen südlichen, das Walroß dagegen nur im nördlichen Meer“, was das „Unmögliche des Begehrens“ unterstreicht. Die Begrenzung des lyrischen Ichs und seine Desillusion wird am Gedichtschluss auf verschiedene Weise verdeutlicht: Aus der „Mänade“, einer begeisterten, im Rausch befindlichen Frau, wird ein „artige[s] Kinde“; aus dem „möcht’ ich“ wird ein „muß ich“ und „darf nur“ und aus dem „Sturm“ ein „Winde“. Diese letzte Zurücknahme wird grammatisch verstärkt. Anfangs lässt das Ich „den Sturm / Mir wühlen im flatternden Haare“: Hier ist der Sturm ein Akkusativobjekt. Am Schluss lässt das Ich die Haare „flattern im Winde“: Hier sind die Haare das Objekt, der Sturm ist abgeflaut zu einer adverbialen Ortsbestimmung, was Bild und Formulierung gewöhnlicher erscheinen lässt. Die ersehnte Entgrenzung des lyrischen Ichs und seine tatsächliche Begrenzung sind sprachlich und inhaltlich durch eine Reihe von Gegensätzen gestaltet: „stehen/sitzen, oben/unten, Luft/Wasser, Mann/Frau, können/wollen, aktiv/passiv, Indikativ/Konjunktiv, wild/artig.“ Interpretation Die Deutungen des Gedichts folgten im Laufe der Zeit verschiedenen Schwerpunkten, die sich nicht trennscharf abgrenzen lassen und sich wechselseitig ergänzen. Anfangs überwogen die Auslegungen des Textes auf der Grundlage der Biografie der Dichterin und den Verhältnissen ihrer Zeit. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen verstärkt feministische Erklärungsansätze auf. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts traten Interpretationen hinzu, die die Bedeutung der räumlichen Gegebenheiten im Gedicht untersuchen. Biografisch Zunächst deutete man das Gedicht in erster Linie vor dem Hintergrund der Biografie und las den Text als Zeugnis eines inneren Konflikts der Schriftstellerin. Noch im Jahr der Veröffentlichung der Gedichtausgabe von 1844 urteilte ein Rezensent über Am Turme: „Die Ueberschrift ist anspruchslos. Niemand ahnt dabei, daß uns die Dichterin einen tiefen Blick in die innere Werkstatt ihrer Gedanken gestattet, daß sie uns in der vollendetsten Form selbst Aufschluß gibt über ihre Persönlichkeit nach der Seite des Denkens, Handelns und Empfindens.“ Dass Am Turme kein Jugendgedicht, sondern das Werk einer erwachsenen, 44-jährigen Frau war, betont Marita Fischer 1956, die damit ebenfalls nahelegt, dass der Text innere Spannungen zum Ausdruck bringt: Die Theologin Elisabeth Gössmann widmete Droste ein Kapitel in ihrer 1961 erschienenen Studie Die Frau und ihr Auftrag – Gestalten und Lebensformen. Die Abschnittsüberschrift „Heimatgebundenes Dasein“ zeigt an, dass Gössmann das Werk der Dichterin vor dem Hintergrund ihrer Biografie deutet. Gössmann sieht Am Turme als Ausdruck des „religiös angespannte[n] Selbst der Dichterin“, das im Spannungsverhältnis zwischen „Lebensintensität“ und „Entsagung“ stehe. Sie interpretiert das Gedicht auch aus feministischer Perspektive (siehe unten). Die Tatsache, dass Droste zur Entstehungszeit des Gedichts den Kapellenturm der Meersburg bewohnte, förderte biografische Deutungen. Die Verortung eines genauen Schauplatzes wird in der Forschung aber als unzulässig betrachtet, weil das Gedicht das innere Erleben schildere und eine Welt entwerfe, die, etwa mit dem Walross und den Korallen, nichts mit dem Bodensee gemein habe. Nach Jochen Grywatsch werde zwar der Lebenskonflikt Drostes im Gedicht greifbar, es allein darauf und auf den Besuch am Bodensee zu beziehen, werde aber dem Text nicht gerecht: Das Gedicht enthalte „sehr viel abstraktere Bezüge. Es thematisiert den drängenden Willen zur Befreiung, zur Selbstbestimmung und zur handelnden Autonomie des Individuums“. Feministisch Von Anfang an deutete man das Gedicht im Hinblick auf die Geschlechterrollen. Mit der Sichtweise, es gehe um „einen geheimen Kampf männlicher Kraft des Denkens und Handelns mit angeborener oder errungener weiblicher Milde“, bewegt sich der Rezensent 1844 in den vorherrschenden Rollenmustern seiner Zeit. Im 20. Jahrhundert untersuchten mehrere Wissenschaftlerinnen die im Gedicht gestalteten Geschlechtervorstellungen. Gössmann nahm 1961 an, dass Droste das intensivste Lebensgefühl allein den Männern zuerkannt habe, weil nur sie mit aller Kraft gegen Widerstände ankämpfen dürften. Durch Zweikampf, Jagd und Seefahrt werde dies im Gedicht veranschaulicht. Der männlichen Lebensintensität könne sich Droste nur durch „die irreale Sprache der Sehnsucht“ annähern. Von „wirklich kühnen, mitreißend unverstellten Bildern“ ging 1988 Irmgard Roebling aus. In ihnen erlaube sich „die Autorin ein direktes Ausleben ihrer die Geschlechtszuschreibung überschreitenden Phantasien“. Beide Forscherinnen betonten den engen Bezug zu Drostes Biographie. Ruth Klüger interpretierte Am Turme am 7. Mai 1994 in der Frankfurter Anthologie der F.A.Z. unter dem Titel „Ein Mann, mindestens“. Darin bezog sie ebenfalls Drostes Lebenssituation ein, hob aber das eigenständige „weibliche Ich“ hervor und hielt den Text für „das erste und vielleicht das beste feministische Gedicht in deutscher Sprache“. Bereits 1986 hatte sie Am Turme für eine zweisprachige Anthologie, die deutschsprachige feministische Gedichte versammelt, ins Englische übersetzt (On the Tower). Cornelia Blasberg erkannte 2018 in den Gegensatzpaaren „eine Gender-Ordnung […], deren unerschütterliches Fundament durch die Herrschaft des Mannes über die Frau gebildet wird“. Die Unfreiheit und Unterordnung der Sprecherin werde durch die Metapher der zuerst wild flatternden, schließlich aber nur „heimlich“ gelösten Haare deutlich. Klüger sieht im Wunsch, den als „wilder Geselle“ bezeichneten Sturm zu umschlingen, ein geradezu erotisches Verlangen, das auf Ebenbürtigkeit der beiden Kontrahenten setzt. Am Schluss gelange die Sprecherin jedoch zur Erkenntnis, dass selbst der Himmel es mit den Männern hält. Blasberg sieht in dem Rat des Himmels, ein Jäger, ein Soldat oder wenigstens ein Mann ohne weitere Attribute zu sein, „eine strenge patriarchale Logik“. Das lyrische Ich spreche davon jedoch im Konjunktiv und lasse damit erkennen, dass es sich diese Ordnung nicht zu eigen macht. Kaspar H. Spinner hält die Wortwahl jener Verse für „sprachlich etwas irritierend“: „Sind ‚Ein Stück nur von einem Soldaten‘ und ‚doch mindestens nur‘ unbeholfene, umständliche Formulierungen? Oder kann man das interpretieren als sprachlichen Ausdruck der gebrochenen Identität, der eine gefällige Sprache nicht angemessen wäre?“ Klüger zufolge befindet sich die Sprecherin am Ende des Gedichts in einer aussichtslosen Lage: „Die Erwachsene sieht sich zum Kind erniedrigt, fein und klar, nur Männer werden mündig.“ Das Begehren nach aktiver Teilhabe bei gleichzeitiger Ausgrenzung kommt auch im Bild des Turmes zum Ausdruck: Von einem Turm aus hat man einen weiten Blick in die Welt – und ist dennoch von ihr ausgeschlossen. Die Beschränkung der geistigen und räumlichen Bewegungsfreiheit hat Droste schon als Neunzehnjährige im Gedicht Unruhe (1816) thematisiert. Die letzte Strophe lautet:Fesseln will man uns am eignen Herde! Unsre Sehnsucht nennt man Wahn und Traum Und das Herz, dies kleine Klümpchen Erde Hat doch für die ganze Schöpfung Raum! Die Konfrontation weiblicher Figuren mit den eng definierten gesellschaftlichen Rollenerwartungen führt in anderen Texten Drostes zu einer Aufspaltung des weiblichen Ichs in zwei Figuren: Das Fräulein von Rodenschild begegnet sich selbst in Gestalt eines Geistes. In der Ballade Die Schwestern erzählt Droste die seelischen Nöte einer Frau anhand zweier Figuren und gestaltet damit die „Tragödie der verbotenen Ganzheit der weiblichen Existenz“ (Peter von Matt). Auch die Sprecherin in Am Turme vereint gegensätzliche Charaktermerkmale in sich. Ihre Verfassung am Ende des Gedichts beurteilen die Interpreten unterschiedlich: Manche sehen Resignation, Fügsamkeit und Betrübnis. Gössmann hielt das Flatternlassen des offenen Haares im Verborgenen aber gleichwohl für eine – wenn auch geringe – Grenzüberschreitung, auf die „Annette“ nicht habe verzichten können. Psychologisch wurde dieser Akt auch als „Verdrängung der Wünsche ins Heimliche“ gedeutet. Grywatschs Interpretation aus dem Jahr 2022 fällt positiver aus: Er erkennt darin „die Affirmation des künstlerischen Daseins. In der Literatur nämlich, auf dem Weg der Poesie, gelingt es, eine Freiheit zu erlangen, die dem Ich im realen Leben versagt ist.“ Räumlich Einige Interpreten sahen im Gedicht eine zeitliche Abfolge von Ereignissen, die mit dem Aufenthalt der Sprecherin auf dem stürmischen Balkon einsetzt, von wo aus sie danach Beobachtungen der Nähe und Ferne sowie ihre sehnlichen Wünsche formuliert, bevor sie schließlich sitzend die Haare löst. In dieser Lesart erscheint Am Turme als ein Erlebnisgedicht mit einem „sich in drei Phasen abspielenden Resignationsprozess“. Man ging davon aus, dass die Frau auf dem Balkon im Blick auf das schäumende Meer verharrt und sich dort nichts dringlicher wünscht als eine Veränderung der Verhältnisse. In dieser Vorstellung wird mit fortschreitender Zeit die „Mänade“ zum „artigen Kinde“. Eine andere Sichtweise ergibt sich, wenn man den Raum im Text untersucht und den Ort der darin handelnden Sprecherin. Blasberg lenkt den Blick auf das Wort „Nun“ (V. 29), das als Zeitadverb den Moment markieren (‚jetzt‘), aber auch einen Gegensatz ausdrücken könne (‚ich aber‘). In dieser Lesart tritt die Sprecherin durch das Lösen der Haare erstmals wirklich handelnd in Erscheinung. Bis dahin konnte von einer eigenen Aktion der Figur keine Rede sein, weil sie lediglich stehend und sehend Wahrnehmungen schilderte und Wünschen Ausdruck verlieh. Daher ist es auch möglich, die Verse 1–28 als eine „Erlebnisfiktion“, also eine Imagination der Sprecherin, zu verstehen und „das mänadische ‚Ich‘ als ihr virtuelles alter ego.“ So gedeutet, beginnt das Gedicht mit einem Tagtraum, der erst ab V. 29 als solcher erkennbar wird. Dazu passt, dass zahlreiche andere Gedichte der 1840er Jahre solche vor dem inneren Auge entstehenden Bilder enthalten, oft nachdem der reale Ort des lyrischen Ichs umschrieben wurde. Der „Wahrnehmungswechsel nach innen“ wird in der Regel ausgestaltet. So heißt es in Die Verbannten: Mein äußres Auge sank, Mein innres ward erschlossen: Wie wild die Klippenbank! Wie grau die Moose sprossen! Eine vergleichbare Markierung des Übergangs zwischen äußerem und innerem Erleben fehlt in Am Turme. Dass dort in den ersten drei Strophen traumartige Eindrücke beschrieben werden, legt aber das Phantastische der Schilderungen nahe: Der Sturm ist ein wilder Geselle, die Wellen werden zu einer Meute großer Hunde, das Walross soll durch die Korallen gejagt werden. In der Phantasie existieren keinerlei Beschränkungen; der Raum der Poesie ist grenzenlos. Gleichzeitig wird eine Grenze im Gedicht genau benannt: Die Sprecherin möchte „zwei Schritte vom Rand / Auf Leben und Tod dann ringen!“ In Drostes Lyrik kommen sogenannte „Grenze-Wörter“ häufig vor – neben Rand zum Beispiel auch Bord, Saum, Horizont, Haag, Rain, Scheide, Schranke –, was Bruna Bianchi zu der Vermutung veranlasst, dass „die Drosteschen Gedichte in ihrer Gesamtheit mit einer Grenze und deren problematischen Überschreitung zu tun haben.“ Dabei entstehe vielfach eine Spannung zwischen dem Wunsch, Grenzen zu überwinden, und dem Bedürfnis, in festgelegten Grenzen zu leben. Voraussetzung für das Verlangen nach einer Grenzüberschreitung sei zu sehen, was sich hinter der Grenze befindet: Dem Ich muss „der fernste Horizont seines Lebens wenigstens sichtbar werden: das Subjekt dieser Gedichte hat deshalb auf dem Turm seinen notwendigen Ort“, stellt Bianchi fest und erkennt im Werk der Schriftstellerin eine Gruppe verwandter „Turm-Gedichte“. Neben Am Turme zählt sie Unruhe, Mondesaufgang, Spätes Erwachen, Lebt wohl, An Philippa, Die Bank, Die Schenke am See und andere dazu. Der Turm versinnbildliche den Zwiespalt zwischen einem Leben in gesicherten Bahnen und einem Leben ohne feste Schranken und werde so zu einem „spezifische[n] Ort der Poesie“. In einer solchen Mittelposition befand sich Droste zeitlebens selbst: Sie nahm weder die konventionelle Rolle einer Ehefrau ein noch wurde sie unabhängige Berufsschriftstellerin. Nachwirkung Anthologien In Anthologien deutscher Gedichte ist Am Turme besonders häufig vertreten. Nachgewiesen hat dies nach Hans Braam auch die Literaturwissenschaftlerin Anna Bers. Ihr Ziel war unter anderem herauszufinden, welche Gedichte von Frauen dem literarischen Kanon zugerechnet werden. Dazu wertete sie 13 einschlägige Textsammlungen des 20. und 21. Jahrhunderts aus, die den Anspruch erheben, einen Überblick über die Dichtkunst in deutscher Sprache zu bieten. Am Turme ist dort 7 Mal enthalten. Ebenso oft sind Drostes Durchwachte Nacht und Das Spiegelbild zu finden. Im Grase ist mit 8 Mal das am häufigsten abgedruckte Droste-Gedicht. Noch häufiger wurden nur Ingeborg Bachmanns Die gestundete Zeit (9 Mal) und Else Lasker-Schülers Weltende (10 Mal) ausgewählt. Damit zählt Am Turme zu den lediglich 11 Texten von Autorinnen, die in 7 oder mehr Sammlungen aufgenommen wurden, weitere 70 kommen in 3 bis 6 Zusammenstellungen vor, dabei insgesamt „nur ein einziges agitatorisches“, und zwar Am Turme. Betrachtet man ausschließlich Anthologien mit Gedichten von Frauen, nimmt Am Turme abermals eine Sonderstellung ein: 5 von 9 solcher Textsammlungen enthalten dieses Gedicht. Zusammen mit Ricarda Huchs Uralter Worte kundig kommt die Nacht ist es damit der Text mit den meisten Fundstellen. Zugleich ist es der einzige Droste-Text unter den 11 Gedichten, die in die ‚Frauen-Anthologien‘ am häufigsten aufgenommen wurden. Die dort vorhandenen emanzipatorischen Gedichte lassen sich in den allgemeinen Textsammlungen nicht finden – mit einer Ausnahme: Am Turme. Die untersuchte Auswahl der insgesamt 22 Gedichtsammlungen aus dem 20. und 21. Jahrhundert besagt: Für 93 Gedichte von Schriftstellerinnen finden sich jeweils mindestens 3 Drucknachweise. Diese Texte bezeichnet Bers als kanonisch. In der nach Anzahl der Fundstellen sortierten Rangliste belegt Erklär mir, Liebe von Bachmann den 1. Platz, Am Turme folgt auf Platz 2. Literatur Drostes Gedichte entfalteten bereits im 19. Jahrhundert eine Wirkung im Werk anderer Schriftstellerinnen. Die Lyrikerin und Journalistin Betty Paoli machte Drostes Texte in Österreich bekannt und ermöglichte dort eine breitere Rezeption. Die österreichische Dichterin und Übersetzerin Josephine von Knorr war – wie Droste – adlig und katholisch und schrieb wie sie in traditionellen Vers- und Strophenformen. In ihren Gedichten spiegelt sich ebenfalls die Spannung von „Sich-Bescheiden und Entgrenzungsträumen“. In einem Gedicht von 1861 heißt es: O wär’ ich Mann! Was soll ich hier beginnen, Ich bleiches Mädchen mit dem ernsten Geist, Das man mit seinem Wollen, Streben, Sinnen Stets unbarmherzig an Beschränkung weis’t? […] Aufs Meer hinaus, wo weiß die Segel schwellen, Zum Morgenland, dort wo der Halbmond glänzt! Den Wolken nach, den Schwalben nach, den schnellen, Zu Griecheninseln, von der Fluth begrenzt! Die Literaturwissenschaftlerin Ulrike Tanzer erkennt in dem Gedicht intertextuelle Bezüge zu Am Turme. Neben dem Tatendrang des lyrischen Ichs sind zum Beispiel die Motive Meer, Seefahrt und Vogelflug enthalten. „O wär’ ich Mann“ greift den dortigen Vers 27 fast wortgleich auf und ist hier, anders als bei Droste, als Wunsch zu verstehen, das Leben eines Mannes zu führen. Das Gedicht Wär’ ich ein Mann! der österreichischen Schriftstellerin Marie von Najmájer erschien 1868. Darin stellte sie männliche und weibliche Eigenschaften einander gegenüber und kam zu einem gegenteiligen Schluss. Die erste und die letzte Strophe lauten: Wie wollt’ ich frei nach meiner Ueberzeugung handeln, Und unerschüttert die gerade Bahn, Die selbstgeschaff’ne, bis zum hohen Ziele wandeln, Mit Kraft und edlem Muth, wär ich ein Mann! […] O nein! mein Sinn müßt’ ändern sich, mein Herz erkalten, Mein Leben würd’ sich hundertfach entzwei’n, Mein ganzes Fühlen würde anders sich gestalten – So will ich lieber ganz ein Mädchen sein! Im Jahr 2016 eröffnete die Lyrikerin Ulrike Almut Sandig ihren Gedichtband ich bin ein Feld voller Raps verstecke die Rehe und leuchte wie dreizehn Ölgemälde übereinandergelegt mit einem Gedicht, das zahlreiche Bezugnahmen auf Am Turme aufweist. Für den Band bekam Sandig 2018 den Horst Bingel-Preis für Literatur zuerkannt. In der Laudatio lobte Heike Bartel Sandigs innovativen Umgang mit dem bekannten Droste-Gedicht: „Sie nimmt es auf in ihre eigene Sprache und nimmt es mit in eine ganz andere Welt.“ Sandig löse sich in ihrem Text von festgefügten Rollenbildern und gestalte darin verschiedene Figuren und ihre Blickwinkel. Das verhindere die Zuschreibung eindeutiger Identitäten. Gerade „durch das Übereinanderlegen ganz verschiedener Perspektiven“ gelinge die „Teilhabe an der Welt“. […] ich bin ein Fant, der spinnerte Wind, das himmlische Kind, und drehe mich um einen Turm mit hohem Balkone, auf dem eine Frau steht und still und heimlich ihr Haar löst aber nein, diese Frau bin ich nicht, bin ich doch will ich nie wieder sein. meine Freunde, verstehtSandig trug das Gedicht im November 2016 unter Begleitung indischer Musiker auf dem Festival „Poets Translating Poets – Versschmuggel mit Südasien“ in Mumbai vor. Zu dem Projekt des Goethe-Instituts gehörte auch die Übersetzung des Textes in Hindi. Gedenken Das deutsche Bundesfinanzministerium gab anlässlich des 225. Geburtstages Droste-Hülshoffs im Jahr 2022 eine Gedenkmarke und eine Gedenkmünze heraus. Beide nehmen Bezug auf das Gedicht Am Turme. Die Briefmarke zeigt das Ölgemälde von Johann Joseph Sprick von 1838 und enthält drei der vier letzten Verse des Gedichts. Sie stehen in einem Kontrast zur akkuraten Frisur, die Droste auch auf diesem Porträt trägt. Der Droste-Forscher Jochen Grywatsch hebt zur Gestaltung der Briefmarke hervor: „Die streng gescheitelte und geflochtene Frisur korrespondiert mit der gesellschaftlichen Rolle einer adeligen Frau, von der Zurückhaltung und Pflichterfüllung erwartet wurden. Dagegen steht das ‚flatternde Haar‘ in ihrem Gedicht ‚Am Thurme‘ als Sinnbild für die Freiheit, die sie sich in und mit der Literatur erkämpfen konnte.“ Das Kopfbild auf der Münze orientiert sich an dem Gemälde von Sprick. Die sorgfältig geordneten Haare haben sich hier jedoch teilweise gelöst und wehen im Wind. Damit und mit dem Vogel, der an den schreienden Star erinnert, nimmt die Gedenkmünze ebenfalls Motive aus Am Turme auf. Das Bundesfinanzministerium erläutert: „Ihr vom Wind gelöstes Haar kann als Symbol gesehen werden für ihre Befreiung aus den engen Verhältnissen der Zeit. Der dargestellte Gesichtsausdruck zeigt Entschlossenheit und widerspricht den damals gängigen Erwartungen an Geschlecht und Stand.“ Der Münzrand enthält in Großbuchstaben die Inschrift: „So großes Kleinod, einmal sein statt gelten!“ Dies ist ein Vers aus Drostes Gedicht An ***, das ebenfalls im Meersburger Winter 1841/1842 entstand. Schücking gab später an, Droste habe das Gedicht ihm gewidmet. Dem Vers gehen die Worte voraus: „Das Leben ist so kurz, das Glück so selten“. Literatur Weblinks Droste-Portal – Das lyrische Werk der Literaturkommission des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe WDR-Zeitzeichen: 10. Januar 1797 - Die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff wird geboren. 10. Januar 2022. 2.–4. Minute: Am Turme als feministischer Text (Ab 27. Minute.) Einzelnachweise Werk von Annette von Droste-Hülshoff Literatur (Deutsch) Literatur (19. Jahrhundert) Gedicht Feministische Kunst
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kapellenkreuzweg%20Kloster%20Altstadt
Kapellenkreuzweg Kloster Altstadt
Der Kapellenkreuzweg Kloster Altstadt liegt westlich von Hammelburg im unterfränkischen Landkreis Bad Kissingen und wurde 1733 erbaut. Als Rundweg angelegt führt er mit einer Länge von etwa einem Kilometer um das Kloster Altstadt herum, auf dessen Vorplatz der Ausgangs- und Endpunkt liegt. Der Kreuzweg bildet den Höhepunkt einer jahrzehntelangen Bautätigkeit am Kloster Altstadt. Er erlangte für die damalige Zeit überregionale Bedeutung und diente als Vorbild für weitere Kreuzwege. Geschichte Die Franziskaner (OFM) erhielten 1686 durch Papst Innozenz XI. das Recht, auf den Kreuzwegen Ablässe zu gewähren. Diese waren zunächst auf die Ordensbrüder beschränkt, wurden dann 1726 unter Papst Benedikt XIII. auf alle Gläubigen ausgedehnt. Den Pilgern wurden dadurch nach katholischer Auffassung die zeitlichen Sündenstrafen durch Gebete teilweise oder ganz erlassen. Das führte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer Blütezeit der Kreuzwegandacht. Daraufhin ließen die Brüder des Franziskanerklosters Altstadt, das 1649 durch die thüringische Observantenprovinz St. Elisabeth gegründet wurde, 1733 den Kreuzweg mit 14 Stationen anlegen. Somit entstand in dieser Form ein Unikat auf dem Gebiet des Hochstifts Fulda. Der ehedem schon beliebte Wallfahrtsort zu den 14 Nothelfern erfuhr damit einen nochmaligen Aufschwung. Bis in die 1980er-Jahre wurden in der Fachliteratur die Kapellenkreuzwege der Lombardei als Vorbild für den Kreuzweg des Klosters Altstadt genannt, beispielsweise in Orta San Giulio und Vares. Diese Einschätzung findet sich in der aktuellen Literatur nicht mehr. Mittlerweile gilt der 1710 erstmals in Deutschland errichtete Kapellenkreuzweg am Kloster Kreuzberg in der Rhön als unmittelbares Vorbild. Der Grund für diese Annahme sind die vielen auffälligen Parallelen: Beide Kreuzwege haben mit Ausnahme der Station 12 als Kapellen gestaltete Stationen und bei beiden liegt die zwölfte Station am höchsten Punkt des Kreuzweges. Beide Kreuzwege haben eine aufwändig gestaltete 14. Station in Form einer Grabkapelle. Allerdings gibt es einen Unterschied: Beim Kloster Kreuzberg in der Rhön befindet sich diese in der Nähe des Gipfels und weit weg von der ersten Station. Beim Kloster Altstadt befindet sich die 14. Station direkt vor der Kirche, wenige Meter entfernt von der ersten Station. Somit wird der Rundweg komplettiert, indem der Pilger mit der letzten Station wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Die Errichtung des Altstadt-Kreuzweges wurde 1886 in der Chronik des Klosters Altstadt festgehalten: Pater Adrian Zeininger, der dies 1886 in der Chronik niederschrieb, machte keine Angaben über den Erhaltungszustand des Kreuzweges. Nach der Jahrhundertwende, im Jahr 1909, berichtete der Guardian Zeininger den Denkmalschutzbehörden von dem besorgniserregenden Zustand des Kreuzwegs, woraufhin diese sich damit befassten. Zwei Vertreter des Generalkonservatoriums zur Erhaltung der Kunstdenkmäler in Bayern untersuchten die einzelnen Stationen des Kreuzwegs und stellten deren Renovierungsbedürftigkeit fest. Dabei stellte sich heraus, dass die Darstellungen ursprünglich farbig gefasst waren und erst später mit weißer Farbe überstrichen wurden. Ein weiterer Bericht über den Zustand des Kreuzweges war im Hammelburger Journal am 13. Juli 1909 zu lesen. Der Autor des Artikel vertritt darin die Meinung, die Renovierung des Kreuzweges wäre dringend notwendig. Die Nischen seien teilweise baufällig und die Figuren vielfach verstümmelt. An mehreren Stationen wären die Verschlussgitter lose und die Inschriften unleserlich. Erste Renovierungsphase Dem Kloster stellte sich im Zusammenhang mit der Renovierung – 176 Jahre nach der Erstellung des Kreuzwegs – zum ersten Mal die Frage, wer der Eigentümer von Grund und Boden der Stationen 4 bis 12 ist. Die anderen Stationen stehen auf Klostergrund. Daraufhin wurde anhand des Hammelburger Flurplans ermittelt, dass die Stationen 4 bis 8 und 13 auf Grund und Boden der Stadt Hammelburg stehen. Die Stationen 9 bis 11 befinden sich auf dem Grund des Darlehenskassenvereins Pfaffenhausen. Die Station 12 steht auf einem Grundstück, um das der damalige Besitzer von Saaleck mit dem Vorbesitzer einen Prozess führte. Der Guardian meldete schließlich am 13. April 1909 dem Amtsgericht Hammelburg, dass alle Beteiligten mit der Eintragung der Rechte einverstanden waren. Nach der Regelung der Besitzverhältnisse wurden die Stationen 1 bis 8 mit öffentlichen und privaten Spenden aber auch mit tatkräftiger Mithilfe der Bevölkerung von September 1909 bis Oktober 1915 restauriert. Mit den Renovierungsarbeiten wurde unter Leitung des Würzburger Bildhauers Mathias Kemmer am 10. September 1909 an der achten Station begonnen, da diese am baufälligsten war. Wie später bei den anderen Stationen auch, wurde das Relief vollständig von der alten Bemalung gereinigt und der Naturstein ausgebessert. Eine neue Bemalung wurde allerdings nicht mehr aufgebracht. Beschädigte Teile der Figuren wurden repariert, die Inschriftentafeln teilweise erneuert. Die zweite Renovierung mit den Stationen 9 bis 14 fand etwa 20 Jahre später statt. Die Station 12 wurde 1933 restauriert. Nach dem Abschluss der Renovierungsarbeiten an dieser Station am 23. Juli 1933 wurde das 200-jährige Jubiläum des Kapellenkreuzweges gefeiert. Bei diesem Fest wurden Spendengelder gesammelt, um die Renovierungsmaßnahmen am Kreuzweg fortsetzen zu können. Die Renovierungsphase dauerte bis 6. September 1941, wobei unter anderem fehlende Teile der Inschrift ergänzt und die einzelnen Kapellengitter gestrichen wurden. Die fehlenden Abschnitte der Inschrift konnten teilweise nach dem Studium der Klosterchronik (Annales Conventus Palaeopolitani – Band zwei und drei) ergänzt werden. Außerdem erhielten die Gitter der einzelnen Stationen einen neuen Anstrich. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden verschiedentlich einzelne Stationen renoviert. Zweite Renovierungsphase Von 1993 bis 1996 erfolgte eine vollständige Restaurierung des gesamten Kreuzweges. Dabei wurden die augenfälligen Schäden an den Stationen behoben. Es wurde auch versucht, einem weiteren Verfall des Kreuzweges entgegenzuwirken. Stadtbaumeister Adolf Weibel und sein Mitarbeiter Reiner Baden von der städtischen Bauabteilung übernahmen die Aufsicht über die Bauarbeiten, die durch die Firma Muth aus Ebensfeld ausgeführt wurden. Dr. Annette Faber vom Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege stand beratend zur Seite. Während der Renovierungsphase wurden die einzelnen Stationen mit einem Wetterschutz versehen. Auf Wunsch des Klosters wurde bei dieser Restaurierung versucht, die teilweise unleserlich gewordenen Inschriften der einzelnen Kapellen lesbar zu ergänzen. Bei der Untersuchung stellte sich heraus, dass die Ergänzung bei der ersten Renovierung Anfang des 20. Jahrhunderts in mehreren Fällen fehlerhaft war. Probleme gab es bei den Stationen eins, zwei, zehn und 13. Die Namen der Stifter konnten nicht überall ergänzt werden. Die Restaurierungskosten beliefen sich auf etwa 370.000 Euro und wurden von der Stadt Hammelburg mit Zuschüssen des Landesamtes für Denkmalpflege, der Landesstiftung und der Diözese Würzburg aufgebracht. 1999 wurden neben den 14 Stationen Erläuterungstafeln angebracht, auf denen die von Pfarrer Treutlein verfasste Beschreibung der Stationsmotive und Bibelverse zu lesen sind. Verlauf Der Kreuzweg als Rundweg stellt eine Seltenheit unter den Kreuzwegandachten dar. Diese Form trat vereinzelt erst im Barock auf. Anfang und Ende des Weges ist der Vorplatz der Klosterkirche. Die geschlossene Form war von Anfang an geplant. Auf der einen Seite führt der Alleeweg nach oben und auf der anderen Seite geht es über den Treppenweg zurück zur Klosterkirche. Die 14 Stationen haben ungefähr den gleichen Abstand voneinander. Die Kreuzigungsgruppe steht auf einem Plateau mit Blickachse zur Stadt, zum Kellereischloss und in das Fränkische Saaletal. Der Kapellenkreuzweg beginnt auf dem Kirchenplatz an der Nordseite der Kirche in einer Höhe von 203 Metern über Normalnull und 30 Meter oberhalb der Fränkischen Saale. Die erste und die zweite Kapelle stehen direkt an der Klostermauer. Die dritte Station befindet sich an deren Westseite. Die Stationen vier bis sechs sind teilweise in die Außenseite der nördlichen Klostermauer eingelassen. Der Weg steigt daraufhin langsam an, führt um die Südostecke des Klosters herum und wird steiler. An der Außenseite der Ostmauer folgen die Stationen sieben und acht. Der Weg biegt am Ende der Ostmauer nach Westen ab und führt als Alleeweg mit alten Kastanienbäumen und Linden und den Stationen neun bis elf innerhalb des Waldes stetig bergauf. Am höchsten Punkt des Kreuzweges, in etwa 270 Meter Höhe über Normalnull, keine 100 Meter vom Schloss Saaleck entfernt und etwa 15 Meter unterhalb des Schlosses, steht die zwölfte Station, die Kreuzigung. Dieser erhöhte Ort symbolisiert den Berg Golgotha, auch Kalvarienberg genannt. Anschließend geht es der Westmauer folgend einen Treppenweg hinunter zum Kloster. Am Treppenweg befindet sich die 13. Station. Den Abschluss des Kreuzweges bildet die Grabkapelle am Kirchenplatz innerhalb des Klosters und nur wenige Meter von der ersten Station entfernt. Beschreibung Die einzelnen Kreuzwegstationen sind als Kapellen mit Rundbogennischen gestaltet; die Rahmung bilden Pilaster mit Schmuckbändern aus Akanthusblattgewinden, Blumen und Blüten. Über den Pilastern erstreckt sich ein mit Rollwerk und Akanthus verzierter gesprengter Giebel, eine Giebelform, bei der der Mittelteil ausgespart und nicht geschlossen ist. Die Stationen sind auf Kartuschen am Giebelfeld nummeriert, die Giebel mit Kreuzen bekrönt. Den Kapellennischen sind Balustraden vorangestellt. In dem so entstandenen Raum befindet sich das Figurenrelief auf einem hohen Sockel, darunter eine Sockelkartusche mit Inschrift. Die Stationen waren ursprünglich farbig bemalt und mit Gittern verschlossen. Heute sind nur noch vereinzelt farbliche Reste vorhanden, und nur an den Stationen sieben und acht befinden sich Gitter, während bei den anderen nur noch die Scharnierbänder zu sehen sind. Die Kapellen haben – bis auf Station 12 (Kreuzigung) und 14 (Grabkapelle) – bei einer Breite von etwa zwei Metern eine Höhe von etwa 3,5 Metern. Das Figurenrelief selbst hat eine Breite von etwa 1,2 und eine Höhe von etwa 1,5 Metern. Die Inschriften beschreiben in Lateinisch und Deutsch das Geschehen der jeweiligen Station. Darunter ist der Name des Stifters zu lesen. Die lateinischen Inschriften sind meist als Chronogramm gestaltet. Die Buchstaben I, V, X, L, C, D, und M werden als römische Zahlen hervorgehoben, deren Addition jeweils die Jahreszahl 1733 ergibt, das Jahr, in dem der Kreuzweg errichtet wurde. Sieben Kapellen der 14 Stationen – eins, zwei und sieben bis elf – sind aus grünlichgelbem, die Stationen drei bis sechs und zwölf bis 14, einschließlich der Kreuzigungsgruppe und der Grabkapelle aus rotem Sandstein ausgeführt, wobei letztere mit Verkröpfungen und seitlichen Volutenschnecken schmuckreicher sind. Der Grund dafür liegt darin, dass die Kapellen aus rotem Sandstein an exponierten Stellen, beispielsweise an der Wallfahrtsstraße, stehen. Die Figurenreliefs und die Figuren der Kreuzigung und der Grabkapelle sind ausnahmslos aus grünlichgelbem Sandstein gefertigt. Spuren der ursprünglichen Bemalung sind noch an einigen Relieffiguren vorhanden. 1996 wurde während der Renovierung die Dornenkrone Christi mit einer frischen Vergoldung versehen. Durch die Renovierungsmaßnahmen unterscheidet sich die heutige Erscheinungsweise der Reliefs von der damaligen durchgehend farbigen Ausgestaltung, die die Volksfrömmigkeit ansprechen sollte. Die Grabkapelle, ebenfalls aus rotem Sandstein, ragt als Risalit aus der Klostermauer hervor. In der Fassadengestaltung mit gesprengtem Giebel und Kreuzbekrönung, den Seitenvoluten und der Balustrade wurden bewusst Motive der Stationen übernommen. Die Grabkapelle trägt über dem Eingang ein Giebelfeld mit reichverzierter Kartusche und dem Doppelwappen des Stifterehepaares Hugo Phillipp Eckenbert von Dalberg und Anna Zobel von Giebelstadt. Bei den einzelnen Stationen sind die Szenen des jeweiligen Passionsereignisses figurenreich und mit zahlreichen Details dargestellt. Die Widersacher Christi sind mit fratzenhaften und überspitzten Gesichtern gestaltet. Durch die ehemalige farbige Bemalung der Reliefs sollten Gut und Böse leicht zu unterscheiden sein und die leidende Gestalt Christi zum Mitleid anregen. Künstler Die Künstler des Hammelburger Kreuzweges haben auch die Kreuzwege beim Kloster Volkersberg in der Nähe von Bad Brückenau und in Fulda auf dem Frauenberg und dem Kalvarienberg gestaltet. Es waren der Hammelburger Bildhauer Johann Jakob Faulstieg (1697–1768) und sein Helfer, der Franziskanerbruder Wenzeslaus Marx (1708–1773) aus Leitmeritz. Das Konzept der Kreuzweganlage, die Kapellengestaltung und die Komposition der Figurenreliefs stammen von Faulstieg. Die Geschlossenheit der Komposition, die überzeugende Tiefenstaffelung raumschaffender Figuren verweisen auf ihn. Faulstieg arbeitete mit Figurenüberschneidungen und gestaltete zudem Rückenfiguren. Die Figuren sind meist von kompaktem Körperbau mit eher rundlichen Gesichtern. Die Arbeiten von Wenzeslaus Marx lassen sich an den Figuren mit Überlänge erkennen, wie etwa die Reliefs der Stationen zwei und drei. Die Oberflächengestaltung ist dabei weniger lebhaft, die Gewandbildung verhaltener. Im Umgang mit Figurenüberschneidungen zeigt er sich wesentlich zaghafter als Faulstieg. Die von Wenzeslaus Marx ausgeführten Reliefs wirken etwas steifer. An einigen Stationen haben beide Künstler gemeinsam an den Figurenreliefs gearbeitet. Beispielsweise stammt an der ersten Station die Gruppe um Christus von Wenzeslaus Marx und die Palastarchitektur mit Balustrade und Arkadenbögen von Faulstieg. An der freistehenden Kreuzigungsgruppe waren ebenfalls beide tätig. Es muss allerdings noch ein dritter Künstler an der Ausarbeitung des Kreuzweges beteiligt gewesen sein. Die Figurenreliefs der siebten und achten Station weisen in ihrer Ausführung deutlich auf eine Werkstattarbeit hin, da es den dargestellten Szenen an Prägnanz fehlt. Unklar bleibt der Ausdruck der Figurengesichter. Der Künstler zeigte zudem Schwächen in der anatomisch richtigen Wiedergabe von Körpern. Dies alles spricht für einen Werkstattgesellen von Faulstieg. Die aufwendige Ausgestaltung und die barocke Anlage des Kreuzweges dürfte auf Einfluss von Andrea Gallasini zurückzuführen sein. Von 1725 bis 1733 übernahm der aus Mantua stammende Baumeister im Auftrag des Fürstabts von Fulda, Adolf von Dalberg, die Umgestaltung des Kellereischlosses. Er gestaltete die Gartenseite mit einer Altane. An den Kapellen des Kreuzweges sind diese Arkadenmotive sowie die Balustradengestaltung wiederzufinden. Die Konzeption des Kreuzweges mit einer barocken Blickachse zum Kellereischloss dürfte ebenfalls durch Gallasini angeregt worden sein. Beschreibung der Kapellen, Inschriften und Reliefs An den Stationen wird die jeweilige Szene kurz in lateinischen elegischen Distichen (Übersetzung nachstehend in runden Klammern) und in Deutsch (in lyrischer Form) beschrieben. Teile der Inschrift, die nach dem langen Verfall nicht mehr entzifferbar waren, hat man bei den Restaurierungen auf den Inschrifttafeln freigelassen. Ergänzungsvorschläge des Restaurators sind nachstehend in eckigen Klammern ([…]) eingefügt. Bei jeder Station ist seit 1999 auf einer nebenstehenden Tafel ein Bibelvers zitiert. Station 1 – Jesus wird zum Tode verurteilt Die Kapelle der ersten Station aus grüngelblichem Sandstein ist an der Rückseite in eine Begrenzungsmauer des Kirchplatzes integriert. Eine im Frühjahr 1910 begonnene Restaurierung wurde bis 24. Juli 1910 abgeschlossen. Dabei wurde die Inschrift teilweise falsch ergänzt, wie sich zwischen 1993 und 1996 bei der zweiten Restaurierung herausstellte. Im Gegensatz zu den anderen Kapellen sitzt der Stein mit dem Relief unmittelbar auf dem Stein mit der Inschriftenkartusche auf. Von den ehemaligen Türgittern sind auf der rechten Seite zwei Scharniere erhalten. Das Bildprogramm der ersten Station zeigt die Verurteilung Christi durch Pilatus. Links wird Christus, von drei Schergen umringt, gefesselt und trägt eine Dornenkrone. Rechts auf einem Thron sitzend erhebt Pilatus beide Hände. Dazwischen erscheint ein Knabe, fast verdeckt, mit einem Wassergefäß. Dies und die erhobenen Hände des Pilatus sind ein Hinweis darauf, dass er seine Hände in Unschuld wäscht. Der Reliefgrund der Kapellenausführung zeigt eine reichgegliederte Palastarchitektur mit Balustrade und Arkaden, in der die Geißelung Christi zu sehen ist. Station 2 – Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schultern Die Kapelle der zweiten Station aus grüngelblichem Sandstein ist an der Rückseite mit einer niedrigen Umfassungsmauer des Kirchplatzes verbunden. Zusammen mit der ersten Station wurde ihre erste Restaurierung bis 24. Juli 1910 abgeschlossen. Auch hier ist die Inschrift teilweise fehlerhaft ergänzt. Eine zweite Restaurierung fand zwischen 1993 und 1996 statt. Wie bei der ersten Kapelle sitzt der Stein mit dem Relief unmittelbar auf dem Stein mit der Inschriftenkartusche auf und wieder sind nur auf der rechten Seite zwei Scharniere der ehemaligen Türgitter erhalten. Das Bildprogramm der zweiten Station zeigt, wie Christus das Kreuz auf seine Schultern nimmt. Von den sechs Schergen verhöhnen ihn drei mit geöffneten Mündern. Die zahlreichen Lanzen der Soldaten erscheinen im Hintergrund vor einer Stadtarchitektur. Die in diesem Relief vorkommenden Figuren mit Überlängen weisen auf Arbeiten des Franziskanerbruder Wenzeslaus Marx (1708–1773) aus Leitmeritz hin. Station 3 – Jesus fällt zum ersten Mal unter dem Kreuz Die Kapelle der dritten Station aus rotem Sandstein ist nur mit der niedrigen dahinter verlaufenden Begrenzungsmauer des Klosters verbunden. Durch den Restaurator Kemmer wurde sie zwischen dem 18. Mai und dem 23. Juli 1911 erstmals vollständig restauriert. Eine zweite Restaurierung fand zwischen 1993 und 1996 statt. Der Stein mit dem Relief steht auf einem konvex profilierten Gesimsstein, dessen vorderes Ende von einer geöffneten Muschel beherrscht wird. Zeugnisse ehemaliger Türgittern fehlen. Die Balustrade weist als Besonderheit vier Säulen auf. Das Bildprogramm der dritten Station zeigt, die in der Bibel nicht vorkommende Szene, wie Christus das erste Mal unter dem Kreuz zusammenbricht. Erschöpft und auf die Knie gesunken wird er von den Soldaten genötigt weiterzugehen, indem sie an seinen Haaren und Fesselungsstricken ziehen. Im Hintergrund erhebt sich ein Reiter vor einer Palastarchitektur. Station 4 – Jesus begegnet seiner Mutter Die Kapelle der vierten Station aus rotem Sandstein steht an der Rückseite einer hohen Natursteinmauer und ist mit ihr verbunden. Als sie von Ende Juli bis Anfang August 1912 restauriert wurde, steckte sie fast einen halben Meter im Boden und musste zunächst freigelegt werden. Dabei mussten auch viele beschädigte Details an den Figuren des Reliefs ersetzt werden. Bei der zweiten Restaurierung von 1993 bis 1996 wurde durch die Firma Lömpel aus Arnstein zwischen der Natursteinmauer und der Kapelle eine Vertikalisolierung eingebaut, die eine weitere Durchfeuchtung von hinten verhindert. Der konvexe Gesimsstein unter dem Relief wird von einem floralen Ornament beherrscht. Zeugnisse von ehemaligen Gittertüren finden sich auf beiden Seiten. Das Bildprogramm der vierten Station zeigt die Begegnung Jesu mit seiner Mutter Maria. Maria wendet sich von links weinend ihrem Sohn zu. Jesus ergreift tröstend die Hand seiner Mutter. Über Marias Schulter schaut eine zweite Frauengestalt. Die vier Schergen, mit verschiedenen Kopfbedeckungen, drängen ihn aber bereits vehement zum Weitergehen. Station 5 – Simon von Kyrene hilft Jesus das Kreuz zu tragen Die Kapelle der teilweise in die Klostermauer eingelassenen fünften Station besteht aus rotem Sandstein. Sie wurde vom 21. Mai bis 5. Juli 1915 erstmals grundlegend restauriert. Während der zweiten Restaurierungsphase wurde sie komplett ausgebaut, die Mauernische vertieft und ausgemauert sowie der Sockel mit Schrifttafel und Relief freistehend ohne Kontakt zur Rückwand neu aufgebaut. Das Relief steht auf einem konvex profilierten Stein, dessen vorderes Ende von einem Engelskopf mit zwei Flügeln beherrscht wird. Von den ehemaligen Türgittern zeugt nur auf der rechten Seite noch ein Scharnier. Die Balustrade weist als Besonderheit vier Säulen auf. Das Bildprogramm der fünften Station zeigt, wie Simon von Cyrene hilft, das Kreuz zu tragen. Die Peiniger Christi, mit vier unterschiedlichen Kopfbedeckungen, drängen sich dicht um ihn und treiben ihn voran. Simon von Cyrene, im Relief rechts, hat das untere Ende des Kreuzes ergriffen. Er wird mit Turban und Bart dargestellt. Von der Last nicht begeistert schaut er widerwillig zur Seite. Station 6 – Veronika reicht Jesus das Schweißtuch Die Kapelle der sechsten Station aus rotem Sandstein ist mit der dahinter verlaufenden Klostermauer verbunden. Die erste Restaurierung fand im September und Oktober 1915 statt. Bei der zweiten Restaurierung von 1993 bis 1996 wurde die Kapelle komplett ausgebaut, die Mauernischen entsprechend vertieft und ausgemauert, der Sockel mit Schrifttafel und Relief freistehend ohne Kontakt zur Rückwand neu aufgebaut. Das Relief steht auf einem konvex profiliertem Gesimsstein mit stark stilisiertem muschelartigem Ornament. Zeugnisse von Scharnieren der ehemaligen Gittertüren finden sich auf beiden Seiten. Wie die dritte und fünfte Station weist die Balustrade als Besonderheit vier Säulen auf. Das Bildprogramm der sechsten Station zeigt, wie Christus auf seinem weiteren Weg von Veronika ein Schweißtuch gereicht wird. Diese tritt von rechts in die Szene. Ihr folgt ebenfalls (wie in der vierten Station der Maria) eine Frauengestalt. Christus, das Antlitz auffallend zum Betrachter gewandt, wird von einem Schergen mit einem Stock in den Rücken gestoßen und so zum Weitergehen getrieben. Station 7 – Jesus fällt zum zweiten Mal unter dem Kreuz Die Kapelle der siebten Station aus grüngelblichem Sandstein ist an der Rückseite in die mannshohe Ostmauer aus Naturstein eingebunden. Bei der ersten Renovierung im Oktober 1910 wurde die Stifter-Inschrift ergänzt. Die zweite Renovierung fand von 1993 bis 1996 statt. Das untere Sechstel des Reliefs bildet ein Gesims mit geradem Profil, dessen Vorderseite ein stilisiertes schmetterlingsförmiges Ornament aufweist. Die Gittertüren sind vollständig erhalten. Auf der oberen Kartusche sind die Ablassangaben erhalten. Das Bildprogramm der siebten Station zeigt die ebenfalls nicht biblisch überlieferte Szene, wie Christus ein zweites Mal unter dem Kreuz zusammenbricht. Obwohl er schon stärker gebeugt als beim ersten Mal (vergleiche Station drei) ist, wird die optische Wirkung durch einen vorangestellten Kleinwüchsigen auf der linken Seite und einen auf den langen Kreuzesbalken sich setzenden Soldaten weiter verstärkt. Er wird von den Schergen des Pilatus weiter verspottet, indem sie ihn an den Haaren ziehen und mit Füßen treten. Hinter der Szene erhebt sich wie bei Station drei ein Reiter. Station 8 – Jesus begegnet den weinenden Frauen Die Kapelle der achten Station aus grüngelblichem Sandstein ist, wie die Station sieben, an der Rückseite in die mannshohe Ostmauer aus Naturstein eingebunden. Am Anfang des 20. Jahrhunderts am baufälligsten, wurde diese Station unter Leitung des Würzburger Bildhauers Mathias Kemmer seit dem 10. September 1909 restauriert und vom königlichen Konservator Angermaier am 10. Januar 1910 inspiziert. Eine zweite Restaurierung fand von 1993 bis 1996 statt. Das Relief ist auf einem halb konvex, halb gerade profilierten Gesimsstein aufgesetzt, dessen Vorderseite ein stilisiertes blütenförmiges Ornament aufweist. Wie bei der siebten Station sind die Gittertüren und auf der oberen Kartusche die Ablassangaben erhalten. Das Bildprogramm eines unbekannten dritten Künstlers zeigt in der achten Station, wie Christus die weinenden Frauen am Wegesrand tröstet. Er wendet sich einer von rechts kommenden Frau mit Kind zu, die mit einem Tuch ihre Tränen trocknet. Dazu wendet er sich fast ganz um, während zwei Soldaten ihn auf der linken Seite ziehen. Station 9 – Jesus fällt zum dritten Mal unter dem Kreuz Die Kapelle der neunten Station aus grüngelblichem Sandstein ist völlig freistehend. Bei der Restaurierung vom 21. August bis 6. September 1941 wurden die fehlenden Teile des Reliefs und der Inschrift vom Würzburger Bildhauer Andreas Winzheimer ergänzt. Während der zweiten Restaurierung von 1993 bis 1996 wurde die Station im Erdbereich an drei Seiten freigelegt und durch den Einbau einer Drainage isoliert. Wie bei Station acht ist der Gesimsstein unter dem Relief oben konvex und unten gerade profiliert. An der Stirnseite prangt eine nach außen gewölbte Muschel. Reste der Scharniere der Gittertüren sind nur auf der rechten Seite erhalten. Das Bildprogramm der neunten Station zeigt, wie Christus das dritte Mal unter dem Kreuz stürzt. Diesmal ist er dabei nach rechts gewandt und wird mit Füßen getreten. Einer der verurteilten Schächer, erkennbar am fehlenden Gewand, hilft ihm, das Kreuz wieder aufzunehmen. Im Hintergrund erscheint über der Szene erneut der Reiter vor der Palastarchitektur und einer Kirche. Station 10 – Jesus wird seiner Kleider beraubt Die Kapelle der zehnten Station aus grünlichgelbem Sandstein ist ebenfalls freistehend. In der Restaurierungsphase vom 21. August bis 6. September 1941 wurden fehlende Teile am Relief und der Inschrift ergänzt. Bei der zweiten Restaurierung 1993 bis 1996 wurde festgestellt, dass die Inschriftenkartusche bereits bei der letzten Restaurierung so stark beschädigt gewesen war, dass lediglich die lateinischen Inschriften erneuert werden konnten. Auch diese Station wurde im Erdbereich dreiseitig freigelegt und durch eine Drainage gegen die Umgebung isoliert. Der zur Mitte hin beidseitig getreppt profilierte Gesimsstein wird von einem ovalen Muster beherrscht. Reste von Scharnieren der Gittertüren sind nur auf der rechten Seite erhalten geblieben. Das Bildprogramm der zehnten Station zeigt, wie Christus von den Soldaten entkleidet wird. Von den fünf Soldaten tragen drei einen ähnlichen Helm. Der Soldat vorn rechts trägt am Gürtel ein Schwert in auffallend arabisch-orientalischer Form. In der stark zentrierten Szene zerren sie Jesus, dessen Dornenkrone vergoldet ist, das Gewand vom Leibe. Der Berg Golgatha ist bereits im Hintergrund zu sehen. Station 11 – Jesus wird ans Kreuz geschlagen Die Kapelle der elften Station aus grüngelblichem Sandstein ist als dritte in der Folge freistehend. Sie wurde vom 21. August bis 6. September 1941 restauriert, dabei wurden fehlende Teile der Inschrift und des Reliefs ergänzt. Während der zweiten Restaurierung 1993 bis 1996 wurde sie im Erdbereich an drei Seiten freigelegt und durch Einbau einer Drainage isoliert. Der Gesimsstein zwischen Relief und Inschrift ist zur Mitte hin doppelt getreppt profiliert und wird von einem stark stilisierten Blumenmuster beherrscht. Auf der oberen Kartusche sind Teile der originalen Ablassinschrift und Teile einer späteren Beschriftung „STATIO“ übereinander erkennbar. Als Zeugnisse der Gittertüren sind nur auf der rechten Seite noch Scharnieraufhängungen erhalten. Das Bildprogramm der elften Station zeigt, wie Jesus ans Kreuz genagelt wird. Während rechts ein Soldat einen Nagel durch die Füße treibt, hält links ein Soldat den Schild mit der Aufschrift „SPQR“ in seiner Hand. Drei Soldaten ziehen über dem Kreuz stehend Jesus an Stricken, die um seine Handgelenke gelegt sind. Auf der rechten Seite verspotten zwei Personen mit offenen Mündern und teilweise erhobenen Händen den gerade Gekreuzigten oder klagen ihn an. Der Blick geht im Hintergrund vom Berg Golgotha hinunter zu einer Ansiedlung, die von der architektonischen Gestaltung her an eine fränkische Stadt erinnert. Station 12 – Jesus stirbt am Kreuz Die zentrale Station des Kreuzweges ist die zwölfte, gezeigt wird die Kreuzigung Christi. Diese Station erhebt sich wie bei der Kreuzigung Christi auf Golgatha am höchsten Punkt des Kreuzweges und ist wie eine Schauspielbühne gestaltet. Sie ist als große, freistehende Figurengruppe angelegt und befindet sich direkt zu Füßen von Schloss Saaleck. Die Kreuze stehen auf felsigem Grund, den Berg Golgotha symbolisierend, und sind über eine zweiarmige Treppe mit Balustrade erreichbar. Die Sockelzone trägt die Jahreszahl 1733. Im felsigen Boden sind Pflanzen, Tiere und Skelette dargestellt als Zeichen dafür, dass die ganze Schöpfung vom Erlösungswerk Christi betroffen ist. Das Geschehen aus dem Glauben heraus deuten Spruchbänder und Kartuschen mit Inschriften an. Auf beiden Seiten der Brüstung steht je eine Putte mit Inschriften. In der Mitte erscheint Christus mit Strahlenkrone. Maria kniet betend an seinem Kreuz. Der Apostel Johannes ist rechts dargestellt. Die wehklagende Maria Magdalena erhebt sich links. Das Geschehen wird rechts und links von den beiden gekreuzigten Schächern umrahmt. Christus neigt sich sterbend dem reumütigen Schächer zu. Der andere Mitgekreuzigte wendet sich mit herausgestreckter Zunge vom Erlöser weg. Station 13 – Jesus wird vom Kreuz genommen Die Kapelle der 13. Station aus rotem Sandstein ist freistehend. Vom 21. August bis 6. September 1941 restauriert, ergänzte auch hier der Bildhauer Andreas Winzheimer fehlende Teile der Inschrift und des Reliefs. Obwohl diese Station bereits 1988 vom Westheimer Bildhauer Siegfried Herterich für 30.000 Deutsche Mark, die durch eine Spende der Sparkasse Bad Kissingen gedeckt wurde, restauriert worden war, wurde sie von 1993 bis 1996 erneut renoviert. Trotz der dreifachen Restaurierungsbemühungen im 20. Jahrhundert weist das Relief die stärksten Zerstörungserscheinungen des gesamten Kreuzwegs auf. Der konvex profilierte Gesimsstein unter dem Relief wird durch eine große nach innen gewölbte Muschel beherrscht, in die eine kleine nach außen gewölbte Muschel platziert ist. Zeugnisse der ehemaligen Gittertüren fehlen völlig. Das Bildprogramm der 13. Station zeigt die Kreuzabnahme Christi. Der tote Christus ist in den Schoß seiner schreienden Mutter gesunken. Seine Füße ergreift neben ihr die Rückenfigur des Nikodemus. Maria Magdalena und Johannes erscheinen auf der rechten Seite. Das Kreuz im Hintergrund, an dem zwei Leitern lehnen, ist mit der Inschrift „INRI“ überschrieben. Station 14 – Der Leichnam Jesu wird ins Grab gelegt Die 14. Station ist als geschlossene Grabkapelle ausgeführt, die in die Klostermauer integriert ist. Von Mai bis Oktober 1934 wurde sie zum ersten Mal restauriert und dabei die zerstörte Fassade sowie das fast unkenntliche Wappen wiederhergestellt. Auch das Innere und die Fenster der Grabkapelle wurden renoviert, die Arbeiten wurden bis zum 15. September 1935 abgeschlossen. Eine zweite Restaurierung wurde 1987, die dritte von 1993 bis 1996 durchgeführt. Als einziges der 14 Reliefs ist hier die Farbigkeit erhalten oder doch zumindest restauriert worden. Die Bemalung der Figuren in der Grabkapelle entstammt der Renovierung im Jahr 1935. Das Relief zeigt vor dem Altar den Leichnam Jesu in einem felsigen Grab, von Engeln beweint. Hinter und über dem Altar wird er als Auferstandener gezeigt, gerahmt von einer Strahlenmanderola. Zwei ganze Engelsfiguren sowie mindestens elf Engelsköpfe umrahmen die nach oben blickende Gestalt des Siegers mit der Kreuzfahne. Vorbildwirkung für spätere Kreuzwege Bald nach der Fertigstellung des Kreuzweges Altstadt wurde der Künstler Faulstieg mit der Errichtung weiterer Andachtswege im Hochstift Fulda beauftragt. Die Wirkung des Kapellenkreuzweges reichte bis Würzburg. Dort wurde nach Plänen von Johann Balthasar Neumann ein Stationsweg am Käppele mit einzelnen Kapellen als Pavillons, die an barocke Schlossarchitektur erinnern, angelegt. Darin stehen lebensgroße, freistehende Figuren. Der Kapellenkreuzweg Kloster Altstadt bildete eine Vorstufe für die dortige Gestaltung. Literatur Tilmann Breuer u. a. (Bearb.): Dehio. Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, Bayern I (Franken). München und Berlin 1999, S. 21. Der Kapellenkreuzweg des Franziskanerklosters Altstadt bei Hammelburg: eine Bestandsaufnahme des Kunstwerks. Hrsg. im Auftrag des Franziskanerklosters Altstadt. Reiner Baden (Fotogr.); Hartwig Gerhard (Inschr.). Mit einem einleitenden Beitrag von Astrid Hedrich-Scherpf. Hammelburg 2002. Karen Schaelow-Weber, Benno Fischer (Hrsg.): Hammelburg – Franziskanerkloster Altstadt. Illustrationen von Gregor Peda. Passau 1998 (= Peda-Kunstführer Nummer 412). ISBN 3-89643-068-8. Kloster Altstadt (Hrsg.): Annales Conventus Palaeopolitani. Band zwei und drei, ([ungedrucktes] Manuskript, hier zitiert nach: Der Kapellenkreuzweg des Franziskanerklosters Altstadt bei Hammelburg). Weblinks Einzelnachweise Bauwerk in Hammelburg Baudenkmal in Hammelburg Kalvarienberg Bauensemble des Barock Erbaut in den 1730er Jahren Bauensemble in Bayern Bauensemble in Europa
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https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCdische%20Gemeinde%20Esens
Jüdische Gemeinde Esens
Die jüdische Gemeinde in Esens bestand über einen Zeitraum von rund 300 Jahren von ihren Anfängen im 17. Jahrhundert bis zu ihrem Ende am 31. Juli 1941. Das Harlingerland bestehend aus den alten Ämtern Esens, Stedesdorf und Wittmund war bis zu seiner Vereinigung mit der Grafschaft Ostfriesland im Jahre 1600 ein selbstständiges Territorium. Jüdische Gemeinden gab es hier nur in Wittmund und Esens. Die Jüdische Gemeinde Wittmund scheint die älteste im Harlingerland gewesen zu sein. Jedenfalls mussten die Juden aus Esens ihre Toten anfangs auf dem Judenfriedhof in Wittmund beisetzen. Nach der Vereinigung des Harlingerlandes mit Ostfriesland diente Esens den Grafen und Fürsten von Ostfriesland als zweite Residenz. Auch die Ansiedlung der ersten Juden dürfte in die Zeit nach 1600 fallen. Eine erste urkundliche Erwähnung ist auf das Jahr 1637 datiert. 1827 wurde eine Synagoge errichtet. 1925 stellten Juden in Esens 3,4 Prozent der Bevölkerung. Dies war der vierthöchste prozentuale Anteil in Ostfriesland. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten begann der Exodus der Esenser Juden. Am 9. März 1940 meldeten sich die letzten Bürger jüdischen Glaubens bei der Stadtverwaltung ab. Endgültig endete die Geschichte der Juden in Esens mit der Auflösung der jüdischen Kultusvereinigung e. V. am 31. Juli 1941. Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Esens 17. Jahrhundert bis 1744 Ob es in Esens bereits vor 1600 Juden gab, ist sehr zweifelhaft. Der erste namentlich erwähnte Jude in Esens ist Magnus Phibelmans. Er wird 1637 im Schutzgeldregister der Grafen von Ostfriesland aufgeführt. Phibelmans war aus Emden zugezogen, wo die Schutzgeldzahlungen erheblich höher als in Esens waren. Das Gründungsjahr der jüdischen Gemeinde in Esens ist unbekannt. Wahrscheinlich gehörten die Juden der Stadt zunächst der Gemeinde in Wittmund an. Die Juden aus Esens und Neustadtgödens ließen ihre Toten bis 1702 auf dem jüdischen Friedhof in Wittmund beisetzen und waren verpflichtet, diesen mit zu unterhalten. Im Jahre 1645 lebten in Esens und dem Harlingerland 32 Schutzjuden, die den Kern der jüdischen Gemeinde bildeten. Der von Graf Ulrich II. im Jahre 1645 ausgestellte Generalgeleitsbrief gestattete den Juden Ostfrieslands, nach eigener „jüdischer Ordnung“ zu leben. 1665 kam es zu einem ersten Zwischenfall, als Mitglieder der Krämergilde in die Häuser jüdischer Händler eindrangen und plünderten. 1792 kam es erneut zu Ausschreitungen gegen jüdische Bürger. Anlass dazu war das jüdische Purimfest, in dessen Folge die jüdische Bevölkerung des Judenfeindes Haman mit Rasseln und Lärmen nicht nur in der Synagoge, sondern auch auf dem Nachhauseweg gedachte. Dies wurde von Teilen der christlichen Bevölkerung so interpretiert, dass mit dem Judenfeind indirekt die Christen gemeint seien. Diese frühen Beispiele für Antisemitismus blieben aber die Ausnahme. 1670 ließ die Fürstin Christine Charlotte einen Generalgeleitsbrief verfassen, in dem den Juden die Abhaltung von Gottesdiensten in ihren Wohnungen oder in eigenen Synagogen gestattet wurde. Bis zum Bau der Synagoge im Jahre 1828 fanden diese in einem ab 1686 gemieteten Versammlungsraum statt, der als Synagoge genutzt wurde. Des Weiteren wurde den Juden gestattet, ihre Toten nach jüdischem Brauch zu bestatten. Für die Duldung hatten die Juden je nach wirtschaftlicher Leistungskraft Abgaben an die Grafen und Fürsten von Ostfriesland zu zahlen. Diese betrug bis zu 4 Taler und einem Kapaun pro Familie. In der späten fürstlichen Zeit zeichnete sich eine Erwerbsstruktur ab, wie sie in allen jüdischen Gemeinden Ostfrieslands zu finden war. Der größte Teil der Juden lebte vom Schlachtergewerbe, vom Handel mit Textilien oder vom Hausierhandel, nur einige vom Geld- oder Pfandleihgeschäft. Dies waren Berufe, die den Juden nicht verschlossen waren, da es hierfür in Esens keine Zünfte gab. Eine Besonderheit innerhalb der ostfriesischen Grafschaft stellte der Esenser Jude Magnus Bents dar. Ihm erlaubte die Fürstin Christine Charlotte von Ostfriesland 1677 ausdrücklich eine Betätigung als „Fenstermacher“. Der Beruf des Glasers und Fenstermachers war seitdem in seiner Familie erblich. Dieses einseitige Berufsbild änderte sich während des gesamten Zeitraums des Bestehens der jüdischen Gemeinde kaum. Um 1690 war der jüdische Friedhof in Wittmund voll belegt. Nun sollten die ostfriesischen Schutzjuden auf Grund einer herrschaftlichen Anweisung des Fürsten Christian Eberhard von 1690 eigene Friedhöfe an ihren Wohnorten anlegen. 1701 kaufen die Ältesten der jüdischen Gemeinde von Esens (Moses Benjamin und David Josephs) einen Garten des Bürgers und Chirurgen Johann Adam Müller, doch verhinderte die Esenser Kanzlei die Beisetzung eines wenig später verstorbenen Kindes auf diesem Grundstück. Anfang Februar 1702 kaufte die Esenser Judengemeinde ein anderes kleines Grundstück, das damals „weit außer der Stadt gelegen“ war. Vermutlich handelte es sich dabei um den bis heute am Mühlenweg erhaltenen jüdischen Friedhof. Damit erfolgte die endgültige Loslösung von der jüdischen Gemeinde in Wittmund. 1744 bis 1933 Ab Mitte des 18. Jahrhunderts gab es Planungen, ein eigenes Synagogengebäude zu errichten, und ab 1756 verhandelte die Gemeinde mit dem Magistrat der Stadt. Dieser war bereit, ein Grundstück zu stellen. Infolge des Siebenjährigen Krieges verarmte die jüdische Gemeinde in Esens jedoch derart, dass an den Bau einer Synagoge vorerst nicht mehr zu denken war. Dies gelang erst im Jahr 1827, als an der Burgstraße eine Synagoge errichtet wurde, welche am 15. Februar 1828 feierlich eingerichtet wurde. Die Synagoge wurde bis zu den Novemberpogromen 1938 genutzt und abgesehen von kleinen Reparaturarbeiten, baulich kaum verändert. 1819 erwarben die Esenser Juden ein Gebäude, welches als Schulgebäude und Wohnung für den Lehrer diente. Vorher erfolgte der Unterricht der Kinder in Privaträumen. Im Jahre 1827 wurde dann hinter der Synagoge an der Burgstraße ein neues Schulhaus mit einer Wohnung für den Synagogendiener gebaut. 1858 wurde der Friedhof erweitert, eingefriedet und mit einem Eingangstor versehen. Dieses wurde in den folgenden Jahren während des Winters in der Synagoge aufbewahrt, damit es nicht „verdorben oder durch böse Leute ruiniert werde“. Als 1864 die Opernsängerin Sara Oppenheimer, eine gebürtige Esenserin, in der Lutherischen St.-Magnus-Kirche der Stadt ein Konzert geben sollte, wurde dieser Auftritt durch den Einspruch von Antisemiten verhindert. Das Schulhaus wurde 1899 wegen Baufälligkeit abgebrochen. Die Esenser Juden errichteten an seiner Stelle ein neues Gemeindehaus mit einer Wohnung für den jüdischen Kultusbeamten, einem Schulzimmer und dem Ritualbad. In diesem Gebäude sollten auch die Gemeindeversammlungen stattfinden. Durchschnittlich besuchten etwa 10 bis 15 Kinder mehrerer Jahrgänge die jüdische Volksschule, wo sie in dem einzigen Klassenraum gemeinsam Unterricht erhielten. Das Schulzimmer war von den übrigen Räumen getrennt und durch einen separaten Eingang über den Vorraum zu erreichen. Bis 1870 brachten neue Gesetze schließlich die Bürgerrechte auch für Juden in Ostfriesland. 1872 verließen die Juden in Westaccumersiel die Esenser Gemeinde und wurden Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Dornum. Die letzten (rechtlichen) Diskriminierungen wurden bis zum Ende des Ersten Weltkrieges abgebaut. Nun konnten die Esenser Juden in die Stadträte gewählt oder Mitglied eines Vereins werden. So wurden Juden Mitglieder des örtlichen Schützenvereins und anderer Vereine. 1902 stellten sie den Schützenkönig. Von 1919 bis 1933 waren Juden Mitglieder des Stadtrates. Simon Weinthal wurde noch 1929 für eine zweite Wahlperiode gewählt. 1927 wurde die jüdische Volksschule in Esens wegen zu geringer Schülerzahl geschlossen. Die wenigen jüdischen Kinder besuchten fortan die allgemeine Volksschule oder die Mittelschule in Esens. Ihren Religionsunterricht erhielten sie allerdings weiterhin in diesem Raum, zunächst von Lehrer Hartog aus Wilhelmshaven; später zog der Religionslehrer Abraham Bronkhorst in das jüdische Gemeindehaus ein. Wirtschaftlich begannen einzelne Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu prosperieren. Um 1930 gab es in Esens zwei große jüdische Textilgeschäfte, Julius Frank Wwe. u. Co. und Geschwister Weinthal. 1933 bis 1940 Abgesehen von wenigen Aktionen der Krämergilde gegen jüdische Konkurrenten und seltenen Übergriffen einzelner Personen oder Gruppen gegen die jüdische Gemeinde hatte es in Esens vor 1933 kaum nennenswerte Auseinandersetzungen zwischen Juden und Christen gegeben. Noch bei den Kommunalwahlen vom 12. März 1933 kandidierte der Jude Simon Weintal erneut für einen Sitz im Stadtrat, konnte aber nur die Stimmen der in Esens lebenden Juden auf sich vereinigen, was für eine Wiederwahl nicht ausreichte. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933 begann auch für die Juden in Esens die Zeit der Verfolgung. Unmittelbar nach der Gründung des neuen Bürgervorsteherkollegiums beschloss dieses den Ausschluss der Juden von der Auftragsvergabe für Lieferungen an die Stadt. Zwei Monate nach der Machtergreifung, vier Tage früher als in anderen Teilen des Deutschen Reiches, begann in Ostfriesland der Boykott jüdischer Geschäfte. Am 28. März 1933 postierte sich die SA vor den Geschäften. Die Ostfriesische Tageszeitung schaltete mehrere Sonderbeilagen unter dem Titel: „Die Juden sind unser Unglück“. Mit dem Aufruf „Volksgenossen, kauft nicht in folgenden jüdischen Geschäften“ führte die Zeitung alle noch in den Orten Ostfrieslands bestehenden Geschäfte auf. Am 12. April 1933 berichtete die ostfriesische Tageszeitung aus Esens: „Juden gehören nicht in deutsche Schützenvereine. In der letzten Mitgliederversammlung wurden sämtliche Ausländer einschließlich Juden von der Mitgliedschaft ausgeschlossen.“ Die letzte Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof fand am 31. März 1938 statt. In der Pogromnacht am 10. November 1938 drangen Esenser SA-Männer in die Synagoge ein, zerstörten die Inneneinrichtung und setzten das Gebäude in Brand. Die anwesende Feuerwehr beschränkte ihre Tätigkeit anweisungsgemäß auf den Schutz der Nachbarhäuser. Dabei brannte die Synagoge aus und das Gebäude wurde später zu einer Garage umgebaut. In dieser Funktion ist es bis heute erhalten. Weiterhin wurde das Textilgeschäft „Geschwister Weinthal“ geplündert. Die Juden wurden von der SA fast ausnahmslos im Viehhof am Stadthaus zusammengetrieben und misshandelt. Im Laufe des Vormittags wurden die Frauen, Kinder und nicht arbeitsfähige Männer entlassen, so dass noch 56 Männer zusammen mit etwa 200 anderen jüdischen Ostfriesen nach Oldenburg überführt wurden. Dort wurden sie in einer Kaserne zusammengetrieben. Ungefähr 1.000 jüdische Ostfriesen, Oldenburger und Bremer wurden dann mit einem Zug in das Konzentrationslager Sachsenhausen nördlich von Berlin deportiert, wo sie bis Dezember 1938 oder Anfang 1939 inhaftiert blieben. Nach und nach wurden sie wieder freigelassen. Das benachbarte Gemeindehaus blieb in der Pogromnacht unversehrt. In den Jahren 1938–1940 wurde es zum „Judenhaus“ für mehrere hier verbliebene jüdische Familien, die gezwungen wurden, ihre Häuser und Grundstücke zu verkaufen. Wer von ihnen nicht mehr emigrieren konnte, wurde in den Osten deportiert und dort in Vernichtungslagern ermordet. Das ehemalige jüdische Gemeindehaus wurde nach 1940 an einen Privatmann verkauft und weiterhin als Wohnhaus genutzt. Der Friedhof wurde im Jahre 1940 völlig verwüstet. Die meisten Grabsteine wurden zerschlagen und bei Ausbesserungsarbeiten am Mühlenweg zur Auffüllung von Schlaglöchern verwendet. Exodus, Vertreibung und Ermordung Die jüdische Gemeinde war nun nicht mehr eine Körperschaft öffentlichen Rechts, sondern wurde im November 1939 als jüdische Kultusvereinigung e. V. in das Vereinsregister beim Amtsgericht Esens eingetragen. Auf Veranlassung ostfriesischer Landräte und des Magistrats der Stadt Emden erließ die Gestapo-Leitstelle Wilhelmshaven Ende Januar 1940 eine Weisung, wonach Juden Ostfriesland bis zum 1. April 1940 verlassen sollten. Am 9. März 1940 meldeten sich die letzten jüdischen Bewohner von Esens bei der Stadtverwaltung ab, worauf Esens für „judenfrei“ erklärt wurde. Am 31. Juli 1941 wurde die jüdische Kultusvereinigung e. V. aufgelöst und die über 300-jährige Geschichte der jüdischen Gemeinde endgültig beendet. Mindestens 40 der 139 zwischen 1933 und Frühjahr 1944 ständig oder vorübergehend in Esens lebenden Juden sind im Holocaust umgekommen. 56 emigrierten ins Ausland, vor allem in die USA, nach Argentinien und Israel. Nachkriegszeit Im Jahre 1949 wurden die Hauptverantwortlichen angeklagt, die sich im November 1938 in Esens bei den Pogromen hervorgetan hatten. Der Prozess fand im Gasthof „Zum Schwarzen Bären“ statt. Das Gericht verhängte Freiheitsstrafen zwischen sechs Wochen und einem Jahr. 1985 kaufte die Stadt Esens das ehemalige jüdische Schulhaus, um es nach einem seit langem bestehenden Bebauungsplan abzureißen und an seiner Stelle Parkplätze anzulegen. Durch eine Privatinitiative des Vereins Ökumenischer Arbeitskreis Juden und Christen in Esens e. V. gelang es, das Haus zu retten und in ihm eine Gedenkstätte und Ausstellung zur neueren Geschichte der Esenser Juden aufzubauen. Im Zuge der Herrichtung des Hauses wurde bei Restaurierungsarbeiten die vollständig erhaltene Mikwe der jüdischen Gemeinde entdeckt. Am 29. August 1990 wurde die Gedenkstätte dann als August-Gottschalk-Haus der Öffentlichkeit übergeben. Gemeindeentwicklung Gedenkstätten Gedenkstein an der Stelle des alten Friedhofes am Mühlenweg. Gedenkstein für die niedergebrannte Synagoge in der Burgstraße. Gedenkstätte mit Dauerausstellung zur Geschichte der ostfriesischen Juden im August-Gottschalk-Haus, dem ehemaligen jüdischen Gemeindehaus. Die Stadt Esens hat zwei Straßen nach ehemaligen jüdischen Familien und Persönlichkeiten benannt, die Weinthalslohne und die Siegfried-Herz-Lohne. Siehe auch Geschichte der Juden in Ostfriesland Ostfriesland zur Zeit des Nationalsozialismus Literatur Gerd Rokahr: Die Juden in Esens. Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Esens von den Anfängen im 17. Jahrhundert bis zu ihrem Ende in nationalsozialistischer Zeit. Aurich 1987. (2. Auflage. 1994, ISBN 3-925365-76-1) Herbert Reyer, Martin Tielke (Hrsg.): Frisia Judaica. Beiträge zur Geschichte der Juden in Ostfriesland. Aurich 1988, ISBN 3-925365-40-0. Das Ende der Juden in Ostfriesland. Katalog zur Ausstellung der Ostfriesischen Landschaft aus Anlaß des 50. Jahrestages der Kristallnacht. Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 1988, ISBN 3-925365-41-9. Gerd Rokahr: Esens. In: Herbert Obenaus (Hrsg. in Zusammenarbeit mit David Bankier und Daniel Fraenkel): Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen. Band 1 und 2, Göttingen 2005, ISBN 3-89244-753-5, S. 569–580. Weblinks Reise ins jüdische Ostfriesland, Herausgeberin: Ostfriesische Landschaft – Kulturagentur, Aurich 2013; S. 19–21. Einzelnachweise Esens Organisation (Esens) Gemeinde Esens Religion (Esens)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Volksstaat%20W%C3%BCrttemberg
Volksstaat Württemberg
Der freie Volksstaat Württemberg war ein Land des Deutschen Reiches während der Weimarer Republik. Am Ende des Ersten Weltkriegs wurde durch die – in Württemberg unblutige – Novemberrevolution aus dem Königreich Württemberg ein Volksstaat. Die Grenzen blieben dabei unverändert, ebenso die Landesverwaltung. Württemberg war laut der neuen Verfassung von 1919, welche diejenige des Königreichs von 1819 ersetzte, weiterhin ein Gliedstaat des Deutschen Reiches und besaß nun die Staatsform einer demokratischen Republik, was im Verfassungstext mit den Worten freier Volksstaat umschrieben wurde. Die politische Entwicklung des Landes in den turbulenten Weimarer Jahren war geprägt von Kontinuität und Stabilität. Die drei Legislaturperioden des württembergischen Landtages von 1920 bis 1932 erreichten anders als der Reichstag jeweils die von der Verfassung vorgesehene Dauer von vier Jahren. Die Sozialdemokraten verloren im Unterschied zum Nachbarland Baden früh ihren Einfluss auf die Regierungspolitik. Von 1924 bis 1933 regierte in Stuttgart eine konservativ geprägte Koalition. Die wirtschaftliche Entwicklung Württembergs verlief in den 1920er Jahren trotz der Krisen günstiger als in den anderen deutschen Ländern. Die Landeshauptstadt Stuttgart war ein aufstrebendes kulturelles und wirtschaftliches Zentrum. Durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Jahr 1933 wurde in Württemberg die Demokratie beseitigt und die verfassungsmäßige Ordnung des Landes aufgehoben. Die Verfassung Württembergs als freier Volksstaat dauerte somit lediglich von 1919 bis 1933. Die staatliche Kontinuität des Landes endete im Jahr 1945. Die danach gebildeten Länder Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern gingen 1952 im heutigen Bundesland Baden-Württemberg auf. Geografie Das Staatsgebiet Württembergs war ein Teil des Deutschen Reichs. Die Gesamtfläche betrug 19.508 km². Die Außengrenze hatte eine Gesamtlänge von 1800 Kilometern mit einer Vielzahl territorialer Besonderheiten. Im Osten grenzte Württemberg an den Freistaat Bayern, im Norden und Westen an die Republik Baden und im Süden an die Hohenzollernschen Lande, die zum Freistaat Preußen gehörten, sowie an den Bodensee. Durch die hessische Exklave Wimpfen besaß Württemberg auch eine gemeinsame Grenze mit dem Volksstaat Hessen. Die geografischen Gegebenheiten des Volksstaats Württemberg waren ansonsten dieselben wie zu den Zeiten des Königreichs und werden dort im Kapitel Geografie (Königreich Württemberg) näher beschrieben. Geschichte Entstehung Der Volksstaat Württemberg entstand am Ende des Ersten Weltkriegs durch die Beseitigung der bestehenden Konstitution des Königreichs Württemberg. Zwar wurde dabei die staatliche Kontinuität des Landes nicht unterbrochen, aber einige der bisherigen Selbstverwaltungsrechte gingen in der Folge an das Deutsche Reich über. Vertreter der Württembergischen Volkspartei dachten bereits Ende der 1880er Jahre über „Die Ablösung der Krone“ nach, wie ein Titel im Beobachter, der Zeitung der Volkspartei, überschrieben war. Der Autor dieses Artikels war Karl Mayer. 1907 vertrat Conrad Haußmann erneut den Gedanken einer württembergischen Republik, fand aber in seiner Partei keine große Zustimmung. Selbst die württembergischen Sozialdemokraten waren in dieser Frage nicht so entschieden, wie zu erwarten gewesen war. In der Stuttgarter SPD-Parteizeitung Schwäbische Tagwacht Nummer 160 vom 13. Juli 1906 wurde unter der Überschrift „Demokratie oder Monarchie“ ausgeführt, dass man sich anstelle einer Republik in Württemberg auch eine parlamentarische Monarchie gut vorstellen könne. Diese wurde jedoch auch im liberalen Württemberg bis zum November 1918 keine Wirklichkeit. Die Vorgeschichte der württembergischen Revolution Nach über vier Jahren Krieg herrschten in Deutschland große Unzufriedenheit und Verbitterung in weiten Teilen der Bevölkerung, insbesondere seit die Oberste Heeresleitung Ende September 1918 einräumen musste, dass der Krieg verloren war. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Öffentlichkeit stets ein für die Mittelmächte siegreicher Ausgang des Weltkriegs in Aussicht gestellt worden. Als klar wurde, dass vier Jahre Entbehrungen, Not und Leid vergeblich gewesen waren, ergriff auch die Württemberger eine deutlich negative Grundstimmung. Am 26. Oktober 1918 versammelte sich etwa die Hälfte der 8000 Arbeiter in der Rüstungsindustrie um Friedrichshafen auf dem dortigen Marktplatz, um für den Frieden zu demonstrieren. In Stuttgart kam es am 30. Oktober 1918 zu einer von der USPD veranstalteten Kundgebung, bei der der Reichstagsabgeordnete Ewald Vogtherr und der Stuttgarter Spartakistenführer Fritz Rück vor 5000 Zuhörern redeten. Danach wurde ein Manifest des Spartakusbunds verlesen, in dem die Auflösung des Reichstags und aller Landtage gefordert wurde. An deren Stelle sollte ein Volksparlament aus Soldaten, Arbeitern und Bauern treten. Der Kundgebung folgte ein Demonstrationszug, dem sich jedoch nur 2000 Zuhörer anschlossen. Am 3. November versammelten sich über 3000 Menschen auf dem Cannstatter Wasen in Erwartung einer Rede Karl Liebknechts. Die Ankündigung erwies sich für die Wartenden als enttäuschende Falschmeldung, da sich Liebknecht nicht in Stuttgart aufhielt. Am 4. November 1918 gab es auf Initiative der Spartakisten eine Großdemonstration in Stuttgart, bei der über 10.000 Arbeiter und Arbeiterinnen durch die Innenstadt zogen und eine Ansprache von Fritz Rück auf dem Schloßplatz hörten, in welcher die Abdankung des Kaisers Wilhelm II. und auch von Württembergs König Wilhelm gefordert wurde. An diesem Tag bildete sich in Stuttgart ein Arbeiter- und Soldatenrat. Dessen Organ war ab 5. November das Mitteilungsblatt Die Rote Fahne. Während es in Stuttgart bis zum 9. November wieder ruhig blieb, kam es in Friedrichshafen am 5. und 6. November zu einem Generalstreik. Ein Sprecher der USPD forderte vor 4000 Zuhörern einen sofortigen Waffenstillstand. Am 5. November wurde auch in Friedrichshafen ein Arbeiter- und Soldatenrat gebildet. Infolge dieser Ereignisse trat die bisherige württembergische Regierung unter dem nationalliberalen Ministerpräsidenten Karl von Weizsäcker am 6. November 1918 zurück, um einer parlamentarischen Regierung Platz zu machen. Anordnung des Königs Das neue königliche Staatsministerium unter dem Demokratisch-Liberalen Theodor Liesching ordnete am 9. November 1918 im Namen König Wilhelms II. eine konstituierende Landesversammlung an, die nach allgemeiner, gleicher, direkter und geheimer Wahl durch alle württembergischen Staatsangehörigen, die das 24. Lebensjahr vollendet hatten, gewählt werden sollte. Die Aufgabe der Versammlung war, eine Verfassung auf demokratischer Grundlage auszuarbeiten. Auf diese Weise sollte über die künftige Regierungsform Württembergs entschieden werden. In der Anordnung heißt es durch den König, der beim Volke sehr beliebt gewesen war, „... daß seine Person niemals ein Hindernis einer von der Mehrheit des Volkes geforderten Entwicklung sein wird, wie er auch bisher seine Aufgabe einzig darin erblickt hat, dem Wohl und den Wünschen seines Volkes zu dienen.“ Diese Ankündigung, wohl unter dem Eindruck der bereits am 7. November in München, Braunschweig und anderen deutschen Großstädten ausgebrochenen Revolution entstanden, sollte einer Revolution in Stuttgart vorbeugen. Die Anordnung war am Tag der Veröffentlichung bereits Makulatur, denn an diesem 9. November kam es in Stuttgart unter dem Eindruck der Nachrichten aus Berlin am Nachmittag ebenfalls zur Revolution. Der Volksstaat Württemberg wurde gebildet. Die Revolution am 9. November 1918 in Stuttgart und ihre Folgen Am Vormittag des 9. November formierte sich in Stuttgart eine von MSPD und USPD getragene Großdemonstration. Neben anderen sprach Wilhelm Keil (MSPD) am Vormittag auf dem Schloßplatz vor fast 100.000 Zuhörern und kündigte eine „Soziale Republik“ an. Die Spartakisten waren am 9. November in einer geschwächten Lage, da deren Führer Fritz Rück und August Thalheimer am Abend des 6. November in Ulm verhaftet worden waren, als sich diese auf dem Weg von Stuttgart nach Friedrichshafen befanden. Sie kamen erst am späten Abend des 9. November wieder frei. Einige Revolutionäre drangen noch am Vormittag gegen den Willen der Demonstrationsleitung in den Wohnsitz des Königs, das Wilhelmspalais, ein und hissten an Stelle der königlichen Hausstandarte die rote Fahne auf dem Gebäude. Dabei wurde ein wachhabender Offizier, der sich den Eindringlingen entgegenstellte, niedergeschlagen. Dies blieb Zeitzeugen zufolge die einzige Gewalttat der ansonsten unblutigen Demonstration in Stuttgart. Eine provisorische sozialistische württembergische Regierung aus Mitgliedern der MSPD und USPD wurde am Nachmittag des 9. November 1918 im württembergischen Landtag gebildet, nachdem bekannt geworden war, dass Scheidemann in Berlin die Republik proklamiert hatte. Diese Regierungsbildung war der eigentliche revolutionäre Akt in Württemberg. Der König verließ am Abend sein Palais und wurde nach Tübingen, ins Schloss Bebenhausen, gebracht. Chef der provisorischen Regierung wurde der Mehrheitssozialdemokrat Wilhelm Blos. Der vorsitzende Repräsentant der USPD, Arthur Crispien, trat gegenüber Blos bald ganz in den Hintergrund. Zwei Tage später wurde aus der provisorischen Regierung mit der Aufnahme der bürgerlichen Minister Theodor Liesching (Demokrat) und Johannes Baptist von Kiene (Zentrum), die der letzten Regierung des Königreichs angehört hatten, sowie dem nationalliberalen Abgeordneten Julius Baumann eine Allparteienregierung gebildet. Nachdem die Ereignisse in Stuttgart bekannt geworden waren, entstanden weitere lokale Räte, so zum Beispiel am 9. November in Heilbronn und Ludwigsburg sowie am 11. November in Ulm. In den Arbeiter- und Soldatenräten verloren radikale Elemente früh an Einfluss. So gab es in Württemberg weder bürgerkriegsähnliche Zustände noch eine Räterepublik. Der überwiegende Teil auch der Stuttgarter Arbeiterschaft stand hinter der MSPD. Konsolidierung der provisorischen Landesregierung Am 16. November 1918 entband der Kabinettschef der königlichen Regierung im Auftrage des Königs mit einem Schreiben an die provisorische Regierung alle Staatsdiener von ihrem Diensteid gegenüber dem König. Somit war der Beamtenapparat, der nicht verändert wurde und damit den Fortbestand der Verwaltung sicherte, eine wichtige Stütze der provisorischen Regierung im Kampf gegen die radikalen Kräfte. Die Räte wurden auf Kontrollfunktionen beschränkt, die die Verwaltung nicht ernsthaft zu stören vermochten. Die Regierung Blos erfreute sich innerhalb kurzer Zeit des Vertrauens der Staatsbeamten, Lehrer und Geistlichen. Es gab das geflügelte Wort, dass sich in Württemberg nicht viel geändert habe: „Früher regierte bloß Wilhelm, jetzt Wilhelm Blos.“ In einer Bekanntmachung an das württembergische Volk vom 30. November 1918 legte König Wilhelm II. freiwillig die Krone nieder und dankte allen, die ihm und Württemberg in seiner 27 Jahre währenden Regierungszeit treu gedient hatten. Mit dem Thronverzicht einhergehend, nahm er den Titel eines Herzogs von Württemberg an. Der spätere Ulmer Oberbürgermeister Theodor Pfizer fasste die württembergische Revolution in die folgenden Worte: Am 8. Dezember 1918 wurde die erste Landesversammlung der württembergischen Arbeiterräte abgehalten, an der etwa 120 Delegierte teilnahmen. Der dort gebildete Landesausschuss bestand überwiegend aus Mitgliedern der MSPD. Am 11. Dezember 1918 wurde die Wahlordnung zur verfassungsgebenden württembergischen Landesversammlung mit dem Wahltermin 12. Januar 1919 erlassen. Am 28. Dezember 1918 fand ein Treffen der vier süddeutschen Ministerpräsidenten Wilhelm Blos (Württemberg), Kurt Eisner (Bayern), Anton Geiß (Baden) und Carl Ulrich (Hessen), die alle der SPD bzw. USPD angehörten, in Stuttgart statt. In ihrer Stuttgarter Erklärung bekundeten sie trotz einiger Vorbehalte aus Bayern das Festhalten der süddeutschen Länder am Reich. Erster Putschversuch der Spartakisten im Januar 1919 In den Tagen vor der Wahl der Verfassunggebenden Landesversammlung schlug Wilhelm Blos mit Hilfe der von Leutnant Paul Hahn aufgestellten Sicherheitskräfte einen durch die Ereignisse in Berlin inspirierten Aufstand der Spartakisten in Stuttgart nieder. Die Unruhen dauerten insgesamt vom 4. bis zum 12. Januar 1919. Sie reichten jedoch in Form und Verlauf nicht an die Schwere der Gewalttaten heran, die in anderen Teilen Deutschlands zu beklagen waren. Dennoch gab es auch in Stuttgart beim Einsatz von Schusswaffen Tote und Verletzte. Während dieser Januarunruhen begab sich die Regierung zur Sicherheit in den Turm des halb fertiggestellten Stuttgarter Hauptbahnhofs. Da die USPD den Aufstand der Spartakisten unterstützte, wurden Arthur Crispien und Ulrich Fischer am 10. Januar 1919 aus der Regierung entlassen. Die Verfassunggebende Landesversammlung Am 12. Januar 1919 wurde die Wahl zur Verfassunggebenden Landesversammlung ohne nennenswerte Zwischenfälle durchgeführt und brachte der parlamentarischen Demokratie den Sieg. Die von Blos vertretenen Mehrheitssozialisten erhielten 52, die Demokraten und Nationalliberalen zusammen 38 und das Zentrum 31 Mandate. Die drei Parteigruppierungen der sogenannten Weimarer Koalition, die die Regierung stützten, konnten somit vier Fünftel aller Abgeordneten auf sich vereinigen. Zum Lager der Republikgegner zählte die aus Bauernbund, Weingärtnerbund und Bürgerpartei bestehende monarchistische Rechte mit 25 Mandaten sowie die radikale Linke der USPD mit lediglich vier Mandaten. Unter den 150 Abgeordneten der Landesversammlung waren 13 Frauen. Während dieser bewegten Zeit wurde die Möglichkeit einer Vereinigung der Länder Baden und Württemberg diskutiert. Am 17. Januar 1919 hielt Theodor Heuss einen Vortrag im Rahmen einer Parteiveranstaltung der DDP in Stuttgart, wo er die Vereinigung von Baden und Württemberg vorschlug. Der Vortrag fand ein breites Presse-Echo. Das Thema wurde später auch in der Verfassunggebenden Landesversammlung Württembergs und von badischen und württembergischen Abgeordneten der Nationalversammlung in Weimar besprochen. Diese Gespräche führten zwar zu keinem praktischen Ergebnis, aber in der Presse des Landes wie zum Beispiel im Stuttgarter Neuen Tagblatt oder in der Heilbronner Neckar-Zeitung waren immer wieder Überlegungen zu einer Föderalismusreform zu lesen, bei der es um die Auflösung des übermächtigen Preußen und die Zusammenlegung kleinerer deutscher Länder – insbesondere Badens, Württembergs und der Hohenzollernschen Lande – zu größeren ging. Am 23. Januar 1919 trat die am 12. Januar gewählte Verfassunggebende Landesversammlung erstmals zusammen. Sie bestätigte am 29. Januar 1919 die bisherige provisorische Regierung im Amt und beauftragte Blos als Ministerpräsidenten mit der weiteren Ausübung der Regierungsgeschäfte. Am 14. Februar 1919 hatte sich die provisorische Regierung aufgrund eines Beschlusses der Versammlung in Staatsregierung umbenannt. Am 7. März 1919 wurde der bisherige Ministerpräsident mit 100 von 129 Stimmen zum Staatspräsidenten gewählt. Bald wurde in der Landesversammlung von manchen bürgerlichen Politikern die Auflösung der Räte in Württemberg verlangt, jedoch zunächst ohne Erfolg. Als eines der ersten wichtigen Gesetze kam bereits am 15. März 1919 eine neue Gemeindeordnung. Zweiter Putschversuch der Spartakisten im April 1919 Da die Beamten des Königs in der Verwaltung praktisch unverändert den Ton angaben und demokratische Reformen in diesem Bereich ausblieben, wuchs in der Bevölkerung eine missbilligende Stimmung. Dadurch gewannen die Spartakisten neue Anhänger, aber auch unter den Anhängern der MSPD äußerte sich zunehmender Unwille. Dazu kam die Ermordung des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner (USPD), die für die Spartakisten als zusätzliches Signal wirkte, dass etwas geschehen müsse. Vom Aktionsausschuss des geeinigten Proletariats wurde die Ausrufung eines Generalstreiks beschlossen. Die württembergische Regierung bekämpfte vom 31. März bis 10. April 1919 diesen Generalstreik in Stuttgart und Umgebung gewaltsam durch die Ausrufung des Belagerungszustands. Auf der Wangener Höhe und am Abelsberg hatten sich etwa 400 Spartakisten verschanzt und nahmen die Staatsstraße – die heutige Ulmer Straße in Stuttgart – unter Feuer. Dagegen ging die Regierung mit dem Einsatz von Geschützen vor. Bei den Kämpfen kamen 16 Personen zu Tode, etwa 50 wurden verwundet. Die Spartakisten wurden vom württembergischen Militär aufgerollt und Kriegsgerichten zugeführt. Ein amtlicher Gefechtsbericht wurde herausgegeben. Clara Zetkin kritisierte später in einer Sitzung der Verfassunggebenden Landesversammlung das brutale Vorgehen der Regierung gegen die Spartakisten. Die Regierung stellte nicht nur in Württemberg Ruhe und Ordnung wieder her, sondern schickte im April 1919 auch württembergische Truppen zur Beseitigung der Münchner Räterepublik nach Bayern, wo sie zusammen mit preußischen Verbänden und den dort agierenden Freikorps zum Einsatz kamen. Der württembergische SPD-Landesvorsitzende Friedrich Fischer war gegen die Entsendung württembergischer Truppen nach München, fand jedoch keine Zustimmung für seine Position in der Regierung. Verabschiedung der Verfassung des Volksstaats Württemberg Die neue württembergische Verfassung wurde am 26. April 1919 verabschiedet und trat am 20. Mai 1919 in Kraft. Am 28. April 1919 hielt Reichspräsident Friedrich Ebert eine Rede in Stuttgart, bei der er sein Bekenntnis zum Föderalismus in die Worte kleidete: „Die Vereinheitlichung des Reiches und die Wahrung der Stammeseigenschaften in unseren deutschen Gauen sind an sich keine Gegensätze. Sie lassen sich sehr wohl vereinen.“ Da die württembergische Verfassung in einigen Punkten der Verfassung des Deutschen Reiches, die am 14. August 1919 in Kraft trat, widersprach, musste sie überarbeitet werden. Die Widersprüche entstanden insbesondere durch die Beseitigung der württembergischen Reservatrechte im Militärwesen sowie im Post- und Eisenbahnbetrieb (siehe Abschnitt Staatsaufbau und Verwaltung). Schließlich trat die endgültige Verfassung Württembergs am 25. September 1919 in Kraft, genau einhundert Jahre nach der Verkündigung der ersten Verfassung Württembergs am 25. September 1819. Mit dem Inkrafttreten der Verfassung des Volksstaats wurden die Arbeiter- und Soldatenräte, die die Revolution von 1918 getragen, aber nun ihre politische Bedeutung verloren hatten, auch formal aufgehoben. Am 4. Oktober 1919 wurde Staatspräsident Blos auf die neue Verfassung Württembergs vereidigt. Wilhelm Blos schrieb später über die Entstehung des Volksstaats: Politische Entwicklung in den frühen zwanziger Jahren Stuttgart als Zufluchtsort der Reichsregierung während des Kapp-Putsches Die im Vergleich mit anderen Gebieten des Deutschen Reichs relativ stabilen politischen Verhältnisse Württembergs gestatteten es der Regierung Blos während des Kapp-Putsches, den Reichspräsidenten Friedrich Ebert und die Minister der Reichsregierung vom 15. bis 20. März 1920 in Stuttgart aufzunehmen und ihnen hier einen sicheren Aufenthalt zu verschaffen. General Haas von der 5. Division der Reichswehr in Stuttgart hatte nach anfänglich schwankender Haltung der Reichsregierung und dem Reichstag seine Unterstützung zugesagt. Der kommandierende General Maercker in Dresden, wohin Ebert und die Reichsregierung zunächst geflüchtet waren, hatte diese Zusage nicht gegeben. Am 18. März 1920 tagte die deutsche Nationalversammlung im Stuttgarter Kunstgebäude. Bildung der Minderheitsregierung Hieber (Demokraten und Zentrum) Bei den ersten regulären Landtagswahlen vom 6. Juni 1920 erlitten die Mehrheitssozialdemokraten und die Demokraten jeweils eine deutliche Niederlage. Daraufhin beschloss der Landesvorstand der SPD, der neu zu bildenden Regierung nicht mehr anzugehören, womit Blos und Keil zwar nicht einverstanden waren, sich aber schließlich dem Willen der Partei beugten, die auch in der neuen Reichsregierung nicht mehr vertreten war. Der Demokrat Johannes Hieber, welcher Nachfolger von Wilhelm Blos als württembergischer Staatspräsident wurde, würdigte nach seiner Wahl die Verdienste des Amtsvorgängers bei der Bewältigung der großen Probleme nach dem verlorenen Weltkrieg. Von 1920 bis 1924 bildeten die Demokraten und das Zentrum das Kabinett Hieber. Eigentlich hätte das Zentrum als stärkste Partei im Landtag Anspruch auf das Amt des Staatspräsidenten gehabt. Das Zentrum sah aber davon ab, diesen Anspruch geltend zu machen. Dies wurde damit begründet, dass ein katholischer Staatspräsident der mehrheitlich evangelischen Bevölkerung Württembergs zu diesem Zeitpunkt noch nicht zumutbar erscheine. Der evangelische Kandidat Hieber von der DDP erhielt deshalb den Vortritt. Das Kabinett Hieber wurde zeitweise eine von den Sozialdemokraten tolerierte Minderheitsregierung. Lediglich vom 7. November 1921 bis 2. Juni 1923 war die Weimarer Koalition in Württemberg noch einmal vollständig, da der Sozialdemokrat Wilhelm Keil als Arbeits- und Ernährungsminister der Regierung Hieber mit angehörte. Der Grund für den Eintritt der SPD in die württembergische Regierung lag auch darin, dass mit dem Kabinett Wirth seit Mai 1921 erneut eine Weimarer Koalition auf Reichsebene regierte. Trotz relativer politischer Stabilität in Württemberg hatte diese Regierung mit den gewaltigen Problemen der nachkriegsbedingten Inflation und der 1923 wegen des Ruhrkampfs ausgelösten Hyperinflation zu tun. Als im Sommer 1920 kommunistisch beeinflusste Arbeiter in den Fabriken von Daimler, Bosch und der Maschinenfabrik Esslingen gegen den neu eingeführten Lohnsteuerabzug demonstrierten, ließ die württembergische Regierung diese Betriebe am Morgen des 26. August 1920 von Polizeikräften besetzen. Die radikalen Arbeiterräte reagierten mit dem Aufruf zum Generalstreik. Die Polizei unter Führung des bewährten und regierungstreuen roten Hahns konnte den Generalstreik, unterstützt von vielen Freiwilligen (insbesondere Studenten unter Führung Eberhard Wildermuths), innerhalb von 14 Tagen niederwerfen. Die Regierung verschanzte sich in dieser Krise wieder im Turm des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs. Jahre unter dem Eindruck politischer Attentate Im August 1921 erschütterte der Mord an dem württembergischen Zentrumspolitiker Matthias Erzberger die Öffentlichkeit. Am 9. Juni 1922 kamen Reichskanzler Joseph Wirth und Außenminister Walther Rathenau, der Unterhändler des Vertrags von Rapallo, nach Stuttgart. Rathenau hielt vor geladenen Gästen der Württembergischen Gesellschaft eine Rede und traf sich mit der württembergischen Regierung zu Gesprächen. Zwei Wochen später wurde die Nachricht von seiner Ermordung bekannt. Der Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund wurde mit dem Attentat in Zusammenhang gebracht und 1922 auf Grundlage des Republikschutzgesetzes in den meisten deutschen Ländern verboten, jedoch nicht in Württemberg. Dass in Württemberg keine Verbote gegen völkische und antirepublikanische Organisationen verhängt wurden, lässt sich unter anderem darauf zurückführen, dass das Landespolizeiamt in seinen Berichten für diese Verbände in Württemberg nur eine geringe Anhängerschaft verzeichnete und zu dem Urteil kam, sie seien als durchweg harmlos zu betrachten. Darüber hinaus lehnte es das Staatsministerium aus rechtlichen Überlegungen ab, gegen die in anderen Ländern verbotenen rechtsradikalen Verbände einzuschreiten. Es erging lediglich ein Erlass des Innenministers vom 13. September 1922, in dem die Oberämter dazu aufgefordert wurden, der NSDAP, dem Verband nationalgesinnter Soldaten sowie dem Schutz- und Trutzbund besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Es ist aber den Völkischen und den Nationalsozialisten trotz mancher Aktivitäten im Württemberg der zwanziger Jahre kein größerer Erfolg beschieden gewesen, woran auch die insgesamt elf Besuche Hitlers in Stuttgart von 1920 bis 1932 nichts änderten. Während des Hitlerputsches in München im November 1923 verhielt sich die württembergische Bevölkerung insgesamt ruhig. Die SPD verlässt die Regierung im Mai 1923 Im Oktober 1922 erstarkte die SPD im württembergischen Landtag durch die Wiedervereinigung mit Teilen der USPD. Das größere politische Gewicht ermutigte die Sozialdemokraten, beim Tode des Zentrum-Ministers Eugen Graf im Mai 1923 einen Anspruch auf die Neubesetzung des dadurch frei gewordenen Innenministeriums durch einen SPD-Minister zu erheben. Dies wurde vom Zentrum abgelehnt, weswegen die SPD in die Opposition zurückkehrte. Es war ihr während ihrer Regierungsbeteiligung zudem misslungen, ihre wesentlichen Ziele im Bereich der Sozialpolitik zu verwirklichen. So war zum Beispiel der achtstündige Arbeitstag nicht generell durchzusetzen, ein Ausbau der Gewerbe- und Handelsaufsicht war nicht möglich, und eine Steuerreform zur Aufwertung von Gemeinden mit hoher Industrialisierung wurde von den Koalitionspartnern verhindert. Die Einführung des allgemein verbindlichen achten Schuljahrs war auch nicht erreicht worden. Die Hyperinflation Die Hyperinflation des Jahres 1923, welche die Geldvermögen vernichtete und die laufenden Löhne entwertete, dauerte bis zur Währungsreform, die im November 1923 mit der Einführung der Rentenmark erfolgte. Während die großen Unternehmer und Grundbesitzer aus der Hyperinflation meist noch Kapital schlagen konnten, verelendeten das sparsame urbane Kleinbürgertum und die arbeitende Bevölkerung im Verlauf des Jahres 1923. In Württemberg verlief die Krise insofern glimpflicher, als viele Bewohner neben ihrer Tätigkeit als abhängig Beschäftigte noch Verbindungen zur Landwirtschaft hatten, teils als Nebenerwerbslandwirte und teils durch verwandtschaftliche Beziehungen. Vollerwerbslandwirte waren von der Krise deutlich geringer berührt. Außerdem war die württembergische Wirtschaft insgesamt mittelständischer, weniger in großen Städten zentralisiert und bedingt durch Fahrzeugbau und Elektrotechnik exportorientierter als anderswo im Reich. Das Scheitern der Regierung Hieber Die Minderheitsregierung in Stuttgart scheiterte im Frühjahr 1924 nicht am Widerspruch der sie tolerierenden SPD oder an den gewaltigen innen-, außen- oder wirtschaftspolitischen Fragen, sondern am Versuch einer Verwaltungsreform. Um nach dem Ende der Inflation in den öffentlichen Haushalten sparsamer zu sein, sollte die aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts überkommene Verwaltungsgliederung Württembergs deutlich schlanker werden. Da der Landtag jedoch seine Zustimmung einschließlich des an der Regierung beteiligten Zentrums verweigerte und lediglich die Abschaffung der vier Kreisregierungen gelang, zog die DDP ihre Minister aus der Regierung zurück. Einen Monat vor den Wahlen wich im April 1924 somit die Regierung Hieber der Übergangsregierung Rau. Eine der wichtigsten Errungenschaften der gescheiterten Regierung war die Trennung der Kirche vom Staat im Kirchengesetz vom März 1924, womit auch die jahrhundertealte Verflechtung der evangelischen Kirche mit dem württembergischen Staat endete. Eine umfassende Kreisreform wurde 1938 unter der nationalsozialistischen Diktatur durchgeführt. Zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise Der Landtagswahlkampf 1924 Im Landtagswahlkampf des Jahres 1924, der noch ganz unter dem Schock der Inflationsereignisse des Vorjahres stand, nutzten die Bürgerpartei (die württembergische DNVP) und der Bauernbund das gescheiterte Vorhaben der Regierung Hieber, die sieben kleinsten Oberämter und das Landgericht Hall aufzulösen, geschickt für propagandistische Zwecke. Mit Hilfe einer Masse von Flugblättern wurde das Thema populistisch so dargestellt, als wolle die alte Regierung mit der Auflösung von Oberämtern lebendige Organismen vernichten. Der Wahlkampf dieser konservativen Parteien war in scharfen Worten gegen die Demokratie gerichtet und bediente sich sowohl der Dolchstoßlegende als auch antisemitischer Parolen. Die Landtagswahl am 4. Mai 1924 führte zu einem deutlichen Rechtsruck. Die Fraktionsgemeinschaft der Bürgerpartei mit dem Bauern- und Weingärtnerbund war die stärkste Fraktion im Landtag, und es gelang ihr, das Zentrum für den Eintritt in eine Koalitionsregierung zu gewinnen. Damit war die Zeit der Weimarer Koalition in Württemberg vorbei. Die SPD blieb fortan stets in der Opposition, in der sich besonders der Abgeordnete Kurt Schumacher hervortat, der von 1924 bis 1931 dem Landtag angehörte. Koalition der Konservativen mit dem Zentrum Am 3. Juni 1924 erfolgte die Wahl des DNVP-Politikers Wilhelm Bazille zum neuen württembergischen Staatspräsidenten. Bazille, ein konservativer Antidemokrat und Monarchist, hatte bis dahin die Opposition im Landtag geführt und übernahm neben dem Staatsministerium auch die Leitung der Ressorts Kultus und Wirtschaft. Bazille regierte bis 1930 in einer für damalige Verhältnisse stabilen Koalition aus Württembergischer Bürgerpartei (der regionale DNVP-Ableger) mit dem ebenfalls protestantischen Württembergischen Bauern- und Weingärtnerbund und der katholischen Zentrumspartei. Die Zusammenarbeit zwischen Katholiken („Schwarzen“) und protestantischen Konservativen („Preußisch-Blauen“) – in der Literatur zuweilen auch als „schwarz-blaue“ Koalition bezeichnet – bestand in Württemberg in Ansätzen bereits seit 1906 und gilt als Wegbereiter für die spätere Gründung einer überkonfessionellen christdemokratischen Partei – der CDU. Sehr zum Erstaunen vieler Zeitgenossen wandelte sich der einstige Demagoge Bazille in den Staatsämtern zu einem mit Würde und Besonnenheit auftretenden Staatsmann, wenngleich sein Denken und Handeln weiterhin geprägt war von der Angst vor der bolschewistischen Revolution. Die Zeit der Regierung Bazille fällt in die Ära der sogenannten Goldenen Zwanziger. Mit dem Tod von Präsident Ebert und der Wahl Hindenburgs zum neuen Reichspräsidenten kam es in Deutschland insgesamt zu einer Verschiebung der politischen Gewichte nach rechts. Am 11. November 1925 kam der neue Reichspräsident zum Staatsbesuch nach Württemberg und wurde von Oberbürgermeister Karl Lautenschlager im Stuttgarter Rathaus sowie von Staatspräsident Bazille in der Villa Reitzenstein empfangen. Die Villa Reitzenstein war der neue Sitz des württembergischen Staatsministeriums, nachdem Bazille den Umzug vom bisherigen Standort in der Stuttgarter Königstraße zur neuen Adresse auf der Gänsheide veranlasst hatte. Die Zusammenlegung von Landtag, Ministerien und Zentralbehörden in einem Regierungsviertel wurde zwar diskutiert, aber als undurchführbar verworfen. Weitere Pläne der Regierung, die historisch gewachsenen und teilweise schwer zu überblickenden gesetzlichen Vorschriften Württembergs in einem Kodex zu erfassen und den Staatsaufbau zu vereinfachen, führten zu keinen sichtbaren Ergebnissen. Lediglich das Oberamt Weinsberg wurde in dieser Zeit aufgelöst. In Fragen der Außenpolitik zeigte die Regierung im Reichsrat ein schwankendes Bild. Im August 1924 stimmte Württemberg unter dem Druck des Zentrums für den Dawes-Plan, obwohl die DNVP strikt dagegen war. Zu den Ergebnissen der Konferenz von Locarno im Herbst 1925 konnte Württemberg jedoch keine einheitliche Position finden, weil Bazille den Vertrag von Locarno für annehmbar hielt, sein Kabinettskollege und Parteifreund Alfred Dehlinger im Einklang mit der Position der DNVP ihn jedoch ablehnte. Hinsichtlich der Wirtschaftspolitik konnte Bazille am Ende des Jahres 1927 im Landtag betonen, dass Württemberg die geringste Arbeitslosigkeit im Deutschen Reich aufweise. In der während der gesamten Zeit der Weimarer Republik offenen Frage des Verhältnisses der Länder zum Reich nahm Bazille eine auf Erhaltung der Selbständigkeit der Länder zielende Position ein und verstand sich als Sachwalter der Interessen Württembergs. Bazille war im Wahlkampf für die Reichstags- und Landtagswahlen am 20. Mai 1928 die Hauptzielfigur der Oppositionsparteien. Kommunisten, Sozialdemokraten und Liberale kritisierten heftig, dass Bazille als Kultminister bislang die Einführung eines achten Volksschuljahres verhindert hatte. Der SPD-Politiker Fritz Ulrich bezeichnete das „Regime des französischstämmigen Bazille“ als wesensfremd für die Schwaben. Die Formierung der Regierung Bolz Die Landtagswahlen vom 20. Mai 1928 brachten den Konservativen eine empfindliche Niederlage, während das Zentrum seine Zahl der Mandate halten konnte. Die absolute Mehrheit der bisherigen Koalition war verloren. Da das Zentrum unter der Führung von Eugen Bolz eine jetzt wieder mögliche Neuauflage der Weimarer Koalition mit der für regierungsunfähig erachteten SPD nicht wünschte und die DDP sich weigerte, in die Regierung mit der DNVP einzutreten, wurde die Minderheitsregierung Bolz gebildet. Das Fernhalten der SPD von der württembergischen Regierung durch die Politiker des Zentrums und der konservativen Parteien lässt sich unter folgendem Aspekt erklären. Die SPD, die seit den Neuwahlen stärkste politische Kraft im Landtag war, sollte ihr verhältnismäßig starkes Gewicht nicht als Regierungspartei geltend machen können. Dies wollte das politisch zersplitterte bürgerlich-konservative Lager in Württemberg unbedingt verhindern, während auf Reichsebene das Kabinett Müller unter Führung der SPD zustande kam. Ein konkreter Vorwurf der Regierungsparteien an die SPD in Württemberg lautete, diese habe kein landespolitisches Programm und denke viel zu „unitaristisch“ nur an ihre Politik auf Reichsebene. Ein besonders gewichtiges Argument für die Erhaltung der Koalition aus Zentrum, Bürgerpartei und Bauernbund war das Festhalten an den konfessionell ausgerichteten Volksschulen in Württemberg. Die SPD wollte konfessionell gemischte Volksschulen, sogenannte Simultanschulen, einführen. In der Landtagssitzung vom 8. Juni 1928 wurde Eugen Bolz mit 39 von 80 Stimmen auf Grund der geltenden Geschäftsordnung zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Dagegen klagte die SPD vor dem Staatsgerichtshof, wobei festgestellt werden sollte, dass das Ministerium Bolz und insbesondere der Minister Bazille verfassungswidrig ins Amt gekommen waren. Ein weiterer Anklagepunkt der SPD war die im Landtag benutzte Geschäftsordnung, die Stimmenthaltungen bei Misstrauensvoten als ein „Nein“ wertete, was nach Ansicht der SPD ebenfalls gegen die Landesverfassung verstieß. Erst am 18. Februar 1930 entschied der Staatsgerichtshof, die Klagepunkte der SPD zurückzuweisen. Zu dem Zeitpunkt waren diese allerdings auch schon politisch überholt, denn im Januar 1930 konnte mit dem Eintritt Reinhold Maiers von der DDP als neuem Wirtschaftsminister und dem Staatsrat Johannes Rath von der DVP eine stabile parlamentarische Mehrheit der Regierung Bolz hergestellt werden. Dieser Regierungseintritt stand im Zusammenhang mit der geplanten Zustimmung der württembergischen Regierung zum Young-Plan im Reichsrat. Da die DNVP unter Alfred Hugenberg strikt gegen die Zustimmung zum Young-Plan war, bestand die Gefahr einer Beschlussunfähigkeit der württembergischen Regierung. Bis Januar 1930 zählte die Regierung nur vier Minister: Bolz und Beyerle vom Zentrum sowie Bazille und Delinger von der DNVP. Besonders Bazille geriet in dieser Frage zunehmend in Konflikt mit der Hugenberglinie seiner Partei. Das von den rechtsextremen Parteien ab Sommer 1929 betriebene Volksbegehren gegen den Young-Plan führte zu einer Volksabstimmung, die am 22. Dezember 1929 durchgeführt wurde. In Württemberg sprachen sich lediglich 11,6 % der Wähler für eine Ablehnung des Young-Plans aus. Der Reichsdurchschnitt für diese Ablehnung lag bei 13,5 %. Damit war der Weg für die Regierung Bolz frei, die Zustimmung im Reichsrat zu erteilen. Nach dem Eintritt von Reinhold Maier in die württembergische Regierung kam die Zustimmung zum Young-Plan in rascher Folge. Die Vertreter der republikfeindlichen Parteien (NSDAP, DNVP, KPD) nannten das Verhalten der Regierung Bolz verräterisch dem deutschen Volk gegenüber, da dieses für Jahrzehnte der kapitalistischen Ausbeutung fremder Tributherren ausgeliefert sei. Die württembergische Regierung hätte sich nach Meinung dieser Gegner nicht dem Willen der Reichsregierung beugen sollen. Ein wichtiges Thema für die württembergische Regierung war die während der gesamten Jahre der Weimarer Republik schwebende Frage der Reichsreform, mit der der Föderalismus im Deutschen Reich auf eine homogenere und damit gesündere Basis gestellt werden sollte. Das politische Gewicht Württembergs im Reichsrat und damit sein Einfluss auf die Reichspolitik war gering. Der preußische Staat dagegen hatte einen überwältigenden Stellenwert, und das Amt des preußischen Ministerpräsidenten war dem des Reichskanzlers vergleichbar. Um den Einfluss der südwestdeutschen Staaten zu stärken, diskutierte das württembergische Kabinett am 10. Februar 1930 die Frage eines Zusammenschlusses von Württemberg und Baden. Die Minister einigten sich trotz erheblicher Vorbehalte seitens der beiden DNVP-Mitglieder darauf, dass Württemberg zur Länderfusion bereit gewesen wäre. Das Ergebnis dieses Regierungsbeschlusses wurde bei der Haushaltsberatung im württembergischen Landtag öffentlich gemacht. Da Staatspräsident Bolz die größeren Vorteile eines solchen Zusammengehens bei Baden wähnte, erwartete er eine Initiative aus Karlsruhe, die aber unterblieb. Die SPD beschäftigte sich auch in Württemberg intensiv mit der Frage, ob die SPD-Reichsminister das Budget für den Bau neuer Panzerkreuzer hätten bewilligen dürfen. Kurt Schumacher war ein entschiedener Gegner der neuen Panzerkreuzer und befand sich damit im Einklang mit der Parteibasis, während Wilhelm Keil und der SPD-Landesvorsitzende Erich Roßmann Verständnis für die Haltung der Reichsregierung äußerten. Kurt Schumacher kritisierte stets die mangelnde Schlagkraft der Republik und trat dafür ein, dass die Reichswehr zunächst für die Ideen der Republik gewonnen werden müsse, ehe an ihre Aufrüstung zu denken sei. Schumacher sah die Republik sowohl vom Nationalsozialismus als auch vom Kommunismus bedroht. Am 25. März 1930 sprach der letzte für die Demokratie von Weimar eintretende Reichskanzler Hermann Müller zum 10. Jahrestag des vereitelten Kapp-Putsches in der Stuttgarter Liederhalle, was zu einer sozialdemokratischen Massenversammlung geriet. Zwei Tage später trat Müller von seinem Amt zurück, da er von der SPD-Reichstagsfraktion keine Zustimmung für einen Koalitionskompromiss über die Arbeitslosenversicherung erhielt. Dies war das Ende des Kabinetts Müller II, der letzten parlamentarisch legitimierten Reichsregierung der Weimarer Republik. Die letzten Jahre des Volksstaats Württemberg Land stabiler Verhältnisse am Beginn der Weltwirtschaftskrise Als Eugen Bolz am 8. Juni 1928 die Regierung als Staatspräsident antrat, war er schon seit 24. Juli 1919 ununterbrochen württembergischer Minister gewesen, zunächst bis zum 2. Juni 1923 als Justizminister und danach als Innenminister, was er noch bis zum 11. März 1933 blieb. Als Innenminister hatte Bolz die württembergische Polizei in die Verantwortung des Landes übernommen, da sie zuvor einer alten Tradition folgend den kommunalen Behörden unterstellt war. Gestützt auf die Hilfe seiner Polizei, bemühte sich Bolz, das staatliche Leben in Württemberg stabil zu halten. Bolz glaubte, die Hauptgegner der Ordnung links von der politischen Mitte sehen zu müssen. Bei den rechtsgerichteten Parteien und Gruppierungen sah er offenbar eine geringere Gefahr, und dies selbst nach 1930, als die Erosion der parlamentarischen Verhältnisse im Reich während der Weltwirtschaftskrise bereits in vollem Gange war. Die SPD nahm Anstoß an der württembergischen Polizeiführung, die deutschnational orientiert war und die Notverordnungen des Reichspräsidenten vom 31. März 1931 zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen einseitig restriktiv gegen die Linksparteien SPD und KPD anwendete und bei den offenkundigen Vergehen der NSDAP viel zu mild agierte. Im Herbst 1931 veranlasste die SPD-Landtagsfraktion einen Untersuchungsausschuss über die politische Orientierung der Stuttgarter Polizeiführung. Am 5. Januar 1932 beschlagnahmte die Polizei die Ausgabe der SPD-Parteizeitung Schwäbische Tagwacht, weil dort die schleppenden Ermittlungen des Reichsgerichts gegen den Verfasser der Boxheimer Dokumente, Werner Best, kritisiert wurden. Die Stuttgarter Polizeiführung begründete die Beschlagnahmung der Tagwacht-Ausgabe damit, dass das Reichsgericht „böswillig beschimpft und verächtlich“ gemacht worden sei. Wilhelm Keil betonte in einer Landtagsrede am 16. Februar 1932, dass der Artikel in der Schwäbischen Tagwacht eine völlig berechtigte Kritik am Reichsgericht geübt habe und kritisierte, dass strengere Zensur als zu Zeiten des Ersten Weltkriegs angewendet wurde. Ein weiteres Beispiel für das politisch einseitige Vorgehen der Stuttgarter Polizeiführung war die Verhaftung des Pol-Leiters der württembergischen KPD, Josef Schlaffer, am 8. November 1931. Die KPD hatte am 7. November 1931 in der Stuttgarter Stadthalle eine Feier zum Gedenken an die russische Oktoberrevolution abgehalten und vorschriftsmäßig keine politischen Ansprachen, sondern lediglich ein sportliches und künstlerisches Programm geboten, das mit dem Absingen der Internationale beendet wurde. Erst danach hielt Josef Schlaffer ein kurzes Schlusswort, was den Anlass für seine Verhaftung und Aburteilung zu drei Monaten Haft in einem Schnellgerichtsverfahren bot. Kurt Schumacher kritisierte daraufhin den Stuttgarter Polizeipräsidenten, weil hier gegen die Immunität Schlaffers als Reichstagsabgeordneter verstoßen wurde. Neben seinem umstrittenen Polizeiregime sorgte Bolz jedoch auch für eine fundierte Politik im Bereich des Sozialwesens, des Infrastrukturausbaus und der Energieversorgung, was zur Stabilität des württembergischen Staats in der Zeit der Weltwirtschaftskrise beitrug. Der amerikanische Journalist Hubert R. Knickerbocker war bei seiner Reise durch Deutschland zu Zeiten des Höhepunkts der Weltwirtschaftskrise beeindruckt, dass in Württembergs Hauptstadt „kein äußeres Zeichen der Depression zu erblicken“ sei. Die „in ihrem Lichterglanz strahlende Stadt“ und „seine neuen öffentlichen und privaten Gebäude sprechen deutlicher von Wohlstand“. Knickerbocker meinte auch, „in den Straßen Stuttgarts sind mehr gut angezogene Leute zu sehen als in allen anderen“ ihm „bekannten Städten Deutschlands“. Der Landtag wird handlungsunfähig Am 24. April 1932 fand die Wahl zum neuen Landtag statt, aus dem die NSDAP mit 23 Mandaten als stärkste Fraktion hervorging. Neuer Landtagspräsident wurde der Nationalsozialist Christian Mergenthaler. Von den acht Anwärtern auf das Amt des Staatspräsidenten erhielt keiner die erforderliche absolute Mehrheit. Jonathan Schmid von der NSDAP erhielt 22 und Eugen Bolz nur 20 Stimmen. Der neue Landtag mit einer absoluten Mehrheit der Gegner der Weimarer Republik, zu denen neben NSDAP und KPD auch die DNVP (Bürgerpartei) und der WBWB zu rechnen sind, war handlungsunfähig. Zwischen den Abgeordneten der NSDAP und der KPD kam es ständig zu lärmenden Zwischenrufen und tumultartigen Szenen. Es konnte kein Zweifel bestehen, dass diese Parteien auf ein funktionstüchtiges Parlament keinen Wert legten. Da ein neuer Staatspräsident nicht gewählt wurde, blieb die Regierung Bolz weiterhin geschäftsführend im Amt und verlegte sich, dem Beispiel der Reichsregierung Brüning folgend, auf das Regieren mit Notverordnungen unter weitgehender Ausschaltung des Landtags. Im Juni 1932 versuchte Bolz mit seinen Amtskollegen Josef Schmitt aus Baden und Heinrich Held aus Bayern vergeblich, den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg dazu zu bewegen, die Durchführung des sogenannten Preußenschlags zu verhindern, da dies eine ungeheure Schwächung des Föderalismus zur Folge haben musste und davon abgesehen einen Bruch der Verfassung darstellte. Drei Tage nach dem Preußenschlag, am 23. Juli 1932, traf sich der Reichskanzler Franz von Papen mit den Ministerpräsidenten der süddeutschen Länder in der Villa Reitzenstein zur Besprechung, wie eine Diktatur Hitlers verhindert werden könnte, und um zu beteuern, dass die Länder Süddeutschlands unangetastet bleiben sollten. Diese Stuttgarter Besprechung blieb insgesamt wirkungslos. Der Weg in die Diktatur Nachdem Adolf Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler geworden war, begann der Niedergang der Eigenstaatlichkeit der deutschen Länder. Der Versuch, mit Hilfe eines Generalstreiks in Mössingen die Entwicklung in Berlin noch aufzuhalten, blieb eine mutige Einzelaktion in der württembergischen Provinz. Der Reichstag wurde aufgelöst, und für den 5. März wurden Neuwahlen angesetzt. Der Wahlkampf war begleitet von Straßenterror seitens der NSDAP. Am 4. Februar 1933 wurde per Notverordnung der Reichsregierung die Presse- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Am 15. Februar 1933 hielt Hitler eine Rede in Stuttgart. Dabei gelang es Gegnern der Nationalsozialisten, die Simultanübertragung im Rundfunk zu unterbrechen, indem sie ein Übertragungskabel durchtrennten. Bei der Reichstagswahl 1933 erreichte die NSDAP in Württemberg zwar nur einen Stimmenanteil von 41,9 % und blieb damit etwas unter den 44 % auf Reichsebene, aber dies spielte keine Rolle mehr. Die Minderheitsregierung Bolz geriet jetzt immer stärker unter Druck. Die Reichsregierung setzte am 8. März Dietrich von Jagow als Reichskommissar für Württemberg ein. Daraufhin wurden viele Oppositionelle festgenommen und ins Konzentrationslager Heuberg bei Stetten am kalten Markt gebracht. Mit den Stimmen der Württembergischen Bürgerpartei und des Württembergischen Bauern- und Weingärtnerbunds wurde der württembergische Gauleiter der NSDAP, Wilhelm Murr, am 15. März 1933 im Landtag zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Für Murr stimmten 36 Abgeordnete, das Zentrum und die DDP enthielten sich mit 19 Stimmen der Wahl, die 13 Abgeordneten der SPD stimmten dagegen. Die Kommunisten waren bereits aus dem Landtag ausgeschlossen worden. Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März und das Gleichschaltungsgesetz vom 31. März führten zur faktischen Bedeutungslosigkeit der Länder. Der württembergische Landtag wurde entsprechend dem Ergebnis der Reichstagswahl vom 5. März neu zusammengesetzt. Durch das zweite Gesetz zur Gleichschaltung der Länder vom 7. April 1933 wurden die Ämter der Reichsstatthalter geschaffen. Der bisherige Staatspräsident Wilhelm Murr wurde Reichsstatthalter für Württemberg. In dieser Position war er der neuen Landesregierung unter dem nun Ministerpräsident genannten Regierungschef Christian Mergenthaler übergeordnet und nur dem Reichskanzler verantwortlich. Am 8. Juni 1933 fand die letzte Sitzung des württembergischen Landtags statt. Das hierbei beschlossene Ermächtigungsgesetz setzte die württembergische Verfassung von 1919 außer Kraft und übertrug die Gesetzgebung an die Landesregierung. Das Reichsgesetz vom 30. Januar 1934 hob alle deutschen Landesparlamente auf und übertrug die Hoheitsrechte der Länder auf das Reich. Das württembergische Staatsministerium war wie die anderen Landesregierungen damit zu einer Mittelbehörde des Reichs herabgesunken. Die geplante Umwandlung Württembergs in einen Reichsgau wurde nicht durchgeführt. Die Diktatur und ihre Folgen Geschichte Württembergs 1933 bis 1945 Hauptartikel: Württemberg zur Zeit des Nationalsozialismus Die NS-Herrschaft in Württemberg war bis 1945 geprägt vom Dauerdualismus des Gauleiters und Reichsstatthalters Murr und des ihm formal unterstellten Ministerpräsidenten Mergenthaler. Beide Funktionsträger misstrauten sich grundsätzlich, aber Hitler hob diesen Dualismus trotz wiederholter Versuche seitens Wilhelm Murrs nie auf. Hitler kam nach der Machtergreifung sehr selten nach Württemberg. Auf dem Höhepunkt seiner Popularität, kurz nach dem Anschluss Österreichs an das nun Großdeutsche Reich, stattete der Führer und Reichskanzler den Stuttgartern einen lange erwarteten Besuch ab. Am 1. April 1938 fuhr er unter großem Jubel im offenen Wagen vom Hauptbahnhof über die Königstraße zum Rathaus, wo er von Oberbürgermeister Karl Strölin und Reichsstatthalter Murr empfangen wurde. Am Abend hielt er eine Rede in der Stadthalle. Wie im übrigen Reich kam es zur Verfolgung und Ermordung von Juden, zur Ausschaltung der Opposition, zur Gleichschaltung der Verwaltung und zur Emigration. Zur Riege besonders berüchtigter NS-Verbrecher aus Württemberg gehörten zum Beispiel der Leiter des Sondergerichtshofes von Stuttgart, Hermann Cuhorst, der SS-Obergruppenführer Gottlob Berger, der SS-Brigadeführer Walter Stahlecker sowie der NS-Kreisleiter von Heilbronn, Richard Drauz. Widerstandskämpfer aus Württemberg waren zum Beispiel Georg Elser, die Geschwister Hans und Sophie Scholl, die Brüder Berthold und Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Fritz Elsas sowie Eugen Bolz. Aktiver Widerstand gegen den Nationalsozialismus blieb in Württemberg – wie im Reich insgesamt – die Ausnahme. Im Verlaufe des Zweiten Weltkriegs erwarb sich der aus Württemberg stammende Generalfeldmarschall Erwin Rommel hohes Ansehen. Im Bombenkrieg ab 1943 litten die Städte und Gemeinden Württembergs unter den verstärkten Bombardierungen. Stuttgart hatte bei 53 Luftangriffen insgesamt 4562 Tote zu beklagen, Heilbronn, das am 4. Dezember 1944 zerstört wurde, etwa 6500 Tote. Besonders schwere Zerstörungen erfuhren auch die Städte Ulm, Reutlingen und Friedrichshafen. Bei den Bodenkämpfen im Zuge der Einnahme Württembergs durch amerikanische und französische Truppen wurden 1945 unter anderen die Städte Crailsheim, Waldenburg und Freudenstadt fast vollständig zerstört. Nachkriegsgeschichte 1945 bis 1952 Hauptartikel: Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der nördliche Teil von Württemberg Teil der amerikanischen, der südliche Teil der französischen Besatzungszone. Die Südgrenze der amerikanischen Besatzungszone wurde so gewählt, dass die Autobahn Karlsruhe-München, die heutige A 8, auf der gesamten Strecke innerhalb der amerikanischen Besatzungszone lag. Grenzen waren die jeweiligen Kreisgrenzen. Die Militärregierungen der Besatzungszonen gründeten 1945/46 die Länder Württemberg-Baden in der amerikanischen sowie Baden und Württemberg-Hohenzollern in der französischen Zone. Diese Länder wurden im Zuge der Gründung der Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 zu Ländern der Bundesrepublik. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ermöglichte über Artikel 118 Maßnahmen zur Neugliederung der drei Länder. Im Zuge dessen kam es am 25. April 1952 zur Fusion der Länder Württemberg-Baden, Baden (das heißt Südbaden) und Württemberg-Hohenzollern zum Bundesland Baden-Württemberg. Nähere Details zu diesem Thema sowie die weitere Geschichte sind unter Baden-Württemberg aufgeführt. Staatsaufbau und Verwaltung Die Verfassung des freien Volksstaates Württemberg Die Vorlage des Verfassungsentwurfs stammte vom Tübinger Professor Wilhelm von Blume (Jurist). Die am 25. September 1919 in Kraft getretene Verfassung des Volksstaats Württemberg war die einer parlamentarischen Republik. Diese Verfassung war durch die Gleichschaltungsgesetze des Deutschen Reiches vom 31. März 1933 und vom 7. April 1933 sowie das Reichsgesetz über den Neubau des Reiches vom 30. Januar 1934 faktisch außer Kraft gesetzt worden. Die Verfassung gliederte sich in 9 Abschnitte mit insgesamt 67 Paragraphen. Der erste Abschnitt der Verfassung legte in § 1 die Staatsform als die eines freien Volksstaates innerhalb des Deutschen Reiches fest. Mit der Formulierung freier Volksstaat war die Staatsform einer demokratischen Republik gemeint, ohne dass diese Vokabeln selbst je im ganzen Verfassungstext benutzt wurden. In § 2 wurde das Staatsgebiet festgelegt, welches dem des Königreiches Württemberg entsprach. Der zweite Abschnitt der Verfassung beschrieb in drei Paragraphen die Staatsgewalt. Gemäß § 3 ging alle Staatsgewalt vom Volke aus. Neuheiten in der Verfassung waren das Proporzwahlsystem, das in ganz Deutschland nun übliche Frauenstimmrecht und die Senkung des Mindestalters zur Teilnahme an Wahlen auf 20 Jahre. In § 5 wurde die Vorgehensweise bei Volksabstimmungen festgelegt. Der dritte Abschnitt regelte in 20 Paragraphen die Bildung und die Aufgaben des aus nur einer Kammer bestehenden Landtages als Gesetzgeber und Kontrollorgan der Landesregierung. § 11 sah als Dauer einer Legislaturperiode vier Jahre vor. Bemerkenswert ist das in § 16 genannte Recht, dass der Landtag vorzeitig durch Volksabstimmung aufgelöst werden konnte, was jedoch in der Praxis nie vorkam. Der vierte Abschnitt befasste sich in 15 Paragraphen mit der Staatsleitung und den Staatsbehörden des Landes. Der Landtag wählte gemäß § 27 den Ministerpräsidenten mit der Amtsbezeichnung Staatspräsident. Der württembergische Staatspräsident ernannte und entließ die Minister, die mit ihm die württembergische Regierung und damit die Exekutive bildeten. Der Landtag hatte gemäß § 28 die Möglichkeit, der Regierung sein Misstrauen auszusprechen und damit die Regierung abzuberufen oder die Entlassung einzelner Minister zu verlangen. Der Staatspräsident hatte keine Richtlinienkompetenz. Die Regierung fasste ihre Beschlüsse gemäß § 31 durch Abstimmung im Ministerkollegium. Der fünfte Abschnitt der Verfassung regelte in sieben Paragraphen die Gesetzgebung und legte fest, in welchen Fällen eine Volksabstimmung vorgesehen war. Der sechste Abschnitt beschrieb in acht Paragraphen das Finanzwesen. Der siebte Abschnitt umfasste drei Paragraphen, welche die Zuständigkeiten des Staatsgerichtshofes regelten. Im achten Abschnitt waren drei Paragraphen zur staatlichen Kontrolle des Wirtschaftslebens vorgesehen, und im neunten Abschnitt enthielten sechs Paragraphen sogenannte „Schluß- und Übergangsbestimmungen“. Verlust württembergischer Reservatrechte an das Reich Die Verfassung der Weimarer Republik übertrug einige wichtige im Kaiserreich noch bei den süddeutschen Staaten liegende Hoheitsrechte an das Reich. Das bedeutete für Württemberg den Verlust der eigenen Eisenbahn, welche 1920 mit einer Streckenlänge von 2173 Kilometern zur Deutschen Reichsbahn kam, den Verlust der eigenen Postverwaltung an die Deutsche Reichspost sowie den Übergang der Württembergischen Armee an die Reichswehr, so dass das württembergische Kriegsministerium ab Juni 1919 aufgelöst werden konnte. In der Reichswehr bildete die 5. Division mit württembergischen, badischen, hessischen und thüringischen Soldaten den Wehrkreis V. Ein Landeskommandant vertrat die militärischen Interessen Württembergs. Außerdem verwaltete das Reich nun die Zölle und Mehrwertsteuern selbst und richtete dafür die nötigen Behörden ein. Auch die Arbeitsvermittlung wurde 1927 vom Reich übernommen. Beim Land verbliebene Aufgaben wurden von den Ministerien des Inneren, der Justiz, der Wirtschaft und der Kultur wahrgenommen. Dem Finanzministerium gelang es, den württembergischen Staatshaushalt trotz aller Krisen in Ordnung zu halten. Allerdings blieb das Verhältnis zum Reich in der Verfassungswirklichkeit eine ungelöste Frage. Justizwesen Neben dem Oberlandesgericht Stuttgart gab es acht Landgerichte und in jedem Oberamt ein Amtsgericht. Für die Verwaltungsgerichtsbarkeit, auch als außerordentliche Gerichtsbarkeit bezeichnet, war seit 1876 in Württemberg der Verwaltungsgerichtshof in Stuttgart zuständig. Verwaltung Der Volksstaat Württemberg war in den Stadtbezirk Stuttgart und in 61 (1920: 63) Oberämter mit insgesamt 1.875 Gemeinden eingeteilt. Bis zum 1. April 1924 war Württemberg noch in die vier Kreise Donaukreis (Ulm), Neckarkreis (Ludwigsburg), Jagstkreis (Ellwangen) und Schwarzwaldkreis (Reutlingen) gegliedert. 1938 wurden die noch bestehenden 61 Oberämter und der Stadtdirektionsbezirk Stuttgart zu 34 Landkreisen und drei Stadtkreisen zusammengefasst. Eine ausführliche Darstellung ist unter Verwaltungsgliederung Württembergs zu finden. Hoheitszeichen Die 1919 verabschiedete Verfassung nahm zunächst keine Änderungen an Wappen und Flagge des Landes vor. Sie legte in § 41 (3) lediglich fest, dass Landesfarben und Landeswappen durch ein Gesetz zu bestimmen seien. Das seit 1817 gültige Staatswappen ebenso wie die schwarz-roten Landesfarben blieben also zunächst weiter in Gebrauch. Das in der Verfassung vorgesehene Gesetz wurde vom Landtag am 20. Dezember 1921 verabschiedet und trat am 20. Februar 1922 in Kraft. Als Landesfarben wurden Schwarz-Rot beibehalten, während sich das Wappen änderte. Es war nun geviert, wobei Feld 1 und 4 gold mit drei liegenden schwarzen Hirschstangen waren, Feld 2 und 3 hingegen dreimal geteilt von Schwarz und Rot. Als Schildhalter fungierten zwei goldene Hirsche, an Stelle der zuvor üblichen königlichen Insignien wurde der Wappenschild von einer Volkskrone überhöht. 1933, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, wurde das Wappen stilistisch verändert. Siehe auch: Wappen Württembergs Parteien Das Parteienspektrum war vielfältig, aber nur drei der wichtigen Parteien standen fest auf dem Boden der Weimarer Verfassung: Die SPD, die linksliberalen Demokraten und der linke Flügel des Zentrums. Die Sozialdemokratie Die SPD stand während der Jahre der Weimarer Republik in politischer Konkurrenz zur KPD, was ihre Hochburgen vielerorts im Deutschen Reich empfindlich schwächte. In Württemberg waren Regionen mit hohem Industriearbeiteranteil besonders in Stuttgart und entlang der Städte an der Eisenbahnlinie Heilbronn–Stuttgart–Ulm zu finden. In Stuttgart hielt sich der Anteil der SPD- und KPD-Wähler zeitweilig fast die Waage mit jeweils um 15 bis 20 %. Abgesehen von Stuttgart gab es in Württemberg kein nennenswertes Industrieproletariat im klassischen Sinne. Wähler der SPD waren meist Handwerker oder Arbeiter, die im Nebenerwerb oft noch Kleinbauern waren. Eine besondere Hochburg für die SPD war Heilbronn. Bis zum Anfang der dreißiger Jahre war der dortige Wähleranteil der SPD bis zu 40 %, während die KPD hier kaum nennenswerte Ergebnisse erzielte. In ländlich geprägten Regionen mit fehlendem sozialdemokratischem Milieu hatte es die SPD schwer, Wähler zu mobilisieren. Dort dominierte in den evangelischen Oberämtern der Bauernbund und in den katholischen die Zentrumspartei. Auf dem Feld der Bildungspolitik blieben zwei große Ziele der württembergischen SPD unerreicht. Diese waren zum einen die Überwindung der hergebrachten Trennung in konfessionsgebundene Volksschulen zugunsten von Einheitsschulen. Diese auch Simultanschulen genannten Volksschulen für alle Konfessionen waren im Nachbarland Baden bereits seit 1876 die Norm. Zum anderen wollte die SPD die Schulpflicht in Württemberg von sieben auf acht Jahre anheben, was aber vom konservativen Kultminister Bazille während seiner gesamten Amtszeit von 1924 bis 1933 blockiert wurde. Die SPD besaß in Württemberg ein dichtes Netz von insgesamt 12 Tageszeitungen. Das mit deutlichem Abstand führende Blatt war die in Stuttgart erscheinende Schwäbische Tagwacht und deren Kopfblätter Neckarpost in Ludwigsburg, Volkszeitung in Esslingen, Freie Volkszeitung in Göppingen, Schwarzwälder Volkswacht in Schramberg und Freie Presse in Reutlingen. In Heilbronn erschien das Parteiblatt Neckar-Echo, in Schwenningen die Volksstimme und deren Kopfblatt, die Tuttlinger Volkszeitung. In Ulm erschien die Donauwacht mit den Kopfblättern Heidenheimer Volkszeitung und Geislinger Allgemeiner Anzeiger. Landesvorsitzende der württembergischen SPD waren Friedrich Fischer (1913–1920), Otto Steinmayer (1920–1924) und Erich Roßmann (1924–1933). Diese wurden aber von den beiden führenden Parlamentariern Wilhelm Keil und Kurt Schumacher deutlich überragt. Unter dem Druck des Nationalsozialismus löste sich der württembergische Landesvorstand der SPD am 10. Mai 1933 selbst auf. Mit dem Gesetz gegen die Neubildung von Parteien war die SPD seit dem 14. Juli 1933 im Gebiet des gesamten Deutschen Reichs verboten. Der Liberalismus Der Linksliberalismus hatte in Württemberg eine lange Tradition in Gestalt der seit 1864 existierenden Württembergischen Volkspartei, die aber nur so lange Volkspartei bleiben konnte, wie sozialistisch oder konfessionell motivierte Klientelparteien die Wähler nicht an sich banden. Die für die kleinen Leute so attraktive Volkspartei geriet bereits ab den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts zunehmend unter Druck durch die sich nun auch in Württemberg organisierenden Parteien SPD, Zentrum und Bauernbund. Zwar wurde der Linksliberalismus nach der Novemberrevolution 1918 gerade in Württemberg noch einmal gestärkt durch den Übertritt vieler ehemaliger Nationalliberaler von der Deutschen Partei zur sich neu bildenden Deutschen Demokratischen Partei, aber von 1919 bis 1933 gingen der DDP auch im schwäbischen Stammland die ländlichen Wähler zusehends verloren, so dass von anfänglich 25 % am Ende nur noch 2 % der Wähler bei der DDP blieben. Dieser Rest der Wählerschaft war hauptsächlich dem städtischen Großbürgertum zuzurechnen. An der Regierung beteiligt war die DDP in Württemberg von 1918 bis 1924, seit 1920 mit dem Kabinett Hieber sogar an der Regierungsspitze. Von 1924 bis 1930 befand sich die DDP gemeinsam mit der SPD in scharfer Opposition zur schwarz-blauen Koalition aus Zentrum und Konservativen, ehe sie sich 1930 gemeinsam mit der DVP zu einer erneuten Beteiligung an der konservativen Regierung entschloss. Der Eintritt von Reinhold Maier in das Kabinett Bolz veranlasste den Nestor des württembergischen Liberalismus, Friedrich von Payer, unter Protest gegen diesen Rechtsschwenk zum Austritt aus der DDP. Landesvorsitzende der württembergischen DDP waren Conrad Haußmann (1918–1921) und Peter Bruckmann (1921–1933). Am 28. Juni 1933 löste sich die Partei auf. Die Nationalliberalen aus der ehemaligen Deutschen Partei verteilten sich 1918 auf die sich neu bildende DDP und die württembergische Bürgerpartei, da sich zunächst abzeichnete, dass die Spaltung der Liberalen überwunden werden könnte. Mit der neuen Deutschen Volkspartei entstand jedoch eine geschwächte Nachfolgeorganisation für die nationalliberalen Wähler. Die DVP lehnte die Republik zwar zunächst ab, fand sich aber mit Gustav Stresemann aus Gründen der Vernunft zu einer konstruktiven Mitarbeit in der neuen Staatsform bereit. Die Landesvorsitzenden der württembergischen DVP waren Gottlob Egelhaaf (1919–1920), Theodor Bickes (1920–1927) und Johannes Rath (1927–1933). Die organisatorische Kraft und die Wahlerfolge der DVP in Württemberg waren vergleichsweise gering. Am 4. Juli 1933 löste sich die Partei auf. Der politische Katholizismus Das Zentrum gab es in Württemberg erst seit 1895. Die späte Gründung hatte ihre Ursache darin, dass die Katholiken im Königreich Württemberg anders als im Nachbarland Baden oder in Preußen keinerlei Benachteiligungen ausgeliefert waren. Der langjährige königliche Ministerpräsident Hermann von Mittnacht war selbst Katholik, und ein Kulturkampf konnte nicht entstehen. Die Partei des politischen Katholizismus war stark vertreten in den fast homogen katholischen Gebieten Neuwürttembergs. In Stuttgart hatte sich im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durch Zuzug eine beträchtliche katholische Gemeinde entwickelt, die sich dort jedoch nach wie vor in der Diaspora befand. Da in Württemberg nur etwa 30 % der Einwohner katholisch waren, konnte das Zentrum hier keine vergleichbar starke politische Kraft wie etwa im Nachbarland Baden werden, wo der Katholikenanteil bei fast 60 % lag. Während der Weimarer Republik konnte sich in Baden die Weimarer Koalition bis 1932 halten, weil dort das vergleichsweise starke Zentrum die SPD als Juniorpartner gut akzeptieren konnte. In Württemberg war die SPD bei fast identischer politischer Stärke wie in Baden ab 1923 durchgehend in der Opposition, weil die schwächeren bürgerlichen Parteien (das Zentrum, die Bürgerpartei und der evangelisch geprägte Bauernbund) den Einfluss der SPD in einer württembergischen Regierung nicht hinzunehmen bereit waren. Das Zentrum in Württemberg war deshalb konservativer als in anderen deutschen Ländern. Landesvorsitzende des württembergischen Zentrums waren nominell Alfred Rembold (1895–1919) und Josef Beyerle (1919–1933). Die eigentlich führenden Köpfe des württembergischen Zentrums waren aber Adolf Gröber, Johann Baptist Kiene, Matthias Erzberger, Eugen Bolz und Lorenz Bock. Am 5. Juli 1933 löste sich das Zentrum unter dem Druck des Nationalsozialismus auf. Die Konservativen Die konservativen Parteien waren Gegner des in ihren Augen „unausgegorenen Notbaus von Weimar“. Zu diesen republikfeindlichen Parteien zählten die Württembergische Bürgerpartei als Landesverband der DNVP und der Bauernbund, der in Württemberg seit 1895 als eigenständige politische Partei auftrat und eine Ausnahmeerscheinung im Vergleich zu den anderen Ländern darstellte. Zwar gab es in allen deutschen Ländern Bauernverbände, die im Reichslandbund organisiert waren und politisch meist der DNVP nahestanden, aber nur in Württemberg war der Bauernverband auch eine eigenständige politische Partei. Als die städtische Bürgerpartei und der ländliche Bauernbund von 1924 bis 1933 als konservative Elemente an der württembergischen Regierung beteiligt waren, ergab sich die paradoxe Situation, dass die Mutterpartei DNVP auf Reichsebene einen extrem republikfeindlichen Kurs steuerte, sie in Württemberg durch die Regierungsverantwortung aber in gewisser Weise Teil des Systems von Weimar wurde. Am 18. März 1933 strich der württembergische Bauernbund unter dem Eindruck der Herrschaft des Nationalsozialismus den Anspruch, eine politische Partei zu sein, aus seiner Satzung. Am 27. Juni 1933 löste sich die Deutschnationale Front, wie die DNVP zuletzt hieß, auf. Bürgerliche Splitterparteien Nach 1928 zersplitterte die Parteienlandschaft, weil viele Wähler zunehmend ihre jeweils eigenen Interessen bedient sehen wollten. Württembergische Pietisten gaben dem CSVD ihre Stimme, bei Reichstagswahlen konnten auch die Wirtschaftspartei und die Volksrechtpartei Stimmen auf sich vereinigen. Die extreme Linke Die extreme Linke lehnte die parlamentarische Demokratie aus ideologischen Gründen ab. Ihr schwebte ein Staatswesen nach dem Muster der Sowjetunion vor. Dies ließ sie in den Augen bürgerlicher und konservativer Schichten als sehr bedrohlich erscheinen. Die extreme Linke wurde zunächst von der USPD vertreten, deren Protagonisten sich in Württemberg schon 1915 von den Mehrheitssozialdemokraten losgesagt hatten. Ab Anfang der zwanziger Jahre war es die KPD, welche in Deutschland eine extreme Linkspolitik verfocht. Als Organ der KPD in Württemberg fungierte die in Stuttgart herausgegebene Süddeutsche Arbeiterzeitung. Leiter der württembergischen Parteiorganisation der KPD war zunächst von 1919 bis 1920 Edwin Hoernle. 1924 wurde der politische Kopf der KPD in Württemberg, Johannes Stetter, entmachtet. Als Stetter nach seinem Parteiausschluss 1926 „Enthüllungen über den KP-Sumpf“ veröffentlichte, schrumpfte die KPD in Württemberg personell und organisatorisch beträchtlich. 1929 wurde durch die „ultralinke“ Wende der KPD auf Reichsebene die sogenannte Brandler-Thalheimer-Fraktion aus der KPD ausgeschlossen. Es entstand die Kommunistische Partei-Opposition (KPO) als rechte Absplitterung, welche in Württemberg die Tageszeitung Arbeitertribüne herausgab. Unter den Mitgliedern der KPO befand sich zum Beispiel auch Willi Bleicher. Anfang 1932 kam Walter Ulbricht nach Stuttgart, um für die Absetzung des württembergischen KPD-Führungsduos Schlaffer und Schneck zu sorgen. Die beiden hatten es gewagt, in der politischen Auseinandersetzung die NSDAP anzugreifen, statt, wie in Berlin gewünscht und der Doktrin der Sozialfaschismusthese folgend, die SPD als Hauptfeind zu betrachten. Die Spaltung der Arbeiterbewegung in die republikfeindliche KPD und die staatstragende SPD machte sich auch in der Entwicklung der Stuttgarter Waldheime bemerkbar, die von dem Konflikt stark betroffen war. Seit dem 8. März 1933 fand in Württemberg die massive Verfolgung und Internierung der KPD-Mitglieder durch den NS-Reichskommissar Dietrich von Jagow statt. Die extreme Rechte Der Nationalsozialismus in Württemberg hatte es trotz lokaler Hochburgen wie etwa in Nagold lange Zeit schwer, da der Bauernbund als politische Kraft die zu 68 % evangelische Bevölkerung stärker als in anderen deutschen Ländern davon abhielt, Hitlers Partei zu wählen. Nach dem Verbot der NSDAP nahm der Völkisch-Soziale Block im württembergischen Landtag der Jahre von 1924 bis 1928 mit drei Mandaten eine entsprechende Position ein. Obwohl die wieder zugelassene NSDAP bei der Landtagswahl 1928 zunächst gescheitert war, gelang es Christian Mergenthaler im Juni 1929, per Urteil des Staatsgerichtshofs in Stuttgart ein Mandat für sich durchzusetzen. Die Landtagswahl im Frühjahr 1932 führte dann zum erdrutschartigen Erfolg der Radikalen, welcher der NSDAP 23 Mandate bescherte und damit auch in Württemberg den Anfang vom Ende der Demokratie einläutete. Wahlen Wahlen und die damit einhergehenden Wahlkämpfe beherrschten den politischen Alltag der Weimarer Republik. Von 1918 bis 1933 fanden in Württemberg fünf Landtagswahlen statt, wenn die Wahl zur Verfassunggebenden Landesversammlung mit eingerechnet wird. Im gleichen Zeitraum gab es neun Reichstagswahlen, was damit zusammenhing, dass keiner der Reichstage das von der Weimarer Verfassung vorgesehene planmäßige Ende der Legislaturperiode erreichte. Stets erfolgte eine vorzeitige Auflösung des Reichstags mit den damit verbundenen Neuwahlen. Hinzu kamen 1925 und 1932 je zwei Wahlgänge zur Wahl des Reichspräsidenten. Besonders heftige Auseinandersetzungen und Flügelkämpfe gab es bei verschiedenen Abstimmungen zu Volksbegehren, so zum Beispiel in der Frage der Fürstenenteignung im Jahre 1926, bei der die SPD erstmals gemeinsam mit der KPD zu agieren versuchte. In Württemberg und Hohenzollern sprachen sich schließlich 34,1 % der Wähler für eine entschädigungslose Enteignung der Fürsten aus. Zu den Wahlen auf Reichs- und Landesebene traten noch die Kommunalwahlen. Landtagswahlen Aus den Wahlen am 12. Januar 1919 zur verfassunggebenden Landesversammlung gingen die Mehrheitssozialdemokraten, die in der Tradition der württembergischen Volkspartei stehende DDP, das Zentrum und bürgerliche Regionalparteien als stärkste Fraktionen hervor. Insgesamt waren 150 Sitze zu vergeben, wobei die Weimarer Koalition aus diesen Parteien mit 121 Abgeordneten eine überwältigende Mehrheit besaß. Durch ein am 8. Mai 1920 beschlossenes neues Landeswahlgesetz wurde die Zahl der zukünftig zu wählenden Landtagsabgeordneten auf 101 festgelegt. Die erste reguläre Landtagswahl am 6. Juni 1920 führte mit insgesamt 55 Sitzen noch einmal zu einer absoluten Mehrheit für die Weimarer Koalition, wenngleich diese nur noch recht knapp behauptet wurde und die Parteien, welche die Weimarer Republik ablehnten, über 43 % der Stimmen verbuchten. Zwar beteiligte sich die SPD nur zeitweilig an der Regierung, stand aber bis 1924 nicht in direkter Opposition zur Regierungspolitik. Durch das Gesetz vom 4. April 1924 wurden die zu vergebenden Landtagsmandate auf insgesamt 80 reduziert. Nach der Landtagswahl vom 4. Mai 1924 schrumpfte die Weimarer Koalition auf 39 Abgeordnete, womit die absolute Mehrheit knapp verfehlt wurde. Der Stimmenanteil der Gegner von Weimar betrug über 46 %. Seither befand sich die SPD in Württemberg in der Rolle der Opposition. Bei der Landtagswahl vom 20. Mai 1928 hätte die Weimarer Koalition mit 47 Sitzen noch einmal die absolute Mehrheit gehabt. Die Gegner der Republik sanken auf einen Stimmenanteil von 33 %. Trotzdem blieb die SPD in der Opposition. Es fanden zwar Sondierungsgespräche zwischen dem württembergischen Landesvorsitzenden des Zentrums, Josef Beyerle, und Wilhelm Keil von der SPD statt, aber das Zentrum unter dem bestimmenden Einfluss von Eugen Bolz zog die Fortsetzung einer Koalition mit Bürgerpartei und Bauernbund einem Bündnis mit der für regierungsunfähig befundenen SPD schließlich vor. Die Zentrumspolitiker befürchteten zudem, dass ein in die Opposition verwiesener Bauernbund dann womöglich die ländliche Wählerschaft des Zentrums gewinnen hätte können. Verheerend wirkte sich die Landtagswahl vom 24. April 1932 aus. Der Stimmenanteil der Republikgegner (NSDAP, DNVP, WBWB und KPD) überstieg erstmals die absolute Mehrheit. Die NSDAP wurde mit 23 Sitzen stärkste politische Kraft im Land, aber auch die KPD hatte zulegen können. Die folgende Übersicht zeigt die Ergebnisse sämtlicher Landtagswahlen in Württemberg während der Weimarer Republik: Die Neuzusammensetzung des nur noch 60 Sitze umfassenden Landtags erfolgte gemäß dem Gleichschaltungsgesetz vom 31. März 1933 entsprechend dem Ergebnis der Reichstagswahl vom 5. März 1933. Die Sitze der KPD waren wegen desselben Gesetzes von Beginn an unwirksam, was zur absoluten Mehrheit der NSDAP mit der DNVP im Landtag führte. Die DNVP war unter dem Namen Kampffront Schwarz-weiß-rot zur Reichstagswahl am 5. März 1933 angetreten. Die einzige Sitzung des Landtags fand am 8. Juni 1933 statt. Die Sitze der SPD wurden mit der Verordnung zur Sicherheit der Staatsführung vom 7. Juli 1933 unwirksam. Die Legislaturperiode endete bereits am 14. Oktober 1933. Mit dem Gesetz zum Neuaufbau des Reichs wurde der Landtag am 30. Januar 1934 abgeschafft, wie alle anderen Landesparlamente in Deutschland. Reichstagswahlen Die folgende Tabelle zeigt, wie die Württemberger während der Weimarer Republik bei Reichstagswahlen abgestimmt haben: Bei den Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 bildeten die WBP und die WBWB noch eine gemeinsame Liste. Bei der Wahl am 4. Mai 1924 trat die WBP (DNVP) sowie die Vereinigten Vaterländischen Verbände als Liste der Vaterländisch-völkischen Rechten an. Bei beiden Reichstagswahlen des Jahres 1924 war die NSDAP verboten. Am 4. Mai 1924 steht das angegebene Wahlergebnis in der Spalte der NSDAP für die Liste des VSB (Völkischsozialer Block) und am 7. Dezember 1924 für die Liste der NSFB (Nationalsozialistische Freiheitsbewegung). Bei allen Reichstagswahlen blieb das Ergebnis der NSDAP deutlich hinter dem Gesamtergebnis im Reich zurück. Dieser Effekt ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Die allgemeine wirtschaftliche Lage in Württemberg war etwas besser als im übrigen Reich. Die Bindung der katholischen Minderheit an das Zentrum als deren Interessensvertretung war in Württemberg besonders stark, aber auch die Verbundenheit der protestantischen Landbevölkerung mit dem Württembergischen Bauern- und Weingärtnerbund erwies sich als besonders robust. Die strengen Pietisten hielten dem Christlich-Sozialen Volksdienst die Treue. Erst im Jahr 1933 kippte das Wahlverhalten zugunsten der Nationalsozialisten um. Die nachfolgende Tabelle stellt die Stimmenanteile der NSDAP bei Reichstagswahlen in Württemberg und im gesamten Reich gegenüber: Die am 12. November 1933 durchgeführte Reichstagswahl mit einer NS-Einheitsliste war nur noch eine Farce. Wer der Wahl fernblieb oder ein negatives Votum abgab, galt als Volksverräter. Am gleichen Tag durfte auch für den Austritt des Deutschen Reichs aus dem Völkerbund gestimmt werden. Am 10. April 1938 wurde im Zusammenhang mit der Volksabstimmung über den Anschluss Österreichs auch die Wahl der NS-Einheitsliste für den neuen Großdeutschen Reichstag vorgenommen. Offiziell stimmen über 99 % der Wähler mit „ja“. Wahlen zum Amt des Reichspräsidenten Nur 1925 und 1932 hatte das deutsche Volk in seiner Geschichte die Gelegenheit, in freier und geheimer Wahl sein Staatsoberhaupt direkt zu bestimmen, und es votierte in beiden Fällen für Paul von Hindenburg. Die beiden nachfolgenden Tabellen zeigen, wie die Wähler in Württemberg und Hohenzollern im Vergleich zur gesamten Reichsbevölkerung beim jeweils entscheidenden zweiten Wahlgang 1925 und 1932 abstimmten: Die Tatsache, dass der Vertreter des Volksblocks, Wilhelm Marx, im Abstimmungsgebiet Württemberg und Hohenzollern den Sieg gegenüber dem Vertreter des antirepublikanischen Reichsblocks, Hindenburg, davongetragen hatte, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade auch Württemberg einen gewissen Beitrag zum Sieg Hindenburgs leistete. Es waren in Württemberg nicht nur die kirchentreuen Protestanten und konservativen Monarchisten, die Hindenburg erwartungsgemäß ihre Stimme gaben, sondern auch in großer Zahl antikatholisch gesinnte Liberale. Mit dieser Verweigerungshaltung gegenüber dem Katholiken Marx wichen die württembergischen Liberalen deutlich ab vom Verhalten der Wähler in anderen klassischen Gebieten des Liberalismus, wo zumeist Marx, nicht Hindenburg, gewann. Das Wahlmotto der KPD für ihren Kandidaten Ernst Thälmann lautete 1932: „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler. Wer Hitler wählt, wählt den Krieg.“ Eine große Mehrheit der Wähler in Württemberg und Hohenzollern entschied sich für den bisherigen Amtsinhaber. Reichspräsident Hindenburg ernannte am 30. Januar 1933 Hitler zum Reichskanzler. Nach dem Tod Hindenburgs am 2. August 1934 gab es am 19. August eine Volksabstimmung über die Zusammenlegung des Amts des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten in der Person des Führers Adolf Hitler. 89,9 % der Stimmberechtigten im Deutschen Reich bestätigen die Vereinigung der Ämter. Wirtschaftliche Entwicklung Landwirtschaft und Industrie Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war es für Württemberg typisch, dass Industriearbeiter nebenbei auch eine kleine Landwirtschaft betrieben oder dass Bauern, die von den Erträgen ihrer kleinen Betriebe nicht mehr den Unterhalt ihrer Familien bestreiten konnten, auch in der Industrie arbeiteten. Deshalb blieb die Zahl der Kleinbetriebe hoch. Sie steigerte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar noch, als sich die Industrialisierung in Württemberg durchsetzte. Diese Kleinbetriebe waren jedoch wenig produktiv, und der Mechanisierungsgrad blieb gering. Da sie zur sozialen Absicherung dienten, war dies weniger wichtig. Die versteckte Arbeitslosigkeit auf dem Land war hoch und wurde in Kauf genommen. Nach der Inflation waren viele Betriebe weitgehend der Betriebsmittel oder liquidierbarer Reserven beraubt, oft hoch verschuldet und kaum mehr in der Lage, ihre Funktionalität aus eigener Kraft wiederherzustellen. Die württembergische Landwirtschaft befand sich 1932 an einem absoluten Tiefpunkt. Wegen der Nebenerwerbslandwirtschaft waren württembergische Arbeiter weniger bereit, der Arbeit hinterher zu ziehen. Sie pendelten lieber zu ihren Arbeitsplätzen. Auch die Unternehmer waren gezwungen, ihre Betriebe dort zu gründen, wo es Arbeitskräfte gab. So war die Industriestruktur in Württemberg eher dezentral. Industriebetriebe befanden sich auch im ländlichen Raum, und es gab vielfach sogenannte Industriedörfer. Diese dezentrale Struktur machte die Industrie in Württemberg stabiler gegen die Krisen während der Zeit der Weimarer Republik. Viele Arbeitslose konnten sich auf eine Grundversorgung aus der Nebenerwerbslandwirtschaft stützen, weswegen sie für eine politische Radikalisierung weniger anfällig waren – einer der Gründe, warum die NSDAP in Württemberg schlechtere Wahlergebnisse als im Reich insgesamt erzielte. Die Inflation und ihre Folgen Die Anfangsjahre der Republik waren harte Krisenjahre bedingt durch die Inflation, die Ende des Jahres 1923 abgeschlossen war. Dies trieb zahlreiche Württemberger zur Auswanderung aus Deutschland. Unter der Inflation hatten insbesondere die Kleinrentner und Geldwertbesitzer gelitten. Diese fielen als Steuerzahler aus und belasteten stattdessen als Fürsorgeempfänger die öffentlichen Haushalte. Um diese zu sanieren, mussten die Beamten empfindliche Gehaltseinbußen hinnehmen. Mit der Währungsstabilisierung Ende 1923 kam es zu einem allgemeinen Kapital- und Kreditmangel, was zu einem starken Anstieg der Konkurse führte. Gab es 1923 in Württemberg nur 13 Firmenzusammenbrüche, so waren es 1924 insgesamt 318 Konkurse, gefolgt von 473 Konkursen im Jahr 1925 und 597 Konkursen im darauf folgenden Jahr. Die Zahl der Konkurse war lediglich von 1927 bis 1929 rückläufig, stieg aber infolge der Weltwirtschaftskrise wieder an. Trotz der Krise entstanden in Württemberg nach dem Krieg mehrere zum Teil heute noch bedeutende Unternehmen. Gründungen in den Jahren bis zur Hyperinflation (1918–1923) waren zum Beispiel die Firmen Bauknecht, Maybach-Motorenbau GmbH, Läpple, Mahle, Silit, Balluff, Chiron, Delmag, Dornier, Hugo Boss und Trumpf. Die Baufirma Züblin verlegte 1919 ihren Hauptsitz nach Stuttgart, und 1921 wurden die Schwäbischen Hüttenwerke neu firmiert. Auch das Handelsunternehmen Kriegbaum in Böblingen entstand direkt nach dem Ersten Weltkrieg. Erholung der Wirtschaft Obwohl es zahlreiche Konkurse gab, setzte Mitte der 1920er Jahre eine Aufwärtsentwicklung der Wirtschaft ein, die Württemberg zu einem führenden Land der verarbeitenden Industrie machte. Damit gelang es in Württemberg, den Staatshaushalt wieder in Ordnung zu bringen. War Württemberg im 19. Jahrhundert wegen seiner ungünstigeren topographischen und klimatischen Verhältnisse gegenüber dem Nachbarland Baden wirtschaftlich schlechter gestellt, so kehrte sich dieses nach dem Ersten Weltkrieg ins Gegenteil. Die topographischen Nachteile Württembergs waren mit dem Bau der Eisenbahn schon im Königreich überwunden worden. Die Zahl der Beschäftigten in der Landwirtschaft nahm stetig ab und in der Industrie zu, so dass das rauere Klima Württembergs zunehmend weniger ins Gewicht fiel. Baden hingegen wurde mit dem Verlust Elsass-Lothringens an Frankreich ab 1918 plötzlich deutsches Grenzland. Es litt schwer unter den ständigen Drohungen aus Paris, ausstehende Reparationszahlungen des Reichs könnten mit militärischer Besetzung von badischem Gebiet beantwortet werden. Dies geschah schließlich im Februar 1923 in Offenburg und Appenweier durch den Einmarsch französischer Truppen und führte zur Blockade der Rheintaleisenbahn mit erheblichen negativen Folgen für die Wirtschaft. Dies ermunterte Investoren nicht, badische Industriestandorte zu erhalten oder auszubauen. In gleicher Weise ungünstig für die badische Industrie wirkte sich der von 1929 bis 1932 stattfindende Bau der französischen Maginotlinie und später des deutschen Westwalls aus. Manch Unternehmer verlagerte zur Sicherheit – um aus dem Schussfeld feindlicher Artillerie zu geraten – die Produktion ganz oder teilweise von der Oberrheinachse in den mittleren Neckarraum. Der Publizist Karl Moersch versteht die Fusion der Benz & Cie. in Mannheim mit der Daimler-Motoren-Gesellschaft in Stuttgart zur Daimler-Benz AG im Jahre 1926 ebenfalls in diesem Sinne, die zu einem Abbau der Arbeitsplätze an den Standorten Gaggenau und Mannheim führte, während die Standorte Stuttgart-Untertürkheim und Sindelfingen kräftig ausgebaut wurden, was sich in der Anzahl der Beschäftigten zeigte. Bedeutende Firmengründungen in Württemberg zur Zeit der Goldenen Zwanziger Jahre (1924–1929) waren zum Beispiel die Firma Hirschmann GmbH, die Firma Metabo, die Firma Festo, die Firma Marquardt, die Firma Gutbrod, die Stihl Maschinenfabrik, die Firma Maico, die Eberhard Bauer Werke, die Firma Kress Elektrowerkzeuge und die Firma Wohlhaupter. Das moderate Wirtschaftswachstum Württembergs Mitte der zwanziger Jahre war auf den Kraftfahrzeugbau, den Maschinenbau, die Feinmechanik und die Elektrotechnik begründet. Zugpferde dieser Branchen waren die Firmen Daimler und Bosch. Daneben spielte die traditionelle Textil- und Bekleidungsindustrie, Brauereien, Schaumweinfabriken, die Möbelindustrie, der Wohnungsbau und das Verlagswesen eine wichtige Rolle. Von 1923 bis 1935 wurde der Neckar von Mannheim nach Heilbronn als Großschifffahrtsweg ausgebaut. 1925 wurde der Flughafen Böblingen in Betrieb genommen, der als Vorgänger des erst 1936 begonnenen Flughafens Stuttgart gelten kann. Der Stolz der Lüfte waren jedoch zunächst nicht so sehr Flugzeuge, sondern hauptsächlich die in Friedrichshafen gebauten Zeppeline. Im Oktober 1924 überquerte Kapitän Hugo Eckener zum ersten Mal mit einem Luftschiff den Atlantik. Der Zeppelin LZ 126 musste als Reparationsleistung von Friedrichshafen nach Lakehurst in den USA gebracht werden. Dieser gelungene Ozeanflug mit einem Luftschiff gab den Anstoß für die ab 1927 mit Flugzeugen stattfinden Ozeanflüge, deren Auftakt dem Amerikaner Charles Lindbergh gelang. Ab Juli 1928 fuhr das neue Luftschiff LZ 127 unter deutscher Flagge, im Oktober 1928 nach Amerika und wieder zurück, später öfter nach Lateinamerika und in alle Teile der Welt; stets mit großer Präsenz in den Printmedien und der Wochenschau. Der tragische Unfall des Zeppelins Hindenburg bedeutete 1937 praktisch das Ende des großen Mythos der deutschen Luftschifffahrt. Günstig für die Wirtschaft wirkte sich aus, dass für eine Vielzahl von Produkten entsprechende Patente noch aus der Zeit des Königreichs Württemberg vorlagen. Der sprichwörtliche schwäbische Tüftlergeist kam hier zum Tragen. Württemberg wurde ein Zuwanderungsland für Arbeitskräfte. Das Klima zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern war in Württemberg insgesamt freundlicher als andernorts in Deutschland, da ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften die Unternehmer dazu zwang, ihre Mitarbeiter in schlechten Zeiten möglichst lange zu halten, damit diese in Zeiten der wirtschaftlichen Erholung nahtlos zur Verfügung standen. Dieses Verhalten zwang jedoch in Krisenzeiten zu teilweise drastischer Kurzarbeit bei entsprechender Lohnkürzung. Die nachfolgende Tabelle zeigt die Verteilung der württembergischen Arbeitskräfte auf die verschiedenen Wirtschaftssektoren: Wer es sich leisten konnte, nahm an der fortschreitenden Modernisierung des Alltags teil. Dazu gehörten zum Beispiel Statussymbole wie die ständig wachsende Zahl der Automobile. Das Telefon hielt Einzug in die Haushalte ebenso wie der elektrische Strom. Das Streckennetz der Eisenbahn wurde in den Jahren der Weimarer Republik durch weitere Nebenstrecken erweitert. Die Landwirtschaft hatte ihre traditionellen Schwerpunkte im Acker- und Gemüsebau, in der Viehzucht sowie im Wein- und Obstbau. Die Mechanisierung und Motorisierung der Landwirtschaft kam in Gang. Es gab in Württemberg acht Handels- und Gewerbekammern und vier Handwerkskammern. In Stuttgart und in Ulm befand sich je eine Hauptstelle der Reichsbank. Wichtige Banken waren die Württembergische Hypotheken-, Noten- und Vereinsbank und die Württembergische Landessparkasse. Bedeutende Versicherungsunternehmen waren die Allgemeine Rentenanstalt Actien-Gesellschaft und die Württembergische Privat-Feuer-Versicherungs-Gesellschaft. Die Weltwirtschaftskrise Ein dem westdeutschen Wirtschaftswunder der 1950er Jahre vergleichbares Wachstum hat es in der Weimarer Republik nicht gegeben. Die Krisenzeiten waren zu lang und die Erholungsphase von 1924 bis 1929 zu kurz. Die Weltwirtschaftskrise führte von 1930 bis 1934 zu einem erneuten dramatischen Konjunkturrückgang. Insbesondere in den Kernregionen der württembergischen Industrie um Stuttgart, Heilbronn, Esslingen, Reutlingen und Schwäbisch Gmünd schwollen die Arbeitslosenzahlen an. Die nachfolgende Tabelle zeigt die Anzahl der württembergischen Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt bezogen auf die Jahre 1929 bis 1933: In den ländlich geprägten Regionen Hohenlohes oder Oberschwabens war zwar Arbeitslosigkeit ein geringeres Problem, aber auch die Landwirtschaft geriet in die Krise, weil die Preise wegen mangelnder Kaufkraft verfielen. Das Handwerk hatte unter dramatischen Auftragsrückgängen und schlechter Zahlungsmoral der verbliebenen Kunden zu leiden. Wegen der besonderen Mischung der verschiedenen Industriezweige und der engeren Verflechtung der Bevölkerung mit der Lebenswelt der Bauern war die Arbeitsmarktkrise in Württemberg zwar geringer als im Reichsdurchschnitt, aber der wirtschaftliche Misserfolg der Weimarer Republik wurde auch hierzulande letztlich den parlamentarisch gesinnten Politikern angekreidet, was sich in den Wahlergebnissen zeigte. Selbst in diesen Krisenjahren (1930–1933) erfolgte die Gründung von Unternehmen, so zum Beispiel die Firma Porsche in Stuttgart-Zuffenhausen, das Handelsunternehmen Lidl & Schwarz KG in Heilbronn und die L. Hermann Kleiderfabrik in Künzelsau. Dass den Unternehmen oft kein langer Erfolg beschieden war, zeigt das Beispiel der Württembergischen Motorradfabrik in Rottenburg. Der Aufschwung nach 1934 In der NS-Diktatur erholte sich die Wirtschaft rasch. Besonders die Industrie in Württemberg profitierte von den bald einsetzenden Rüstungsaufträgen. Im Jahre 1934 begann der Bau der Autobahnen. Am 21. März 1934 erfolgte der erste Spatenstich zur Autobahn zwischen Plieningen und Bernhausen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Strecken Karlsruhe-Stuttgart-Ulm und Stuttgart-Heilbronn eröffnet. Außerdem wurde 1935 der Ausbau des Neckars zur Großschifffahrtsstraße von Mannheim bis Heilbronn fertiggestellt und der weitere Ausbau bis Plochingen begonnen. Bedingt durch den Verlauf des Krieges, sank das Produktionsvolumen der württembergischen Industrie im Winter 1944/45 auf die Hälfte des Vorjahresniveaus und kam mit dem Einmarsch der Alliierten 1945 praktisch vollständig zum Erliegen. Bevölkerungsentwicklung Für die Bevölkerungsentwicklung Württembergs spielten sowohl die 71.641 gefallenen württembergischen Soldaten des Ersten Weltkriegs als auch die Opfer der Spanischen Grippe der Jahre 1918 bis 1920 sowie ganz allgemein die wirtschaftliche Notsituation in den Anfangsjahren des Volksstaats, bedingt durch die Inflation und auch die Weltwirtschaftskrise ab 1929, eine Rolle. Kam es während der Inflationszeit noch zur Auswanderung (1923: 12.706 Personen) vor allem in die USA, so war dies nach 1929 nicht mehr möglich, da die USA ebenfalls von der Weltwirtschaftskrise betroffen waren und weitere Zuwanderung beschränkten. Die nachfolgende Tabelle listet die Ergebnisse der Volkszählungen aus den Jahren 1919, 1925 und 1933 für Württemberg auf: Im Mai 1939 zählte Württemberg 2.907.166 Einwohner, davon 1,84 Millionen evangelische Christen und 0,94 Millionen Katholiken. Kultur Viele Elemente der Kultur des Königreichs Württemberg wirkten im Volksstaat weiter, insbesondere was den schwäbischen beziehungsweise fränkischen Volkscharakter und Dialekt, die Religiosität sowie das Brauchtum und Vereinsleben betraf. Das kulturelle Leben in der Weimarer Republik war jedoch stark beeinflusst von den Folgen des Ersten Weltkriegs. Die Straßen der Nachkriegsjahre waren geprägt vom Bild zahlreicher kriegsversehrter Veteranen. Eine ganze Generation junger Männer war durch die Kriegsjahre brutalisiert und teilweise gesellschaftlich völlig entwurzelt worden. Sie neigten dazu, sich politisch extremen Ansichten und Gruppierungen anzuschließen. In weiten Kreisen der Gesellschaft fehlte das Bewusstsein, dass der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ganz wesentlich durch die Führung des Deutschen Kaiserreichs und den Geist der damals führenden Schicht verschuldet war. Deren verfehlte Politik und Strategie bei der Durchführung des Kriegs waren der wesentliche Grund für die Niederlage. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war dies ganz anders. Die Schuldfrage und alle damit zusammenhängenden Folgen waren am Ende für jeden offensichtlich. Mit der Bewusstseinslage nach 1918 hängen die Entstehung und der Glaube an die Dolchstoßlegende zusammen. Zudem sorgte die mangelnde Weitsicht der Siegermächte dafür, dass das Gewicht der für eine friedliche Politik und Demokratie eintretenden Deutschen durch das „Diktat von Versailles“ nachhaltig geschwächt wurde. In Württemberg gab es nur wenige, die dem in die Niederlande geflohenen Kaiser nachtrauerten. Dass aber das Königreich Württemberg und insbesondere dessen letzter sehr beliebter Monarch der Vergangenheit angehörten, nährte die Sehnsucht nach der verloren geglaubten guten alten Zeit. Diese musste dem Schwarzmarkt, dem Schleichhandel, der Lebensmittelknappheit, der Inflation und dem „Verfall der Sitten“ in den Nachkriegsjahren weichen. Es war die Zeit von Oswald Spenglers großem Bucherfolg Der Untergang des Abendlandes. Als im Oktober 1921 der ehemalige König Wilhelm II. in Bebenhausen starb, säumten mehr als 100.000 Menschen den Weg des Trauerzugs zur Beerdigung in Ludwigsburg. Ein Jahr später wurden die königlichen Kunstsammlungen versteigert und wanderten vielfach in die devisenstarken USA. In den Jahren der Weimarer Republik tat sich eine tiefe Kluft auf zwischen einer kulturellen Avantgarde der großen Städte, in Württemberg insbesondere in Stuttgart, und der in traditionellem Denken verhafteten Bevölkerung der Kleinstädte und Dörfer in den ländlichen Gebieten. Für weite Teile der Bevölkerung spielte die Religion und besonders die Zugehörigkeit zu einer der Konfessionen immer noch eine große Rolle. Religion Evangelische Landeskirche Unter dem Eindruck des verlorenen Kriegs sammelten sich viele evangelische Württemberger auf der Suche nach einer neuen Orientierung seit Pfingsten 1919 im Evangelischen Volksbund. Dessen Ziel war es, christliche Werte wieder ins allgemeine Bewusstsein zu heben und der verbreiteten Abkehr vom christlichen Glauben entgegenzuwirken. Die Frage war, wie angesichts der Schlachten des Ersten Weltkriegs von Gott gesprochen werden konnte. Im Jahre 1922 gab es bereits 225.000 Mitglieder und 738 Ortsvereine in Württemberg. Beim Evangelischen Volksbund handelte es sich um eine sehr starke Laienorganisation in Ergänzung zur offiziellen Kirche. Im Artikel 137 sah die Weimarer Verfassung eine Trennung von Kirche und Staat vor. Das am 3. März 1924 während der Regierung Hieber verabschiedete Kirchengesetz führte diese Trennung durch. Das in Württemberg seit der Reformation bestehende enge Band zwischen dem Staat und der Evangelischen Landeskirche wurde damit als Voraussetzung für deren Selbstverfassung und Selbstverwaltung gelöst, und es trat nach dem Beschluss der Landeskirchenversammlung an die Stelle des ehemaligen Königs als Landesbischof ein Kirchenpräsident, der ab 1933 den Titel Landesbischof führte. Die evangelische Kirche war zu einer Körperschaft des öffentlichen Rechts geworden. Die beiden evangelischen Kirchenpräsidenten in der Zeit des Volksstaates Württemberg waren Johannes von Merz und Theophil Wurm. Bereits 1922 wurde die Evangelische Landeskirche in Württemberg Mitglied des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes. In den Nachkriegsjahren gewannen die altpietistischen Gemeinschaften innerhalb der Landeskirche an Zulauf. Den Evangelischen fehlte eine vergleichbare politische Heimat wie den Katholiken das Zentrum. Die Weimarer Republik wurde vom Protestantismus vielfach als „Staat ohne Gott“ abgelehnt und darum in Württemberg der Bürgerpartei oder dem Bauern- und Weingärtnerbund die Stimme gegeben. Der spätere Kirchenpräsident Theophil Wurm war Abgeordneter der Bürgerpartei in der Verfassunggebenden Landesversammlung. Wurm stand mit seiner sozialen, nationalen, konservativen und volkskirchlichen Einstellung stellvertretend für viele evangelische Pfarrer und Gemeindemitglieder. Der als evangelische Partei auftretende Christlich-Soziale Volksdienst wurde von Wurm auf politischer Ebene abgelehnt und konnte sich somit nicht als gesamtevangelische Partei etablieren. Ein sehr großer Teil der evangelischen Pfarrer waren Antisemiten. Eine bemerkenswerte Ausnahme war der evangelische Stadtpfarrer von Stuttgart-Heslach, Eduard Lamparter (1860–1945), der in Wort und Schrift öffentlich gegen den Antisemitismus Stellung bezog und dafür aus evangelischen Kreisen heftig angefeindet wurde. Ab Anfang der dreißiger Jahre wandten sich viele evangelische Pfarrer offen dem Nationalsozialismus zu. Wurm begrüßte 1933 zunächst die Machtergreifung Hitlers. Im Dritten Reich blieb die Evangelische Landeskirche in Württemberg unter Landesbischof Theophil Wurm weitgehend eigenständig (vgl. intakte Kirchen) und entzog sich dem Einfluss der von den Deutschen Christen beherrschten Reichskirche unter Reichsbischof Ludwig Müller. Römisch-katholische Kirche Während für die Christen in der Evangelischen Landeskirche der Untergang der Monarchie einen direkten Einfluss auf das bisherige Selbstverständnis und die Organisation ihrer Kirche hatte, erlebten die dem Bistum Rottenburg zugehörigen Katholiken die neue Zeit eher als Befreiung von noch aus königlicher Zeit bestehenden Behinderungen. Bereits seit 1918 waren in Württemberg katholische Männerorden zugelassen, wodurch in den folgenden Jahren einige Klöster neu entstehen oder wieder errichtet werden konnten, so zum Beispiel die Benediktinerabteien Neresheim (1919) und Weingarten (1922). Vom 22. bis 26. August 1925 fand der 64. Deutsche Katholikentag in Stuttgart statt, an dem der Apostolische Nuntius für Deutschland, Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII., teilnahm. In den Jahren 1920 und 1931 gab es jeweils einen sogenannten Kleinen Katholikentag in Stuttgart. Im Jahre 1928 war ein Diözesanjubiläum, da das Bistum Rottenburg sein hundertjähriges Bestehen feiern konnte. Der Rottenburger Bischof Joannes Baptista Sproll war in der NS-Zeit ein engagierter Gegner des Regimes. Er blieb 1938 der Volksabstimmung über den Anschluss Österreichs demonstrativ fern, da er zwar den Anschluss befürwortete, mit seiner Ja-Stimme jedoch nicht noch zwangsläufig seine Unterstützung für die NS-Einheitsliste der Zusammensetzung des Großdeutschen Reichstags abgeben wollte. Judentum Bedeutende jüdische Gemeinden befanden sich in Stuttgart (zirka 4600 Juden), Heilbronn (zirka 900 Juden), Ulm (zirka 570 Juden) und traditionell in Laupheim (noch zirka 250 Juden in den 1920er Jahren). Insgesamt lebten in Württemberg zirka 10.000 Juden, die sich auf Rabbinate und Religionsgemeinden verteilten und in ihrer überwiegenden Mehrzahl als Deutsche die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen. 1932 gab es in Württemberg insgesamt 23 staatlich anerkannte jüdische Gemeinden. Im Jahre 1924 gaben die württembergischen Juden der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs eine neue Verfassung. Deren gesetzgebendes Organ war die Israelitische Landesversammlung. Diese wählte als Vollzugsorgan den sogenannten Oberrat. Präsidenten des israelitischen Oberrats waren Carl Nördlinger (1924 bis 1929) und Otto Hirsch (seit 1929). Der Philosoph Martin Buber beteiligte sich 1926 an der Gründung des Jüdischen Lehrhauses in Stuttgart, welches dem Beispiel des Frankfurter Freien Jüdischen Lehrhauses folgte. Vom Stuttgarter Lehrhaus gingen Impulse zu einem jüdisch-christlichen Dialog aus. Die meisten jüdischen Familien in den Städten gehörten zum gehobenen Mittelstand und waren in religiöser Hinsicht liberal. In den ländlichen jüdischen Gemeinden, deren Mitglieder wegen der herrschenden Landflucht meist ärmer und älter als diejenigen in den Städten waren, wurde die jüdische Religion wesentlich traditioneller ausgeübt. Der Zionismus spielte in Württemberg keine große Rolle. Der Antisemitismus, den es schon immer gab, wurde in den Anfangsjahren der Republik von den Juden kaum als Gefahr wahrgenommen. Dies änderte sich erst mit der Weltwirtschaftskrise, als die Präsenz der NSDAP rasch immer stärker wurde. In der Zeit des Nationalsozialismus ab dem Jahre 1933 begann dann die Ausgrenzung, Entrechtung, Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der Juden. Wie im übrigen Reichsgebiet boykottierten die Nationalsozialisten zum Auftakt am 1. April 1933 jüdische Geschäfte, entließen die jüdischen Beamten und wendeten die Nürnberger Rassegesetze an. In der Pogromnacht am 9. November 1938 wurden auch in Württemberg Gewaltakte gegen die jüdische Bevölkerung verübt. Teile der jüdischen Bevölkerung, die diesen Druck und die sich verstärkenden Repressalien und weitere Einschränkungen auf ihr Leben nicht mehr ertragen und sich eine Ausreise leisten konnten, wanderten bis 1941 – als es zuletzt noch möglich war – aus. Ab Herbst 1941 begannen Deportationen in die östlichen Konzentrations- und Vernichtungslager. In insgesamt zwölf Deportationen bis 1945 wurden insgesamt etwa 2.500 Juden aus Württemberg verschleppt und fast ausnahmslos ermordet. Bildungswesen Schulen Bis zum Jahre 1919 war das Bildungswesen reine Ländersache. Durch die Weimarer Verfassung wurden Grundsätze für ein einheitliches Schulwesen im Deutschen Reich gegeben. Eine wichtige Bestimmung des Reichs aus dem Jahre 1920 verlangte die Einführung einer vierjährigen Grundschulpflicht für alle. Dies machte in Württemberg Anpassungen im Bereich der bisher nur drei Klassen umfassenden Elementarschulen nötig. Auch die für die Mädchen vorgesehenen Bürger- und Mittelschulen mussten die bisherigen unteren drei Klassen aufgeben und diese Ausbildungsphase den Grundschulen überlassen. Über die Einhaltung dieser Grundsätze wachte eine Reichsschulbehörde, die als Kulturabteilung beim Reichsministerium des Inneren bestand. Die Ausgestaltung der Rahmenbedingungen oblag in Württemberg dem Kultministerium in Stuttgart. In Württemberg änderte sich mit dem Übergang von der Monarchie zur Republik ansonsten nicht viel. Zwar wurde zunächst von manchen Kreisen heftig gegen den Religionsunterricht polemisiert, aber der Evangelische Volksbund organisierte eine Unterschriftenaktion, in welcher die Eltern für die Beibehaltung des schulischen Religionsunterrichts votierten. Das Zentrum machte seine Zustimmung zum Versailler Vertrag davon abhängig, dass die Volksschulen konfessionell ausgerichtet bleiben konnten, wobei die Schulen in Württemberg schon von jeher staatliche, also nicht kirchliche, Einrichtungen waren. 1920 wurde der jeweilige Ortspfarrer als Vorsitzender des Schulrats durch den ersten Lehrer vor Ort ersetzt. Die Bezirkschulräte waren bis weit in die 1920er Jahre hinein überwiegend Theologen. Nach der Novemberrevolution wurde in Württemberg die Anpassung des Lehrplans von 1912 für unnötig gehalten. Dieser Lehrplan war abgesehen vom Religionsunterricht für die beiden großen Bekenntnisse gleich. An den Lehrerseminaren waren weiterhin hauptsächlich Theologen tätig. Kenntnisse über die Psychologie des Kindes und des Jugendlichen wurden von diesen nicht vermittelt. Als Erziehungsmittel kam, wie an den Schulen des damaligen Europas üblich, weiterhin die Prügelstrafe zum regelmäßigen Einsatz, wobei sich die Lehrer dabei gerne des Rohrstocks bedienten. In Württemberg gab es im Gegensatz zu anderen deutschen Ländern lediglich eine siebenjährige Schulpflicht, was vielen in der Landwirtschaft tätigen Familien sehr entgegenkam, da die Kinder so möglichst bald als zusätzliche Arbeitskräfte eingesetzt werden konnten. Es gelang in den Jahren der Weimarer Republik nicht, zumindest eine achtjährige Schulpflicht in Württemberg herbeizuführen. Es blieb ein von den Oppositionsparteien SPD und DDP seit 1924 vergeblich gefordertes Reformvorhaben, obwohl sich 1920 alle Parteien darauf geeinigt hatten, die achtjährige Schulpflicht bis 1928 einzuführen. Erst während der NS-Zeit wurde durch das Reichsschulpflichtgesetz vom 6. Juli 1938 auch in Württemberg die Schulpflicht zum Schuljahr 1939/40 von sieben auf acht Jahre angehoben. Was die politische Einstellung der Lehrer anbetraf, so kann festgestellt werden, dass besonders unter den Volksschullehrern eine ganze Reihe von Kollegien den Linksparteien (insbesondere der republiktreuen SPD, manche aber auch der radikaleren USPD beziehungsweise demokratiefeindlichen KPD) nahestanden. Da die Volksschullehrer keine gehobenen Beamten waren, litten sie unter schlechter Bezahlung und geringem Sozialprestige. An den höheren Schulen war die Gesinnung der Lehrer dagegen meist deutschnational, bei einigen zudem völkisch, und deshalb gegen die Demokratie gerichtet. Dasselbe traf auch auf die Professoren und Studenten dieser Jahre zu. Eine überwiegend konservative Gesinnung war in diesen Kreisen ganz allgemein verbreitet, was oft Antisemitismus und Ablehnung der Weimarer Republik mit einschloss. Ein prominentes Beispiel in diesem Zusammenhang war der Nationalsozialist Oswald Kroh, der von 1923 bis 1938 Professor für Erziehungswissenschaften in Tübingen war. Seine Phasenlehre der Jugendentwicklung hatte ab der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre bedeutenden Einfluss auf die Lehrerbildung. Erst im Jahre 1928 wurde in Württemberg ein neuer Lehrplan für die Schulen eingeführt. Besonders an den höheren Schulen wurde Wert darauf gelegt, die Schüler und Schülerinnen zu „tüchtigen deutschen Männern und Frauen“ zu erziehen. Dazu gehörte im Einzelnen die harmonische Schulung aller geistigen, seelischen und körperlichen Kräfte, die „Stählung zu pflichtbewusster Arbeit auf sittlich-religiöser Grundlage“, die Vermittlung „fester und gediegener Kenntnisse“, die Anleitung zu wissenschaftlichem Denken sowie die Pflege der „Liebe zum deutschen Vaterland und zur engeren Heimat“. Überhaupt stand die „Pflege des Deutschtums“ ganz hoch im Kurs. Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über die Anzahl von Schulen, Lehrkräften und Schülern des Jahres 1922 in Württemberg Im Schuljahr 1931/32 bestanden noch 1405 Volksschulen mit evangelischer, 892 mit katholischer und zwei mit jüdischer Konfessionsausrichtung. Nur vier Volksschulen waren in Württemberg konfessionell gemischt und wurden damit als Simultanschulen bezeichnet. Zusätzliche Schulformen waren die 94 Elementarschulen, sechs Bürgerschulen, eine Mädchen-Oberrealschule, 16 Mädchen-Realschulen und zwei private Höhere Mädchenschulen. Zudem bestanden noch vier Lateinschulen, vier Seminare für evangelische und zwei Konvikte für katholische Theologen, zwei Lehrer- und zwei Lehrerinnenseminare. Für die Ausbildung im Bereich der Landwirtschaft existierten vier Ackerbau-, eine Gartenbau-, eine Weinbau- und 22 landwirtschaftliche Winterschulen. Hochschulen In Stuttgart bestand seit 1890 die Technische Hochschule, seit 1857 die Musikhochschule (in den Goldenen Zwanzigern unter der Leitung von Wilhelm Kempff) und außerdem die Kunstgewerbeschule. In Hohenheim gab es seit dem Jahre 1904 die Landwirtschaftliche Hochschule. Seit 1918 bestand eine Akademie der Wissenschaften in Stuttgart. Die einzige Universität des Landes, die Eberhard Karls Universität, befand sich in Tübingen. Der Lehrkörper umfasste dort 126 Personen. Es waren im Jahre 1922 insgesamt 3.180 Studenten immatrikuliert, darunter 242 Frauen. Nachfolgend sollen exemplarisch einige Lehr- und Forschungsgebiete Tübingens in den zwanziger Jahren genannt sein. Unter der Leitung von Friedrich Paschen zum Beispiel war Tübingen seit 1901 ein Zentrum der Spektroskopie geworden, womit die experimentellen Grundlagen zur Formulierung der Quantenmechanik erforscht wurden. Auf dem Gebiet der Psychiatrie arbeiteten Professor Robert Eugen Gaupp und seine Schüler Ernst Kretschmer und Alfred Storch. Am Tübinger urgeschichtlichen Forschungsinstitut wirkten Robert Rudolf Schmidt und sein Schüler Hans Reinerth. Zwei dominante Persönlichkeiten an der evangelisch-theologischen Fakultät waren die Professoren Adolf Schlatter und Karl Heim. Durch ihre Anziehungskraft war Tübingen die bestbesuchte theologische Fakultät Deutschlands in der Zeit der Weimarer Republik geworden. An der Fakultät gab es im Jahre 1924 459 Studenten; bis zum Jahr 1933 stieg die Zahl auf 952 an. Die Universität Tübingen wurde in den zwanziger Jahren großzügig erweitert, und es entstanden neue Kliniken. 1927 konnte die Universität ihr 450-jähriges Bestehen feiern. Die Landeshauptstadt Stuttgart als Zentrum der Landeskultur Trotz der Sogwirkung der Reichshauptstadt Berlin als pulsierender Metropole Europas und ungeachtet der Zentralisierungstendenzen in der Politik konnte sich die württembergische Hauptstadt Stuttgart neben anderen Städten wie etwa Hamburg, München oder Leipzig als ein weiteres sehr bedeutendes kulturelles Zentrum im Deutschen Reich behaupten. Es gab in der württembergischen Landeshauptstadt während der 1920er Jahre eine reichhaltige Entwicklung im Bereich der Architektur und bildenden Künste sowie im Theaterleben. Schon seit dem Jahre 1900 spielte der Expressionismus eine wichtige Rolle, welcher ab 1923 der Neuen Sachlichkeit Platz machte. Berühmte Zeitgenossen kamen zu öffentlichen Vorträgen nach Stuttgart: 1919 faszinierte der österreichische Anthroposoph Rudolf Steiner mit drei Vorträgen in der Liederhalle das Publikum, 1920 kam der einstige Württemberger Albert Einstein und stellte in der Liederhalle die Relativitätstheorie vor. 1923 war Gustav Stresemann zu Gast in Stuttgart und nahm Stellung zu den Auswirkungen der Hyperinflation. Am 21. Mai 1925 konnte in Anwesenheit von Reichsaußenminister Gustav Stresemann, Staatspräsident Wilhelm Bazille und Oberbürgermeister Karl Lautenschlager der Umbau des Alten Waisenhauses am Charlottenplatz eröffnet werden, welcher der Sitz des Deutschen Auslandsinstituts (DAI) wurde. Im Jahre 1928 waren in Stuttgart öffentliche Vorträge der Professoren Wassily Kandinsky und Ferdinand Sauerbruch zu hören. 1929 hielt Albert Schweitzer eine Rede im Gustav-Siegle-Haus. Vom 21. bis 23. Mai 1929 konnte die Stadt den sogenannten Vagabundenkongress mit etwa 500 Teilnehmern auf dem Stuttgarter Killesberg nicht verhindern. Im Jahre 1930 besuchte Mahatma Gandhi Stuttgart. Von 1928 bis 1943 besaß Stuttgart im Hindenburgbau ein Großplanetarium mit jährlich etwa 100.000 Besuchern. Vom 21. bis zum 27. Dezember 1931 brannte das Alte Schloss in Stuttgart und damit das Symbol eines halben Jahrtausends württembergischer Geschichte. Das Ereignis hat sich tief ins kollektive Gedächtnis der damals lebenden Württemberger eingegraben und zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise wie ein böses Omen gewirkt. In der Zeit des Nationalsozialismus erreichte der Oberbürgermeister Strölin im Jahr 1936 die Benennung der Stadt Stuttgart mit dem NS-Ehrentitel „Stadt der Auslandsdeutschen“. Im Sommer 1939, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, war die Reichsgartenschau in Stuttgart, aus der der Höhenpark Killesberg hervorging. Bildende Künste und Architektur In der Bildenden Kunst formierte sich an der Stuttgarter Akademie seit 1918 um Adolf Hölzel ein Kreis moderner Künstler. Dazu zählten neben Ida Kerkovius Mitglieder der Üecht-Gruppe, darunter Oskar Schlemmer und Willi Baumeister, zwei bedeutende Vertreter der abstrakten Malerei. 1922 erfolgte in Stuttgart die Uraufführung von Schlemmers Triadischem Ballett. 1923 bildete sich die Stuttgarter Sezession als Abspaltung vom Künstlerbund Stuttgart. Von dieser spaltete sich mit Wilhelm Geyer und Manfred Henninger 1929 die Stuttgarter Neue Sezession ab. In der Architektur standen die Vertreter der Stuttgarter Schule, zu denen Paul Bonatz und Paul Schmitthenner gehörten, unversöhnlich den Architekten der Stuttgarter Weißenhofsiedlung unter Leitung von Ludwig Mies van der Rohe gegenüber. 1928 errichtete Erich Mendelsohn das moderne Kaufhaus Schocken in der Landeshauptstadt. Musik, Schauspiel und literarisches Schaffen Am Württembergischen Staatstheater war von 1918 bis 1922 Fritz Busch als Generalmusikdirektor des Württembergischen Staatsorchesters tätig. Sein Nachfolger wurde Carl Leonhardt. Unter der Intendanz von Albert Kehm gab es am Staatstheater von 1920 bis 1933 allein 50 Uraufführungen. Als Kehm es ab 1924 mit der katholisch-deutschnationalen Regierung Bazilles zu tun hatte, vermied er nach anfänglichem Streit Stücke mit religiös-kirchlichen Bezügen und beschränkte sich auf Dramen mit sozialkritischen und politischen Themen. Während der Weltwirtschaftskrise kam es zu empfindlichen Einsparungen beim Theater, und eine Schließung der Oper wurde erwogen, aber nicht durchgeführt. Im Jahre 1924 wurden die Stuttgarter Philharmoniker erstmals gegründet. 1933 wurde das Orchester geteilt. Die jüdischen und der größte Teil der ausländischen Musiker wurden entlassen. Einige Musiker traten in das Orchester des Reichssenders Stuttgart ein. Die verbliebenen Musiker bildeten nun das sogenannte Landesorchester Gau Württemberg-Hohenzollern. Unabhängiges Theater wurde zum Beispiel von dem 1927 bis 1933 in Stuttgart lebenden Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf gemacht. 1929 kam sein Theaterstück Cyankali – § 218 auf die Bühne. Wolf schrieb für Agitprop-Theatergruppen und engagierte sich für die KPD. Im Jahre 1932 begannen die beiden schwäbischen Originale Oscar Heiler und Willy Reichert mit ihren Bühnenauftritten als Häberle und Pfleiderer bekannt zu werden, wobei der Häberle von Heiler und der Pfleiderer von Reichert verkörpert wurde. Nachdem Willy Reichert 1933 die künstlerische Leitung des Friedrichsbau-Theaters übernommen hatte, trat er dort mit Oscar Heiler unzählige Male auf die Bühne. Als bedeutende Schriftstellerinnen mit württembergischen Wurzeln wirkten Isolde Kurz und Anna Schieber. Der schwäbische Mundartdichter Otto Keller war in den zwanziger und dreißiger Jahren ein Bestsellerautor in Württemberg. Ebenfalls in jener Zeit bekannt für schwäbische Mundartdichtung wurden Schriftsteller wie August Lämmle oder Sebastian Blau. Der aus Leutkirch stammende Dr. Owlglass nahm seinen Wohnsitz zwar ab 1908 in München, blieb aber seiner Heimat Württemberg geistig verbunden. Der aus dem Baltikum kommende Schauspielkritiker Manfred Kyber wohnte zunächst in Stuttgart, ehe er sich in die württembergische Provinz nach Löwenstein zurückzog. Eine sehr erfolgreiche Kinderbuchautorin war die aus Ludwigsburg stammende Tony Schumacher. Die heute weitgehend vergessene Autorin wurde damals als das deutsche Pendant der Schweizerin Johanna Spyri gesehen. Einer der berühmtesten zeitgenössischen Schriftsteller aus Württemberg, Hermann Hesse, lebte seit 1899 in der Schweiz, kehrte aber seiner alten Heimat nie ganz den Rücken. 1921 und 1924 kam er zum Beispiel nach Stuttgart und las in der Liederhalle. Weitere berühmte Autoren kamen ebenfalls gerne zu Lesungen in die Schwabenmetropole, so 1921 der Österreicher Franz Werfel, 1924 Thomas Mann und Gerhart Hauptmann, 1925 Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal. Da es das Fernsehen in den zwanziger und dreißiger Jahren noch nicht gab, spielte der Besuch von Lichtspielhäusern eine große Rolle. Der Rundfunk in Württemberg Am 8. Mai 1924 wurde die Süddeutsche Rundfunk AG (SÜRAG) in Stuttgart in Betrieb genommen. Das Sendegebiet erstreckte sich über Württemberg und Baden. Am Anfang war die Zahl der Hörer jedoch sehr gering und beschränkt auf die Personen mit einem Interesse für diese Art der technischen Neuerung. Es bildeten sich Vereine der Rundfunkhörer, und für Personen ohne eigenes Rundfunkgerät zu Hause entstanden öffentlich zugängliche Hörstuben, zum Teil verbunden mit den lokalen Gaststätten. Am 15. Mai 1925 schloss sich der privatwirtschaftlich organisierte Sender in Stuttgart mit neun weiteren regionalen Sendegesellschaften zur Reichs-Rundfunk-Gesellschaft in Berlin zusammen, um für die Wahrnehmung gemeinsamer Interessen im ganzen Reichsgebiet gewappnet zu sein. 1927 hatte der Süddeutsche Rundfunk etwas über 46.000 ordnungsgemäß angemeldete Hörer, die für eine Gebühr von zwei Reichsmark im Monat das Programm mitverfolgen durften. Sehr zur Verbesserung des Empfangs trug die am 21. November 1930 erfolgte Einweihung der Sendeanlage Mühlacker, des ersten deutschen Großsenders, bei. Im Jahre 1932 gab es bereits beinahe 128.000 Hörer der SÜRAG. Gesendet wurden hauptsächlich Musiksendungen, Hörspiele und Lesungen. Zudem wurden, wenn auch selten, politische Inhalte behandelt. Dies änderte sich erst in der NS-Zeit, als es zum massiven propagandistischen Missbrauch des Mediums Rundfunk kam. Der Sender in Stuttgart war nun Reichssender geworden. 1935 gab es über 250.000 Hörer in Württemberg. Jugendbewegungen und Sport Ein deutlich sichtbares Phänomen der Nachkriegsjahre waren die zahllosen meist schon zur Jahrhundertwende entstandenen Jugendbewegungen wie zum Beispiel die Naturfreunde, die bündische Jugend, die Sportjugend und die kirchliche Jugend. Es wurden gemeinsame Wanderfahrten und Zeltlager organisiert, je nach Orientierung passende Kleidung oder Uniformierung getragen, alte Volkslieder gesungen und Alkohol, Nikotin und Gesellschaftstanz abgelehnt. Im pietistischen Württemberg sammelten sich engagierte junge Christen zu Schülerbibelkreisen, die aber den emanzipatorischen Geist der übrigen Jugendbewegung vermissen ließen. Im Dezember 1919 trennte sich ein Teil der im Landesverband der Bibelkreise in Württemberg organisierten Jugend, um einen mehr im Geist der übrigen Jugendbewegung stehenden Verband zu gründen, der unter der Führung Jakob Wilhelm Hauers als Köngener Bund bekannt wurde, da sich die Mitglieder im Jahr 1920 mehrfach im Schloss Köngen getroffen hatten. Im Gegensatz zum Freizeitengagement blieb die Jugend insgesamt weitgehend unpolitisch, da sie in den schon aus der Kaiserzeit überkommenen Interessenparteien der Weimarer Zeit ihre eigenen Anliegen kaum vertreten sah. Für die geburtenstarken Jahrgänge nach 1900, die auf den desolaten Arbeitsmarkt drängten, kam das Gefühl auf, in Wirtschaft und Politik nicht gebraucht zu werden. Sport erfreute sich in der Weimarer Republik sehr großer Beliebtheit, sowohl aktiv als auch passiv, also in Form des Besuchs von Wettkampfsport-Ereignissen. In diesem Zusammenhang zu nennen sind die Sechstagerennen in der Stuttgarter Stadthalle, ebenso Boxturniere oder im Motorsport die Solituderennen. Einen hohen Stellenwert hatte schon in den 1920er Jahren der Fußball. Bis 1930 dominierten die Stuttgarter Kickers den Fußball in Württemberg. Danach überholte der Dauerrivale VfB Stuttgart die Kickers allmählich. Eine württembergische Gauliga bestand seit 1934. Als weitere Beispiele waren in Württemberg neben den Stuttgarter Kickers und dem VfB Stuttgart noch folgende Fußballvereine der zwanziger und dreißiger Jahre von Bedeutung: die Union Böckingen der 1. Göppinger SV der SSV Ulm 1846 der VfB Friedrichshafen die Sportvg Feuerbach der Stuttgarter SC die Sportfreunde Stuttgart der VfR Heilbronn die SpVgg Cannstatt der FV Zuffenhausen der VfL Kirchheim/Teck der SSV Reutlingen 05 Auf württembergischem Boden fanden bis 1945 insgesamt sechs Fußball-Länderspiele der deutschen Fußballnationalmannschaft statt. Austragungsort war jeweils Stuttgart. Das erste dieser Spiele war noch zu Zeiten des Königreichs am 26. März 1911 gegen die Schweiz und endete mit einem deutschen Sieg 6:2. Am 14. Dezember 1924 trat die deutsche Fußballnationalmannschaft erneut am Neckar gegen die Schweiz an. Diesmal reichte es nur zu einem Unentschieden 1:1. Weitere vier siegreiche Länderspiele der Deutschen in Stuttgart fanden in der NS-Zeit statt, am 27. Januar 1935 gegen die Schweiz 4:0, am 21. März 1937 gegen Frankreich 4:0, am 9. März 1941 noch einmal gegen die Schweiz 4:2 und am 1. November 1942 gegen Kroatien 5:1. Der TC Weissenhof war bereits in den 1920er Jahren ein bedeutender Tennis-Club. Ringen wurde zum Beispiel beim ASV Bauknecht Schorndorf, beim KSV Aalen und beim AB Aichhalden betrieben. Segelfliegen wurde auch in Württemberg modern und zuerst in Münsingen begonnen. Im Juli 1933 fand auf dem Cannstatter Wasen das 15. Deutsche Turnfest statt. Das NS-Regime in Württemberg legte wie andernorts großen Wert auf propagandistische Großveranstaltungen. Das Deutsche Turnfest im Juli 1933 in Stuttgart war eine solche Gelegenheit, zu dem neben viel NS-Prominenz auch Hitler persönlich erschien. Das Turnfest hätte bereits im Jahre 1918 nach Stuttgart kommen sollen, fiel aber wegen des Ersten Weltkriegs aus. Der Termin des Turnfests verschob sich somit vom Gründungsjahr zum Jahr des Niedergangs des Volksstaats Württemberg. Damit geriet es zu einer Propagandaveranstaltung des NS-Regimes, das den Sport für die Wehrertüchtigung instrumentalisierte. Literatur Waldemar Besson: Württemberg und die deutsche Staatskrise 1928–1933. Eine Studie zur Auflösung der Weimarer Republik. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1959, (Zugleich: Tübingen, Universität, Habilitations-Schrift, 1958). Eberhard Gönner, Günther Haselier: Baden-Württemberg. Geschichte seiner Länder und Territorien. 2., ergänzte Auflage. Ploetz, Freiburg u. a. 1980, ISBN 3-87640-052-X. Eberhard Kolb, Klaus Schönhoven: Regionale und lokale Räteorganisationen in Württemberg 1918/19 (= Quellen zur Geschichte der Rätebewegung in Deutschland 1918/19. Bd. 2). Droste, Düsseldorf 1976, ISBN 3-7700-5084-3. Thomas Kurz: Feindliche Brüder im deutschen Südwesten. Sozialdemokraten und Kommunisten in Baden und Württemberg von 1928 bis 1933 (= Berliner historische Studien. Bd. 23). Duncker & Humblot, Berlin 1996, ISBN 3-428-08524-8 (Zugleich: Freiburg (Breisgau), Universität, Dissertation, 1994). Thomas Schnabel: Geschichte von Baden und Württemberg 1900–1952. W. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 2000, ISBN 3-17-015924-0. Hansmartin Schwarzmaier: (Hrsg.) Handbuch der baden-württembergischen Geschichte. Band 4: Die Länder seit 1918. Im Auftrag der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg herausgegeben. Klett-Cotta, Stuttgart 2003, ISBN 3-608-91468-4. Reinhold Weber: Bürgerpartei und Bauernbund in Württemberg. Konservative Parteien im Kaiserreich und in Weimar (1895–1933) (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Bd. 141). Droste, Düsseldorf 2004, ISBN 3-7700-5259-5 (Zugleich: Tübingen, Universität, Dissertation, 2003). Reinhold Weber: Kleine Geschichte der Länder Baden und Württemberg 1918–1945. DRW Verlag, Leinfelden-Echterdingen 2008, ISBN 978-3-87181-714-4. Weblinks Daten und Fakten zum Volksstaat Württemberg Gesetze, Bekanntmachungen und Verfassungen zu Württemberg Zur Geschichte Württembergs in der Weimarer Republik 1918/19 – 1933, chronologischer Überblick Quellensammlung „Von der Monarchie zur Republik“ 1918-1923 (Quellen aus dem Landesarchiv Baden-Württemberg) Einzelnachweise Wurttemberg, Volksstaat Wurttemberg, Volksstaat Wurttemberg, Volksstaat Württembergische Geschichte Gegründet 1918 Aufgelöst 1945 Wurttemberg, Volksstaat
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https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich%20Fromhold%20Martens
Friedrich Fromhold Martens
Friedrich Fromhold Martens (* in Pärnu; † in Walk; zum Sterbeort siehe Literatur, zu Namensschreibweise und -varianten siehe Persönliche Lebensumstände und Tod) war ein russischer Diplomat und Jurist. Er wirkte insbesondere im Bereich des Völkerrechts und fungierte als Unterhändler Russlands bei den Verhandlungen zu einer Reihe von internationalen Abkommen. Darüber hinaus war er mehrfach erfolgreich als Vermittler in Konflikten zwischen verschiedenen Ländern tätig. Während der Ersten Haager Friedenskonferenz im Jahr 1899 schlug er die später nach ihm benannte Martens’sche Klausel vor, die bis in die Gegenwart als wichtiger Grundsatz des humanitären Völkerrechts angesehen wird. Sie besagt, dass in allen Situationen während eines Krieges, die nicht durch geschriebenes internationales Recht geregelt sind, die allgemein üblichen Gebräuche, die Grundsätze der Menschlichkeit und die Forderungen des öffentlichen Gewissens das Handeln bestimmen sollen. Darüber hinaus wurde während der Konferenz sein Entwurf für eine Konvention zu den Regeln und Gebräuchen des Krieges, den er bereits ein Vierteljahrhundert zuvor für die Brüsseler Konferenz von 1874 ausgearbeitet hatte, als Haager Landkriegsordnung angenommen. Friedrich Fromhold Martens gilt damit als Begründer der Haager Traditionen des humanitären Völkerrechts und als einer der einflussreichsten Völkerrechtsexperten seiner Zeit. Für seine vielfältigen Vermittlungsbemühungen sowie für seine Rolle bei den Haager Friedenskonferenzen und seinen Einsatz für die Etablierung der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit wurde er vielfach geehrt und in den Jahren von 1901 bis 1908 für den Friedensnobelpreis nominiert. Er kam mehrfach in die engere Auswahl des Nobelpreiskomitees und wurde in einigen älteren Werken fälschlicherweise als Preisträger des Jahres 1902 genannt. Leben Jugend und Ausbildung Friedrich Fromhold Martens wurde 1845 als jüngstes Kind seiner Eltern in der Stadt Pernau (estn. Pärnu in Estland) geboren und in der deutschen Sankt-Nikolai-Gemeinde getauft. Sein Vater war der ehemalige Küster der Lutherischen Kirchengemeinde Audern Friedrich Wilhelm Martens, der seit 1845 in Pernau lebte und dort als Schneider und Gerichtsdiener tätig war; seine Mutter, Therese Wilhelmine Knast, stammte aus Pernau. Als namengebende Taufpaten fungierten der Titularrat Friedrich von Kluver und der Notar Fromhold Drewnick. Während in einigen älteren deutschsprachigen Veröffentlichungen eine deutsch-baltische Herkunft seiner Eltern angegeben wird, unterstützen vor allem russische und estnische Quellen die Annahme einer estnischen Abstammung. Dies wird insbesondere damit begründet, dass die Deutschbalten in der damaligen Zeit in der Regel zu den sozial besser gestellten Schichten der Gesellschaft zählten. Der Vater von Martens hingegen war Schneider, die Familie lebte in einfachen Verhältnissen. Die Erziehung und Bildung von Friedrich Fromhold Martens erfolgte deutschsprachig, was aufgrund der kulturellen Bedeutung der deutschen Sprache in der Region Livland auch für deren estnischstämmige Einwohner nicht ungewöhnlich war. So war Deutsch bis 1893 die Lehrsprache an der estnischen Universität Dorpat, bevor sie im Rahmen der Russifizierung durch die russische Sprache abgelöst wurde. Über die Kindheit und Jugend von Martens ist wenig bekannt. Im Alter von fünf Jahren verlor er seinen Vater und vier Jahre später auch seine Mutter. Kurz danach gelangte er in ein evangelisch-lutherisches Waisenhaus in Sankt Petersburg. Hier beendete er an der deutschsprachigen Petrischule seine Ausbildung und begann 1863 ein Studium an der Juristischen Fakultät der Universität von Sankt Petersburg. Aufgrund seiner sehr guten Studienleistungen und seiner Fähigkeiten wurde er durch den Dekan der Fakultät gefördert. Darüber hinaus gab er Nachhilfestunden für andere Studenten und Privatunterricht für Kinder aus wohlhabenden Familien, um seine finanzielle Situation aufzubessern. Im Jahr 1867 schloss er sein Studium als Kandidat der Rechte ab. Zum Ende des folgenden Jahres reichte er eine Magisterarbeit mit dem Titel Über das Recht des Privateigentums im Krieg ein, die er im Oktober 1869 erfolgreich verteidigte. Durch nachfolgende Studienaufenthalte an den Universitäten in Wien, Heidelberg und Leipzig wurde er von Völker- und Staatsrechtsexperten der damaligen Zeit beeinflusst, unter ihnen Lorenz von Stein in Wien und Johann Caspar Bluntschli in Heidelberg. Akademisches Wirken Nachdem der Lehrstuhl für internationales Recht an der Universität von Sankt Petersburg 1870 vakant geworden war, kehrte Friedrich Fromhold Martens von seinen Studien im Ausland zurück und übernahm mit Beginn des Jahres 1871 einen entsprechenden Lehrauftrag als Dozent. Ein Jahr später wurde er Professor für öffentliches Recht am Lyzeum Zarskoje Selo im heutigen Puschkin und an der kaiserlichen Rechtsschule. 1873 promovierte er mit einer Dissertation zur konsularischen Rechtsprechung im Nahen und Fernen Osten. Im gleichen Jahr folgte die Ernennung zum außerordentlichen Professor und drei Jahre später zum ordentlichen Professor an der Universität von Sankt Petersburg, eine Position, die er bis 1905 innehatte. Bereits seine Magisterarbeit und seine Dissertationsschrift erlangten fachliche Aufmerksamkeit und Anerkennung. Durch weitere Veröffentlichungen, die in verschiedene Sprachen übersetzt wurden und auch in anderen Ländern erschienen, wurde er international bekannt und trug zum Ansehen seines Landes im Bereich des Völkerrechts bei. Diese Rechtsdisziplin entwickelte sich in dieser Zeit in Russland zu einem eigenständigen Fach, was unter anderem in der Gründung von entsprechenden Fakultäten für internationales Recht an mehreren traditionsreichen russischen Universitäten zum Ausdruck kam. Zu den bekanntesten Werken, die Martens in den folgenden Jahren veröffentlichte, zählte das 1881/1882 in zwei Bänden veröffentlichte Buch Völkerrecht. Das internationale Recht der civilisierten Nationen, in welchem er seine Theorie des internationalen Rechts darlegte. Es erschien 1883 auf Deutsch und wurde in insgesamt sieben Sprachen übersetzt. Von 1874 bis 1909 erarbeitete er, parallel in Russisch und Französisch, unter dem Titel Recueil des traités et conventions conclus par la Russie eine Sammlung von 15 Bänden zu den Verträgen, die Russland mit anderen Staaten abgeschlossen hatte. Durch die darin enthaltenen Abhandlungen zu den einzelnen Abkommen und ihrer jeweiligen Entstehungsgeschichte trägt dieses Werk den Charakter einer Enzyklopädie der russischen Außenbeziehungen seiner Zeit. 1880 initiierte er die Gründung der Russischen Gesellschaft für internationales Recht, als deren Sekretär er fungierte. Neben seinem juristischen Wirken war Martens auch Mitglied der Russischen Kaiserlichen Historischen Gesellschaft und verfasste eine Reihe von Essays zur europäischen Geschichte, die ebenfalls international Beachtung fanden und in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Staatsdienst und diplomatische Karriere Im Jahr 1868 trat Friedrich Fromhold Martens für das russische Außenministerium in den Staatsdienst ein. Sechs Jahre später wurde er zum Attaché für besondere Aufträge des russischen Kanzlers und Außenministers Alexander Michailowitsch Gortschakow ernannt. Während der folgenden fast vier Jahrzehnte war er für drei verschiedenen Zaren als Diplomat tätig: bis 1881 für Alexander II., bis 1894 für Alexander III. und anschließend bis zu seinem Tod für Nikolaus II., der später durch die Februarrevolution 1917 gestürzt wurde. Er vertrat Russland auf fast allen internationalen Konferenzen, an denen das Land in dieser Zeit beteiligt war, so beispielsweise dem Brüsseler Kongress von 1889 zum Handels- und Seerecht, der Antisklavereikonferenz von 1889/1890 in Brüssel und den ersten vier Sitzungen der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht in den Jahren 1893, 1894, 1900 und 1904. Darüber hinaus nahm er von 1884 bis zu seinem Tod an nahezu allen internationalen Rotkreuz-Konferenzen teil. Er war aktives Mitglied des 1873 im belgischen Gent gegründeten Institut de Droit international (Institut für Völkerrecht), unter anderem 1885 und 1894 als Vizepräsident, und beteiligte sich in vielfältiger Weise in dessen Aktivitäten, so beispielsweise an der Ausarbeitung der Konferenzdokumente für die von November 1884 bis Februar 1885 in Berlin stattfindende Kongokonferenz. In mehreren internationalen Streitfällen wirkte er erfolgreich als Vermittler. Dies betraf beispielsweise 1891 die Auseinandersetzung zwischen Frankreich und Großbritannien um französische Fischereirechte an der Küste Neufundlands sowie um einen entsprechenden französischen Stützpunkt am Nordufer der Insel. 1899 war er Präsident eines Vermittlungstribunals zur Beilegung von Grenzstreitigkeiten zwischen Venezuela und dem Vereinigten Königreich in der damaligen britischen Kronkolonie Britisch-Guayana. Die von ihm vorgeschlagene Linie stellt bis in die Gegenwart die Grenze zwischen Venezuela und Guyana dar. Im Disput zwischen Mexiko und den USA im Jahr 1902, dem ersten vom Ständigen Schiedshof in Den Haag verhandeltem Fall, wurde Friedrich Fromhold Martens von den Vereinigten Staaten als Vermittler ausgewählt. Anlass der Auseinandersetzungen waren die Aktivitäten des Pious Fund of California, eines auf Spenden basierenden mexikanischen Fonds zur Finanzierung katholischer Missionsarbeit in Kalifornien. Bei den Verhandlungen zwischen Russland und Japan, die im August 1905 zum Vertrag von Portsmouth und damit dem Ende des Russisch-Japanischen Krieges führten, gehörte Friedrich Fromhold Martens zur russischen Delegation. Seine vielfältigen Aktivitäten als Vermittler brachten ihm die Beinamen Lord Chancellor of Europe („Lordkanzler Europas“, im Sinne von „Oberhaupt der europäischen Justiz“) sowie Chief Justice of Christendom („Oberster Richter der christlichen Welt“) ein. Als begünstigend für seinen Erfolg als Diplomat und Vermittler wurde die Tatsache angesehen, dass er mit Englisch, Französisch und Deutsch drei in der internationalen Politik wichtige Sprachen fließend beherrschte. Hinsichtlich seiner Fähigkeiten galt er nicht vorrangig als einfallsreicher Ideengeber und Initiator, sondern vor allem als beharrlicher, energischer und ehrgeiziger Praktiker. Sein Charakter war Überlieferungen zufolge allerdings auch durch eine ausgeprägte Humorlosigkeit sowie einen Mangel an Selbstironie geprägt. Die Haager Friedenskonferenzen Im Gegensatz zur Friedensbewegung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Popularität gewann, hielt Friedrich Fromhold Martens die völlige Beseitigung von Kriegen in der näheren oder fernen Zukunft für eine Utopie. Als realisierbar sah er hingegen die Verminderung des durch Krieg verursachten Leidens durch klar definierte Regeln an. Für die von Zar Alexander II. initiierte Brüsseler Konferenz von 1874 arbeitete er deshalb einen Entwurf für eine Konvention zu den Regeln und Gebräuchen des Krieges aus. Diese wurde zwar von den Teilnehmern der Konferenz mit einigen Änderungen angenommen, erlangte jedoch mangels späteren Ratifikationen nie völkerrechtlich verbindenden Charakter. Hauptgrund war vor allem bei kleineren Ländern die Befürchtung, dass die in der Deklaration von Brüssel formulierten Grundsätze vor allem im Interesse der Großmächte seien. Eine wichtige Rolle spielte Friedrich Fromhold Martens bei den auf Initiative von Zar Nikolaus II. in den Jahren 1899 und 1907 stattfindenden Friedenskonferenzen in Den Haag. Während der von ihm mitorganisierten ersten Konferenz im Jahr 1899, auf der sein Entwurf von 1874 als Haager Konvention II angenommen wurde, war er Generalbevollmächtigter Russlands und Präsident des Komitees zu den Regeln und Gebräuchen des Krieges. Er war im Laufe der Konferenz unter anderem an der Ausarbeitung der Kriegsgefangenen-Definition sowie der Konvention „betreffend die Anwendung der Grundsätze der Genfer Konvention vom 22. August 1864 auf den Seekrieg“ und des Haager Abkommens „zur friedlichen Beilegung internationaler Streitfälle“ wesentlich beteiligt. Zur Schlichtung eines Streits um die Behandlung von Zivilpersonen, die sich in einem Krieg an Kampfhandlungen beteiligt hätten, schlug er dabei die später nach ihm benannte Martens’sche Klausel vor. Diese gibt für Situationen, die nicht ausdrücklich durch geschriebenes internationales Recht geregelt sind, die allgemein üblichen Gebräuche, die Grundsätze der Menschlichkeit und die Forderungen des öffentlichen Gewissens als Handlungsrichtlinie vor. Die Klausel ist Bestandteil der Präambel der Haager Landkriegsordnung und wurde 1977 in den Artikel 1 des Zusatzprotokolls I zu den Genfer Abkommen von 1949 aufgenommen. Sie stellt noch heute einen wichtigen Grundsatz des humanitären Völkerrechts dar. Die Haager Konferenz von 1899, deren Ausrichtung sich aufgrund der Aktivitäten von Martens von reinen Abrüstungsverhandlungen ausweitete auf den Bereich der Etablierung von friedenssichernden Maßnahmen und Institutionen, gilt im Allgemeinen als vollständiger Erfolg der diplomatischen Bemühungen Russlands. Neben seinen Aktivitäten vor Ort reiste er während der Konferenz mehrfach nach Paris, um das dort stattfindende Vermittlungsverfahren zwischen Venezuela und dem Vereinigten Königreich in der Auseinandersetzung um Britisch-Guayana zu leiten. Auch die Errichtung des Friedenspalastes in Den Haag als Sitz des Ständigen Schiedshofes, dessen Bau im Wesentlichen durch den amerikanischen Industriellen Andrew Carnegie finanziert wurde, basierte auf einem Vorschlag von Friedrich Fromhold Martens, der an der Grundsteinlegung im Jahr 1907 teilnahm. Während der im gleichen Jahr stattfindenden zweiten Friedenskonferenz leitete er das Komitee zum Seerecht, dessen Themen er aufgrund der aufkommenden Rivalität zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich im Bereich der maritimen Aufrüstung als besonders schwierig ansah. In Vorbereitung zu dieser Konferenz besuchte er zum Beginn des Jahres 1907 eine Reihe von europäischen Ländern. Er traf sich dabei unter anderem in Berlin mit dem deutschen Kaiser Wilhelm II., in Paris mit dem französischen Präsidenten Armand Fallières, in London mit dem britischen König Eduard VII., in Italien mit König Viktor Emanuel III., in Österreich mit Kaiser Franz Joseph I. und in Den Haag mit der gesamten königlichen Familie. An der Ausarbeitung der Revision der Genfer Konvention, die ein Jahr zuvor beschlossen wurde, wirkte er ebenfalls mit. Mit dem Ausgang der Konferenz von 1907 war er allerdings weniger zufrieden als mit den Ergebnissen von 1899. Persönliche Lebensumstände und Tod Friedrich Fromhold Martens heiratete am 22. Dezember 1879 in Baden-Baden die 1861 in Sankt Petersburg geborene Katarina Maria Luisa Tuhr. Gemeinsam hatten sie einen Sohn und drei Töchter. Sein Sohn Nikolai wurde ebenfalls Diplomat und war unter anderem als Sekretär der russischen Gesandtschaft in Sofia tätig. Durch seine vielfältigen beruflichen Tätigkeiten erreichte Martens ein Leben in Wohlstand und finanzieller Unabhängigkeit, womit er die Verhältnisse seiner familiären Herkunft weit hinter sich ließ. Allein sein Jahresgehalt aus dem Dienst für das russische Außenministerium, das anfangs 2000 Rubel betrug und später auf 4500 sowie anlässlich seines 60. Geburtstages auf 6000 Rubel erhöht wurde, betrug ein Vielfaches des Einkommens eines einfachen Landarbeiters in Russland, der zur damaligen Zeit durchschnittlich rund 90 Rubel pro Jahr verdiente. Hinzu kamen die Einkünfte aus seiner universitären Lehrtätigkeit und Tantiemen aufgrund seiner Veröffentlichungen. Sein gesellschaftlicher und sozialer Aufstieg ermöglichte es ihm in seinem späteren Leben, das Anwesen in Pärnu zu erwerben, auf dem seine Eltern gelebt hatten und das er vorwiegend als Sommerresidenz für sich und seine Familie nutzte. Er starb 1909, vier Jahre vor dem Tod seiner Frau, während einer Reise bei einem Aufenthalt im Bahnhof der livländischen Stadt Walk, und wurde in Sankt Petersburg beigesetzt. Je nach Sprache und historischem Kontext sind für Martens in verschiedenen Veröffentlichungen unterschiedliche Schreibweisen und Formen seines Namens zu finden. Der deutschsprachige Geburtsname lautete „Friedrich Fromhold Martens“, gelegentlich ist auch die Schreibweise „Friedrich Frommhold Martens“ zu finden. Er nahm später den russischen Namen „“ an, dessen wissenschaftliche Transliteration „“ ist. Basierend auf den Konventionen zur Transkription russischer Namen in die deutsche Sprache ergibt sich daraus die Schreibweise „Fjodor Fjodorowitsch Martens“, entsprechende Transkriptionen in die englische Sprache sind „Fedor Fedorovich Martens“ und „Fyodor Fyodorovich Martens“. Darüber hinaus hat Martens selbst seinen Namen seit den frühen 1870er Jahren in seinen Schriften als „Friedrich von Martens“ beziehungsweise in der französischen Form „Frederic de Martens“ angegeben. Hintergrund war wahrscheinlich die mit einer bestimmten Rangstufe in der russischen Staatsverwaltung automatisch verbundene Erhebung in den persönlichen beziehungsweise erblichen Adelsstand, die er infolge seines Aufstiegs im Außenministerium erreichte. Auch die Form „Friedrich Freiherr von Martens“ wird gelegentlich verwendet, ebenso wie beispielsweise in der deutschen Übersetzung seiner Dissertation die Schreibweise „Friedrich Fromholz von Martens“. Der Freiherren-Titel wurde allerdings anders als der Grafen-Titel im russischen Zarenreich an Neunobilitierte nicht verliehen, sondern blieb auf die ältere Aristokratie deutschbaltischer oder schwedisch-finnischer Kreise beschränkt. Die Nobilitierung könnte Martens aber auch durch einen hohen russischen Ritterorden verliehen worden sein, allerdings ist sein Name in den Matrikeln der Livländischen Ritterschaft oder der anderen in der Region aktiven Orden nicht verzeichnet. Wirken Rechtsphilosophische und politische Ansichten Die Rechtsphilosophie von Martens, wie sie insbesondere in seinem Buch „Völkerrecht. Das internationale Recht der civilisierten Nationen“ zum Ausdruck kam, war traditionalistisch geprägt. So behandelte er in diesem Werk auf rund 150 Seiten die Geschichte des internationalen Rechts. Die Triebkraft bei dessen Entwicklung war seiner Meinung die Ausgestaltung der internationalen Beziehungen. Dabei sah er gemäß dem Motto „ubi societas ibi jus est“ („Wo eine Gesellschaft besteht, existiert auch Recht“) jedes unabhängige Land als Mitglied der internationalen Gemeinschaft und damit als Teil eines einheitlichen und durch eine Rechtsordnung geregeltem Ganzen, verbunden mit den anderen Ländern durch gemeinsame Interessen, Rechte und Bedürfnisse. Das Völkerrecht war für ihn aber nicht nur Ausdruck des Standes der internationalen Beziehungen, sondern auch eine Manifestation der moralischen Werte der menschlichen Gesellschaft. Zu den Grundsätzen, die er diesbezüglich in seinem Werk formulierte, zählten die Annahme einer progressiven Entwicklung der Menschheit sowie die Achtung des Lebens, der Ehre und der Würde jedes Menschen. Der Umgang mit einem bestimmten Land im Rahmen der internationalen Beziehungen sei demzufolge ebenso wie dessen Rolle in der Staatengemeinschaft daran auszurichten, welche Bedeutung es im innenpolitischen Bereich den Grundrechten und der Freiheit seiner Bürger beimessen würde. Als Geltungsbereich des Völkerrechts sah er allerdings nur die „zivilisierten Völker“, zu denen er diejenigen Länder zählte, welche die Grundsätze der europäischen Kultur anerkennen. Die ausschließliche Geltung des Korans in moslemisch geprägten Staaten sei seiner Meinung nach Christen gegenüber feindlich und würde damit keine Möglichkeit zur Anwendung des Völkerrechts in den Beziehungen mit diesen Ländern bieten. Ausdruck seiner rechtsphilosophischen Ansichten ist die ihm zugeschriebene Aussage, dass man die zehn biblischen Geboten in Steintafeln meißeln, in Bronze gießen oder in Stahlplatten prägen könne, sie aber trotzdem keine Bedeutung hätten, solange sie nicht Teil des Rechtsbewusstseins der Gesellschaft seien. Das alleinige Primat des Rechts über staatlicher Souveränität, politischem Gleichgewicht oder nationalistisch motivierten Bestrebungen war nach seiner Auffassung die Grundvoraussetzung für ein geordnetes Miteinander von Menschen und Ländern ohne Krieg und Gewalt. Als wesentlich erachtete er deshalb eine Kodifikation des Völkerrechts in Form von Abkommen, wenngleich er die bestehenden völkerrechtlichen Verträge kritisch betrachtete, da sie seiner Meinung nach zu allgemein und unspezifisch formuliert seien. Darüber hinaus sah er eine Organisation der internationalen Staatenwelt als unbedingt notwendig an und regte diesbezüglich die Unterordnung aller selbstständigen Staaten unter eine höherstehende Macht an. Für diese schlug er zwei Möglichkeiten vor, und zwar entweder eine Universalmonarchie oder eine von ihm bereits als Völkerbund bezeichnete repräsentative Gemeinschaft. Er zählte damit zu den ersten Diplomaten, die von der Notwendigkeit und dem Nutzen internationaler Rechts- und Verwaltungsstrukturen ausgingen, und führte den Begriff der „internationalen Verwaltung“ in das völkerrechtliche Schrifttum ein. Die Expansionsbestrebungen verschiedener Staaten einschließlich seines Heimatlandes Russland sah er kritisch, da sie seiner Meinung nach den Keim für zukünftige Konflikte darstellen würden. Ebenfalls ablehnend bewertete er militärische Aufrüstung sowie die kolonialpolitische Praxis der europäischen Großmächte. Er war aber nicht grundsätzlich gegen die „Inbesitznahme von freiem Land“, sondern wollte durch die Festlegung von Regeln für die Kolonialisierung, wie beispielsweise im Rahmen der Kongokonferenz, vor allem Konflikte zwischen den „zivilisierten Völkern“ verhindern. Einige Autoren wie der deutsch-amerikanische Jurist und Rechtshistoriker Arthur Nussbaum waren allerdings bei der Bewertung der Ansichten und des Wirkens von Martens auch der Meinung, dass er zum Teil aus berechnender Zweckmäßigkeit handelte und das Völkerrecht lediglich als ein Mittel der Diplomatie betrachtete. Als Vertreter der zaristischen Monarchie und als Diplomat Russlands habe er dieser Sichtweise zufolge vorrangig die Interessen seines Landes verfolgt. Öffentliche Kritik an der russischen Außenpolitik und Aussagen zu innenpolitischen Themen äußerte er aufgrund der Loyalitätsverpflichtungen, die sich aus seiner Position ergaben, nur äußerst selten. Den während des 17. Jahrhunderts wirkenden Philosophen und Rechtsgelehrten Hugo Grotius bezeichnete Friedrich Fromhold Martens als „Vater des Völkerrechts“. Als prägende Persönlichkeiten in der Entwicklung des internationalen Rechts nannte er in seinem Werk insbesondere den in der Mitte des 18. Jahrhunderts geborenen deutschen Völkerrechtsexperten Georg Friedrich von Martens, einen mit ihm nicht verwandten Namensvetter, sowie mit dem in Heidelberg wirkenden Schweizer Juristen Johann Caspar Bluntschli einen seiner früheren Lehrer. Seine Ansichten sowohl zur Notwendigkeit einer internationalen Rechtsordnung als auch zum Krieg wurden darüber hinaus auch von den Vorstellungen des französischen Soziologen Pierre-Joseph Proudhon beeinflusst. Dieser bewertete Kriege zwar kritisch, schrieb ihnen jedoch auch eine „schöpferische Rolle bei der Entstehung von Staaten“ zu und betrachtete sie als etwas „Göttliches“ sowie als die „dauerhafteste und geheimnisvollste Tatsache der Geschichte“ (La Guerre et la Paix, 1861). In ähnlicher Weise versuchte Martens auf der einen Seite durch sein diplomatisches Wirken, Kriege zu verhindern beziehungsweise in ihren Auswirkungen abzumildern. Andererseits war er gleichwohl nicht nur der Meinung, dass Kriege unvermeidlich seien. Er sah sie darüber hinaus unter bestimmten Umständen als nützlich an oder sogar, wie beispielsweise den Russisch-Türkischen Krieg von 1877/1878, aus humanitären Gründen als geboten und aus völkerrechtlicher Sicht als gerechtfertigt. Lebenswerk Friedrich Fromhold Martens zählte aufgrund seiner vielfältigen Aktivitäten zu den wichtigsten Völkerrechtsexperten und Diplomaten seiner Zeit. In den über drei Jahrzehnten seiner Karriere wirkte er führend an der Kodifikation des humanitären Völkerrechts mit und hatte damit neben dem Schweizer Gustave Moynier wesentlichen Einfluss auf die Weiterentwicklung dieses Zweiges des internationalen Rechts. Einer seiner wichtigsten Beiträge in diesem Bereich, neben der nach ihm benannten und bis in die Gegenwart in verschiedenen Konventionen enthaltenen Martens’schen Klausel, war die Haager Landkriegsordnung. Mit diesem Vertrag wurden grundlegend neue Konzepte wie die Definition von Kriegsgefangenen und Regeln zu deren Behandlung sowie zur Verschonung von Gebäuden und Einrichtungen mit religiöser, kultureller, wissenschaftlicher, sozialer und medizinischer Bedeutung in das humanitäre Völkerrecht eingeführt. Darüber hinaus wurden mit der Haager Landkriegsordnung eine Reihe von wichtigen gewohnheitsrechtlichen Prinzipien erstmals vertraglich fixiert. Hierzu zählten unter anderem das Verbot des Einsatzes giftiger Substanzen zur Kriegsführung und des Befehls, kein Pardon zu geben. Die Prinzipien der Haager Landkriegsordnung, die eines der wichtigsten Abkommen in der Entwicklung des humanitären Völkerrechts darstellt, sind bis in die Gegenwart gültig und wurden in einer Reihe von späteren Verträgen präzisiert und erweitert. Die Aktivitäten des Institut de Droit international, das seit seiner Gründung im Jahr 1873 eine zunehmend wichtige Position bei der Verbreitung und Weiterentwicklung des Völkerrechts eingenommen hatte und noch zu Lebzeiten von Martens mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, prägte er als Vizepräsident und als Berichterstatter verschiedener Komitees in vielfältiger Weise entscheidend mit. Seine Werke Recueil des traités et conventions conclus par la Russie und Völkerrecht. Das internationale Recht der civilisierten Nationen fanden weitreichende internationale Verbreitung und zählten zum Zeitpunkt ihres Erscheinens zu den wichtigsten Veröffentlichungen im Bereich der Systematik und Theorie des internationalen Rechts. Darüber hinaus profilierte sich Friedrich Fromhold Martens als einer der herausragendsten Experten der damaligen Zeit für die friedliche Beilegung von internationalen Konflikten. Hierzu leistete er sowohl durch seine eigene Tätigkeit als Vermittler als auch durch seine Rolle bei den Haager Friedenskonferenzen sowie der Entstehung des Ständigen Schiedshofs und der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit wichtige Beiträge. Als Diplomat vertrat er Russland auf einer Reihe wichtiger Konferenzen zu verschiedenen Themen wie dem Handels- und Seerecht sowie dem internationalen Privatrecht. Rezeption und Nachwirkung Auszeichnungen und Würdigung Zu den Auszeichnungen, die Friedrich Fromhold Martens für sein Wirken erhielt, zählten unter anderem Ehrendoktorate der Universitäten von Oxford, Cambridge, Edinburgh und Yale. Darüber hinaus war er Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften, der British Academy, des Institut de France und der Königlichen Akademie der Wissenschaften und Schönen Künste von Belgien. Innerhalb der Laufbahnenklassen der russischen Staatsverwaltung erreichte er den zivilen Rang eines Geheimen Rates (russisch Тайный советник) und damit die dritthöchste von 14 Rangklassen. Er erhielt neben einer Vielzahl anderer staatlicher Auszeichnungen mit dem Alexander-Newski-Orden und dem Orden vom Weißen Adler den zweit- beziehungsweise dritthöchsten russischen Orden sowie ausländische Ehrungen wie den österreichischen Orden der Eisernen Krone, den griechischen Erlöser-Orden und den Orden der Krone von Italien. In allen Jahren von 1901 bis 1908 nominierten ihn verschiedene Persönlichkeiten für den Friedensnobelpreis. Er kam dabei mehrfach in die engere Auswahl des Nobelkomitees, unter anderem bereits 1901 bei der erstmaligen Verleihung des Preises, und galt insbesondere 1902 als Mitfavorit für die Auszeichnung. In mehreren Veröffentlichungen der damaligen Zeit, so beispielsweise in einem 1909 im „Journal of the Society of Comparative Legislation“ veröffentlichten Nachruf und in der 1911 erschienenen elften Ausgabe der Encyclopædia Britannica, wurde er diesbezüglich fälschlicherweise als Preisträger genannt. Friedrich Fromhold Martens war bereits zu Lebzeiten beziehungsweise kurz nach seinem Tod sowohl in der vor der Oktoberrevolution erschienenen russischen Enzyklopädie Brockhaus-Efron als auch in mehreren führenden fremdsprachigen Enzyklopädien verzeichnet, neben der Encyclopædia Britannica unter anderem in den deutschsprachigen Werken Meyers Konversations-Lexikon und Brockhaus’ Konversationslexikon sowie dem schwedischen Nordisk familjebok und der finnischen Pieni Tietosanakirja. Bereits 1910 und damit nur ein Jahr nach seinem Tod erschien mit der vom deutschen Juristen Hans Wehberg in der „Zeitschrift für internationales Recht“ veröffentlichten Arbeit „Friedrich v. Martens und die Haager Friedenskonferenzen“ eine Publikation zum Wirken von Martens. Die ersten umfassenden biographischen Abhandlungen verfasste Michael von Taube, der bei Martens promoviert hatte und dessen Nachfolger an der Universität von Sankt Petersburg wurde. Zu einer Würdigung im Bewusstsein der russischen Öffentlichkeit kam es allerdings erst viele Jahrzehnte später. In der historischen Wahrnehmung während der Zeit der Sowjetunion galt Friedrich Fromhold Martens als „Reaktionär“ und „zaristischer Helfershelfer“. In Nachschlagewerken dieser Epoche wie der Großen Sowjetischen Enzyklopädie wurde er nicht erwähnt, und erst 1993 erschien die erste Abhandlung über ihn in russischer Sprache. Seit 1995 verleiht die Russische Akademie der Wissenschaften den Martens-Preis für herausragende wissenschaftliche Leistungen im Bereich des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen. Ein Jahr später wurde eine Neuauflage seines Werkes „Völkerrecht. Das internationale Recht der civilisierten Nationen“ in russischer Sprache veröffentlicht. Im Friedenspalast in Den Haag befindet sich seit 1999 eine von der russischen Regierung gestiftete Bronzebüste von Martens. Literarische Darstellung Friedrich Fromhold Martens ist die Hauptfigur des 1984 veröffentlichten historischen Romans Professor Martens’ Abreise (estnischer Originaltitel Professor Martensi ärasõit) des estnischen Autors Jaan Kross, von dem Übersetzungen in zehn verschiedene Sprachen erschienen sind, darunter neben Deutsch auch Englisch, Französisch, Spanisch, Niederländisch und Russisch. In diesem Buch wird aus der Ich-Perspektive von Martens dargestellt, wie er während seiner letzten Bahnfahrt am 20. Juni 1909 auf sein Leben zurückblickt. Die Richtung der Reise von Pärnu nach Sankt Petersburg symbolisiert dabei seinen beruflichen und privaten Aufstieg. Die Rückblicke auf seine nach außen hin überragend erscheinende diplomatische Karriere, in Form von imaginären Gesprächen mit seiner nicht anwesenden Frau, sind geprägt vom Konflikt zwischen den persönlichen Ansprüchen an sein Wirken und der Anpassung an politische Zwänge, sowie seiner inneren Zerrissenheit zwischen Loyalität für das zaristische Russland und seiner eigenen estnischen Abstammung. Darüber hinaus stellt Jaan Kross einige Parallelen zwischen den Lebensläufen von Friedrich Fromhold Martens und von Georg Friedrich von Martens in Form von traumartigen Erinnerungen von Martens an ein früheres Leben dar. Eine dokumentarische Biographie wurde 1993 vom Wladimir Wassiljewitsch Pustogarow veröffentlicht, der zur damaligen Zeit als leitender Mitarbeiter am Institut für Rechts- und Staatswissenschaften der Russischen Akademie der Wissenschaften tätig war. Im Jahr 2000 erschien von diesem Werk eine englischsprachige Übersetzung. Die in Form von Notizen erhaltenen Lebenserinnerungen von Martens’ 1886 geborener Tochter Edith Natalie, die ab 1906 mit dem russischen Adligen Alexander Sollohub verheiratet gewesen war, wurden von ihrem jüngsten Sohn bearbeitet und 2009 unter dem Titel The Russian Countess: Escaping Revolutionary Russia herausgegeben. Werke (Auswahl) Über das Recht des Privateigentums im Krieg. Sankt Petersburg 1869; russischer Originaltitel: О праве частной собственности во время войны. Das Consularwesen und die Consularjurisdiction im Orient. Sankt Petersburg 1873 (russisch), Berlin 1874 (deutsch); russischer Originaltitel: О консулах и консульской юрисдикции на Востоке. Recueil des traités et conventions conclus par la Russie. 1874–1909 Die Brüsseler Konferenz und der orientalische Krieg von 1877–1878. Sankt Petersburg 1878 La Russie et l’Angleterre en Asie centrale. Brüssel 1879 La question égyptienne. Brüssel 1882 Völkerrecht. Das internationale Recht der civilisierten Nationen. 1881/1882 (russisch), Berlin 1884/1885 (deutsch), Paris 1887/1888 (französisch) La conférence africaine de Berlin et la politique coloniale des Etats modernes. Brüssel 1887 Literatur Der Artikel beruht vollständig auf den im Folgenden genannten Veröffentlichungen. Die Einträge in den zeitgenössischen Ausgaben von Meyers Konversationslexikon und Brockhaus-Konversationslexikon dienten dabei vor allem zur Erstellung der Liste der Werke. Sie waren des Weiteren die Quelle für grundlegende biografische Daten, die dann in den entsprechenden Abschnitten durch Informationen aus den Artikeln von Wladimir Wassiljewitsch Pustogarow, Dieter Fleck und Henn-Jüri Uibopuu ergänzt wurden. Der Publikation von Fleck entstammen darüber hinaus die Angaben im Abschnitt „Persönliche Lebensumstände und Tod“ zu den Umständen der Erhebung von Martens in den Adelsstand. Die Ausführungen zu den rechtsphilosophischen und politischen Ansichten von Friedrich Fromhold Martens sowie zur Wahrnehmung seiner Person in der Sowjetunion und zu seinen Sprachkenntnissen basieren auf der in den Monatsheften für Osteuropäisches Recht erschienenen Arbeit von Henn-Jüri Uibopuu, die Angaben zur Bewertung des Krieges durch Martens zum Teil auch auf der Veröffentlichung von Martti Koskenniemi. Quelle für die ergänzenden Informationen zur kontroversen Bewertung seines Wirkens durch einige Autoren ist der Beitrag von Peter Macalister-Smith. Die Angaben zu seinen Charaktereigenschaften entstammen, ebenso wie die auf einer sinngemäßen Übersetzung aus dem Englischen basierende Aussage zur Rolle der zehn Gebote für das Rechtsbewusstsein, dem Kapitel über Martens im Buch von Arthur Eyffinger. Als Sterbeort wird in der im Abschnitt „Weiterführende Veröffentlichungen“ genannten Martens-Biographie von Wladimir Wassiljewitsch Pustogarow auf Seite 338 die Stadt Walk genannt, während Dieter Fleck davon abweichend Sankt Petersburg angibt. Für die Darstellung im Artikel wurde im Bezug auf diese Diskrepanz die Angabe von Pustogarow übernommen, die auch durch die in der estnischen Zeitung Postimees (Nr. 124 vom 8. Juni 1909, S. 3) sowie in der New York Times (Ausgabe vom 21. Juni 1909, S. 7) erschienenen Todesnachrichten bestätigt wird. Dem in der Zeitschrift „International Review of the Red Cross“ erschienenen Artikel von Pustogarow entstammt auch die Information zum Ort der Beisetzung. Ebenfalls auf der Biographie von Pustogarow beruhen die Ausführungen zur Abstammung der Eltern von Friedrich Fromhold Martens (S. 12/13) und zu den Lebensverhältnissen in seinem späteren Leben (S. 332). Wladimir Wassiljewitsch Pustogarow: Fyodor Fyodorovich Martens (1845–1909) – a humanist of modern times. In: International Review of the Red Cross. 312/1996. IKRK, S. 300–314, Dieter Fleck: Friedrich von Martens: A Great International Lawyer from Pärnu. (PDF; 558 kB) In: Baltic Defence Review. 2.2003, Baltic Defence College, Heft 10, S. 19–26, Henn-Jüri Uibopuu: Friedrich Freiherr v. Martens Jurist, Politiker, Humanist. In: Monatshefte für Osteuropäisches Recht. 48(1)/2006. LIT-Verlag, S. 19–36, Peter Macalister-Smith: A Note on F.F. Martens (1845–1909). In: Baltic Yearbook of International Law. Volume 5. Martinus Nijhoff Publishers, Den Haag und New York 2005, ISBN 90-04-14788-8, S. 159–164 Martti Koskenniemi: International Law in Europe: Between Tradition and Renewal. In: European Journal of International Law. 16(1)/2005. Oxford University Press & European Society of International Law, S. 113–124, Feodor Fedorovich Martens. In: Arthur Eyffinger: The First Hague Peace Conference of 1899: The Parliament of Man, the Federation of the World. Kluwer Law International, Den Haag 1999, ISBN 90-411-1192-1, S. 177–179 Мартенс (Федор Федорович) in der vorrevolutionären russischen Enzyklopädie Brockhaus-Efron (russisch) Weiterführende Veröffentlichungen Wladimir Wassiljewitsch Pustogarow, William Elliott Butler (Übers.): Our Martens. F.F. Martens: International Lawyer and Architect of Peace. Kluwer Law International, Alphen aan den Rijn 2000, ISBN 90-411-9602-1 Maia Ruttu, Rita Hillermaa: Friedrich Fromhold von Martens (15.8.1845–7.6.1909). (PDF; 328 kB) In: Acta Societatis Martensis. 4(1)/2010. Martens Society, S. 267–290, (bibliografisches Verzeichnis der Schriften von Friedrich Fromhold Martens) Weblinks The Martens Society Website der Estnischen Martens-Gesellschaft (englisch) Einzelnachweise Völkerrechtler (19. Jahrhundert) Völkerrechtler (20. Jahrhundert) Rechtsphilosoph (19. Jahrhundert) Rechtsphilosoph (20. Jahrhundert) Jurist im auswärtigen Dienst (Russland) Diplomat (Russisches Kaiserreich) Hochschullehrer (Staatliche Universität Sankt Petersburg) Korrespondierendes Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der British Academy Mitglied des Institut de Droit international Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften und Schönen Künste von Belgien Adliger Träger des Erlöser-Ordens Träger des Ordens der Krone von Italien (Ausprägung unbekannt) Träger des Ordens der Eisernen Krone (Ausprägung unbekannt) Träger des Kaiserlich-Königlichen Ordens vom Weißen Adler Träger des Alexander-Newski-Ordens (Russisches Kaiserreich) Ehrendoktor der University of Oxford Ehrendoktor der University of Cambridge Ehrendoktor der University of Edinburgh Ehrendoktor der Yale University Russe Deutsch-Balte Geboren 1845 Gestorben 1909 Mann
1754222
https://de.wikipedia.org/wiki/Gr%C3%BCner%20Marsch
Grüner Marsch
Als Grüner Marsch () wird ein 1975 vom Staat Marokko im Rahmen des Westsaharakonflikts organisierter Marsch von 350.000 größtenteils unbewaffneten Menschen bezeichnet. Der Marschweg führte vom südlichen Marokko in die zu Spanien gehörende Kolonie Spanisch-Sahara, die heutige Westsahara, und sollte Spanien zur Übergabe der Kolonie an Marokko bewegen. Die Bezeichnung Grün rührt von der Farbe des Islam her. Ausgangslage Vorgeschichte Westsahara und Mauretanien sind koloniale Abgrenzungen eines traditionell trab el-beidan („Land der Weißen“, also der Bidhan) genannten Wüsten- und Savannengebietes, das sich vom Wadi Draa im Süden Marokkos bis zum Senegalfluss erstreckt. Die verschiedenen Stämme der Sahrauis in der Westsahara sind mit ihrer Sprache und Kultur Untergruppen der Bidhans. Ihr Lebensraum an der Atlantikküste gehörte seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zum spanischen Einflussbereich. 1884 gründete eine private Gesellschaft als erste Siedlung an der Küste den Handelsposten Villa Cisneros (heute Ad-Dakhla). Im Juni 1900 legten Spanien und Frankreich die Grenzen für die Kolonie Río de Oro im Süden der heutigen Westsahara fest. Die Grenzen des nördlichen Teils, Saguia el Hamra, wurden in weiteren Verhandlungen mit Frankreich zwischen 1902 und 1912 mehrfach verschoben. Die Kolonie Spanisch-Sahara entstand 1924 aus der Vereinigung beider Gebiete. Anfang des 20. Jahrhunderts waren die spanischen Händler und Militärs nur an wenigen Orten an der Küste präsent und drangen kaum ins Land vor. Die Sahrauis wehrten sich im Landesinnern gegen das koloniale Regime mit Überfällen (Ghazzis) auf Handelskarawanen. Eine effektive Kontrolle des gesamten Gebiets strengten die Spanier erst ab 1930 an, bei ihren „Befriedungsaktionen“ waren sie auf die Unterstützung französischer Truppen angewiesen. 1934 richteten die Spanier ihre erste Militärbasis in Smara, im nördlichen Zentrum des Landes ein. Im Februar 1956 wurde Spanien von den Vereinten Nationen (UN) aufgefordert, eine Meldung über die rechtliche Situation seiner Kolonien abzugeben. Mit einem Verwaltungstrick änderte daraufhin das Regime Francos den Status seiner Kolonien in Nordwestafrika und machte sie zu spanischen Provinzen. Die erste Resolution gegen diese Überseeprovinzen, deren kolonialer Charakter deutlich erkennbar war, verabschiedete die UN im Dezember 1965. Nur Portugal stimmte damals auf der Seite Spaniens ab. Bis in die 1950er Jahre blieb der antikoloniale Widerstand gering. 1956 hatte sich im abgelegenen Süden Marokkos eine Befreiungsarmee gegen die Regierung des marokkanischen Königs Mohammed V. etabliert. Dieser schlossen sich vermehrt Sahrauis an und verübten zahlreiche Anschläge auf Ziele in der Westsahara. In einer gemeinsamen Operation Ouragan im Februar 1958 – es waren 9000 spanische Soldaten und 60 Flugzeuge, auf französischer Seite 5000 Soldaten und 70 Flugzeuge im Einsatz – wurde die sahrauische Guerilla geschlagen. 1959 stellten sie ihre Anschläge ein. Anfang der 1960er Jahre konzentrierten sich die Beteiligten auf eine friedliche Lösung. Auf Antrag Marokkos und Mauretaniens war die Westsahara-Frage 1963 Verhandlungsgegenstand des Entkolonialisierungsausschusses der UN-Vollversammlung. Mit der Resolution 2072 vom 16. Dezember 1965 wurde die spanische Regierung unter General Franco aufgefordert, die Westsahara zu entkolonisieren und der Bevölkerung das Recht auf Selbstbestimmung zu gewähren. Marokko erhob jedoch eigene Ansprüche auf das Gebiet. Bereits 1957 hatte die marokkanische Regierung eine Abteilung für Angelegenheiten der Sahara gebildet. 1963 folgte die Bildung eines Ministeriums für die Angelegenheiten Mauretaniens und der spanischen Sahara. Spanien baute jedoch, entgegen dem weltweiten Trend zur Entkolonialisierung, die Verwaltung der Kolonie noch aus und bemühte sich um die wirtschaftliche Entwicklung. So begann 1962 die Ausbeutung des Phosphatvorkommens von Bou Craa. Auf den größer werdenden internationalen Druck hin erklärte sich Spanien 1967 grundsätzlich bereit, in der Westsahara ein Referendum zur Frage des zukünftigen Status des Gebiets durchzuführen. Die tatsächliche Durchführung wurde jedoch verzögert. 1973 gründete sich die westsaharische Befreiungsbewegung POLISARIO, die einen bewaffneten Kampf gegen die spanische Kolonialmacht aufnahm. Im selben Jahr bot die Regierung Franco der Stammesversammlung ein Autonomiestatut an. Ziel der spanischen Politik war es, einen möglichst großen Einfluss auf die Westsahara zu behalten und einen Anschluss an Marokko zu verhindern. 1974 nahm Marokkos König Hassan II. von der bisherigen Forderung nach einem Referendum Abstand und forderte den Anschluss des Gebiets, ohne jegliche Volksabstimmung, an sein Land. Am 21. August 1974 teilte Spanien gegenüber der UNO mit, dass es beabsichtige, das Referendum in der ersten Hälfte des Jahres 1975 durchzuführen. Neben unternommenen diplomatischen Bemühungen verlegte Marokko daraufhin Truppen in das Grenzgebiet zur Westsahara. Spanien verstärkte gleichfalls seine militärische Präsenz, sowohl in der Kolonie als auch auf den nahe gelegenen Kanarischen Inseln. Vermutlich bereits während eines arabischen Gipfels in Rabat im Oktober 1974 trafen Marokko und Mauretanien ein Geheimabkommen, wonach die Westsahara zwischen den beiden Staaten aufgeteilt werden sollte. Von politischen Beobachtern wird vermutet, dass auch eine Entscheidung, das Gebiet notfalls mit Gewalt einzunehmen, ebenfalls in diesem Zeitraum gefallen war. Auf die Initiative Marokkos und Mauretaniens verabschiedeten die Vereinten Nationen dann die Resolution 3292, in welcher der Internationale Gerichtshof um die Erstellung eines Gutachtens gebeten wurde. Spanien wurde aufgefordert, das Referendum zu verschieben. Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass die Bevölkerung der Westsahara selbst über den Status entscheiden sollte und das Gebiet nicht bereits zum Staatsgebiet Marokkos oder Mauretaniens gehört. Innenpolitische Situationen Innenpolitisch standen die marokkanische Regierung und Hassan II. auch wegen der Westsahara-Frage unter erheblichem Druck. Die Opposition warf Hassan II. eine zu zögerliche Vorgehensweise vor und bemängelte fehlende Initiative und Kampfbereitschaft. Der Grüne Marsch ermöglichte daher der marokkanischen Regierung, hier auch innenpolitisch die Initiative zu ergreifen, die politischen Kräfte hinter einer nationalen Idee zu sammeln und die Opposition zu schwächen. In Spanien war der Diktator General Franco schwer erkrankt. Das Ende seiner Regierungszeit deutete sich an, so dass die innenpolitische Situation in Spanien von Instabilität geprägt war. Dem designierten Nachfolger Juan Carlos waren gerade die Befugnisse als Staatsoberhaupt übertragen worden. Franco starb am 20. November 1975, nur wenige Tage nach dem Marsch. Der Marsch Vorbereitung Ankündigung und Planung Mit einer Erklärung König Hassans II. vom 16. Oktober 1975 versuchte Marokko, das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes in seinem Sinne zu interpretieren. Das Gutachten hatte für die Vergangenheit rechtliche Bande zwischen Marokko und der Westsahara festgestellt. Hassan II. leitete daraus eine Abhängigkeit des Gebiets ab und vertrat den Standpunkt, dass nach Islamischem Recht Marokko einen Anspruch auf die Westsahara habe. In dieser Erklärung kündigte Hassan II. die Durchführung eines Friedensmarsches (Massirah) von 350.000 unbewaffneten Menschen von Marokko in die Westsahara an. Der Marsch sollte am 24. Oktober 1975 beginnen. Der Plan für den Marsch stammte von Hassan II. selbst. Bereits seit ungefähr zwei Monaten hatte die marokkanische Regierung, unter strengster Geheimhaltung, Vorbereitungen für den Marsch getroffen. Der König gab bekannt, dass geplant sei, 350.000 unbewaffnete Menschen bei Tarfaya im Süden Marokkos, in der Nähe der Grenze zur Spanischen Sahara, zu versammeln. Mit ihm als König an der Spitze solle der Zug über die Grenze nach El Aaiún, der Hauptstadt der Westsahara, ziehen und so die Anerkennung des marokkanischen Anspruchs erreichen. Der Marsch sollte danach innerhalb von 15 Tagen die ungefähr 160 Kilometer lange Strecke von der Grenze bis nach El Aaiun und zurück überwinden. Sämtliche Provinzen Marokkos wurden aufgerufen, sich mit einem bereits genau berechneten Kontingent am Marsch zu beteiligen. Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft Die internationale Staatengemeinschaft war angesichts der ungewöhnlichen Ankündigung überrascht. Die Staaten der Arabischen Liga beurteilten die Situation unterschiedlich. Elf der zwanzig Mitgliedsstaaten begrüßten das Vorhaben, so Ägypten und Saudi-Arabien, und boten zum Teil Unterstützung an. Sieben Mitglieder, unter ihnen Syrien und der Irak, positionierten sich nicht eindeutig. Auf deutliche Ablehnung stieß das Vorhaben bei Algerien und den sozialistischen Ländern. Hier äußerten sich vor allem die Sowjetunion und die DDR ablehnend. Die USA und Frankreich verhielten sich neutral. Mauretanien begrüßte die Ankündigung. Der Aufforderung Marokkos, eine ähnliche Aktion von mauretanischem Gebiet aus einzuleiten, kam man jedoch nicht nach. Spanien zeigte sich durch die Ankündigung beunruhigt und wandte sich an den UN-Sicherheitsrat. Dieser verabschiedete nach zweitägigen Beratungen am 22. Oktober die Resolution 377, die jedoch keine konkreten Maßnahmen enthielt und lediglich den UN-Generalsekretär zu Gesprächen mit den Beteiligten und zu einem Bericht gegenüber dem Sicherheitsrat aufforderte. Der bereits schwer erkrankte, aber zu diesem Zeitpunkt noch die spanischen Amtsgeschäfte führende General Franco entsandte José Solis Ruiz nach Rabat, um dort Verhandlungen mit Hassan II. zu führen. Im Ergebnis wurde vereinbart, den Marschbeginn zu vertagen. Marokko verpflichtete sich, einen Sonderbotschafter nach Madrid zur Fortsetzung der Verhandlungen zu entsenden. Während eine erste Gruppe von 20.000 Menschen aus der marokkanischen Provinz Ksar-Es-Souk nach Tarfaya aufgebrochen war, begann Spanien, die betroffenen Gebiete von der Zivilbevölkerung mit der Operación golondrina zu evakuieren. Verhandlungen Wie mit Spanien vereinbart, teilte Marokko am 24. Oktober mit, dass der Marsch erst am 28. Oktober stattfinden würde. Am selben Tag traf der marokkanische Außenminister Ahmed Laraki zu weiteren Gesprächen in Madrid ein. Seine spanischen Verhandlungspartner waren der Regierungschef Carlos Arias Navarro und der Außenminister Pedro Cortina Mauri. Der Inhalt der Gespräche war geheim. Die Verhandlungen wurden am 26. Oktober zunächst unterbrochen. Laraki reiste zu Informationsgesprächen zu Hassan II. und dem mauretanischen Präsidenten Moktar Ould Daddah, bevor die Gespräche am 28. Oktober weiter geführt wurden. An diesen Gesprächen nahmen nun auch eine Delegation aus Mauretanien, der Oberbefehlshaber des marokkanischen Militärs in Süd-Marokko und der Vorsitzende des marokkanischen Phosphatunternehmens Office Chérifien des Phosphates, Mohammed Karim Lamrani, teil. Durch die Geheimhaltung wurde der Inhalt und die Ergebnisse der Verhandlungen nicht bekannt. Es gab jedoch schnell Gerüchte, wonach man übereingekommen sei, der Forderung Marokkos nachzugeben und die Westsahara an Marokko abzutreten. In Erfüllung des marokkanisch/mauretanischen Geheimabkommens sei Marokko jedoch bereit, auf den südlichen Teil der Westsahara zugunsten Mauretaniens zu verzichten. Spanien sollten wirtschaftliche und strategische Vorteile eingeräumt werden. Um Marokko eine Gesichtswahrung angesichts des angekündigten Marschs zu ermöglichen, habe man auch vereinbart, dass der Marsch in die Westsahara eindringen könne, dies jedoch nur für 48 Stunden und mit einer Tiefe von maximal 10 km. Ob dies tatsächlich so vereinbart war, ist jedoch strittig. Es spricht durchaus einiges dafür, dass Spanien die Grenzüberschreitung nicht billigte und von seiner Strategie her bemüht war, die auch nach spanischer Sicht nicht zu vermeidende Entkolonialisierung der Westsahara von dem mit dem Marsch aufgebauten Verhandlungsdruck zu trennen. Im gleichen Zeitraum bemühte sich der UN-Generalsekretär Kurt Waldheim, gemäß der Resolution 377 Möglichkeiten einer friedlichen Lösung zu finden und in einem Bericht an den UN-Sicherheitsrat aufzuzeigen. Der Bericht, der der UNO eine tragende Rolle für die Suche nach einer dauerhaften Lösung zusprach, wurde später als Waldheim-Plan bezeichnet. Algerien war über diese Entwicklung, die Dreier-Gespräche in Madrid und die eher abwartende Haltung der UNO, besorgt. Es protestierte gegenüber der spanischen Regierung und verlegte Truppen an die Grenze zwischen Algerien und der Westsahara. In dieser Situation trat eine deutliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes General Francos ein. Prinz Juan Carlos wurden die Amtsgeschäfte als Staatsoberhaupt übertragen. Die spanische Haltung änderte sich nun deutlich. Die für den 30. Oktober vorgesehene Fortsetzung der Verhandlungen wurde abgesagt. Juan Carlos traf überraschend zu einem Besuch der spanischen Truppen in El Aaiun ein und der spanische UN-Botschafter Fernando Arias Salgado erklärte am 2. November vor dem UN-Sicherheitsrat, dass Spanien die Grenze zur Westsahara notfalls mit Gewalt verteidigen würde. Die westsaharische Unabhängigkeitsbewegung POLISARIO forderte Spanien auf, seiner Pflicht als Schutzmacht nachzukommen und die Westsahara vor dem Eindringen von Marschteilnehmern notfalls mit Gewalt zu schützen. Marokko reagierte auf diese Wende mit umfangreichen diplomatischen Aktivitäten. So gab es Gespräche zwischen Ahmed Osman und Juan Carlos und Arias Navarro in Madrid. Am 3. November wurden die Gespräche als gescheitert abgebrochen. Es wurden auch Gesandte in die Sowjetunion nach Moskau und nach Algerien gesandt. Für Marokko war offen, wie Spanien auf den Einmarsch der Teilnehmer des Grünen Marschs reagieren würde. Hassan II. zögerte mit dem Abmarschbefehl. Rekrutierung Seitens der marokkanischen Regierung wurden Rekrutierungszentren zur Anwerbung von Marschteilnehmern eingerichtet. Speziell beauftragte Personen warben überall im Land, selbst in kleinsten Dörfern, Teilnehmer an. Nach nur drei Tagen hatten die Rekrutierungsstellen 524.000 Teilnehmer registriert. Marokkanische Quellen sprachen sogar von 695.902 eingetragenen Personen. Die hohe Zahl der registrierten Personen wurde, neben einem gewissen Druck seitens der öffentlichen Stellen, auch auf eine im Land ausgelöste nationale Euphorie zurückgeführt. Unter den Teilnehmern befanden sich dann letztlich aber auch 42.500 marokkanische Beamte. Die große Zahl der zur Verfügung stehenden Personen ermöglichte den Behörden eine gewisse Auswahl. Studenten waren so gänzlich ausgeschlossen. Die als gegenüber dem König weniger loyal eingeschätzte städtische Bevölkerung war im Verhältnis zur Landbevölkerung unterrepräsentiert. Den Teilnehmern wurden auch Tagegelder ausgezahlt. Von den am Marsch beteiligten geschätzten 350.000 Personen waren ungefähr 50.000 Frauen. Logistik Der logistische Aufwand zum Transport so großer Personenzahlen in das nur sehr dünn besiedelte Grenzgebiet war enorm. 7.813 zum Teil beschlagnahmte Lastkraftwagen und Busse brachten die Teilnehmer von Marrakesch, wo sie mit über mehrere Wochen hinweg verkehrenden Sonderzügen eingetroffen waren, nach Tarfaya. Dort war eine Zeltstadt mit 22.000 Zelten auf einer Fläche von 70 km² errichtet worden. 17.260 Tonnen Lebensmittel befanden sich in Lagern in Tarfaya, Guelmim und Tan-Tan. 23.000 Tonnen Wasser und 2.590 Tonnen Benzin wurden mit Hercules-130-Flugzeugen eingeflogen. 470 Ärzte und 230 Krankenwagen waren zur Versorgung der Teilnehmer bereitgestellt worden. In Tarfaya hatten sich auch viele Vertreter der internationalen Presse eingefunden. Die Gesamtkosten des Marschs beliefen sich nach späteren marokkanischen Angaben auf 8 Millionen Britische Pfund, andere Schätzungen gehen von 300 Millionen US-Dollar aus. Neben einer nationalen marokkanischen Ausschreibung wurden die Kosten auch durch ausländische Unterstützung, insbesondere aus Saudi-Arabien, finanziert. Marokkanisches Militär Unbemerkt von der Weltöffentlichkeit rückten bereits am 31. Oktober 1975 und somit deutlich vor dem tatsächlichen Beginn des Marschs marokkanische Truppen in die entlegene nordöstliche Westsahara ein. Sie stießen auf Farsia, Haousa und Idiriya vor, die vom spanischen Militär geräumt worden waren. Es kam zu Kämpfen mit Einheiten der westsaharischen Befreiungsbewegung POLISARIO. Strategisches Ziel dieses Vorgehens war es, einem etwaigen Einrücken algerischer Truppen zuvorzukommen und die Einheiten der POLISARIO zu binden, um deren Zugriff auf den geplanten Marsch selbst zu verhindern. Insgesamt hatte Marokko abseits des eigentlichen Marschs zwölf Kompanien und 20 Bataillone von Infanterie und Artillerie und somit ungefähr 8.000 bis 12.000 Mann in der Nähe der Grenzen zur Westsahara und zu Algerien stationiert. Als besonders schlagkräftig wurden die bei Tan-Tan stationierten Panzereinheiten angesehen. Im Marschzug selbst befanden sich etwa 30.000 bewaffnete Soldaten der marokkanischen Armee. Diese nicht unerhebliche Zahl, die dem offiziellen friedlichen Charakter des Marsches widerspricht, gab später zu Spekulationen Anlass, die unbewaffneten Teilnehmer hätten lediglich der Tarnung dieser Armee gedient. Im tatsächlichen Ablauf beschränkten sich die mit dem Marsch in die Westsahara einrückenden Militär- und Polizeieinheiten jedoch auf die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung des Marsches. Verlauf Beginn am 6. November Nach mehrmaliger Verschiebung begann der Marsch dann am 6. November 1975, nach einer dies am Abend des 5. November verkündenden Rundfunkansprache von Hassan II. Wenige Stunden zuvor hatte der spanische Militärgouverneur der Spanischen Sahara, General Gómez de Salazar, in einer Pressekonferenz klargestellt, dass das spanische Militär das Gebiet verteidigen werde. Auf die Frage, ob ein Abkommen bestehe, wonach der Marsch bis zu einer innerhalb der Westsahara gelegenen Verteidigungslinie geduldet werde, äußerte Salazar, dass ihm eine solche Vereinbarung nicht bekannt sei. Im Zeltlager bei Tarfaya hatte es die ganze Nacht über umfangreiche Aktivitäten gegeben. Mit Lastwagen wurden die Marschteilnehmer über 36 km von Tarfaya nach Süden bis in die Nähe der Grenze gebracht. Um 10:00 Uhr hatten sich an der Landstraße von Tarfaya zum Grenzposten Tah große Menschenmengen versammelt. Um 10:30 Uhr begann eine erste Marschkolonne von 40.000 Menschen ihren Weg nach Süden. An der Spitze des Zugs liefen der marokkanische Premierminister Ahmed Osman sowie weitere Mitglieder des Kabinetts. Über der Straße war auf marokkanischem Gebiet ein eiserner, mit einem Bild Hassan II. und marokkanischen Fahnen geschmückter Triumphbogen errichtet worden, den Osman durchschritt. Hierbei äußerte er: „Wir werden zehn Kilometer marschieren und dann schon sehen.“ Hinter dieser Spitze liefen weitere bekannte marokkanische Persönlichkeiten und ausländische Teilnehmer. Es wurden die Fahnen von Gabun, Jordanien, Katar, Kuwait, Oman, Saudi-Arabien und Sudan mitgeführt. Berichte, wonach auch eine Fahne der USA mitgeführt wurde, dürften auf ein Fahrzeug der US-Presse zurückzuführen sein, welches eine solche Fahne mit sich führte. Osman öffnete dann selbst den Schlagbaum an der Grenze. Daraufhin liefen je 20.000 Teilnehmer aus den marokkanischen Provinzen Ouarzazate und Ksar-es-Souk im Laufschritt und mit erhobenem Koran auf den 800 Meter entfernten spanischen Grenzposten Tah zu. Der Posten selbst wurde von den Marschteilnehmern umgangen. Es kam jedoch zur Hissung einer Flagge Marokkos. Die spanische Polizei hatte den Posten bereits einige Tage zuvor geräumt. Die Menschen an der Spitze des Marschs knieten nieder und rieben sich das Gesicht mit der Erde der Westsahara. Die Front des Marschzuges hatte eine Breite von mehreren Kilometern. Um 11:15 Uhr zog der Zug an den offiziellen Persönlichkeiten vorbei. Es wurden immer wieder die Rufe Allah ist Groß und auch Die Sahara ist marokkanisch wiederholt. Um 13:00 Uhr war die Spitze der Marschkolonne zehn Kilometer tief in westsaharisches Gebiet vorgedrungen, ohne auf Gegenwehr zu treffen. Über dem Marsch kreisten ständig Flugzeuge und Hubschrauber, darunter auch vier spanische. Gegen 13:30 Uhr stoppte die Marschkolonne zwölf Kilometer südlich von Tah und nur wenige Meter von der Ortschaft Daoura entfernt. Hier befand sich eine spanische Verteidigungslinie. Auf einer Breite von vier Kilometern errichteten die Marschteilnehmer entlang der Verteidigungslinie einen Rastplatz. 40.000 bis 50.000 Marschteilnehmer übernachteten dann dort. Eine circa 2.000 Personen umfassende Gruppe versuchte in der Nacht die spanischen Verteidigungslinien zu durchbrechen, wurde hieran jedoch von Einheiten der mitmarschierenden marokkanischen Gendarmerie gewaltsam gehindert. Diplomatie Bereits in der Nacht vom 5. auf den 6. November war auch der UN-Sicherheitsrat zu einer nichtöffentlichen Sitzung zusammengetreten. Der marokkanische Botschafter betonte, dass der Marsch nur eine symbolische Funktion habe. Die Vertreter Spaniens und Algeriens lehnten diese Auffassung ab. Obwohl im Sicherheitsrat das marokkanische Vorgehen sehr kritisch gewürdigt wurde, verhinderten die USA und Frankreich eine Verurteilung des Einmarschs. Der Sicherheitsrat ermächtigte lediglich seinen Präsidenten Jakow Alexandrowitsch Malik (Sowjetunion) Hassan II. zu ersuchen, den Marsch umgehend zu beenden. Der König antwortete noch am frühen Morgen, unterstrich jedoch nur erneut, dass der Marsch lediglich einen friedlichen Charakter habe. Während die Marschkolonne weiterhin vor Hassi-Ad-Dawra stand und weitere Marschteilnehmer eintrafen, erfolgten Versuche, die Situation auf diplomatischem Weg zu lösen. Auf eine marokkanische Initiative vom 6. November 18:00 Uhr reagierte Spanien dahingehend, dass man nur dann bereit sei, wieder an Verhandlungen über den Status des Gebiets teilzunehmen, wenn die Marschkolonnen sich aus der Westsahara zurückziehen würden. Marokko erklärte sich unter der Bedingung einverstanden, dass Spanien sofort eine Verhandlungsdelegation nach Agadir entsende und bei den Verhandlungen der bei der UNO noch in Erarbeitung befindliche Waldheim-Plan keine Rolle spielen würde. Tatsächlich erklärte sich Spanien einverstanden und entsandte umgehend den Präsidialminister Antonio Carro Martínez nach Agadir. Der UN-Sicherheitsrat trat am 6. November erneut zusammen und konnte sich nunmehr auf die etwas deutlichere Resolution 380 verständigen. Hierin nahm er zur Kenntnis, dass entgegen der vorherigen Aufforderung Marokko den Marsch fortgesetzt habe. Fortsetzung am 7. November Seitens Marokkos war jedoch zwischenzeitlich die Präsenz in der Westsahara noch weiter verstärkt worden. In der Nacht vom 6. auf den 7. November wurden 100.000 Teilnehmer per LKW über Abattekh an die Grenze gebracht, die dann die Grenze zu Fuß überschritten. Dieser zweite Marschzug rückte sechs Kilometer in westsaharisches Gebiet ein und errichtete nördlich von El Haggounia ein zweites Zeltlager. Noch am 7. November drang eine dritte Gruppe über Zag in Richtung Mahbes vor. Diese dritte Gruppe sollte große Teile des spanischen Militärs einkreisen. Spanien reagierte mit einer Verschärfung der militärischen Vorbereitungen und verlegte zusätzliche Eliteeinheiten in das Gebiet. So trafen am 8. November Fallschirmjäger und das Artillerieregiment 93 ein. Am selben Tag erhielten die spanischen Einheiten den Befehl, im Notfall auch auf unbewaffnete Marschteilnehmer zu schießen. Verhandlung in Agadir Noch am 8. November trafen der spanische Präsidialminister Antonio Carro Martinez und der marokkanische König Hassan II. in Agadir zu Verhandlungen zusammen, die sehr schnell zu einem Ergebnis kamen. Marokko rückte von der bisherigen Forderung nach sofortiger Abtretung der Westsahara ab. Die Anordnung des Marschrückzuges machte Hassan II. jedoch davon abhängig, dass die ursprünglich zwischen Spanien, Marokko und Mauretanien geführten Verhandlungen wieder aufgenommen würden. Hierauf ging Spanien ein. Die marokkanische Nachgiebigkeit erklärte sich aus der für Marokko entstandenen schwierigen Situation. Einerseits verstärkte sich der internationale Druck, andererseits war gegen eine mögliche militärische spanische Gegenwehr ein friedlicher Einzug in El Aaiun nicht zu erreichen. Rückmarsch Am 9. November 1975 wandte sich Hassan II. in einer im Rundfunk ausgestrahlten Ansprache an die marokkanische Bevölkerung und die Marschteilnehmer. Zur Überraschung der Marschteilnehmer, die den Versuch eines Weiterzugs in die westsaharische Hauptstadt erwarteten, erklärte Hassan II., der Marsch habe sein Ziel erreicht. Die weiteren Ergebnisse seien über andere Wege anzustreben. Tatsächlich kehrten die Marschteilnehmer am 10. November um und gingen nach Tarfaya zurück. Seitens der marokkanischen Regierung wurde verlautbart, dass die Marschteilnehmer in ihrem Lager in Tarfaya die weitere Entwicklung abwarten und im Fall des Scheiterns der Verhandlungen erneut in die Westsahara eindringen würden. Ergebnis Die von Marokko erzwungenen Verhandlungen sollten bereits wenige Tage später in Madrid stattfinden. Die Regierung Algeriens, welches sich deutlich gegen eine Angliederung der Westsahara an Marokko aussprach, intervenierte noch am 10. November beim mauretanischen Präsidenten Moktar Ould Daddah. Bei einem Treffen des algerischen Präsidenten Houari Boumedienne mit Daddah in Bechar versuchte Boumediene, Mauretanien von einer Zusammenarbeit mit Marokko abzuhalten. Bei den Verhandlungen in Madrid erreichten Spanien, Marokko und Mauretanien jedoch sehr schnell eine Übereinkunft, ohne dass sich die algerischen Bedenken oder der vom UN-Generalsekretär zwischenzeitlich vorgelegte Waldheim-Plan durchsetzen konnten. Nach dem am 14. November verabschiedeten gemeinsamen Kommuniqué sollte Spanien bis zum 28. Februar 1976 die Westsahara an Mauretanien und Marokko abtreten. Das spanische Parlament stimmte der Entkolonialisierung der Spanischen Sahara mit 345 Ja-Stimmen, bei 4 Nein-Stimmen und 4 Enthaltungen zu. Am 18. November 1975 wandte sich Hassan II. nochmals mit einer Ansprache an die Öffentlichkeit und befahl den immer noch in Tarfaya wartenden Marschteilnehmern die Rückkehr in ihre Heimatorte. Eine nicht unerhebliche Zahl der Marschteilnehmer war während des eigentlichen Marschs gar nicht zum Einsatz gekommen und hatte die Grenze zur Westsahara nicht überschritten. Weitere Entwicklung Im Februar 1976 hatten die letzten spanischen Soldaten die Westsahara verlassen. Reguläre marokkanische Truppen rückten sehr schnell in die Westsahara ein und besetzten schon am 27. November 1975 Smara. Am 11. Dezember rückte die marokkanische Armee in der Hauptstadt El Aaiun ein. Im Süden der Westsahara besetzte Mauretanien am 20. Dezember 1975 La Gouira. Die UNO-Vollversammlung verabschiedete die Resolutionen 3458 A und 3458 B, in welchen jedoch weiterhin die Möglichkeit der Selbstbestimmung der Bevölkerung der Westsahara gefordert wurde. Eine am 26. Februar 1976 im marokkanisch besetzten El Aaiun zusammengetretene, noch in der Kolonialzeit gebildete, Stammesversammlung Djamaa stimmte dem Dreierabkommen einstimmig zu, worin Marokko und Mauretanien eine ausreichende Selbstbestimmung sahen. Die westsaharische Widerstandsbewegung POLISARIO rief in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar jedoch eine Demokratische Arabische Republik Sahara aus, die bis heute von vielen Staaten als rechtmäßige Vertreterin der Westsahara anerkannt ist. Die Polisario führte einen jahrelangen Krieg gegen Marokko und Mauretanien, in dessen Ergebnis sich Mauretanien aus dem Südteil wieder zurückzog, der daraufhin auch von Marokko besetzt wurde. Inzwischen besteht ein Waffenstillstand. Marokko kontrolliert circa 70 Prozent der Westsahara, darunter alle größeren Städte. Der Status der Westsahara ist immer noch ungeklärt. Völkerrechtliche Einordnung des Grünen Marschs Der völkerrechtliche Charakter des Grünen Marschs ist umstritten und wird, auch abhängig von der jeweiligen politischen Sichtweise, unterschiedlich beurteilt. Aus marokkanischer Sicht war der Marsch durch einen Staatsnotstand gerechtfertigt. Marokko führte an, das Gebiet habe bis zur Kolonisation durch Spanien zum Scherifischen Imperium gehört. Zwar habe das spätere Marokko die Gebietshoheit, nicht jedoch die Souveränität an Spanien verloren. Marokko habe durch den Marsch lediglich seine bestehenden Ansprüche bekräftigt und durchgesetzt. Nach der spanischen Position ist das Gebiet Ende des 19. Jahrhunderts herrenlos gewesen, so dass rechtmäßig eine Okkupation durch Spanien erfolgt sei. Das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) kam zu der Auffassung, dass das Gebiet zum Zeitpunkt der Kolonisation durch Spanien zumindest nicht herrenlos (terra nullius) gewesen sei. Während der IGH insoweit die marokkanische Auffassung stützte, folgte er nicht der Ansicht Marokkos, das Gebiet habe zum Zeitpunkt der Inbesitznahme durch Spanien unter der Hoheit des Scherifischen Imperiums gestanden. Zwar habe es rechtliche Beziehungen zu einigen der nomadischen Stämme gegeben, eine staatliche Tätigkeit des späteren Marokkos sei aber nicht festzustellen. Die westsaharische Unabhängigkeitsbewegung Polisario vertrat den Standpunkt, dass die Westsahara nicht unter marokkanischer Souveränität stand und Spanien lediglich Schutzmacht war. Zu dieser Ansicht, wonach weder Marokko noch Spanien zum Zeitpunkt des Eindringens des Marschs die territoriale Souveränität der Westsahara innehatten und über diese verfügen konnten, gelangen auch völkerrechtliche Betrachtungen europäischer Autoren. Soweit man dieser Ansicht folgt, wäre das Vordringen des Grünen Marschs in das Gebiet der Westsahara jedoch völkerrechtlich nicht gerechtfertigt gewesen und wäre damit, trotz überwiegender Unbewaffnetheit der Marschteilnehmer, als Intervention und Verstoß gegen das Gewaltverbot zu bewerten. Literatur Mourad Kusserow: Schicksal Agadir – Maghrebinische Abenteuer, Verlag Donata Kinzelbach, Mainz 2012, ISBN 978-3-942490-07-8. Kusserow, der bereits am Algerischen Befreiungskrieg teilgenommen hatte, nahm als Redakteur der Deutschen Welle am Grünen Marsch teil. Er vertrat eine uneingeschränkt pro-marokkanische Position. Abigail Bymann: The march On the Spanish Sahara: A Test of Internat. Law, in Denver Journal of Intern. Law + Policy, Band 6, 1976, S. 95–121 (englisch). Ursel Clausen: Der Konflikt um die West-Sahara, in Arbeiten aus dem Institut für Afrika-Kunde im Verband Stiftung Deutscher-Übersee-Institute, Hamburg 1978. Muhammad Maradyi: La marche verte ou la philosophie de Hassan II, Paris 1977 (französisch) Abdallah Stouky: La Marche verte, Paris 1979 (französisch). Werner von Tabouillot: Der Grüne Marsch im Lichte des Völkerrechts, München 1990, ISBN 3-88259-724-0. Jerome B. Weiner: The Green March in Historical Perspective, in The Middle East Journal, vol. XXX III., 1979, S. 20–33 (englisch). C.G. White: The Green March, in Army Quarterly and Defence Journal 106, Julie 1976, S. 351–358 (englisch). Weblinks Videoszenen des Grünen Marschs Einzelnachweise Geschichte (Westsahara) Geschichte (Marokko) Marsch (Veranstaltung) Politische Veranstaltung 1975 Marokkanisch-spanische Beziehungen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kreuzbergschanzen
Kreuzbergschanzen
Die Kreuzbergschanzen liegen bei Haselbach, einem Ortsteil von Bischofsheim in der Rhön, am Nordhang des 928 Meter hohen Kreuzberges in der Bayerischen Rhön. Die Schanzenanlage, die auf 600 Meter über Normalnull liegt, besteht aus drei Mattenschanzen (K-Punkte: 16, 30 und 50 Meter), die den neuesten FIS-Normen entsprechen und überwiegend vom Skisprungnachwuchs genutzt werden. Heute ist die Kreuzbergschanze die einzige Sprungschanze in der Rhön und in Unterfranken und stellt damit das Skisprungzentrum des Skigaus Unterfranken dar. Die Sprungschanzen werden gemeinsam vom Rad- und Wintersportverein (RWV) Haselbach und vom Wintersportverein (WSV) Oberweißenbrunn betrieben. Standort Die Kreuzbergschanzen liegen in der zentralen Rhön, etwa vier Kilometer von der hessischen Grenze entfernt. Sie befindet sich am Nordhang eines Bergrückens, der den Kreuzberg mit dem 842 Meter hohen Arnsberg verbindet, in einem engen Tal, das vom Haselbach durchflossen wird. Die Sprungschanze ist aufgrund der mittleren Hanglage des Tales überwiegend windgeschützt und erhält in den Wintermonaten wegen des über 300 Meter höheren Kreuzbergs nur wenige Sonnenstunden am Tag. Bedeutung Die Schanzenanlage hat als einzige Sprungschanze in der Rhön und dem gesamten Skigau Unterfranken für den Nachwuchs eine große Bedeutung. Die Springer kommen aus dem gesamten unterfränkischen Raum und dem südöstlichen Hessen. Durch die Mattenbelegung der K-50-Schanze hat sich die Bedeutung der Schanzenanlage nochmals erhöht. Es entfallen damit für die Jugendlichen, die schon über die K-30-Schanze hinausgewachsen sind, die regelmäßigen Fahrten zum Training in das thüringische Oberhof. Die K-50-Schanze dient jetzt den jugendlichen Skispringern aus Unterfranken und der Rhön als Sprungbrett zum Sportgymnasium Oberhof. Sie können jetzt länger in Haselbach trainieren, bevor sie bei entsprechender Leistung zum Sprungtraining nach Oberhof wechseln. Geschichte Alte Kreuzbergschanze Die erste Sprungschanze am Kreuzberg wurde im Gelände an der Fischzucht von 1932 bis 1933 mit einem Anlaufturm aus Holz erbaut (weil die Schweinfurter Fabrikanten-Familie Fichtel dort Fischteiche hatte, heißt dieser Bereich am Kreuzberg Fischzucht). Heute befindet sich an dieser Stelle Wald. Während des Zweiten Weltkriegs verfiel die Schanze. Sie wurde im Herbst 1949 in Eigenregie von Vereinsmitgliedern des RWV Haselbach erneuert, wobei für den Schanzenaufbau Arbeitskolonnen gebildet wurden. Die Finanzierung übernahmen die Gasthöfe auf dem Kreuzberg. Der K-Punkt lag bei 35 Metern und der Schanzenrekord bei 28 Metern. Bei einer Tagung des Skibezirks Rhön am 20. Februar 1949 in Bad Kissingen begann die Diskussion, eine große Sprungschanze in der bayerischen Rhön zu bauen, da im hessischen Teil der Rhön, in Gersfeld, bereits mit dem Bau einer Schanzenanlage, der Reesbergschanze, begonnen worden war. Um mit der Planung für den Bau einer Sprungschanze am Kreuzberg voranzukommen, wurde es nötig, innerhalb des Bayerischen Skiverbandes mehr Eigenständigkeit zu erreichen. Die Gründung des RWV Haselbach am 30. August 1949 verstärkte die Planungen. So wurde im November 1950 der Entschluss gefasst, den Skigau Unterfranken Rhön zu gründen. Große Kreuzbergschanze Der RWV Haselbach begann 1952 mit dem Bau der Großen Kreuzbergschanze. Sie war zur damaligen Zeit eine der größten Schanzen in Deutschland. Der Architekt war der Aschaffenburger Ernst Brönner. Zum Bau der Schanze waren alle Mitglieder des Vereins aufgerufen, die entweder 20 freiwillige Arbeitsstunden beim Bau der Schanze leisten oder 20 Deutsche Mark bezahlen mussten. Am 6. Januar 1953 fand die Einweihung mit dem Herbert-Hoesch-Eröffnungsspringen (benannt nach dem damaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Skigaus Unterfranken) auf der neuen Schanze, die einen K-Punkt von 75 Metern hatte, vor 8000 Zuschauern statt. Zum Eröffnungsspringen kamen Skispringer der Spitzenklasse aus ganz Deutschland. Sieger war der spätere Bundestrainer Ewald Roscher aus Baden-Baden mit Weiten von 66 und 61 Metern. Die weitesten Sprünge erzielte der drittplatzierte Franz Eder (Deutscher Meister 1954) vom Ski-Klub Ramsau bei Berchtesgaden mit einem Schanzenrekord von 69 Metern. Ein weiterer Sprung ging auf 75 Meter, konnte aber nicht gestanden werden. Am Jahrestag des Eröffnungsspringens, Heilige Drei Könige, finden seither regelmäßig Dreikönigsspringen statt. Die Kleine Kreuzbergschanze mit einem K-Punkt von 38 Metern wurde direkt neben der Großen Kreuzbergschanze in den Jahren 1953 bis 1954 erbaut. Wettkämpfe 1954 fanden die Deutschen Jugendmeisterschaften und vom 28. bis 30. Januar 1955 die Bayerischen Nordischen Skimeisterschaften (Springen, Nordische Kombination und Langlauf) vor 12.000 Zuschauern mit bekannten Teilnehmern wie Max Bolkart und Gunder Gundersen statt. Beim Kombinationssprunglauf wurde Helmut Böck Bayerischer Meister. Den Spezialsprunglauf als Höhepunkt gewann Max Bolkart aus Oberstdorf. Dieser Wettbewerb stellte die Veranstalter vor große Probleme, da der Winter bis dahin mild war und die Schneeverhältnisse am Kreuzberg nicht die besten waren. Die Verantwortlichen mussten viele Vorbereitungsarbeiten leisten und bewiesen damit, dass es am Kreuzberg organisatorisch und vom Gelände her möglich ist, diese großen Wettkämpfe abzuhalten. Die Bayerischen Jugendmeisterschaften fanden 1956 mit einer größten Weite von 68,5 Metern statt. Im Jahre 1958 folgte ein Länderspringen und am 25. Februar 1962 ein Ländervergleichsspringen. Dabei sprang der deutsche Meister Helmut Wegscheider mit 70 Metern neuen Schanzenrekord. 1000 Zuschauer waren anwesend. 1963 fanden die zweiten Bayerischen Skimeisterschaften vor 6000 Zuschauern statt, wodurch das Skispringen in der Rhön bekannt wurde. Heini Ihle sprang am 20. Januar 1963 75 Meter und stürzte. Mit seinem nächsten Sprung von 70,5 Metern stellte er den neuen Schanzenrekord auf. Vom 24. bis 26. Januar 1964 fand mit den Nordischen Winterspielen der bayerischen Skijugend mit 60 Springern die bis dahin größte Veranstaltung vor 3500 Zuschauern statt. Dabei kam es zu schweren Stürzen; die große Schanze musste deshalb aus Sicherheitsgründen gesperrt werden. Die größte Weite, allerdings gestürzt, wurde mit 74 Metern von Henrik Ohlmeyer vom SC Bischofsgrün erzielt. Bei dieser Veranstaltung stellte er mit 40 Metern den Schanzenrekord auf der Kleinen Schanze auf. Umbau In den 1970er-Jahren wurde der Schanzentisch der Großen Kreuzbergschanze erhöht. Später entsprach diese Schanze nicht mehr dem neuesten Schanzenprofil und das Springen wurde eingestellt. 1986 kamen die ersten Diskussionen zum Neubau einer Kreuzbergschanze auf. Im Februar 1988 fand das letzte Springen auf der Kleinen Kreuzbergschanze statt. Ein weiteres Springen am 6. Januar 1990 (Dreikönigsspringen) musste wegen Schneemangel abgesagt werden. Wegen technischer Mängel der inzwischen veralteten Kreuzbergschanzen war dort in den Vorjahren der Sprunglauf eingestellt worden. Die Anlage verfiel daraufhin. Neue Kreuzbergschanzen Beim Bau der Schulsportanlage 1991 in Bischofsheim war der Gegenhang an der heutigen Sprungschanze mit dem gesamten Erdaushub angefüllt worden; damit waren bereits die Weichen für den Bau der neuen Schanzenanlage gestellt. 1997 wurden die neuen Schanzen im Auftrag des Landkreises Rhön-Grabfeld mit Konstruktionspunkten von 16, 30 und 50 Metern gebaut. Am 6. März 1998 war das Richtfest. Am 25. Oktober 1998 wurde die neue Schanzenanlage eingeweiht. Das Eröffnungsspringen fand mit 100 Skispringern aus sechs Landesverbänden vor etwa 1000 Zuschauern statt. Unter den Ehrengästen war der ehemalige Skiflugweltrekordler Manfred Wolf aus Steinbach-Hallenberg. Es handelt sich um eine moderne Schanzenanlage, die dem neuesten Stand der Technik entspricht und durch die Belegung der K-16- und der K-30-Schanze mit Matten ganzjährig Training und Wettkämpfe für den Nachwuchs erlaubt. Die K-50-Schanze war zunächst nur für den Winterbetrieb ausgelegt. Sowohl die Einzelschanzen als auch die komplette Schanzenanlage werden heute Kreuzbergschanze genannt. In den Jahren 1999 bis 2002 fanden mehrere Sprungturniere, wie der achte und neunte Bayerische Schülercup und die ersten Rhöncup-Mattenspringen auf der K-16- und der K-30-Schanze statt, teilweise mit bis zu 1100 Zuschauern. Am 5. Januar 2002 fand das traditionelle Dreikönigsspringen zum ersten Mal auf Schnee auf der K-50-Schanze statt. Hierbei wurde der heute noch auf Schnee gültige Schanzenrekord von 54 Metern aufgestellt. Am 21. Juli 2002 fand das erste Kloster-Kreuzberg-Pokal-Springen statt, das seitdem alljährlich ausgetragen wird. Das zunächst am 6. Januar 2005 geplante Dreikönigsspringen, wegen Schneemangels verschoben, wurde am 12. März 2005 nachgeholt. Dabei war die größte erzielte Weite 52 Meter. Vom Sommer 2005 bis zum Frühling 2006 wurde die K-50-Schanze nach jahrelangen Finanzierungsproblemen für 120.000 Euro mit 2400 Matten belegt, so dass sie seit 2006 auch für den Sommerbetrieb geeignet ist. Aus finanziellen Gründen muss bisher auf ein 15.000 Euro teures Schneenetz verzichtet werden, weshalb die Schanze derzeit nur im Sommer benutzt werden kann. Der Unterbau des Aufsprunghanges besteht aus imprägniertem Lärchenholz und rund 500 Kubikmetern Basaltkies. Darauf befinden sich Schaumstoffmatten und ein Kunststoffgitternetz, an dem mittels 12.000 Kabelbindern die eigentlichen Matten befestigt sind. Die beiden Vereine leisteten insgesamt 3300 Stunden ehrenamtliche Arbeit. Am 21. Mai 2006 wurde die K-50-Schanze offiziell mit einem Eröffnungsspringen eingeweiht. Dabei stellte der 19-jährige Florian Enders mit 54,5 Metern einen Schanzenrekord auf. Am 30. September und 1. Oktober 2006 fanden die 5. Deutschen Meisterschaften der Masters im Spezialspringen mit 75 Teilnehmern aus 25 Vereinen als bisheriger Höhepunkt auf der K-50-Schanze statt. Bei diesem Wettkampf nahmen Springer im Alter von 13 bis 71 Jahren, unterteilt in Altersgruppen, teil. Schanzenanlage Allgemein Die Kreuzbergschanze besteht aus drei Schanzen mit Mattenbelegung, einer Keramik-Anlaufspur für die K-16- und die K-30-Schanze und einer Edelstahl-Anlaufspur für die K-50-Schanze. Die drei Schanzen sind mit einem bis zum 4. Dezember 2012 gültigen Zertifikat beim Deutschen Skiverband (DSV) mit den Zertifikatsnummern DSV 190 (K-16), 191 (K-30) und 192 (K-50) gelistet. Bei den drei Schanzen handelt es sich um Naturschanzen, weshalb kein Anlaufturm benötigt wird. Die gesamte Schanzenanlage wurde vom Anlaufbereich bis zum Aufsprungbereich durch Erdbewegungen der natürlichen Umgebung angepasst. Die Wasserversorgung für das Mattenspringen im Sommer geschieht mittels Sprinkler, die bei Bedarf aktiviert wird. Auch der Auslaufbereich muss regelmäßig gewässert werden. Schanzendaten Die technischen Daten der Schanzen verfügen über die folgenden Charakteristika: Der Schanzenrekord der K50 liegt bei 54,5 Metern (Jahr 2006), die Rekorde der K30 und K16 bei 31,0 (Jahr 2002) und 16,0 Metern. Literatur Skigau Unterfranken/Rhön (Hrsg.): 50 Jahre Skigau – Festrede. Winfried Pöpperl. 2000. Rad- und Wintersportverein Haselbach (Hrsg.): Vereinschronik RWV Haselbach. Waldemar Korb. Haselbach 2000. Bayerisches Landesvermessungsamt (Hrsg.): Naturpark Rhön – Südkarte. 1:50.000. München 1999, ISBN 3-86038-490-2. Weblinks Webseite des RWV Haselbach/Kreuzbergschanzen Webseite des WSV Oberweißenbrunn/Kreuzbergschanzen Einzelnachweise Skisprungschanze in Deutschland Sportstätte in Bayern Bischofsheim in der Rhön Sport (Landkreis Rhön-Grabfeld) Wintersport (Rhön)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Burmanniaceae
Burmanniaceae
Die Burmanniaceae sind eine Pflanzenfamilie aus der Ordnung der Yamswurzelartigen (Dioscoreales). Die Familie umfasst rund einhundert Arten in neun häufig monotypischen beziehungsweise sehr artenarmen Gattungen. Die stammesgeschichtlich alte Familie ist weltweit in den Tropen verbreitet, ihre Arten sind mehrheitlich vollständig ohne Blattgrün und ernähren sich stattdessen mykoheterotroph als Parasiten von Pilzen. Durch ihre Unabhängigkeit vom Licht als Energiequelle erschließen sie sich ökologische Nischen, die Pflanzen sonst weitgehend verschlossen bleiben. Aufgrund der evolutionären Anpassungen an ihre Lebensweise wurde den blattgrünlosen Arten „ein bizarres Aussehen“ attestiert und sie wurden mit „einer künstlichen Flora aus Glas, in der die kleinen Blüten in brillanten Farben wie Kristalle auf den zarten, glasartigen Stängeln ruhen“ verglichen. Beschreibung Erscheinungsbild Alle Arten der Familie sind mykotrophe und – bis auf rund vierzig Arten der Gattung Burmannia – chlorophylllose, einjährige oder ausdauernde krautige Pflanzen. Sie erreichen meist Wuchshöhen von 5 bis 30 Zentimetern, einige Burmannia-Arten nur bis zu 2 Zentimetern, Höchstwerte sind 75 oder gar 100 Zentimeter (Burmannia disticha). Fast alle Arten wachsen terrestrisch, selten finden sich Epiphyten (Burmannia kalbreyeri, Burmannia longifolia). Rhizom und Wurzeln Das knollenähnliche, zylindrische und üblicherweise vertikal wachsende Rhizom ist verzweigt, nur wenige Zentimeter lang und dicht bedeckt mit überlappenden Schuppen und fadenförmigen, exogen gewachsenen Wurzeln, die von Mykorrhizen durchwachsen sind. Wurzelhaare fehlen, finden sich aber in der Gattung Dictyostega möglicherweise funktionell durch die Ränder der Rhizomschuppen beziehungsweise lange Härchen an deren Spitze ersetzt. Wurzelhauben fehlen den mykoheterotrophen Arten. Die Wurzeln besitzen eine ausgeprägte Endodermis mit U-förmigen Wandverdickungen und/oder Casparyschen Streifen. Der Zentralzylinder ist schwach tri- oder tetrarch ausgebildet und besitzt nur ein bis sechs Xylem-Gefäße mit ring- oder schraubenförmigen Wandverstärkungen und drei bis acht Phloemstränge. Es wurden keine Siebröhren-Plastiden nachgewiesen. Das Perizykel ist fast vollständig reduziert. Im Zentrum der Rhizome findet sich Markgewebe sowie der – gelegentlich von einer Endodermis umgebene – Leitbündelzylinder, die Rinde ist im Vergleich zum oberirdischen Teil der Pflanze verdickt. Sowohl Markgewebe als auch Rinde dienen als Stärkespeicher. Mittels seitlich aus dem Rhizom wachsender Sprosse beziehungsweise von Achsenknospen aus der Wurzel vermögen sich Arten der Burmanniaceae auch vegetativ zu vermehren. Von zwei Arten der Burmannia (Burmannia alba, Burmannia longifolia) ist Wurzeldimorphismus bekannt, neben einem eigentlich schwach ausgeprägten Wurzelwerk findet sich hier noch eine, gelegentlich sogar zwei sehr verdickte, knollenartige Wurzel. Von diesem Aufbau weichen die blattgrünen Arten der Gattung Burmannia meist ab: ihnen fehlt das Rhizom und sie besitzen Wurzelhauben. Sie zählen mit bis zu 70 Zentimeter Wuchshöhe auch zu den größten Vertretern der Familie. Sprossachsen Oberirdische Sprossachsen werden nur in Form der Blütenstandsachsen ausgebildet, sie sind in der Regel unverzweigt und im Querschnitt zylindrisch, um ihren Ansatz findet sich eine von der Hauptwurzel ausgehende, rund 1 Millimeter hohe Scheide. Die Epidermis besitzt so gut wie keine Spaltöffnungen, wenn, dann ohne Nebenzellen (anomocytische Stomata). Nach innen folgen ein ausgeprägtes subepidermales Gewebe, eine Sklerenchymscheide, eine Endodermis ähnlich der der Wurzeln. Es gibt 3 bis 20 reduzierte kollaterale Leitbündel. Die Xylem-Gefäße besitzen ring- und spiralförmige Verdickungen. Blätter Die wechselständig angeordneten, ungestielten Blätter sind bei mykotrophen Arten zu kleinen Schuppenblättern reduziert und von blass bräunlicher, gelblicher, rötlicher Farbe, selten auch vollständig farblos. Bei blattgrünen Arten sind sie bis zu 50 Zentimeter lang, linealisch bis lanzettlich und bilden in der Regel eine Rosette am unteren Teil der Sprossachse. Nebenblätter fehlen. Die Blätter besitzen nur ein kollaterales Leitbündel, das aus wenigen Tracheiden, selten aus Gefäßen besteht. Für Burmannia fadouensis und Burmannia pingbianensis ist die Bildung von Achselbulbillen zum Zweck der vegetativen Vermehrung berichtet. Blütenstände und Blüten In den endständigen Blütenständen sind einfache (zum Beispiel bei Apteria) oder doppelte (Gymnosiphon, Dictyostega) Wickel in denen ein bis fünfzehn gestielte Blüten über jeweils einem Tragblatt stehen. Im Falle von Doppelwickeln sind die Blüten einseitswendig ausgerichtet. Die Blütenstände sind bei Gymnosiphon und Dictyostega eher locker, bei Miersiella und einigen Burmannia kompakt aufgebaut. Die Länge der Blütenstiele ist, insbesondere innerhalb der Gattung Gymnosiphon von großer taxonomischer Bedeutung. Die in der Regel radiärsymmetrischen und röhren- bis trompetenförmigen Blüten sind dreizählig. Die Blütenfarbe ist variabel, häufig von blauer bis hellblauer Grundfarbe, daneben aber auch grünlich, gelb, weiß oder rosafarben. Oft sind verschiedene Farben kontrastreich miteinander kombiniert. Die vollständig miteinander verwachsenen Tepalen stehen in zwei Kreisen, die äußeren drei sind deutlich größer als die inneren, nur bei Campylosiphon ist dieser Unterschied kaum ausgeprägt. Bei Marthella fehlen die Tepalen des inneren Kreises vollständig. Die Tepalen des äußeren Kreises sind dabei meist einfach, (nur bei den Gattungen Cymbocarpa und Gymnosiphon dreigelappt); die des inneren Kreises sind stark verkleinert, einfach (bei Hexapterella gelegentlich dreigelappt) und fleischig verdickt. In der Knospe umschließen die bündig aneinander stehenden äußeren Tepalen die inneren vollständig. Der Perianth ist persistent, wird also bis zur Fruchtreife nicht abgeworfen, sondern vertrocknet langsam; Ausnahmen sind Gymnosiphon, Cymbocarpa und Hexapterella gentianoides, die als circumscissil beschrieben werden, hier werden also alle oberhalb der Blütenröhre gelegenen Blütenelemente abgeworfen und hinterlassen eine „nackte Blütenröhre“. Es ist nur ein Kreis mit drei, den inneren Tepalen gegenüber stehenden Staubblättern vorhanden, der äußere Staubblattkreis fehlt. Staubfäden fehlen mit Ausnahme der Gattungen Apteria und Marthella sowie bei Hexapterella gentianoides. Die Theken reißen quer auf und sind deutlich voneinander entfernt. Der Griffel ist ebenso lang wie die Blüte, im Querschnitt am Ansatz dreieckig bis rund, oberhalb zylindrisch, fadenförmig und an der Spitze auf Höhe der Staubbeutel in drei trichterförmige oder zweilippige Narbenäste verzweigt. Bei zweilippigen Narbenästen ist die Unterlippe mit Papillen besetzt, die als Haftpunkte für die Pollen dienen. Die drei Fruchtblätter sind zu einem unterständigen Fruchtknoten verwachsen. Der Fruchtknoten besitzt ein oder drei Fächer. Bei drei Fächern (Burmannia) ist die Plazentation zentralwinkelständig, bei einem meist parietal. Die Samenanlagen sind anatrop, bitegmisch und tenuinucellat. Für zahlreiche Mitglieder der Familie sind Nektarien nachgewiesen, von einfachen Septalnektarien bei Burmannia und Campylosiphon bis hin zu hochkomplexen Drüsenstrukturen bei Miersiella umbellata und Marthella trinitatis, wo sechs je paarweise miteinander angeordnete, verwachsene Drüsen oberhalb der Fruchtknoten platziert sind. Düfte werden nur schwach, vereinzelt oder kurzzeitig abgegeben, ein einheitliches Bild lässt sich nicht zeichnen. Einzelne Berichte liegen unter anderem vor für Burmannia championii (süßlich), Hexapterella gentianoides (süß), Campylosiphon purpurascens (wohlriechend), Gymnosiphon divaricatus (angenehm, primelähnlich) und eine weitere Gymnosiphon-Art (nach Kakao). Als Quelle der Düfte werden die Papillen der Perianthinnenseiten in Betracht gezogen. Pollen Die Pollen werden als äußerst vielgestaltig beschrieben, nur sehr wenige Merkmale gelten für die gesamte Familie. Zumeist werden die Pollenkörner als Monaden, also einzeln ausgestreut, selten bilden sie Gruppen aus je vier (Tetraden) oder zwei (Dyaden) Pollenkörnern (zum Beispiel bei Apteria aphylla). Bei einigen Gymnosiphon-Arten werden große Aggregationen zu gleicher Zeit ausgestreut (Massula). Die Oberfläche der sehr dünnen Exine ist vollkommen glatt, die Form des Korns ist ellipsoid, seine Länge beträgt zwischen 17 und 54 Mikrometer. An den Aperturen dünnt die Exine aus und die Intine tritt hervor. Meist sind die Pollen porat (wobei die Poren gelegentlich exzentrisch zum Äquator des Pollenkorns liegen), die Anzahl der Poren ist sehr variabel und kann selbst innerhalb einer Art schwanken. Monoporate und diporate Pollen überwiegen, gelegentlich gibt es Arten mit drei Poren. Selten finden sich inaperturate (Gymnosiphon, Apteria aphylla, Burmannia sphagnoides), noch seltener monocolpate Pollen (Cymbocarpa refracta, Hexapterella gentianoides). Früchte und Samen Die Kapselfrüchte sind ein- oder dreifächrig, öffnen sich längs (mit Ausnahme mehrerer quer verlaufender Schlitze bei den Burmannia) und enthalten viele winzige Samen, die bei den blattgrünen Arten durch Wind (Boleochorie), bei den mykoheterotrophen Arten durch Wasser verbreitet werden (Hydrochorie). Die Samen sind 0,19 bis 1,52 Millimeter lang, 0,06 bis 0,55 Millimeter breit, rundlich-oval bis länglich, gelb bis braun, glänzend und ungeflügelt. Der Funiculus ist relativ lang, ein Endosperm ist vorhanden, aber nur extrem schwach ausgeprägt. Genetik Die Chromosomenzahlen reichen von 6 und 8 über 68 bis zu 87 bis 99. Das Vorhandensein von Polyploidien wird angenommen, eine genaue Chromosomengrundzahl (möglicherweise 6 oder 8) ist aber nicht bekannt. Ökologie Bestäubung Bislang wurde bei den Burmanniaceae nur Selbstbestäubung beobachtet. Sie tritt bei vielen Arten regelmäßig auf und wird durch mehrere Anpassungen erleichtert: Staubbeutel und Narbe sind einander genähert, die Antheren öffnen sich in der Knospe, teilweise wachsen Pollenschläuche aus der Anthere zur Narbe. Für Apteria aphylla existiert ein Bericht über Besuche von Milben, die allerdings aufgrund ihrer eingeschränkten Mobilität die Pflanzen auch nur mit ihrem eigenen Pollen bestäuben können. Bei einigen Burmannia-Arten findet sich Kleistogamie, die Blüte bleibt also geschlossen und es kommt zur Selbstbefruchtung (Burmannia championii, Burmannia lutescens, Burmannia capitata), bei Burmannia coelestis wurde auch Apomixis beobachtet, eine vollständig ungeschlechtliche Fortpflanzungsform. Die Anpassungen der Blüten vieler Arten deuten jedoch auf Fremdbestäubung hin. Teilweise liegt Protandrie vor (die Staubbeutel reifen vor den Fruchtblättern, eine Selbstbestäubung wird so vermieden), die Blütenstruktur ist deutlich auf den Besuch durch Insekten angepasst, auch in Gestalt der Nektarproduktion vieler Arten. Als Bestäuber werden aufgrund der Blütenstruktur Schmetterlinge vermutet. In den Kronröhren dreier Exemplare von Gymnosiphon breviflorus, die als Untersuchungsmaterial dienten, wurde zweimal eine „Hymenoptere aus der Verwandtschaft der Erzwespen […], in der dritten Kronröhre derselben Art eine Fliegenpuppe (oder Larve) der Unterordnung Brachycera“ gefunden. Lebensweise Die Mehrheit aller Arten der Familie betreibt überhaupt keine Photosynthese mehr und bildet dementsprechend kein Chlorophyll. Stattdessen leben sie myko-heterotroph von arbuskulären Mykorrhizapilzen, sind also zu ihrer Ernährung vollständig von den Pilzen abhängig. Da diese Mykorrhiza-Pilze in Symbiose mit anderen Pflanzen stehen, meist Bäumen oder Sträuchern, wurde für diese Konstellation gelegentlich auch der Begriff Epiparasitismus gebraucht. Im strengen Sinne ist dieser Begriff jedoch unzutreffend, da Epiparasitismus als indirekte Miternährung am Pilzpartner ohne Schädigung des Pilzes selbst hier nicht vorliegt. Burmanniaceae sind echte Parasiten am Pilz: die in die äußeren bis zu 12 Zellschichten von Rinde und Epidermis der Wurzeln beziehungsweise Rhizome einwachsenden Hyphen des Pilzes werden nach und nach abgetötet und die Nährstoffe in Gestalt von Stärke im Gewebe eingelagert. Über lange Zeiträume sind die unterirdischen Pflanzenteile (Rhizom, Wurzeln) so die einzigen aktiven Teile der Pflanzen, sie treiben erst aus, wenn sie vom Pilz hinreichende Reserven an Nährstoffen angesammelt haben. Wenngleich allerdings der größte Teil der Arten der Burmannia blattgrün ist, so bedeutet dies doch keinesfalls, dass sie autotroph sein müssen. Auch sie parasitieren oftmals Pilze, betreiben aber parallel Photosynthese, nur wenige Arten wie Burmannia disticha sind völlig frei von Mykorrhizen. Leake konstatierte diesbezüglich: „Es ist höchstwahrscheinlich, dass viele dieser Arten mehr Kohlenstoff durch Heterotrophie als durch Photosynthese beziehen […]“ („It is most likely that many of these species obtain more carbon heterotrophically than they do from photosynthesis […]“) Die von den Pflanzen parasitierten Pilze entstammen – soweit bekannt – der Klasse Glomeromycetes, darunter neben Arten der Gattung Glomus auch einige aus der Familie der Acaulosporaceae, sowie der Peronosporaceae. Verbreitung Die Burmanniaceae sind weltweit in den tropischen Zonen aller Kontinente zu finden und erreichen nur selten warm gemäßigte Breiten. Besondere Verbreitungsschwerpunkte sind Südamerika und Asien (Südostasien, Malesien), ein kleinerer Schwerpunkt ist West- und Zentralafrika. Die Familie strahlt darüber hinaus nach Nordamerika, die Karibik und Ostaustralien aus. Die Verteilung zwischen Paläotropis und Neotropis ist annähernd gleich. Die fast weltweite Verbreitung ist zusammen mit der Tatsache, dass keine Art auf mehr als einem Kontinent zu finden ist, ein deutliches Anzeichen für das Alter der Familie, das mit rund 93 Millionen Jahren für den ältesten gemeinsamen Vertreter der rezenten Arten (Crown node age) angegeben wird. Bemerkenswert ist daneben besonders der hohe Endemismusgrad auf Gattungsebene: Während die 14 Arten in Afrika und 39 Arten in Australasien nur drei Gattungen entstammen (Burmannia, Gymnosiphon, Saionia), sind die 47 neuweltlichen Arten auf alle 9 Gattungen der Familie verteilt. Habitate Die myko-heterotrophen Arten der Burmanniaceae wachsen meist auf verrottendem Holz oder Laub an sehr schattigen Standorten in luftfeuchten Primärwäldern, gelegentlich aber auch an sonnigen, offenen Standorten humusreicher Feuchtsavannen, in Bambusgebüschen, Kiefernwäldern, Mangroven oder sogar in feuchtem Sand in Höhlen. Die blattgrünen Burmannia-Arten finden sich an schattigen, aber offenen, feuchten bis sumpfigen und humusarmen Standorten in Savannen, Prärien, Feuchtwiesen, Torfmoos-Mooren, an den Ufern von Teichen und Flüssen, in Kiesgruben, Zypressensümpfen oder Nadelwäldern, aber auch Reisfeldern. Vergesellschaftet sind Burmanniaceae mit Arten der Süßgräser, Binsengewächse, Sauergrasgewächse, Xyridaceae, Eriocaulaceae, Sonnentaugewächse, Wasserschlauchgewächse, Enziangewächse, Kreuzblumengewächse und anderen, in Westafrika sind sie Charakterpflanzen der Inselberg-Vegetation. Die epiphytischen Arten leben in Wäldern auf lebenden Ästen oder den Stelzwurzeln von Palmen der Gattung Iriartea. Die Burmannia-Arten wachsen üblicherweise einzeln und finden sich mehrheitlich in niedrigen Höhenlagen, können aber auch auf Höhenlagen von bis zu 3600 Metern vordringen. Gefährdung und Status Aufgrund der meist unzugänglichen Standorte, ihres disjunkten Verbreitungsgebietes, ihrer Unauffälligkeit und ihrer natürlichen Seltenheit ist keine summarische Aussage über die Entwicklung der Bestände der Familie möglich. Auf der Roten Liste der IUCN stehen drei Arten der Gattung Gymnosiphon, vier Arten der Gattung Afrothismia, vier oder fünf Arten der Gattung Burmannia und eine Art der Gattung Oxygyne. In den USA ist Burmannia flava in Florida seit 1998 als „Endangered“ = „Gefährdet“ eingestuft. In besonderer Hinsicht unklar ist der Status von Marthella trinitatis, der einzigen Art ihrer Gattung; sie ist nur ein einziges Mal 1883 auf dem El Tucuche, dem zweithöchsten Berg Trinidads, gesammelt und seither nicht mehr wiedergefunden worden, einen offiziellen Status genießt sie aber nicht. Ähnliches gilt für die bisher nur dreimal gefundene Cymbocarpa saccata. Systematik Gattungen Die Burmanniaceae umfassen derzeit (unter Einschluss der Thismiaceae) etwa 16 Gattungen mit rund 170 Arten, neue Arten (insbesondere der Gattung Burmannia) werden jedoch regelmäßig beschrieben. Bis auf Afrithismia mit etwa 14 Arten, Gymnosiphon mit etwa 30 Arten, Burmannia mit etwa 60 Arten und Thismia mit etwa 64 Arten haben alle Gattungen nur einen bis vier Vertreter. Afrothismia : Hierher gehören etwa 14 Arten, die in Afrika vorkommen. Apteria : Sie umfasst nur eine Art: Apteria aphylla : Sie kommt im tropischen und subtropischen Amerika vor. Burmannia (Syn.: Tripterella ): Hierher gehören etwa 60 Arten. Campylosiphon : Hierher gehören zwei Arten. Cymbocarpa : Hierher gehören zwei Arten: Cymbocarpa refracta : Sie kommt im tropischen Amerika vor. Cymbocarpa saccata : Sie wurde nur dreimal gefunden, in Guayana, in Peru und im nördlichen Brasilien. Dictyostega : Mit nur einer Art, die sich in drei Unterarten gliedert: Dictyostega orobanchoides : Sie kommt im tropischen Amerika vor. Geomitra : Sie enthält nur eine Art: Geomitra clavigera : Sie kommt in Thailand, Malaysia, Sumatra und Borneo vor. Gymnosiphon : Mit etwa 30 Arten in den Tropen. Haplothismia : Sie enthält nur eine Art: Haplothismia exannulata : Sie kommt im südlichen Indien vor. Hexapterella : Hierher gehören zwei Arten, die in der Neotropis vorkommen. Marthella : Mit nur einer Art: Marthella trinitatis : Sie kommt im nördlichen Trinidad vor. Miersiella : Mit nur einer Art: Miersiella umbellata : Sie kommt im tropischen Südamerika vor. Oxygyne : Sie enthält vier Arten, die von Kamerun bis zur Zentralafrikanischen Republik vorkommen. Saionia : Sie wurde 2015 aufgestellt. Sie werden von manchen Autoren auch in die Familie der Thismiaceae gestellt. Ihre drei Arten kommen nur im südlichen Japan bis zu den Nansei-Inseln vor. Thismia : Hierher gehören etwa 64 Arten. Tiputinia : Sie umfasst nur eine Art. Sie wurde 2007 erstbeschrieben. Tiputinia foetida : Sie kommt im östlichen Ecuador vor. Geschichte der Systematik Die Geschichte der Systematik der Burmanniaceae ist in vieler Hinsicht geprägt von Unsicherheiten aufgrund der teils extrem reduzierten Morphologie ihrer mykoheterotrophen Vertreter. Die Familie der Burmanniaceae wurden 1830 von Blume mit den drei Gattungen Burmannia, Gymnosiphon und Gonyanthes (letztere wurde später als Synonym zu den Burmannia gestellt) aufgestellt, nachdem Linné die beiden von ihm bekannten Burmannia-Arten Burmannia disticha und Burmannia biflora bei ihrer Erstveröffentlichung 1753 der Ordnung Monogynia (Klasse Hexandria) zurechnete (Familien als Taxa wurden in Linnés System ursprünglich nicht verwendet). Der Gattungsname Burmannia ehrt den niederländischen Botaniker und Arzt Johannes Burman, einen Freund Linnés. Holotyp ist ein Exemplar von Burmannia disticha aus Ceylon, heute verwahrt im Schwedischen Museum für Naturgeschichte. Einer ersten Revision wurde die Familie 1847 bis 1851 durch Miers unterzogen. Er führte zugleich eine weitere Untergliederung der Familie in zwei Unterfamilien ein, die Thismiae und die Burmanniae, die mit teils variierenden Rangstufen noch bis zur Jahrtausendwende vertreten wurde (siehe zum Beispiel Maas-van de Kamer 1998). Hooker und Bentham stuften die Familie 1883 anhand morphologischer Merkmale wie Mykotrophie, unterständigem Fruchtknoten, sehr kleinen Samen und einem – wie bei den Orchideen – als fehlend angenommenen Endosperm gemeinsam mit den Orchideen in der Ordnung Microspermae ein und gliederten sie in drei Tribus, da sie auch noch die Corsiaceae in die Familie eingliederten. Diese Zusammenfassung war bis zum Erscheinen von Jonkers Monografie 1938 maßgeblich, auch Engler übernahm sie, zählte aber darüber hinaus auch noch die monotypische Gattung Geosiris zur Familie. Die scheinbare Verwandtschaft mit den Orchideen findet sich noch bei Cronquist wieder, der die Burmanniaceae in die Ordnung Orchidales eingliederte. Armen Tachtadschjan hingegen platzierte die Burmanniaceae, ebenso wie Robert Folger Thorne, mit den Corsiaceae in einer eigenen Ordnung Burmanniales. Bedeutende Beiträge zur Kenntnisse der Familie nach Jonker leisteten insbesondere das Ehepaar Hiltje Maas-van de Kamer und Paul J. M. Maas von der Universität Utrecht, Traudel Rübsamen und in neuester Zeit Dianxiang Zhang, Vincent Merckx und Peter Schols. Phylogenetik Anhand molekulargenetischer Untersuchungen wurden all die zuvor geschilderten Ansätze zunehmend in Frage gestellt. Weder Thismiae noch Corsiae konnten als Teil der Burmanniaceae bestätigt werden, zu den Corsia als Teil der Liliales besteht wohl nicht einmal mittelbar eine Verwandtschaft. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts werden alle Tribus daher als separate, einander auch nicht unmittelbar nahestehende Familien begriffen. Die Angiosperm Phylogeny Website führt die Burmanniaceae als Teil der Dioscoreales, mit den Dioscoreaceae als Schwestergruppe. Auch die innere Systematik der bisherigen Burmanniae, die als einziges Mitglied der Familie verbleiben, ist den Untersuchungen zufolge revisionsbedürftig. So sind die Burmannia paraphyletisch. Auch gilt der Status der Gattung Cymbocarpa als zweifelhaft, sie ist eventuell in die Gattung Gymnosiphon einzugliedern. Die derzeit umfangreichste und neueste Untersuchung der Familie von Merckx gibt die Verhältnisse in der Familie wie folgt wieder (stark vereinfacht, fettgedruckte Namen repräsentieren mehrere Taxa): Im Rahmen der Untersuchungen zeigte sich auch, dass der Verlust des Chlorophylls sich mehrfach unabhängig voneinander eingestellt hat. Dies wird interpretiert als Hinweis darauf, dass generell eine grundsätzliche genetische Disposition innerhalb der Familie vorhanden ist, die eine Umstellung auf eine mykotrophe Lebensweise erlaubt. Verwendung Für den Menschen sind die Arten der Burmanniaceae weitgehend bedeutungslos. Die nach vereinzelten Proben als adstringierend und bitter schmeckend geschilderten Arten Apteria aphylla und Burmannia biflora wurden als Teepflanzen verwandt, für Burmannia coelestis wurde von den Santal in Westbengalen ein Gebrauch als Heilkraut berichtet. Literatur Die Informationen dieses Artikels entstammen zum größten Teil den folgenden Quellen, für weitere Angaben siehe unter Einzelnachweise: Hiltje Maas-van de Kamer: Burmanniaceae. In: Klaus Kubitzki (Hrsg.): The Families and Genera of Vascular Plants. Volume 3, Berlin 1998, ISBN 3-540-64060-6. Traudel Rübsamen: Morphologische, embryologische und systematische Untersuchungen an Burmanniaceae und Corsiaceae (Mit Ausblick auf die Orchidaceae-Apostasioideae). 1986, ISBN 3-443-64004-4. Dianxiang Zhang: Systematics of Burmannia L. (Burmanniaceae) in the Old World. In: Hong Kong University Theses Online, Thesis (Ph. D.). University of Hong Kong, 1999. Fredrik Pieter Jonker: A monograph of the Burmanniaceae. In: Meded. Bot. Mus. Herb. Rijks Univ. Utrecht, Band 51, 1938, S. 1–279. P. J. M. Maas, H. Maas-van de Kamer, J. van Bentham, H. C. M. Snelders, T. Rübsamen: Burmanniaceae. In: Flora Neotropica, Monogr. 42, 1986, S. 1–189. Einzelnachweise Weblinks Forschungs-Website über die Burmanniaceae. Mykoheterotrophe Pflanze
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Gustav Hirschfeld
Paul Oscar Gustav Hirschfeld (* 4. November 1847 in Pyritz; † 20. April 1895 in Wiesbaden) war ein deutscher Klassischer Archäologe. Während seines Studiums schloss er sich eng an Ernst Curtius an, unternahm danach ausgedehnte Bildungsreisen und schließlich eine Expedition in das bis dahin noch weitgehend unerforschte Innere Kleinasiens. Als erster Leiter der deutschen Ausgrabungen in Olympia (1875–1878) und als Professor für Archäologie in Königsberg (1878–1895) setzte er seine Karriere fort, verstarb aber schon früh im Alter von 47 Jahren. Hirschfeld zählt als Forscher und akademischer Lehrer zu den bedeutendsten Archäologen des späten 19. Jahrhunderts. Seine Schriften brachten neue Erkenntnisse in der Vasenmalerei, der Topografie insbesondere Griechenlands und Kleinasiens und der historischen Geografie. Leben Gustav Hirschfeld, der Sohn des jüdischen Kaufmanns Hirsch Hirschfeld (später getauft als Hermann Hirschfeld, † 1880) und seiner Frau Henriette geborene Stargardt (1821–1883), besuchte nach einigen Jahren Privatunterricht ab 1859 das Gymnasium in Pyritz. Nach der Reifeprüfung bezog er im Herbst 1865 die Berliner Universität, um Klassische Archäologie und Philologie zu studieren. Nach zwei Semestern wechselte er nach Tübingen. Seine Neigung zur Archäologie entwickelte sich stetig während des Studiums: In Berlin und Tübingen besuchte er neben philologischen Veranstaltungen die Vorlesungen der Archäologen Karl Friederichs und Adolf Michaelis. 1867 wechselte er für ein Jahr nach Leipzig. Hier besuchte er zwar auch die Lehrveranstaltungen des Sprachwissenschaftlers Georg Curtius und des Textkritikers Friedrich Ritschl, aber besonders gefesselt war er von den Vorlesungen des Archäologen Johannes Overbeck. Nach einem Jahr kehrte Hirschfeld nach Berlin zurück, wo er sich eng an Ernst Curtius anschloss, der seine wissenschaftliche Laufbahn später maßgeblich beeinflusste. In einem Nachruf auf seinen Schüler schrieb der 80-jährige Curtius: „Von Anfang an zog er eine Aufmerksamkeit in besonderem Grade auf sich; denn ich erinnere mich keines Zuhörers, mit dem während seiner Studienzeit eine persönliche Umwandlung wie bei ihm vor sich gegangen ist.“ Hirschfeld nutzte nach Curtius’ Urteil anfangs seine rasche Auffassungsgabe und Gewandtheit im Ausdruck dazu, Forschungsergebnisse rasch und ohne gründliche Durchsicht zu präsentieren. Aber während seines letzten Berliner Studienjahres ging eine grundlegende Veränderung mit ihm vor. Seine Dissertation De titulis statuariorum sculptorumque Graecorum capita duo priora („Zwei erste Kapitel über die Inschriften der griechischen Bildhauer und Steinmetze“), mit der er 1870 promoviert wurde, wurde vom Lehrer postum gewürdigt als „ein gelehrtes Buch, in welchem die Inschriften … in lehrreicher Uebersicht zusammengestellt wurden. Er zeigt, wie wohl er es verstehe, aus dem Einzelnen und Kleinen in das Große und Ganze überzugehen …“ Wanderjahre Nach dem Studium unternahm Hirschfeld, von 1871 bis 1872 als Reisestipendiat des Deutschen Archäologischen Instituts eine Studienreise in den Mittelmeerraum, die ihn von Bologna über Ravenna nach Athen, in die Attika und auf die Peloponnes, von dort über die ägäischen Inseln bis nach Konstantinopel führte. Dort traf er im August 1871 mit Ernst Curtius zusammen, der zu dieser Zeit mit Karl Bernhard Stark, Friedrich Adler und Heinrich Gelzer im Rahmen einer preußischen Gesandtschaft die kleinasiatische Küste untersuchte. Die Gesandtschaft wurde im Auftrag Helmuth von Moltkes vom Major Benno Regely begleitet, der wenige Jahre später Chef der geographischen statistischen Abtheilung des preußischen Generalstabs wurde. In den Wochen, die Hirschfeld bei der Gesandtschaft verbrachte, erwachte sein Interesse an der Topografie Kleinasiens, die fortan ein Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit war. Das folgende Jahr verbrachte er wieder in Italien (Rom, Unteritalien und Sizilien) und Griechenland (Nordgriechenland, Peloponnes), wo er sich mit archäologischen Studien beschäftigte. Hirschfeld eignete sich das Neugriechische und Türkische rasch an und pflegte herzliche Kontakte mit den Landsleuten. Er fühlte sich in Griechenland so heimisch, dass er sogar die Einrichtung eines Instituts und einer Zeitschrift für die griechischen archäologischen Studien plante; dazu kam es jedoch nicht. Im Sommer 1873 kehrte Hirschfeld nach Deutschland zurück. Schon während der Reise hatte er zahlreiche Aufsätze und kleine Schriften über seine Forschungen veröffentlicht, darunter einen Brief an Alexander Conze über die Vasen vom Kerameikos. 1873 erschien seine Monografie Topographischer Versuch über die Peiraieusstadt. Im selben Jahr reiste er noch für einige Wochen nach London, um die dortigen Sammlungen zu studieren. Erste Kleinasien-Expedition Seit den Wanderungen durch Kleinasien mit der preußischen Gesandtschaft war es Hirschfelds Traum, die antiken Städte in dieser Region zu erforschen. Ernst Curtius nutzte darum seinen Einfluss, um ihn gemeinsam mit dem Baumeister Hermann Eggert im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Forschungszwecken ins südwestliche Kleinasien zu senden. Die Reise führte von Antalya über Termessos nach Pamphylien und von dort über Side durch das Melastal in die kaum erforschte anatolische Hochebene. Hier zogen Hirschfeld und Eggert über das westliche Ufer des Beyşehir-Sees und den Berg Anamar ans südliche Ufer des Eğirdir-Sees, von dort aus über Kremna nach Isparta, wo sie sich trennten. Eggert zog durch das Tal des Mäander nach Aydın, Hirschfeld durch Pisidien zur Stätte Apameia Kibotos, die er sorgfältig aufnahm, und weiter südöstlich zum Grenzgebirge zwischen Lykien und Karien. Er überschritt das Gebirge auf einem bis dahin unbekannten Pass und besuchte die verschollenen Stätten Aphrodisias, Stratonikeia, Lagina und Alabanda, ehe er in Aydın wieder zu Eggert stieß. Nach dieser Expedition unternahmen beide noch kurze Ausflüge an die Westküste Kleinasiens und zur Insel Teos, von denen sie wertvolle Untersuchungsergebnisse mitbrachten. Grabungsleiter in Olympia Hirschfelds und Eggerts Expedition war für die Wissenschaft von großer Bedeutung. Sie waren die ersten Wissenschaftler, die diese Landstriche besuchten; besonders Hirschfelds Aufzeichnungen bildeten die Grundlage für die folgenden Forschungsunternehmen in Kleinasien. Darum ernannte das Deutsche Reich ihn zum Leiter der Ausgrabungen in Olympia, die unter der Federführung Curtius’ mit der griechischen Regierung verhandelt worden waren, nachdem zuvor Engländer und Franzosen die Stätte bereits punktuell archäologisch untersucht hatten. Hirschfeld tat selbst am 4. Oktober 1875 den ersten Spatenstich der bis heute erfolgreich fortgesetzten deutschen Untersuchungen Olympias. Seine Gattin Margarethe geb. Bredschneider, die er am 15. Juli 1876 in Berlin geheiratet hatte, begleitete ihn auf die zweite Grabungskampagne im Winter 1876/1877. Während der zwei Kampagnen wurden unter Hirschfelds Leitung die wichtigsten topografischen Fixpunkte in der Altis, dem Tempelbezirk in Olympia, festgelegt, der bereits von den Franzosen zum Teil ausgegrabene Zeustempel wurde ganz, der neu entdeckte Heratempel teilweise freigelegt. Die von Hirschfeld geleiteten Grabungen förderten zahlreiche bedeutende Kunstwerke zutage, darunter die Giebelfiguren des Zeustempels, die Nike des Paionios und den Hermes des Praxiteles. Nach dem Abschluss der zweiten Kampagne trat Hirschfeld gemeinsam mit einigen Kollegen von seiner Stelle zurück, da über die Art der Fortführung der Arbeiten in der Berliner Zentraldirektion Differenzen aufgekommen waren. Diesen Abschnitt seiner Biografie übergeht sein Mentor Curtius in seinem Nachruf mit den Worten: „Er durfte nicht zu lange auf der einsamen Warte weilen. Nachdem sein Blick sich lange auf engen Raum beschränkt hatte, war es ihm für die Vollendung seiner wissenschaftlichen Ausbildung ein Bedürfniß, die europäischen Sammlungen zu studiren.“ Zum Nachfolger Hirschfelds in Olympia wurde der Archäologe Georg Treu herangezogen. Hirschfeld hielt sich kurz in Berlin auf und ging dann für längere Zeit nach London (Herbst 1877 und Januar bis März 1878), wo er mit dem Archäologen Charles Thomas Newton zusammenarbeitete. Auch in Paris blieb er einige Monate, ehe er nach Deutschland zurückkehrte. Professor in Königsberg Nach seinen Forschungsreisen ging Hirschfeld an die Universität Leipzig, um sich zu habilitieren. In dieser Zeit (1877) ließ er sich auch taufen, nach Ansicht von Rühl nicht um seine Karriere voranzutreiben, sondern aus langjähriger innerer Überzeugung. Eine akademische Karriere war im Deutschland dieser Zeit allerdings erst nach dem Übertritt vom Judentum zum Christentum möglich, damit war dieser Schritt für die weitere Karriere von essenzieller Bedeutung. Aber schon Ostern 1878, noch vor Abschluss des Habilitationsverfahrens, wurde er als außerordentlicher Professor für Archäologie an die Universität Königsberg berufen; sein dortiger Vorgänger Hugo Blümner war nach Zürich gewechselt. In Königsberg entfaltete Hirschfeld eine umfassende Lehrtätigkeit; deshalb wurde seine außerordentliche Professur nach zwei Jahren in eine ordentliche Professur umgewandelt. Seine Vorlesungen über Kunstarchäologie, Numismatik, griechische Epigraphik und besonders über Geografie und Topografie von Griechenland und Kleinasien zogen viele Studenten an. In Königsberg wurde auch Gustav Hirschfelds einziges Kind geboren, Werner Hirschfeld (* 28. Februar 1882), der später Kunstgeschichte studierte und 1911 in Halle an der Saale promoviert wurde. Er fiel 1914 im Ersten Weltkrieg. Hirschfeld beteiligte sich rege am wissenschaftlichen Betrieb Königsbergs. 1882 war er ein Gründungsmitglied der Königsberger Geographischen Gesellschaft, die von Karl Zöppritz ins Leben gerufen wurde. Nach dem Tode des Gründers und Vorsitzenden, auf den Hirschfeld eine Gedächtnisrede hielt, wurde er zu seinem Nachfolger gewählt. Die enge räumliche Situation an der Königsberger Universität und die Mangelhaftigkeit der dortigen Sammlungen und Bibliotheken beeinträchtigten seine Tätigkeit. Darum unternahm er häufig Forschungsreisen: 1880 nach Italien und Griechenland, wo er auch seine alte Grabungsstätte Olympia besuchte, von Juli bis Oktober 1882 mit Unterstützung der Berliner Akademie der Wissenschaften und der preußischen Regierung nach Kleinasien: Diesmal bereiste er die Nordküste, die Landschaften Paphlagonien, Phrygien und Galatien, die damals noch weitgehend unerforscht waren. Er schloss seine Reise nach mehr als 1500 Kilometern in Samsun ab und kehrte nach einem Abstecher nach Trapezunt nach Konstantinopel zurück. Auch auf dieser Expedition machte Hirschfeld wertvolle Funde: Er entdeckte zahlreiche Felsengräber und Skulpturen aus der Frühzeit Kleinasiens, die ihm Forschungsmaterial für viele Jahre boten. Es war seine letzte große Entdeckungsreise. In den folgenden Jahren reiste er zu Forschungszwecken nach St. Petersburg, Paris, mehrmals nach London, im Sommer 1888 durch Spanien, 1889 noch einmal nach Griechenland und Konstantinopel. In den folgenden Jahren war Hirschfelds Arbeit von einem Sarkom am Becken beeinträchtigt, das 1891 festgestellt und 1893 für unheilbar befunden wurde. Er trat dennoch nicht von seiner Professur zurück und führte auch seine Publikationstätigkeit unermüdlich weiter. Eine Reise nach New York, wo ein neues Heilverfahren erprobt wurde, brachte keine Besserung seines Zustands. Die folgenden Monate verbrachte Hirschfeld auf Erholungsreisen in der Schweiz und schließlich in Wiesbaden, wo er am 20. April 1895 im Alter von nur 47 Jahren starb. Leistungen Gustav Hirschfeld hat auf vielen Gebieten der Archäologie wichtige Leistungen vollbracht. Seine Forschungs- und Publikationstätigkeit über die Topografie Kleinasiens und Griechenlands gilt als Meilenstein der Forschung. In Olympia förderten seine Grabungen einmalige Kunstschätze ans Tageslicht. Durch seinen frühen Tod war es ihm nicht möglich, seine Forschungen in einer großen, zusammenhängenden Publikation zu präsentieren, aber seine Arbeit brach die Bahn für viele topografische und archäologische Arbeiten. Sein Mentor Ernst Curtius urteilte über Hirschfelds Lebenswerk: „Unvollendet bleibt die Lebensarbeit aller Sterblichen, die seinige war es in besonderem Grade. Aber sie war in sich eins und bleibt unvergessen. Energischer und lebendiger als einer seiner Zeitgenossen, hat er als Forscher die Aufgabe unserer Zeit erfaßt, die Alterthumswissenschaft von dem zufälligen Maße literarischer Ueberlieferung unabhängig zu machen und im Boden des Landes mit seinen Denkmälern das gesammte Leben der Menschen zu erforschen.“ Hirschfeld beschäftigte sich in seinen Publikationen und Lehrveranstaltungen mit allen Bereichen der Archäologie und ihrer Nachbarfächer. In der Forschung zur griechischen Vasenmalerei verewigte er sich bereits 1872, als er in einem Brief an Alexander Conze einen im Kerameikos gefundenen spätgeometrischen Krater publizierte (heute im Archäologischen Nationalmuseum Athen, Nr. 990). Der Maler dieser Vase ist seither unter dem Notnamen Hirschfeld-Maler, die Vase als Hirschfeld-Krater bekannt. Hirschfelds topografische Forschungen und Publikationen, die in der Tradition Carl Ritters standen, verhalfen der historischen Geografie zu neuem Ansehen gegenüber der naturwissenschaftlichen, insbesondere der physischen Geografie. In einer Zeit, da das Interesse an Entdeckungsreisen auf das innere Afrika, Zentralasien und Australien gerichtet war, suchte Hirschfeld die weitgehend unerforschten Stätten der griechischen Antike neu zu entdecken. „An den geschichtsreichen Ländern der alten Kultur war das Interesse der modernen Geographen gering, ist es zum Theil noch heute. Gewiß erscheint gegenüber den uns Modernen erschlossenen Welträumen die Welt der Alten … beschränkt im Umfang, ungleich ärmer an großen Gegensätzen … Aber ersetzt sie nicht das, was ihr an Raum abgeht, … durch ihre Entwicklung in der Zeit?“ Hirschfeld sah die Aufgabe der wissenschaftlichen Geografie darin, den Menschen und seine Geschichte verstehen zu lernen. Auch mit systematischen Untersuchungen beschäftigte sich Hirschfeld. In der Festschrift für Ernst Curtius zum 70. Geburtstag erschien 1884 seine Schrift Typologie der griechischen Ansiedlungen, deren Ausführungen er 1890 in dem Aufsatz Die Entwicklung des Stadtbildes weiterentwickelte. Als Bewunderer des Feldherrn und Reisenden Helmuth von Moltke gab Hirschfeld dessen Briefe aus der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839 heraus (Gesammelte Schriften, Band 8, Berlin 1893). Für ihn war „das Wunderbare in diesen Schilderungen, daß sie zwei Seiten vereinigen, die sonst unvereinbar erscheinen, die treuste Spiegelung der Außenwelt und zugleich den wärmsten innern Antheil.“ Schriften (Auswahl) Tituli statuariorum sculptorumque Graecorum cum prolegomenis, Berlin 1871 Athena und Marsyas, Programm zum Winckelmannsfeste der Archäologischen Gesellschaft zu Berlin 32, Berlin 1872 Über Kelainai-Apameia Kibotos, Berlin 1875 Bericht über die Ergebnisse einer Bereisung Paphlagoniens, Berlin 1882 Paphlagonische Felsengräber. Ein Beitrag zur Kunstgeschichte Kleinasiens, Berlin 1885 Die Felsenreliefs in Kleinasien und das Volk der Hittiter. Zweiter Beitrag zur Kunstgeschichte Kleinasiens, Berlin 1887 Über die griechischen Grabschriften, welche Geldstrafen anordnen, in: Königsberger Studien 1, 1887, S. 83–144 Inschriften aus dem Norden Kleinasiens, besonders aus Bithynien und Paphlagonien, Berlin 1888 The collection of ancient Greek inscriptions in the British Museum, 4, 1: Knidos, Halikarnassos and Branchida, Oxford 1893 Aus dem Orient, Berlin 1897 Literatur Nachrufe Ernst Curtius: Gustav Hirschfeld, in: Deutsche Rundschau, Band 34 (1895), S. 377–384 Max Lehnerdt: Gustav Hirschfeld, in: Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde, 21. Jahrgang (1899), S. 65–90 (mit Schriftenverzeichnis). Hans Prutz: Gustav Hirschfeld: Gedächtnißrede, gehalten in der Königsberger Geographischen Gesellschaft am 24. Mai 1895, in: Altpreußische Monatsschrift, Band 32 (1895), S. 311–332 (mit Schriftenverzeichnis von Max Lehnerdt, S. 327–332). Lexikonartikel Klaus Bürger: Gustav Hirschfeld, in: Altpreußische Biographie, Band 4, Lieferung 3 (1994), S. 1378–1379. Salomon Frankfurter, Isidore Singer: Hirschfeld, Gustav. In: Jewish Encyclopedia, Band 5, S. 419–420. Reinhard Lullies: Gustav Hirschfeld, in: Reinhard Lullies, Wolfgang Schiering: Archäologenbildnisse: Porträts und Kurzbiographien von Klassischen Archäologen deutscher Sprache, Mainz 1988, S. 88–89 (fälschlicherweise mit einem Porträt von Otto Hirschfeld). Nancy Thomson de Grummond (Hrsg.): Encyclopedia of the History of Classical Archaeology, Westport, CT 1996, Bd. 1, S. 592–593. Spezialuntersuchungen Matthias Recke: In loco Murtana, ubi olim Perge sita fuit: Der Beginn archäologischer Forschungen in Pamphylien und die Kleinasien-Expedition Gustav Hirschfelds 1874, Antalya 2007. Weblinks Klaus Bürger: Eintrag im Dictionary of Art Historians Einzelnachweise Klassischer Archäologe Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts Hochschullehrer (Albertus-Universität Königsberg) Forscher (Antike Vasenmalerei) Deutscher Geboren 1847 Gestorben 1895 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Swimming
Swimming
Swimming (oder Swimming Hole) ist ein Ölgemälde von Thomas Eakins aus dem Jahr 1885. Abgebildet sind Eakins, einige seiner Studenten und sein schwimmender Hund. Von Teilen der US-amerikanischen Homosexuellenbewegung wird das Gemälde als Beleg für Eakins’ angenommene Homosexualität gewertet. Das Amon Carter Museum in Fort Worth erwarb es im Jahre 1990 für 10 Millionen US-Dollar. Swimming gilt als eines der großen Meisterwerke amerikanischer Kunst. Lloyd Goodrich, der erste und wichtigste Eakins-Biograph, schrieb über das Bild, es sei Eakins’ beste Behandlung der Nacktheit und seine am feinsten konstruierte Freiluftszene. Beschreibung Das 92,4 × 69,5 Zentimeter große Ölgemälde zeigt sechs Männer an und in einem Gewässer, die nackt baden und sich sonnen. Das einzige sichtbare Artefakt ist die Steinplattform, die offenkundig menschengemacht ist, aber dennoch keinem erkennbaren Zweck dient. Nicht vorhanden sind hingegen zum Beispiel ein Badehaus oder abgelegte Kleidung. Der Schwimmer rechts im Vordergrund ist Thomas Eakins. Sein Hund Harry, ein Setter, schwimmt in der Nähe der Plattform. Die anderen abgebildeten Personen sind namentlich bekannte Studenten und Bekannte von Eakins. Verschiedene Autoren haben in der letzten Zeit darauf hingewiesen, dass Eakins die Gruppe so arrangiert hat, dass ihre Mitglieder durch ihre Position mit einem „immateriellen Feigenblatt“ ausgestattet sind. Von links nach rechts zeigen die Figuren eine Veränderung von ruhend zu sitzend zu stehend zu in das Wasser springend. Für die Figur des Springenden gibt es kein Vorbild in der Kunstgeschichte. Die meisten der Dargestellten richten ihre Aufmerksamkeit auf den Hund. Marc Simpson, einer der Autoren des Buchs Thomas Eakins and the Swimming Picture, merkt an, dass Eakins sich in dem Bild über Naturgesetze hinwegsetzt und das Licht mal direkt und mal diffus einfallen lässt. Als Student in Paris hatte Eakins geschrieben: „In a big picture you can see what o’clock it is afternoon or morning if it is hot or cold winter or summer & what kind of people are there & what they are doing & why they are doing it.“ („Auf einem großen Bild kann man erkennen, wie spät es ist, Nachmittag oder Morgen, ob es heiß oder kalt ist, Winter oder Sommer, und was für Leute darauf zu sehen sind und was sie tun und warum sie es tun.“) Swimming zeigt, dass sich Eakins’ Ansichten hierzu 1885 geändert hatten. Dennoch schreibt The Arts 1921: Entstehung Thomas Eakins war 1884 als Professor der Pennsylvania Academy of the Fine Arts ein anerkannter Lehrer im amerikanischen Kunstbetrieb. Nicht so gefestigt war sein Ruf als Künstler. Edward Hornor Coates, der neue Chairman der Akademie, schlug zu diesem Zeitpunkt vor, dass Eakins in Coates’ Auftrag ein Gemälde anfertigen sollte. Coates erteilte ihm 1885 für ein Honorar von 800 US-Dollar den Auftrag, der bis dahin höchste Preis für ein Gemälde von Eakins. Der Auftrag sollte Coates’ Vertrauen in Eakins demonstrieren. Ob und welchen Einfluss Coates auf die Auswahl des Motivs genommen hat, ist unbekannt. Eakins eigene Ausbildung wie auch seine Ausrichtung als Lehrer legten größten Wert auf den menschlichen Körper und so kam für das Coates-Bild nur ein Porträt in Frage. Insbesondere konnte Eakins sein Können mit einem Akt demonstrieren. Er stand dabei vor dem Problem, ein Thema für sein Bild zu finden, bei dem das Publikum die Nacktheit der Dargestellten akzeptieren würde. In den Jahren vor 1885 hatte Eakins eine Reihe von Fotostudien angefertigt, die schließlich zu den Arcadia-Bildern und Reliefs führen sollten. Diese Studien beeinflussten auch Swimming, das Anklänge an das Motiv des goldenen Zeitalters aufweist. Nachdem Eakins sich ein mentales Bild des auszuführenden Werkes gemacht hatte, folgte eine Ölskizze, die noch vor dem 31. Juli 1884 nahe Bryn Mawr an der Stelle entstand, die heute als Dove Lake am Mill Creek bestimmt ist. Kurz darauf ging Eakins mit seinen Modellen, einigen seiner Studenten, an den Schwimmplatz und fertigte eine weitere Ölstudie an. Falls überhaupt Bleistiftzeichnungen existiert haben, so sind sie nicht erhalten. Bereits in dieser Ölskizze sind alle wichtigen Elemente des fertigen Gemäldes enthalten, dennoch sind die Unterschiede zum fertigen Werk für Eakins ungewöhnlich groß. Daraufhin entstanden vielleicht am selben Tag weitere Ölskizzen, die sich jeweils mit einzelnen Elementen des Bildes befassten. Auch erhaltene Fotostudien können bei dieser Gelegenheit entstanden sein. Während in Eakins’ früheren Werken die Landschaft perspektivisch exakt konstruiert war und genau der Realität folgte, ist dies bei Swimming nicht mehr der Fall. Bei der Restaurierung des Gemäldes 1993 wurden wenige Hilfslinien gefunden, anhand derer Eakins die Personen positioniert hat. Für die Figur des Springenden hatte er jedoch ein Modell angefertigt und studiert, das 1938 verloren gegangen ist. Besonderen Wert legte Eakins auch auf die Reflexionen im Wasser. Er selbst sagte zu diesem Thema: „There is so much beauty in the reflections, that it is generally worthwhile to try to get them right.“ Fertiggestellt war das Gemälde im Oktober 1885, als es in der Ausstellung der Pennsylvania Academy of the Fine Arts gezeigt wurde. Einordnung in das Gesamtwerk Eakins ist bekannt für seine Kenntnis der Anatomie und sein Können in der Darstellung des nackten Körpers. Dem steht eine äußerst geringe Anzahl von Akten in Eakins’ Werken gegenüber. Vor Swimming entstanden die Sportler-Bilder, die zwar leicht, aber doch bekleidete Modelle zeigen, die Arkadia-Werke wie beispielsweise Arcadia, das Porträt von William Rush mit einem Aktmodell, eine Kreuzigungsszene und Die Klinik Gross. Lange nach Swimming entstanden weitere Darstellungen von William Rush mit seinem Modell und ein weiteres Klinik-Bild. In der Zeit vor der Entstehung von Swimming beschäftigte sich Eakins teilweise zusammen mit Eadweard Muybridge, teilweise in Konkurrenz zu diesem, mit der Darstellung von Bewegung in Fotoserien. Ein Ergebnis dieser Arbeiten war das Gemälde A May Morning in the Park (auch The Fairman Rogers Four-in-Hand), das im Auftrag von Coates’ Vorgänger Rogers entstand und Kutschpferde in Bewegung zeigt. Mit der Figur des Springenden findet sich auch in Swimming die Darstellung von Bewegung, allerdings zum letzten Mal in Eakins’ Werk. Wie praktisch alle Werke von Eakins ist auch Swimming ein Porträt. Die einzelnen dargestellten Personen können namentlich benannt werden. Rezeption Das Bild wurde erstmals im Oktober 1885 in der jährlichen Ausstellung der Pennsylvania Academy of the Fine Arts gezeigt. Die Kritiken zu Swimming waren eher ablehnend. Noch während der Ausstellung gab Coates das Gemälde an Eakins zurück und erhielt im Austausch The Pathetic Song. Im Jahr 1917 hingegen war das Gemälde Mittelpunkt der Retrospektive zu Eakins’ Tod. 1921 erschien in The Arts der oben zitierte Kommentar. Seither sind zahlreiche positive Rezensionen des Gemäldes erschienen, das heute als eines der Meisterwerke der amerikanischen Malerei gilt. Im Jahr 1974 brachte erstmals Gordon Hendricks die Frage nach der Sexualität in diesem Gemälde und den zugehörigen Fotografien auf. Er schreibt: „Some have considered such photographs as evidence that Eakins, if not homosexual or bisexual, was at least homoerotic.“ („Manche haben solche Fotografien als Beweise betrachtet, dass Eakins, wenn nicht homosexuell oder bisexuell, doch zumindest homoerotisch war.“) Allerdings verwirft er den Gedanken sogleich wieder: „But the artist would undoubtedly have done the same thing with his women students if such a thing had been possible.“ („Aber der Künstler hätte zweifellos dasselbe mit seinen weiblichen Studenten getan, wenn so etwas möglich gewesen wäre.“) Seitdem halten die Spekulationen über Eakins’ Homosexualität an. Identität der Porträtierten Der Schwimmer rechts unten im Bild ist Thomas Eakins selbst. Der ebenfalls schwimmende Hund ist sein Setter Harry. Der Liegende auf der linken Seite des Bildes ist Talcott Williams (* 1849 in Abeih im heutigen Libanon; † 1928). Er kam im Alter von 16 Jahren in die USA, wo er 1873 am Amherst College graduierte. Im Folgenden arbeitete er für Zeitungen in New York und San Francisco. Ab 1881 schrieb er für über 30 Jahre in Philadelphia für die Press und wurde ihr managing editor und associate editor. Er zeichnete sich als Philadelphias führender Kritiker aus und begleitete zahlreiche Künstler bei ihren ersten Schritten. Seine Interessen betrafen auch das neue Museum der Universität von Pennsylvania und ihre Archäologie-Abteilung. Williams sammelte Geld für beide und nahm an einer Expedition teil. Im Jahr 1912 wurde er der erste Direktor der Journalismus-Schule an der Columbia-Universität, die von Joseph Pulitzer eingerichtet wurde. Neben Frank Moore Colby war er ein Herausgeber der New International Encyclopedia und 1913 Präsident der American Conference of Teachers of Journalism. Zu seinen Freunden zählten der Shakespeare-Experte Horace Howard Furness, der Autor S. Weir Mitchell, ein Freund von Eakins, der Chirurg D. Hayes Agnew, den Eakins in die Klinik Agnew porträtierte, und William Pepper, ein Unterstützer von Muybridges Serienfotografien. Wie Coates und Walt Whitman war Williams Mitglied des Contemporary Club. Der im Wasser Stehende ist Benjamin Fox (* um 1865; † um 1900). Über ihn ist wenig bekannt. Er taucht nur dieses eine Mal in einem Gemälde oder einer Fotografie von Eakins auf. Er studierte von 1883 bis 1884 und 1888 an der Pennsylvania Academy of the Fine Arts und stellte dort 1888 ein Gemälde namens Sympathy aus, für das er den prestigeträchtigen Charles Toppan Prize erhielt. Im Jahr 1889 unterhielt er ein Atelier in Philadelphia, aber sein Erfolg war kurzlebig. Heute sind keine seiner Werke erhalten. Fox wurde 1892 für einige Zeit im Krankenhaus von Philadelphia wegen akuter Manie behandelt. Nach 1897 verliert sich seine Spur. Der Sitzende ist John Laurie Wallace (* 1864 in Garvagh in Irland; † 30. Juni 1953 in Omaha). Er studierte von 1879 bis 1882 an der Pennsylvania Academy of the Fine Arts. Wallace war eines von Eakins’ Fotomodellen und Fotograf. Auf Empfehlung von Eakins malte er Rinderbarone und ihre Familien in Texas und Neu-Mexiko. Ab 1885 unterrichtete er in Chicago Kunst und wurde mit Unterstützung von Eakins Präsident der Chicago Society of Artists. Im Jahr 1891 ging Wallace nach Omaha und wurde Direktor der neu eingerichteten Western Art Association und einer der Gründer der Omaha Art Guild. Er stellte in einer Reihe Einzelausstellungen aus und erwarb sich einen Ruf als Porträtmaler. Wallace fertigte auch ein nicht datiertes Gemälde mit dem Titel Swimming Hole an. Der Stehende ist Jesse Godley (* 1862 in Philadelphia; † 30. Januar 1889). Er war ein direkter Nachfahre von John Hart, einem der Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung. Er studierte von 1883 bis 1884 und 1886 an der Pennsylvania Academy of the Fine Arts. 1887 wurde er zunächst Assistent in einer Dekorationsfirma und später einer der Partner, die daraufhin als Stephens, Cooper, and Godley firmierte. Er heiratete eine der Studentinnen von Eakins und das Paar hatte einen Sohn. Godley starb an Typhus. Der Springende ist George Reynolds (* um 1839 in Irland; † 1889). Er trat 1861 der Armee bei und erlebte dort ein wechselhaftes Schicksal: 1863 wurde er vom Kriegsgericht verurteilt und degradiert, 1864 jedoch mit der Medal of Honor des Kongresses für die Eroberung der Flagge von Virginia in der Schlacht von Winchester ausgezeichnet. Nach seiner Armeezeit begann er sich in New York als Künstler zu profilieren, über seine Ausbildung ist jedoch nichts bekannt. 1881 und 1883 stellte er in der Pennsylvania Academy of the Fine Arts aus. 1882 starb seine Frau. Daraufhin studierte er bis 1886 an der Academy und wurde ein loyaler Freund von Eakins. Sowohl zu seinen Lebzeiten als auch posthum erschienen Werke von Reynolds in gedruckten Publikationen. Provenienz Vom 29. Oktober 1885 bis zum 10. Dezember 1885 wurde Swimming (unter diesem Titel) in der Pennsylvania Academy of the Fine Arts als Eigentum von Edward H. Coates gezeigt. Noch während der Ausstellung ging es wieder in das Eigentum von Eakins über. Im Jahr 1886 wurde das Gemälde als The Swimmers in Louisville in Kentucky ausgestellt und zu einem Preis von 800 Dollar angeboten. 1887 wurde es wieder als Swimming in Chicago ausgestellt. Anschließend verblieb das Bild für 30 Jahre im Haushalt von Eakins, ohne ausgestellt zu werden. Das Gemälde stand 1917, nach dem Tod von Eakins, im Mittelpunkt der Eakins-Retrospektive in New York und wurde The Swimming Hole benannt. Im selben Jahr folgte die Ausstellung in Philadelphia. Vier Jahre später wurde The Old Swimming Hole erneut in New York ausgestellt. Im Jahr 1923 war es nochmal in New York und in Minneapolis zu sehen. Die Friends of Art brachten 1925 in Fort Worth 700 Dollar auf und erwarben von Eakins’ Witwe Susan das Gemälde für die Fort Worth Art Association. Viele Jahre wurde das Gemälde in der öffentlichen Bibliothek von Fort Worth gezeigt. Schließlich fand das Museum ein eigenes Gebäude und entwickelte sich dann zum Modern Art Museum of Fort Worth. Auch nach dem Kauf 1925 wurde das Gemälde immer wieder für Ausstellungen ausgeliehen: So 1930 in New York und Philadelphia, 1935 erneut in New York, 1938 in Paris und in den Jahren seither in zahlreichen weiteren Städten, so auch 1953 in mehreren deutschen Städten. Im Jahr 1961 wurde das Amon Carter Museum eröffnet und 1988 vereinbarten beide Museen gegenseitige Leihgaben. So kam auch Eakins’ Werk in das Amon Carter Museum. Das Modern Art Museum beschloss 1990, das Gemälde bei Sotheby’s zu versteigern. Erwartet wurde ein Preis von 10 bis 15 Millionen US-Dollar. Nach Protesten der lokalen Bevölkerung wurde das Bild jedoch von der Versteigerung zurückgezogen und für 10 Millionen Dollar an das Amon Carter Museum verkauft. Der Kaufpreis wurde von verschiedenen Stiftungen sowie von 5000 Einzelpersonen erbracht. Auch der Verkauf von T-Shirts mit dem Swimming-Motiv trug dazu bei. Literatur Doreen Bolger und Sarah Cash: Thomas Eakins and the Swimming Picture. Amon Carter Museum, Fort Worth, 1996, ISBN 0-88360-085-4. Weblinks Doreen Bolger, Claire M. Barry: Thomas Eakins’s ‘Swimming Hole.’ – 1885 painting in the Amon Carter Museum, Fort Worth, Texas. In: Magazine Antiques, March 1994, Online auf findarticles.com Doreen Bolger, Claire M. Barry: Thomas Eakins’ “The Swimming Hole”. In: Resource Library Magazine, 13. Mai 2004, Online auf tfaoi.com Rita Reif: Fort Worth Strives to Keep Eakins’s ‘Swimming Hole’ in The New York Times vom 21. April 1990 Michael Kimmelman: An Eakins Classic Stays In Texas in The New York Times vom 16. Juni 1990 Suzanne Slesin: In Texas, A Portable Eakins in The New York Times vom 26. Juli 1990 Fußnoten Gemälde (19. Jahrhundert) Thomas Eakins Gruppenbildnis
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https://de.wikipedia.org/wiki/Nida%20%28r%C3%B6mische%20Stadt%29
Nida (römische Stadt)
Nida war in der Zeit des Römischen Reichs Hauptort der Civitas Taunensium. Die Römerstadt lag am Rand der Wetterau im Nordwesten von Frankfurt am Main, in der Gemarkung des Stadtteils Heddernheim. Erste Spuren einer zumindest temporären römischen Besiedlung stammen aus der Regierungszeit des Kaisers Vespasian in den Jahren 69 bis 79. Aufgegeben wurde Nida um 260. Die im Boden weitgehend unberührt erhalten gebliebenen Überreste von Nida auf dem „Heidenfeld“ wurden im 20. Jahrhundert beim Bau der Siedlung Römerstadt und der Frankfurter Nordweststadt fast vollständig zerstört. Der Name der Siedlung ist durch schriftliche Quellen seit römischer Zeit gesichert und leitet sich vermutlich vom noch älteren Namen des benachbarten Flusses Nidda her. Geschichte Frühe Militärlager und flavische Zeit Dem Gelände am Fluss Nidda hatte die römische Militärführung „besondere strategische Bedeutung bei der Besetzung der Wetterau zugemessen.“ Hierauf deutet unter anderem der archäologische Nachweis von mindestens zehn meist nur kurzzeitig genutzten Militärlagern aus der Zeit um das Jahr 75 hin. Das bedeutendste dieser Kastelle war das „Kastell A“, auch Alen- oder Steinkastell genannt. Die anderen Kastelle sind meist nur sehr ausschnitthaft bekannt und dürften mit Ausnahme des Steinkastells nur sehr kurze Zeit bestanden haben. Westlich dieses Kastells entstand eine zivile Siedlung, ein sogenannter Vicus. Im frühen Kastellvicus ließen sich zunächst der Truppe nahestehende Personen wie Verwandte, Handwerker, Händler und Gastwirte nieder. Nachdem der Vicus um 90 n. Chr. aus unbekannten Gründen abbrannte, wurde er in großem Stil neu strukturiert und neben die bisherige Ost-West-Hauptstraße trat eine weitere, schräg dazu verlaufende Ost-West-Hauptachse weiter nördlich. Blütezeit im 2. Jahrhundert n. Chr. Für das ursprüngliche Kastelldorf einschneidende Veränderungen fanden zur Regierungszeit des Kaisers Trajan um 110 n. Chr. statt. Die Truppen wurden an den Limes abgezogen, womit zunächst ein Bevölkerungsrückgang verbunden war. Gleichzeitig wurde Nida zum zivilen Verwaltungssitz der Region als Hauptort der Civitas Taunensium. Die Civitas Taunensium war ein Kreis/Bezirk der römischen Provinz Germania superior („Obergermanien“) und Nida ein Wirtschaftszentrum im Grenzland des obergermanischen Limes sowie Umschlagsplatz im Handel mit Gebieten außerhalb der römischen Provinz. Ökonomisch bildete Nida den Zentralort und Markt für zahlreiche kleine und mittlere Betriebe, unter anderem die zahlreichen Villae rusticae, die sich in dieser Zeit auf den fruchtbaren Böden der Wetterau etablierten. Die zivile Besiedlung ersetzte in Heddernheim bald die militärischen Strukturen. Ein großer Bereich im Zentrum der Siedlung wurde planiert und diente als Forum. Zwei große Thermen, das Praetorium, mehrere Tempel und ein Theater gehörten ebenfalls zum Stadtbild. Auch ein Triumphbogen hat wahrscheinlich existiert. Die neuen städtischen Eliten repräsentierten sich durch zahlreiche Steindenkmäler und Inschriften. Kunsthistorisch bedeutsam ist ein erhalten gebliebenes, farbiges Steinbild aus einem der so genannten Mithräen, Heiligtümern des Gottes Mithras; das Original befindet sich heute im Museum Wiesbaden, eine Kopie im Archäologischen Museum Frankfurt. In beiden Museen sind auch weitere Fundstücke aus Nida ausgestellt, in Frankfurt beispielsweise die Jupitersäulen und die Dendrophoreninschrift. Das weitgehend friedliche 2. Jahrhundert war die Blütezeit des römischen Nida, in diese Zeit datieren die meisten Gebäude und Steindenkmäler. Erste Schwierigkeiten betrafen das Grenzland mit den Markomannenkriegen um 170 n. Chr. Zerstörungshorizonte gibt es sowohl aus Nida als auch aus einigen Kastellen und Villen der Umgebung. Der Limes im Taunus wurde durch die Numeruskastelle Holzhausen, Kleiner Feldberg und Kapersburg verstärkt. Niedergang und Ende im 3. Jahrhundert Zu Beginn des 3. Jahrhunderts erhielt Nida eine eigene Stadtmauer; benötigte Basaltsteine wurden in den Steinbrüchen des heutigen Bockenheim abgebaut, an die die Benennung der Basaltstraße erinnert. Das umfangreiche Bauwerk mit einer Länge von 2.750 m diente einerseits sicherlich repräsentativen Zwecken, zeugt aber andererseits vielleicht auch von einem Behauptungswillen der Bevölkerung in einem unsicherer werdenden Grenzland. Aus anderen rechtsrheinischen Civitas-Hauptorten wie Ladenburg (Lopodunum), Bad Wimpfen, und Rottenburg am Neckar (Sumelocenna) sind ähnliche Baumaßnahmen bekannt. Das Limessystem allein, das nicht auf militärische Abwehr, sondern auf Kontrollen in Friedenszeiten ausgelegt war, konnte den Städten im Hinterland seit etwa 230 keine ausreichende Sicherheit mehr garantieren. Funde von militaria (militärische Ausrüstungsgegenstände) und Objekten, die Germanen zuzuordnen sind, werden teils als Beleg für Gegenmaßnahmen der Zivilbevölkerung gesehen. Zeugnis dieser für die Bewohner schwierigen Zeit geben ferner mehrere Steindenkmäler. Der Dativius-Victor-Bogen in Mainz wurde von einem Nidenser Ratsherren (decurio) vielleicht als Dank für die Aufnahme im sicheren Mainz gestiftet. Ein schwerer Einfall von Alamannen, die die Abwesenheit der römischen Truppen aufgrund eines Perserkrieges ausnutzten, ist durch Herodian für die Jahre 233/234 n. Chr. bezeugt. Ein Münzschatz, der unter der Schwelle eines Steinkellers verborgen war, weist als Schlussmünze das Jahr 227 n. Chr. auf und dürfte in diesen Zusammenhang gehören. Kaiser Maximinus Thrax (235 bis 238) konnte die Feinde aber besiegen und die Lage durch einen großen Rachefeldzug tief nach Germanien noch einmal stabilisieren. Eine Inschrift belegt die Wiederaufrichtung einer Jupitergigantensäule im Jahr 240. Im Jahr 250 ließ die civitas den Friedberger Leugenstein setzen, eines der spätesten römischen Steindenkmäler aus dem Hinterland des Limes vor dessen Aufgabe; dies zeigt, dass es zu diesem Zeitpunkt noch eine funktionierende Civitasverwaltung gegeben haben muss. Die römische Epoche dauerte bis um 260, als die Römer den Limes aufgaben, um die Reichsgrenze an Rhein und Donau zurückzunehmen, da die Flussgrenzen angesichts der veränderten Lage militärisch weitaus sinnvoller waren (Limesfall). Dass das römische Nida bis dahin bewohnt war, ist belegt durch die Münzreihe aus Heddernheim, die mit 14 Münzen des Kaisers Gallienus (253 bis 268) endet. Die jüngste Münze wurde im Jahr 258 geprägt und fand sich im sogenannten Dendrophorenkeller. Die vielen Steindenkmäler, die in Brunnen verborgen wurden, lassen an eine planmäßige, nicht fluchtartige Räumung denken. Auch aus den folgenden Jahrhunderten der Spätantike finden sich vereinzelte Spuren menschlicher Anwesenheit auf dem Areal Nidas, die von Planierungen des Areals, der Suche nach römischem Altmetall und möglicherweise auch von in den römischen Gebäuden lebenden Germanen stammen. Die Mauern der Ruinen aus römischer Zeit waren noch im 15. Jahrhundert weithin sichtbar, danach wurden sie in Heddernheim und Praunheim als Baumaterial wiederverwendet. Ausgrabungen und Forschungsgeschichte 1823 erfolgten die ersten geregelten Ausgrabungen in der antiken Römerstadt durch den Verein für Nassauische Altertumskunde. Kulturhistorisch bedeutsame Funde gelangten in dieser Zeit, als das Gelände zum Herzogtum Nassau gehörte, in die Sammlung Nassauischer Altertümer, die im Museum Wiesbaden verwahrt wird. Nach dieser frühen Phase der Erforschung gingen weitere Untersuchungen seit der 1878 erfolgten Gründung des Historischen Museums von Frankfurt aus, da Heddernheim 1885 dem preußischen Landkreis Frankfurt zugeschlagen und schließlich 1910 nach Frankfurt eingemeindet wurde. Diese Forschungen sind besonders mit dem Namen Georg Wolff verbunden. Wolff führte im Auftrag der Reichs-Limeskommission (RLK) viele Untersuchungen an den Kastellen, besonders dem großen Steinkastell A, durch. Das Gelände von Nida blieb als „Heidenfeld“ bis zur Errichtung der Römerstadt-Siedlung 1927–1929 unbebaut. Bereits zur Zeit dieser Baumaßnahme konnten nur Notbergungen unter großem Zeitdruck vorgenommen werden. Beim Bau der Nordweststadt 1961–1973 wurden die letzten Reste der archäologischen Substanz weggebaggert und so für immer vernichtet, da dem Landesamt für Denkmalpflege keine ausreichende Zeit für reguläre Grabungen und Fundsicherungen gewährt wurde. Einige größere Flächengrabungen wurden von Ulrich Fischer, dem damaligen Leiter des Museums für Vor- und Frühgeschichte (heute Archäologisches Museum Frankfurt) zwischen 1954 und 1965 durchgeführt. Die Grabungen konzentrierten sich auf das Steinkastell, die nördliche Vicusmauer, ein Gebiet im Zentrum von Nida und das Gräberfeld an der Saalburgstraße im Norden. Der Vorgang ist in Hessen nicht einzigartig, wie die Bebauung der römischen Siedlungen von Hanau-Salisberg, Nidderau-Heldenbergen und Groß-Gerau-„Auf Esch“, gleichfalls in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, belegt. Durch die großflächigen Hoch- und Tiefbaumaßnahmen wurde in Heddernheim aber schnell die vollständige und unwiederbringliche Zerstörung einer der bedeutendsten Römersiedlungen der Region offensichtlich. Hobby-Archäologen retteten als „Raubgräber“ einige wertvolle Stücke, zum Beispiel das „Malergrab“, das sich heute im Archäologischen Museum befindet; ein erheblicher Teil ihrer Funde blieb allerdings in Privatbesitz. Die Hobby-Archäologen haben sich im „Archäologischen Forum Nida“ zusammengeschlossen und – gemeinsam mit dem Heddernheimer Bürgerverein – im Neuen Schloss in Alt-Heddernheim ein Heimatmuseum eingerichtet, in dem auch Fundstücke aus der Römerzeit ausgestellt sind. Eine Abteilung des Archäologischen Museums in Frankfurt ist den Funden aus Nida gewidmet. Hier ist besonders die Zahl an Steindenkmälern beachtenswert, die Einblicke in das Leben einer Zivilstadt zulässt. Der Nidacorso im Nordwestzentrum verweist auf die vormalige Siedlung an gleicher Stelle. Eine römische Türschwelle ist heute noch am Eckhaus Wenzelweg/In der Römerstadt sichtbar, da sie als Abstandhalter zum Schutz der Hausecke vor abbiegenden Fuhrwerken in den Fuß des Gebäudes integriert wurde. Zwei römische Töpferöfen wurden nahe dem Nordwestzentrum am Heddernheimer Steg an der Böschung zur Rosa-Luxemburg-Straße restauriert. Ferner hat sich noch ein kleiner Rest des Walles der Ostumwehrung von Nida vor dem Haus „Am Forum“ Nr. 29 erhalten sowie ein Brunnen am Fußweg unterhalb der Ringmauer. Außerdem erinnern zahlreiche Straßennamen an die römische Vergangenheit des heutigen Frankfurter Stadtteils. Ein archäologischer „Rundweg“ mit 12 Stationen erläutert mittels einiger Tafeln die römische Vergangenheit. In den letzten Jahren fanden gelegentlich kleinere Grabungen in Heddernheim statt. Größere Flächengrabungen sind aufgrund der Überbauung selten. Der weitaus größte Teil der antiken Siedlung gilt als zerstört. Vor dem Nordtor der römischen Stadt wurde 2014/2015 zwischen Erich-Ollenhauer-Ring, Titusstraße und Rosa-Luxemburg-Straße ein größeres Areal nahe der Straßenböschung freigelegt, das bis in die jüngere Zeit unbebaut blieb und die Bereichswache 21 der Frankfurter Feuerwehr aufnimmt. In der Nähe zu den bereits vor längerer Zeit restaurierten Töpferöfen wurden römische Gräber entdeckt. Im Bereich „In der Römerstadt 120–134“ in Heddernheim nahe der Römerstadtschule wurden ab September 2021 auf einer Fläche von 9000 Quadratmetern zirka zehn Tonnen an archäologischen Fundstücken geborgen. Auch wurden sieben Töpferöfen, eine römische Fußbodenheizung, eine städtische Latrine, ein Brunnen, Zisternen sowie Fundamente von Häusern (darunter zwei 500 Quadratmeter große, wahrscheinlich zweistöckige Kommunalbauten) freigelegt. Eisengeräte, Gewandnadeln, Glasscherben, Knochen, Münzen, Schmuck, Ziegelbruchstücke, vollständig erhaltene Tongefäße sowie eine Unmenge an Tonscherben harren seitdem in 662 Kisten der Nachbearbeitung durch die Fachwelt und sollen teilweise später in der Nähe der jetzt dort entstehenden acht Wohngebäude ausgestellt werden. Ein „Kultkeller“ und ein gut erhaltener Töpferofen sollen sogar in den Neubau integriert werden. Kastelle Alenkastell (A) Das Alenkastell, oft auch Steinkastell genannt, wurde 1896 von Georg Wolff entdeckt. Im Limeswerk erhielt es die Nummer 27. Wolff ergrub die Kastellumwehrung und einen Teil des Stabsgebäudes (principia). Grabungen von 1957 bis 1959 im Nordteil wiesen zwei Vorgängerbauten in Holz-Erde-Bauweise nach. Dies wurde durch drei Bauphasen der Mannschaftsbaracken belegt. Die letzte Holzbauphase wurde durch einen Brand zerstört, was möglicherweise mit dem Aufstand des Lucius Antonius Saturninus im Jahre 89 zusammenhängt. Das Steinkastell schloss eine Fläche von 186 × 282 m ein und besaß neben den vier Toren 30 Türme. Die Mauer bestand aus Basaltbruchsteinen, denen Sandsteinquader vorgeblendet waren. Vor der Mauer befand sich an allen Seiten ein doppelter Spitzgraben. Das Kastell war mit dem Haupttor (porta praetoria) nach Süden zur Nidda hin orientiert. Als Innenbebauung wurde weiterhin ein größerer Werkstattkomplex (fabrica) nachgewiesen. Die mit 5 ha relativ große Anlage diente vermutlich mehreren Einheiten als Garnison. Auf 16 Inschriften und Grabsteinen sind folgende Truppen erwähnt: Ala I Flavia Gemina Cohors XXXII Voluntariorum Civium Romanorum Cohors IV Vindelicorum Da die 32. Freiwilligenkohorte römischer Bürger ab 90 n. Chr. im Kastell Ober-Florstadt belegt ist, war das Kastell vermutlich für eine Reiter- und Infanterieeinheit gemeinsam konzipiert. Die 4. Vindelikerkohorte könnte diese abgelöst haben. Sie ist später als Besatzung des Kastell Großkrotzenburg belegt. Kastell B Beim 1903–1906 ausgegrabenen Holz-Erde-Lager B handelt es sich um einen Annex an das Steinkastell A. Sein Spitzgraben knickt in den äußeren Graben des Steinkastells stumpfwinklig ab. Es besaß eine Fläche von 80 × 292 m, das einzige nachgewiesene Tor befand sich an der Ostseite in Verlängerung der via principalis des Steinkastells und war ein Holzbau mit zwei Durchgängen. Des Weiteren konnte im Inneren ein größeres Gebäude durch Pfostengruben nachgewiesen werden, das als Magazinbau gedeutet wurde. Lager B ist damit das jüngste aller Heddernheimer Holz-Erde-Kastelle. Es wurde zusammen mit dem Alenkastell nach 103 n. Chr. aufgegeben. Kastell C Vom Kastell C konnte 1901 bis 1908 nördlich des Alenkastells eine 420 m lange Südseite sowie die 280 m lange Westseite nachgewiesen werden. Vor dem westlichen Tor befand sich ein 16,50 m langer vorgelagerter Spitzgraben (titulum). Von dem Tor zweigte ein weiterer Spitzgraben in Richtung der Südostecke ab, sodass sich eine unsymmetrische Dreiecksform ergäbe. Die Nord- und Ostflanke des Kastells konnte nicht nachgewiesen werden. Kastell C gilt deshalb als provisorisches oder durch eine reduzierte Truppe genutztes, kurzzeitiges Lager. Dafür würde sprechen, dass seine Lage auf die spätere Wegführung der vor dem W-Tor verlaufenden Römerstraßen keinerlei Bezug nimmt. Kastell D Von Kastell D konnte seit 1910 der westliche (Länge 400 m) und südliche Graben (130 m) mit Tor sowie die Südwestecke ergraben werden. Der südliche Graben war im Grabenbereich des Alenkastells nicht mehr nachweisbar. Der westliche Graben mündete nach einer kleinen Richtungsänderung in den westlichen Graben von Lager C ein. Daraus wird deutlich, dass Kastell D vor dem Alenkastell A, jedoch nach dem Kastell C bestanden haben muss. Wolff nahm an, dass D aufgrund der Lage um das Alenkastell herum als Baulager gedient haben könnte. Es zeichnet sich eine schnelle Abfolge der einzelnen Kastelle in der frühen Okkupationsphase unter Kaiser Vespasian ab. Kastelle E und F Nordöstlich von Lager C konnte Wolff zwei Spitzgrabenprofile in zwei Ziegeleien beobachten. Möglicherweise gehören diese zu einem weiteren Lager E. Die nordwestliche Ecke des Lagers F wurde 1925–1926 von Friedrich Gündel auf dem Gelände des Christlichen Friedhofs in Heddernheim entdeckt. Gündel vermutete ein fast quadratisches Lager von 100 bis 110 m Seitenlänge. Keramikfunde aus dem Spitzgraben und dem Palisadengräbchen datierten es in domitianische Zeit. Kastell G Vom Lager G wurden mehrere Spitzgräben in den 1960er Jahren bei den Baumaßnahmen für die Nordweststadt entdeckt. Zunächst konnte der nördliche Graben in etwa 80 m Entfernung zur späteren Stadtmauer auf einer Länge von 260 m verfolgt werden. Ein zugehöriger parallel verlaufender südlicher Graben konnte 1961 in 160 m Entfernung nachgewiesen werden. Während die östliche Begrenzung unbekannt bleibt, konnte als westliche Begrenzung ein Spitzgraben in einer Baugrube der Ernst-Kahn-Straße festgestellt werden. Das Kastell hätte damit eine Fläche von mindestens 4 ha eingenommen. Am südlichen Graben wurden einige Backöfen ausgegraben. Funde von Terra Sigillata deuten vorsichtig auf eine frühere Datierung als das Alenkastell A hin. Kastelle H, J und K Beim Bau einer Wasserleitung konnten 1929 in der Bernadottestraße zwei zusammenhängende Spitzgräben entdeckt werden. Möglicherweise gehört zu diesen ein in 140 m Entfernung parallel verlaufender Graben, der in der Straße Im Weimel beobachtet wurde. Beide erbrachten Scherben des 1. Jahrhunderts n. Chr. und gehörten vermutlich zu einem weiteren Kastell H. Ein weiterer Spitzgraben wurde 1963 in der Baugrube In der Römerstadt 182–188, 102 m westlich der Vicusbebauung entdeckt. Er konnte über 14 m verfolgt werden und gehört vermutlich zu einem weiteren Kastell J. Im Jahr 1929 konnte die Südecke eines Spitzgrabens in der Straße Alt-Praunheim beobachtet werden, der als Teil eines Lagers K angesehen wird. Der Graben enthielt keinerlei datierende Funde. Praunheimer Lager (L) Nördlich der Heerstraße (früher Elisabethenstraße) konnte in den Gruben einer Ziegelei 1905 das sogenannte Praunheimer Lager (L) entdeckt werden. Seine Größe ist mit 270 × 340 m komplett erfasst worden. Datierende Funde gibt es aus dem Praunheimer Lager nicht. Aufgrund der Lage an der Straße nach Hofheim und Mainz wird es ebenfalls in die frühe Besatzungszeit gehören. Zivilsiedlung Rechtsstatus, Bevölkerung und Zivilverwaltung Als Stadt im Grenzland des Imperium Romanum hatte Nida niemals den Status einer regulären römischen Stadt (colonia oder municipium). Im Gegensatz zu vielen übrigen Dörfern der Region erreichte Nida aber den Status eines Civitas-Hauptortes, wahrscheinlich gegen Ende der Regierungszeit Kaiser Trajans oder zu Anfang der Regierung Hadrians. Die Bewohner waren damit zumeist Provinziale ohne römisches Bürgerrecht; vereinzelt werden sich Veteranen niedergelassen haben, die das Bürgerrecht nach Ableistung ihres Militärdienstes erhielten. Auch wenn die Civitates meist auf Stammesgemeinschaften zurückgingen, scheint die Civitas der Taunensier sich auf einen geographischen Begriff, der bereits vorher schon geläufig war, zu beziehen. Für die Wetterau ist vor der Ankunft der Römer keine intensive Besiedlung archäologisch nachgewiesen. Nahe gelegene keltische oppida – wie das Heidetränk-Oppidum – sind bereits wesentlich früher, wahrscheinlich um 50 v. Chr. aufgegeben worden. Die Bevölkerung wird neben den wenigen Germanen, die im Fundmaterial greifbar werden, vor allem aus teilweise romanisierten Zuwanderern aus dem keltisch geprägten Gallien bestanden haben, was auch durch eine Aussage in der Germania des Tacitus über die Bewohner des Dekumatlandes gestützt wird. Im Fundmaterial der Römerstadt Nida lässt sich das etwa an der Keramik oder den Fibeln erkennen. Weitere Belege für eine gallorömische Bevölkerung liegen in Form von Götternamen und -darstellungen sowie dem Namensmaterial der Weihinschriften vor. Angaben zur Bevölkerungszahl werden in der Literatur weitgehend vermieden. In Heddernheim dürfte das vor allem daran liegen, dass die städtischen Wohnquartiere und die Gräberfelder nur teilweise bekannt sind. Auch fehlen konkrete Anhaltspunkte zur Zahl der Bewohner eines typischen Vicus-Gebäudes. Mit etwa 45 ha später ummauerten Areals gehörte Nida zu den größeren Civitas-Hauptorten rechts des Rheins. Anzunehmen wäre eine Einwohnerzahl im hohen dreistelligen oder niedrigen vierstelligen Bereich. Obwohl es sich bei dem Fluss- und dem wohl daraus abgeleiteten Ortsnamen Nidda/Nida um einen sehr alten Namen handelt, kann auch dieser keiner genauen Herkunft zugeordnet werden. Er ist auf zahlreichen Inschriften belegt, etwa auf einem Leugenstein aus Friedberg (a Nida [l(eugas)] X), der Heddernheimer Dendrophoreninschrift, sowie vermutlich zwei Weiheinschriften aus Mainz-Kastel. In der Dendrophoreninschrift werden ausdrücklich der Vicus Nida und die Bewohner als Vicani Nidenses genannt. Als Sitz des Verwaltungsbezirks und Vorort der Civitas Taunensium war Nida ähnlich einer römischen Stadt organisiert. Eine Art „Senat“ (ordo decurionum) bestand aus den einflussreichsten Personen der Bürgerschaft, in der Regel reichen Gewerbetreibenden oder Großgrundbesitzern. Diese Ratsherren (decuriones) wählten jährlich zwei Duoviri nach dem Vorbild des römischen Konsulats. Durch die Inschriften sind diese Ämter auch in Nida belegt, nämlich der duumvir Licinius Tugnatius Publius, die sieben Dekurionen Dativius Victor, C. Paternius Postuminus, Quietius Amandus, C. Sedatius Stephanus und Stephanius Maximus, Tertinius Catullinus sowie ein Firmus. Eine weitere Inschrift nennt einen Ädil, der die Aufsicht über Markt und Gewerbe führte. Die Bauinschrift des horreum vom Kastell Kapersburg nennt als Einheit des Kastells einen Numerus Nidensium. Die Einheit wurde dem Namen nach in Nida oder der Civitas rekrutiert. Wirtschaft und Gewerbe Neben der Zentralortfunktion für die Lager am Limes und die Villae rusticae des Grenzlandes bestand in Nida, wie in vielen vici der Nordwestprovinzen, ein einheimisches Gewerbe, das durch Funde bestens belegt ist. Handwerkerviertel lassen sich dabei nur schwer bestimmen. Die Funde von Schlacken und Gusstiegeln der Metallhandwerker und die Töpferöfen streuen über die gesamte Stadt, wahrscheinlich aufgrund der langsam wachsenden Strukturen, die aus dem Lagerdorf hervorgingen. Größere Töpferviertel scheint es an der nördlichen Ausfallstraße und im Westen der Siedlung beiderseits der Ausfallstraße in Richtung Mainz gegeben zu haben. Insgesamt sind 105 Töpferöfen in Heddernheim nachgewiesen, die allerdings auch auf die Zeit, in der das Lagerdorf und die Zivilstadt bestanden, hochgerechnet werden müssen. Hergestellt wurde vor allem Haushaltsgeschirr, aber auch Lampen, Kultgefäße und Graburnen. Besonders variantenreich war die Herstellung von verschiedenen Glanztonbechern. Eine gelegentlich vermutete Herstellung von Terra Sigillata in Nida geht auf die Fehldeutung einiger Fundstücke zurück. So ist etwa eine Rheinzaberner Formschüssel des JANVS als Vorlage zur Herstellung von Imitationen verwendet worden. Als Nachahmung gilt auch die regional verbreitete, sogenannte Wetterauer Ware, meist dünnwandige, rotbemalte Gefäße, die in Nied oder Heddernheim hergestellt wurden. Weiterhin sind die Berufe Maurer, Zimmermann, Schmied, Schlosser, Möbelschreiner, Knochenschnitzer, Maler, Bronzegießer, Bronze-, Gold- und Silberschmied, Steinmetz, Schuhmacher, Metzger, Barbier und Arzt vorwiegend durch Werkzeugfunde belegt. Die Funde lassen einen Schwerpunkt bei den Buntmetall verarbeitenden Berufen erkennen. Schwerpunkte im Bereich des Töpfergewerbes, der Beinschnitzereien oder der Metallverarbeitung können aber auch mit guten Erhaltungsbedingungen der Funde zusammenhängen, die bei anderen Berufen nicht gegeben sind. Neben diesen für eine kleine römische Stadt sehr typischen lokalen Produktionen ist der Handel mit Importgütern durch Funde zahlreich belegt. Terra Sigillata wurde zunächst aus südgallischen Töpfereien wie La Graufesenque bezogen, in späterer Zeit dominieren aufgrund der günstigen Transportwege ostgallische Manufakturen wie Trier (Augusta Treverorum) oder Rheinzabern (Tabernae). Geschirrhändler sind durch mehrere geschlossene Fundkomplexe gut belegt. In einem Keller nördlich des Forums fand man bei Grabungen 1961–1962 mindestens 45 fabrikneue, zerscherbte Näpfe der Form Dragendorff 33. Im Keller eines großen, vermutlich zweigeschossigen Wohn- und Ladengebäudes westlich des Forums fanden sich ebenfalls große Massen von Sigillata-Gefäßen. Durch Amphorenfunde sind vor allem Importe südspanischen Olivenöls geläufig, daneben Weine aus Gallien und ebenfalls meist südspanische Fischsaucen (garum). Zu den durch Fundstücke dokumentierten Importwaren zählen weiterhin Gläser aus Oberitalien, Gallien und dem vorderen Orient, Bronzearbeiten (vorwiegend Statuetten und Gefäße) aus gallischen und italischen Werkstätten, figürliche Terrakotten aus Mittelgallien, Trier und Köln, Votivsteine aus den Donauprovinzen, Marmor und Kalkstein für Inschriften und Bauornamentik, Bernstein und Edelsteine zur Schmuckherstellung, Farbpigmente und Austern, die in Salzlake eingelegt, von der Atlantikküste importiert wurden. Aufgrund schlechter Erhaltungsbedingungen kaum nachweisbar ist der Handel mit Stoffen, Fellen, Leder, Hölzern, verschiedenen Nahrungsmitteln, Parfümerien, Weihrauch, Gewürzen, exotischen Tieren und Sklaven. Funde von Gewichten aus Blei, Eisen, Bronze und Stein sowie verschiedener Waagen sind ebenfalls als Indizien für den Handel zu werten. Straßen Der Straßenzug In der Römerstadt/Heerstraße folgt noch heute im Wesentlichen dem Verlauf einer befestigten, schnurgeraden Römerstraße, die auch die Hauptachse des antiken Nida bildete. In Höhe der Häuser In der Römerstadt 145 bis 165 sind – nur wenige Meter vom heutigen Gehsteig entfernt – Pflastersteine und Keller aus dieser Epoche erhalten geblieben, ferner die Reste eines farbigen Freskos aus dem 2. Jahrhundert. Das Lagerdorf, wo sich Gastwirte, Händler, Schiffer und die mit den Soldaten ziehenden Frauen niederließen, entwickelte sich westlich des Kastells entlang dieser Ausfallstraße, die aufgrund eines Inschriftenfundes in der Forschung traditionell als platea novi vici („Straße der Neustadt“) bezeichnet wurde. Weiter nördlich, etwa entlang der heutigen Haingrabenstraße, verlief eine zweite Ost-West-Straße, die man anhand einer weiteren Inschrift lange als platea praetoria („Hauptstraße“) bezeichnete. Bei den beiden Inschriften, aus denen die Straßennamen bekannt sind, handelt es sich um Weihaltäre für die Genien (Schutzgeister) der jeweiligen Straßen. Mittlerweile konnte jedoch nachgewiesen werden, dass die südliche der beiden Ost-West-Straßen die ältere war und bis nach Mogontiacum, das heutige Mainz, führte (später als Elisabethenstraße bezeichnet). Da die Fundumstände der beiden Weihaltäre relativ unklar sind, ist es deshalb wahrscheinlich, dass die beiden Straßennamen genau umgekehrt zu rekonstruieren sind wie in der Forschung lange üblich: Die südliche Straße wäre demnach die platea praetoria, die nördliche die plaeta novi vici. Nida war neben der Elisabethenstraße nach Mainz Ausgangs- und Kreuzungspunkt zahlreicher weiterer Römerstraßen. Unmittelbar nördlich des heutigen Eschersheimer Schwimmbads, in Höhe des „Bubelochs“ sowie südwestlich des Theaters gab es römische Holzbrücken über die Nidda. Die Straßen führten von dort aus nach Bergen bzw. zur Römischen Niederlassung auf dem Frankfurter Domhügel und weiter zum benachbarten Civitas-Hauptort Dieburg; infolge der Begradigung des Flusses entspricht der heutige Verlauf der Nidda allerdings nicht mehr demjenigen in römischer Zeit. Entlang der Nidda gelangte man zu den Thermen bei Bad Vilbel. Im Norden war Nida an zahlreiche Kastellorte wie Okarben, Friedberg, Kastell Saalburg und Kastell Kleiner Feldberg angebunden. Eine weitere Nebenstraße verlief in Verlängerung der Straße vor den Westthermen („Thermenstraße“) nach Süden. Die Straßen der Stadt besaßen eine Kiesdecke. So ist für die nördliche Ost-West-Straße (traditionell platea praetoria) eine 70 cm starke Kiesschüttung nachweisbar. Wohnbauten Wie in den meisten römischen Vici der Nordwestprovinzen waren die Wohnhäuser der Stadt Nida überwiegend Streifenhäuser. Diese konnten besonders zahlreich entlang der südlichen Straße (traditionell platea novi vici) ausgegraben werden. Die in Nida zwischen 5 und 11 m breiten und bis zu 40 m langen Häuser grenzten mit ihrer schmalen Giebelseite direkt an die Straße, wo meist eine mit den Nachbarhäusern gemeinsame Portikus vorgeblendet war. Ebenfalls im vorderen Hausbereich befand sich ein Keller, der zur Vorratshaltung genutzt wurde, wie Standspuren von Regalen und Amphoren belegen. Eine Raumaufteilung der Streifenhäuser ist nicht nachgewiesen. Anzunehmen wären Läden, Werkstätten oder Gaststuben im vorderen Teil des Hauses, Lagerschuppen und Brunnen im hinteren Grundstücksbereich. In der letzten Siedlungsphase des 3. Jahrhunderts besaßen die Streifenhäuser einen steinernen Sockel und Wände aus Fachwerk. Die Dächer waren mit Schiefer gedeckt. Einige wenige Häuser weichen von diesem Bautyp ab und waren etwas großzügiger gestaltet. Nach seiner Lage über den verfüllten Gräben des Alenkastells wurde das Wallgrabenhaus benannt. Das Gebäude mit einer Grundfläche von 9,50 × 17 m besaß sechs Wohnräume und eine zweigeteilte Vorhalle. Der Keller befand sich im hinteren Hausbereich. Weitere aufwendigere Privathäuser der vermögenden Schichten fanden sich abseits des Zentrums. Manche besaßen Innenhöfe mit Säulengängen. Allerdings wurden von diesen keine nach modernen Methoden ausgegraben. Im weiteren Umfeld der Stadt ist eine Verdichtung der Villen nachweisbar. In direkter Nähe der Stadt können nur drei bis vier Anlagen als solche angesprochen werden. Darunter befindet sich die sogenannte Praunheimer Villa, die 1898–1904 von Georg Wolff 450 m westlich der Stadt ausgegraben wurde, sowie die Villa Philippseck. Letztere befand sich 200 m östlich und wurde zusammen mit einem Rittersitz des 16. Jahrhunderts von F. Gündel ausgegraben. Der aufwendige Baukörper mit markanten Eckrisaliten wird auch als villa urbana bezeichnet. Forum Im spitzen Winkel zwischen der platea praetoria und der platea novi vici vor dem Westtor des Kastells wurde nach Aufgabe des Kastells und einer vermutlichen Reduzierung des Lagerdorfs das Forum der Stadt erbaut, um das sich später wichtige Gebäude gruppierten. Die Dreiecksform ist für solche Anlagen selten, ganz in der Nähe liegt aber eine Parallele im dreieckigen Platz des Kastellvicus am Kastell Zugmantel vor. Die Fläche des Forums in Nida betrug etwa 17.500 m². Neben der Funktion als Markt- und Versammlungsort besaßen Foren römischer Städte üblicherweise eine Gerichtshalle (basilica), Regierungsgebäude (curia) und meist einen größeren Tempel. Gut dokumentierte Beispiele solcher Anlagen in Rechteckform gibt es in Augst (Augusta Raurica), Kempten (Cambodunum) und Ladenburg (Lopodunum). Über das Heddernheimer Forum ist wenig bekannt, da das Areal nicht großflächig untersucht wurde. Ein Rechteckbau von 8 × 10 m könnte möglicherweise zur Substruktion eines Podiumstempels gehören. Funde von Steindenkmälern aus einem benachbarten Brunnen sind ebenfalls den öffentlichen Gebäuden zuzurechnen. Um das Forum gruppierten sich wichtige öffentliche Gebäude. Westlich davon lagen die Westthermen, südlich der Hallenbau und das Praetorium mit Ostthermen. Im Norden grenzte ein großes Gebäude mit einer Front von 25 m an das Forum, das als Magazin gedeutet wird. Praetorium Das öffentliche Unterkunftshaus im Südosten der Siedlung gehört zu den am besten ergrabenen Gebäuden. Es befand sich südlich der großen Straßenkreuzung. Die 62 nachgewiesenen Räume gruppieren sich um einen zentralen Innenhof. Eine Zweigeschossigkeit wird vermutet. Östlich grenzte ein weiterer von einer Portikus umschlossener Hof (palaestra) sowie die Ostthermen an. Ein Hof und Stallgebäude südlich der Anlage dürften zur Aufnahme von Wagen und Zugtieren gedient haben. Zur Straße war das Gebäude repräsentativ mit einer weiteren Portikus gestaltet. Die ganze Anlage besaß eine Größe von 43 × 70 m. Thermen Direkt östlich des Praetoriums schlossen sich die großzügig ausgestatteten Ostthermen mit einer Größe von 36 × 64 m an. Hinweise auf die Ausstattung geben Funde von quadratischen Ziegelplättchen, farbigem Wandverputz und steinerne Architekturfragmente. Hinter der an das Praetorium angebauten palaestra gliederten sich die Badetrakte (frigidarium, caldarium, tepidarium) entlang eines axialen Mitteltraktes. Umkleideräume, das Kaltwasserbecken, das Schwitzbad (sudatorium) sowie Toiletten mit Wasserspülung waren seitlich angebaut. Da die Ostthermen einen eindeutigen baulichen Bezug zum Praetorium aufwiesen, waren die Bürger von Nida wahrscheinlich auf ein eigenes Thermengebäude angewiesen. Diese sogenannten Westthermen entstanden an der Westseite des dreieckigen Marktplatzes. Sie wiesen eine Größe von 45 × 68 m auf, was einer für Provinzstädte üblichen Größe entsprach. Die zivile Nutzung wird durch eine doppelte Traktfolge für Männer und Frauen unterstrichen. Die palaestra mit einer Fläche von 13,6 × 20,4 m war als Innenhof gestaltet. In einer Ecke des Hofs befand sich der Unterbau für ein Steindenkmal oder eine Statue. Theater Ein hölzernes Theater konnte im Süden der Siedlung nachgewiesen werden. Es ist das einzige bekannte seiner Art auf rechtsrheinischem Boden und bot etwa 1.000 bis 1.500 Personen Platz. Bei den Ausgrabungen 1929 wurde das Gebäude in die Kastellzeit Heddernheims datiert. Das Theater wurde nach Abzug der Truppen wahrscheinlich aufgegeben, da es dort nicht mehr genug Zuschauer gab. Tempel Bis 2016 waren aus Nida keine sicheren Befunde von oberirdischen Tempelbauten bekannt. Gleichwohl gab es zahlreiche Hinweise auf solche Tempel durch Inschriften und andere Steindenkmäler. Statuen der Dea candida und des Mercurius negotiator können als Kultbilder von Heiligtümern angesprochen werden. Überproportional häufige Funde, die auf sogenannte Mysterienreligionen hinweisen, sind ebenfalls der Quellenlage geschuldet, die sich auf die Steindenkmäler stützt. Im Fall der unterirdisch angelegten Mithräen kommen günstige Erhaltungsbedingungen hinzu. Erst 2016 wurde der rund 3000 Quadratmeter großen Tempelbezirk von Nida entdeckt. Mithräen Insgesamt fünf Heiligtümer des Mithraskults konnten in Heddernheim nachgewiesen werden. 1826 erlangten die Ausgrabungen im „Heidenfeld“ Berühmtheit durch die Funde von zwei Mithräen im Nordwesten des Vicus. Das dabei entdeckte drehbare Kultbild aus dem Mithräum I findet bis heute Eingang in zahlreiche Abhandlungen zum Mithraskult. Das Mithräum III wurde 1894 westlich des Praetoriums entdeckt. Die Funde dieser drei ersten Mithräen befinden sich mehrheitlich in Wiesbaden. Das Mithräum IV befand sich südwestlich des Holztheaters. Es wurde 1926 leer aufgefunden und ist wahrscheinlich vorzeitig wegen der Anlage der nahe gelegenen südlichen Stadtmauer aufgegeben worden. Funde eines fünften Mithräums konnten in den 1960er Jahren während des Baus der Nordweststadt von privater Seite gesammelt werden, ohne dass eine Dokumentation des Fundzusammenhangs stattgefunden hätte. Magna Mater/ Kybele und Dendrophorenkeller Auch die Anwesenheit des Magna-Mater- oder Kybele-Kults wird aus einer Inschrift deutlich, die deshalb als Dendrophoreninschrift bekannt wurde. Das Kollegium der dendrophori (= „Baumträger“) gehörte zu einem hohen Feiertag des Kultes. Sie brachten am 22. März einen frisch gefällten und geschmückten Baum, der ein Bildnis des Attis trug. Die Inschrift belegt die Erbauung eines Versammlungshauses (scola) aus eigenen Mitteln zusammen mit dem Kollegium aus dem benachbarten Dieburg. Das Grundstück wurde ihnen von den Bürgern von Nida zugewiesen. Die Inschrift fand sich 1961 in einem sehr kleinen Keller im Nordwesten des Vicus. Das erwähnte Gebäude oder ein Tempel der Göttin selbst konnten nicht nachgewiesen werden. Jupiter Dolichenus Auch ein Dolichenum als Heiligtum des Iupiter Dolichenus ist nur durch Funde belegt. Es handelt sich um einen Altar, fünf silberne Votivbleche, zwei bronzene Hände, zwei Bronze-Reliefs in Dreieckform sowie eine bronzene Tabula ansata, die vermutlich als Beschriftung einer Votivgabe diente. Die Funde gelangten von privaten Findern bereits früh im 19. Jahrhundert in den Kunsthandel und wurden nach Berlin und an das British Museum in London verkauft. Der Altar und eine beschriftete Hand kamen in den Besitz der Grafen von Solms-Rödelheim. Nur wenige Teile gelangten in den Besitz der Museen in Frankfurt und Wiesbaden. Die Fundstelle wird nach Friedrich Gustav Habel direkt südwestlich des Forums vermutet. Auf dem Gelände der neuen Römerstadtschule vermutete man jahrzehntelang den dreieckigen Marktplatz von Nida. Doch zwischen den Jahren 2016 und 2018 fand man bei Bauarbeiten einen dem Jupiter Dolichenus geweihten Weihebezirk mit mindestens fünf Tempeln. Stadtmauer Als das Grenzland im 3. Jahrhundert unsicherer wurde (siehe Reichskrise des 3. Jahrhunderts), benötigte auch Nida eine Stadtmauer. Sie wurde zu Beginn des Jahrhunderts errichtet. Einige Gebäude und Wohnviertel der ursprünglich weitgestreuten Bebauung fielen ihr im Osten, Süden und Westen zum Opfer. Sie besaß eine Länge von 2.750 m und bestand aus einer 6 m hohen und 2 m breiten Mauer. Außer den acht Toren kamen in regelmäßigem Abstand Türme hinzu. Der Mauer vorgelagert war ein 7 m breiter und 2,25 m tiefer Graben sowie ein 23 m breites Annäherungshindernis aus zahlreichen Gruben (Lilia), die zum Schutz gegen Reiterangriffe dienten. Die Mauer selbst wurde in Schalentechnik erbaut. Einem Kern aus Gussmauerwerk waren Sandsteinquader vorgeblendet. Einige der Zinnendecksteine haben sich im Spitzgraben gefunden. Der größte Teil der Steine fiel in nachrömischer Zeit dem Steinraub zum Opfer. Von welcher Seite dieses Bauprogramm initiiert wurde, lässt sich mangels schriftlicher Quellen nicht sagen. Das monumentale Bauwerk zeugt indes von einem Behauptungswillen der Bevölkerung im Grenzland. Die sorgfältige Bauweise zeigt, dass sie nicht in einer plötzlichen Notsituation erbaut wurde. Zahlreiche weitere Siedlungen rechts des Rheins wie Dieburg oder Ladenburg erhielten in dieser Zeit ebenfalls eine Umwehrung. Unklar bleibt, wer die Verteidigung der Mauer übernahm. Wenn es sich nicht um reguläre Soldaten gehandelt hat, käme als Erklärung die stärkere Präsenz von Germanen im Fundmaterial des 3. Jahrhunderts in Frage. Dass die Bevölkerung im Grenzland angesichts der Staatskrise unter den Soldatenkaisern Maßnahmen in Eigenregie ergriffen hat, ist vereinzelt inschriftlich belegt, so durch eine Inschrift aus dem Kastell Altenstadt. Zu diesen Maßnahmen gehört wahrscheinlich der sogenannte Hallenbau, ein anscheinend militärisch genutztes Gebäude des dritten Jahrhunderts südlich des Marktplatzes. Die Funde (unter anderem drei der in Heddernheim gefundenen Helme, Militärfibeln und Teile eines Schwertgehänges) weisen eindeutig auf eine militärische Nutzung. Hafenanlage an der Nidda Südöstlich der Stadt unterhalb der Hadrianstraße an der Nidda wurden 1927–1929 die Überreste einer römischen Hafenanlage ausgegraben. Sie besaß Anlegerampen an beiden Ufern und auf der Stadtseite mehrere größere Gebäude, die als Lagerhallen oder Kontore gedient haben. Der Fluss besaß in römischer Zeit eine Wassertiefe von knapp unter 1 m bei einem Gefälle von 0,7 ‰ und einer Wasserführung von 9,50 m³/s. Ob dies auch für größere Lastkähne, besonders die in römischer Zeit bevorzugt verwendeten flachbodigen Prähme ausreichte, ist nicht ganz geklärt. Wichtig für die Versorgung der Römerstadt war besonders der Anschluss an das Flussnetz von Rhein und Main. Von der nahe gelegenen Militärziegelei in Nied dürfte ein erheblicher Teil der Keramikprodukte sowie weiteres Baumaterial für die Bauten am Limes und in der Civitas im Hafen von Nida umgeschlagen worden sein. Zerbrechliche oder besonders schwere Waren wurden insgesamt bevorzugt auf dem Wasserweg transportiert. Zusammen mit den gut ausgebauten Römerstraßen steigerte der Umschlagplatz die Bedeutung Nidas als regionales Wirtschaftszentrum. Gräberfelder Insgesamt elf Gräberfelder werden in der archäologischen Literatur unterschieden. Da diese nicht großflächig ergraben wurden und über weite Bereiche nördlich und westlich der Stadt streuen, kann nicht gesagt werden, ob diese Unterscheidung auch in der Antike gültig war. Wie in römischen Städten üblich, befanden sich diese außerhalb des Stadtgebiets entlang der Ausfallstraßen. Friedhof 1 befand sich im Areal des späteren südlichen Westtores der Stadt und dürfte zu den frühen Soldatenfriedhöfen gehören. Zu den Funden gehören außer wenigen Brandgräbern zwei Grabsteine von Soldaten der 32. Freiwilligenkohorte. Das Gräberfeld 2 erstreckte sich beiderseits entlang der nördlichen Ausfallstraße nach Mainz und enthielt 300 Brandgräber aus der Zeit zwischen 70 und 120 n. Chr. sowie wenige spätere Nachbestattungen. Obwohl zehn Soldaten- oder Reitergrabsteine aus dem Gräberfeld bekannt sind, handelte es sich um keinen reinen Soldatenfriedhof. Friedhof 3 lag als nördlicher Teil des „Älteren Praunheimer Gräberfeldes“ entlang der heutigen Hainstraße im Bereich der Praunheimer Villa. Wohl ein Gräberfeld der Kastellzeit, vermutlich aber von Zivilisten genutzt. Nördlich der Stadt in Nähe zum Gräberfeld 10 lag Friedhof 4; wie Friedhof 3 ist er wohl der Kastellzeit zugehörig, ohne dass Soldatengräber belegt wären. Gräberfeld 5 befand sich beiderseits der Saalburgstraße und gehört der Zeit der Zivilstadt an. Überwiegend Brandgräber, aber auch wenige Körperbestattungen sind belegt. Friedhof 6 befand sich entlang der Straße zum Kastell Okarben. Wie bei Gräberfeld 5 können keine genauen Angaben zur Zahl der Bestattungen oder zur Chronologie gemacht werden, da systematische Grabungen fehlen. Eine Besonderheit des Gräberfeldes 6 ist der Fund des sogenannten Malergrabs, das im Archäologischen Museum ausgestellt wird. Neben Ess- und Trinkgeschirr (zum Beispiel ein großer Doppelhenkelkrug) enthielt es 29 Farbtöpfe mit Pigmentresten. Analysen zeigten, dass dem Maler vier Grundfarben (Eisenrot, Kupferblau, Bleiweiß und Bleirot) zur Verfügung standen. Mit 71 Gräbern befand sich Gräberfeld 7 etwas weiter außerhalb, ebenfalls an der Okarbener Straße. Auch dieses gehört in die Stadtzeit des 2. Jahrhunderts. Eine Besonderheit ist die Einfriedung in Form eines unregelmäßigen Vierecks, die wohl Ausdruck einer Gemeinschaft war. Möglicherweise lässt das auf ein Handwerker- oder Bestattungscollegium schließen, wie sie in vielen römischen Städten nachgewiesen sind. Die Grabbeigaben lassen aber keine Unterschiede zu anderen Gräberfeldern erkennen. Gräberfeld 8 lag vor der nordwestlichen Ecke der Stadtmauer. Nur wenige Brand- und Körperbestattungen konnten hier durch Funde aus Baugruben erfasst werden, die eine Einordnung in die Stadtzeit ermöglichten. Das „Jüngere Praunheimer Gräberfeld“ (9) befand sich vor dem südlichen Westtor der Stadt und es dürfte sich um den größten und angesehensten Friedhof gehandelt haben; er wurde allerdings nur sehr unvollständig untersucht. Die Gräber lagen beiderseits der Straße nach Mainz. Neben der prominenten Lage an der wichtigsten Straße deuten auch die Funde auf vornehmere Bestattungen. Außer den üblichen Brandbestattungen enthielt er auch zahlreiche Körpergräber. Auffällig ist, dass hier mehr Brandgräber in Steinkisten belegt sind, als in den nördlichen Gräberfeldern. Neben Körperbestattungen in Holzsärgen fand man hier auch drei Steinsarkophage. Friedhof 10 wurde im 3. Jahrhundert an Stelle des früheren Friedhofs 4 angelegt, wobei die alten Brandgräber teilweise geschnitten wurden. Von dem Vorgänger war anscheinend oberirdisch nichts mehr sichtbar. Er umfasste 50 Körperbestattungen, die sehr ärmlich ausgestattet waren. Bedeutsam ist das Grab eines Germanen in römischen Diensten. Das kleine Gräberfeld 11 lag weit abseits im Westen auf Praunheimer Gebiet. Die zehn Brandgräber bildeten ursprünglich das östliche Ende von Gräberfeld 2. Auffällig ist eine Gruppe regellos bestatteter Körpergräber mit ärmlichen Beigaben. Darunter fanden sich einige in sehr unnatürlicher Lage: Bei einem Skelett fehlte der Kopf, zwei weitere waren gewaltsam zerrissen, eines lag in verdrehter Haltung. Es dürfte sich wahrscheinlich um Sonderbestattungen sozial Ausgestoßener (Verbrecher und Ähnliche) handeln, wie sie häufig in Randlage römischer Nekropolen belegt sind. Literatur Aktuelle Überblicksdarstellungen Peter Fasold: Nida: Hauptort der civitas Taunensium. In: Vera Rupp, Heide Birley (Hrsg.): Landleben im römischen Deutschland. Theiss, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8062-2573-0, S. 91–94. Peter Fasold: Von Augustus bis Aurelian. Neue Forschungen zum römischen Frankfurt. In: Frank Martin Ausbüttel, Ulrich Krebs, Gregor Maier (Hrsg.): Die Römer im Rhein-Main-Gebiet. Theiss, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-8062-2420-7, S. 41–54. Peter Fasold: Stadtgemeinde der Taunenser. In: Egon Schallmayer u. a. (Hrsg.): Die Römer im Taunus. Societäts-Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-7973-0955-4, S. 12–14. 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Neustadt an der Weinstraße 1999, ISBN 3-9805635-2-9, S. 322–358 (Archäologische Forschungen in der Pfalz 2). Mathilde Schleiermacher: Der Freskenraum von Nida. Frankfurt 1995, ISBN 3-88270-326-1 (Archäologische Reihe 15). Keramikherstellung Susanne Biegert: Römische Töpfereien in der Wetterau. Frankfurt 1999, ISBN 3-88270-334-2 (Schriften des Frankfurter Museums für Vor- und Frühgeschichte 15) Vera Rupp: Wetterauer Ware. Eine römische Keramik im Rhein-Main-Gebiet. Frankfurt 1988, ISBN 3-7749-2317-5 (Schriften des Frankfurter Museums für Vor- und Frühgeschichte 10). Dendrophorenkeller Peter Fasold: Die Keramik aus dem Dendrophorenkeller von Nida-Heddernheim. In: Saalburg-Jahrbuch 47, 1994, S. 71–78. Münzfunde Helmut Schubert: Die Fundmünzen der römischen Zeit in Deutschland (FMRD) Abt. V: Hessen. Bd. 2, 2: Darmstadt; Frankfurt am Main. Mainz 1989, ISBN 3-7861-1552-4, S. 19–300. Helmut Schubert: Die römischen Fundmünzen aus Nida-Heddernheim. Frankfurt 1984, ISBN 3-88270-301-6 (Archäologische Reihe 2) Mithras Ingeborg Huld-Zetsche: Mithras in Nida-Heddernheim. Frankfurt 1986, ISBN 3-88270-306-7 (Archäologische Reihe 6) Steindenkmäler Walter Meier-Arendt u. a. (Hrsg.): Römische Steindenkmäler aus Frankfurt am Main. Frankfurt 1983 (Archäologische Reihe 1). Forschungsgeschichte Ingeborg Huld-Zetsche: 150 Jahre Forschung in Nida-Heddernheim. In: Nassauische Annalen 90, 1979, S. 5–26. Grabungspublikation der Kastelle durch die Reichs-Limeskommission Georg Wolff: Das Kastell und die Erdlager von Heddernheim. In: Ernst Fabricius, Felix Hettner, Oscar von Sarwey (Hrsg.): Der obergermanisch-raetische Limes des Roemerreiches Abt. B 2,3 Nr. 27 (1915). Nida im 3. Jahrhundert n. Chr. Alexander Reis: Nida-Heddernheim im 3. Jahrhundert n. Chr. Frankfurt 2010, ISBN 978-3-88270-505-8 (Schriften des Archäologischen Museums Frankfurt 24) Publikationen der Ausgrabungsphase 1954 bis 1965 Ulrich Fischer: Grabungen im römischen Steinkastell von Heddernheim 1957–1959. Frankfurt 1973, ISBN 3-7829-0146-0 (Schriften des Frankfurter Museums für Vor- und Frühgeschichte 2). Ulrich Fischer u. a.: Grabungen im römischen Vicus von Nida-Heddernheim 1961–1962. Verlag R. Habelt, Bonn 1998, ISBN 3-7749-2844-4 (Schriften des Frankfurter Museums für Vor- und Frühgeschichte 14). Ältere Untersuchungen, als Gesamtdarstellungen größtenteils veraltet Friedrich Gustav Habel: Die römischen Ruinen bei Heddernheim, In: Nassauische Annalen 1, 1827, S. 45–77. Mitteilungen über römische Funde in Heddernheim Bd. I-VI vom Frankfurter Verein für Geschichte und Landeskunde, 1894–1918. Georg Wolff: Die Römerstadt Nida bei Heddernheim und ihre Vorgeschichte. Jügels-Verlag, Frankfurt am Main 1908. Friedrich Gündel: Nida-Heddernheim. Ein populärwissenschaftlicher Führer durch die prähistorischen und römischen Anlagen im „Heidenfelde“ bei Heddernheim. M. Diesterweg-Verlag, Frankfurt am Main 1913. Karl Woelcke: Der neue Stadtplan von Nida-Heddernheim. In: Germania. Band 22, 1938, S. 161–166, doi:10.11588/ger.1938.39620. Weblinks Archäologisches Forum Nida e. V. in Frankfurt-Heddernheim Dauerausstellung „Römerzeit“ im Archäologischen Museum Frankfurt Fragmente aus Heddernheim: Das Puzzle von Nida Einzelnachweise Archäologischer Fundplatz in Frankfurt am Main Bodendenkmal in Hessen Römischer Vicus Geschichte der Wetterau Kultort der Kybele Frankfurt-Heddernheim Archäologischer Fundplatz (Germania superior) Hauptort einer Civitas in Germanien
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https://de.wikipedia.org/wiki/Notenkrise
Notenkrise
Als Notenkrise wird eine Phase in der Geschichte der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Finnland bezeichnet, die am 30. Oktober 1961 durch eine diplomatische Note der Sowjetunion eingeleitet wurde. Vor dem Hintergrund der internationalen Spannungen der Berlin-Krise und unter Berufung auf den finnisch-sowjetischen Freundschaftsvertrag von 1948 verlangte die Sowjetunion die Aufnahme militärischer Konsultationen zur Abwehr einer erwarteten Aggression des Westens. Durch solche Konsultationen drohte Finnland in einer mit der bisherigen Neutralitätspolitik des Landes unvereinbaren Weise in den Konflikt der Machtblöcke verwickelt zu werden. Der finnische Präsident Urho Kekkonen bereinigte die Krise schließlich unter Einsatz seiner guten persönlichen Beziehungen zum sowjetischen Partei- und Regierungschef Nikita Chruschtschow: In persönlichen Gesprächen beider Männer in Nowosibirsk am 24. November 1961 rückte Chruschtschow von den Konsultationswünschen ab. Zu den Auswirkungen der Notenkrise gehörte es, dass ein gegen die Wiederwahl Kekkonens in den Anfang 1962 anstehenden Wahlen gebildetes Parteienbündnis zerbrach und Kekkonen ungefährdet wiedergewählt wurde. Historisch umstritten ist es, ob und inwieweit die Sowjetunion die Note genau in diesem Sinne zum Zwecke der Einflussnahme auf die finnische Politik einsetzte und ob gar Kekkonen zur Sicherung seiner Wiederwahl mit der sowjetischen Seite konspiriert hatte. Vorgeschichte Den Hintergrund der Notenkrise bildeten im Jahr 1961 zwei voneinander unabhängige Entwicklungslinien, eine in der finnischen Politik, eine in der Weltpolitik. Der seit 1956 amtierende finnische Präsident Urho Kekkonen wurde von der Sowjetunion als Personifizierung der Politik der freundschaftlichen finnisch-sowjetischen Beziehungen angesehen. Kekkonens Wiederwahl in der 1962 anstehenden Präsidentschaftswahl schien allerdings in Gefahr zu geraten, als sich eine breite Koalition von Kekkonen-Gegnern hinter einem gemeinsamen Gegenkandidaten formierte. Gleichzeitig kam es in der internationalen Politik zu einer dramatischen Verschärfung der Spannungen insbesondere um den Status Deutschlands und Berlins. Letzteres konnte trotz der finnischen Neutralitätspolitik für Finnland unmittelbare Auswirkungen haben, da der finnisch-sowjetische Freundschaftsvertrag von 1948 militärische Konsultationen für den Fall vorsah, dass ein Angriff durch Deutschland oder seine Verbündeten drohe. Finnisch-sowjetische Nachkriegsbeziehungen und Freundschaftsvertrag Die finnische Politik gegenüber der Sowjetunion erfuhr nach dem Zweiten Weltkrieg unter Präsident Juho Kusti Paasikivi eine Neuorientierung. Nach Einschätzung Paasikivis war die Unabhängigkeit Finnlands nach dem verlorenen Krieg in Zukunft nicht mehr militärisch zu sichern, sondern nur durch eine Politik der Freundschaft mit dem großen Nachbarn und durch Berücksichtigung von dessen Verteidigungsinteressen. Diese Freundschaftspolitik, auch Paasikivi-Linie genannt, wurde allmählich ergänzt durch das finnische Bestreben, eine Politik der Neutralität zu verfolgen und für diese die Anerkennung beider Machtblöcke zu erhalten. Als die Sowjetunion 1948 Ungarn und Rumänien mit militärischen Kooperationsverträgen eng an sich band, schlug der sowjetische Diktator Josef Stalin einen ähnlichen Vertrag auch der finnischen Regierung vor. In Verhandlungen, an denen Paasikivis späterer Nachfolger Urho Kekkonen entscheidend mitwirkte, einigte man sich auf einen Vertrag, der den strategischen Interessen der Sowjetunion entgegenkam, jedoch nicht ein unmittelbares militärisches Bündnis bedeutete. Der am 6. April 1948 in Moskau unterzeichnete Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitige Hilfeleistung enthielt einen in seinem Anwendungsbereich beschränkten militärischen Teil in den ersten beiden Artikeln. In Artikel 1 verpflichtete sich Finnland, im Falle eines Angriffes „durch Deutschland oder ein anderes mit diesem verbündetes Land“ auf Finnland oder durch das Gebiet Finnlands auf die Sowjetunion den Angriff unter Aufbietung aller Kräfte abzuwehren. Die Sowjetunion verpflichtete sich, „Finnland die erforderliche Hilfe zu leisten, über deren Leistung die Vertragsparteien Einvernehmen herstellen.“ Artikel 2 sah die Möglichkeit militärischer Konsultationen beider Länder vor: Trotz der eingeschränkten Formulierung sorgte der Vertrag für Unruhe in der finnischen Bevölkerung und für fortwährende Unsicherheit darüber, inwiefern er einer glaubwürdigen Neutralitätspolitik im Wege stehen könne. Andererseits stellte der Vertrag die Beziehungen zwischen den beiden Ländern auf eine zuverlässige Grundlage und galt bald als wichtiges Grundelement der finnischen Außenbeziehungen. Juho Kusti Paasikivi wurde 1956 von Urho Kekkonen im Amt des Präsidenten abgelöst. Stärker als Paasikivi entwickelte Kekkonen das Neutralitätselement der finnischen Nachkriegspolitik fort und machte es zum Grundpfeiler seiner Außenpolitik. Gleichzeitig führte er aber auch die Pflege persönlicher Beziehungen als Werkzeug zur Gestaltung der finnisch-sowjetischen Beziehungen ein. Während seiner ersten sechsjährigen Amtszeit knüpfte er enge, oft auch als freundschaftlich bezeichnete Beziehungen zu Nikita Chruschtschow, dem Parteichef der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und ab 1958 auch Ministerpräsident. So wurde Anfang 1959 die so genannte Nachtfrostkrise, welche seit dem Sommer 1958 die Beziehungen belastet hatte, ebenso im persönlichen Gespräch der beiden Spitzenpolitiker überwunden wie 1960 der Widerstand der Sowjetunion gegen die Assoziierung Finnlands mit der EFTA. Position Kekkonens und Wahlkonstellation Kekkonen räumte der Außenpolitik Vorrang vor allen anderen Fragen ein, wobei der Schwerpunkt der Außenpolitik wiederum auf der Pflege der guten Beziehungen zur Sowjetunion lag. In der Zeit der Nachtfrostkrise hatte die finnische Regierung aus einer breiten Koalition von Parteien bestanden, von denen einige dem außenpolitischen Kurs kritisch gegenüberstanden oder von der Sowjetunion jedenfalls so wahrgenommen wurden. Die Regierung stürzte Ende 1958 über den von der Sowjetunion ausgeübten politischen und wirtschaftlichen Druck. Nachfolgend sorgte Kekkonen dafür, dass in der Regierung nur noch Parteien vertreten waren, die „außenpolitisch handlungsfähig“ waren. Es folgte eine Reihe von kurzlebigen Regierungen, die entweder Minderheitsregierungen unter Führung des Landbundes oder reine Beamtenregierungen waren. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 1962 einigten sich die mit Kekkonen unzufriedenen Parteien Anfang 1961 darauf, als gemeinsamen Gegenkandidaten Olavi Honka, Justizkanzler der finnischen Regierung, aufzustellen. Dieser so genannte Honka-Bund bestand aus Parteien, die politisch außer der Gegnerschaft zu Kekkonen wenig verband: die Sozialdemokratische Partei Finnlands, die rechtskonservative Nationale Sammlungspartei, die Schwedische Volkspartei sowie die vom Landbund abgespaltete Finnische Kleinbauernpartei. Kekkonen konnte demgegenüber mit der Unterstützung des Landbundes, der kommunistischen Wahlorganisation Demokratische Union des Finnischen Volkes sowie des von den Sozialdemokraten abgespalteten Sozialdemokratischen Bundes der Arbeiter- und Kleinbauernschaft rechnen. Zudem standen auch die Parteien des Honka-Bundes nicht geschlossen hinter Honka; aus ihren Reihen waren auch Stimmen für Kekkonen zu erwarten. Die Parteien des Honka-Bundes versicherten, dass der Kampf gegen Kekkonen auf rein innenpolitischen Gründen beruhe. Eine Änderung der Außenpolitik Finnlands sei in keiner Weise beabsichtigt. Dagegen wurde in Kreisen finnischer Kommunisten und besonders in der Presse der Sowjetunion bald nach Bildung des Honka-Bundes die Auffassung vertreten, dass dessen Hauptziel „aller Maskierung zum Trotz“ die Änderung der außenpolitischen Richtung des Landes sei. Die sowjetischen Diplomaten in Helsinki machten aus ihrer Ablehnung kein Geheimnis und verweigerten demonstrativ jeden Kontakt zu Olavi Honka. Internationale Spannungen und Berlin-Krise Im Sommer und Herbst 1961 erfuhren die Spannungen zwischen den Blöcken des Kalten Krieges eine dramatische Zuspitzung. Die seit 1958 schwelende Berlin-Krise war Gesprächsthema beim Treffen Nikita Chruschtschows mit dem neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten John F. Kennedy in Wien im Juni 1961. Chruschtschow verlangte erneut den Abschluss eines Friedensvertrages für Deutschland und in diesem Zusammenhang die Beseitigung des Sonderstatus Berlins. Die Bundesrepublik Deutschland habe, so Chruschtschow, das Fehlen einer Friedensregelung genutzt, um sich zu bewaffnen und eine führende Rolle in der NATO einzunehmen, wodurch die Gefahr eines neuen Weltkrieges zunehme. Chruschtschow drohte, dass die Sowjetunion, wenn die Westmächte einer Gesamtregelung nicht zustimmen, spätestens im Dezember einseitig einen Friedensvertrag mit der DDR abschließen werde. Kennedy erklärte in einer Fernsehansprache im Juli, dass der Status Berlins nicht verhandelbar sei. Gleichzeitig ergriffen beide Seiten Maßnahmen zur Verstärkung ihrer Streitkräfte. Als unter dem Eindruck der eskalierenden Spannung immer mehr Menschen aus der DDR nach West-Berlin strömten, errichtete die Nationale Volksarmee am 13. August an der Grenze Absperrungen, die später zur Berliner Mauer ausgebaut wurden. Die Vereinigten Staaten verstärkten ihre militärische Präsenz in Berlin deutlich, die Sowjetunion drohte mit Luftblockaden und nahm am 1. September eine Reihe von Kernwaffentests auf. Zur direkten Konfrontation zwischen amerikanischen und sowjetischen Truppen kam es am 27. Oktober am Checkpoint Charlie, als sich jeweils zehn Kampfpanzer der amerikanischen und sowjetischen Armee unmittelbar am Grenzstrich gegenüber aufbauten. Erst nach 16-stündigem Nervenkrieg wurden beide Panzergruppen wieder zurückgezogen. Verlauf der Notenkrise Die Sowjetunion übermittelte Finnland am 30. Oktober 1961 eine diplomatische Note, in welcher sie unter Bezugnahme auf die internationale Lage und aggressive militärische Absichten der Bundesrepublik Deutschland die Aufnahme militärischer Konsultationen zwischen beiden Ländern verlangte. Die Note löste in Finnland tiefe Sorge darum aus, ob sich das Land weiter im Rahmen der Neutralität aus den Interessengegensätzen der Großmächte fernhalten könne. Präsident Kekkonen bemühte sich einerseits zu betonen, dass Finnland die Krise ohne Hilfe von außen bewältigen müsse, andererseits die Gespräche von der militärischen auf die politische Ebene zu überführen. Nachdem erste politische Gespräche den Eindruck vermittelten, dass es der Sowjetunion in erster Linie darum gehe, Sicherheit über die Fortsetzung des außenpolitischen Kurses Finnlands zu erhalten, löste Kekkonen das Parlament auf und setzte Neuwahlen an. Als die Sowjetunion dennoch an der Forderung nach Konsultationen festhielt, reiste Kekkonen schließlich zu persönlichen Verhandlungen mit Chruschtschow in die Sowjetunion. In diesen Gesprächen rückte Chruschtschow am 24. November von der Konsultationsforderung ab. Die Note vom 30. Oktober 1961 Am 28. Oktober 1961, als sich die Panzer in Berlin noch gegenüberstanden, nahm das Außenministerium der Sowjetunion Kontakt mit dem finnischen Botschafter Eero Wuori auf und lud ihn für den kommenden Montagmorgen, den 30. Oktober, zum Gespräch. In diesem Treffen übergab Außenminister Andrei Gromyko Wuori eine Note an die Regierung Finnlands. Das zehnseitige Dokument behandelte detailliert die vom „Militarismus und Revanchismus“ der Bundesrepublik Deutschland ausgehenden Gefahren insbesondere im Ostseeraum. Die Bundesrepublik habe wieder eine starke Armee gebildet und deren Führung mit den „Generalen Hitlers“ besetzt. Unter dem Banner der NATO strebe sie nach der Kontrolle über Atomwaffen. Im Norden habe die Bundeswehr ihren Einflussbereich auf Dänemark und Norwegen ausgedehnt, wo ihr bereits Stützpunkte überlassen worden seien. Der Schwerpunkt der Bundesmarine habe sich in den Ostseeraum verlagert, nachdem deren Hauptquartier von der Nordsee nach Flensburg verlegt worden sei. Die Note fuhr fort, dass die Westmächte die gefährlichen Bestrebungen Westdeutschlands wissentlich oder ungewollt förderten, indem sie eine abschließende Friedensregelung der Verhältnisse Deutschland mitsamt Anerkennung der Grenzen beider deutscher Staaten verweigerten. Auch in der Presse Finnlands würden entgegen der offiziellen Außenpolitik des Landes Ansichten verbreitet, welche die Kriegsvorbereitungen der NATO-Staaten unterstützten. Die Sowjetunion, so hieß es in der Note, habe Maßnahmen ergriffen, um die eigene Verteidigungsbereitschaft und die ihrer Verbündeten zu erhöhen. Die beschriebenen Vorgänge beträfen die Sicherheit Finnlands ebenso wie die der Sowjetunion. Der eigentliche Zweck der Note folgte im Schlussabsatz: Erste Reaktionen Für die politische Führung Finnlands stellte das Verlangen nach militärischen Konsultationen keine vollkommene Überraschung dar. Bereits im Sommer hatte Botschafter Wuori in einem Bericht die Einschätzung geäußert, dass, wenn die Sowjetunion die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland nicht aufhalten könne, sie eine Isolierung und Verurteilung Westdeutschlands in der internationalen Öffentlichkeit anstreben werde. Dabei werde sie Stellungnahmen insbesondere von den neutralen Staaten verlangen. Die Führung der finnischen Armee hatte Anfang August 1961 eine Zuspitzung der internationalen Krise bis an die Schwelle des Krieges vorausgesagt und angenommen, die Sowjetunion werde von Finnland Konsultationen aufgrund des Freundschaftsvertrages verlangen. So waren auch bereits konkrete Vorbereitungen für den Fall getroffen worden, dass es zu solchen Konsultationen tatsächlich kommen sollte. Für die breite Öffentlichkeit stellte die Entwicklung dagegen einen Schock dar. Die Note brachte die ungesicherte Position Finnlands in der internationalen Politik in das Bewusstsein der Allgemeinheit. Viele fühlten sich an die Vorgänge im Herbst 1939 erinnert, als die Sowjetunion ebenfalls unter Hinweis auf die angespannte internationale Lage und ihre Verteidigungsinteressen Verhandlungen gefordert hatte. Als diese Verhandlungen nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht hatten, hatte die Sowjetunion zur militärischen Option gegriffen und den Winterkrieg begonnen. Das durch die Assoziation mit 1939 bewirkte Drohszenario wurde verstärkt durch die Tatsache, dass die Sowjetunion am gleichen Tag, an dem sie dem finnischen Botschafter die Note übergab, einen ungewöhnlich starken Kernwaffentest (Zar-Bombe) mit einer Sprengkraft von etwa 60 Megatonnen durchführte. Für die Außenpolitik Finnlands stand vor allem die Glaubwürdigkeit der Neutralitätspolitik auf dem Spiel. Das Eintreten in militärische Konsultationen hätte nicht nur den Anschein eines militärischen Bündnisses mit der Sowjetunion erweckt, sondern Finnland hätte sich indirekt auch hinter die in der Note vorgebrachten Einschätzungen zur Rolle und zu den Bestrebungen der Bundesrepublik Deutschland und der NATO gestellt. Die Führungsperson der finnischen Außenpolitik, Präsident Urho Kekkonen, befand sich zu dieser Zeit auf Staatsbesuch in den Vereinigten Staaten, der auf einer im April ausgesprochenen Einladung beruhte und den er am 16. Oktober angetreten hatte. Die politischen Gespräche, insbesondere mit Präsident John F. Kennedy, waren am 30. Oktober bereits beendet und Kekkonen befand sich zur Erholung auf Hawaii. Nachdem die Nachricht von der Note eingetroffen war, ordnete Kekkonen die sofortige Rückkehr von Außenminister Ahti Karjalainen an. Er selbst entschloss sich, sein Besuchsprogramm wie geplant fortzusetzen. So hatte Kekkonen am 1. November Gelegenheit, seine erste öffentliche Stellungnahme zur Note bei seiner Rede vor dem World Affairs Council in Los Angeles abzugeben. Kekkonen hob hervor, dass die Note keine neuen Elemente in die Beziehungen zwischen Finnland und der Sowjetunion einführe. Sie sei ein Abbild des in Europa herrschenden schwerwiegenden Spannungszustandes. Kekkonen versicherte, dass Finnland seine Neutralitätspolitik auch in Zukunft fortsetzen werde, ohne dabei irgendwelche Hilfe von außen in Anspruch zu nehmen. Eingehender bezog Kekkonen nach seiner Rückkehr nach Finnland in seiner Radioansprache am 5. November Stellung. In ihr bemühte er sich, den Schwerpunkt der Krise von der militärischen auf die politische Ebene zu verlagern. Hinsichtlich ersterer vermied er jede Stellungnahme zur Frage, ob die im Freundschaftsvertrag niedergelegten Voraussetzungen für Konsultationen, also die Gefahr eines Angriffs durch Deutschland oder seine Verbündeten, gegeben seien. Auf der politischen Ebene hob er die in der Note enthaltene Anerkennung der außenpolitischen Linie Finnlands hervor und vertrat den Standpunkt, dass es in der Note erstrangig um die Frage des fortgesetzten Vertrauens in diese Linie gehe. Reaktionen des Westens In der Bundesrepublik Deutschland, die nach dem Wortlaut der Note deren eigentlicher Auslöser war, konzentrierten sich die offiziellen Reaktionen zunächst darauf, die in der Note enthaltenen Vorwürfe zu entkräften. Die besondere Sorge der Bundesregierung bestand darin, dass Finnland auf Druck der Sowjetunion die Deutsche Demokratische Republik anerkennen oder mit ihr einen Friedensvertrag schließen könnte. Dies wäre die erste Anerkennung aus einem nichtsozialistischen Land gewesen und hätte die Beständigkeit der Hallsteindoktrin in Frage gestellt. Bundeskanzler Konrad Adenauer hielt die Note an Finnland jedoch nicht für ein isoliertes Ereignis, sondern sah sie als Teil einer ganzen Reihe von propagandistischen „Donnerkeilen“ der Sowjetunion gegen den Westen an. In den Vereinigten Staaten verfasste Außenminister Dean Rusk noch vor der Abreise Kekkonens eine erste Einschätzung der Situation, die auch an die wichtigsten Verbündeten verteilt wurde. Die Sowjetunion verfolge mit der Note drei Hauptziele: ihren Einfluss auf die finnische Innenpolitik zu sichern; die Widerstandskraft der skandinavischen Länder zu schwächen, indem der Anschein erweckt wird, die Bundesrepublik Deutschland stelle eine Bedrohung für den Status quo im Norden dar; sowie die Entschlossenheit der „freien Welt“ zu schwächen und den Druck in den Verhandlungen um den Status Berlins zu erhöhen. In der Öffentlichkeit agierten die Vereinigten Staaten zunächst zurückhaltend. Gleichzeitig bereiteten sie sich aber auf ein Eingreifen der NATO vor. Am 3. November schlugen sie den Verbündeten eine offizielle Stellungnahme der NATO vor. Vertreter der Bundesrepublik Deutschland und Italiens sprachen sich für eine politische Intervention der NATO aus. Dänemark und Norwegen standen einem Eingreifen der NATO dagegen reserviert gegenüber. In der Sitzung des Nordatlantikrats am 8. November wurde die Entscheidung vertagt. Die finnische Regierung reagierte auf diese Vorstöße schroff ablehnend. Kekkonen wies den Botschafter in Paris am 9. November an mitzuteilen, dass Finnland jedes Eingreifen der NATO, in welcher Form auch immer, als Bärendienst ansehen würde. Schließlich blieb die NATO in der Angelegenheit passiv. Die Vereinigten Staaten unternahmen dagegen noch mehrere Versuche, Finnland zu einer unnachgiebigen Haltung gegenüber den Forderungen der Sowjetunion zu ermutigen. Dabei boten sie politische und wirtschaftliche Unterstützung an, was die finnische Seite jeweils unter Hinweis darauf ablehnte, dass Finnland seine Beziehungen zur Sowjetunion selbst pflegen können müsse. Politische Gespräche Wie bereits in seiner Radioansprache verfolgte Kekkonen auch in den weiteren Bemühungen um die Bewältigung der Krise die Grundstrategie, militärische Themen zu vermeiden und auf die politische Ebene auszuweichen. In politischen Gesprächen sollte herausgefunden werden, welche Ziele die Sowjetunion im Verhältnis zu Finnland wirklich verfolgte. Ebenso strebte Kekkonen nach Aufklärung der Frage, ob die Note in Wirklichkeit in erster Linie als Angriff auf die NATO, Dänemark und Norwegen zu verstehen sei, wie er vermutete. Außenminister Karjalainen wandte sich am 7. November an die sowjetische Botschaft in Helsinki und bat um ein Treffen mit seinem sowjetischen Amtskollegen Gromyko. Dieser teilte mit, dass Karjalainen in Moskau willkommen sei, und so traf dieser am 11. November in der sowjetischen Hauptstadt ein. Im Gespräch schlug Karjalainen unter Berufung auf die guten Beziehungen zwischen beiden Ländern vor, dass die militärischen Konsultationen aufgeschoben und vorläufig nur politische Gespräche geführt würden. Gromyko stellte fest, dass Militärkreise der Sowjetunion bereits länger Konsultationen gefordert hätten. Bisher seien diese Bestrebungen aber abgewehrt worden, weil die Sowjetunion vollkommen auf Präsident Kekkonen und die außenpolitische Richtung Finnlands vertraue. Nun sei die politische Lage in Finnland aber instabil geworden. Es habe sich „eine gewisse politische Gruppierung“ gebildet, deren Ziel es sei, die Fortsetzung des außenpolitischen Kurses zu verhindern. Karjalainen versicherte Gromyko, dass das finnische Volk einmütig hinter der offiziellen Außenpolitik stehe. Dies hielt Gromyko jedoch für bedeutungslos. Er hob hervor, dass die sowjetische Regierung möglichst bald Sicherheit erlangen müsse, dass der Kurs gehalten wird. Dies könne nicht warten, bis die Präsidentschaftswahl und die für den kommenden Sommer angesetzte Parlamentswahl durchgeführt worden sind. Auflösung des Parlaments Unmittelbar nach der Rückkehr Karjalainens beschloss Kekkonen am 14. November die Auflösung des Parlaments und Ansetzung von Neuwahlen für den frühestmöglichen Termin am 4. und 5. Februar 1962. Er begründete diesen Schritt damit, dass auf diese Weise der Sowjetunion die gewünschte rasche außenpolitische Sicherheit verschafft werden solle. Später stellte Kekkonen fest, dass mit der Auflösung des Parlaments auch Zeit gewonnen werden sollte. Nach den Wahlen könnte die internationale Lage schon wieder günstiger sein, schätzte Kekkonen. Gleichzeitig verstand Kekkonen die vorzeitige Neuwahl aber auch als Mittel, den Honka-Bund zu schwächen und seine eigene Wiederwahl zu fördern. Die Parlamentswahl fiel nunmehr in die Zeit unmittelbar nach der Wahl zum Wahlmännergremium. Dies zwang die Parteien des Honka-Bundes, gleichzeitig Wahlkampf mit- und gegeneinander zu führen. Diese Strategie war für Kekkonen kein neuer Gedanke. Bereits am 18. April 1961, kurz nach der Bildung des Honka-Bundes, war Kekkonen in seiner Amtswohnung mit seinen engsten Vertrauten, Ahti Karjalainen, Vieno Sukselainen und Arvo Korsimo zusammengetroffen und hatte sich mit ihnen darauf verständigt, dass das Parlament im Herbst aufgelöst und die Neuwahl auf den 4. und 5. Februar 1962 angesetzt werden solle. Soweit die Entscheidung die rasche Beendigung der Notenkrise bezweckte, schlug der Versuch fehl. Botschafter Wuori informierte den sowjetischen Vizeaußenminister Vasili Kusnezow am 15. November von der Parlamentsauflösung. Er erkundigte sich zugleich, ob der Konsultationsvorschlag damit als erledigt angesehen werden könne. Am folgenden Tag rief Kusnezow Wuori zu sich und erklärte, dass die Lage in Nordeuropa und im Ostseeraum sich noch weiter zugespitzt habe und dass eine unmittelbare Bedrohung für die Sicherheit der Sowjetunion und Finnlands bestehe. Der Minister berief sich auf die verstärkte Aktivität der „deutschen Militaristen“, das Vorantreiben der gemeinsamen Militärvorhaben der Bundesrepublik und Dänemark sowie die Reise des westdeutschen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß nach Oslo. Die Konsultationen seien nun „äußerst unerlässlich“. In den darauf folgenden Beratungen in Helsinki vertrat Kekkonen die Ansicht, die Aufnahme der militärischen Verhandlungen sei nur zu verhindern, indem er persönlich an den Ministerpräsidenten und Parteichef Chruschtschow appelliere. Die Regierung ersuchte Kekkonen am 18. November förmlich, in die Sowjetunion zu reisen und mit Chruschtschow zu verhandeln. Zwei Tage später willigte Moskau in das Treffen ein. Chruschtschow befand sich zu diesem Zeitpunkt in Sibirien auf einer großangelegten Reise zur Inspektion der Lage der Landwirtschaft. So sollte die Begegnung im sibirischen Nowosibirsk stattfinden. Kekkonen reiste am 22. November ohne formelle Reisezeremonien ab. Kekkonen und Chruschtschow in Nowosibirsk Urho Kekkonen erreichte Moskau mit dem Zug am Morgen des 23. November. Von dort reiste er mit dem Flugzeug weiter und kam am Abend örtlicher Zeit in Nowosibirsk an. Nikita Chruschtschow reiste am folgenden Morgen mit dem Zug aus Zelinograd an. Die Gespräche mit Kekkonen begannen bereits eine Stunde später zunächst mit Vieraugengesprächen, die eine gute Stunde in Anspruch nahmen. Über den Inhalt stehen der Geschichtswissenschaft bis heute keine schriftlichen Dokumente zur Verfügung. Kekkonen selbst machte keine Notizen und erstellte auch nachträglich keinen schriftlichen Bericht. Ob auf sowjetischer Seite Berichte angefertigt wurden, ist unbekannt. Jedenfalls sind diese bisher nicht aufgetaucht. Über die Gründe für das Fehlen finnischer Aufzeichnungen wird spekuliert; offizielle Erklärungen dazu liegen nicht vor. Zum einen wurde in diesem Zusammenhang die These aufgestellt, Kekkonen habe sich während des Gesprächs ganz auf die Kommunikation mit Chruschtschow konzentrieren müssen. Die Kommunikation sei besonders schwierig gewesen, weil als Dolmetscher der in dieser Hinsicht unerfahrene Diplomat Wladimir Schenichow fungierte. Spätere Aufzeichnungen seien nicht möglich gewesen, weil die Gespräche im Anschluss sofort in größerer Runde weitergeführt wurden. Schließlich seien die Gegenstände der Gespräche wahrscheinlich im Wesentlichen die gleichen gewesen wie in den Folgegesprächen. Andere Autoren sehen im Fehlen von Aufzeichnungen und offiziellen Erklärungen ein Indiz dafür, dass die Geschehnisse in Nowosibirsk, ebenso wie die Notenkrise im Ganzen, eine einvernehmliche Inszenierung von Kekkonen und Chruschtschow darstellten. Die Gespräche wurden nach Hinzuziehung der Delegationen beider Seiten fortgesetzt. In dieser Runde ergriff Kekkonen als erster das Wort. Er erklärte, in Finnland gehe man davon aus, dass im Hintergrund der Note die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion stehen und es nicht beabsichtigt sei, die guten Beziehungen zwischen beiden Ländern zu verändern. Er schlug vor, dass die Sowjetunion von den vorgeschlagenen militärischen Konsultationen absehe. Die Note habe die Stimmung in den Nordischen Ländern aufgeheizt und in der Folge verbreite sich eine offensichtliche Kriegspsychose. Eine solche Entwicklung könne nur zu einer weiteren Aufrüstung führen. Ein Absehen von den Konsultationen könne dagegen die Stimmung beruhigen. Die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion seien durch die von Finnland verfolgte Neutralität sowie die guten Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Finnland gesichert. Kekkonen berief sich auch auf den propagandistischen Wert dieser guten Beziehungen für die von Chruschtschow angestrebte friedliche Koexistenz. In seiner Antwort ging Chruschtschow zunächst ausführlich auf die angespannte internationale Sicherheitslage ein. Schließlich kam er auf Kekkonens Vorschlag zu sprechen und erklärte, die vorgetragenen Gründe seien schwerwiegend und er habe Verständnis für sie. Das Vertrauen in die Beurteilung durch Kekkonen besonders betonend stimmte er dem Vorschlag zu: Einer völligen Aufgabe der Konsultationen wollte Chruschtschow nicht zustimmen, sondern schlug vor, von einer Verschiebung zu sprechen. Die Möglichkeit der Wiederaufnahme der Konsultationen erhielt in der am gleichen Tag veröffentlichten gemeinsamen Erklärung eine Formulierung, die weithin so interpretiert wurde, dass Finnland die Rolle eines „Wachhundes“ spielen sollte: In seiner Tischrede beim anschließenden Mittagessen ging Chruschtschow auch auf die Lage in Finnland ein. Er stellte fest, dass es in der angespannten Lage für die Sowjetunion notwendig sei, dass über die Fortsetzung der Paasikivi-Kekkonen-Linie Finnlands große Sicherheit bestehe. Diese Linie genieße das volle Vertrauen der Sowjetunion. Nachdem die drohenden militärischen Konsultationen somit abgewendet waren, kehrte Kekkonen am 26. November 1961 nach Finnland zurück. Am Grenzbahnhof in Vainikkala wurde er von Hunderten, am Hauptbahnhof von Helsinki von fast zehntausend Menschen empfangen. Auswirkungen und Deutungen Das gegen Urho Kekkonens Wiederwahl gerichtete Parteienbündnis zerfiel während der Notenkrise rasch. Kekkonen wurde schließlich ungefährdet wiedergewählt. Die Frage, ob genau dies eines der Ziele oder gar das zentrale Motiv für die sowjetische Note gewesen war, war und ist Gegenstand kontroverser historischer Debatten. Teilweise ist auch die Auffassung vertreten worden, dass Kekkonen von der Note im Voraus gewusst oder diese sogar „bestellt“ habe, um seine Wiederwahl zu sichern. Jedenfalls etablierte die Krise Kekkonen als unbestrittene Führungspersönlichkeit der finnischen Außenpolitik, stellte aber gleichzeitig für die Glaubwürdigkeit der finnischen Neutralität eine Belastung dar. Zerfall des Honka-Bundes Bereits unmittelbar nach Eintreffen der Note wurden im Umfeld des Honka-Bundes erste Stimmen laut, dass in der neuen Situation die Einstellung zu einer Wiederwahl Kekkonens möglicherweise überdacht werden müsse. Nach den Gesprächen zwischen Karjalainen und Gromyko in Moskau nahm dieser Prozess weitere Fahrt auf. Am 18. November 1961 erklärte der Vorsitzende der Kleinbauernpartei Veikko Vennamo, dass eine Unterstützung Kekkonens möglich sei. Am 22. November erklärten die Vertreter der Sammlungspartei und der Schwedischen Volkspartei in der Sitzung des Organisationskomitees des Honka-Bundes, dass sie sich in naher Zukunft von dem gemeinsamen Vorhaben lösen würden. Am 23. November schlug der sozialdemokratische Parlamentspräsident Karl-August Fagerholm in einem offenen Brief vor, dass die hinter Honka stehenden Gruppierungen von der Wahl zum Wahlmännergremium absehen sollten und die Amtszeit Kekkonens stattdessen durch ein Ausnahmegesetz verlängert werden solle. Am Abend des 24. November gab die Finnische Volkspartei bekannt, dass sie von Honka abrücke, und forderte ihre Anhänger zur Unterstützung Kekkonens auf. Die Schwedische Volkspartei löste sich am gleichen Abend ebenfalls von Honka und neigte zur von Fagerholm vorgeschlagenen Lösung per Ausnahmegesetz. Um 23 Uhr am selben Abend erklärte Olavi Honka, „zum Wohle des Vaterlandes“ von seiner Kandidatur abzusehen. Die Parteien des Honka-Bundes mussten sich nun kurz vor der anstehenden Wahl neu orientieren. Beide Volksparteien stellten sich hinter eine Wiederwahl Kekkonens. Die Sammlungspartei sah sich zu einer offenen Unterstützung Kekkonens nicht in der Lage, da in diesem Fall viele Wähler der Partei den sozialdemokratischen Kandidaten gewählt oder von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch gemacht hätten. Sie ging deshalb ohne Benennung eines Kandidaten in die Wahl zum Wahlmännergremium. In der eigentlichen Präsidentenwahl stimmten die Wahlmänner der Sammlungspartei jedoch für Kekkonen. Die Sozialdemokraten, die sich entgegen dem Vorschlag Fagerholms für ein Ausnahmegesetz nicht erwärmen konnten, einigten sich schließlich auf Rafael Paasio als eigenen Kandidaten. Urho Kekkonen wurde schließlich ungefährdet für eine zweite Amtszeit als Präsident der Republik bestätigt. Er erhielt im Wahlmännergremium bereits im ersten Wahlgang 199 der 300 Stimmen und damit die erforderliche absolute Mehrheit. Kekkonens Wiederwahl als Motiv der Note? In der Nachschau ist viel spekuliert worden, ob die Aufgabe des Honka-Projektes Vorbedingung oder zumindest tatsächlicher Anstoß für das Einverständnis der Sowjetseite war, die Konsultationen zu verschieben. Der endgültige Rückzug Honkas erfolgte ebenso wie die vorausgegangene Distanzierung der Volksparteien von Honka erst, als die Gespräche in Nowosibirsk bereits beendet waren. Andererseits war der Zerfallsprozess bereits vorher zu beobachten, und auch die Umfragewerte der Parteien des Honka-Bundes ließen für Honka kaum Hoffnung. Unumstritten ist, dass die sowjetische Seite allgemein bestrebt war, die Kontinuität der sowjetfreundlichen finnischen Außenpolitik zu sichern, und dass Urho Kekkonen für die Sowjetunion als Personifikation dieser Außenpolitik galt. Ob und inwieweit das Einwirken auf die politische Situation in Finnland zu den mit der Note verfolgten Motiven der sowjetischen Führung gehörte, zählt hingegen zu den zentralen historischen Streitfragen im Zusammenhang mit der Notenkrise. Kekkonen-Biograf Juhani Suomi sieht die Motive in erster Linie außerhalb Finnlands. Ganz im Vordergrund sieht er die aufrichtige und nachhaltige Sorge um das militärische Erstarken der Bundesrepublik Deutschland und um deren militärische Zusammenarbeit mit den nordischen NATO-Mitgliedern Dänemark und Norwegen. Die Note sei in erster Linie als Botschaft an den Westen zu verstehen. Eine zweite Ursachengruppe erkennt er in der sowjetischen Innenpolitik. Die militärische Führung habe bereits seit längerer Zeit die stärkere militärische Anbindung Finnlands gefordert. Die Entstehung der Note sei auch im Zusammenhang mit dem vom 17. bis zum 31. Oktober 1961 abgehaltenen 22. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion zu verstehen, auf welchem Chruschtschow sich Angriffen des Molotow-Flügels ausgesetzt gesehen habe. Der Balanceakt Chruschtschows auf dem Parteitag habe ihn, welcher der Note selbst distanziert gegenübergestanden sei, zu Zugeständnissen genötigt. Die finnische Politik habe bei der Entstehung der Note keine Rolle gespielt und der Finnland betreffende kurze Abschnitt sei überhaupt erst auf Drängen der finnischen Kommunisten in den Text aufgenommen worden. Der Historiker Hannu Rautkallio, der in der gesamten Notenkrise eine gemeinsame Inszenierung durch Kekkonen und den KGB erkennt, stellt die Glaubwürdigkeit der Behauptung Gromykos in Frage, die Einleitung militärischer Konsultationen sei durch militärische Kreise der Sowjetunion seit langem gefordert worden. In den Unterlagen des sowjetischen Außenministeriums zur Notenkrise befänden sich keine Dokumente aus Militärkreisen. Das Militär habe in der Sowjetunion auch im Allgemeinen nicht eine Position gehabt, die es ermöglicht hätte, die Partei unter Druck zu setzen. Vielmehr sei die Sicherung der Position Kekkonens und die Zerschlagung des Honka-Bundes das eigentliche Motiv der Note gewesen. Diese sei seit Monaten vorbereitet gewesen und dann nur zufällig zeitlich mit dem 22. Parteitag und der Berlinkrise zusammengefallen. Im Spannungsfeld zwischen diesen Auslegungen hat sich in der Mehrzahl der historischen Veröffentlichungen in Finnland die Auffassung durchgesetzt, dass die Einflussnahme auf die finnische Präsidentenwahl zumindest eines von mehreren Motiven der Sowjetführung gewesen sei. Die Note habe wahrscheinlich ein Bündel von Zielen verfolgt. Welche Bedeutung das finnische Ziel für diesen „Mehrfachsprengkopf“ gehabt hat, bleibt dagegen von der persönlichen Interpretation abhängig und umstritten. Konspirationsthesen Ausgehend von der Möglichkeit, dass es zu den zentralen Motiven der sowjetischen Regierung gehörte, Urho Kekkonens Wiederwahl zu sichern, wurden und werden immer wieder auch Thesen vertreten, nach denen Kekkonen bereits vor Beginn der Krise von der Note gewusst oder diese sogar mit der sowjetischen Seite abgesprochen oder sie von dort „bestellt“ habe. Diesbezügliche Andeutungen wurden bereits bald nach der Krise verbreitet. Väinö Tanner, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei, erklärte im Januar 1962 in Parteikreisen, die Note beruhe auf „von hier aus geäußerten Wünschen“. Tuure Junnila, einer der Protagonisten des Honka-Bundes, veröffentlichte im April 1962 eine Nachbetrachtung zur Notenkrise. Ohne konkretere Einzelheiten zu nennen, berichtete Junnila über Fälle, in denen „die wenigen zum inneren Machtzirkel Gehörenden in verschiedenen Zusammenhängen zu verstehen gegeben haben, dass vor den Präsidentschaftswahlen etwas so Entscheidendes geschehen würde, das die Wahlen mit Sicherheit zugunsten von Präsident Kekkonen wendet.“ In der späteren Geschichtsschreibung profilierte sich auf diesem Gebiet vor allem der zuvor erwähnte Hannu Rautkallio, der in mehreren Werken leidenschaftlich die These vertritt, Kekkonen habe die finnische Außenpolitik durchgängig primär als verlängerter Arm des KGB gestaltet. Die Notenkrise habe Kekkonen gemeinsam mit der sowjetischen Führung bis ins Detail geplant. Die Reise nach Nowosibirsk sei dagegen eine inhaltlich bedeutungslose politische Inszenierung gewesen. Unter den bekannten äußeren Umständen finden die Konspirationsthesen am ehesten eine Stütze darin, dass Kekkonen bereits im April 1961 für den Herbst aus wahltaktischen Erwägungen die Auflösung des Parlaments erwog und die Notenkrise sodann genau zum richtigen Zeitpunkt dafür eine solide Begründung bot. Im Übrigen kann nur auf Indizien zurückgegriffen werden, die jeweils Spielraum für Interpretation lassen. So fand Kekkonen in seiner Unterkunft in Nowosibirsk eine neuerrichtete Sauna vor, deren eilige Errichtung bereits etwa zwei Wochen zuvor angewiesen worden war. Dies belegt, dass die sowjetische Seite einen Besuch Kekkonens bereits erwartete, bevor dieser offiziell vereinbart worden war. Offen bleibt, ob dies Teil eines gemeinsamen Gesamtplans war oder, wie Juhani Suomi annimmt, Ausdruck dessen, dass die Sowjetseite beschlossen hatte, aus der Note den größtmöglichen propagandistischen Nutzen zu ziehen. An direkten Beweisen dafür, dass Kekkonen von der Note bereits vor deren Absendung wusste oder diese sogar gemeinsam mit der sowjetischen Seite geplant hatte, fehlt es nach wie vor. Auch Rautkallio stellt fest, dass der unzweifelhafte Beweis des Anteils Kekkonens bisher nicht gefunden ist. Juhani Suomi wirft den Vertretern dieser These dagegen vor, bewusst die Augen vor den Umständen zu verschließen, die gegen ihre Auffassung sprechen. So sei es schwer nachvollziehbar, warum Kekkonen bewusst Maßnahmen ergriffen hätte, die seine im gleichen Jahr unternommenen groß angelegten Bemühungen zur Festigung des Bildes der finnischen Neutralität untergraben. Außenpolitische Stellung Finnlands Urho Kekkonen ging aus der Notenkrise als unumstrittene Führungspersönlichkeit der finnischen Außenpolitik hervor. Seine sowjetischen Gesprächspartner hatten das Ablassen von der Forderung nach militärischen Konsultationen ausdrücklich mit ihrem persönlichen Vertrauen in den Präsidenten begründet. In den Folgejahren verdichtete sich zunehmend der Eindruck, dass Kekkonen als Garant der Neutralitätspolitik nach Osten unverzichtbar sei, ein Umstand, der entscheidend zu seiner langen, bis 1982 dauernden Amtszeit beitrug. Die Formulierung der gemeinsamen Erklärung von Nowosibirsk schrieb Finnland die Aufgabe zu, die Entwicklung im Norden zu beobachten und gegebenenfalls Vorschläge an Moskau heranzutragen. Die finnische Außenpolitik ging bald dazu über, dies so zu interpretieren, dass das Initiativrecht für die Einleitung von militärischen Konsultationen gemäß dem Freundschaftsvertrag auf Finnland übergegangen sei. Die Sowjetunion erkannte diesen Standpunkt nie an, jedoch blieb die Notenkrise tatsächlich der einzige Fall der offiziellen Forderung nach Konsultationen. Gegenüber dem Westen stellte die Krise die finnische Neutralitätspolitik, die gerade erst während der Besuche Kekkonens in London und Washington Anerkennung gefunden hatte, vor ein Glaubwürdigkeitsproblem. Das Außenministerium der Vereinigten Staaten gab bald nach Ende der Krise die Einschätzung zu erkennen, dass jederzeit mit neuen sowjetischen Maßnahmen und Einmischungen gegenüber Finnland zu rechnen sei. Nach amerikanischer Einschätzung habe die Krise die finnische Neutralität in Frage gestellt und müsse Finnland nun geholfen werden, sich von der sowjetischen Umklammerung zu lösen. Im Februar und März 1962 versuchten amerikanische Diplomaten, die anderen Nordischen Länder zu Stützungsmaßnahmen für Finnland zu bewegen. Diese lehnten mit der Begründung ab, dass solche Maßnahmen Finnland mehr schaden als nützen würden. Die Notenkrise brachte die verletzliche Stellung Finnlands und die Möglichkeiten der Sowjetunion, Einfluss auf die politische Situation Finnlands zu nehmen, in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Sie bildete einen wichtigen Hintergrund für die westliche Auffassung von der Sonderstellung Finnlands, die später im gleichen Jahrzehnt oft abwertend als Finnlandisierung bezeichnet wurde. Literatur Lauri Haataja: Kekkosen aika, in: Jukka Tarkka (Hrsg.): Itsenäisen Suomen historia 4, Weilin + Göös, Vantaa, 1992, ISBN 951-35-5161-X, S. 11–101. (zitiert: Haataja). Tuure Junnila: Noottikriisi tuoreeltaan tulkittuna. WSOY, Helsinki, 1962 (zitiert: Junnila). Hannu Rautkallio: Novosibirskin lavastus. Noottikriisi 1961. Tammi, Helsinki 1992, ISBN 951-31-0023-5 (zitiert: Rautkallio). Esa Seppänen: Miekkailija vastaan tulivuori. Urho Kekkonen ja Nikita Hruštšev 1955–1964. Tammi, Helsinki 2004, ISBN 951-31-2628-5 (zitiert: Seppänen). Juhani Suomi: Kriisien aika. Urho Kekkonen 1956–1962. Otava, Helsinki 1992, ISBN 951-1-11580-4 (zitiert: Suomi). Einzelnachweise Kalter Krieg Finnische Geschichte (20. Jahrhundert) Außenpolitik (Sowjetunion) Finnisch-sowjetische Beziehungen Nikita Sergejewitsch Chruschtschow
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https://de.wikipedia.org/wiki/Permissive%20Action%20Link
Permissive Action Link
Permissive Action Link (PAL) ist die Bezeichnung einer US-amerikanischen Sicherheitsvorrichtung für Atomwaffen, die deren ungewollte Detonation bei Unfällen oder Missbrauch verhindern soll. Dabei schützt ein geheimer PAL-Code, der die Waffe scharfschalten kann, vor einer Zündung durch Flugzeugabstürze, Blitzeinschläge, Feuer, Explosionen oder durch unautorisierte Personen wie etwa Dissidenten innerhalb der Streitkräfte oder Terroristen. Ebenso verhindert das System die Überbrückung von Schaltkreisen und andere Manipulationen an der Atomwaffe. Das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten definiert PALs wie folgt: Technische Details der PAL-Systeme unterliegen der Geheimhaltung. Durch Weiterentwicklungen und den allgemeinen technischen Fortschritt in den letzten Jahrzehnten gibt es inzwischen verschiedene Ansätze und Umsetzungen in der Konstruktion. Alle Systeme basieren jedoch auf dem Grundsatz, dass die Waffe ohne die Eingabe eines Codes nicht zur Detonation gebracht werden kann. Geschichte Ausgangslage Die Entwicklung der ersten Permissive Action Links war ein schrittweiser Prozess zwischen 1945 und den frühen 1960er-Jahren. Einen wichtigen Punkt bildete dabei das Jahr 1953: In jenem Jahr unterzeichneten die United States Atomic Energy Commission (AEC) und das Verteidigungsministerium das Missiles and Rockets Agreement, eine Vereinbarung, die für die zukünftige Entwicklung der PALs bedeutungsvoll war. Ausgesuchte Labore sollten unter der Aufsicht der AEC nukleare Sprengköpfe entwickeln und herstellen, während die Verantwortung über den Einsatz und die Stationierung beim Militär blieb. Den Laboren wurde es außerdem freigestellt, eigene Forschung im Bereich der Waffenkontrolle und -sicherung zu betreiben. Der Hintergedanke dabei war, dass – falls sich die Regierung jemals für eine solche Sicherheitsvorrichtung interessieren sollte – die Forschung und Entwicklung von Prototypen bereits fortgeschritten sei. Anfang der 1960er-Jahre wuchs schließlich der Bedarf an einem derartigen System. Dafür gab es vor allem zwei Gründe. Technologisch gesehen wurden die Nuklearwaffen in der Konstruktion immer ausgefeilter und in der Bedienung einfacher. Es war keine umständliche und lang andauernde Vorbereitung mehr nötig; die neuen Sprengköpfe konnten schnell scharfgeschaltet werden und ihre Anzahl vermehrte sich monatlich. Es wurde eine neue Form von Kontrolle nötig, um unautorisierte Nutzung zu verhindern. Dabei dachte die US-Regierung zu Beginn der 1960er-Jahre, als der Kalte Krieg sich fortwährend zuspitzte, weniger an abtrünnige amerikanische Offiziere, die sich eigenständig machen würden, als vielmehr an die Kommandanten des Strategic Air Command (SAC). Ohne ein Absicherungssystem lag die volle Kontrolle über einen Großteil der nuklearen Waffensysteme in ihrer Hand, und nicht jedem General wurde ein ruhiges Händchen und Besonnenheit im Hinblick auf den Ost-West-Konflikt nachgesagt. Politisch gesehen war ein weiterer und weitaus dringenderer Grund die Tatsache, dass unter dem Schutz der NATO verschiedene amerikanische Atomwaffen auf ausländischem Territorium stationiert waren und somit zumindest teilweise unter der Kontrolle von anderen Staaten standen (nukleare Teilhabe). Besonders für den Kongress war dieser Umstand sehr besorgniserregend, abgesehen davon, dass es gegen geltendes US-Recht verstieß. Hinzu kam noch, dass manche der Verbündeten als potentiell instabil angesehen wurden, darunter Deutschland und die Türkei. Es gab erhebliche Bedenken, dass sich das Militär eines dieser Länder über die Anweisungen der zivilen Führerschaft hinwegsetzen könnte. Zudem gingen die USA davon aus, dass im Falle eines Krieges Teile Westdeutschlands schon früh überrannt und so Atomwaffen in die Hände der Sowjets fallen würden. Lange Zeit widersetzte sich das US-Militär dem Einsatz von PALs. Es befürchtete den Verlust von Eigenständigkeit und fürchtete Fehlfunktionen, die in Krisenzeiten alle nuklearen Sprengköpfe außer Gefecht setzen könnten. Doch die Vorteile überwogen letztendlich die Nachteile: Dank der PALs konnten die Waffen zum einen in größerem Umfang in Europa verteilt werden, um so eine schnelle und gezielte Zerstörung oder Eroberung durch den Ostblock zu verhindern, zum anderen wurde trotzdem die Kontrolle über sie behalten. Entwicklung und Verbreitung Die Vorläufer der Permissive Action Links waren einfache mechanische Schlösser, die in den Steuerungssystemen der Kernwaffen eingelassen waren. Dort konnten sie ihre Funktion auf verschiedene Weisen erfüllen: Einige blockierten den Hohlraum, in den Abschuss-Komponenten eingesetzt werden mussten, andere blockierten Stromkreise, und manche verhinderten ganz einfach den Zugang zum Bedienfeld. Testweise baute man diese Mechanismen bereits 1959 in einigen in Europa stationierten Kernwaffen ein. Die Arbeiten an PAL-Prototypen blieben bis 1960 auf niedrigem Niveau. Den Sandia National Laboratories (SNL) war es bis dato dennoch gelungen, eine Anzahl an neuen Zahlenschlössern zu entwickeln, die auf verschiedene Waffentypen anpassbar waren. Im Frühling 1961 gab es eine Reihe von Anhörungen im US-Kongress, bei denen Sandia den Prototyp eines speziellen elektromechanischen Schlosses vorstellte, das damals noch als „Proscribed Action Link“ bezeichnet wurde. Die militärische Führung stellte allerdings bald fest, dass dieser Terminus den Effekt hatte, Offiziere psychologisch vom Waffengebrauch eher abzuhalten (proscribed = „geächtet“/„verboten“), und änderte die Bedeutung von PAL auf „Permissive Action Link“ (permissive = „erlaubend“/„zulassend“). Im Juni 1962 unterzeichnete Präsident John F. Kennedy das National Security Action Memorandum 160 (NSAM 160). Dabei handelte es sich um eine präsidentielle Direktive, in der die Installation von PALs in allen US-Nuklearwaffen in Europa angeordnet wurde. Alle anderen amerikanischen Nuklearwaffen waren davon vorerst ausgenommen. Die Umrüstung dauerte bis September 1962 und kostete 23 Mio. US-Dollar (: ca.  Mio. US-Dollar). Das Strategic Air Command in Omaha machte sich unterdessen darüber Sorgen, dass im Ernstfall die Codes nicht verfügbar wären, und entschied stillschweigend, sie auf „00000000“ zu setzen. Diese Kombination blieb bis 1977 gültig. Die vollständige Umrüstung auf PAL-Systeme verlief dagegen relativ schleppend. 1974 stellte der amerikanische Verteidigungsminister James Schlesinger fest, dass eine Vielzahl an taktischen Atomwaffen noch immer nicht mit Permissive Action Links ausgerüstet waren, obwohl die Technologie nun bereits seit geraumer Zeit zur Verfügung stand. Es dauerte noch zwei weitere Jahre, bis alle taktischen Atomwaffen vollständig mit PALs ausgestattet waren. Im Jahre 1981, fast 20 Jahre nach Erfindung der PALs, waren jedoch noch gut die Hälfte der US-Nuklearwaffen mit mechanischen Schlössern ausgestattet. Erst 1987 waren sie vollständig ersetzt. Modernisierung und Gegenwart Über die Jahre hinweg wurden die Permissive Action Links stetig weiterentwickelt und gewartet. Im Jahr 2002 ersetzte man Teile der alten B61-Atombomben durch neue Systeme, um die Sicherheit und Zuverlässigkeit zu erhöhen und die Waffen noch bis mindestens 2025 im Dienst zu behalten. Code Management System 1995 begann die Entwicklung des Code Management System (CMS). Das CMS vereinfachte die Kontrolle und Logistik für das Personal und verbesserte die Flexibilität und Geschwindigkeit beim Warten und Scharfschalten der Waffen. Verschiedene Codes konnten genutzt werden, um PAL-Schlüssel neu zu programmieren, die Waffe zu sperren und allgemein zu handhaben, während die Geheimhaltung und Gültigkeit von Einsatzcodes sichergestellt blieb. Insgesamt bestand das CMS aus vierzehn neuen Produkten, davon neun Software- und fünf Hardware-Produkten. Die Software wurde in den Sandia National Laboratories entwickelt und enthielt ungefähr 160.000 Zeilen Programmcode (260.000 mit Kommentaren). Die Hardware fertigte die National Nuclear Security Administration an. Das CMS war erstmals im November 2001 vollständig einsatzbereit. Ein Teil des Systems, ein spezieller Kryptografie-Prozessor, wurde jedoch schon 1997 in die Waffen eingebaut, um einem möglichen Jahr-2000-Problem vorzubeugen. Bis zum Frühjahr 2004 waren schließlich alle PAL-Systeme mit dem Code Management System ausgestattet. Es bildet damit gegenwärtig den allgemeinen Grundstock für zukünftige Hard- und Softwareverbesserungen an den Permissive Action Links. Funktionsumfang Permissive Action Links werden von wartungsarmen Radionuklidbatterien mit Energie versorgt. Statt auf chemischer Basis wie bei einer herkömmlichen Batterie, arbeiten diese mit dem Alphazerfall des stabilen Plutonium-Isotops 238Pu. Obwohl dessen Halbwertszeit 87,7 Jahre beträgt, liegt die tatsächliche Lebenszeit der Radioisotopengeneratoren darunter. Sie wird durch die langsame Ansammlung von Helium begrenzt, das als Produkt des Alphazerfalls nach einigen Jahrzehnten einen schädigenden Überdruck aufbaut. PALs sind zudem direkt oder indirekt mit einer Reihe von Sicherheitsmaßnahmen verknüpft, die zusammen ein umfangreiches Sicherheitspaket bilden. Allgemein sind die PAL-Systeme dreidimensional gebaut, d. h. mit Komponenten sowohl an als auch tief in der Waffe. Dadurch ist es nahezu unmöglich, das System zu überbrücken. Zwei-Mann-Regel Moderne PALs nutzen die Zwei-Mann-Regel (engl. two-man rule). Das bedeutet, dass im Falle eines Befehls zu einem Atomschlag zwei Personen für die Durchführung vonnöten sind. So müssen auf einem Strategischen Raketen-U-Boot (SSBN) sowohl der Commanding Officer (CO) als auch der Executive Officer (XO) den Angriffsbefehl bestätigen: Jeder der beiden hat einen eigenen Safecode oder -schlüssel, die zusammen den Zugriff auf die Authentifizierungscodes freigeben. In ICBM-Raketensilos übernehmen der Crew Commander und der Deputy Crew Commander diese Aufgabe. Für den Start müssen sie zudem jeder – mit beiden Händen – zwei Zündschlüssel gleichzeitig (damit insgesamt vier Zündschalter) betätigen. Stärke-Schwäche-Prinzip Ein weiterer Mechanismus, der eine unbeabsichtigte Detonation verhindert, basiert auf dem Stärke-Schwäche-Prinzip (). Der starke Teil ist die elektrische Isolation des Detonationssystems. Es befindet sich in einer exklusiven Zone innerhalb der Waffe und ist durch einen motorisierten Schalter vom elektrischen Stromkreislauf abgetrennt. Erst wenn diese Brücke geschlossen wird, kann die Waffe scharfgeschaltet werden. Um zu verhindern, dass im Falle eines Unfalls die exklusive Zone beschädigt und dadurch doch noch eine Detonation ausgelöst wird, sind kritische Komponenten des Detonationssystems absichtlich schwach entworfen. Das bedeutet, dass sie unumkehrbar ausfallen, wenn sie außergewöhnlichen Einflüssen (wie etwa Hitze, starker Beschleunigung o. Ä.) ausgesetzt werden. Dies können zum Beispiel Kondensatoren sein, die schon bei relativ niedrigen Temperaturen durchbrennen. Kritische Signalerkennung Das System reagiert nur auf eine sehr spezifische elektrische Spannung. Erzeugt wird diese durch einen speziellen Signalgenerator (engl. unique signal generator), der sich außerhalb der Waffe befindet. Er liefert eine exakt definierte Ausgangsleistung, so dass vorgetäuschte Signale, Störgeräusche oder Interferenzen keine Scharfschaltung bewirken können. Dank der Computertechnik gibt es inzwischen neue Ansätze, die das komplexe analoge Signal durch digitale Kommunikation samt Codes ersetzen. Merkmals- und Parametererkennung Eine weitere Absicherung sind die Environmental Sensing Devices (ESD). Sie ermitteln durch Sensoren die Umgebungseigenschaften, die für diese Waffe erwartet werden. In einer Rakete wäre ein nuklearer Sprengkopf beispielsweise zuerst einer starken Beschleunigung ausgesetzt, und anschließend einer Phase des freien Falls. Das ESD ermittelt die äußeren Einflüsse wie Beschleunigungskurve, Temperatur und Druck und schaltet die Waffe nur dann scharf, wenn diese externen Effekte in der richtigen Reihenfolge auftreten und sich innerhalb spezifischer Parameter bewegen. Sollte es also beispielsweise unautorisierten Personen gelingen, einen Sprengkopf zu entwenden, könnten sie ihn nicht zünden, solange die Startrampe nicht mit entwendet wird. Abgesehen davon würden selbst dann noch die entsprechenden PAL-Codes fehlen. Absichtliche Fehlzündung Die konventionellen Sprengstoffe, die zum Starten der Kettenreaktion benötigt werden, sind in Menge und Anordnung genau auf die Eigenschaften des Spaltmaterials im Kern abgestimmt. Wenn die Detonation nicht exakt wie vorgesehen eintritt, etwa durch eine Fehlzündung, kommt es normalerweise nicht zu einer Kernreaktion – die Detonation wird nicht größer, als sie der Menge des chemischen Sprengstoffes entspricht. Mit Hilfe von Simulationsrechnungen hat man abgeschätzt, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass es dennoch zu einer Kernreaktion kommt. Bei einer Fehlzündung des konventionellen Sprengstoffes liegt diese etwa bei 10−6. Die Wahrscheinlichkeit, dass es durch eine Funktionsstörung von Bauteilen zu einer vollständigen Kernwaffenexplosion kommt, beträgt unter normalen Bedingungen etwa 10−9 und unter außergewöhnlichen Bedingungen, wie z. B. einem Flugzeugabsturz, etwa 10−6. Des Weiteren gibt es eine Anzahl an gewaltsamen und gewaltfreien Mechanismen, die den Sprengkopf bei Manipulationsversuchen entweder zerstören oder irreparabel unschädlich machen. Letzteres wäre z. B. durch eine kleine Hohlladung möglich, die die Symmetrie des Plutonium-Kerns zerstört. Dieser wäre somit nicht länger zur Spaltung fähig, bis er wieder maschinell bearbeitet würde. Weitere Sicherheitsmaßnahmen In allen modernen Kernwaffen sind eine Reihe weiterer Sicherheitsmaßnahmen integriert: Fire resistant pits (FRP) Sie verhindern, dass im Falle eines Feuers geschmolzenes Plutonium ausläuft. Es bleibt dabei in seiner Beryllium-Hülle, die einen sehr hohen Schmelzpunkt aufweist. Außerdem werden weitere wärmedämmende Komponenten verbaut, um den Einfluss von Hitze so gering wie möglich zu halten. Insensitive high explosives (IHE) Sie nutzen den Sprengstoff TATB, dessen Beständigkeit gegen Stoß- und Hitzeeinwirkung größer ist als die eines jeden anderen bekannten Materials mit vergleichbarer Energiedichte. TATB wird selbst durch den Aufschlag bei Flugzeugabstürzen, Feuer, Explosionen oder den Einschlag von Geschossen aus Handfeuerwaffen nicht zur Explosion gebracht. Limited-try feature Die Waffe wird deaktiviert, sobald ein Code mehrfach falsch eingegeben wird. Dadurch lässt sich ein wildes Ausprobieren an Codes durch die Versuch-und-Irrtum-Methode (engl. trial and error) verhindern. Im Falle einer Sperrung muss die Waffe anschließend zur Wartung in eine Werkstatt, um wieder funktionstüchtig gemacht zu werden. PAL-Klassifizierungen Über die Jahre hinweg waren verschiedene PAL-Typen im Einsatz, wie die folgende Tabelle darstellt. Auffallend ist, dass im Laufe der Entwicklung eine Kategorie übersprungen wurde. PALs in anderen Staaten Durch die steigende Anzahl an Atommächten und deren Waffenbestände gab es in den USA immer wieder Sicherheitsbedenken. So wurde seit den 1960er-Jahren mehrmals in Erwägung gezogen, Teile der PAL-Technologie anderen Staaten zur Verfügung zu stellen. Diesen Schritt betrachteten die USA als notwendig: Die Verhinderung eines Nuklearkriegs war nur halb so effektiv, wenn man lediglich einem versehentlichen Erstschlag seitens der Vereinigten Staaten vorbeugte, während alle anderen Atommächte über keine derartige Sicherheitstechnologie verfügten. So gehörte Frankreich in den frühen 1970er-Jahren zu den ersten Ländern, die von den USA Hilfe bei entscheidenden Punkten der nuklearen Sicherheit erhielten. Dabei stellte sich jedoch der Atomwaffensperrvertrag (NVV) als Hindernis heraus. Neben der weiteren Aufrüstung und Verbreitung von Atomwaffen verbot er zugleich auch eine Zusammenarbeit zwischen Staaten in der nuklearen Waffentechnologie. Um dieses Problem rechtlich zu umgehen, wurde ein Trick angewendet: Das System der „negativen Anleitung“ (engl. negative guidance). Dabei ließ man den US-amerikanischen Wissenschaftlern regelmäßig eine Beschreibung der französischen Fortschritte in der Sprengkopftechnologie zukommen, während diese in beratender Funktion den Franzosen Hilfestellung gaben, ob sie mit ihren Lösungsansätzen auf dem richtigen Weg waren oder nicht. Trotz oder gerade wegen des Kalten Krieges boten die USA 1971 auch der Sowjetunion die PAL-Technologie an. Diese schlug das Angebot jedoch aus und vertraute lieber auf „Personen, die von Personen beaufsichtigt werden, die von Personen beaufsichtigt werden“. Dabei verließen sich die Sowjets auf eine dreifache Kontrolle durch das Militär, den KGB sowie Politoffiziere. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR fand schließlich ein Austausch mit dem Rechtsnachfolger Russland statt, das die nuklearen Waffenbestände übernommen hatte, um deren Sicherheit die Vereinigten Staaten zur damaligen Zeit sehr besorgt waren. In den frühen 1990er-Jahren bat die Volksrepublik China von sich aus um Informationen zu den Permissive Action Links. Die Clinton-Regierung befürchtete jedoch, dass die Weitergabe der Technologie zu viel über den amerikanischen Waffenbau preisgeben und die chinesischen Sprengköpfe in vielfacher Hinsicht verbessern würde, und verweigerte sich der Anfrage. Nach den Anschlägen des 11. September 2001 debattierte die Bush-Regierung darüber, ob sie Pakistan die PAL-Technologie zugänglich machen sollte. Am Ende entschied sie sich aufgrund rechtlicher Einschränkungen dagegen. Darüber hinaus waren die Pakistaner misstrauisch, dass amerikanische Technologie in ihren Sprengköpfen versteckte „kill switches“ (Deaktivierungsschalter) beinhalten könnte, die es den Amerikanern ermögliche, die Waffen auszuschalten. Viele Experten auf dem Gebiet der Nukleartechnologie in der Regierung befürworteten die Herausgabe des PAL-Systems, weil sie Pakistans Waffenarsenal als das weltweit gefährdetste gegenüber Missbrauch durch Terroristengruppen betrachteten. Andere Regierungsmitglieder hatten hingegen dieselben Bedenken, die schon die Clinton-Regierung davon abhielten, die Technologie mit China zu teilen. Des Weiteren zählte Pakistan damals zusammen mit Indien und Israel zu den einzigen drei Staaten, die den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet hatten. Im November 2007 wurde bekannt, dass die USA seit 2001 über 100 Mio. Dollar in ein geheimes Programm investiert hatten, um pakistanische Atomwaffen sicherer zu machen. Dies beinhaltete jedoch anscheinend nicht die PAL-Technologie selber, sondern umfasste stattdessen das Training von pakistanischem Personal in den Vereinigten Staaten und die Überlassung großer Mengen an Ausrüstung wie Hubschrauber, Nachtsichtgeräte und Nukleardetektoren, um Kernmaterial, Sprengköpfe und die Laboratorien zu schützen. Im selben Jahr gab die britische Regierung zu, dass ihre Nuklearwaffen bis Ende der 1990er-Jahre nicht mit Permissive Action Links ausgestattet waren, sondern mittels eines einfachen Zylinderschlosses scharfgeschaltet werden konnten. PALs in der Populärkultur Mit der Zeit sind PALs und PAL-ähnliche Systeme auch in zahlreichen Publikationen der Unterhaltungsindustrie dargestellt worden, meist jedoch ohne namentliche Erwähnung. Beispiele hierfür finden sich etwa in Filmen wie Straße der Verdammnis (1977), WarGames – Kriegsspiele (1983), Crimson Tide (1995) oder Der Anschlag (2002), dem Videospiel Metal Gear Solid (1998) oder der Fernsehserie 24 (vierte Staffel). Siehe auch United States Strategic Command (USSTRATCOM), Führungsorgan sämtlicher US-Atomstreitkräfte. Emergency Action Message (EAM), Einsatzbefehl für Atomwaffen, der auch die PAL-Codes enthält. Atomkoffer, ermöglicht es dem US-Präsidenten, den Einsatz von Nuklearwaffen von jedem Punkt der Erde aus zu autorisieren. Literatur Hendricus J. Neumann: Kernwaffen in Europa: Nato-Doppelbeschluß, Rüstungskontrolle, Glossar. Osang Verlag, Bonn 1982, ISBN 3-7894-0085-8. Christian Tuschhoff: Deutschland, Kernwaffen und die NATO 1949–1967. Nomos Verlag, Baden-Baden 2003, ISBN 978-3-7890-8274-0. William M. Arkin, Richard W. Fieldhouse: Nuclear Battlefields. Der Atomwaffen-Report. Athenaeum Verlag, Bodenheim 1986, ISBN 978-3-7610-8391-8. Ashton B. Carter, John D. Steinbruner, Charles A. Zraket (Hrsg.): Managing Nuclear Operations. Brookings Institution Press, Washington DC 1987, ISBN 978-0-8157-1313-5. Chuck Hansen: U.S. Nuclear Weapons: The Secret History. Crown Publishing Group, New York 1988, ISBN 978-0-517-56740-1. Peter Stein, Peter Feaver: Assuring Control of Nuclear Weapons: The Evolution of Permissive Action Links. University Press of America, Lanham 1989, ISBN 978-0-8191-6337-0. Ross J. Anderson: Nuclear Command and Control. In: Security Engineering: A Guide to Building Dependable Distributed Systems. 2. Auflage. John Wiley & Sons, Hoboken 2008, ISBN 978-0-470-06852-6, S. 415–430. Thomas B. Cochran, William M. Arkin, Milton M. Hoenig: Nuclear Weapons Databook: Volume I – U.S. Nuclear Forces and Capabilities. Ballinger Publishing Company, Pensacola 1984, ISBN 978-0-88410-173-4. Weblinks Fiktive Darstellung eines PAL-Einsatzes aus dem Spielfilm WarGames auf YouTube Filmbericht über PALs und deren britisches Pendant von der BBC (Windows Media Player) Sandia National Laboratories, Entwickler der PAL-Technologie Einzelnachweise !Permissive Action Link Kernwaffentechnik
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https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-%C3%B6sterreichische%20Zollunion
Deutsch-österreichische Zollunion
Die deutsch-österreichische Zollunion war ein Projekt des Deutschen Reiches und der Republik Österreich in den Jahren 1930 und 1931. Es stieß auf energische Proteste der Regierungen Frankreichs, Italiens und der Tschechoslowakei, weil es einen Anschluss Österreichs und eine Hegemonialstellung Deutschlands in Mittel- und Südosteuropa vorzubereiten schien. Auch die britische Regierung stand dem Projekt ablehnend gegenüber, weil es die internationalen Spannungen verschärfte. Der Plan einer Zollunion scheiterte im Spätsommer 1931, als die französische Regierung Österreichs Finanznot in der Weltwirtschaftskrise nutzte und eine internationale Kredithilfe von einem Verzicht auf das Projekt abhängig machte. Nach einem Urteil des Ständigen Internationalen Gerichtshofs war es zudem unvereinbar mit dem Genfer Protokoll von 1922, in dem Österreich sich verpflichtet hatte, seine wirtschaftliche und finanzielle Unabhängigkeit zu wahren. Das Zollunionsprojekt wird in einem Teil der Forschung als Wegmarke in der Entwicklung der deutschen Außenpolitik hin zu einem harten Konfrontationskurs angesehen. Ein Konsens darüber besteht nicht. Entstehung Im Februar 1930 machte der österreichische Bundeskanzler Johann Schober einen Staatsbesuch in Berlin, um einen Handelsvertrag vorzubereiten, der im April 1930 unterzeichnet werden sollte. Bei den Gesprächen mit der Reichsregierung erwähnte er am 22. Februar 1930 auch die Möglichkeit einer Zollunion, die er aber angesichts der völkerrechtlichen Lage für ausgeschlossen hielt. Der Staatssekretär im deutschen Auswärtigen Amt, Carl von Schubert, ein langjähriger Mitarbeiter des wenige Monate zuvor verstorbenen Außenministers Gustav Stresemann, pflichtete ihm bei und verwies auf das Genfer Protokoll aus dem Jahr 1922, mit dem Österreich sich gegenüber Großbritannien, Frankreich, Italien und der Tschechoslowakei verpflichtet hatte, seine wirtschaftliche Unabhängigkeit zu wahren und seine Staatsfinanzen vom Völkerbund kontrollieren zu lassen. Der deutsche Außenminister Julius Curtius (DVP) dagegen meinte, man solle eine Zollunion gleichwohl vorberaten. Zwei Tage später zeigte er sich optimistisch, dass sie völkerrechtlich zulässig wäre, wenn sie „kündbar oder befristet“ sei. Hintergrund war der bevorstehende Abzug der belgischen und französischen Truppen aus dem Rheinland, das diese Anfang 1919 besetzt hatten. Mit diesem Zugeständnis hatten die Siegermächte das Deutsche Reich bewogen, in den Youngplan einzuwilligen, einen 1929 ausgehandelten Reparationsplan. Als Ende Juni die letzten Besatzungstruppen aus dem Rheinland abgezogen waren, glaubte Curtius, weniger Rücksicht auf Frankreich nehmen zu müssen, das einer engeren Zusammenarbeit der beiden deutschsprachigen Staaten ablehnend gegenüberstand. Außerdem waren in Deutschland seit April die Sozialdemokraten nicht mehr in der Regierung vertreten. Statt des Sozialdemokraten Hermann Müller, der Stresemanns Verständigungspolitik mit Frankreich immer unterstützt hatte, war seit dem 31. März 1930 der konservative Zentrumspolitiker Heinrich Brüning Reichskanzler, der gleich in seiner ersten Regierungserklärung eine „organische Weiterentwicklung der bisherigen Außenpolitik“ versprochen hatte – also keine einfache Fortsetzung der bisherigen Verständigungspolitik. Für diesen neuen Kurs schien Bernhard Wilhelm von Bülow der richtige Mann zu sein, der im Juni Schubert als Staatssekretär im Auswärtigen Amt abgelöst hatte. Die deutsche Außenpolitik zielte seitdem nicht mehr auf eine Verständigung mit Frankreich, sondern versuchte, Erfolge bei der Revision des Versailler Vertrags notfalls auch in Konfrontation mit dem Nachbarn zu erreichen. Am 3. Juli 1930 mahnte Karl Ritter, der Leiter des Referats für Wirtschaft im Auswärtigen Amt, seinen Wiener Kollegen Richard Schüller, es sei nun an der Zeit, „endlich zusammenzukommen“. Im September trafen sich die beiden Beamten und einigten sich über die Grundlinien einer Zollunion. Als der deutsche Außenminister Curtius im September am Rande der Tagung des Völkerbundes in Genf den österreichischen Bundeskanzler Schober traf, stellte er enttäuscht fest, dass dieser nur von weiteren Handelsvergünstigungen redete, ohne die Zollunion zu erwähnen. Dennoch arbeitete Ritter auf der Grundlage der Absprache mit Schüller einen Vertragsentwurf aus und sandte ihn nach Wien. Am 5. Januar 1931 erklärte sich Schüller „im wesentlichen“ einverstanden – die Sache sei ja derzeit nicht aktuell. Bei der nächsten Völkerbundstagung im Januar traf Curtius Schober wieder und regte „drängend an“, jetzt beschleunigt vorzugehen; Österreich solle die Initiative übernehmen. Dies lehnte Schober ab, lud Curtius aber zu einem Staatsbesuch nach Wien ein. In Berlin holte Curtius nun auch die Zustimmung Kanzler Brünings ein, die dieser anscheinend ohne weitere Nachfragen gab. Führende Ministerialbeamte aus dem Auswärtigen Amt und dem Reichsfinanzministerium äußerten Zweifel, ob Österreich im Zeichen der Weltwirtschaftskrise dem diplomatischen und vor allem finanziellen Druck Frankreichs widerstehen könne. Curtius selbst gab in einer im Rückblick verfassten Rechtfertigung an, er hätte auch die Botschafter in den Unterzeichnerstaaten des Genfer Protokolls informiert, und sie hätten sein Vorhaben nicht abgelehnt. Diese Angabe wird von dem Historiker Hermann Graml aber als bloße Schutzbehauptung bezeichnet. Ohne diesen Mächten irgendwelche Vorabinformationen zu geben, reiste Curtius nach Wien zu Schober, der seit Ende 1930 Außenminister im Kabinett seines Nachfolgers Otto Ender war. Curtius drängte darauf, die Zollunion nun endlich abzuschließen. Die Österreicher zögerten, widersprachen jedoch nicht. Am 5. März 1931 wurden Deutsche und Österreicher über den Wortlaut des Abkommens über eine Zollunion einig. Auch wie die anderen Mächte zur Einwilligung gebracht werden könnten wurde vereinbart: Zum einen sollte das Abkommen als bloßer Vorvertrag hingestellt werden, als Vereinbarung, über eine Zollunion zu beraten. Zum andern wollte man es als Vorstufe zu einer europäischen Einigung darstellen, wie sie der französische Außenminister Aristide Briand im September 1929 vorgeschlagen hatte. Daher wollten beide Regierungen es beim nächsten Treffen des Europäischen Studienausschusses im Mai 1931 veröffentlichen. Dieses Gremium war im September 1930 vom Völkerbund einberufen worden, um Briands Vorschläge zu prüfen. Ganz ähnlich hatte schon im Januar 1931 Staatssekretär Bülow angekündigt, „der Angelegenheit ein paneuropäisches Mäntelchen umhängen“ zu wollen, um den anderen Staaten die Zustimmung zu erleichtern. Inhalt Das Protokoll, das Curtius und Schober ausgehandelt hatten, war kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern nur ein pactum de contrahendo: Deutschland und Österreich bekundeten darin ihre Absicht, „alsbald in Verhandlungen über einen Vertrag zur Angleichung der zoll- und handelspolitischen Verhältnisse beider Länder […] einzutreten“. Der Inhalt des abzuschließenden Vertrags wurde in den zwölf Artikeln des Protokolls detailliert beschrieben: Beide Länder wollten ein einheitliches Zollgebiet ohne Binnenzölle bilden, ihre nationale Unabhängigkeit sollte aber gewahrt bleiben, ebenso die der Zollverwaltungen beider Länder. Alle gegenüber Drittländern eingegangenen Verpflichtungen wurden anerkannt – damit war das Genfer Protokoll von 1922 gemeint. Über Zwischenzölle für bestimmte Warengruppen und deren Dauer sollte noch verhandelt werden, ebenso über Niederlassungs- und Gewerbefreiheit und Fragen der Besteuerung von Unternehmen im jeweils anderen Land, über eine Angleichung des gemeinsamen Tierseuchenabkommens von 1924 und die Folgen, die Handelsabkommen mit Drittstaaten für den gemeinsamen Wirtschaftsraum haben würden. Ein paritätisch besetzter Schiedsausschuss sollte eingerichtet werden, in dem Streitfälle beigelegt werden konnten. Der Vertrag sollte nach einer zwölfmonatigen Frist kündbar sein, frühestens aber drei Jahre nach seinem Inkrafttreten. Die Zollunion sollte offen für weitere Mitglieder sein und wurde als Anfang einer Neuordnung der europäischen Wirtschaftsverhältnisse auf dem Wege regionaler Vereinbarungen bezeichnet. Bekanntgabe Dieses Ergebnis präsentierte Curtius am 16. März 1931 dem Reichskabinett: Insbesondere von Frankreich und der Tschechoslowakei sei „mit einer erheblichen außenpolitischen Diskussion“ zu rechnen. Wie das Projekt dennoch durchgesetzt werden könne, erläuterte Curtius nicht. Brüning hielt den Zeitpunkt für „nicht besonders glücklich gewählt“, widersprach dem Vorhaben aber nicht. Die anderen Minister machten ebenfalls auf die Risiken des Projekts aufmerksam, erklärten sich aber ebenfalls einverstanden, wenn nur der Ständige Internationale Gerichtshof in Den Haag nicht eingeschaltet würde – ein Hinweis darauf, dass ihnen die völkerrechtlich prekäre Lage durchaus bewusst war. Darauf deuten auch die Warnungen Bülows, mit denen er am 17. März die Unterlagen an die deutsche Botschaft nach Paris begleitet hatte: Nach Zustimmung beider Kabinette mahnten die Deutschen, dass das Projekt am 23. März veröffentlicht werden müsse, da es sonst nicht mehr im Europäischen Studienausschuss beraten werden könne. Dieser Termin stand aber seit Monaten fest. Schober berichtete am 13. März im Ministerrat, er habe sich Curtius‘ Drängen auf ein beschleunigtes Tempo nicht widersetzen können, auch wenn das Überraschungsmoment diplomatisch wohl eher schädlich wirken würde. Wahrscheinlich befürchtete Curtius, die zögerlichen Österreicher würden doch noch einen Rückzieher machen. Diese setzten sich mit ihrem Ansinnen nicht durch, die Initiative allein der deutschen Seite zuzuweisen. Deutsche und Österreicher einigten sich auf gemeinsame Demarchen der Botschafter beider Länder in London, Paris und Rom. Da Curtius nun auch noch Indiskretionen der Presse befürchtete, drängte er darauf, den Termin noch weiter vorzuverlegen. Dadurch blieb keine Zeit mehr für diplomatische Vorbereitungen: Am 21. März informierten Deutschland und Österreich die Regierungen Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und der Tschechoslowakei über das Projekt. Die befürchtete Indiskretion gab es in der Tat: Am 17. März 1931 meldete die Wiener Neue Freie Presse, Österreich habe eine Zollunion mit Deutschland abgeschlossen. In Prag und Paris wussten die Regierungen daher bereits Bescheid: Als der deutsche Botschafter Leopold von Hoesch am Quai d’Orsay die Demarche übergab, lag seinem Gesprächspartner Philippe Berthelot bereits „ein langes schriftliches Gutachten“ mit allen Gegenargumenten vor. Motive In der Forschung werden verschiedene Gründe diskutiert, aus denen Politiker aus Österreich und der Weimarer Republik das riskante Zollunionsprojekt in Angriff nahmen. Zum einen schien es eine Sicherung gegen anderweitige Kombinationen zu sein, mit denen sich Österreich aus seiner chronischen Wirtschafts- und Finanznot zu befreien versuchte, wie etwa die Donauföderation oder Pläne Frankreichs, Mittel- und Südosteuropa wirtschaftlich neu zu strukturieren und so seine Verbündeten in der Kleinen Entente zu stärken. Da diese multilateralen Ansätze 1931 gescheitert waren, schien die Zeit reif für eine bilaterale Lösung. Eine Lösung unter Einfluss Frankreichs drohte zudem einen Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich zu erschweren oder unmöglich zu machen, der trotz des Verbots sowohl im Versailler Vertrag als auch im Vertrag von Saint-Germain zu den Zielen der deutschen Außenpolitik gehörte. Eine Zollunion konnte ein Schritt auf dem Weg dorthin oder ein Ersatz für den Anschluss sein. Wenn auch noch andere Staaten sich anschlossen, schien die Zollunion geeignet, ein neues Mitteleuropa aufbauen zu helfen, mit starker Außenwirkung Richtung Osten und Südosten, wo das Deutsche Reich ökonomisch und politisch bald eine Hegemonialstellung einnehmen würde. Ähnliche Pläne wurden in der deutschen Öffentlichkeit seit 1928 vom Mitteleuropäischen Wirtschaftstag befürwortet, einer industriellen Lobbyorganisation. Noch weiter gehende Revisionsziele in Richtung der deutschen Ostgrenze schwebten Staatssekretär Bülow vor. Er nahm an, dass eine erfolgreiche deutsch-österreichische Zollunion bald die Tschechoslowakei zwingen werde, sich anzuschließen. Als Nächstes müsse das Deutsche Reich auch mit den baltischen Staaten „nähere wirtschaftliche Beziehungen“ schaffen: Neben diesen handfesten außenpolitischen Zielen spielten auch innenpolitische Ziele eine Rolle. Die Regierung Brüning war eine Minderheitsregierung, die abhängig war von der Zustimmung der kleinen Rechtsparteien im Reichstag sowie vom Wohlwollen des monarchistischen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg. Wiederholt versuchte Brüning auch, die NSDAP dazu zu bewegen, sein Kabinett zu unterstützen, die nach ihrem ersten großen Wahlsieg bei den Reichstagswahlen vom September 1930 gefordert hatten, den Anschluss Österreichs durch eine Zollunion anzubahnen. Die Innenpolitik war auch eines der Motive Schobers: Der parteilich ungebundene Beamte hatte bei der Nationalratswahl 1930 ein Wahlbündnis aus der Großdeutschen Volkspartei und dem Landbund geschlossen. Seine Orientierung Richtung Deutschland, der auch die traditionell großdeutsch denkenden Sozialdemokraten zuneigten, sollte den Großdeutschen helfen, gegenüber dem Koalitionspartner, der Christlichsozialen Partei, vor allem aber gegenüber den Heimwehren innenpolitisch Boden zu gewinnen. An der Entwaffnung dieser faschistischen Bewegung, die sich seit dem Korneuburger Eid vom Mai 1930 offen zu ihren antiparlamentarischen Zielen bekannte und eine Anlehnung an Mussolinis Italien anstrebte, war Schober gescheitert. Wirtschaftliche Überlegungen spielten vor allem auf österreichischer Seite eine Rolle. Die Alpenrepublik hatte seit dem Zusammenbruch der k.u.k. Doppelmonarchie 1918 mit gravierenden ökonomischen und finanziellen Problemen zu kämpfen gehabt, die auch durch die 1922 geleistete internationale Finanzhilfe nicht überwunden worden waren. Tatsächlich war die Frage, ob ein unabhängiges Österreich wirtschaftlich überhaupt lebensfähig sei, ein Dauerthema in der volkswirtschaftlichen Diskussion. Bereits 1927 hatte der österreichische Nationalrat eine Kommission zum Studium einer Zollunion mit Deutschland eingerichtet. Für Schober war die Integration Österreichs in einen gemeinsamen Wirtschaftsraum mit Deutschland eine ökonomische Notwendigkeit, auch wenn einige österreichische Industriezweige der deutschen Konkurrenz nicht gewachsen sein würden. Am 30. August 1930 erklärte er gegenüber der Neuen Freien Presse, Österreich sei 1918 aus einem großen alten Wirtschaftsraum herausgerissen worden, ohne dass es die Möglichkeit erhalten habe, sich an ein anderes Wirtschaftsgebiet anzuschließen, ebendies sei „das österreichische Problem“; gleichzeitig machte er unmissverständlich deutlich, welcher andere Wirtschaftsraum dabei für ihn Priorität hatte: „Keine Kombination, von der Deutschland ausgeschlossen ist – jede Kombination, in der Deutschland enthalten ist“ Ökonomische Überlegungen lassen sich auf deutscher Seite weniger nachweisen. Immerhin rechnete die wirtschaftspolitische Abteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin mit einer deutlichen Zunahme des deutschen Außenhandelsvolumens und der deutschen Industrieproduktion auf Kosten der Österreicher. Wie sich das Zollunionsprojekt zu dem gleichzeitig geplanten Vorhaben verhielt, die deutschen Reparationsverpflichtungen zu revidieren, ist umstritten. Der Historiker Philipp Heyde nimmt an, dass beide Revisionsvorhaben nebeneinanderher vorangetrieben worden seien und Auswärtiges Amt und Reichskanzleramt es versäumt hätten, ihre Pläne aufeinander abzustimmen. Hermann Graml glaubt dagegen, dass Brüning es in reparationspolitischer Absicht unterlassen habe, das Zollunionsprojekt zu bremsen: Die absehbare Verstimmung der Franzosen habe die diversen Pläne einer Finanzhilfe für Deutschland zunichtegemacht, die seinem Plan, durch nachgewiesene Zahlungsunfähigkeit die Verpflichtungen des Youngplans abzuschütteln, im Wege gestanden hätten. Reaktionen Die Regierungen in Paris, London, Rom und Prag reagierten überrascht bis geschockt auf die deutsch-österreichische Demarche. Überall sah man sich vor ein Fait accompli gestellt, die Schutzbehauptung, es wäre noch nichts Definitives ausgehandelt und die Zollunion sei ein erster Schritt in Richtung auf eine europäische Union, verfing nirgendwo. Da gegenüber der britischen und der italienischen Regierung noch nach Curtius' Wienreise offiziell dementiert worden war, dass es ein solches Projekt gäbe, fühlten sich die dortigen Regierungen regelrecht getäuscht. Der tschechoslowakische Außenminister Edvard Beneš erklärte dem deutschen Gesandten Koch unumwunden, ein Wirtschaftsbündnis komme für sein Land nur in Frage, wenn Deutschland nicht daran beteiligt wäre. Am 23. April erklärte Beneš vor dem Parlament, ein Beitritt zur Zollunion würde sein Land außenwirtschaftspolitisch in einen Gegensatz zu den liberalen Staaten des Westens bringen, politisch würde die Tschechoslowakei ihre „ganze politische Bewegungsfreiheit verlieren“. Sie könne daher nur einem Wirtschaftsbündnis beitreten, das im Einvernehmen mit dem Völkerbund oder wenigstens mit den europäischen Großmächten abgeschlossen sei: „Ohne Einigung zwischen Berlin und Paris wird in Europa kein Frieden sein.“ Gegenüber dem österreichischen Gesandten Ferdinand Marek spitzte der Außenminister diese Meinung über das Zollunionsprojekt noch zu: Auch die französische Reaktion fiel deutlich aus: Hier erinnerte die Presse daran, dass der deutschen Reichseinigung von 1871 mit dem Zollverein ebenfalls ein handelspolitischer Zusammenschluss vorausgegangen war. Durch das unilaterale deutsche Vorgehen fühlte man sich ungut an den Panthersprung nach Agadir von 1911 erinnert. Die einzige Ausnahme von der ansonsten einhelligen Ablehnung des Projekts in der französischen Öffentlichkeit machte der sozialistische Politiker André Le Troquer, der darin den Auftakt einer gesamteuropäischen Zollunion erblickte. Die französische Regierung reagierte mit großer Entschiedenheit: Bereits am 20. März schlug sie vor, alle vier Signatarmächte des Genfer Protokolls von 1922 sollten gemeinsam in Wien vorstellig werden und dagegen protestieren, dass „Deutschland und Österreich […] sich auf einen Weg eingelassen [hätten], der zum Anschluss führt“. Gegenüber Österreich legten die Franzosen förmlichen Protest gegen das ihrer Ansicht nach illegale Projekt ein, das gegen das Genfer Protokoll von 1922 verstieß, gegenüber Deutschland wurden alle Verhandlungen über eine wirtschaftliche Zusammenarbeit oder eine Finanzhilfe eingestellt. In öffentlichen Reden kritisierten Ministerpräsident Pierre Laval und Außenminister Briand die deutsche Politik scharf. Briand fühlte sich durch das Zollunionsprojekt persönlich hintergangen, weil es die Rhetorik seines Europa-Projekts übernommen und gegen die französischen Interessen gerichtet hatte. Brüskiert sah er sich zusätzlich dadurch, dass er sich noch am 3. März 1931 in einer Rede vor der Abgeordnetenkammer über die „Anschluss-Propheten“ wie den nationalistischen Abgeordneten Henry Franklin-Bouillon lustig gemacht und bekräftigt hatte, ein Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich sei derzeit gar nicht aktuell. Nun war er öffentlich desavouiert. Das war doppelt unangenehm für den Außenminister, weil er Kandidat bei der Wahl zum Staatspräsidenten war, die am 13. Mai anstand. Nun wurde ihm von seinen nationalistischen Gegnern immer wieder seine Fehleinschätzung vom 3. März vorgehalten, die Ansicht war verbreitet, sein deutschfreundlicher Kurs habe „l’Anschluss économique“, wie die geplante Zollunion in Frankreich allgemein genannt wurde, erst möglich gemacht. Tatsächlich wurde Briands Konkurrent Paul Doumer neuer französischer Präsident. Das Zollunionsprojekt galt unter den Zeitgenossen als Ursache für die Niederlage Briands, der als Mitglied der Regierung und als Favorit der Linksopposition eigentlich die besten Aussichten gehabt hatte. Da Briand krankheitsbedingt nur eingeschränkt arbeitsfähig war – er litt an Urämie, an der er knapp ein Jahr später sterben sollte – sank in der Folge sein Einfluss auf die Gestaltung der französischen Außenpolitik, die zunehmend vom Ministerpräsidenten geprägt wurde. In Großbritannien gab es auch positive Stimmen. So lobte etwa Winston Churchill das Projekt als Möglichkeit für Brünings Minderheitsregierung, ihre innenpolitische Basis zu verbessern. Das Foreign Office aber war über das Projekt erbost, nicht so sehr, weil man seine politisch-rechtliche Zulässigkeit bezweifelte, sondern weil es geeignet schien, die Spannungen in Europa zu verschärfen. Außenminister Arthur Henderson setzte große Hoffnungen auf die internationale Genfer Abrüstungskonferenz, die Anfang 1932 beginnen sollte. Sie konnte nur ein Erfolg werden, wenn vorher eine gewisse Entspannung in den internationalen Beziehungen eingetreten war und entspannungsbereite Politiker, zu denen er neben Reichskanzler Brüning vor allem Außenminister Briand rechnete, bis dahin in ihren Ämtern blieben. Beides schien durch das deutsch-österreichische Projekt gefährdet, weswegen der Leiter der Mitteleuropa-Abteilung des Foreign Office Omre Sargent formulierte, Ziel der britischen Außenpolitik sei „simply […] to kill it“. Kritik gab es auch in Deutschland. Der Publizist Theodor Wolff kritisierte das deutsch-österreichische Vorgehen scharf als blinden Aktionismus, der geeignet sei, bereits gewonnenes außenpolitisches Terrain zu verspielen. Die SPD befand sich dagegen in der Zollunionsfrage in einem Dilemma: Einerseits war sie traditionell großdeutsch eingestellt, andererseits war sie gegen jede Provokation der französischen Partner. Zudem wollte die Partei nationale Zuverlässigkeit demonstrieren und keine neue Dolchstoßlegende aufkommen lassen. Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Reichstag, Rudolf Breitscheid, kritisierte daher nur die Geheimhaltung des Projekts vor dem Parlament. Am 24. März bat er im Reichstag darum, „doch in Zukunft in ähnlichen Fällen etwas mehr Rücksicht auf die berechtigten Ansprüche der deutschen Volksvertretung zu nehmen.“ In Österreich opponierten Teile der Industrie, die aufgrund ihres Technologiedefizits befürchteten, der deutschen Konkurrenz nicht gewachsen zu sein. Ansonsten stieß das Projekt auf große Zustimmung. Der Sozialdemokrat Karl Renner erklärte am 29. April in seiner Antrittsrede als Präsident des Nationalrats: Scheitern Großbritannien und Frankreich wandten verschiedene Strategien an, die das deutsch-österreichische Projekt im Herbst 1931 scheitern ließen. Die Franzosen griffen zu den Mitteln der Finanzdiplomatie, die Briten setzten eine politisch-rechtliche Prüfung in Gang. Beide Prozesse verliefen gleichzeitig, beide führten am 3. bzw. 5. September 1931 zum gewünschten Erfolg. Die britische Völkerbundsdiplomatie Den Briten kam es darauf an, das Zollunionsprojekt auf die lange Bank zu schieben oder möglichst geräuschlos zu erledigen, ohne dass die Atmosphäre für die Abrüstungskonferenz nachhaltig gestört wurde. Daher waren sie auch gegen den französischen Vorschlag gemeinsamer Protestdemarchen. Außenminister Henderson ließ sich vielmehr von den beiden Botschaftern in London, Konstantin Freiherr von Neurath und Georg Albert von und zu Franckenstein, bestätigen, dass mit der Zollunion kein Fait accompli geplant sei. Damit entkräftete er das Argument Botschafter Aimé de Fleuriaus, dass rasches Handeln erforderlich wäre, und erlangte die französische Zustimmung, die Frage auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung des Völkerbundsrats zu setzen, die im Mai anstand. Ziel war eine Weiterleitung an den Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Mit diesem Vorgehen waren auch Italien und überraschend schnell auch Österreich einverstanden, wo man allem Anschein nach nicht so fest hinter dem Vorhaben stand, wie die Deutschen vermuteten. Daher gab auch die Regierung in Berlin nach einigem Sträuben nach: Am 10. April bat die britische Regierung daher, die Frage der Zollunion im Völkerbundsrat zu behandeln. Als der Rat am 18. Mai 1931 unter dem Vorsitz von Curtius zusammentrat, war die Stimmung gegenüber dem deutsch-österreichischen Plan ungünstig. Der britische Antrag wurde schon am 19. Mai einstimmig angenommen. Daraufhin richtete Henderson, außerhalb der Tagesordnung und ohne dass dies mit dem Vorsitzenden Curtius abgesprochen gewesen wäre, die Frage an Schober, ob Österreich auf eine weitere Verfolgung der Zollunion verzichte, bis der Völkerbundsrat nach einem Urteilsspruch aus Den Haag sich erneut mit ihr befasst habe. In die Ecke gedrängt, bejahte der österreichische Außenminister. Damit hatte Henderson, was er wollte: Auch wenn Schober und Curtius später vor der Presse erklärten, sie würden selbstverständlich in der Sache in Fühlung bleiben, waren alle ernsteren Verhandlungen nun bis auf Weiteres unmöglich. Später legte es sich Außenminister Curtius immerhin als Erfolg aus, verhindert zu haben, dass der Rat neben den rechtlichen auch die politischen und wirtschaftlichen Aspekte des Zollunionsprojektes diskutierte. In der deutschen Presse dagegen wurde ihm die Überweisung der Zollunionsfrage an den Haager Gerichtshof als schwere außenpolitische Niederlage vorgeworfen. Der Ständige Internationale Gerichtshof beriet vom 20. Juli bis zum 3. August 1931 über die Zulässigkeit der Zollunion. Den Standpunkt Österreichs vertrat Hans Sperl. Am 5. September veröffentlichte der Gerichtshof sein „avis consultatif“. Demnach sei das Zollunionsprojekt unvereinbar mit dem Genfer Protokoll von 1922, das Österreich verpflichtete, seine wirtschaftliche Unabhängigkeit aufrechtzuerhalten. Für dieses Votum hatten die Vertreter Frankreichs, Rumäniens, Polens, Italiens, Spaniens, Kolumbiens, Kubas und El Salvadors gestimmt, dagegen die Deutschlands, Großbritanniens, der Vereinigten Staaten, der Niederlande, Belgiens, Japans und Chinas. Mit acht zu sieben Stimmen fiel das Ergebnis sehr knapp aus. Die Ansicht, dass das Zollunionsprojekt auch gegen das Anschlussverbot des Vertrags von Saint-Germain verstieß, fand keine Mehrheit. Einen Tag später tagte der Völkerbundsrat, der unter dem Vorsitz des spanischen Außenministers Alejandro Lerroux das Gutachten des Gerichtshofs zur Kenntnis nahm und auf eine weitere Diskussion der Angelegenheit, die Deutschland und Österreich noch weiter hätte demütigen können, verzichtete. Ein Votum war auch gar nicht nötig, denn drei Tage vorher war das Zollunionsprojekt nämlich bereits an der französischen Finanzdiplomatie gescheitert. Die französische Finanzdiplomatie Für Frankreich bedeutete das Zollunionsprojekt einen direkten Anschlag auf seine Machtstellung in Mittel- und Südosteuropa. Man befürchtete, es werde zu einem Anschluss Österreichs führen und so das Deutsche Reich noch stärker machen, um dessen demografische und potenziell auch ökonomische Überlegenheit sich Frankreich in der Zwischenkriegszeit Sorgen machte. Daher wurde die Zollunion als Anschlag auf Frankreichs Sicherheit interpretiert. Am 23. März beschloss das Kabinett unter Ministerpräsident Laval, die Zollunion mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu vereiteln. Ansätze, durch Kredithilfen und wirtschaftliche Zusammenarbeit dem von der Weltwirtschaftskrise bereits stark betroffenen Deutschland unter die Arme zu greifen und damit auch dessen Fähigkeit zu sichern, Reparationen zu zahlen, wurden vorerst eingestellt. Als Korrelat zu dieser negativen Haltung wurde am 7. Mai ein plan constructif vorgelegt, der positive Angebote für eine Lösung der Wirtschafts- und Handelsprobleme Mittel- und Südosteuropas machte. Dass die Federführung für diesen Plan beim Unterstaatssekretär für Volkswirtschaft André François-Poncet und nicht beim Außenministerium lag, zeigt die Schwächung, die Briand innerhalb des Regierungsapparates erlitten hatte. Der plan constructif sah ein Ende des handelspolitischen Systems der Meistbegünstigung vor. Stattdessen sollten sich Österreich und die Staaten Mittel- und Südosteuropas gegenseitig Handelspräferenzen für ihre Industriegüter bzw. Agrarprodukte einräumen. Außerdem sollte durch transnationale Kartellierung die ökonomische Konkurrenz zwischen den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie abgemildert werden und ihnen verbesserte Kreditmöglichkeiten angeboten werden. Sowohl das handelspolitisch weiterhin auf Liberalismus setzende Großbritannien als auch das Deutsche Reich, das an der binationalen Lösung der Zollunion festhielt, konnten an dem Plan nichts Konstruktives finden. Der Europäische Studienausschuss in Genf, dem er am 16. Mai vorgelegt wurde, erledigte ihn durch Verweis an seine Unterausschüsse. Als erfolgreich sollte sich die andere Seite der französischen Finanzdiplomatie erweisen, auf die François-Poncet in seinem „Mémoire sur l’Anschluss économique“ aufmerksam machte. Nach seiner Schätzung hätten die französischen Banken kurzfristige Kredite im Wert von einer Milliarde Reichsmark an deutsche Firmen vergeben, die rasch abgezogen werden könnten: François-Poncet erwartete, dass die Deutschen schon bald wieder auf die „Stimme der Weisheit“ hören würden. Im Juni 1931 geriet Deutschland nach Abflüssen kurzfristiger Kredite in Milliardenhöhe in Zahlungsschwierigkeiten. Um dem internationalen Finanzsystem eine Atempause zu geben, schlug der amerikanische Präsident Herbert Hoover vor, die deutschen Reparationen und die interalliierten Kriegsschulden für ein Jahr auszusetzen. In der französischen Öffentlichkeit erhoben sich Stimmen, die forderten, die Regierung solle ihre Zustimmung von deutschen Konzessionen, namentlich von einem Verzicht auf die Zollunion abhängig machen. Die großzügige amerikanische Initiative so offenkundig zu instrumentalisieren, getraute sich Laval nicht, zumal ein vergleichbarer Versuch der faschistischen Regierung Italiens am 23. Juni in Washington brüsk zurückgewiesen worden war. Die amerikanisch-britisch-französischen Verhandlungen über das Hoover-Moratorium zogen sich in die Länge, auch weil Laval mit Rücksicht auf seine innenpolitischen Kritiker in den finanztechnischen Fragen hart blieb. Um ihm die Zustimmung zu erleichtern, drängten jetzt die Briten, Brüning solle doch als Zeichen des Entgegenkommens auf die Zollunion verzichten. Der gleichfalls innenpolitisch angeschlagene Kanzler lehnte das ab. Erst am 8. Juli 1931, fast drei Wochen nach Hoovers ursprünglichem Vorschlag, konnte das Moratorium in Kraft treten. Das Vertrauen der Kapitalmärkte in Deutschlands Zahlungsfähigkeit kehrte dennoch nicht zurück: Die Kreditabzüge gingen weiter, am 13. Juli 1931 war Deutschland zahlungsunfähig, per Notverordnung wurden die deutschen Banken für mehrere Tage geschlossen. Auch in den nun folgenden internationalen Verhandlungen über eine mögliche Stabilisierung der deutschen Finanzlage spielte die Zollunion eine Rolle. Als Gegenleistung für die rettende Kredithilfe verlangten die Franzosen ein „politisches Moratorium“ von zehn Jahren, das heißt, die Deutschen sollten auf alle Versuche verzichten, den Versailler Vertrag zu revidieren. Bei einem Staatsbesuch in Paris berieten Brüning und Laval, kamen aber zu dem Ergebnis, dass eine Milliardenanleihe untunlich wäre: Wenn es keine politischen Gegenleistungen bezüglich der Zollunion und der anderen deutschen Revisionsvorhaben gäbe, würde die französische Regierung innenpolitische Schwierigkeiten bekommen und wahrscheinlich gestürzt werden. Dasselbe drohe der deutschen Regierung, wenn sie die französischen Forderungen erfülle. Während die deutsche Regierung den Verlockungen der französischen Finanzdiplomatie widerstand, einfach weil sie bei Annahme von einem innenpolitischen Sturm hinweggefegt worden wäre, zeigten sich die Österreicher empfänglicher. Am 11. Mai 1931 erklärte sich die Creditanstalt, die größte Bank Österreichs, die sich bei ihrer Fusion mit der Bodencreditanstalt übernommen hatte, für zahlungsunfähig. Französische Manipulationen als Ursache nimmt die Forschung nicht an. Um eine Finanzpanik zu verhüten, übernahm der österreichische Staat die Gesamthaftung für alle inländischen Verbindlichkeiten der Bank. Damit war er selbst in Gefahr, zahlungsunfähig zu werden; zudem gefährdete der Abzug kurzfristiger Auslandskredite die Stabilität des Schillings. Das Bankhaus Rothschild bot gemeinsam mit der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich an, Österreich zu helfen und Schatzscheine im Wert von 150 Millionen Schilling auf den Weltmarkt zu emittieren, Frankreich verlangte aber als Bedingung einen Verzicht auf die Zollunion und setzte der Regierung in Wien ein Ultimatum von drei Stunden. In Berlin berieten die Spitzen aus Auswärtigem Amt, Finanzministerium und Reichsbank, wie man den österreichischen Partnern helfen könne – entweder durch Übernahme von Aktien der Creditanstalt mit Reichsgarantie oder durch Aufkauf der Schatzscheine. Da im Reichshaushalt dafür aber höchstens 15 Millionen Schilling freizumachen waren, kam die Hilfeleistung nicht zustande. Der österreichische Bundeskanzler Ender glaubte nicht, einen Verzicht und die gleichfalls verlangte Konsolidierung der Bundesfinanzen innenpolitisch durchsetzen zu können und trat am 16. Juni zurück. Sein Nachfolger wurde der Christlichsoziale Karl Buresch, der mit einem Überbrückungskredit der Bank von England einen sofortigen Bankrott seines Landes abwehren konnte. Die Briten waren bestrebt, die französische Politik der „Erpressung“ zu vereiteln, gerieten aber zunehmend selbst in den Sog der internationalen Finanzkrise und mussten Anfang August die Kreditlinie nach Österreich kündigen. Am 16. Juli 1931 beugte sich die österreichische Regierung dem französischen Druck. Der Gesandte in Paris Alfred Grünberger sagte am Quai d’Orsay einen Verzicht auf die Zollunion zu und erreichte die Zusage, Frankreich würde sich an der finanziellen Rettung Österreichs beteiligen, ohne sein demütigendes Ultimatum zu erneuern. Kurz darauf schlug Schober den Deutschen vor, „die Verhandlungen, nachdem eine deutsch-österreichische Zollunion jetzt doch nicht möglich sei, in einem größeren Rahmen weiterzuführen“ – eine verklausulierte Formulierung für Österreichs Rückzug vom gemeinsamen Projekt. Am 11. August suchte die Regierung Buresch um eine Völkerbundsanleihe nach. Am 3. September 1931 erklärten Schober und Curtius vor dem Europaausschuss des Völkerbunds, „beide Länder hätten nicht die Absicht, das ursprünglich ins Auge gefaßte Projekt weiter zu verfolgen“. Diese Erklärungen waren in den Tagen zuvor gemeinsam mit François-Poncet entworfen worden, der wenige Wochen später zum französischen Botschafter in Berlin avancieren sollte. Im Reichskabinett stellte es Curtius als seinen Erfolg dar, dass er kein Schuldbekenntnis habe ablegen und auf keinerlei Rechtsansprüche habe verzichten müssen. Er konnte aber nicht beschönigen, dass seine Niederlage komplett war: Die Zollunion war politisch und juristisch gescheitert. Am 3. Oktober 1931 trat er als Außenminister zurück. Auch Schober verlor bald darauf sein Amt. Die Christlichsozialen gaben ihm und dem Zollunionsprojekt die Schuld an der sich katastrophal verschlechternden Wirtschaftslage. Die Großdeutschen wiederum sahen sich in ihrer nationalen Thematik zunehmend von der anwachsenden nationalsozialistischen Bewegung unter Druck gesetzt. Als sie im Januar 1932 von Bundeskanzler Buresch die Zusicherung verlangten, der „deutsche Kurs“ der österreichischen Außenpolitik werde grundsätzlich fortgesetzt, lehnte dieser ab: Schober und die Großdeutschen schieden daraufhin aus der Regierung aus. Bei den Landtagswahlen am 24. April 1932 in Wien, Niederösterreich und Salzburg verlor die Großdeutsche Volkspartei fast alle Stimmen an die NSDAP. Bewertungen Das Zollunionsprojekt wird in der Forschung zumeist negativ beurteilt: Deutsche und Österreicher agierten taktisch ungeschickt, indem sie mit ihrer langen Geheimhaltung den Eindruck erweckten, sie würden die anderen interessierten Regierungen hintergehen oder vor vollendete Tatsachen stellen; sie überschätzten sowohl ihre rechtliche Position als auch ihre politische Stärke. Die Revision der deutschen Reparationsverpflichtungen, die Brüning gleichzeitig anging, lässt das Zollunionsprojekt zudem „deplatziert“ erscheinen. Noch bedeutsamer waren die Folgen auf internationaler Ebene. Für den Historiker Peter Krüger war das Zollunionsprojekt „der Sündenfall der deutschen Außenpolitik, eine Herausforderung des europäischen Staatensystems, und eine schlecht kalkulierte dazu“. An die Stelle der vertrauensvollen Zusammenarbeit und der geduldigen Suche nach Kompromissen mit Frankreich, die Stresemanns Verständigungspolitik ausgemacht habe, seien nun Auftrumpfen und Konfrontation getreten, statt Gleichberechtigung im Kreise der Großmächte habe Deutschland nun eine Hegemonie angestrebt. Der französische Historiker Jacques Bariéty deutet das Projekt als mit ökonomischen Argumentationen kaschierten Teil einer deutschen Gesamtstrategie, „in Südosteuropa das Erbe des Habsburger Reiches anzutreten“. Angesichts der immer noch überragenden Machtstellung Frankreichs in Europa konnte das nicht gelingen, weswegen der Bielefelder Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler von einem „politisch aberwitzigen Projekt“ spricht. Der Historiker Tilman Koops bezeichnet das Projekt Der „völlige Fehlschlag“ des Zollunionsprojekts (Eberhard Kolb) untergrub in der Folge das Vertrauen von Deutschen und Österreichern in diplomatische Lösungen, in friedliche Streitschlichtung und die Institution des Völkerbunds. Rolf Steininger urteilt, in der Konsequenz habe das „für Deutschland […] Hitler, für Österreich Dollfuß“ bedeutet. Die britische Historikerin Anne Orde sieht das Projekt positiver. Nach ihrer Ansicht spielte dabei gar nicht die Politik die Hauptrolle, sondern die Wirtschaft: Ursprünglich sei die Zollunion als erster Schritt einer langfristigen Strategie zur Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise durch wirtschaftliche Zusammenarbeit in Zentral- und Südosteuropa geplant worden, alle anderen Motive seien erst durch Druck der Öffentlichkeit in beiden Ländern in den Vordergrund geschoben worden. Ähnlich urteilt auch der australische Reparationshistoriker Bruce Kent: Der Historiker Andreas Rödder nimmt eine mittlere Position ein: Er sieht Curtius in stärkerer Kontinuität zu seinem Vorgänger Stresemann; der Übergang von dessen „Verständigungsrevisionismus“ zu einem „Verhandlungsrevisionismus“ sei dadurch veranlasst gewesen, dass es nach der Verabschiedung des Youngplans und der Rheinlandräumung sachlich keine Kompromissmöglichkeiten zwischen Frankreich und Deutschland mehr gegeben habe. Curtius‘ Ansatz sei also nur eine Variante des stresemannschen Konzepts und müsse im Gegensatz zum „Konfrontationsrevisionismus“ gesehen werden, wie ihn die extreme Rechte der Weimarer Republik forderte. Gleichwohl kritisiert auch Rödder die „Risikostrategie“, die Curtius in der Zollunionsaffäre verfolgt habe. Einzelnachweise Literatur Siegfried Beer: Der „unmoralische“ Anschluß. Britische Österreichpolitik zwischen Containment und Appeasement 1931–1934 (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs. Band 75), Böhlau, Wien u. a. 1988, ISBN 3-205-08748-8 (Zugleich: Wien, Universität, Dissertation, 1981/1982: Zwischen „Containment“ und „Appeasement“.). Edward W. Bennett: Germany and the diplomacy of the financial crisis. 1931 (= Harvard historical Monographs. Band 50, ). Harvard University Press u. a., Cambridge MA u. a. 1962. Hermann Graml: Zwischen Stresemann und Hitler. Die Außenpolitik der Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher (= Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Schriftenreihe Band 83). Oldenbourg, München 2001, ISBN 3-486-64583-8. Oswald Hauser: Der Plan einer deutsch-österreichischen Zollunion von 1931 und die europäische Föderation. In: Historische Zeitschrift. Band 179, 1955, S. 45–49. M. D. Newman: Britain and the German-Austrian Customs Union Proposal of 1931. In: European Studies Review. Band 6, 1976, , S. 449–472, . Anne Orde: The Origins of the German-Austrian Customs Union Affair of 1931. In: Central European History. Band 13, Nr. 1, 1980, , S. 34–59, . Frederick G. Stambrook: The German-Austrian Customs Union Project of 1931. A Study of German Methods and Motives. In: Journal of Central European Affairs. Band 21, 1961/1962, , S. 15–41. Rolf Steininger: „… Der Angelegenheit ein paneuropäisches Mäntelchen umhängen…“. Das deutsch-österreichische Zollunionsprojekt von 1931. In: Michael Gehler, Rainer F. Schmidt, Harm-Hinrich Brandt, Rolf Steininger (Hrsg.): Ungleiche Partner? Österreich und Deutschland in ihrer gegenseitigen Wahrnehmung. Historische Analysen und Vergleiche aus dem 19. und 20. Jahrhundert (= Historische Mitteilungen. Beiheft 15). Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1996, ISBN 3-515-06878-3, S. 441–480. Zollpolitik Außenwirtschaft Außenpolitik (Weimarer Republik) Wirtschaft (Weimarer Republik) Österreichische Wirtschaftsgeschichte Politik 1931 Österreichische Geschichte (Zwischenkriegszeit) Deutsch-österreichische Beziehungen
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Konzepte zur Überwindung der Blut-Hirn-Schranke
Konzepte zur Überwindung der Blut-Hirn-Schranke ermöglichen es, dem Gehirn für therapeutische Zwecke Wirkstoffe zuzuführen. Die Blut-Hirn-Schranke ist eine dynamische Grenzfläche, die über Influx (Zufluss, wörtlich: Einströmen) und Efflux (Abfluss) kontrolliert, welche Nährstoffe, Arzneistoffe, Drogen, Xenobiotika und sonstige Verbindungen dem Gehirn zugeführt werden können. Dadurch gewährleistet sie dem Zentralnervensystem (ZNS) ein optimales Milieu. Ihre Schutzfunktion macht die Blut-Hirn-Schranke jedoch auch zu einer Barriere für viele potenzielle Wirkstoffe und vereitelt so deren Einsatz in medikamentösen Therapien. Etwa 98 % der potenziellen Neuropharmaka scheitern daran. So lassen sich nur relativ wenige neurologische und psychiatrische Erkrankungen wie beispielsweise affektive Störungen wie Depressionen, Epilepsie oder chronische Schmerzen mit kleinen lipophilen Wirkstoffen behandeln. Dagegen gibt es keine Therapie für neurodegenerative Erkrankungen wie die Alzheimer-Krankheit, Chorea Huntington und die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Für Gehirntumoren, Schlaganfälle, Rückenmarksverletzungen und Schädel-Hirn-Traumata sind keine effektiven medikamentösen Therapien bekannt. Auch bei im Kindesalter auftretenden Syndromen wie Autismus, lysosomalen Speicherkrankheiten, dem Fragiles-X-Syndrom oder Ataxie stellt die Blut-Hirn-Schranke eine Barriere dar, die bisherige medikamentöse Therapieansätze verhindert. Selbst bei Erkrankungen wie Multipler Sklerose kann die Progression der Erkrankung im Zentralnervensystem nicht gestoppt werden, da die verabreichten Medikamente nur in der Peripherie wirken. Prinzipiell könnten viele dieser Erkrankungen mit Wirkstoffen, beispielsweise auf Basis von Enzymen, Genen oder biotechnologisch hergestellten Proteinen, behandelt werden – wenn sie die Blut-Hirn-Schranke überwinden könnten. Eine Therapie ist aber nur möglich, wenn diese Substanzen in ausreichender, das heißt therapeutisch wirksamer Konzentration auch an den Wirkort – also das Zentralnervensystem – gelangen können. Es wird daher seit Jahrzehnten intensiv an Methoden geforscht, die einen Wirkstofftransport in das Gehirn unter Umgehung oder – idealerweise selektiver – Öffnung der Blut-Hirn-Schranke ermöglichen sollen. Eine Reihe von Strategien zur Überwindung der Blut-Hirn-Schranke wurde dabei entwickelt oder befindet sich noch im Entwicklungsstadium. Umgehen der Blut-Hirn-Schranke – intrathekale und intraventrikuläre Wirkstoffapplikation Die naheliegendste Form des Wirkstofftransportes in das ZNS unter Umgehung der Blut-Hirn-Schranke stellt die Injektion direkt in den Liquor cerebrospinalis (intrathekal) oder direkt in die Hirnventrikel (intraventrikulär) dar. Der Wirkstoff wird dabei direkt in den Liquor injiziert. Angewendet wird dieses Verfahren beispielsweise als intrathekale Chemotherapie unter anderem mit dem Folsäure-Antagonisten Methotrexat (MTX), mit Cytarabin (AraC) und Cortisol; speziell bei Patienten mit akuter lymphatischer Leukämie und aggressiven Lymphomen. Die drei Wirkstoffe werden in der zur Behandlung der Hirnhaut-Leukämie zusammen in den Liquor appliziert. Die intrathekale Wirkstoffapplikation ist – verglichen mit der intravenösen (systemischen) Gabe von Wirkstoffen – deutlich aufwändiger und für viele Patienten auch unangenehmer. Darüber hinaus bestehen bei derartigen Darreichungsformen aufgrund der deutlich erhöhten Infektions- und Verletzungsgefahr besonders strenge Anforderungen an Hygiene und technische Fertigkeiten des Anwenders. Durch die Injektion von Wirkstoffen mit Depotwirkung () können die Behandlungsintervalle auf längere Zeiträume – beispielsweise 14-täglich – gestreckt werden. Weniger aufwändig ist die Verwendung eines Ommaya-Reservoirs, das unter die Kopfhaut implantiert wird. Einen ähnlichen Ansatz bieten implantierbare Medikamentenpumpen. Bei schweren Schmerzzuständen kann diese Methode beispielsweise für die Dosierung von Morphin gewählt werden. Auch zur Behandlung von Spastiken, beispielsweise bei Multipler Sklerose mit Baclofen, kann der Wirkstoff über eine solche Pumpe intrathekal appliziert werden. Die Methode wurde erstmals 1984 angewendet und ist seitdem etabliert. Intrathekal applizierte Wirkstoffe werden meist speziell für diese Darreichungsform formuliert. Sie dürfen beispielsweise keine Bakterizide und eine Reihe anderer Hilfsstoffe enthalten, die in intravenös applizierten Medikamenten übliche Zusatzstoffe sind. Für einige wenige Erkrankungen ermöglicht die intrathekale beziehungsweise die intraventrikuläre Wirkstoffapplikation eine wirksame Therapie. Für die Behandlung von Hirntumoren sind diese beiden Methoden zur Umgehung der Blut-Hirn-Schranke allerdings nicht geeignet. Die Ursache hierfür liegt in der auf nur wenige Millimeter begrenzten Diffusion der Wirkstoffe in das Parenchym des Gehirns. Eine experimentell und therapeutisch nutzbare Lücke in der Blut-Hirn-Schranke sind die in das Gehirn eintretenden Hirnnerven. So konnte gezeigt werden, dass beispielsweise Neurotrophine, Neuropeptide, Insulin, Zytokine und sogar DNA, die über die Nase verabreicht wurden, über den Riechnerv in das Zentralnervensystem gelangen können. Ebenso konnte man über diesen Weg erfolgreich Stammzellen in das Gehirn einschleusen. Überwindung der Blut-Hirn-Schranke für therapeutische Zwecke Eine intakte Blut-Hirn-Schranke ist für jedes Wirbeltier lebensnotwendig. Für viele Wirkstoffe, die außerhalb des Zentralnervensystems ihre Wirkung entfalten sollen, ist die Retention an der Blut-Hirn-Schranke ein wichtiges Kriterium für die Zulassung, um die sonst zu erwartenden teilweise erheblichen Nebenwirkungen, insbesondere bei dauerhafter Einnahme eines Medikaments, sicher ausschließen zu können. Andererseits stellt die Blut-Hirn-Schranke bei der Behandlung neurologischer Erkrankungen für viele Verbindungen eine unüberwindliche Barriere dar. Lipophilisierung Das Diffusionsvermögen eines Moleküls durch die Endothelien der Blut-Hirn-Schranke wird vor allem durch seine Fettlöslichkeit (Lipophilie) und Größe bestimmt. Durch eine Modifizierung des Moleküls mit lipophilen Gruppen kann deshalb eine verbesserte Gehirngängigkeit erreicht werden. Ein klassisches Beispiel hierfür ist die Di-Acetylierung des Naturstoffes Morphin zu Diacetylmorphin (Heroin). Heroin (log P=1,12) zeigt gegenüber Morphin (log P=0,2) eine über 25fach höhere Aufnahme im Gehirn (siehe dazu: Tabelle 1). Entsprechende Ergebnisse werden beim Brain-Uptake-Index (BUI) für radioaktiv markiertes Morphin, Codein und Heroin erhalten, das in die Halsschlagader injiziert wird. Für Morphin liegt der BUI unterhalb der Nachweisgrenze, bei Codein bei 24 % und für Heroin bei 68 %. Dieses Prodrug-Konzept kann selbst bei peptidischen Wirkstoffen zu einer Verbesserung der Gehirngängigkeit führen. Das Konzept versagt allerdings bei Molekülen mit einer molaren Masse größer als 500 g·mol−1, da solche Substanzen aufgrund ihrer Größe nicht mehr die Blut-Hirn-Schranke per Diffusion passieren können. Zudem geht mit der Lipophilisierung eine deutlich schlechtere Löslichkeit des Wirkstoffes einher. Bei der oralen Gabe können aber nur gelöste Wirkstoffe im Gastrointestinaltrakt aufgenommen werden. Die Lipophilisierung bewirkt natürlich auch eine erhöhte Aufnahme in anderen, nicht zerebralen, Zellen. Auch gegen Efflux-Transporter, die den eindiffundierten Wirkstoff wieder aus dem Endothel ausschleusen, ist die Lipophilisierung wirkungslos. Ausnutzung der Transporter Im Endothel der Blut-Hirn-Schranke sind mehrere Transportsysteme, um das Gehirn mit essentiellen hydrophilen Substanzen zu versorgen. Ein Ansatz, Wirkstoffe in das Gehirn schleusen zu können, ist die Ausnutzung dieser Transporter. Dies wird beispielsweise bei der Therapie der Parkinson-Krankheit angewendet. Daran erkrankte Patienten haben im Gehirn einen Mangel des Neurotransmitters Dopamin. Die Gabe von Dopamin wäre diesbezüglich wirkungslos, da Dopamin die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren kann. Verabreicht man dagegen Levodopa, eine nicht-proteinogene α-Aminosäure, so wird diese über den LAT1-Transporter dem Gehirn zugeführt und dort anschließend in Dopamin verstoffwechselt. Der LAT1-Transporter gehört zur Familie der LNAA-Transporter (large neutral amino acid). Auch das Antiepileptikum Gabapentin, das Antihypertensivum α-Methyldopa und die Zytostatika Melphalan und Acivicin können über LNAA-Transporter die Blut-Hirn-Schranke passieren. Die Obergrenze für die Ausnutzung der bestehenden Transportsysteme liegt bei einer molaren Masse von etwa 500 bis 600 g·mol−1. Vektorisierung Ein anderer Weg, um die Blut-Hirn-Schranke mit einem Wirkstoff zu überwinden, ist die Vektorisierung. Dieser Ansatz beruht auf der Beobachtung, dass einige Makromoleküle, wie Transferrin, Low Density Lipoprotein und Insulin über einen mehrstufigen, als rezeptorvermittelte Transzytose bezeichneten Prozess die Blut-Hirn-Schranke überwinden können. Über Rezeptoren, die sich an der Oberfläche der Endothelzellen der Hirnkapillaren befinden und in das Lumen der Blutgefäße hineinragen, werden die Makromoleküle in das Innere der Endothelzellen über Vesikel eingeschleust, um dann auf die andere Seite der Zelle (abluminale Seite) transportiert und ausgeschleust zu werden. Wird ein Wirkstoffmolekül an ein solches Makromolekül gebunden, kann die rezeptorvermittelte Transzytose zur Überwindung der Blut-Hirn-Schranke ausgenutzt werden. Ein Beispiel hierfür ist der Transferrinrezeptor, der mit Hilfe gegen ihn gerichteter monoklonaler Antikörper zum Transport von Wirkstoffen durch die Blut-Hirn-Schranke genutzt werden kann. Dieser Rezeptor ist gewöhnlicherweise für den Transport von Eisen durch die Blut-Hirn-Schranke zuständig. Ein anderes Target ist der Insulinrezeptor, der auch von den Endothelzellen der Blut-Hirn-Schranke exprimiert wird. Mit beiden Vektoren wurden im Tiermodell verschiedene, auch größere, Peptide erfolgreich über die Blut-Hirn-Schranke geschleust. Speziell für die Therapie von neurodegenerativen Erkrankungen, für die nur geringe Wirkstoffkonzentrationen notwendig sind, ist die Vektorisierung ein vielversprechender Ansatz. Auch Zytostatika wie beispielsweise Doxorubicin wurden an Transferrinrezeptor-Antikörper gebunden. Das Phänomen der Transzytose ist jedoch nicht auf Makromoleküle beschränkt. Wenngleich der genaue Mechanismus nicht immer geklärt ist, so konnte gezeigt werden, dass auch kleine Peptide und niedermolekulare Substanzen auf diese Weise in die Zelle gelangen und diese passieren können. Eine Vektorisierung zum Zweck der Passage der Blut-Hirn-Schranke ist somit auch mit kurzen Peptidsequenzen möglich. Als Vektoren für Wirkstoffe, wie beispielsweise Doxorubicin, fanden unter anderem basische Protegrin-Abkömmlinge, wie beispielsweise Syn-B, und das aus der Homöodomäne von Antennapedia, einem Transkriptionsfaktor von Drosophila, abgeleitete Penetratin Anwendung. Ein anderer Peptid-Vektor ist das aus elf überwiegend basischen Aminosäuren bestehende und aus der Transduktionsdomäne des HI-Virus isolierte HIV-TAT (engl. Trans-Activator of Transcription). Ein Peptid mit ähnlichen Eigenschaften ist das aus 27 Aminosäuren aufgebaute Transportan, ein zellpenetrierendes Peptid. Mit transgenen Makrophagen können Proteine durch die Blut-Hirn-Schranke geschleust werden. Kationisierung Positiv geladene Moleküle (Kationen) können mit Hilfe der adsorptionsvermittelten Transzytose, auch kationischer Transport genannt, die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Bei der adsorptionsvermittelten Transzytose bewirken elektrostatische Wechselwirkungen zwischen der durch Glykoproteine negativ geladenen Zelloberfläche und positiv geladenen Molekülen eine unspezifische Bindung an die Oberfläche von Zellen, in deren Folge eine Aufnahme und ein Transport durch das Zytoplasma der Endothelien erfolgt. Die kationische Transzytose durch das Endothel der Blut-Hirn-Schranke ermöglicht einen höheren Grad des Stofftransportes als die rezeptorvermittelte Transzytose. Die Kationisierung von Antikörpern wurde in einer Reihe unterschiedlicher Studien und Anwendungsfeldern erfolgreich zur Passage der Blut-Hirn-Schranke eingesetzt. So beispielsweise, um β-Amyloidplaques sichtbar zu machen oder Mitochondrien zu targetieren. Eine positive Ladung weisen bereits Peptide und Proteine auf, deren isoelektrischer Punkt im Basischen liegt. Ein Ansatz, die Aufnahme nicht basischer Peptide und Proteine im Gehirn zu verbessern, ist, diese mit Hilfe von natürlich vorkommenden Polyaminen, wie beispielsweise Putrescin, Spermidin oder Spermin, chemisch zu modifizieren. Eine Alternative dazu ist die im Kapitel Vektorisierung beschriebene Konjugation von Wirkstoffpeptiden und -proteinen an basische Peptide wie Syn-B. Auch synthetische Polyamine, wie beispielsweise Polyethylenimin, können zum erleichterten Transport von Wirkstoffen und DNA durch die Blut-Hirn-Schranke eingesetzt werden. Der Effekt der Kationisierung ermöglicht zwar die Passage von Wirkstoffen und Diagnostika über die Blut-Hirn-Schranke, bewirkt aber gleichzeitig eine erheblich gesteigerte Aufnahme der applizierten Dosis in Leber und Nieren – mit den entsprechenden zu erwartenden Nebenwirkungen. Nanopartikel In den 1990er Jahren wurde in Versuchen mit Nanopartikeln, die aus biokompatiblen Polymeren aufgebaut sind, festgestellt, dass diese Partikel unter bestimmten Umständen in der Lage sind, die Blut-Hirn-Schranke zu passieren. Der Durchmesser dieser Partikel liegt üblicherweise bei 50 bis 300 nm. Die unfunktionalisierten, reinen Polymerpartikel sind in dieser Form nicht in der Lage durch das Endothel zum Gehirn transportiert zu werden. Der rezeptorvermittelte Transport ist nur durch eine spezielle Funktionalisierung, meist mit Polysorbat 80 oder Poloxameren, möglich. Als Polymere werden meist Polylactide (PLA), Polylactid-co-Glycolid (PLGA) und verschiedene Polycyanoacrylate, wie beispielsweise Polybutylcyanoacrylat (PBCA), verwendet, die pharmakologisch unbedenklich sind und für andere Anwendungen, beispielsweise als chirurgisches Nähmaterial, zugelassen sind. In die Partikel eingeschlossene Wirkstoffe können mittels rezeptorvermittelter Transzytose zum Gehirn transportiert werden. Die wesentlichen Voraussetzungen für die Hirngängigkeit der Nanopartikel ist – neben ihrer Größe – eine möglichst lange Zirkulationszeit im Blut und die passende Oberflächencharakteristik. Die Plasmahalbwertszeit wird meist durch eine PEGylierung erreicht und die Wechselwirkung am Endothel mit dem bereits beschriebenen Polysorbat. Der genaue Transportmechanismus ist noch nicht endgültig geklärt. Der Polysorbat-Überzug der Partikel führt aber offensichtlich im Blutplasma zu einer Adsorption von Apolipoprotein E oder B an die Partikel. Dadurch werden die Nanopartikel als LDL-Mimetikum vom LDL-Rezeptor erkannt und in das Innere des Endothels transportiert. Danach wird der Wirkstoff entweder im Endothel freigesetzt, wodurch er per Diffusion zum Gehirn gelangen kann, oder die Partikel werden vollständig durch die abluminale Seite zum Gehirn ausgeschleust (Transzytose). Der nanopartikuläre Wirkstofftransport ist derzeit noch in der präklinischen Forschung. Im Tiermodell (Ratte) wurden vielversprechende Ergebnisse bei der Behandlung von transplantierten Glioblastomen erzielt. Dabei wurden die Partikel mit Doxorubicin beladen. Der Transport von Doxorubicin in das Gehirn konnte dabei um den Faktor 60 gesteigert werden. Die wegen der weitgehenden Undurchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke für Chemotherapeutika nur schwer zu realisierende Chemotherapie bei Gehirntumoren ist eines der Hauptziele bei der Entwicklung dieser nanopartikulären Wirkstoff-Träger-Systeme. Mit speziellen Liganden ist darüber hinaus die gewebe- beziehungsweise rezeptorspezifische Targetierung der Nanopartikel denkbar. Neben dem nanopartikulären Ansatz mit Polymeren sind auch nanoskalige Liposomen und Dendrimere als potenzielle Wirkstofftransporter in der präklinischen Erprobung. Besondere Beachtung findet dabei auch die im Rahmen der gesamten Nanotechnologie stattfindende Diskussion über ihre Risiken. Lösungsmittel und Tenside Intravenös applizierte Verbindungen, wie Ethanol, Dimethylsulfoxid oder Glycerin, können zu einer lösungsmittelinduzierten Öffnung der Blut-Hirn-Schranke führen. Im Tiermodell (Küken) liegt dabei die Konzentration an Lösungsmittel oberhalb von 1 mg pro kg Körpergewicht. Diese Verbindungen stören vermutlich die Funktion der Zellmembran im Endothel, wodurch der Stofftransport durch transzelluläre Diffusion ermöglicht wird. Werden kurzkettige Alkylglycerole, wie beispielsweise 1-O-Hexyldiglycerol, zusammen mit Marker-Substanzen in die Halsschlagader von Mäusen oder Ratten injiziert, so erhöht sich die Aufnahme dieser Marker im Gehirn signifikant. Größere Moleküle, die sonst nicht die Blut-Hirn-Schranke passieren, wie beispielsweise Methotrexat, Vancomycin oder Gentamicin, können – bedingt durch die Anwesenheit des Alkylglycerols – in das Gehirn diffundieren. Dieser Effekt wird bei der intravenösen Gabe von Alkylglycerol nicht beobachtet. Die amphipathischen Glycerole öffnen die Blut-Hirn-Schranke dabei für ungefähr 5 bis 120 Minuten. Die Konzentrationen der Alkylglycerole liegen im millimolaren Bereich. Offensichtlich bilden diese tensidähnlichen Verbindungen mit den Wirkstoffen, beziehungsweise Markern, vesikuläre Strukturen. Alkylglycerole sind weitgehend untoxisch und pharmakologisch unbedenklich. Der Mechanismus der Überwindung der Blut-Hirn-Schranke ist größtenteils noch ungeklärt. Es handelt sich aber offensichtlich um einen Transport durch die Tight Junctions. Auch das Tensid Natriumlaurylsulfat erhöht bei der Injektion in die Halsschlagader die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke deutlich. Natriumlaurylsulfat ist ein pharmakologischer Hilfsstoff, der in verschiedenen Wirkstoffformulierungen zur Anwendung kommt. Die entsprechende Applikation solcher Formulierungen kann daher zu unerwarteten Ergebnissen führen. So bewirkte der Hilfsstoff Natriumlaurylsulfat in einer Formulierung mit Interleukin-2, dass die Blut-Hirn-Schranke bei Katzen für die Markersubstanz Meerrettichperoxidase überraschend durchlässig wurde. Ähnliche Effekte wurden auch mit dem Hilfsstoff Polysorbat-80 beobachtet. Hierzu genügen bei einer Maus schon Dosen im Bereich von 3 mg pro kg Körpergewicht. Kyotorphin, ein neurophysiologisch aktives Dipeptid, ist nicht in der Lage die Blut-Hirn-Schranke zu passieren und eine neurologische Wirkung zu zeigen. Nur in Verbindung mit Polysorbat-80 wird die neurologische Wirkung erreicht. Efflux-Inhibierung Viele Moleküle sind sowohl wegen ihrer Größe als auch ihrer Lipophilie in der Lage die Blut-Hirn-Schranke zu passieren. Sie werden aber nach dem Diffundieren in das Zytoplasma der Endothelien durch Efflux-Pumpen, wie beispielsweise P-Glykoprotein, wieder zurück in das Lumen transportiert. Eine Strategie, um diese Moleküle dennoch dem Gehirn zugänglich zu machen, ist das Ausschalten dieser Efflux-Transporter. Prinzipiell ist dies möglich durch: Genregulation in der transkriptionalen oder translationalen Phase Veränderungen der Membran-Targetierung nach der Synthese der Transporter in den Ribosomen Unterbinden des Transportes durch Inhibitoren (Co-Drugs) Während die ersten beiden Methoden sich noch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium auf der Ebene von Zellkulturen befinden, liegen bei den Efflux-Inhibitoren ausgiebige Erfahrungen am Tier und aus klinischen Studien am Menschen vor. Mittlerweile ist eine Reihe von Substanzen bekannt, die den Efflux – speziell durch P-Glykoprotein – inhibieren. Mäuse, bei denen das MDR1-Gen abgeschaltet (Knockout) wurde, so dass im Endothel kein P-Glykoprotein produziert wird, zeigen für eine Reihe von Wirkstoffen eine signifikant erhöhte Aufnahme im Gehirn über die Blut-Hirn-Schranke. Im Vergleich zum Wildtyp der Maus stieg beispielsweise das Konzentrationsverhältnis Gehirn zu Blut bei den HIV-Protease-Inhibitoren Nelfinavir, Indinavir und Saquinavir um den Faktor 7 bis 36 an. Bei den Taxanen Docetaxel und Paclitaxel erhöht sich die Konzentration im Gehirn um den Faktor 7 bis 28 und bei Digoxin um den Faktor 10. Bei Verapamil wird die Aufnahme im Gehirn um den Faktor 8,5 verbessert. Bei Wildtypen von Mäusen und Ratten, denen selektiv wirkende P-Glykoprotein-Inhibitoren, wie beispielsweise Valspodar (PSC 833, ein Ciclosporin-Derivat), Elacridar (GF120918) und Zosuquidar (LY335979), verabreicht wurden, konnten vergleichbare Ergebnisse erhalten werden. Bei Ratten, denen Ciclosporin verabreicht wurde, erhöht sich die Konzentration von Verapamil im Gehirn um den Faktor 9,6. Verapamil – ein als Calciumantagonist zugelassenes Arzneimittel – ist im Tierversuch selbst ein wirksames Co-Drug, das die Aufnahme bei nachfolgend applizierten Wirkstoffen im Gehirn deutlich erhöhen kann. Dies wurde im Tiermodell unter anderem bei zytostatischen Vincaalkaloiden nachgewiesen. Eine ähnliche Wirkung zeigen Procyanidine. Nachteilig bei dem Ansatz der Efflux-Inhibierung ist, dass die verabreichten Inhibitoren – speziell der ersten Generation, wie Verapamil und Ciclosporin – selbst pharmakologisch aktiv sind und so eine Reihe von unerwünschten Nebenwirkungen haben. Bei der zweiten und dritten Generation von P-Glykoprotein-Inhibitoren sind diese Effekte deutlich reduziert. Außerdem wird bei allen Zellen – die P-Glykoprotein exprimieren – selbiges inhibiert. So sind bei der systemischen Gabe von Efflux-Inhibitoren auch die apikale Seite der Darm-Epithelien, der Gallenkanälchen (Bilis canaliculi), der Nierenkanälchen und der Plazenta, sowie an der luminalen Seite die der Hodenkanälchen betroffen. BCRP (Brustkrebs-Resistenz-Protein, Breast Cancer Resistance Proteine), der zweitwichtigste Efflux-Transporter der Blut-Hirn-Schranke, hat offensichtlich kaum einen Einfluss auf den Transport von Wirkstoffen. Dies wurde bei Versuchen an Knockout-Mäusen festgestellt, bei denen das BCRP-codierende ABCG2-Gen abgeschaltet wurde. Die Efflux-Inhibierung wird insbesondere in der Krebstherapie verfolgt, da viele Krebszellen im Therapieverlauf P-Glykoprotein stark exprimieren und sich dadurch der Wirkung von Zytostatika weitgehend entziehen können. Die Tumoren sprechen dann nicht mehr auf die verabreichten Zytostatika an. Öffnen der Blut-Hirn-Schranke für therapeutische Zwecke Das Öffnen der Blut-Hirn-Schranke für therapeutische Zwecke ist, neben den beiden zuvor gezeigten Prinzipien, eine weitere Strategie, um Wirkstoffe dem Gehirn zuzuführen, die normalerweise nicht in der Lage sind die Blut-Hirn-Schranke zu passieren. Das Ziel dieser Verfahren ist eine möglichst reversible Öffnung oder zumindest Lockerung der Tight Junctions, um einen parazellulären Wirkstofftransport in das Gehirn zu ermöglichen. Mit dem zunehmenden Verständnis des molekularen Aufbaus der Blut-Hirn-Schranke – und hierbei vor allem der Tight Junctions – wurden neue Wege und Verfahren zur pharmakologischen, aber auch physikalischen, Öffnung der Blut-Hirn-Schranke entwickelt. Die meisten dieser Verfahren befinden sich noch in der präklinischen Erprobung. Beim Öffnen der Blut-Hirn-Schranke besteht allgemein die Gefahr, dass für das Gehirn toxische Plasmaproteine eindiffundieren und dann chronische Neuropathologien auslösen können. Tight-Junction-Modulation Verbindungen, die einen Einfluss auf die Tight Junctions haben, werden als Tight-Junction-Modulatoren bezeichnet. Durch die Fortschritte im Bereich der genomischen Wirkstoffentwicklung, des High-Throughput Screening, der kombinatorischen Chemie und der Bioinformatik, wurde eine Reihe von Substanzen entwickelt beziehungsweise identifiziert, die in der Lage sind unmittelbar die einzelnen Peptide der Tight Junctions und Adherens Junction zu targetieren und damit den Zell-Zell-Kontakt der Endothelien zu modulieren. Modulatoren, die unmittelbar die Tight Junctions targetieren, leiten sich beispielsweise von den Enterotoxinen der Bakterien Vibrio cholerae und Clostridium perfringens ab. Vibrio cholerae – ein Cholera-Erreger – bildet unter anderem das Zonula-Occludens-Toxin (ZOT, Zonula occludens = Tight Junction). ZOT ist ein aus 399 Aminosäuren aufgebautes, 45 kDa schweres Protein, das im Darm mit einem Oberflächenrezeptor – dem ZOT-Rezeptor – der dortigen Endothelien interagiert und dadurch eine intrazelluläre Signalkaskade auslöst, die noch nicht vollständig aufgeklärt ist. Es wird unter anderem das Enzym Proteinkinase A aktiviert, das den Abbau der Tight Junctions katalysiert. An Einzellagen zerebraler Endothelien bewirkt ZOT in vitro eine deutliche Reduzierung des transendothelialen elektrischen Widerstandes (TEER), die reversibel ist. Für die Markermoleküle Saccharose, Inulin, Paxlitaxel und Doxorubicin wird die parazelluläre Permeabilität signifikant erhöht. Auch das 12 kDa schwere aktive ZOT-Fragment ΔG sowie die aus nur sechs Aminosäuren (im Einbuchstabencode: FCIGRL) bestehende aktive ZOT-Domäne (AT1002) binden an den ZOT-Rezeptor. Das aus 44 Aminosäuren bestehende OCC2-Peptid bindet selektiv an die zweite Domäne des Tight-Junction-Proteins Occludin, wodurch ebenfalls der parazelluläre Transport erleichtert wird. Bradykinin, ein aus neun Aminosäuren aufgebautes gefäßerweiternd wirkendes Oligopeptid, bindet an die B2-Rezeptoren der luminalen Seite der Endothelien. Als Folge davon steigt die Konzentration an freien intrazellulären Calcium-Ionen und der mit den transmembranen Tight-Junction-Proteinen Occludin und Claudin verbundene Aktin-Myosin-Komplex wird aktiviert, wodurch die Tight Junctions geöffnet werden. Osmotische Öffnung der Blut-Hirn-Schranke Kurz nach der Entdeckung der Tight Junctions wurde 1970 die These aufgestellt, dass die Einwirkung von hyperosmotischen Lösungen auf die Endothelzellen die Blut-Hirn-Schranke öffnen könne. 1980 wurde diese Methode erstmals angewendet und 1984 wurde durch elektronenmikroskopische Aufnahmen der experimentelle Beweis für diese These erbracht. Elektronendichte Marker waren durch die Tight Junctions in das Gehirn diffundiert. Über die Arteria carotis interna werden hyperosmolare Lösungen, beispielsweise von Mannitol oder Arabinose infundiert. Der unterschiedliche osmotische Druck zwischen den Endothelzellen und der infundierten Lösung bewirkt einen Flüssigkeitsverlust in den Endothelzellen, der zu deren Schrumpfung führt. Durch die Schrumpfung entstehen Zugkräfte zwischen den Zellen, was zu einer Öffnung der Tight Junctions und somit zur Öffnung der Blut-Hirn-Schranke führt. Aufgrund des Konzentrationsgradienten zwischen intravasalem und interstitiellem Raum fließt in größerer Menge Wasser aus dem Plasma ins Gehirn zurück (bulk flow). Dadurch werden im Wasser gelöste Moleküle in das Gehirn eingeschwemmt, wobei ein Ödem entsteht. Die durch die Schrumpfung der Endothelzellen bewirkte Öffnung der Tight Junctions beträgt etwa 20 nm. Dadurch können Moleküle mit einem hydrodynamischem Durchmesser von ebenfalls etwa 20 nm in das Gehirn eindiffundieren. Die Öffnung der Blut-Hirn-Schranke ist bei dieser Methode reversibel. Zehn Minuten bis spätestens zwei Stunden nach der Infundierung ist sie wieder vollständig hergestellt. Die Einwirkungszeit der hyperosmolaren Lösung beträgt etwa 30 Sekunden. Durch eine Vorbehandlung mit einem Na+/Ca2+-Kanalblocker kann die Öffnungsdauer der Blut-Hirn-Schranke verlängert werden. Das Verfahren wurde im Tiermodell mit einer Vielzahl von wasserlöslichen Wirkstoffen, Peptiden, Antikörpern, Enzymen und viralen Vektoren für die Gentherapie getestet. Eine Reihe von klinischen Studien zur Therapie von Gehirntumoren in Kombination mit Chemotherapeutika werden in verschiedenen Kliniken durchgeführt. Die Ergebnisse sind für diese Anwendung vielversprechend. Ultraschall Die Blut-Hirn-Schranke lässt sich durch fokussierten Ultraschall öffnen. Dieser Effekt wurde erstmals 1956 nachgewiesen. Die Öffnung der Blut-Hirn-Schranke konnte durch die Anfärbung des Gehirns mit Trypanblau – einem Vitalfarbstoff, der normalerweise die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren kann – und durch radioaktiv markiertes Phosphat nachgewiesen werden. Mikroskopisch konnten keine Veränderungen am Endothel beobachtet werden. Die Anwendung des Ultraschalls führte allerdings zu Hirnverletzungen. 1960 wurde dann erstmals die Blut-Hirn-Schranke mit nur einer geringen Schädigung des umliegenden Parenchyms durch Ultraschall geöffnet. Alle diese Versuche wurden mit hochintensivem fokussiertem Ultraschall, mit Leistungen im Bereich von 4000 Watt/cm², durchgeführt. Dabei entstehen Kavitationsblasen, die das Gewebe irreversibel zerstören können. Fokussierender Ultraschall mit Mikrobläschen Die Öffnung der Blut-Hirn-Schranke mit Ultraschall und gleichzeitig applizierten Mikrobläschen (Microbubbles) kam 2001 zum ersten Mal zur Anwendung. Der Ansatz dabei ist, dass keine Kavitationsblasen generiert werden müssen, sondern injizierte Mikrobläschen die Funktion der sonst durch die hohe Ultraschallleistung erzeugten Kavitationsblasen übernehmen. Dadurch kann die Leistung des Ultraschalls deutlich reduziert werden; es besteht keine Gefahr mehr den behandelten Schädel, beziehungsweise das umliegende Gewebe, zu überhitzen. Die Technik ist mittlerweile so weit entwickelt, dass bei der Öffnung der Blut-Hirn-Schranke keine Apoptose, keine Ischämie oder sonstige Langzeitschädigung im Gehirn nachzuweisen sind. Wenige Stunden nach der Behandlung ist der alte Zustand der Blut-Hirn-Schranke wiederhergestellt. Der Fokus des Ultraschalls kann auf beliebige Areale im Gehirn gerichtet werden. Dadurch kann die Blut-Hirn-Schranke selektiv, auf bestimmte Hirnareale begrenzt, geöffnet werden. So können applizierte Wirkstoffe gezielt in diese Areale diffundieren. Die behandelten Areale lassen sich durch eine simultan laufende Magnetresonanztomographie (MRT) genau verfolgen. Dabei dringt das für die MRT verwendete Kontrastmittel, beispielsweise Gadopentetat-Dimeglumin, nur durch die geöffneten Areale der Blut-Hirn-Schranke in das Gehirn ein. Diese Bereiche werden dadurch im MRT deutlich sichtbar hervorgehoben. Das hochpolare Gadopentetat-Dimeglumin ist nicht in der Lage die ungeöffneten Bereiche der Blut-Hirn-Schranke zu passieren. Im Tiermodell Maus werden bei der Anwendung von fokussiertem Ultraschall mit Mikrobläschen Frequenzen im Bereich von 0,5 und 2 MHz mit kurzen Pulslängen im Millisekundenbereich und Wiederholfrequenzen im Bereich von 1 Hz, über einen Zeitraum von weniger als einer Minute angewendet. Der optimale Frequenzbereich liegt unterhalb von 1 MHz. Die akustische Leistung beträgt weniger als ein Watt. Die verwendeten Mikrobläschen sind meist zugelassene Kontrastmittel aus der kontrastmittelverstärkten Sonographie. Sie haben typischerweise einen Durchmesser von 3 bis 4,5 µm, bestehen beispielsweise aus Humanalbumin und sind mit Perfluorpropan oder ähnlichen Schwergasen gefüllt. Mechanismus Der Mechanismus zur Öffnung der Blut-Hirn-Schranke durch die Anwendung von fokussiertem Ultraschall, zusammen mit Mikrobläschen, ist noch nicht vollständig aufgeklärt. Die Wechselwirkung von Ultraschall und Mikrobläschen spielt dabei eine große Rolle und führt in vivo zu einer Reihe von biologischen Effekten. Eine wesentliche Rolle scheinen dabei Scherkräfte zu spielen, die durch Mikroströmungen erzeugt werden. Diese Mikroströmungen selbst kommen von Oszillationen der Mikrobläschen im Ultraschallfeld. Von den Endothelien selbst ist wiederum bekannt, dass sie auf Scherkräfte dynamisch reagieren können und Scherkräfte eine kritische Größe für die Homöostase sind. Elektronenmikroskopische Aufnahmen von Kapillargefäßen so behandelter Versuchstiere zeigen sowohl einen transzellulären als auch einen parazellulären Transport von entsprechenden Markermolekülen (Meerrettichperoxidase). Bei dem transzellulären Transport handelt es sich im Wesentlichen um Transzytose. Der parazelluläre Transport wird durch einen komplexen Desintegrationsprozess initiiert, bei dem die Tight Junctions ihre Funktion verlieren. Die so geöffnete Blut-Hirn-Schranke ist durchlässig für niedermolekulare Chemotherapeutika, wie beispielsweise Doxorubicin und Antikörper, wie Trastuzumab. Auch die prinzipielle Machbarkeit des Transports von Genen in das Gehirn wurde mit dieser Methode im Tiermodell nachgewiesen. Das Verfahren zur Öffnung der Blut-Hirn-Schranke mit Ultraschall und gleichzeitig applizierten Mikrobläschen ist noch ein sehr junges Verfahren. Bisher wurde es nur an Versuchstieren erprobt. Bis zu einer möglichen Zulassung des Verfahrens am Menschen vergehen erfahrungsgemäß noch viele Jahre. Die für die Bildgebung in der Diagnostik verwendete nicht-fokussierte Ultraschallstrahlung (Sonographie) beeinflusst die Integrität der Blut-Hirn-Schranke – auch bei der Gabe von Kontrastmitteln – nicht. Literatur A. G. De Boer, W. Sutanto: Drug Transport Across the Blood-brain Barrier. CRC Press, 1997, ISBN 90-5702-032-7 D. J. Begley u. a.: The Blood-brain Barrier and Drug Delivery to the CNS. Informa Health Care, 2000, ISBN 0-8247-0394-4 P. Ramge: Untersuchungen zur Überwindung der Blut-Hirn-Schranke mit Hilfe von Nanopartikeln. Shaker Verlag, 1999, ISBN 3-8265-4974-0 Weblinks Einzelnachweise Pharmakologie Gehirn
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Minakshi-Tempel
Der Minakshi-Tempel (Tamil: , in der englischen Schreibweise: Meenakshi Amman Temple; voller Name: Sri-Minakshi-Sundareshwara-Tempel) ist ein Hindu-Tempel in der Stadt Madurai im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu. Er ist Minakshi, der lokalen Erscheinungsform der Göttin Parvati, und Sundareshvara (Shiva) geweiht, die dem Mythos zufolge in Madurai geheiratet haben sollen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Shiva-Tempeln steht in Madurai nicht Shiva, sondern die Göttin im Mittelpunkt der Verehrung. Die ältesten Teile des Minakshi-Tempels stammen aus der Pandya-Zeit des 12.–13. Jahrhunderts, seine heutige Gestalt erhielt der Tempel im Wesentlichen während der Nayak-Herrschaft im 16.–17. Jahrhundert. Der Minakshi-Tempel zählt zu den herausragendsten Beispielen für die dravidische Tempelarchitektur. Wie es für diesen Baustil kennzeichnend ist, hat der Tempel einen rechteckigen Grundriss und ist nach geometrischen Prinzipien aufgebaut. Der mit über sechs Hektar sehr weitläufige Tempelkomplex besteht aus drei konzentrischen Bereichen, die um die beiden Sundareshvara und Minakshi geweihten Hauptschreine herum aufgebaut sind. Im Inneren des verwinkelten Tempelkomplexes befinden sich zahlreiche weitere Bauelemente, darunter Korridore, mehrere große Säulenhallen und ein Tempelteich. Die zwölf hoch aufragenden Gopurams (Tortürme) des Tempels sind mit üppigem und bunt bemaltem Figurenschmuck ausgestattet und beherrschen weithin sichtbar das Stadtbild Madurais. Auch der Stadtgrundriss Madurais richtet sich nach dem Minakshi-Tempel, welcher den Mittelpunkt der Altstadt bildet und von mehreren konzentrischen Ringstraßen umgeben wird. Mythos Wie fast jeder wichtige südindische Tempel besitzt auch der Tempel von Madurai eine eigene Ortslegende (sthalapurana), welche die mythische Geschichte des Tempels erzählt. Die Ortslegende des Minakshi-Tempels trägt den Titel Tiruvilaiyadarpuranam. Sie ist in zwei tamilischsprachigen Versionen (eine vom Autor Perubatrapulliyur Nambi aus dem 12. Jahrhundert und eine von Paranchodimunivar aus dem frühen 16. Jahrhundert) und einer Sanskrit-Version mit dem Titel Halasyamahatmya überliefert. Die Gründungslegende des Tempels von Madurai lautet wie folgt: Der Gott Indra beging eine Sünde, indem er einen Brahmanen tötete. Von Reue geplagt begab er sich aus dem Himmel auf die Erde. Als er dort einen Hain von Kadamba-Bäumen durchschritt, fühlte er sich plötzlich von seiner Bürde erlöst. Unter einem Kadamba-Baum neben einem Teich entdeckte Indra ein Linga (Zeichen Shivas). Indra verehrte das Linga und baute um es herum einen kleinen Schrein. Bei einem der Lingas, die heute im Minakshi-Tempel verehrt werden, soll es sich um ebenjenes Linga handeln. Eines Tages verbrachte der Kaufmann Dhanajaya eine Nacht in jenem Schrein und sah, wie die Götter das Linga verehrten. Er berichtete dem Pandya-König Kulasekara, der in der nahen Stadt Manavur herrschte, von dem, was er gesehen hatte. Am selben Tag hatte Kulasekara im Traum von Shiva die Anweisung erhalten, an dem Ort, den Dhanajaya ihm nennen würde, einen Tempel und eine Stadt zu errichten. Auf dieses Zeichen hin gründete der König Madurai und ließ den Tempel erbauen. Des Königs Nachfolger Malayadhvaja hatte keine Nachkommen und vollzog ein Opfer, um von seiner Kinderlosigkeit erlöst zu werden. Daraufhin entstieg Minakshi dem Opferfeuer in Form eines dreijährigen Mädchens, das drei Brüste hatte. Eine Stimme aus dem Himmel verkündete dem König, das Mädchen würde die überzählige Brust verlieren, sobald sie ihren zukünftigen Ehemann erblicken würde. Als sie herangewachsen war, wurde Minakshi zur Königin gekrönt. Sie zog mit einer großen Armee aus, um die Welt zu erobern. Nachdem sie in vielen Schlachten siegreich gewesen war, kam sie zum Kailasa-Berg (der Wohnstätte der Götter) und forderte das Heer Shivas heraus. Als sie Shiva auf das Schlachtfeld treten sah, verlor sie ihre dritte Brust und erkannte in ihm ihren zukünftigen Gatten. Shiva beschied Minakshi, nach Madurai zurückzukehren. Wenige Tage später folgte er ihr und ehelichte sie in einer großartigen Hochzeitszeremonie. Zusammen mit Minakshi herrschte Shiva unter dem Namen Sundara Pandya über Madurai und vollzog viele wundersame Taten. Kartikeya (Murugan) wurde als Sohn des göttlichen Paares geboren und folgte unter dem Namen Ugra Pandya seinen Eltern auf den Thron. Daraufhin zogen sich Shiva und Minakshi in den Tempel zurück und verschwanden. Der Gott Shiva kehrte aber immer wieder zurück, um Wunder zu vollbringen, und bleibt der wahre Herrscher über Madurai. Geschichte Die Ursprünge des Minakshi-Tempels lassen sich nur schwer fassen. Die Stadt Madurai gehört zu den ältesten Südindiens und war bereits in den ersten Jahrhunderten v. Chr. die Hauptstadt des Pandya-Reiches. Die Stadt wird in der tamilischen Sangam-Literatur (1. bis 6. Jahrhundert n. Chr.) und in den Reiseberichten antiker griechischer und römischer Autoren beschrieben. Mehrere Werke der Sangam-Literatur erwähnen ein Shiva-Heiligtum in Madurai, doch sind die Angaben zu vage, als dass sich dieser sicher mit dem heutigen Tempel identifizieren ließe. Auch für die Verehrung der Minakshi gibt es aus der frühen Zeit keine Belege. Die ältesten Teile des heutigen Tempels stammen aus der Zeit der zweiten Pandya-Dynastie aus dem 13. Jahrhundert. Die früheste Inschrift stammt aus der Regierungszeit König Kulasekara Pandiyans (1190–1223), der auch in der Ortslegende des Tempels als mythischer Gründer genannt wird. Während seiner Herrschaft entstanden die beiden Hauptschreine des Tempels. Seine Nachfolger ließen im 13. Jahrhundert den Tempelkomplex erweitern und erbauten die ersten beiden Gopurams. Im Jahr 1311 eroberten aus Nordindien kommende islamische Truppen Madurai und plünderten auch den Tempel. Nachdem das Vijayanagar-Reich die kurzlebige muslimische Herrschaft über Madurai beendet und die Stadt eingenommen hatte, wurde der Tempel 1371 wieder instand gesetzt. Die Könige von Vijayanagar setzten in Madurai Militärstatthalter (Nayaks) ein, die nach dem Fall des Vijayanagar-Reiches im Jahr 1565 die Macht übernahmen. Während der Nayak-Zeit wurde der Tempel von Madurai maßgeblich erweitert und erhielt im 16. und 17. Jahrhundert im Wesentlichen seine heutige Gestalt. Lage Der Minakshi-Tempel liegt im Zentrum der am rechten, d. h. südlichen Ufer des Vaigai-Flusses gelegenen Altstadt Madurais. Der Stadtgrundriss Madurais richtet sich nach dem Minakshi-Tempel: Der Tempel bildet den Mittelpunkt der Altstadt und wird von mehreren konzentrischen annähernd rechteckigen Straßenringen umgeben, die grob seinen Umrissen folgen. Den innersten Straßenring, die Adi Street, bilden die Hofflächen innerhalb des Tempelkomplexes. Direkt außerhalb der Tempelmauern verläuft die Chittrai Street, es folgen von innen nach außen die Avani Mula Street und die Masi Street. Diese Ringstraßen sind nach Monaten des tamilischen Kalenders benannt. In dem jeweiligen Monat findet ein Tempelfest statt, bei dem auf der entsprechenden Straße eine Prozession veranstaltet wird (mit der Ausnahme, dass die Prozessionen der Monate Masi und Chittrai vertauscht wurden). Die äußerste Ringstraße, die Veli Street wurde an der Stelle der Anfang des 19. Jahrhunderts zerstörten Stadtbefestigung gebaut. Im rechten Winkel zu den Ringstraßen führen im Süden, Westen und Norden Straßen axial auf die Eingangstore zu. Mit seinem konzentrisch um den Minakshi-Tempel herum aufgebauten Stadtgrundriss verkörpert Madurai den klassischen Typus der südindischen Tempelstadt, wenn auch nicht in derselben Regelmäßigkeit wie etwa das Idealbeispiel Srirangam. Architektur Überblick Der Minakshi-Tempel umfasst einen 258 × 241 m großen rechteckigen Bereich mit einer Grundfläche von 6,2 Hektar. Die sechs Meter hohe Umfassungsmauer besitzt in jeder der vier Himmelsrichtungen ein Eingangstor, das jeweils von einem massiven Gopuram (1–4) bekrönt wird. Die Linien, welche zwischen den Gopurams verlaufen, bilden die Hauptachsen des Tempels. Sie sind etwas aus der Mitte versetzt und an den Himmelsrichtungen orientiert, allerdings um 16° verdreht. Ebenso wie sich der Stadtgrundriss Madurais nach dem Minakshi-Tempel richtet, ist auch der Tempelkomplex selbst konzentrisch aufgebaut. Die zahlreichen ineinander übergehenden Bauteile im Inneren des Tempels verbinden sich zu einem verwinkelten und schwer zu überschauenden Komplex. Im Inneren des Tempels befinden sich zwei Hauptschreine. Einer ist Minakshi und einer Sundareshvara (Beiname Shivas) geweiht. Der Sundareshvara-Schrein (5) liegt im Schnittpunkt der Hauptachsen, der Minakshi-Schrein (6) befindet sich südwestlich davon. Eine Nebenachse verläuft parallel zur ost-westlichen Hauptachse durch das Minakshi-Heiligtum zum „Tor der acht Gottheiten“ (7) in der östlichen Mauer. Der Sundareshvara- und der Minakshi-Schrein werden von jeweils zwei konzentrischen Umfassungsmauern mit weiteren Gopurams umgeben. Diese schließen zwei von Säulen gestützte Umgänge (Prakaras) ein. Auf dem Hof des Tempels umgibt ein dritter Prakara die beiden Heiligtümer. Neben den beiden Hauptschreinen gehören zum Tempelkomplex noch ein separater kleinerer Schrein für die Gottheit Javandishvara (einer weiteren Erscheinungsform Shivas) südlich des Minakshi-Heiligtums (8), ein Tempelteich (9), drei große Säulenhallen (Mandapas) im östlichen Bereich des Tempels – die Tausend-Säulen-Halle (10), das Viravasantaraya-Mandapa (11) und das Minakshi-Nayaka-Mandapa (12) – sowie kleinere Mandapas, verbindende Korridore und andere kleinere Bauelemente (Räume der Tempelverwaltung, Wirtschaftsgebäude, Stallungen etc.). Gopurams Der Minakshi-Tempel verfügt über zwölf Gopurams (Tortürme). Wie es für den Dravida-Stil typisch ist, nimmt ihre Größe von außen nach innen ab. Die vier Gopurams in der äußersten Umfassungsmauer erreichen Höhen von rund sechzig Metern und beherrschen weithin sichtbar das Stadtbild Madurais. Sie bestehen aus einem zweistöckigen Sockel, einem Überbau aus neun Geschossen und einem Dachaufsatz. Ihre Form ist pyramidal mit einer konkaven Linienführung. Die Überbauten werden gänzlich von überbordendem Figurenschmuck aus jeweils über 1000 bunt bemalten Stuckfiguren von Göttern, Dämonen und mythologischen Szenen bedeckt. Die Ausstattung der Gopurams mit Figurenschmuck geht auf die Nayak-Zeit (16.–17. Jahrhundert) zurück. Als der Minakshi-Tempel 1960–63 umfassend renoviert wurde, kam es in der Öffentlichkeit zu einer lebhaften Debatte darüber, ob die Gopurams einfarbig oder entsprechend dem ursprünglichen Zustand bunt gestaltet werden sollten. Letztlich wurde die Frage durch eine Volksabstimmung zugunsten der polychromen Variante entschieden. Der älteste der Gopurams ist der Ostgopuram, der 1256 vollendet wurde. Er ist auch als Raya Gopuram bekannt und hat eine Grundfläche von 20,1 × 33,8 m und eine Höhe von 60,7 m. Der 1323 gebaute Westgopuram ist 59,8 m hoch bei einer vergleichsweise kleinen Basis von 19,4 × 30,8 m. Als der schönste der Gopuram gilt wegen seiner besonders konkaven Form und dem Blick, der sich über den Tempelteich auf ihn bietet, der 1559 entstandene Südgopuram. Mit 62,6 m ist er zudem der höchste Gopuram, seine Grundfläche beträgt 49 × 20,4 m. Der Nordgopuram wurde zwischen 1564 und 1572 gebaut, blieb aber lange unvollendet und wurde erst im 19. Jahrhundert fertiggestellt. Er hat eine Grundfläche von 20,2 × 34 m und ist 59,6 m hoch. Der größte der Gopurams im Tempelinneren ist der Chitra Gopuram, der in einer Linie mit dem Minakshi-Schrein und dem Tor der acht Gottheiten zwischen dem Tempelteich und dem Minakshi-Nayaka-Mandapa liegt. Er verfügt über sieben Geschosse und ist 45,9 m hoch. Sieben weitere, deutlich niedrigere Tortürme befinden sich an den Umfassungsmauern der beiden Schreine. Der Sundareshvara-Schrein hat fünf Gopurams – vier fünfstöckige in der äußeren Mauer, einen dreistöckigen in der inneren. In der Umfassungsmauer des Minakshi-Schreins befinden sich zwei Gopurams. Traditionell führt der Haupteingang in den Tempel durch das Tor der acht Gottheiten. Heute werden aber meist die Gopurams als Eingänge genutzt. Der nördliche Gopuram ist dabei den Tempelpriestern vorbehalten. Der Ostgopuram galt lange als Unheil verheißend, weil sich einer Legende zufolge im 17. Jahrhundert ein Tempeldiener von ihm in den Tod gestürzt haben soll. Schreine Der Minakshi-Tempel besitzt zwei Hauptschreine. Aus architektonischer Sicht stellt sich der Sundareshvara-Schrein durch seine Größe sowie seine Lage im Mittelpunkt der Hauptachsen des Tempels und nordöstlich des Minakshi-Schreines als der wichtigere der beiden dar. Beide Schreine sind nach dem gleichen Prinzip aufgebaut. Im Zentrum befindet sich das Allerheiligste (Garbhagriha) mit den Götterbildern. Das Allerheiligste des Sundareshvara-Schreins hat eine Grundfläche von 10 × 10 m, beim Minakshi-Schrein sind es 7,5 × 7,5 m. Östlich vor dem Allerheiligsten sind zwei Vorkammern (Ardhamandapa und Mahamandapa) vorgelagert. Das Allerheiligste wird von zwei konzentrischen säulengestützten Umgängen (Prakaras) umgeben und von einem Turm (Shikhara) bekrönt, der nur von bescheidener Höhe, dafür aber mit Gold überzogen ist. Die beiden Schreine bilden den ältesten Teil des Tempels. Sie entstanden während der Herrschaftszeit von Kulasekara Pandiyan (1190–1216). Seine Nachfolger ließen im 13. Jahrhundert die Vorkammern und die Umgänge erbauen. Weitere Umbauten fanden im 16. und 17. Jahrhundert statt. Im Innersten des Sundareshvara-Schreins befindet sich wie in fast allen Shiva-Tempeln keine bildliche Darstellung der Gottheit, sondern ein Linga als nicht-bildhaftes Symbol Shivas. Minakshi ist dagegen anthropomorph dargestellt. Ihr Bildnis ist etwa 1,20 Meter hoch und aus grünem Stein gefertigt. Außer diesen beiden unbeweglichen Statuen im Allerheiligsten werden im Tempel Bronzestatuen der beiden Gottheiten aufbewahrt, die bei Prozessionen herausgetragen werden können. Neben dem Linga und der Minakshi-Statue beherbergen die beiden Schreine zahlreiche weitere Bildnisse: Direkt gegenüber den beiden Heiligtümern steht jeweils eine Figur von Shivas Reittier (Vahana), dem Nandi-Bullen. An den Toren auf der West-Ost-Achse befinden sich Statuen von Vinayaka (Ganesha) und Subramanya (Skanda, Murugan), den Söhnen des göttlichen Paares. Ferner gibt mehrere weitere Lingas, Bildnisse von anderen Erscheinungsformen Shivas und der Göttin, anderer Gottheiten, der 63 in Tamil Nadu verehrten shivaitischen Heiligen (Nayanmars), der Sangam-Dichter sowie den Stumpf eines Kadamba-Baumes. Die Vinayaka-Statue, die am südlichen Eingang des Sundareshvara-Schreins steht, soll im 17. Jahrhundert auf dem Grund des Mariamman-Teppakulam-Teiches entdeckt und in den Tempel verbracht worden sein. Besonderer Beliebtheit unter den Gläubigen erfreuen sich die im zweiten Prakara des Sundareshvara-Schreins befindlichen Reliefs einer gebärenden Frau, die von schwangeren Frauen mit Öl bestrichen wird, und des Affengottes Hanuman, der stets mit rotem Farbpulver bedeckt ist. Bis vor kurzem war es unter den Tempelbesuchern Sitte, zwei Statuen, die Shiva als Urdhva Tandava und die Göttin als Bhadrakali beim Tanzwettbewerb darstellen, mit Butterkugeln zu bewerfen. Säulenhallen Im östlichen Bereich des Tempels befinden sich mehrere Säulenhallen (Mandapas), von denen die Tausend-Säulen-Halle, das Viravasantaraya-Mandapa und das Minakshi-Nayaka-Mandapa die bedeutendsten sind. Sie stammen allesamt aus der Nayak-Zeit zwischen dem 16. und dem frühen 18. Jahrhundert. Die Dächer der Hallen werden von teils kunstvoll mit Skulpturen von Pferden, Löwen oder Göttern geschmückten monolithischen Pfeilern gestützt. Die Mandapas dienen als Versammlungssäle, Aufenthaltsräume für Pilger und Markthallen, in denen Verkäufer den Tempelbesuchern Devotionalien verkaufen. Das größte Mandapa ist die sogenannte 1000-Säulen-Halle (Ayirakkal-Mandapa) mit einer Grundfläche von 76 × 73 m. Tatsächlich beträgt die Anzahl der Säulen hier 1029. Heute dient die 1572 erbaute Halle nicht mehr ihrer ursprünglichen Funktion, sondern beherbergt ein Tempelmuseum mit einer Sammlung von Skulpturen. Zwischen dem Ostgopuram und dem Sundareshvara-Schrein liegt das 1608–1623 erbaute Viravasantaraya-Mandapa, das zahlreiche Verkaufsstände beherbergt. Das Minakshi-Nayaka-Mandapa (erbaut 1704–1732) befindet sich zwischen dem Tempelteich und dem Tor der acht Gottheiten. Außerhalb des Tempels gegenüber dem Ostgopuram liegt das 100 × 32 m große und von 124 Pfeilern gestützte Pudu Mandapa. Es gehört genau genommen nicht Tempelkomplex, wurde aber unter Tirumalai Nayak (1623–1659) als vorgelagerte Eingangshalle des Tempels angelegt. Heute wird es als Markthalle genutzt. Tempelteich Nahe dem Südgopuram und dem Minakshi-Schrein liegt der Tempelteich, welcher als „Teich des goldenen Lotus“ (Pottamarai Kulam) bekannt ist. Es handelt sich um ein rechteckiges Becken mit zum Wasser führenden Treppenstufen (Ghats). In der Mitte befinden sich eine goldene Säule und eine ebenfalls vergoldete Skulptur einer Lotusblüte. Der Tempelteich dient Gläubigen als Ort für rituelle Waschungen. Den Teich des goldenen Lotus umgibt ein Säulengang, dessen Wände mit Wandmalereien aus dem 17. Jahrhundert geschmückt sind. Diese stellen Szenen aus dem Tiruvilayadal Puranam, der Ortslegende des Minakshi-Tempels, dar. Ein weiterer mit dem Minakshi-Tempel verbundener Tempelteich, der Mariamman-Teppakulam-Teich, befindet sich rund fünf Kilometer östlich. Er wurde 1646 angelegt und ist der größte Tempelteich Tamil Nadus. Alljährlich im Januar oder Februar werden die Götterbilder Minakshis und Sundareshvaras anlässlich des Teppam-Festes in einer feierlichen Prozession zum Mariamman-Teppakulam-Teich gebracht. Religiöses Leben Gott und Göttin Der Tempel von Madurai ist ein shivaitischer Tempel (der Shivaismus ist neben dem Vishnuismus eine der beiden Hauptströmungen des orthodoxen Hinduismus). Im Tempel werden der Gott Shiva und seine Gefährtin Minakshi verehrt, die dem Mythos zufolge hier geheiratet haben sollen. Minakshi wird als lokale Erscheinungsform der Göttin Parvati identifiziert und gilt gleichzeitig als Schwester Vishnus. Außergewöhnlich für einen Shiva-Tempel ist, dass in Madurai nicht Shiva, sondern die Göttin im Mittelpunkt der Verehrung steht. Nominell ist Shiva der Hauptgott des Tempels, doch wird entgegen der üblichen Praxis Minakshi stets vor ihrem Gatten gehuldigt. Auch wird ihr Götterbild bei Prozessionen entgegengesetzt zur üblichen Ordnung zur Rechten ihres Ehemanns positioniert. Dies spiegelt sich auch in der tamilischen Redensart „Ist bei euch zu Hause Madurai oder Chidambaram?“ wider, bei der Madurai für die weibliche und Chidambaram für die männliche Dominanz in einer Ehe steht. Der Gott Shiva hat neben seinen aus der hinduistischen Mythologie bekannten Erscheinungsformen zahlreiche lokale, auf einen bestimmten Tempel beschränkte Manifestationen mit jeweils eigenen Charakteristika und einem eigenen, mit dem Ort verknüpften Mythos. In Madurai wird Shiva als Sundareshvara („der schöne Herr“) bzw. Chokkar („der Schöne“) verehrt. Zudem gilt der Minakshi-Tempel neben dem Nataraja-Tempel von Chidambaram sowie den Tempeln von Tirunelveli, Tiruvalangadu und Courtallam als eine von „fünf Tanzhallen“ (Pancha Sabha), in denen Shiva in seiner Erscheinungsform als Nataraja seinen kosmischen Tanz aufführt. Priester Im Jahr 2000 arbeiteten im Minakshi-Tempel gut siebzig Priester. Die Priester werden Bhattars genannt (ursprünglich ein Ehrentitel) und tragen diese Bezeichnung auch als Kasten-Nachnamen. Die Bhattars gehören, wie die Priester aller shivaitischen Tempel Tamil Nadus, zu den Adishaivas, einer brahmanischen Unterkaste. Die Priester leben geschlossen in einem Viertel nördlich des Tempels. Ihren eigenen Chroniken zufolge sollen die Tempelpriester unter Kulasekara Pandiyan (1190–1216) aus Nordindien nach Madurai gekommen sein. Daneben arbeiten im Tempel Tempeldiener, die einer anderen, nicht-priesterlichen brahmanischen Unterkaste angehören. Sie bereiten unter anderem die Speisen vor, die den Göttern dargeboten werden, und assistieren den Priestern bei ihren Riten. Tempelbesucher Der Minakshi-Tempel ist einer der meistbesuchten Tempel Tamil Nadus. Nach einer Schätzung aus den 1980er Jahren suchen täglich durchschnittlich rund 20.000 Menschen den Tempel auf, an besonderen Feiertagen kann die Zahl sich verdoppeln. Der Tempelbesuch folgt bei Gläubigen einer festgelegten Abfolge. Dabei werden die Heiligtümer, zuerst der Minakshi- und dann der Sundareshvara-Schrein, vom äußeren zum inneren Prakara voranschreitend im Uhrzeigersinn umschritten (Pradakshina). Weil sich die Verehrung Minakshis im Wesentlichen auf Madurai und Umgebung beschränkt, ist der Minakshi-Tempel kein allzu bedeutendes Wallfahrtsziel. Dennoch besuchen Pilger aus anderen Teilen Indiens auf dem Weg nach Rameswaram oftmals den Tempel wegen seiner Größe und seines hohen Alters. Für ausländische Touristen gehört der Minakshi-Tempel zu den wichtigsten touristischen Sehenswürdigkeiten Tamil Nadus. Jährlich besuchen 150.000 Ausländer Madurai (Stand: 2003). Nicht-Hindus ist der Zutritt zu den heiligsten Bereichen des Tempels (dem Minakshi-Schrein und dem innersten Prakara des Sundareshvara-Schreines) verwehrt. Zugangsbeschränkungen für Dalits (Kastenlose) bestehen hingegen seit 1939 nicht mehr. Tiere Im Minakshi-Tempel wird eine Reihe von Tieren gehalten. Wie in den meisten größeren Hindutempeln segnet auch im Tempel von Madurai ein Tempelelefant die Besucher gegen eine Geldspende durch eine Berührung mit dem Rüssel. Daneben nimmt er festlich geschmückt an Prozessionen zu bestimmten Festen teil. Derzeit gibt es im Minakshi-Tempel nur einen Tempelelefanten, die 1997 geborene Elefantenkuh Parvathi. Neben dem Elefanten leben im Tempel von Madurai Kühe und – einzigartig für Südindien – zwei Kamele, die ebenfalls bei Prozessionen eingesetzt werden. Im Minakshi-Schrein werden ferner sprechende Papageien gehalten, die darauf trainiert sind, den Namen der Göttin auszusprechen (der Papagei gilt als Erkennungszeichen Minakshis). Feste Madurai feiert jedes Jahr elf große Tempelfeste. In jedem Monat des tamilischen Kalenders mit Ausnahme des Monsun-Monats Ani (Juni/Juli) findet ein Fest statt, bei dem die Götterbilder Minakshis und Shivas in prunkvollen Prozessionen auf großen Tempelwagen (Rathas) durch die Ringstraßen um den Tempel herum gezogen werden. Das Hauptfest findet im Monat Chittirai (April/Mai) statt. Bei diesem zwölftägigen Fest, zu dem zehntausende Menschen nach Madurai strömen, wird die im Gründungsmythos des Tempels geschilderte göttliche Hochzeit zwischen Shiva und Minakshi zelebriert. Am achten Tag des Festes wird Minakshi zur Herrin der Stadt gekrönt. Am Tag darauf wird sie auf der Masi-Straße durch die Stadt getragen, um ihren Herrschaftsanspruch gegenüber den Gottheiten der acht Himmelsrichtungen zu demonstrieren: Die Göttin unterwirft Indra im Osten, Agni im Südosten, Yama im Süden, Nirriti im Südwesten, Varuna im Westen, Vayu im Nordwesten und Kubera im Norden. Erst Ishana (eine Form Shivas) im Nordosten bezwingt Minakshi, die daraufhin in ihm ihren zukünftigen Gatten erkennt. Am zehnten Tag des Festes wird die Hochzeit des göttlichen Paares vollzogen und am elften Tag durch eine große Prozession gefeiert. Literatur Christopher J. Fuller: Servants of the Goddess. The Priests of a South Indian Temple (Cambridge Studies in social anthropology; Bd. 47). CUP, Cambridge 1984, ISBN 0-521-24777-2. Christopher J. Fuller: The Renewal of the Priesthood. Modernity and Traditionalism in a South Indian Temple. Princeton University Press, Princeton, New Jersey 2003, ISBN 0-691-11657-1. A. V. Jeyechandrun: The Madurai temple complex (Publications of Madurai Kamaraj University; Bd. 83). Madurai 1985 (zugl. Dissertation, Universität Maduraj 1981). R. Kasirajan: Minakshi Temple. In: S. V. Subramanian, G. Rajendran (Hrsg.): Heritage of the Tamils. Temple Arts (Publications of the International Institute of Tamil Studies; Bd. 110). IITS, Madras 1983. S. 522–541. László Peter Kollar: Symbolism in Hindu architecture as revealed in the Shri Minakshi Sundareswar. Aryan Books, New Delhi 2001, ISBN 81-7305-204-2 (illustriert von Alan Croker). R. Venkataraman: The Sculptures on the Gopurams of Madurai Minakshi-Sundaresvara Temple Complex. A Survey. In: S. V. Subramanian, G. Rajendran (Hrsg.): Heritage of the Tamils. Temple Arts (Publications of the International Institute of Tamil Studies; Bd. 110). IITS, Madras 1983. S. 374–391. Einzelnachweise Weblinks Website des Tempels (engl.) Bernhard Peter: Die Tempelstadt Madurai TempleNet: Madurai (engl.) Hinduistischer Tempel in Tamil Nadu Hinduistischer Wallfahrtsort Erbaut im 2. Jahrtausend Hinduistischer Tempel in Asien Madurai
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Kastell Stockstadt
Das Kastell Stockstadt ist ein ehemaliges römisches Kastell in Stockstadt am Main im Landkreis Aschaffenburg in Unterfranken. Mehrjährige Grabungen, hauptsächlich im frühen 20. Jahrhundert, erbrachten den Nachweis einer Kastellanlage mit zwei kurzzeitig belegten Vorgängerbauten, sowie eine Abfolge verschiedener dort stationierter Truppen. Stockstadt war damit von der frühen Zeit des Obergermanisch-Raetischen Limes bis zum Limesfall ein bedeutendes Standlager an der Mainlinie, dem sogenannten Nassen Limes. Für die archäologische Forschung ist der Fundort wegen einer großen Zahl von Steindenkmälern bedeutend, die vor allem im Vicus im Bereich zweier Mithräen, eines Iupiter-Dolichenus-Heiligtums und einer Benefiziarier-Station gefunden wurden. Lage Stockstadt liegt verkehrsgeographisch günstig nahe der Mündung der Gersprenz in den Main (Moenus), der neben der Funktion als Grenze für die Versorgung der Kastelle am Nassen Limes bedeutend war. Da auch die Gersprenz in römischer Zeit zur Schifffahrt, möglicherweise mit kleineren Kähnen, genutzt wurde, war dort wahrscheinlich ein wichtiger Umschlagplatz. Eine Benefiziarier-Station und weitere Steindenkmäler aus römischer Zeit zeugen davon. Über die Gersprenz war der Civitas-Hauptort Dieburg zu erreichen. Funde wie ein Schifferhaken in Groß-Bieberau weisen auf die Nutzung des kleinen Flusses bis weit in die Täler des vorderen Odenwalds hin. Eine frühe Römerstraße, von der mit der Sumpfbrücke Bickenbach am Kleinkastell Allmendfeld bedeutende Reste nachgewiesen wurden, verband das Westtor zunächst mit Gernsheim am Rhein. Durch die spätere Gründung des Hauptortes Dieburg wuchs die Bedeutung dieser Verbindung nach Westen. Im unmittelbaren Vorfeld des Kastells konnte sie aber nicht nachgewiesen werden. Die Hauptsiedlungsachse des Kastelldorfs befand sich entlang der von Nordwesten nach Südosten führenden Römerstraße, die parallel zum Mainlimes Stockstadt mit den benachbarten Kastellen Seligenstadt (nordwestlich) und Niedernberg (südöstlich) verband. Diese Trasse wurde auch im Bereich des Kastells mehrfach angeschnitten. Der römische Truppenstandort wurde südlich der heutigen Wohnbebauung beiderseits der Rhein-Main-Bahn zwischen dem Bahnhof Stockstadt und dem Main verortet. Die Anlage war 160 bis 200 Meter vom Fluss entfernt. Vom Hochufer aus waren es nur etwa 75 Meter. Der Bereich ist vollständig mit Industrieanlagen überbaut, von den antiken Stätten ist nichts mehr sichtbar. Geschichte Die Stockstädter Kastelle sind von allen römischen Militärplätzen des Mainlimes am großflächigsten erforscht. Dadurch konnte ein recht deutliches Bild von der zeitlichen Abfolge der verschiedenen Kastellanlagen und der hier stationierten Truppenkörper gewonnen werden. Ungeklärt ist, ob der teilweise recht rasche Wechsel der Kohorten nur für den Kastellort Stockstadt typisch war oder ob es Entsprechungen an anderen Standorten im Limesgebiet gab. Durch die zahlreichen Hinterlassenschaften, besonders die Steindenkmäler mit der Nennung der Truppenteile, bietet Stockstadt ein sehr geschlossenes Bild von den zeitlichen Abläufen. Zwar liegen von einigen Militärplätzen der Region ebenfalls Befunde zeitlich aufeinanderfolgender Kastellanlagen vor, doch ist dort die Quellenlage hinsichtlich der stationierten Einheiten im Vergleich zu Stockstadt meist dürftig. Die Chronologie der Stockstädter Kastellanlagen beginnt wahrscheinlich mit einer kleinen Schanze nördlich der Bahnlinie. Sie wurde sehr bald von dem nur teilweise ergrabenen ersten Holz-Erde-Kastell abgelöst. Aus beiden Anlagen wurden nur wenige stratifizierte Funde geborgen, später überlagerten Teile des Vicus (Lagerdorf) die frühen Kastelle. Funde legen nahe, dass die erste Garnison nicht vor 90 n. Chr. entstand, nach einer neueren Auswertung der Münzreihen sogar erst zwischen 100 und 110 n. Chr. Die Vorgängerfunktion der Stockstädter Schanzen gegenüber dem Kastell wurde in neuerer Zeit bezweifelt. Möglicherweise diente das spärlich dokumentierte Holz-Erde-Kastell als Baulager für das größere, südöstlich gelegene Kohortenkastell, das um 100 n. Chr. entstanden sein dürfte. Es gehörte zusammen mit dem Balineum (Kastellbad) zur frühtrajanischen Zeit. Ausschlaggebend für die Datierung waren neben den Kleinfunden besonders die gestempelten Ziegel aus dem Badegebäude. 122 von den 126 Ziegeln trugen einen Stempel der Legio XXII Primigenia. Die übrigen vier waren wahrscheinlich bei einer Reparatur verwendet worden, sie trugen die wesentlich späteren Stempel der Cohors IIII Vindelicorum (4. Kohorte der Vindeliker) aus dem mainabwärts gelegenen Kastell Großkrotzenburg. Die Ziegelstempel der 22. Legion werden in der Forschung als Stockstädter Gruppe bezeichnet. Sie sind zeitlich sehr bald nach der Verlegung der Legion nach Mogontiacum (Mainz) um 93 n. Chr. anzusetzen. Bedeutsam ist diese Gruppe von Stempeltypen für die Datierung zahlreicher weiterer Kastellbauten am obergermanischen Limes, unter anderem der Kastelle Marköbel und Ober-Florstadt, des Kastellbads von Hanau-Salisberg und des Kastells Hainstadt. Vermutlich während der Regierungszeit Kaiser Hadrians erhielt das Kohortenkastell eine Umwehrung aus Stein. Nördlich und südlich davon entwickelte sich ein ausgedehntes Lagerdorf. Die Einrichtung einer zivilen Verwaltung (Civitas Auderiensium) mit Hauptort in Dieburg begünstigte den Standort wirtschaftlich. Am Main entstand eine Anlegestelle für Schiffe und dicht daneben eine Benefiziarier-Station. Die Bedeutung des Umschlagplatzes ist aus der Weihinschrift eines Soldaten der Legio XXII für Iupiter Dolichenus ersichtlich, der mit einem Holzfällerkommando nach Stockstadt abkommandiert wurde. Die Inschrift lässt sich auf das Jahr 214 n. Chr. datieren und gehört zu einer Reihe ähnlicher Inschriften, die am Mainlimes etwa in Obernburg oder Trennfurt gefunden wurden. Mit zwei Mithräen und einem Heiligtum für Iupiter Dolichenus sind in Stockstadt orientalische Kulte des späten zweiten und dritten Jahrhunderts nachweisbar. Hinzu kamen Hinweise in Inschriften auf ein Fortuna-Heiligtum sowie ein Nymphäum. Auch der in den Nordwestprovinzen sehr seltene Kult des Iupiter Heliopolitanus aus Heliopolis (Baalbek) ist im nahe gelegenen Zellhausen belegt. Seinen Altar stiftete ein Präfekt der Coh. I Aquitanorum, der aus Berytus (Beirut) unweit von Heliopolis stammte und den Kult wahrscheinlich aus seiner Heimat mitgebracht hatte. Die zahlreichen Stockstädter Steindenkmäler bilden einen einzigartigen Bestand dieser Art am Obergermanisch-Raetischen Limes. Kastell und Vicus bestanden bis in die Zeit des Limesfalls in der Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr. Im Kastellbereich wurden einige Körpergräber geborgen, die aufgrund der Beigaben in das 4. Jahrhundert n. Chr. datieren. Aus dem Fundgut erkennt man, dass das Gebiet in der Spätantike von Alamannen aufgesucht wurde. Parallelen dazu gibt es in den Mainlimes-Kastellorten Großkrotzenburg und Hainstadt. Der mittelalterliche Siedlungskern Stockstadts lag allerdings weiter nördlich. Das Kastellgelände blieb bis in die Zeit der Reichs-Limeskommission (RLK) unbebaut. Stationierte militärische Einheiten Durch Hinweise auf Inschriften lassen sich drei Einheiten in Stockstadt nachweisen. Stempel auf Ziegeln, die aus mehreren Bauten des Kohortenkastells und aus zwei Ziegelöfen stammen, belegen die Anwesenheit der Cohors III Aquitanorum equitata civium Romanorum (3. teilberittene Aquitanier-Kohorte römischer Bürger). Es handelte sich um eine 500 Mann starke Kohorte (cohors quingenaria) und eine Reitereinheit von 120 Mann, insgesamt also um eine Sollstärke von 620 Mann. Die verbauten Ziegel zeigen, dass diese Einheit das Kastell errichtet hat, wobei nicht sicher ist, ob sie bereits vorher dort stationiert war. Die Kohorte wurde noch in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. in das Kastell Neckarburken verlegt. Ihren Platz nahm die Coh. II Hispanorum eq. pia fidelis (2. teilberittene Kohorte der Spanier, pflichtbewusst und treu) ein, die zuvor im Kastell Wimpfen im Tal stationiert war. Der Name dieser Kohorte erscheint auf dem Grabstein des Soldaten Diomedes, eines Isauriers von Geburt, und in der Weiheschrift eines Decurio. Beide Inschriften sind undatiert. Die Einleitungsformel [I]n h(onorem) d(omus) d(ivinae) (Zu Ehren des Kaiserhauses) der Decurionenweihung macht es wahrscheinlich, dass sie frühestens in der Zeit des Antoninus Pius entstanden ist. Nach der Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. ist die Coh. II Hispanorum eq. p. f. im Kastell Heddesdorf nachweisbar, sie wird also nicht sehr lange in Stockstadt gestanden haben. Sie wurde von der zuvor im Kastell Arnsburg nachgewiesenen Coh. I Aquitanorum veterana eq. (1. teilberittene Veteranenkohorte der Aquitanier) abgelöst, die wahrscheinlich bis zur Aufgabe des Kastells in Stockstadt verblieb. Sie ist durch mehrere Inschriften aus dem Dolichenus-Heiligtum belegt. Erforschung Die ältesten Nachrichten von römischen Funden in Stockstadt liegen aus dem beginnenden 19. Jahrhundert vor. Ein „ansehnliches römisches Bad“ wurde 1820 unweit des Kirchhofs „ganz in der Nähe des Mains“ entdeckt. Beim Bau der Eisenbahn (mit der Eisenbahnbrücke Stockstadt) 1858, die den Kastellbereich durchquert, wurde die Gelegenheit zu weiteren Untersuchungen nicht genutzt. Erst ab 1885 führte Wilhelm Conrady Ausgrabungen in größerem Umfang durch. Im Frühjahr desselben Jahres wurde das Kohortenkastell entdeckt. Die Grabungen erstreckten sich über 25 Jahre. Im Jahre 1897 waren größere Untersuchungen notwendig geworden, da auf dem Areal eine Zellstoff-Fabrik der Aschaffenburger Aktien-Gesellschaft für Maschinenpapier-Fabrikation (heute Sappi GmbH) errichtet werden sollte. Conrady betreute die archäologischen Forschungen bis kurz vor seinem Tod, die Leitung vor Ort lag bei dem Fabrikingenieur Carl Wirth, der den römischen Altertümern großes Interesse entgegenbrachte. Nach ihm ist eine Straße in Stockstadt, nahe dem Kastell, benannt. Die meisten Funde aus den älteren Grabungen sind verschollen. Die Steindenkmäler gelangten als Schenkung an das Saalburgmuseum, da dieses nach Conradys Tod geschulte Arbeiter entsandt und technische Hilfe geleistet hatte. Nur wenige Funde fanden den Weg in die städtischen Sammlungen Aschaffenburgs oder befinden sich im örtlichen Heimatmuseum. 1908 und 1909 ließ der Aschaffenburger Geschichtsverein einige Nachgrabungen durchführen. 1962 wurde bei Fundamentierungsarbeiten für ein Fabrikgebäude im nordöstlichen Lagerbereich des Kohortenkastells in einem Krug ein Münzschatz mit mindestens sechs Aurei und 1315 Denaren entdeckt. Die jüngste Münze war zwischen 167 und 168 n. Chr. geprägt worden. Der Münzschatz dürfte vor Chatteneinfällen während der Markomannenkriege versteckt worden sein und befindet sich heute im Stiftsmuseum Aschaffenburg. Einige kleinere Untersuchungen fanden zu Beginn der 1990er Jahre statt. Sie lieferten neue Erkenntnisse zur Zivilsiedlung und zum Gräberfeld. In einem zugeschütteten Keller 50 Meter außerhalb der Südecke des Kohortenkastells wurden zwei weitere Weihealtäre entdeckt. Nicht sicher zu erklären sind fünf Pferdebestattungen männlicher Tiere mit angewinkelten Gliedmaßen unweit davon. Teile eines Töpfer- und Ziegeleibezirks mit über 80 Brand- und Brandschüttungsgräbern erbrachten weitere Erkenntnisse zum Gräberfeld. Steindenkmäler Im Corpus Signorum Imperii Romani wurden 146 Steindenkmäler aus Kastell und Vicus Stockstadt erfasst. Neben den Funden aus dem Mithräum I sind besonders die Weihesteine der Benefiziarier zu erwähnen. Zehn dieser Weihinschriften sowie mehrere Bruchstücke sind hochwertiger bearbeitet als die übrigen Funde, meist reicher verziert und besitzen ein sauberes, gleichmäßiges Schriftbild. Möglicherweise spiegelt sich darin die höhere Kaufkraft der als Benefiziarier abkommandierten Legionssoldaten wider. Stilistisch scheinen die Stockstädter Altäre eine weniger geschlossene Gruppe zu bilden als die zahlreichen Funde aus der Benefiziarier-Station im nahe gelegenen Obernburg. Besonders die Altarformen variieren in Stockstadt stärker, als Ornamentik wurden geometrisch-abstrakte Motive verwendet. Der Stockstädter Gruppe von Weihealtären ähneln zwei Weihesteine aus dem Umfeld des Kastell Jagsthausen. Auffälligerweise wurde einer dieser beiden stilistisch verwandten Steine in Jagsthausen von einem Soldaten geweiht, der einen ebensolchen Stein in Stockstadt gestiftet hat. Die späteren Steine aus Stockstadt sind nur fragmentarisch erhalten. Offenbar wurde die Herstellung um 210 n. Chr. eingestellt. Ein Teil der Altäre wurde umgearbeitet und im Mithräum I wiederverwendet, wobei sich Reste der Inschriften und besonders die für Benefiziarier-Weihesteine typischen Verzierungen an den Seitenflächen der Altäre erhalten haben. Die Fragmente des Mithras-Kultbildes lassen erkennen, dass es aus der gleichen Werkstatt wie im nahe gelegenen Dieburg gefundene Bruchstücke stammt. Neben einer sehr ähnlichen Aufteilung der Bildfelder zeigen beide Reliefs im Medaillonfeld eine identische Szene der Phaetonsage. Stilistische Übereinstimmung besteht auch in zwei Reliefdarstellungen von Fackelträgern (Cautes und Cautopates) sowie vier weiteren Skulpturen. Sie entstammen wahrscheinlich der gleichen Werkstatt. Obwohl sie stilistisch in das letzte Viertel des 2. Jahrhunderts n. Chr. einzuordnen sind, wurden sie im späteren Mithräum I aufgefunden, was eine Wiederverwendung großer Teile des Inventars in dem jüngeren Gebäude wahrscheinlich macht. Das hohe Vorkommen von Denkmälern gegenüber dem Hinterland ist auf die dort stationierten Truppen zurückzuführen. Während die Denkmäler aus zivilen Siedlungen, wie Jupitergigantensäulen, in gallorömischer Tradition stehen, sind in Stockstadt Militärpersonen aus sehr unterschiedlichen Regionen des Römischen Reichs fassbar. Inschriftliche Hinweise liegen für Soldaten aus Thrakien, Kleinasien, dem Nahen Osten und Nordafrika vor. Zu den sehr seltenen Funden am Limes zählt der Sockel einer Geniusstatue, deren Inschrift in sehr sorgfältig gearbeiteter griechischer Schrift verfasst ist. Die relativ häufigen Weihungen für einen Genius loci lassen einen Mangel an einheimischen vorrömischen Kulten in der Region erkennen. Zu den regionalen Besonderheiten gehört eine Fenster- oder Türsturzlünette, die als Bauschmuck von zahlreichen Gebäuden des Odenwaldlimes geläufig ist. Als Material für Skulpturen und Inschriftensteine wurde bevorzugt der lokale Buntsandstein verwendet. Die meisten Denkmäler wurden aus rötlichem Sandstein hergestellt, es existieren aber auch Varianten aus grauem und beige-gelblichem Stein. Für die Verwendung der Steine aus dem Untermaingebiet und dem vorderen Odenwald sprach neben der guten Bearbeitungsmöglichkeit auch der preisgünstige Transport. Anlage Insgesamt wurden drei aufeinanderfolgende Kastellbauten festgestellt, wobei eine rasche bauliche Abfolge von der ersten kleineren Schanze bis zum Bau des Kohortenkastells wahrscheinlich ist. Die nahe gelegenen Kastellplätze in Nida-Heddernheim und Altenstadt hatten eine ähnliche Entwicklung, wobei in Altenstadt die späteren Kastelle die vorhergehenden überdeckten. Das ebenfalls in der Nähe gelegene Kastell Salisberg hat eine ähnliche Anfangsdatierung wie Stockstadt. Auch dort gab es mit dem Kastell Kesselstadt wahrscheinlich einen Vorgängerbau, später folgte eine Limeslinie mit den Kastellen Rückingen und Großkrotzenburg. Möglicherweise entsprechen das Kastell Seligenstadt südlich des Mains und das zeitlich frühere Kastell Hainstadt diesem Schema. Wegen späterer Überbauung liegen aus den meisten dieser Kastelle noch weniger sicher stratifizierte Funde vor als aus Stockstadt. Die chronologische Abfolge der Stockstädter Kastelle hat damit wesentlichen Einfluss auf die Datierung weiterer Limeskastelle am Mainlimes und an der östlichen Wetteraustrecke. Schanze oder kleines Holzkastell Die sogenannte Erdschanze, fachlich besser kleines Holzkastell, befand sich nördlich der Bahnlinie. Nachgewiesen wurde davon lediglich der Graben; der vollständig abgetragene Wall bestand vermutlich aus einer mit Holz versteiften Erdkonstruktion. Von den Grabenspitzen gemessen hatte die frühe Anlage eine Innenfläche von 66 × 57 Meter (= 0,38 Hektar). Zur Innenbebauung können keine sicheren Angaben gemacht werden. Dies liegt zum einen daran, dass, bedingt durch die Grabungsmethoden der RLK, in ganz Stockstadt keine Befunde von Holzgebäuden aus dem militärischen oder zivilen Bereich erkannt wurden, zum anderen war die Innenfläche nach Aufgabe der Schanze sowie des frühen Holz-Erde-Kastells von Bauten des Kastellvicus überlagert. Weder gelang es, diese auf eine spätere Zeit zu datierenden zivilen Befunde sicher von den frühen Kastellanlagen zu unterscheiden, noch fand eine genaue Dokumentation der Fundlage von Gegenständen aus dem Kastellgraben statt. Fundmaterial könnte nach Auflassung der Schanze also auch wesentlich später in die noch offenen Gräben gelangt sein. Holz-Erde-Kastell Die Existenz des Holz-Erde-Kastells ergibt sich aus dem Nachweis eines Grabens, der parallel zum südöstlichen Graben der vorherigen Schanze verlief. Er konnte auf einer Länge von 50 m nachgewiesen werden. Da er jeweils nach Südosten umbog, muss daraus geschlossen werden, dass sich zwischen dem kleinen Holzkastell und dem späteren großen Kohortenkastell eine weitere Anlage befand. Vermutlich verlief die südwestliche Fortsetzung des Grabens unter dem späteren Stadtweg. Über die Größe des Lagers können keine Aussagen getroffen werden. Auch die Datierung bleibt wie beim kleinen Holzkastell unklar. Unzweifelhaft bestand es vor dem Kohortenkastell, wahrscheinlich als Nachfolger des kleinen Holzkastells. Denkbar wäre eine kurzfristige Besetzung als Baulager für das Kohortenkastell. Kohortenkastell Das südlich der beiden vorhergehenden Anlagen gelegene Kohortenkastell war mit seiner Front nach Nordosten, auf den Main zu, ausgerichtet. Aufgrund der damaligen Grabungsmethoden wurden auch von diesem lediglich Steinbauten dokumentiert. Dass es einen Vorgängerbau in Holz-Erde-Bauweise beziehungsweise Fachwerkbauten im Inneren gegeben hat, geht aus Befunden eines älteren Holzbaus unter den principia (Stabsgebäude) sowie einem hölzernen Vorgänger des nordöstlichen Torturms, der porta principalis sinistra (linkes Lagertor), hervor. Das Kastell nimmt eine Fläche von 198,6 × 163,8 Meter ein (= 3,25 Hektar) und ähnelt den Kastellen Saalburg, Marköbel, Langenhain und Butzbach, die zur selben Zeit entstanden sein dürften und, soweit bekannt, ebenfalls für eine teilberittene Kohorte (cohors equitata) konzipiert waren. Von den Wehrbauten des Steinkastells wurden fast ausschließlich die Ausbruchsgruben der Fundamentmauern festgestellt, die sich klar vom anstehenden Kiesboden abhoben. Das Fundamentmauerwerk bestand aus lokalem Gneis, dem sogenannten Ballenberger. Für das aufgehende Mauerwerk wurde aufgrund der Witterungsbeständigkeit roter Mainsandstein bevorzugt. Auffällig groß ist die Zahl von zwölf gefundenen Zinnendecksteinen, hinzu kamen fünf Winkelstücke (möglicherweise von den nicht überdachten Ecktürmen). Die geraden Stücke wiesen eine Länge zwischen 1,07 und 1,34 Meter auf. Alle Decksteine wurden in der Verfüllung des Grabens aufgefunden. Möglicherweise wurden die unhandlichen Steine, die nur schwer wiederverwendbar waren, in den noch offenen Kastellgraben geworfen, bevor man die Kastellmauer zur Verwertung der Steine bis auf das Fundament abtrug. Die Kastellmauer hatte eine Breite zwischen 1,20 und 1,40 Metern, das Fundament von 1,80 Metern. An den Ecken war das Kastell mit einem inneren Radius von 15 Metern abgerundet. Besonders auffällig am Grundriss sind die nach außen vorspringenden Ecktürme (5,30 × 3,80 m), die wahrscheinlich in einer späteren Bauphase hinzugefügt wurden. Zwischentürme wurden keine festgestellt. Auch die Tortürme waren auffallend schmal und tief (6,90 × 4,20 m), mit Ausnahme der porta praetoria (vorderes Lagertor) waren die restlichen drei Tore nur mit einer Durchfahrt ausgestattet. An der Innenseite der Mauer befand sich eine Wallschüttung, deren Breite durch den Nachweis der via sagularis (Wallstraße) mit 4,60 bis 5,10 Metern angegeben werden kann. Um das Kastell verlief ein einfacher Spitzgraben mit einer Breite um 7 Meter. Er war von der Mauer durch eine etwa 1,20 bis 1,40 Meter breite Berme getrennt. Eine Erneuerung des Grabens wird belegt durch eine im Profil (Grabenschnitt) doppelte Spitze mit einem Abstand von etwa 80 Zentimetern zueinander. Von der Innenbebauung sind mit Ausnahme der steinernen Principia (Stabsgebäude) ausschließlich Teilgrundrisse bekannt. Dabei handelt es sich meist um die tiefer fundamentierten Teile von Gebäuden, von denen die Anbauten aus Fachwerk nicht erkannt wurden. In der Nordwestecke befand sich ein größerer Baukomplex mit mehreren Öfen, der als Bäckerei angesprochen wird. Kastellbad Das Badegebäude wurde etwa 50 Meter vor dem südlichen Teil der Prätorialfront, der dem Feind zugewandten Lagerseite, in direkter Nähe zum Main lokalisiert. Nach der Entdeckung und ersten Konservierung 1820 konnten bei den großen Flächengrabungen nur noch Nachuntersuchungen vorgenommen werden. Es hat eine Länge von 44,50 bei einer maximalen Breite von 19,45 Metern und gehört zum sogenannten Reihentyp, bei dem die wichtigsten drei Badetrakte in einer Achse hintereinander angeordnet sind. Da ein Apodyterium (Auskleideraum) nicht nachgewiesen werden konnte, wird dieser vermutlich in einem Anbau aus Holz oder Fachwerk bestanden haben. Ähnliche Befunde sind von den Kastellbädern in Würzberg und Walldürn bekannt. Aufgrund der Apsiden des Warmbades, die besonders häufig bei Gebäuden ab hadrianischer Zeit auftreten, wurde zunächst eine Datierung in diese Zeit erwogen. Ähnliche Typen von Kastellbädern sind am obergermanischen Limes schon aus flavischer Zeit geläufig, etwa die Thermen vom Kastell Echzell, Kastell Bendorf oder Kastell Salisberg. Nach den Grabungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde das Bad restauriert. 70 Jahre später musste es 1968 einem Fabrikgebäude weichen. Es wurde in den Nilkheimer Park versetzt, wo es sich noch befindet. Vicus und Gräberfeld Das Kastelldorf (Vicus) erstreckte sich entlang des Mains nördlich und südlich des Kastells. Wie bei der Kastellinnenbebauung sind nur tiefer liegende Befunde wie Keller und Hypokausten dokumentiert; deshalb ist von der Wohnbebauung kein zusammenhängendes Bild zu gewinnen, obwohl von Wirth über 50 Keller oder Steingebäude angeschnitten wurden. Die Verlängerung der via principalis nach Norden und Süden bildete die Hauptachse des Lagerdorfs. Sie wurde stellenweise nachgewiesen, wobei eine Breite von neun Metern festgestellt wurde. Südlich des Kastells scheint die Besiedlung dichter gewesen zu sein, sodass die Straße zur Erschließung nicht mehr ausreichte. Parallel verlief etwa 100 Meter westlich eine zweite Straße, die vermutlich das rückwärtige Kastelltor (porta decumana) erreichte. Von den Gräberfeldern konnte besonders nördlich der Eisenbahnlinie und der Erdschanze ein größerer Teil ergraben werden. Im Vicus haben mehrere Einzelbefunde Eingang in die archäologische Forschung gefunden. Etwa 100 Meter nördlich des Kohortenkastells wurde in der Nähe des Mainufers ein auf den Zeitraum 95–125 n. Chr. datierter Ziegelofen freigelegt, der nach den Stempeln von der Cohors III Aquitanorum (3. Kohorte der Aquitanier) betrieben wurde. Ein weiterer Brennofen derselben Einheit wurde 75 Meter von der Südecke des Kastells entfernt entdeckt. Die Ziegel wurden vorwiegend zu Bauten innerhalb des Steinkastells verwendet. Schiffslände Vor der nordöstlichen Lagerecke befand sich eine Anlegestelle für Schiffe. Aufgefunden wurde eine stark zerstörte Kaimauer mit 2,70 Meter Breite und bis zu 2,40 Meter Höhe. Sie ruhte auf einem Pfahlrost aus Eichen. Davor befand sich eine Holzkonstruktion, von der mehrere miteinander verzapfte Balken aufgefunden wurden. Sie hatte wahrscheinlich den Zweck, auch Schiffen mit größerem Tiefgang das Andocken zu ermöglichen. Eine Darstellung an der Trajanssäule in Rom ist der Stockstädter Anlegestelle sehr ähnlich. Benefiziarier-Station Wenige Meter von der Anlegestelle flussabwärts wurden seit 1886 zahlreiche Weihealtäre von beneficiarii consulares aus dem weitgehend moorigen Boden geborgen. Aufgrund der Masse der Steininschriften konnte es sich nur um eine Station handeln, die den Handel und wahrscheinlich besonders den Schiffsverkehr überwachte. Die Inschriften datieren in die Zeit von 166 bis 208 n. Chr. Möglicherweise wurde die Station danach aufgegeben. Ein Teil der älteren Weihealtäre der Benefiziarier fand sich wiederverwertet im Mithräum I. Von dem zugehörigen Gebäude konnte Conrady trotz intensiver Suche nur Kulturschichten und Bauschutt entdecken. Mithräum I und II Das Mithräum I (13,00 × 7,80 m) wurde 1902 südöstlich des Kastells gefunden. Es handelt sich nach den Funden um das jüngere, um 210 n. Chr. errichtete der beiden Heiligtümer. Ein Brand zerstörte den Bau, sein außerordentlich reiches Inventar blieb aber im Boden erhalten. Neben einem silbernen Votivblech gehörten dazu Fragmente eines drehbaren Mithras-Kultbildes und 66 weitere Steindenkmäler. Kleinfunde wie Münzen sind dagegen unterrepräsentiert. Funde von drei verschiedenen Merkur-Statuen legen nahe, dass die Verehrung dieses Gottes besondere Bedeutung hatte. In beiden Mithräen befand sich je eine Mercuriusstatue mit einem Kind im Arm. Die Weihungen einer Vielzahl von Göttern in den Heiligtümern belegt, dass sich religiöse Vorstellungen allmählich vermischten. Mit dem Mithräum II (11,50 × 6,50 m) wurde an der Südostseite des kleinen Holzkastells in der Nähe des Mains 1909/10 ein weiteres Heiligtum freigelegt. Münzfunde, die als Bauopfer anzusehen sind, geben einen terminus post quem für die Errichtung des Mithräums II nach 157 n. Chr. Mit fünf Altären und einer Mercurius-Statue sind die Funde wesentlich geringer als im Mithräum I, insbesondere fehlt ein Kultbild. Dies belegt im Zusammenhang damit, dass in dem ebenfalls durch einen Brand zerstörten Gebäude im 3. Jahrhundert Siedlungsabfälle abgelagert wurden, die zeitliche Abfolge der beiden Mithräen. Das Kultbild aus dem Mithräum II könnte in dem späteren Gebäude weiter verwendet worden sein. Dolichenus-Heiligtum Ein Heiligtum für Iupiter Dolichenus (sogenanntes Dolichenum) konnte südöstlich des Kastells, nur wenige Meter vom Mithräum I entfernt, nachgewiesen werden. Vom Grundriss lässt sich wegen der starken Zerstörung des Gebäudes kein genaues Bild machen. Inschriften legen eine Nutzung in severischer Zeit nahe. Der bei Soldaten recht beliebte Kult könnte wesentlich von der cohors I Aquitanorum etabliert worden sein, die seit der Mitte des 2. Jahrhunderts in Stockstadt nachweisbar ist. Neben der gemeinschaftlich gesetzten Weihinschrift der Truppe, die auf ein eingelöstes Gelübde hinweist, ist in einer anderen einer ihrer Präfekten genannt. Eine Besonderheit im Fundmaterial sind zahlreiche Stierhörner und -schädel, wahrscheinlich Reste von Opfertieren. Denkmalschutz und Fundverbleib Aufgrund der sehr weitgehenden Zerstörung des Kastellareals durch Überbauung ist das Kastell Stockstadt nicht Teil des UNESCO-Welterbes Frontiers of the Roman Empire. Das Kastell und die erwähnten Anlagen sind jedoch als eingetragene Bodendenkmale im Sinne des Bayerischen Denkmalschutzgesetzes (BayDSchG) geschützt. Nachforschungen und gezieltes Sammeln von Funden sind erlaubnispflichtig, Zufallsfunde den Denkmalbehörden anzuzeigen. Römerzeitliche Funde aus Stockstadt sind im Saalburgmuseum, im Stiftsmuseum Aschaffenburg und im Heimatmuseum Stockstadt ausgestellt. Siehe auch Liste der Kastelle am Obergermanisch-Raetischen Limes Literatur Dietwulf Baatz: Stockstadt am Main AB. Kohortenkastell. In: Dietwulf Baatz und Fritz-Rudolf Herrmann (Hrsg.): Die Römer in Hessen. Lizenzausgabe der 3. Auflage von 1989. Nikol, Hamburg 2002 S. 479–481. ISBN 3-933203-58-9. Dietwulf Baatz: Der Römische Limes. Archäologische Ausflüge zwischen Rhein und Donau. 4. Auflage. Gebr. Mann, Berlin 2000, ISBN 3-7861-2347-0, S. 176f.; S. 231 (Stiftsmuseum Aschaffenburg); S. 233f. (Badegebäude im Nilkheimer Park). Dietwulf Baatz: Zur Datierung des Bades am Limeskastell Stockstadt. In: Bayerische Vorgeschichtsblätter 34, 1969 S. 63–75. Karlheinz Dietz: Zwei Jupiterweihungen aus Stockstadt a. Main. Landkreis Aschaffenburg, Unterfranken. In: Das archäologische Jahr in Bayern 1990. S. 104–107. Andreas Hensen: Die Tempel des Mithras beim Kastell von Stockstadt am Main. In: Der Limes. Nachrichtenblatt der Deutschen Limeskommission 5/2011 Heft 2, S. 10–13. Hans-Jörg Kellner: Ein Schatzfund aus dem Kastell Stockstadt, Lkr. Aschaffenburg. In: Germania 41, 1963 S. 119–122. Marion Mattern: Römische Steindenkmäler aus Hessen südlich des Mains sowie vom bayerischen Teil des Mainlimes. Corpus Signorum Imperii Romani. Deutschland Bd. 2,13, Mainz 2005, Verlag des Romisch-Germanischen Zentralmuseums; in Kommission bei Habelt, Bonn, ISBN 3-88467-091-3. L. Schleiermacher: Das zweite Mithräum in Stockstadt a.M. In: Germania 12, 1928, S. 46–56. Hans Schönberger: Die Körpergräber des vierten Jahrhunderts aus Stockstadt a. Main. In: Bayerische Vorgeschichtsblätter 20, 1954 S. 128–134. Kurt Stade: Nachtrag zu Abt. B Nr. 33 Kastell Stockstadt. In: Ernst Fabricius, Felix Hettner, Oscar von Sarwey (Hrsg.): Der obergermanisch-raetische Limes des Roemerreiches. (ORL) Abt. A Strecke 6 (1933) S. 29–70. Bernd Steidl: Welterbe Limes: Roms Grenze am Main. Logo, Obernburg am Main 2008 ISBN 3-939462-06-3 S. 156–161 (= Ausstellungskataloge der Archäologischen Staatssammlung 36). Ludwig Wamser: Ausgrabungen im Vicus des Römerkastells Stockstadt a. Main. Landkreis Aschaffenburg, Unterfranken. In: Das archäologische Jahr in Bayern 1990, S. 98–104. Grabungsbericht der Reichs-Limeskommission: Friedrich Drexel: Das Kastell Stockstadt. In: Der obergermanisch-raetische Limes des Roemerreiches B, Bd. 3, Kastell Nr. 33 (1914). Weblinks Einzelnachweise Römische Befestigungsanlage (Germania superior) Römisches Bauwerk in Bayern Bauwerk in Stockstadt am Main Kastell
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https://de.wikipedia.org/wiki/Stammesgeschichte%20des%20Menschen
Stammesgeschichte des Menschen
Als Stammesgeschichte des Menschen wird das durch Evolution bedingte Hervorgehen des modernen Menschen (Homo sapiens) und seiner nächsten Verwandten aus gemeinsamen Vorfahren bezeichnet. Die Stammesgeschichte des Menschen begann nach heutiger Auffassung mit der Aufspaltung der letzten gemeinsamen Vorfahrenpopulation der Schimpansen und des Menschen. Diejenige der beiden Teilpopulationen, aus der die Menschen hervorgingen, sowie alle ihre ausgestorbenen und noch lebenden Nachfahren werden als Hominini bezeichnet. Die Erforschung der Stammesgeschichte „zieht im Rahmen der von T. H. Huxley bereits 1863 begründeten Lehre von den Primaten, der Primatenkunde oder Primatologie, alle fossilen und heutigen Lebensformen der Affen in die Betrachtung ein“. Eine stetig wachsende Anzahl gut erhaltener Fossilien aus unterschiedlichen Regionen Afrikas, Asiens und Europas hat zwar die Erkenntnisse über die Vorfahren des Menschen erweitert, aber zu keiner Einigkeit über ihre Lebensdauer und Verbreitungsgebiete geführt. Dies ist auch dadurch bedingt, dass die systematische Zuordnung zahlreicher Einzelfunde und die Verwandtschaftsverhältnisse vieler vorzeitlicher Arten umstritten sind, weil sich die Forschung derzeit noch „an den Grenzen oder sogar jenseits des analytischen Leistungsvermögens des Datenmaterials und der verfügbaren Methoden“ bewegt. Häufig werden die Arten der Hominini wie folgt bezeichnet: die Australopithecinen als Vormenschen; Homo habilis und Homo rudolfensis als Urmenschen; alle späteren Arten der Gattung Homo (außer Homo sapiens) als Frühmenschen; Homo sapiens als Jetztmensch oder anatomisch moderner Mensch. Den Hominini vorangestellt wird gelegentlich das 1958 von Gerhard Heberer benannte Tier-Mensch-Übergangsfeld. Molekularbiologische und paläoanthropologische Befunde zum Entstehen der Menschenartigen Anhand einzelner Fossilienfunde kann für die frühen Menschenartigen die Existenz voneinander unterscheidbarer Arten belegt werden. Der genaue Zeitpunkt, ab dem sich der Körperbau der Individuen einer bestimmten Art durch Evolution so stark verändert hat, dass ihre Populationen einer zeitlich jüngeren Art zugeordnet werden können, lässt sich hingegen anhand einzelner Fossilien allenfalls grob abschätzen. Dies liegt daran, dass ein gleitender Übergang von den ursprünglichen Merkmalen zu den neu erworbenen Merkmalen zu erwarten ist. Eine scharfe Grenzziehung erweist sich hier als schwierig und wegen der Lückenhaftigkeit der fossilen Belege häufig als völlig unmöglich. Als ein wichtiges Hilfsmittel, um die Zeitpunkte der Aufspaltung von Arten näherungsweise zu bestimmen, erwies sich die sogenannte molekulare Uhr, und zwar mit Hilfe von DNA-Analysen bei Individuen heute lebender Arten. „Man geht heute davon aus, dass jeder Mensch etwa 50 Basenveränderungen (Mutationen) in sich trägt, die in der Keimbahn der Eltern neu entstanden sind und damit nicht Teil des elterlichen Genoms waren. Daraus ergibt sich eine Mutationsrate von etwa 50 Veränderungen pro Generation pro Genom. Wenn man annimmt, dass pro Generation etwa 25 Jahre vergehen, lässt sich anhand der genetischen Unterschiede zwischen zwei Populationen berechnen, wann sich diese voneinander getrennt haben müssen.“ Genau genommen muss man Annahmen für drei Größen treffen: die durchschnittliche Mutationsrate pro Jahr in den Geschlechtszellen der Eltern, den durchschnittlichen zeitlichen Generationenabstand und die genetische Diversität der Ursprungspopulation. Deshalb variieren die entsprechenden Abschätzungen – nicht nur für die Frühphase der Primaten-Entwicklung. Hilfreich für die Abschätzung der Mutationsrate ist die DNA-Bestimmung möglichst alter Hominiden-Fossilien. So ergeben die DNA-Untersuchungen eines 45.000 Jahre alten Homo-sapiens-Fossils aus Sibirien und eines 400.000 Jahre alten frühen Neandertaler-Fossils aus Spanien übereinstimmend eine Mutationsrate von rund 0,5 × 10−9 pro Nukleinbase pro Jahr, was ca. 60 Mutationen pro Genom bei einem Generationenabstand von 25 Jahren entspricht. Eine Zeitskala für die Evolution der Primaten aufgrund molekularbiologischer Modelle wurde erstmals 1967 publiziert; diese wurde in einer Neuberechnung im Jahre 2012 insbesondere für die Entwicklung von Homo sapiens deutlich zum Älteren verschoben. Die anhand der molekularen Uhr errechneten Zeitpunkte und die durch Fossilienfunde erschlossenen Zeitpunkte für die Aufspaltung von Entwicklungslinien weichen zudem häufig um mehrere Millionen Jahre voneinander ab. So wurde 1985 aufgrund von DNA-Analysen eine Studie veröffentlicht, der zufolge in der Kreidezeit vor rund 90 Millionen Jahren aus den Euarchontoglires jene Stammlinien hervorgingen, die einerseits unter anderem zu den heutigen Mäusen, andererseits zu den Primaten führten. 2009 wurde diese Datierung bestätigt und für die Aufspaltung eine Zeitspanne von 80 bis 116 Millionen Jahre angegeben. Aufgrund von Fossilienfunden gilt hingegen ein Zeitpunkt vor rund 56 Millionen Jahren – im Paläozän – als am ehesten wahrscheinlich. Als mögliche Erklärung für diese erhebliche Diskrepanz wurde 2012 darauf verwiesen, dass die damals lebenden kleinwüchsigen Primaten (die den heutigen Lemuren ähnelten) eine kürzere Generationenfolge und deshalb eine höhere Mutationsrate aufwiesen als großwüchsige Primaten, da die Mehrzahl der Mutationen in Geschlechtszellen sich während der Replikation ereignet; der Größenzuwachs bei den Primatenarten seit dem Paläozän sei daher vermutlich einhergegangen mit einer Verringerung der bei den frühesten Primaten noch „außergewöhnlich rasanten“ Mutationsrate. R. L. Stauffer u. a. berechneten für den Zeitpunkt der Aufspaltung der Altweltaffen in die Menschenartigen und die Meerkatzenverwandten (hierzu gehören Meerkatzen, Paviane und Makaken) per DNA-Analyse rund 23 Millionen Jahre vor heute, am Beginn des Miozäns. Die Menschenartigen trennten sich dieser Datierung zufolge vor rund 15 Millionen Jahren in die Menschenaffen und die Gibbons auf. Für den Zeitpunkt der Aufspaltung der Menschenaffen in die asiatischen Arten (die Vorfahren der Orang-Utans) und in die afrikanischen Arten wurden 11 Millionen Jahre errechnet, für die Abtrennung der Gorillas von den Schimpansen rund 6,5 Millionen Jahre und für die Abtrennung der Schimpansen von den Hominini schließlich 5,2 ± 1,1 Millionen Jahre. Seitdem ergaben sich jedoch Neuberechnungen, zum einen wurden erst seit etwa 2010 genomweite Sequenzierungen üblich, zum anderen wurden sowohl die anzunehmenden Mutationsraten für die jeweiligen Hominiden präzisiert als auch die durchschnittlichen Generationenabstände für beide Geschlechter. Beispielhaft können folgende Neuberechnungen angeführt werden: Die „in früheren Studien“ zugrunde gelegten Mutationsraten ergaben nach Entschlüsselung der Gorilla-Genomsequenz für die Trennung der Gorillas von den Schimpansen zunächst 5,95 Millionen Jahre; unter Verweis auf Fossilfunde wurde diese Datierung aber relativiert und – unter Zugrundelegung von Mutationsraten in heute lebenden Homo sapiens-Populationen – eine geringere Mutationsrate zugrunde gelegt, die eine anzunehmende Trennung dieser Entwicklungslinien vor 10 bis 6 Mio. Jahren ergab. C. Owen Lovejoy datierte die Trennung der Schimpansen von den Hominini 2009 in die Zeitspanne vor etwa 6 bis 5 Millionen Jahren. Auf der Basis von Fossilienfunden datierte Terry Harrison Anfang 2010 jedoch die Trennung der Schimpansen von den Hominini bereits in die Zeit vor 7,5 Millionen Jahren, Nach einer Revision der Annahmen über den zeitlichen Generationenabstand wurde 2012 sogar eine Trennung vor mindestens 8 bis 7 Millionen Jahren errechnet. 2013 und 2019 kamen die Autoren mehrerer Studien zu dem Schluss, dass die Evolutionsraten nur halb so groß gewesen seien, wie dies zahlreiche frühere Publikationen unterstellten. Als gesichert gilt derzeit nur die Abfolge der „Verzweigungen“ im Stammbaum der Menschenartigen, nicht aber der zeitliche Abstand zwischen zwei Verzweigungen. Weiterentwicklung der Menschenartigen „Die Wiege der Hominoidea“ – der Überfamilie der Menschenartigen – „liegt im frühen Miozän Ostafrikas“, das heißt in der Zeit vor 23 bis 16 Millionen Jahren. Ihre frühmiozänen Formen werden als archaische oder Stamm-Hominoidea bezeichnet; ihre verwandtschaftlichen Beziehungen untereinander und zu späteren Arten sind wegen der geringen Zahl bekannter Fossilien umstritten. Ferner weist keine der bisher bekannten Arten von miozänen Menschenartigen die für Menschenaffen typischen körperlichen Merkmale des Fortbewegungsapparats auf, „die sich offenbar erst mit zunehmender terrestrischer Lebensweise pliozäner Hominoidea herausgebildet haben“, das heißt vor rund 5 Millionen Jahren. Vor rund 18 bis 15 Millionen Jahren trennten sich zwei Entwicklungslinien: Die eine führte zu den Gibbons (Hylobatidae), die andere zu einigen bereits im Miozän wieder ausgestorbenen Gattungen – wie Afropithecus, Kenyapithecus und Griphopithecus, Pierolapithecus, Dryopithecus und Oreopithecus – sowie zu den Menschenaffen, das heißt zu den Orang-Utans (Ponginae) und zu den afrikanischen Großen Menschenaffen (Homininae: Gorillas, Schimpansen, Mensch). Von einem Teil der Fachautoren wird heute angenommen, dass die Menschenaffen aus der in dieser Epoche existierenden Überfamilie der Proconsulartigen (Proconsuloidea) hervorgegangen sein könnten, für die Proconsul Namensgeber war und die den paläontologischen Befunden zufolge „ein außergewöhnlich formenreiches Taxon [war], das ausschließlich in tropischen Wäldern Afrikas und der Arabischen Halbinsel vorkam“. Andere Fachautoren halten eine Schwestergruppe der Proconsulartigen für wahrscheinlicher oder verzichten völlig auf Spekulationen: „Nach gegenwärtigem Kenntnisstand ist jedoch keines der bekannten miozänen Hominoidea-Taxa in die direkte gemeinsame Vorfahrenschaft von afrikanischen Menschenaffen und der Stammlinie Hominini zu stellen.“ Erstbesiedlung Eurasiens Vor 17 bis 14 Millionen Jahren wurde das Klima in Afrika trockener, zugleich kam es im Jahresverlauf zu stärkeren Temperaturschwankungen. Diese Änderungen der ökologischen Gegebenheiten verringerte dem heutigen Forschungsstand zufolge die Proconsulartigen-Vielfalt; zugleich entwickelten sich frühe Verwandte der Meerkatzenverwandten und der Menschenartigen (beispielsweise Kenyapithecus wickeri, Equatorius africanus und Nacholapithecus) zu den vorherrschenden Gattungen. Nachweisbar ist bei den Fossilien aus dieser Epoche, dass Anpassungen an eine härtere Nahrung entwickelt wurden: z. B. kräftige Kiefer sowie dicke Zahnschmelz-Schichten auf den Backenzähnen und dass vor 16 bis 15 Millionen Jahren erstmals auch Gebiete außerhalb Afrikas – weite Teile Eurasiens – von diesen Arten besiedelt wurden. Vor rund 16 Millionen Jahren, um die Grenze vom frühen zum mittleren Miozän, trennte sich in Asien die Verwandtschaftsgruppe der Orang-Utans von jener der anderen Menschenaffenarten; zur Verwandtschaftsgruppe der Orang-Utans zählen auch die ausgestorbenen Gattungen Ramapithecus, Sivapithecus / Ankarapithecus, Lufengpithecus und Khoratpithecus sowie Gigantopithecus. Ramapithecus, dessen erste Fossilien Anfang der 1930er-Jahre in Nordindien gefunden worden waren, galt in den 1960er- und 1970er-Jahren irrtümlich als Vorfahre der Hominini und somit auch des Menschen. Vor 13 bis 9 Millionen Jahren nahm die Zahl der Menschenartigen-Arten in Europa zu, unter anderem sind aus dieser Epoche neben den beiden in Spanien entdeckten Funden von Pierolapithecus und Anoiapithecus mindestens vier Dryopithecus-Arten bekannt. Eine vergleichbare Entwicklung vollzog sich in Asien in jenem Formenkreis, dessen einzige Überlebenden die Orang-Utans sind. Vor 9,6 Millionen Jahren führte die sogenannte Vallesium-Krise zu erheblichen Veränderungen der Ökosysteme in Europa: Von der spanischen Mittelmeerregion ausgehend verschwanden in West- und Mitteleuropa die subtropischen, immergrünen Wälder infolge allmählicher Abkühlung; an ihrer Stelle folgten laubabwerfende Bäume und in einigen südlichen Regionen Steppen. Diese Klimaveränderung hatte auch einen tiefgreifenden Wandel in der Tierwelt zur Folge – die meisten europäischen Arten der Menschenartigen dieser Epoche starben aus; einzig Oreopithecus überlebte bis vor ungefähr 7 oder sogar 6 Millionen Jahren auf einer Insel in der Region von Sardinien/Korsika. Ferner wurden auf Kreta die etwa 6 Millionen Jahre alten fossilen Fußspuren von Trachilos als Hinweise auf eine dort heimische Menschenaffenart interpretiert, bei der es sich wegen der nach vorn gerichteten Zehenstellung mit großem Zeh und Ballen nicht um Oreopithecus handeln kann (Koordinaten der Fundstelle: ). Die etwa 50 Fußabdrücke werden einem Homininen zugeordnet. Als möglicherweise ältester, bislang bekannter Vertreter der Hominini wurde in einer 2017 publizierten Analyse von Zahnwurzeln die fossile Gattung Graecopithecus bezeichnet, deren Überreste (ein Unterkiefer und ein Zahn) bei Athen und in Bulgarien gefunden und auf 7,2 Millionen Jahre datiert worden waren. Vor 8 bis 7 Millionen Jahren bewirkte zudem die Anhebung des Tibetischen Hochlands eine Steigerung der Dauer und Stärke des Monsuns in Asien. Die Folge war – auch in Europa – eine Verringerung der Niederschlagshäufigkeit und -dauer, nachweisbar unter anderem durch eine Ausbreitung von C4-Gräsern. Diese Klimaveränderungen führten allmählich zum völligen Aussterben der Menschenartigen in Europa und zu einem Rückgang der Artenvielfalt in Asien, von dem letztlich nur die Orang-Utans und die Gibbons verschont blieben. Entwicklung in Afrika Betroffen von der Vallesium-Krise war vor 9,6 Millionen Jahren auch der Norden und Osten Afrikas. Allerdings sind aus diesen Regionen bisher nur wenige Funde bekannt, die in die Zeit von vor 13 bis 7 Millionen Jahren datiert wurden. Dies hatte zeitweise zu der Vermutung geführt, dass die Menschenaffen sich in Asien entwickelt hatten und nach Afrika zurückgewandert waren. Tatsächlich waren jedoch die schlechteren Voraussetzungen für das Entstehen von Fossilien – das feuchtere Klima – eine der Hauptursachen für die geringe Anzahl an afrikanischen Funden. Mit dem 2007 erstbeschriebenen, knapp 10 Millionen Jahre alten Nakalipithecus nakayamai aus Kenia, dem schon länger aus Kenia bekannten, etwas älteren Samburupithecus sowie dem in Äthiopien geborgenen, ebenfalls etwas älteren Chororapithecus kann inzwischen jedoch belegt werden, dass auch Afrika im mittleren und späten Miozän von einer Vielzahl von Menschenartigen-Arten bevölkert war. Im späten Miozän – vor 8 bis 6 Millionen Jahren – trennten sich in Afrika auch die Entwicklungslinien der Gorillas und der Schimpansen von jener der Hominini, wobei vermutet wird, dass der letzte gemeinsame Vorfahre von Schimpansen und Hominini ungefähr die Körpermaße der heute lebenden Schimpansen hatte. Eine im Sommer 2006 in der Zeitschrift Nature veröffentlichte Genanalyse des Broad Institute, eines gemeinsamen Instituts des Massachusetts Institute of Technology und der Harvard University, wurde dahingehend interpretiert, dass der Entwicklungsgang der frühesten Hominini ungewöhnlicher verlief, als zumeist angenommen wird. In dieser Studie waren 20 Millionen Basenpaare von menschlicher DNA sowie von Schimpansen- und Gorilla-DNA mit Hilfe der molekularen Uhr miteinander verglichen worden. Laut Studie separierte sich eine frühe Menschenaffenart bereits vor ca. 10 Millionen Jahren von den Vorfahren der Hominini. Diese beiden Populationen vereinigten sich jedoch einige Jahrtausende später wieder und bildeten eine Mischpopulation, in der es zu Kreuzungen kam. Den Interpretationen der Forscher zufolge gab es über vier Millionen Jahre hinweg eine Abfolge von Kreuzungen und sich auseinander entwickelnden Gruppen, bis eine letztmalige, dauerhafte Trennung der Schimpansenvorfahren und der Hominini vor ca. 6,3 bis 5,4 Millionen Jahren erfolgte. Dieser letzte Genaustausch sei durch das durchgängig sehr geringe Alter der X-Chromosomen belegt, die sich erst zu diesem späten Zeitpunkt in der für Menschen charakteristischen Form herausbildeten und den X-Chromosomen des Schimpansen sehr ähnelten. Dieses Szenario blieb allerdings nicht unwidersprochen. Auffächerung der Hominini Die publizierten Daten zur Dauer der Existenz der Hominini-Gattungen und -Arten sind Schätzwerte, die abgeleitet wurden aus den geologischen (stratigraphischen) Untersuchungen der Fundstellen von Fossilien, das heißt: aus der Altersbestimmung einzelner Fundstellen. Die sogenannte molekulare Uhr kann für die Gattungen der Hominini nicht genutzt werden, da der moderne Mensch die einzige überlebende Art ist und nur von ihm und dem eng mit ihm verwandten Neandertaler genetisches Vergleichsmaterial vorhanden ist. Völlig unklar ist aufgrund der wenigen Funde bislang, welche afrikanischen Vorfahren den rund 7 bis 5 Millionen Jahre alten Gattungen Sahelanthropus, Orrorin und Ardipithecus unmittelbar vorausgingen und ob diese drei Gattungen von ihren Entdeckern zu Recht in die direkte Ahnenreihe der Gattung Homo gestellt wurden. Frühzeit der Hominini Nach dem Fund des rund 6 Millionen Jahre alten Orrorin im Jahr 2000 und des 7 bis 6 Millionen Jahre alten Sahelanthropus im Jahr 2001 (in der Fundstelle TM 266) wurden beide Arten als bereits aufrecht gehende, älteste bisher bekannte Arten der Hominini ausgewiesen und somit als direkte Vorfahren des Menschen. Dies wäre auch widerspruchsfrei zu vereinen mit den oben genannten neueren molekulargenetischen Berechnungen. Nach David R. Pilbeam und Daniel E. Lieberman spricht die beste verfügbare Evidenz im Jahre 2017 für eine Trennung der Homininen-Linie von den Schimpansen bei 7,9 Millionen Jahren (im Bereich zwischen 6,5 bis 9,3 Millionen Jahren). Bereits 1994 waren in Äthiopien Fossilien von Ardipithecus ramidus entdeckt worden. Sie sind 4,4 Millionen Jahre alt und werden von vielen Forschern ebenfalls zu den direkten Vorfahren des Menschen gestellt. Auch die Individuen dieser Art konnten, wie vor allem das Fossil Ardi zu belegen scheint, auf dem Boden zweibeinig gehen. Die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen Sahelanthropus, Orrorin und Ardipithecus sowie die Zurechnung dieser drei Arten zu den Hominini sind jedoch weiter umstritten. Diese Funde stammen aus dem Übergang von Messinium zum Zancleum, einer erdgeschichtlichen Epoche, in der die Weltmitteltemperatur ungefähr 4 °C höher war als heute. Einer 2011 publizierten Studie zufolge waren die Lebensräume der frühen Hominini vor 6 Millionen Jahren Savannen mit allenfalls 40 Prozent Bedeckung durch Baumkronen; um 3,6 Mio. Jahre vor heute betrug die Baumbedeckung 40 bis 60 Prozent, und im Übergang vom Pliozän zum Pleistozän nahm sie wieder ab, so dass vor 1,9 Millionen Jahren Flächen mit einer Baumbedeckung von mehr als 50 Prozent nahezu verschwunden waren. In einer 2019 veröffentlichten Studie wurde darauf hingewiesen, dass die Artengemeinschaften im Lebensraum der Hominini erst vor rund 700.000 Jahren denen in den heutigen Steppengebieten zu ähneln begannen; so habe es in den sechs Millionen Jahren zuvor sehr viel mehr Arten von extrem großen Pflanzenfressern (Megafauna) als danach gegeben. Diese Pflanzenfresser-Arten waren zudem zumeist keine Wiederkäuer, so dass das Grünland viel stärker als heute zum Beispiel in der Serengeti abgefressen wurde. Australopithecinen Zu den durch Fossilienfunde relativ gut bekannten, bereits aufrecht gehenden Vorfahren des Menschen gehören die Australopithecinen, speziell die Gattung Australopithecus. In welchen verwandtschaftlichen Beziehungen ihre Arten zueinander und zu den Arten der Gattung Homo stehen, ist allerdings noch immer unklar. Australopithecus anamensis gilt heute als „die früheste unzweifelhafte Hominini-Art“; eine der bedeutendsten Australopithecus-Fundstätten in Südafrika gilt daher als eine Wiege der Menschheit. Besonders bekannte Einzelfunde sind Lucy und das jugendliche, weibliche Skelett DIK 1-1 (beide gehören zu Australopithecus afarensis) sowie das Kind von Taung (der Schädel eines Australopithecus africanus). Bei Laetoli in der Olduvai-Schlucht in Tansania wurden fossile Fußspuren von mehreren Australopithecus-afarensis-Individuen gefunden, die eindeutig belegen, dass Vertreter dieser Art aufrecht gingen. Umstritten ist hingegen, ob der 1999 von Meave Leakey in Kenia entdeckte Kenyanthropus als eigenständige Gattung anzusehen oder zur Gattung Australopithecus zu stellen ist. Ebenfalls zu den Australopithecinen wird die Gattung Paranthropus gestellt, deren Vertreter ein extrem robustes Gebiss aufweisen. Als Ursache dieser Anpassung gilt eine Klimaveränderung (Abkühlung) vor rund 2,5 Millionen Jahren; ausgelöst wurde sie zum einen durch die vor 2,7 Millionen Jahren beginnende Vergletscherung der Arktis, zum anderen durch die plattentektonische Hebung Ostafrikas. Beides bewirkte eine Verringerung der Niederschlagsmengen und in der Folge eine weitgehende Versteppung des angestammten Lebensraums der Vorfahren von Paranthropus. Eine solche savannenartige Landschaft bot in erster Linie Nahrung für grasfressende Paarhufer und Wiederkäuer, die es vorher schon, meist in kleineren Formen, als Laub äsende Waldbewohner gab. Diese traten nun bald in großen Herden auf, und weil sie zahlreicher wurden, konnten sich auch Raubtiere und Aasfresser vermehren. So differenzierten sich zwei Typen von Hominini. Der eine Typus entstand als Folge einer Anpassung an eine nunmehr – im Vergleich zum Laub der Wälder – hartfaserige Nahrung in der Savanne. Paranthropus boisei, Paranthropus robustus und Paranthropus aethiopicus entwickelten in dieser ökologischen Nische eine gewaltige Kaumuskulatur und entsprechend mächtige Backenzähne. Ihre Kaumuskeln setzten an dem hohen Scheitelkamm des Schädels an. Der zweite Typus fing die Folgen des Klimawandels ab, indem er zu einer Ernährungsweise überging, die mehr und mehr auch Fleisch als Nahrung einbezog. Da diese Individuen weder die Fähigkeit besaßen, als Raubtier größere Beutetiere zu stellen noch über Klauen oder Zähne verfügten, die geeignet gewesen wären, ein großes Beutetier zu töten oder aufzubrechen, dürfte sich ihre Nahrung auf Aas und Beuteraub beschränkt haben. Sehr wahrscheinlich kam es hier zum ersten Gebrauch von Steinwerkzeugen, indem Steine dazu benutzt wurden, das Mark erbeuteter Röhrenknochen freizulegen. Umstritten ist, welcher Gattung und welchen Arten diese ältesten Steinwerkzeuge zuzuordnen sind: „Von einigen Forschern wird die Ansicht vertreten, dass die Herstellung von Oldowan-Geräten dem Australopithecus zuzuschreiben sei und dass der Gebrauch von Werkzeugen nicht als ausschließlicher Anhaltspunkt für die menschliche Art angesehen werden dürfe. Es ist möglich, dass auch die Australopithecinen zu einer groben Steinbearbeitung fähig waren.“ Ein breites Formenspektrum von Steinwerkzeugen „und ihre systematische Herstellung mit Hilfe anderer Werkzeuge, also mit künstlich erschaffenen Geräten“ sei allerdings erst den Arten der Gattung Homo zuzuschreiben. Ein später Vertreter der Gattung Australopithecinen ist Australopithecus sediba, der 2010 von Lee Berger erstmals beschrieben wurde und vor etwa 2 Millionen Jahren lebte. Er zeigt sowohl affenähnliche Merkmale als auch solche des modernen Menschen. Gattung Homo Aus einer Art der Gattung Australopithecus entwickelten sich vor drei bis zwei Millionen Jahren die ersten Vertreter der Gattung Homo, deren Fossilien insbesondere aufgrund von Werkzeugfunden zu Homo gestellt wurden. Auffällig ist, dass auch diese Entwicklung in einer Epoche stattfand, in der das Klima in Ostafrika – das zuvor bereits mehrfach zwischen relativ feucht und relativ trocken gewechselt hatte – erneut hin zu Trockenheit wechselte. Belegt ist dies ab 2,8 Millionen Jahren vor heute (mit einem Maximum um 1,8 bis 1,6 Mio. Jahren vor heute) durch Staubablagerungen, durch die größere Ausdehnung von Savannen und durch vermehrte Funde von Hornträgern wie Antilopen; das Maximum der Staubablagerungen fällt zusammen mit dem ältesten Nachweis von Homo erectus. Evolutionäre Merkmale In der Paläoanthropologie wurde zunächst nach einer eindeutigen morphologischen bzw. verhaltensmäßigen Abgrenzung zwischen den Gattungen Australopithecus und Homo gesucht. Die Unterscheidung ließ sich nicht anhand eines einzigen Kriteriums, etwa Gehirngröße oder aufrechter Gang (Bipedie), treffen. Insbesondere entstand der aufrechte Gang neben Dinosauriern und Vögeln auch mehrmals unabhängig bei den frühen Menschenaffen. Nicht jedes Fossil, das aufrecht gehen konnte, gehört somit in die Vorfahrenlinie des Menschen. Daher wurde ein Bündel von Merkmalen als typisch vorgeschlagen, darunter Körperform und -größe, aufrechter Gang, großes Gehirn, kleiner Kiefer und kleine Zähne, Präzisionsgriff, Reduzierung der Behaarung, Schweißdrüsen, flache Finger- und Zehennägel, lange Embryonalentwicklung, Verlängerung der Kindheit, und beim Verhalten: Sexualverhalten, Sprache, Sozialisation und Kultur. Die Kriterien werden bis heute kontrovers erörtert. Auch bei den einzelnen Kriterien, etwa der erforderlichen Gehirngröße, besteht Uneinigkeit. So wird diese von manchen Forschern bei 700 Kubikzentimetern, bei anderen erst ab 850 Kubikzentimetern als typisch angesetzt. In der neueren Sichtweise herrscht heute Einigkeit, dass die Menschwerdung kein eindeutiger und schneller Evolutionsschritt war, sondern eine parallele Entwicklung einer Vielzahl von Merkmalen, wobei in dem Prozess stets einige noch vorfahrenähnlich, andere aber bereits zukunftsweisender ausgeprägt waren (Mosaikevolution). Von Homo rudolfensis zu Homo erectus Die beiden ältesten Homo-Arten sind Homo rudolfensis, der nach dem Rudolf-See – heute Turkana-See – in Kenia benannt wurde, und Homo habilis. Die Verwandtschaftsbeziehungen beider Arten zueinander sowie ihre Verwandtschaft zu vorhergehenden und nachfolgenden Arten der Hominini sind bislang umstritten. Ihre noch sehr große anatomische Nähe zu Australopithecus veranlasste Bernard Wood 1999 sogar zu dem Vorschlag, beide Arten in Australopithecus rudolfensis und Australopithecus habilis umzubenennen. Die anatomischen Merkmale der beiden Arten werden dennoch in der Regel in Abgrenzung von älteren Australopithecus-Arten definiert. So ist das Gesicht von Homo habilis und Homo rudolfensis leichter gebaut als bei Australopithecus, aber die Augen stehen bei Homo habilis noch weiter auseinander als bei den späteren Homo-Arten wie beispielsweise Homo erectus. Der Überaugenwulst, das ist der durchgehende Querwulst des Stirnbeins oberhalb der Nasenwurzel, ist hingegen weniger stark ausgeprägt als bei Homo erectus. Der Schädel von Homo habilis und Homo rudolfensis „verengt sich hinter den Augenhöhlen nicht so stark wie bei Australopithecus oder Paranthropus, sodass sich ein größeres Gehirnvolumen ergibt“. Ober- und Unterkiefer beider Arten sind zudem kleiner als bei Australopithecus, entsprechend sind die Ansätze der Kaumuskulatur am Schädel weniger stark ausgeprägt. Unterscheidungsmerkmale für Homo habilis und Homo rudolfensis sind laut Friedemann Schrenk: das bei Homo rudolfensis größere Gehirnvolumen; die oberen Vorbackenzähne von Homo rudolfensis haben 3 Wurzeln (Homo habilis: 2), die unteren 2 Wurzeln (Homo habilis: 1); die Weisheitszähne von Homo rudolfensis sind im Vergleich zu Australopithecus verkleinert (bei Homo habilis nicht verkleinert), Oberschenkel und Fuß von Homo rudolfensis sind menschenähnlich, bei Homo habilis ähneln sie Australopithecus. Vor etwa zwei Millionen Jahren entwickelte sich Homo ergaster. Sein Rang als abgrenzbare Art ist allerdings umstritten; diverse Forscher ordnen dessen Fossilien als frühe Exemplare der Art Homo erectus zu. Homo erectus war die erste Art der Gattung Homo, die Afrika verließ und sich über den Vorderen Orient nach Asien und Europa ausbreitete. Der erste Nachweis der Gattung Homo außerhalb Afrikas stammt allerdings von den homininen Fossilien von Dmanisi in Georgien, die auf 1,8 Millionen Jahre datiert wurden und deren Anbindung an den Stammbaum der Gattung Homo ungeklärt ist; möglicherweise gehören die Dmanisi-Fossilien zu Homo habilis. Umstritten ist ferner, ob die von ihren Entdeckern als Homo antecessor bezeichneten, bis zu 1,2 Millionen Jahre alten spanischen Fossilien zu Recht als eigene Art ausgewiesen wurden oder als lokale Variante von Homo erectus einzuordnen sind. Anhand von genetischen Markern wurde berechnet, dass vor 1,2 Millionen Jahren nur rund 18.500 Individuen aus der direkten Vorfahrenlinie des Homo sapiens lebten. Homo floresiensis, scherzhaft auch „Hobbit“ genannt, dessen Überreste 2003 entdeckt wurden, wird heute überwiegend als eine späte Zwergform des Homo erectus interpretiert. Angehörige dieser Art lebten noch bis vor 60.000 Jahren auf der indonesischen Insel Flores. Homo luzonensis, ein ähnlich alter Fund von der Insel Luzon (Philippinen), gehört ebenfalls möglicherweise zum Formenkreis des Homo erectus. Ungeklärt ist zudem die stammesgeschichtliche Herkunft der Fossilien von Homo naledi aus Südafrika, die rund 335.000 Jahre alt sein sollen und neben Merkmalen der Gattung Homo auch solche von Australopithecus aufweisen. Von Homo erectus zu Homo neanderthalensis Vor ca. 800.000 Jahren entwickelte sich aus Homo erectus eine Form mit größerem Gehirn, die meist als Homo heidelbergensis bezeichnet wird, von einigen Forschern zeitweise aber als Unterart des Homo erectus klassifiziert wurde. Aus Homo heidelbergensis bzw. Homo erectus heidelbergensis entwickelten sich in Europa die Neandertaler (Homo neanderthalensis), während zur selben Zeit aus den in Afrika verbliebenen Populationen des Homo erectus der Homo sapiens hervorging, der heutige Mensch. Neben dem Neandertaler gab es vor rund 40.000 Jahren zudem im Altai-Gebirge noch eine Schwestergruppe des Neandertalers, die so genannten Denisova-Menschen. Von ihnen sind bisher nur ein Backenzahn, ein Finger- und ein Zehenknochen aus der Denissowa-Höhle sowie der Xiahe-Unterkiefer aus Tibet wissenschaftlich beschrieben worden. Die Studien kamen aufgrund der Analyse von mtDNA und von Zellkern-DNA zu dem Ergebnis, dass die Denisova-Menschen zu einer homininen Gruppe gehören, die am engsten mit den Neandertalern verwandt ist, aber eine möglicherweise 250.000 Jahre lange eigenständige Populationsgeschichte neben den Neandertalern aufweist. Demnach hat es in Zentralasien neben Homo sapiens und dem Neandertaler noch eine dritte, unabhängig von diesen beiden Arten dorthin eingewanderte Population der Gattung Homo gegeben. Mindestens drei Arten der Gattung Homo – Neandertaler, Homo floresiensis und Mensch – sowie die Denisova-Menschen besiedelten demnach über gewisse Zeitspannen hinweg gleichzeitig Eurasien. Genfluss zwischen Homo sapiens und archaischen Menschenarten Zahlreiche archäogenetische Arbeiten legen seit 2010 einen überraschenden zwischenartlichen Genfluss zwischen Neandertaler und Homo sapiens sowie zwischen dem Denisova-Menschen und Homo sapiens offen. In den Jahren 2013 bis 2015 veröffentlichte archäogenetische Untersuchungen an den Homo-sapiens-Funden von Peștera cu Oase in Rumänien und Ust-Ischim in Sibirien erbrachten den Nachweis von Neandertaler-DNA in beiden Fossilien. Demnach kann von einer erfolgreichen Verpaarung und Genfluss zwischen Neandertaler und Homo sapiens nicht nur in der Levante, sondern auch im Osten Europas und in Sibirien ausgegangen werden. Einige Nukleotidsequenz-Varianten (Haplotypen) bei den afrikanischen Ethnien San, Mandinka und Aka wurden dahingehend interpretiert, dass es bei ihnen vor rund 35.000 Jahren zu einer „Vermischung“ mit einer Homo-Population gekommen sein könnte, die sich bereits vor rund 700.000 Jahren von der zum modernen Menschen führenden Entwicklungslinie getrennt hatte. Da von einer solchen archaischen afrikanischen Homo-Population bislang keine Fossilien entdeckt wurden, kann bislang nicht belegt werden, welcher Population oder Art die Nukleotidsequenz-Varianten zugeschrieben werden können. Ursprung des Homo sapiens Der archaische Homo sapiens entstand in der Zeitspanne zwischen 300.000 und 200.000 Jahren vor heute. Die ältesten ihm zugeschriebenen Funde stammen u. a. aus Äthiopien (Bodo 1), Marokko (Djebel Irhoud und Salé), Sambia (Kabwe 1), Südafrika (Florisbad 1 und Saldanha) sowie Tansania (Ndutu 1 und Eyasi 1), das heißt aus Nordost-, Nordwest-, Südost- und Südafrika. Es konnte jedoch bislang keine bestimmte Region identifiziert werden, die als Ursprungsregion gelten könnte. In einer 2018 publizierten Übersichtsarbeit wurde daher argumentiert, dass der anatomisch moderne Mensch „nicht von einer einzigen Gründerpopulation in einer Region Afrikas“ abstammt, sondern von diversen, über den gesamten Kontinent verstreuten und weitgehend voneinander isolierten Jäger- und Sammlergruppen: „Getrennt durch Wüsten und dichte Wälder lebten sie in unterschiedlichen Lebensräumen. Jahrtausende der Trennung führten zu einer erstaunlichen Vielfalt menschlicher Gruppen, deren Vermischung letztlich unsere Spezies prägte.“ Eine Analyse von genetischen Befunden wurde 2023 als Stütze dieser Sichtweise interpretiert. Vor 70.000 Jahren begann sich der Homo sapiens in ganz Afrika und dem Nahen Osten auszubreiten. Vor 45.000 Jahren hatte er bereits ganz Asien und Europa besiedelt. Dies wirft die Frage auf, was aus den Vor- und Frühmenschen wurde, insbesondere aus Homo erectus, den Denisova-Menschen und den Neandertalern. Hierzu gibt es zwei Theorien, die „Vermischungshypothese“ und die „Verdrängungshypothese“. Vertreter der Hypothese vom multiregionalen Ursprung des modernen Menschen („Vermischungshypothese“) vertreten die Ansicht, dass sich Populationen anderer Vor- und Frühmenschen – wie dem Homo erectus und dem Neandertaler, die bereits längere Zeit Afrika, Europa und Asien besiedelten – durch Vermischung mit dem archaischen Homo sapiens zum anatomisch modernen Menschen entwickelten. Genetische Analysen des Y-Chromosoms und der Mitochondrien des Menschen stützen inzwischen jedoch die Out-of-Africa-Theorie (siehe dazu auch: Adam des Y-Chromosoms und Mitochondriale Eva). Eine Vermischung zwischen Homo sapiens und den späten Vertretern von Homo erectus in Asien ist unbelegt, die Vermischung zwischen Homo sapiens und dem Neandertaler war mit allenfalls 1 bis 4 Prozent eher gering und schlug sich nach den bisherigen Analysen nicht in äußerlich sichtbaren Merkmalen nieder. Von den Paläoanthropologen weitgehend akzeptiert ist heute die auf Fossilfunden basierende Out-of-Africa-Theorie („Verdrängungshypothese“). Demnach hatte Homo sapiens vermutlich in schnellerer Abfolge und häufiger überlebenden Nachwuchs. Jahrzehntelang galten drei Funde als die ältesten sicheren Belege des Homo sapiens: die 195.000 Jahre alten Fossilien Omo 1 und Omo 2 sowie der rund 160.000 Jahre alte „Herto-Schädel“, beide entdeckt im Nordosten Afrikas; ob Homo sapiens auch in dieser Region entstand oder ob sein Ursprung anderswo in Afrika liegt, ist – insbesondere seit der Entdeckung des rund 300.000 Jahre alten Schädels von Djebel Irhoud in Marokko – derzeit Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion. Homo sapiens ist die einzige Menschenart, die Australien (vor etwa 60.000 Jahren) und Amerika besiedelt hat (vor etwa 15.000 bis 11.500 Jahren, nach mancher Ansicht wesentlich früher). Homo sapiens ist zugleich der letzte Überlebende der Gattung Homo. Wichtige Menschenfunde in Europa Wichtige Fundstellen in Europa sind die Sierra de Atapuerca in Spanien, wo eine Besiedelung seit 1,2 Millionen Jahren gesichert zu sein scheint, und zwar beginnend bei Homo erectus / Homo antecessor über Homo heidelbergensis bis zum Neandertaler und zu Homo sapiens; die Höhle von Arago in Südfrankreich, in der 450.000 Jahre alte Homo heidelbergensis-Fossilien geborgen wurden, hier genannt Mensch von Tautavel; Peștera cu Oase in Rumänien (der Fundort der ältesten Fossilien von Homo sapiens in Europa) sowie Cro-Magnon in Frankreich, der Namensgeber des Cro-Magnon-Menschen. Evolution des Menschen in geschichtlicher Zeit Die Evolution des Menschen hört nicht auf. Mehrere relativ jüngere, neue Merkmale existieren. Unter den Blutgruppen bildete sich die Blutgruppe B zuletzt heraus, und zwar in Asien. Sie konnte sich wegen Hebung des Meeresspiegels nicht nach Amerika ausbreiten, wo sich die geschichtlich früheren Bevölkerungsgruppen ausschließlich aus Menschen mit der Blutgruppe 0 zusammensetzten. Seit dem Mittelalter wird ein Trend zur Verkleinerung des Unterkiefers und zu Überbiss beobachtet. Die Ursache ist der ernährungsbedingte Mangel an faserreicher Nahrung. Eine Reduzierung der Weisheitszähne wird parallel beobachtet. Die Veränderung der Hautfarbe durch unterschiedliche Melaninbildung in der Folge von Wanderungen in Regionen mit unterschiedlicher Anpassung an Sonnenstrahlung (Ultraviolettstrahlung) ist ein weiteres neues Merkmal des Homo sapiens. Ein vorteilhaftes Merkmal war die mehrfach unabhängig in den vergangenen 10.000 Jahren entstandene Laktosetoleranz, das heißt die Verträglichkeit von Milch im Erwachsenenalter. Vor allem Europäer und Asiaten auf der Nordhalbkugel (Ausnahme Chinesen) haben mit einem hohen Anteil in der Bevölkerung die dafür zugrundeliegende genetische Mutation. Sie ermöglichte Menschen bei der Sesshaftwerdung, sich eine zusätzliche, wertvolle Nahrungsquelle zu erschließen. Malariaresistenz liegt bei heterozygoter Sichelzellenanämie vor. In dieser Form ist die Krankheit ein Selektionsvorteil. Die Anpassung an Lebensbedingungen in großer Höhe wie im Himalaja, den Anden und Ostafrika erfolgte mehrfach unabhängig durch genetische Veränderungen der Sauerstoffverarbeitung im Blut bzw. der Bildung von roten Blutkörperchen. Die regional leicht unterschiedlichen Mutationen zählen zu den physiologisch jüngsten evolutionären Anpassungen der Menschheit. Forschungsgeschichte Frühe Sichtweisen bis Anfang 19. Jahrhundert Unter Bezug auf Plinius hatte Andreas Vesalius (1514–1564), der Begründer der neuzeitlichen Anatomie und des morphologischen Denkens, bereits im 16. Jahrhundert eine Theorie der Abstammung des Menschen vom Affen über Pygmäen entwickelt, und der englische Anatom Edward Tyson hatte 1699 die Gemeinsamkeiten von Schimpansen- und Menschengehirn beschrieben. Offenbar war man sich schon im 17. Jahrhundert in gelehrten Kreisen der großen Ähnlichkeit von Mensch und Menschenaffe bewusst. Funde menschlicher Fossilien im 18. und frühen 19. Jahrhundert erwiesen sich jedoch entweder als Irrtümer, wie ein als Homo diluvii testis bezeichneter tertiärer Riesensalamander, oder ihr „diluvialer“ Befundzusammenhang wurde nicht anerkannt. Befürworter des zu dieser Zeit umstrittenen diluvialen Menschen war zum Beispiel der thüringische Geologe Ernst Friedrich von Schlotheim, der in seiner 1820–1822 erschienenen „Petrefactenkunde“ fossile Menschenreste („Anthropolithen“) von Bad Cannstatt, Bilzingsleben, Meißen und Köstritz anführte. Der erste bis in die Gegenwart gut erhaltene und bestätigte Fund eines pleistozänen Menschen war ein 1823 auf der Gower-Halbinsel (Wales) entdecktes, mittels C14-Datierung auf 31.000 BP datiertes Skelett (entspricht etwa 35.000 kalibrierten Kalenderjahren vor heute), das als „Red Lady of Paviland“ bezeichnet wurde. Hierbei handelt es sich um eine mit rotem Ocker bestreute männliche Bestattung (das Geschlecht wurde anfangs falsch bestimmt) eines anatomisch modernen Menschen, des so genannten Cro-Magnon-Menschen. Dissens um die Herkunft im 19. Jahrhundert Erst mit der Entdeckung des Neandertalers aus dem Neandertal im Jahre 1856 – drei Jahre vor dem Erscheinen von Darwins Hauptwerk über Die Entstehung der Arten – traten Indizien dafür zutage, dass es neben dem Homo sapiens noch einen weiteren Menschentyp gegeben haben könnte. Steinbrucharbeiter hatten in einem heute dem Kalkabbau zum Opfer gefallenen Abschnitt des Neandertals 16 Knochenfragmente freigelegt. 1864 schrieb sie der irische Geologe William King einer vom modernen Menschen unterscheidbaren Art zu, dem „Homo Neanderthalensis King“. Gleichwohl blieb es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts umstritten, ob der Fund aus dem Neandertal ein „Urmensch“ oder ein deformierter moderner Mensch sei. Unabhängig von diesem Forscherstreit hatte Charles Darwin 1871 in seinem Werk Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl argumentiert, der Mensch habe sich vermutlich in Afrika entwickelt, da seine nächsten Verwandten – Schimpansen und Gorillas – dort beheimatet sind. Auch die genauen anatomischen Studien, die Thomas Henry Huxley 1863 in seiner Schrift Evidence as to Man’s Place in Nature vorgelegt hatte, legten das Entstehen des Menschen in Afrika nahe. Einen gänzlich anderen Ansatz vertrat hingegen Ernst Haeckel. Schon 1868 hatte er in seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte geschrieben, dass „die meisten Anzeichen auf das südliche Asien“ hindeuteten. Haeckel stützte seine Mutmaßung vor allem auf den Vergleich von Behaarung, Hautfarbe und Schädelform der damals als primitiv geltenden, heute als indigen bezeichneten Völker Afrikas und Asiens mit den Menschenaffen. Haeckel räumte jedoch zugleich ein: „Vielleicht war aber auch das östliche Afrika der Ort, an welchem zuerst die Entstehung des Urmenschen aus den menschenähnlichen Affen erfolgte; vielleicht auch ein jetzt unter den Spiegel des indischen Oceans versunkener Kontinent, welcher sich im Süden des jetzigen Asiens einerseits östlich bis nach den Sunda-Inseln, andrerseits westlich bis nach Madagaskar und Afrika erstreckte.“ Haeckels Hypothese, die Sunda-Inseln seien der Rest des versunkenen Kontinents Lemuria, auf dem sich vorzeitliche Menschenaffen zu den Vorfahren des Menschen und der anderen jetztzeitlichen Menschenaffen entwickelten, faszinierte den jungen niederländischen Militärarzt Eugène Dubois. Er ließ sich deshalb 1887 nach Sumatra versetzen, um im Gebiet des Malaiischen Archipels nach Fossilien zu suchen. In seinem Buch Die Frühzeit des Menschen beschreibt Friedemann Schrenk Dubois’ Vorgehensweise wie folgt: „Besessen von seiner Idee, begann er an einer Stelle in Java zu graben, die nach heutigen Vorstellungen als völlig aussichtslos gelten würde. Er grub in einem Gebiet, wo im Umkreis von Tausenden von Kilometern noch nie zuvor auch nur die kleinste Andeutung von Resten eines Urmenschen gefunden wurde – und er grub auf den Zentimeter genau an der richtigen Stelle.“ Dubois kannte allerdings Hinweise von Bauern, die dort Tierfossilien gefunden hatten. Haeckels anatomische Vergleiche, Dubois’ Fossil des Java-Menschen von 1891 und die Entdeckung des Peking-Menschen in den 1920er-Jahren führten dazu, dass Darwins Hinweis auf Afrika als die Wiege der Menschheit nicht weiter beachtet wurde – stattdessen galt Asien unter den führenden Forschern als jene Region, in der sich der moderne Mensch entwickelt hatte. Daran konnte zunächst auch der Fund eines rund zwei Millionen Jahre alten, gut erhaltenen fossilen Schädels nichts ändern, der 1924 in der heute zu Südafrika gehörigen Ortschaft Taung entdeckt wurde. Raymond Dart, ein Anatom der University of the Witwatersrand in Johannesburg, erkannte die Bedeutung des Fundes und publizierte ihn Anfang 1925 in der Fachzeitschrift Nature unter dem neuen Art- und Gattungsnamen Australopithecus africanus. Erste paläoarchäologische Hinweise auf die Herkunft des Menschen aus Afrika Dank seiner ärztlichen, neuroanatomischen Ausbildung hatte Raymond Dart erkannt, dass das so genannte Kind von Taung zwar ein affenähnliches Gesicht besaß; sein Gehirn und die Bezahnung waren jedoch menschenähnlich. Dart argumentierte daher, dass wichtige Merkmale des kleinen Schädels stärker menschenähnlich als affenähnlich seien: „Die Wangenbeine, die Jochbögen, Oberkiefer und Unterkiefer lassen zarte, menschenähnliche Charakteristika erkennen.“ Ähnliches gelte für das Gehirn, das gleichfalls mehr menschenähnliche als affenähnliche Merkmale aufweise: Das Kind von Taung sei daher einzuordnen als Mosaikform, das heißt als Mitglied „eines ausgestorbenen Geschlechts von Affen, das ein Zwischenglied darstellt zwischen den Menschenaffen der Gegenwart und dem Menschen“. Darts Interpretation des Fossils wurde allerdings bis in die 1940er-Jahre nicht ernst genommen. Ein wesentlicher Grund hierfür war die Ablehnung durch den damals führenden US-amerikanischen Paläontologen Henry Fairfield Osborn, der als Kritiker von Darwins Evolutionstheorie das theoretische Konzept eines so genannten Dawn-Man (Frühzeit-Mensch oder Mensch der Morgendämmerung) popularisiert hatte. Osborn behauptete unter anderem, das Gehirn des modernen Menschen sei derart komplex, dass zwei oder drei Millionen Jahre nicht hätten ausreichen können, um es aus einem affenähnlichen Gehirn hervorzubringen. Das kleine Gehirn des Australopithecus africanus mit menschenähnlichen Zähnen war somit ein Fund, der mit den Hypothesen des damaligen Wissenschafts-Establishments nicht in Einklang stand: Nahezu alle Forscher schlossen sich daher in den 1920er-Jahren der These Osborns an. Sie unterstellten eine Zeitspanne von mindestens 20 bis 25 Millionen Jahren seit der Trennung der Hominini von den anderen Menschenaffen: Eine Hypothese, die keineswegs neu war, denn schon Rudolf Virchow hatte aus ähnlichen Überlegungen heraus den Neandertaler nicht als fossile Art erkannt. Diese heute völlig willkürlich wirkende Hypothese fand in den 1920er-Jahren jedoch eine plausible Stütze im Piltdown-Menschen, dessen Knochen ab 1912 in Sussex aufgesammelt worden waren und der erst 1953 als Fälschung entlarvt wurde. Sein Kopf bestand aus dem Schädel eines modernen Menschen, dem der Unterkiefer eines Affen angepasst worden war. Die Fälschung kam der herrschenden Auffassung dieser Zeit entgegen, nach der die Vorfahren des Menschen bereits seit langer Zeit ein besonders großes Gehirn besaßen, und versperrte so den damals führenden britischen und US-amerikanischen Paläontologen den Blick auf die tatsächlichen Gegebenheiten. Die Wende zugunsten einer Anerkennung der Australopithecinen als Vormenschen trat erst ein, als die Aussagekraft anderer Fossilien neu bewertet wurde. So waren immer mehr Neandertaler entdeckt worden, deren Körperbau einheitlich war und die somit die These unhaltbar machten, das zuerst gefundene Exemplar sei ein deformierter moderner Mensch gewesen. Ab 1936 waren zudem weitere Australopithecus-Fossilien in Afrika entdeckt worden, die von einer nachgewachsenen Forschergeneration nicht mehr in erster Linie vor dem Hintergrund der älteren Lehrmeinungen zur Dauer der Evolution des Gehirns gedeutet wurden. Etablierung der Out-of-Africa-Theorie Besonders aussagekräftige Fossilien wurden ab Ende der 1950er- / Anfang der 1960er-Jahre durch das Ehepaar Louis Leakey und Mary Leakey und später von deren Sohn Richard Leakey und seiner Ehefrau Meave Leakey in der Olduvai-Schlucht im heutigen Tansania sowie am Turkana-See in Kenia entdeckt. Seit den 1970er-Jahren bargen Forscher um Yves Coppens, Donald Johanson und Tim White zahlreiche Fossilien im Afar-Dreieck in Äthiopien. 1991 entdeckte der deutsche Forscher Friedemann Schrenk in Malawi das – nach dem Fossil LD 350-1 – zweitälteste der Gattung Homo zugeschriebene Fossil, den vollständigen Unterkiefer UR 501 von Homo rudolfensis. Das vollständigste bisher entdeckte Skelett eines frühen Vertreters der Hominini ist das von Ronald J. Clarke bearbeitete Fossil Little Foot aus Sterkfontein (Südafrika), an dessen Freilegung seit 1997 gearbeitet wird. Insbesondere die jahrzehntelange Forschung der Leakeys, das Erarbeiten einer verlässlichen Datierungsmethode für ostafrikanische Funde durch Frank Brown und die vergleichenden anatomischen Studien von Günter Bräuer trugen maßgeblich dazu bei, die Out-of-Africa-Theorie der Herkunft des modernen Menschen gegenüber der Multiregion-Theorie zu etablieren und zu festigen. Die Out-of Africa-Theorie ist seit den 1980er-Jahren die anerkannte Theorie der regionalen Herkunft des Menschen; tatsächlich sind bis heute außerhalb Afrikas nur hominine Fossilien bekannt, die jünger als zwei Millionen Jahre sind. Neuerdings wird auch von einer modifizierten Out-of Africa-Theorie gesprochen, die berücksichtigt, dass die Evolution des modernen Menschen auf dem Weg zwischenartlichen Genflusses in geringem Umfang auch außerhalb Afrikas erfolgte. Siehe auch Liste homininer Fossilien Liste der Homo-Epitheta Fossile Vormenschen- und Menschenfährten Genetischer Flaschenhals beim Menschen Literatur Eine kommentierte Literaturliste befindet sich auf dieser Seite. Sergio Almécija et al.: Fossil apes and human evolution. In: Science. Band 372, Nr. 6542, 2021, eabb4363, doi:10.1126/science.abb4363. Robert Boyd, Joan B. Silk: How Humans Evolved. 7. Auflage. W. W. Norton & Company, New York 2014, ISBN 978-0-393-61486-2. Agustin Fuentes: How Humans and Apes Are Different, and Why It Matters. In: Journal of Anthropological Research. Band 74, Nr. 2, 2018, S. 151–167, doi:10.1086/697150. Clark Spencer Larsen: The past 12,000 years of behavior, adaptation, population, and evolution shaped who we are today. 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Interview mit dem Paläoanthropologen Richard Potts auf climate.gov vom 9. November 2016. (englisch) Spektrum.de: Wie das Klima die Evolution des Menschen prägte 13. April 2022 Einzelnachweise Evolution Paläoanthropologie
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https://de.wikipedia.org/wiki/SiU-5
SiU-5
SiU-5 (, Transliteration auch ZiU-5) ist die Bezeichnung eines sowjetischen Oberleitungsbustyps. Die Solowagen wurden vom Werk Sawod imeni Urizkowo in der Oblast Saratow in Russland hergestellt. Heute firmiert das Unternehmen unter dem Namen Trolsa. Die Baureihenbezeichnung setzt sich aus der Abkürzung des offiziellen Herstellernamens SiU und der fortlaufenden Ordnungsnummer des Entwurfs zusammen. Die Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe gaben diesen Wagen den Spitznamen „Pjatjorka“, welches in der russischen Sprache eine Verniedlichung des Zahlworts „Fünf“ darstellt. SiU entwarf den Typ im Jahr 1959, um den Bedarf der sowjetischen Verkehrsbetriebe an Großraumobussen zu decken. Die erste Serie bestand aus 200 SiU-5 und wurde im selben Jahr hergestellt. Sie wurde für umfangreiche Tests nach Moskau geliefert. Nach der Behebung von Mängeln wurde in den 1960er Jahren der SiU-5 zum vorherrschenden Modell im Fuhrpark vieler sowjetischer Obusbetriebe. Auch wurde er nach Ungarn und Kolumbien exportiert. Aus technischer Sicht wies das Fahrzeug in seiner Konstruktion einige für die damalige Zeit fortschrittliche Lösungen auf. Zu ihnen zählten der selbsttragende Wagenkasten, die Servolenkung und die vollautomatische Schützsteuerung. Die Fahrgäste profitierten im Vergleich zu den älteren sowjetischen Obustypen von einer Verbesserung des Fahrtkomforts. Im gesamten Produktionszeitraum wurde der ursprüngliche Entwurf mehrmals modernisiert, es gab daher verschiedene Ausführungen des SiU-5. Im Jahr 1971 konnte der Hersteller die Arbeiten am neuen Nachfolgemodell SiU-9 vollenden. Daraufhin wurde die Produktion des SiU-5 im Folgejahr eingestellt. Insgesamt baute SiU 14.632 SiU-5-Oberleitungsbusse. Rund zehn Jahre nach dem Ende der Serienproduktion des SiU-5 begann sich die Zahl der einsatzbereiten Fahrzeuge dieses Typs infolge von Problemen mit deren Wagenkästen sehr schnell zu verringern. Die Lieferung zahlreicher SiU-9 machte die Erhaltung der alten Oberleitungsbusse überflüssig, so dass die SiU-5 in den Jahren 1983 bis 1989 von den Straßen der sowjetischen Städte verschwanden. Der letzte wurde 1994 in Sankt Petersburg ausgemustert, einzelne erhaltene Exemplare dieses Modells werden als Museumsfahrzeuge genutzt oder als technische Denkmäler konserviert. Geschichte Vorgeschichte In die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fällt die rasche Verbreitung und Entwicklung der Oberleitungsbusse im öffentlichen Personennahverkehr der Sowjetunion. Der Oberleitungsbus wurde von der sowjetischen Führung in dieser Periode als fortschrittlichste Lösung der vorhandenen Verkehrsprobleme angesehen. Eine gemeinsame Straßeninfrastruktur mit dem Kraftverkehr nutzend, lagen laut der damals vorherrschenden Meinung die Kosten für Aufbau und Betrieb im Vergleich mit der Straßenbahn niedriger. Dies war ein wichtiger Faktor, die den Obusbetrieben in der sowjetischen Planwirtschaft eine Priorität einräumte. Außerdem setzten viele sowjetische Straßenbahnbetriebe kleine zweiachsige Fahrzeuge ein. Daher waren die Oberleitungsbusse bei der Sitzplatzanzahl je Einheit, im Vergleich zu Straßenbahnzügen aus Trieb- und Beiwagen, zeitweilig im Vorteil. Seit 1946 waren die MTB-82 () die Grundlage des sowjetischen Obusfuhrparks. Sie waren einfache, langlebige und, bei richtiger und gleichzeitig anspruchsloser Wartung, zuverlässige Fahrzeuge. Vom technischen Standpunkt her waren sie jedoch veraltet, bei Fahrern und Fahrgästen galten sie als unkomfortabel. Einige Mängel bedingten einander, eine Besonderheit der Konstruktion führte zum anderen Nachteil. Zum Beispiel besaß der Hauptelektromotor des MTB-82 eine Schützsteuerung, aber sie funktionierte nicht automatisch und lediglich zwei Fahrstufen waren für die unbegrenzte Nutzung bei konstanter Geschwindigkeit geeignet. Falsches Schalten beim Beschleunigen und besonders das lange Fahren in ungeeigneten Schaltstufen konnte zur Überhitzung der Anfahrwiderstände und in der Folge zu deren Zerstörung führen. Im schlimmsten Fall konnte es zu Bränden kommen. Daher sollte der Fahrer einige Erfahrung haben, um den MTB-82 gefahrlos zu lenken, für Anfänger war das Fahrzeug nicht einfach und sicher zu führen. Der unverhältnismäßig große Fahrerstand konnte im Winter nur sehr schlecht beheizt werden, die schmalen Türen und Durchgänge zwischen den Sitzplätzen und der sehr kleine vordere Eingangsbereich verhinderten einen schnellen Fahrgastwechsel. Die kleinen Fenster, die tiefe Decke, sowie die enge Bestuhlung führte bei großgewachsenen Menschen zu Unbehagen. Der Bedarf nach einem neuen Fahrzeug war offensichtlich. Entwicklung Der einzige größere Hersteller von Oberleitungsbussen in der UdSSR war seit 1951 das Sawod imeni Urizkowo, ein Betrieb in der Stadt Engels bei Saratow. Dieses Werk begann im Jahr 1951 erfolgreich die Serienproduktion des MTB-82, nachdem dessen ursprünglicher Entwickler, das Sawod Nummer 82 im damaligen Moskauer Vorort Tuschino, den zivilen Maschinenbau aufgab und zur Fertigung von Militärflugzeugen zurückkehrte. Obwohl die Frage über ein neues Modell bereits seit dem Beginn der dortigen Serienproduktion besprochen wurde, verzögerte sich der Entwicklungsprozess infolge der hohen Nachfrage nach Obusfahrzeugen in dem riesigen Land und der starken Belastung des Personals bei der Organisierung der Serienproduktion bis zur Mitte der 1950er Jahre. 1955 wurde der Prototyp der Neukonstruktion TBU-1 und 1956 bis 1957 eine Kleinserie von, inklusive des Prototyps, zehn Fahrzeugen gebaut und in Moskau getestet. Der Entwurf mit seinen vielen für den sowjetischen Obusfahrzeugbau fortschrittlichen Lösungen zeigte nicht nur insgesamt zahlreiche Mängel und eine geringe Zuverlässigkeit, sondern auch Spielraum für Verbesserungen. Es gab weitere damit zusammenhängende Entwicklungen auf dem Gebiet der Oberleitungslastkraftwagen – SiU baute die Versuchstypen TBU-2, TBU-3 und TBU-4, die alle die Fähigkeit besaßen, mittels Batterienotfahrt kurze Strecken ohne Oberleitung zu fahren. Zu einer Serienproduktion dieser Modelle kam es jedoch nicht. Der fünfte Entwurf war ein stark überarbeiteter TBU-1 mit einigen Besonderheiten gegenüber der ursprünglichen Variante sowie neuen konstruktiven Lösungen. Als dieser serienreif war, wurden die alten TB-Bezeichnungen der Obusfahrzeuge (wie JaTB, MTB und TBU) für die neuen Wagen aufgegeben, so dass der neue Oberleitungsbus seinen offiziellen Namen aus der Abkürzung des Entwicklers und Herstellers (SiU) sowie der Ordnungsnummer des Entwurfs (5) erhielt. Der SiU-5 übernahm die äußere Erscheinung des TBU-1 sowie dessen vollautomatische Schützsteuerung, die wesentlich breiteren Türen und die Anordnung des Hauptmotors zwischen den Radachsen waren die bedeutendsten Merkmale des neuen Modells. Der Hauptmotor des TBU-1 befand sich dagegen hinter der Hinterradachse, was sich in der Praxis als problematisch erwies. Die erste Serie der SiU-5 war recht umfangreich für ein Versuchsfahrzeug. 200 neue Oberleitungsbusse dieses Typs wurden für groß angelegte Tests unter realen Einsatzbedingungen an das 2. Moskauer Obusbetriebswerk geliefert. Die gefundenen Mängel des Entwurfs wurden unmittelbar auf der Fertigungsstraße sowie bei den bereits gebauten und benutzten Fahrzeugen behoben. Im Ergebnis wies die zweite Serie der SiU-5 im Jahr 1960 bedeutende konstruktive Unterschiede zur ersten auf. Obwohl es noch immer einige Probleme mit dem Entwurf gab, zeigten sogar die zu Beginn unzuverlässigen SiU-5, dass sie die Vorgänger vom Typ MTB-82 hinsichtlich Effektivität und Bequemlichkeit für Fahrgäste und Fahrer übertrumpften. Auch ermöglichten sie einen größeren Gewinn für die Verkehrsbetriebe – der bessere Komfort zog mehr Fahrgäste an und die Arbeitsbedingungen für die Schaffner wurden erleichtert. So konnte beispielsweise der mit SiU-5 ausgerüstete neue Obusbetrieb in Noworossijsk so viel Gewinn erwirtschaften, dass die alte und aus dem Stadthaushalt subventionierte Straßenbahn fast unverzüglich nach der Eröffnung des Obusverkehrs geschlossen wurde. Die Nachfrage war derart hoch, dass die sowjetische Führung beschloss, die Serienfertigung des MTB-82 im Jahr 1961 zu beenden und alle Bemühungen auf die Ausweitung der Produktion und die Verbesserung der Qualität des SiU-5 zu konzentrieren. Die Verbesserung des Entwurfs war eine ständige Arbeit für die Ingenieure und Technologen des SiU. Die Konstruktionsdetails der Fahrzeuge änderten sich manchmal signifikant, wie jedoch das SiU diese Varianten bezeichnete, ist bis zur Mitte der 1960er Jahre unklar. Danach lieferte das Werk offiziell die Ausführung SiU-5G () aus. Nach der großen Erweiterung und Modernisierung des Betriebes im Jahr 1969 wurde die letzte Serienausführung SiU-5D () entwickelt. Sie wies gegenüber der Version SiU-5G viele Unterschiede auf, jedoch wurde selbst diese fortschrittlichere Version nicht allen Anforderungen der sowjetischen Führung gerecht. In dieser Zeit arbeitete das Konstruktionsbüro des SiU an einem neuen Obusmodell als Ersatz für den SiU-5. Dieser Wagen, der in den Betriebsunterlagen SiU-9 genannt wurde und im neuen sowjetischen Klassenverzeichnis der schienenlosen Fahrzeuge die Bezeichnung SiU-682 erhielt, wurde nach den erfolgreichen Tests ab 1971 in Serie gefertigt. In der Folge wurde jede Weiterentwicklung des SiU-5 eingestellt. Die aufsteigende alphabetische Reihenfolge bei der Bezeichnung der Modifikationen G und D (im russischen Alphabet) sowie die vergleichbare Praxis beim Folgemodell SiU-682 mit den nachgewiesenen Varianten B, W und G (aber ohne A-Variante) macht es wahrscheinlich, dass auch die frühen Ausführungen der SiU-5 die Indizes A, B und W erhalten haben könnten. Auch wenn es eine glaubhafte Hypothese darstellt, gibt es hierfür keine Bestätigung. Anmerkungen: Serienproduktion Die Serienproduktion des SiU-5 dauerte von 1959 bis einschließlich 1972. In ihrem Verlauf existierte eine breite Kooperation zwischen verschiedenen sowjetischen Maschinenbaubetrieben. Das Urizki-Werk baute nur einen Teil der Geräte und Teile des Oberleitungsbusses in Eigenleistung, andere wurden von Zulieferbetrieben beigesteuert. Unter ihnen war eine Reihe von großen Herstellern, beispielsweise wurde die elektrische Ausrüstung, wie Hauptmotor und Schützsteuerung, vom Moskauer „Dynamo“-Werk geliefert, vom Minski Awtomobilny Sawod kamen bereits fertig montierte Hinterachsen. Räder, Fensterscheiben, die pneumatische Ausrüstung und eine Reihe anderer kleinerer Teile wurde ebenfalls von externen Betrieben geliefert. Mit der Annahme der neuen Ausführung SiU-5D im Jahr 1969 wurde die Kooperation in der Serienproduktion international – diese Variante erhielt eine Hinterradachse des ungarischen Nutzfahrzeugherstellers Rába. Ab 1971 wurde die Serienproduktion des neuen Folgemodells SiU-9 auf den Fertigungsstraßen des SiU begonnen. Während einer gewissen Zeit, die zur Behebung der Kinderkrankheiten des neuen Entwurfs und zur Anpassung der technologischen Prozesse nötig war, baute der Betrieb beide Modelle gleichzeitig. Im Jahr 1972 war diese Übergangsperiode beendet und das SiU stellte vollständig auf den SiU-9 um. Über den ganzen Zeitraum der Serienproduktion fertigte es 14.632 SiU-5 aller Ausführungen. Betriebseinsatz Im Zeitraum von 1959 bis einschließlich 1972 wurden SiU-5-Fahrzeuge unter Überwachung der Zentralführung an die überwiegende Mehrheit der sowjetischen Obusbetriebe geliefert. Sie hatten fast keine Alternative, denn die Serienproduktion des MTB-82 wurde im Jahr 1960 beendet und abgesehen vom Urizki-Werk gab es keinen anderen Großbetrieb für die Fertigung von Oberleitungsbussen. Nur zwei andere Unternehmen in der UdSSR, das SWARS in Moskau und das KSET in Kiew, stellten in kleinen Serien Obusse eigener Konstruktion für ihre Städte her. Einige der Kiewer Fahrzeuge verkehrten auch in anderen ukrainischen Städten. Die einzige Ausnahme stellten die Obusbetriebe im Baltikum, der Westukraine, auf der Krim und in Georgien dar – sie wurden mit importierten tschechoslowakischen Fahrzeugen Škoda 8Tr und Škoda 9Tr ausgestattet. An alle anderen Städte wurden nur SiU-5-Oberleitungsbusse geliefert; nach der Ausmusterung der alten MTB-82-Fahrzeuge wurde der SiU-5 dort der einzige Typ in den Fuhrparks. Dabei waren einige Obusbetriebe noch nicht bereit für die Einführung dieses neuen Modells. So wurden beispielsweise in Gorki, wo das Obusliniennetz in drei unverbundene Segmente geteilt ist, 1961 die ersten fünf Fahrzeuge dieses Typs für das Netzsegment im hochgelegenen Teil der Stadt geliefert. Die Ausfahrten und Fahrzeughallen des dortigen Betriebswerks, 1947 gebaut und für die MTB-82 bestimmt, waren jedoch zu klein und schmal für die richtige Wartung der größeren SiU-5. So wurden sie nach kurzer Zeit in das Netzsegment Sormowo gebracht. Erst nach dem Bau des neuen Betriebswerks im Jahr 1972 konnte die letzte Serie der SiU-5D neben der ersten Serie der SiU-9 im hochgelegenen Teil den Verkehr beginnen. Die große Produktionszahl führte zur Dominanz des SiU-5 unter den Obusmodellen in der UdSSR. Auch nach dem Beginn der Serienproduktion des SiU-9 blieb ihr Anteil im Fuhrpark noch recht lange bedeutend. In der UdSSR fuhren SiU-5 in den folgenden Städten: In einigen Städten, wie Tscheboksary oder Noworossijsk begann mit diesem Typ der dortige Obusverkehr. Ebenso ging der Oberleitungsbus Tallinn 1965 mit neun SiU-5 in Betrieb. In Gorki eröffneten die SiU-5 im Jahr 1967 den Fahrbetrieb im Teilnetz des Stadtbezirks Awtosawodski Rajon. Zehn Jahre nach dem Ende der Serienproduktion des SiU-5 begann sich die Zahl der einsatzbereiten Fahrzeuge dieses Typs infolge von Problemen mit deren Wagenkästen sehr schnell zu verringern. Die Lieferungen zahlreicher SiU-9 machte die Erhaltung der alten Oberleitungsbusse überflüssig, so dass in den Jahren 1983 bis 1985 die SiU-5 von den Straßen der sowjetischen Städte verschwanden. Mit Ausnahme von Einzelfällen wurden die letzten im Jahr 1989 in Leningrad und Odessa ausgemustert, seltene erhaltene Oberleitungsbusse dieses Modells wurden als Dienst-, Denkmal- oder Museumsfahrzeuge genutzt. Die SiU-5-Oberleitungsbusse wurden auch an den Oberleitungsbus Budapest in der ungarischen Hauptstadt sowie in die kolumbianische Hauptstadt Bogotá verkauft. Die aus 100 Fahrzeugen bestehende ungarische Partie wurde in den Jahren 1966 bis 1969 geliefert. Die erste Aussonderung fand im Jahr 1975 statt, der letzte SiU-5 ging 1982 außer Dienst. Die ungarischen Verkehrsmitarbeiter waren unzufrieden mit dem schlechten Blickfeld aus der Fahrerkabine im Bereich der vorderen Tür zur rechten Seite. Um dieses Problem zu lösen, wurde die Konstruktion der vorderen Tür verändert. Die ursprünglich zweiflügelige Falttür mit je zwei beweglichen Teilen wurde durch einen einzelnen Flügel mit drei Teilen ersetzt; der vordere Flügel wurde steif befestigt und erhielt ein großes Fenster für ein besseres Blickfeld. Technische Beschreibung Wagenkasten Der selbsttragende Wagenkasten des SiU-5 war ein komplett geschweißtes Gerüst aus gebogenen Profilstählen verschiedener Dicken und Querschnitte. Dieses Gerüst wurde mit 1,5–2 mm starken Aluminiumplatten verkleidet. Infolge der ungleichen Materialien in der Konstruktion des Wagenkastens wurden Gerüst und Platten miteinander vernietet. Auf der Dachverkleidung wurde ein Gummiläufer angebracht, um die Gefahr des Abrutschens und eines Stromschlages für die Mechaniker bei Wartungsarbeiten zu verringern. Im Inneren erhielt der Wagenkasten eine Verkleidung aus lackiertem Furnierholz, zwischen der und den äußeren Aluminiumplatten sich eine Wärmedämmung befand. Der Bretterboden wurde auf dem Bodenrahmen des Gerüstes gedielt und besaß einen trittsicheren Gummibelag. Der Wagenkasten lässt sich in drei Teile gliedern: Fahrerkabine, Fahrgastraum und Unterflurraum. Die gefederten Radachsen, der Hauptmotor, der Kleinspannungsverstellmotor des Steuerungssystems, Anfahr- und Bremswiderstände, der Kompressor mit seinem elektrischen Antrieb, die Luftbehälter und die weiteren pneumatischen Geräte sowie das Akkumulatorengehäuse wurden an verschiedenen Punkten des Bodenrahmen im Unterflurraum befestigt. Für den Zugang zu diesen Teilen und Geräten befanden sich einige Luken und Wartungsöffnungen im Boden sowie Klappen in den Seitenschürzen. Der Motor war zwischen den Achsen positioniert, die Kraft wurde über eine Kardanwelle an die Hinterachse übertragen. Das Fahrzeug besaß an beiden Enden, vor der Vorderachse und hinter der Hinterachse Eingänge mit Falttüren. Die Türantriebe waren in Gehäusen über den Einstiegen angebracht. Der Fahrerplatz lag links von der Mitte des Wagenkastens und wurde vom Fahrgastraum durch ein Schott mit Eingangstür abgeteilt. Die Schütze des indirekten Steuerungssystems des Hauptmotors wurden in einem Gehäuse auf der rechten Seite der Fahrerkabine installiert. Den Fahrgastraum bildeten der kleine vordere Eingangsbereich bei der Fahrerkabine, der große hintere Eingangsbereich an der Hintertür, die Trittbretter, der bei den früheren Serien leicht erhöhte Schaffnersitz für den Fahrgastflussbetrieb, die zweisitzigen gepolsterten Sitzbänke in 2+2-Bestuhlung mit Mittelgang. Einige Metallteile im Innenraum wie Griffstangen und Griffe wurden aus ästhetischen Gründen und zum Schutz vor Korrosion verchromt. In den Fahrzeugen der ersten Serien war auf der Rückseite der Trennwand der Fahrerkabine auch eine Uhr angebracht. Die späteren Ausführungen des SiU-5 hatten eine etwas andere Gestaltung des Fahrgastraums – die Uhr wurde abgeschafft, eine weitere Sitzbank für zwei Passagiere wurde anstelle des Schaffnersitzes installiert. Neue Kunststoffe ersetzten das Furnierholz als innere Verkleidung, statt verchromter Griffstangen und Griffe wurden anodisierte oder mit Polyvinylchlorid umhüllte Teile eingebaut. In der technischen Literatur dieser Zeit galten diese Änderungen als fortschrittliche Lösungen, die die Sicherheit der Fahrgäste vor elektrischen Schlägen verbesserten und das Säubern des Fahrzeuges erleichterten. Vordergründiger Zweck dieser Änderungen war das Bestreben der Hersteller, kostspielige technologische Methoden wie die Verchromung und später die Anodisierung zu ersetzen. Von außen wurde der Wagenkasten im SiU in einem der typischen Schemata lackiert: weißes Dach und Oberteil (über der Zierleiste unter dem Fenster), kirschroter Mittelteil (zwischen Zierleisten) und Schürze (unter der zweiten Zierleiste); lichtblaues Dach, Oberteil und Mitte, rote Schürzen; gelbes Dach, Oberteil und Mitte, rote Schürzen und Streifen unter dem Fenster mit einem „Zierspitz“ an der Front; der SiU-5D im Nischni Nowgoroder Museum besitzt eine solche Lackierung; weißes Dach und Oberteil, grünblaue Mitte und Schürze; der SiU-5G im Sankt Petersburger Museum besitzt eine solche Lackierung. Das Bestreben nach Zeit- und Materialeinsparung bei der Fertigung wirkte sich negativ auf die Zuverlässigkeit des Wagenkastens aus. Im Einsatz kam es mehrfach zu Dauerbrüchen an den am stärksten belasteten Teilen des Bodenrahmens des Gerüstes. Einige Obusbetriebe (beispielsweise in Gorki und Krasnodar) bauten zusätzliche Sitze im Bereich des großen hinteren Einstiegs ein, um die Belastung der tragenden Komponenten des Wagenkastens zu verringern. Die Stahlsorte, die für die Gerüstkonstruktion benutzt wurde, hatte daneben eine negative Besonderheit — sie verlor ihre Festigkeitseigenschaften bei thermischer Einwirkung. So entstanden nach der Verschweißung des Dauerbruches im Bodenrahmen bei Instandsetzungsarbeiten bald weitere Risse in der Umgebung der Schweißnaht. In der Regel führte dies zu einem erneuten Bruch der tragenden Profilstähle des Gerüstes; das Fahrzeug fiel aus und wurde als für den weiteren sicheren Einsatz nicht geeignet verschrottet. Die Verbindung der verschiedenen Metalle für den Wagenkasten (Aluminium als Verkleidungsplatten und Eisen im Stahl des Gerüstes) verursachte eine galvanische Korrosion des Metalls mit dem höheren Standardpotential, also des Aluminiums. Obwohl dies nicht die Hauptursache des Verfalles der Konstruktion war, ergänzte es alle negativen und zerstörenden Faktoren. Im Ergebnis war die Nutzungsdauer des ganzen Fahrzeuges nicht lang, im Gorkier Betriebswerk Nr. 1 überstieg sie beispielsweise keine elf bis zwölf Jahre, wobei die Oberleitungsbusse gerade infolge des schlechten Zustandes der Wagenkästen ausgemustert wurden. Mechanische Ausrüstung Die mechanischen Teile der SiU-5 waren typisch für die in den 1950er- und 1960er-Jahren gefertigten Oberleitungsbusse. Zur Ausrüstung gehörten die Vorderachse mit Schneckenlenkung; die Antriebshinterachse mit dem Differentialgetriebe; die Kraftübertragung vom Anker des Hauptmotors zum Differentialgetriebe aus Vorgelege und Kardanwelle; die Federung der Achsen am Wagenkasten; die Trommelbremsen an allen Rädern. Bei einer Bremsung wurde der Anpressdruck der Backen zur Trommel durch den pneumatischen Antrieb und Bremsrückzugfedern reguliert. Daneben gab es eine Handfeststellbremse mit Stangen und Hebeln für das Halten des Fahrzeuges auf abschüssiger Straße. Die Verwendung der Handfeststellbremse während der Fahrt war nur im Notfall eines technischen Versagens des pneumatischen Bremsantriebes erlaubt. Zum Federungssystem gehörten vier halbelliptische Blattfedern und vier Teleskopstoßdämpfer, zwei je Radachse. Die beim SiU-5 erstmals in sowjetischen Obusbau eingeführten Teleskopstoßdämpfer verbesserten die Laufruhe des Fahrzeuges gegenüber seinen Vorgängern erheblich. Elektrische Ausrüstung Die elektrische Ausrüstung des SiU-5 lässt sich in Hoch- und Niederspannungskreise gliedern. Das Fahrzeug erhielt die elektrische Energie über zwei konventionelle drehbare Stangenstromabnehmer ohne Retriever von einer zweipoligen Oberleitung. Es war für eine Netzspannung von 600 Volt Gleichstrom ausgelegt. Die Fahrleitung diente als direkte Stromquelle für den Hochspannungskreis. Der DK-207A-Triebdoppelschlussmotor (DK-207G bei der Ausführung SiU-5D), die Anfahr- und Bremswiderstände, der Wendeschalter, sowie die Schütze der Steuerungssysteme waren die für die Fahrt verantwortlichen Teile dieses Stromkreises. Neben dieser Ausrüstung wurde eine Reihe anderer Verbraucher und Geräte mit Hochspannung betrieben: die Innenbeleuchtung des Fahrgastraums – Kleinspannungsglühlampen in Reihe geschaltet, so dass die Spannung ausreichend reduziert wurde; der Kompressorantrieb; der Motorgenerator für die Stromversorgung der 24-Volt-Niederspannungskreise; der Leitungsschutzschalter. Wichtige Komponente der Hochspannungskreise war ein sogenannter „Radioreaktor“. Diese Drossel diente in Reihe geschaltet der Funkentstörung, also der Vermeidung unerwünschter Hochfrequenzemissionen. Die 24-Volt-Niederspannungskreise erhielten ihre Energie aus dem ununterbrochen eingeschalteten Motorgenerator. Dieses Gerät war ein 600-Volt-Elektromotor mit einem koaxial verbundenen 24-Volt-Generator. Diese Methode der Transformation der 600-Volt-Gleichspannung in 24-Volt-Gleichspannung ist sehr einfach, erzeugt im Betrieb jedoch ständig Lärm. Bei sorgfältiger Schmierung und Zentrierung konnten die Geräusche allerdings auf einem erträglichen Niveau gehalten werden. Im Falle des Spannungsausfalls in der Oberleitung, dem Abspringen der Stangenstromabnehmer von den Drähten oder beim Halt mit gesenktem Stangenstromabnehmer wurde die Funktionsfähigkeit dieses Kreises durch zwei Akkumulator-Batterien unterstützt. Im Unterschied zum Kraftomnibus hatte der SiU-5-Oberleitungsbus keinen Anlasser und seine Hoch- und Niederspannungskreise waren vollständig abgetrennt, daher war eine Fahrt mit Hilfe der Energie der Akkumulatoren nicht möglich. Die Verbraucher und Geräte im Niederspannungskreis waren: das Steuerungssystem für die Schütze des Hauptmotorkreises; die Außenbeleuchtung und Beleuchtung der Fahrerkabine; die Fahrtrichtungsanzeiger, Bremsleuchten und Hupe; die Heizung des Fahrgastraums; die Türantriebe und der Scheibenwischer; die Prüfmessausrüstung: Spannungs- und Strommessgerät, sowie die Anzeige der Schützzustände; die Funksprechanlage und das Haltesignal vom Fahrgast oder Schaffner zum Fahrer; ein Satz Schmelzsicherungen zum Überstromschutz der Geräte im Niederspannungskreis. Diese Teilung der elektrischen Ausrüstung wurde durch zwei Hauptfaktoren bedingt. An erster Stelle stand die Sicherheit des Fahrers und der Fahrgäste. So wurden fast alle Hochspannungsgeräte vom Fahrgastraum und Fahrerstand in den Unterflurraum oder den Deckenbereich verlegt. Dies verringerte die Wahrscheinlichkeit einer lebensgefährlichen Stromschädigung erheblich. Einzige Ausnahme war das Schütz-Paneel, das in einem Gehäuse auf der rechten Seite der Fahrerkabine installiert wurde. Die Schütze benötigten eine feuchtigkeitsgeschützte Installation zur zuverlässigen Funktion und einen guten Wartungszugang, was ihre Anordnung im Dach- oder Unterflurbereich unmöglich machte. Die Anweisungen für Fahrer und Elektromechaniker verboten strikt alle Arbeiten an diesem Gehäuse bei geöffnetem Deckel und gleichzeitig gehobenem Stromabnehmer. Alle anderen für den Fahrgastbereich benötigten Funktionen, wie die Heizung oder die Türantriebe, wurden durch 24-Volt-Niederspannungsgeräte ausgeführt. Sie waren im Falle einer Beschädigung der Isolation für Menschen sicherer. Der zweite Faktor war die Energieeinsparung: die Verwendung von Hochspannung zur Stromversorgung von prinzipiell Niederspannung benötigender Ausrüstung hätte den Einbau von Vorwiderständen im Stromkreis erforderlich gemacht. Diese würden Leistung lediglich in Wärme umsetzen und damit den Wirkungsgrad des Geräts insgesamt verringern. Hauptbestandteil der elektrischen Ausrüstung des SiU-5 war der Motor vom Typ DK-207A mit 95 Kilowatt Nominalleistung beziehungsweise der 107 Kilowatt starke Typ DK-207G bei der Unterbaureihe SiU-5D. Beide Varianten waren Gleichstrommaschinen und Doppelschlussmotoren mit Kollektor. Mit dem Fahrschalter, dem sogenannten „Gruppenrheostatkontroller“ (GRK, ) regulierte der Fahrer gestuft die Stromstärke in den Läufer- und Feldwicklungen des Motors und steuerte folglich die Beschleunigung beim Anfahren des Oberleitungsbusses und seine Fahrgeschwindigkeit. Dieses Gerät war Kern der indirekten automatischen Schützsteuerung des SiU-5. Es handelt sich um einen Niederspannungsservomotor, der eine Welle mit Nocken bewegt. Diese Nocken schalten die Steuerstromkreise der Schütze ein- und aus. Der Wagenführer steuert durch die Fahr- und Bremspedale nur die Drehungen des Servomotors, er wählt also das von der Elektromechanik des GRK fest vorgegebene Programm von Beschleunigung, Bewegung mit gleichbleibender Geschwindigkeit oder Abbremsung. Der GRK kontrolliert durch Drehung des Servomotors die Reihenfolge der Ein- und Ausschaltungen der Schütze, also die Stromstärke in den verschiedenen Kreisen des Hauptmotors und damit dessen Operationsmodus. Es gab 18 Anfahr- und zwei Bremsstufen im GRK. Beim Bremsen wirkten Motor und Widerstände durch eine spezielle Schaltung als elektrodynamische Bremse. Das Fahrzeug konnte damit im Notfall auch bei fehlender Spannung im Stromnetz bis auf fünf bis zehn Kilometer in der Stunde abbremsen, der vollständige Stillstand wurde über die Hand- oder Druckluftbremse erreicht. Die Widerstandsbremse war jedoch im Unterschied zu Straßenbahnfahrzeugen infolge ihrer auf die Hinterachse beschränkten Wirkung nur ein Hilfsmittel. Der Hauptbremsmechanismus des SiU-5 wirkte pneumatisch. Die Schützsteuerung des SiU-5 bis zur Ausführung D verlieh dem Fahrzeug eine hohe Fahrdynamik. Beim Anfahren erreichten die Busse eine Geschwindigkeit von 50 km/h sogar schneller als sowjetische PKWs dieser Zeit. Die Steuerung wurde jedoch als überdimensioniert erkannt und beim SiU-5D geändert, so dass sie bei diesem ein derartiges Beschleunigen nicht mehr zuließ. Pneumatische Ausrüstung Die SiU-5-Oberleitungsbusse besaßen pneumatische Systeme für den Betrieb der Bremsanlage, der Anlage zum Aufpumpen der Reifen und der Servolenkung, sowie bei den in den Jahren 1959 bis 1961 gebauten Fahrzeugen der ersten Serien der Türantriebe. Zu dieser Ausrüstung gehörten ein Kompressor (angetrieben von einem Elektromotor), ein Luftfilter, ein Manometer, drei Luftbehälter, eine Hauptluftleitung mit elektropneumatischem Druckregulator, sowie mechanische Sicherheits- und Rückschlagventile. Der normale Betriebsdruck lag im Bereich von 5 bis 6,5 Atmosphären. Das Sicherheitsventil war für das Notabblasen im Falle eines gefährlichen Anstiegs des Luftdrucks über acht Atmosphären infolge des Versagens des Druckregulators bestimmt. Die Rückschlagventile im pneumatischen System dienten der Aufrechterhaltung des Luftdrucks bei einem Druckverlust durch das undicht geschlossene Auslassventil des ausgeschalteten Kompressors. Hinzu kamen weitere Ventile, feste Stahlrohre, flexible Verbindungsgummischläuche und die erwähnten Druckluftabnehmer. Die Wahl einer pneumatischen Servolenkung für den SiU-5 war eine ungewöhnliche technische Entscheidung, da bei anderen Fahrzeugen üblicherweise hydraulische oder elektrische Anlagen zum Einsatz kamen. Sie funktionierte jedoch ausreichend gut und erleichterte die Arbeit des Fahrers, es gab keine Beschwerden über die Zuverlässigkeit dieses Systems. Versionen Oberleitungsbusse vom Typ SiU-5 wurden in einigen Varianten hergestellt, aber nur ein Teil von ihnen erhielt eine offizielle Bezeichnung als Ausführung des ursprünglichen Entwurfes. Auch wurden der SiU-6-Kraftomnibus und der SiU-7-Oberleitungsbus auf Basis des SiU-5 weiterentwickelt. Serienfahrzeuge Die Oberleitungsbusse des ursprünglichen Entwurfes, die SiU-5 der 1959 gebauten ersten Serie, wiesen eine bedeutende Zahl von konstruktiven Besonderheiten auf, die diese von den späteren Varianten der Fahrzeugfamilie unterscheiden. Die Verglasung des Wagenkastens und der pneumatische Türantrieb waren hiervon die bedeutendsten. Jede Hälfte der Frontscheibe dieser SiU-5 war aus zwei Sektionen zusammengesetzt und das Heck des Fahrzeuges besaß drei große Fenster. Neben der Verstärkung der Schwachstellen des selbsttragenden Wagenkastens gab es bei der Nachbearbeitung des Entwurfs Änderungen, die nicht mit der Sicherheit oder Zuverlässigkeit verbunden waren. Insbesondere wurde die Glasfläche im Heck stark verringert, so dass nur ein einziges kleines Mittelfenster übrig blieb, jeweils beide Frontscheiben einer Hälfte wurden durch eine einzelne größere ersetzt. Auch wurde anstatt des pneumatischen Türantriebes eine elektrische Ausführung installiert. Durch all diese Änderungen entstand die ab 1960 gebaute Variante für die Großserienfertigung. Diese Neuerungen wurden jedoch nicht in einem Schritt eingeführt, beispielsweise hatten zwei von fünf der neugefertigten und erstmals im Jahr 1961 nach Gorki gelieferten SiU-5-Oberleitungsbusse noch pneumatische Türantriebe. Die Weiterentwicklung des Entwurfs führte zur ersten offiziell bestätigten Ausführung SiU-5G. Infolge des Informationsmangels sind die genauen Unterschiede zwischen dieser Variante und älteren Fahrzeugen sowie deren Produktionsumfang unbekannt. Die kennzeichnende Besonderheit der Ausführung G war das kleine Gehäuse mit dem Fenster des Linienanzeigers am Heck, umgangssprachlich „Starenkasten“ genannt. Der SiU-5G wurde wie die vorherigen Versionen mit einem DK-207A-Hauptmotor mit 95 Kilowatt maximaler Leistung ausgerüstet. Im Jahr 1969 stellte der Betrieb die Fertigung auf die neue Ausführung SiU-5D um. Im Vergleich mit dem SiU-5G wies diese Variante mehrere bedeutende Änderungen auf. Die auffallendsten äußeren Unterschiede waren das neue runde Emblem des Herstellers (dies ging zum nächsten SiU-9-Modell über) und das entfernte Linienanzeigergehäuse mit Fenster am Heck des Obusses. Die Neuerungen in der mechanischen und elektrischen Ausrüstung waren jedoch wichtiger als die äußere Erscheinung des Fahrzeuges. Es erhielt eine neue Hinterradachse, die vom ungarischen Nutzfahrzeughersteller Rába gefertigt wurde, und eine neue Version des Hauptmotors DK-207G mit einer maximalen Leistung von 107 Kilowatt. Dies machte einige Änderungen der Geräte der Schützsteuerung erforderlich. Die Oberleitungsbusse der G- und D-Ausführungen, die für den Export ins Ausland bestimmt waren, unterlagen einer sorgfältigeren Qualitätskontrolle und sie wiesen gegenüber den Modellen für den Binnenmarkt kleine Unterschiede auf. Insbesondere wurden die SiU-5 für den Export mit zusätzlichen Griffstangen im Fahrgastraum ausgerüstet. Versuchsfahrzeuge In der Entwicklungs- und Umstellungsphase von einer zur nächsten Ausführung stellte das SiU in sehr geringer Zahl Fahrzeuge mit vom Standard abweichender Ausrüstung her. Diese können als Versuchsmodelle zum Test neuer Geräte und Teile angesehen werden. Auch wurde in der Mitte der 1960er Jahre ein einziges SiU-5-Versuchsfahrzeug mit drei Türen gefertigt, der im Fahrgastverkehr in Saratow zum Einsatz kam. Weitere Entwicklungen SiU-6 – Kraftomnibus mit dem Wagenkasten des SiU-5. In der Entwicklungszeit des SiU-5 gab es keine Kraftomnibusse in der UdSSR mit vergleichbarer Fahrgastkapazität, so entstand die Idee einer Umgestaltung des Oberleitungsbusses zum Kraftomnibus. Die elektrische Ausrüstung im Unterflurraum wurde vollständig durch eine mechanische Kraftübertragung, Verbrennungsmotor und Brennstofftanks ersetzt. Der neue Bus machte einen guten Eindruck, aber die Anordnung der Teile machte einen Boxermotor mit geringer Höhe erforderlich, hiervon gab es aber keine Serientriebwerke in der UdSSR. Der Import eines ausländischen Boxenmotors wurde als viel zu kostspielig betrachtet, weshalb der SiU-6 nicht in die Serienproduktion ging und nur ein Versuchsmuster blieb. Des Weiteren gab es drei überarbeitete Versionen des ursprünglichen Entwurfes, die als SiU-6-2M, SiU-6 2M und SiU-6M bezeichnet wurden. Sieben in den Jahren 1959 bis 1975 gefertigte Kraftomnibusse (ein SiU-6-Prototyp, zwei SiU-6-2M, zwei SiU-6 2M und zwei SiU-6M) fuhren in Kiew, Moskau und Sotschi. SiU-7 – Oberleitungsbus mit mittlerer Fahrgastkapazität auf Basis des SiU-5 (dieser war ein Großraumobus nach sowjetischer Klassifikation). Die Einstellung der Serienproduktion des MTB-82 hatte auch negative Folgen: für einige Verkehrsbetriebe waren die Kapazitäten des SiU-5 zu groß. Für diese freigesetzte Nische entwickelten die Konstrukteure des SiU eine abgekürzte Variante des SiU-5, die offiziell als SiU-7 bezeichnet wurde. Das Fahrzeug war mit dem SiU-5 sehr stark vereinheitlicht. Die gesamte mechanische, pneumatische und elektrische Ausrüstung wurde ohne Änderung übertragen, nur der Aufbau des Wagenkastens war neu: Er wurde um eine Fenstersektion gekürzt und die vordere Tür wechselte ihre Position mit der der Vorderachse. Von 1966 bis 1969 wurde nur eine Kleinserie des SiU-7 von drei Fahrzeugen produziert. Mit gleichwertiger Motorleistung und geringerer Fahrgastkapazität erwies sich der Betrieb gegenüber dem des SiU-5 als kostenintensiver, so dass die Serienproduktion bald beendet wurde. Oberleitungsbusse dieses Typs fuhren in Kirow, Moskau und Tscheboksary. Entwurfsanalyse Zum Zeitpunkt seines Erscheinens setzte der SiU-5 fortschrittliche Ideen des sowjetischen Oberleitungsbusbaues um: Erstmals in der UdSSR wurden ein selbsttragender Wagenkasten und eine vollautomatische Schützsteuerung verwendet, die elektrische Ausrüstung in Hoch- und Niederspannungsstromkreise getrennt und zahlreiche von Hand oder pneumatisch angetriebene Geräte der früheren Modelle durch elektrische ersetzt. Besondere Aufmerksamkeit wurde von den Entwicklern auf den Komfort der Fahrgäste und die Ergonomie des Arbeitsplatzes des Fahrers gelegt. Durch den groß bemessenen SiU-5-Wagenkasten konnten entlang beider Seiten zweisitzige Sitzbänke mit einem ausreichend breiten Durchgang dazwischen angeordnet werden. Der hintere Einstiegsbereich war geräumig und besonders für Fahrgäste mit größerem Gepäck geeignet; die im Vergleich zum Vorgänger MTB-82 breiten Zugänge beschleunigten den Fahrgastwechsel erheblich. Die großen verglasten Fensterflächen trugen zu einem guten Blickfeld aus Fahrerkabine und Fahrgastraum bei. Als hochfluriger Bus war er für Rollstuhlfahrer und Passagiere mit Kinderwagen ungeeignet. Entsprechende Anforderungen wurden seitens der sowjetischen Führung des Transportwesens auch nicht gestellt. Invaliden in der UdSSR hatten im Rahmen der Sozialversorgung und der Hilfe der Allunions-Invalidenvereinigung Anspruch auf ein kleines Auto und Personen mit Kind waren nach den Vorschriften verpflichtet, in öffentliche Verkehrsmitteln mit dem Kind an der Hand ein- und auszusteigen, um so Unfälle zu vermeiden. Im Vergleich mit dem technischen Niveau ausländischer Oberleitungsbusse nahm der SiU-5, wenn auch mit bedeutender Verzögerung, seinen Platz in der Reihe der zeitgemäßen Modelle ein. So hatten bereits unter anderen die deutschen Oberleitungsbusse von Büssing-NAG aus den späten 1930er-Jahren eine automatische Schützsteuerung und einen selbsttragenden Wagenkasten. Nach der Behebung seiner Kinderkrankheiten bewährte sich der SiU-5 im Betrieb als recht komfortables Fahrzeug. Wie viele andere Typen wurde er jedoch stark von der Haupttendenz im sowjetischen Maschinenbau der 1960er-Jahre beeinflusst – dem Streben nach einer billigeren Produktion und höheren Fertigungszahlen. Die geringe Lebensdauer und Zuverlässigkeit der Konstruktion war oft die Folge dieses Trends – der SiU-5 bildete hier keine Ausnahme. Auch führte die große Zahl der Neuerungen im Entwurf anfänglich zu Schwierigkeiten bei der Einführung des SiU-5. Des Weiteren erhielten die sowjetischen Verkehrsbetriebe infolge der staatlichen Finanzierung und der hohen Produktionszahlen viele neue Fahrzeuge planmäßig geliefert, so dass es keine Anreize für einen sorgsamen Umgang mit dem schon vorhandenen Fuhrpark gab. Hinzu kam nicht selten fehlende Sorgfalt der Arbeiter im Umgang und bei der Pflege der Fahrzeuge. Die Entwurfsmängel des SiU-5 spielten hierbei auch eine bedeutende Rolle, so war seine Betriebsdauer viel kürzer im Vergleich mit den Fahrzeugen der Stalin-Ära oder mit importierten ausländischen Fahrzeugen. Ende der 1960er-Jahre sah die sowjetische Transportführung den SiU-5 nicht mehr als modernen Oberleitungsbus an, so begann das SiU die Entwicklung eines neuen Fahrzeugs. Das Werk stellte 1971 den ersten Prototyp her, aus dem später der meistgebaute Oberleitungsbustyp der Welt, der SiU-9 (oder SiU-682) entstand. Den neuen geschweißten stählernen Wagenkasten mit einem kantigeren Äußeren und nunmehr drei Türen sowie die zusätzliche pneumatische Federungsstufe ausgenommen, wies der SiU-9 im Vergleich mit dem SiU-5 keine bedeutenden Neuerungen in seiner Konstruktion und Ausrüstung auf. Erhaltene Fahrzeuge Ein Teil der ausgemusterten SiU-5 wurde nicht sofort verschrottet, sondern ihre Wagenkästen wurden als Schuppen, Gartenlauben oder Bauwagen auf Baustellen weiter benutzt. Auch bauten einige Verkehrsbetriebe einzelne Fahrzeuge in gutem Zustand zu Arbeitswagen für Dienstzwecke um; sie wurden Lehrfahrzeuge, selbstfahrende Reparaturwerkstätten oder Kantinen für das Personal. Ab Mitte der 1990er Jahre verkehrten keine SiU-5 mehr im regulären Fahrgastverkehr, auf Grund ihrer Bedeutsamkeit in der Geschichte des sowjetischen Transportwesens begannen jedoch einige Organisationen und Trolleybusfreunde mit Arbeiten zur Aufarbeitung von Fahrzeugen des einst zahlreichsten Obustyps der ehemaligen UdSSR. Selbst vollständig ausgeschlachtete Wagenkästen wurden restauriert, infolge des Verlusts einiger der ursprünglichen Geräte wurden diese durch kompatible Teile des weitverbreiteten SiU-682 ersetzt. Als Ergebnis dieser Aktivität sind heute insgesamt sieben fahrtüchtige SiU-5 in Sankt Petersburg, Moskau, Kirow, Nischni Nowgorod und Budapest vorhanden. Auch existieren einige nicht fahrtüchtige SiU-5 in diesen und anderen russischen oder weißrussischen Städten sowie im Betriebsmuseum der Firma Trolsa. Das Museum des öffentlichen Verkehrs in Moskau besitzt drei fahrtüchtige und zwei weitere nicht-betriebsbereite Oberleitungsbusse dieses Typs, darunter verschiedenste Ausführungen. Ein fahrtüchtiger SiU-5G und zwei weitere nicht-betriebsbereite SiU-5 (Modell 1960) gehören zur Sammlung des Museums des elektrischen Stadtverkehrs in Sankt Petersburg. Die Moskauer Exponate nehmen häufig an Fahrzeugausstellungen teil. Der Kirower SiU-5D fährt auf Obus-Linien mit Passagieren manchmal an Feiertagen aus. Der Nischni Nowgoroder SiU-5D ist, obwohl fahrtüchtig, seit 2006 als technisches Denkmal im Freien aufgestellt. Ein weiterer gut erhaltener und fahrtüchtiger SiU-5 befindet sich im Budapester Straßenbahnmuseum. Literatur Пассажирские троллейбусы ЗиУ-5 и ЗиУ-7 (инструкция по эксплуатации). Под. ред. В. С. Каштанова и Г. В. Вишника. — Б. м.: б. и., б. г.(russisch und in kyrillischer Schrift; deutsch in etwa: Die Personenoberleitungsbusse SiU-5 und SiU-7 (Betriebsanweisung), editiert von W. S. Kaschtanow und G. W. Wischnik, ohne Herausgeber, Erscheinungsort und Erscheinungsjahr.) И. В. Рубинский, В. С. Списков: Устранение неисправностей в троллейбусе ЗиУ-5. Москва, Стройиздат, 1964.(russisch und in kyrillischer Schrift; deutsch in etwa: I. W. Rubinski, W. S. Spiskow.: Die Instandsetzung des SiU-5-Oberleitungsbusses. Strojisdat, Moskau, 1964.) И. С. Ефремов, В. М. Кобозев: Механическое оборудование троллейбусов. Москва, Транспорт, 1978.(russisch und in kyrillischer Schrift; deutsch in etwa: I. S. Jefremow, W. M. Kobosew.: Die mechanische Ausrüstung der Oberleitungsbusse. Transport, Moskau, 1978.) Д. И. Перкис: Учебное пособие для слесарей по ремонту троллейбусов. Москва, Стройиздат, 1966.(russisch und in kyrillischer Schrift; deutsch in etwa: D. I. Perkis. Das Mechanikerlehrbuch für die Instandsetzung von Oberleitungsbussen. Strojisdat, Moskau, 1966.) Ю. М. Коссой: 50 лет нижегородскому троллейбусу. Нижний Новгород, Литера, 1997, ISBN 5-900915-13-1(russisch und in kyrillischer Schrift; deutsch in etwa: Ju. M. Kossoj. 50 Jahre Nischni Nowgoroder Trolleybus, Litera, Nischni Nowgorod, 1997.) Л. М. Шугуров: Автомобили России и СССР. Часть II. Москва, ИЛБИ, 2000, ISBN 5-87483-006-5(russisch und in kyrillischer Schrift; deutsch in etwa: L. M. Schugurow. Die Automobile der Sowjetunion und Russlands. Teil II. ILBI, Moskau, 2000.) Weblinks (russisch) Seite „Verkehr Charkows“ zum SiU-5 (russisch, Geschichte, Fotos und Skizzen aus Betriebsanweisungen) Einzelnachweise Oberleitungsbusfahrzeug
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https://de.wikipedia.org/wiki/Weihnachtslied%2C%20chemisch%20gereinigt
Weihnachtslied, chemisch gereinigt
Weihnachtslied, chemisch gereinigt ist ein Gedicht des deutschen Schriftstellers Erich Kästner. Es erschien erstmals in der Weihnachtsausgabe 1927 der Zeitschrift Das Tage-Buch. Ein Jahr später nahm Kästner es in seine erste Gedichtsammlung Herz auf Taille auf. Seither wurde es in verschiedenen Anthologien abgedruckt und von zahlreichen Künstlern vorgetragen. Das Gedicht parodiert das bekannte Weihnachtslied Morgen, Kinder, wird’s was geben und verkehrt dessen Inhalt in die Aussage, dass es für arme Kinder nichts geben wird. Es folgen satirische Begründungen, warum Geschenke und ein prachtvolles Weihnachtsfest für arme Kinder auch nicht notwendig oder erstrebenswert seien. Kästner reagierte mit dem Gedicht auf die sozialen Spannungen in der Weimarer Republik. Dazu unterzog er die Sentimentalität des Weihnachtsfestes einer „chemischen Reinigung“ im desillusionierenden und sprachlich nüchternen Stil der Neuen Sachlichkeit. Form Das Gedicht Weihnachtslied, chemisch gereinigt besteht aus fünf Strophen zu je sechs Versen. Gemäß seinem Untertitel orientiert es sich am Weihnachtslied Morgen, Kinder, wird’s was geben. Es ahmt dessen akzentuierende Metrik nach, die vollständig aus trochäischen Versen besteht. Das Reimschema jeder Strophe wird aus einem Kreuzreim mit abschließendem Paarreim gebildet (). Die allesamt vierhebigen Verse enden im Kreuzreim abwechselnd mit einer unbetonten und einer betonten Silbe, wechseln also zwischen Akatalexe und Katalexe, während die Verse der Paarreime durchgängig katalektisch sind. Inhalt Das Gedicht beginnt mit der Feststellung: „Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!“ Geschenke gebe es nur für die, die bereits haben. Für die anderen genüge das Geschenk des Lebens. Auch ihre Zeit komme irgendwann, doch noch nicht morgen. Man dürfe nicht traurig über die Armut sein, sie werde von den Reichen geliebt und entbinde sowohl von unmodernen Geschenken als auch von Verdauungsbeschwerden. Ein Christbaum sei nicht nötig, das Weihnachtsfest könne auch auf der Straße genossen werden, das vom Kirchturm verkündete Christentum erhöhe die Intelligenz. Die Armut könne auch Stolz lehren. Wenn man sonst kein Holz für den Ofen habe, solle man eben das Brett vor seinem Kopf verbrennen. Durch das Warten lerne man Geduld, lerne fürs Leben. Gott in seiner umfassenden Güte sei jedenfalls nicht zur Rechenschaft zu ziehen. Das Gedicht endet mit dem Ausruf: „Ach, du liebe Weihnachtszeit!“ Stil und Sprache Weihnachtslied, chemisch gereinigt ist eine Parodie auf das bekannte Weihnachtslied Morgen, Kinder, wird’s was geben, dessen Text von Karl Friedrich Splittegarb verfasst wurde. Es widerspricht dessen Titel und verkehrt ihn in die gegenteilige Aussage „Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!“ Hans-Georg Kemper sprach vom umgekehrten Verfahren einer Kontrafaktur, der geistlichen Umdichtung eines weltlichen Gesangs, die hier in ridikülisierender und satirischer Absicht geschehe. Neben Morgen, Kinder, wird’s was geben zitiert Kästner im Gedicht auch andere traditionelle Lieder aus der Weihnachtszeit: Morgen kommt der Weihnachtsmann, Stille Nacht, heilige Nacht sowie den Psalmvers „Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist“. Doch Kästner „zerfetzt“ laut Hermann Kurzke „die Lieder und Sentenzen der Weihnachtszeit“, um mit ihren Sentimentalitäten zu brechen. Seine Sprache sei „flott und frech, spöttisch bis höhnisch, nicht süß sondern gesalzen“. Sie bediene sich eines modernen und saloppen Vokabulars, umgangssprachlicher Wendungen wie „drauf pfeifen“ oder nüchterner Markennamen wie Osrambirnen. Statt „Christentum, vom Turm geblasen“ verbreite das Gedicht Unromantik und Illusionslosigkeit. In seiner „chemischen Reinigung“ des Weihnachtsfests bedient es sich der stilistischen Mittel der Neuen Sachlichkeit mit realistischem, zeitkritischem Inhalt und nüchterner, distanzierter Sprache. Interpretation Zeitbezug und persönlicher Hintergrund Für Kurt Beutler beschreibt Kästners Gedicht Weihnachtslied, chemisch gereinigt das Weihnachtsfest „nicht als ein Fest der Freude, sondern als Tage, in denen die Kinder der Armen in besonderer Weise die Ungerechtigkeit und Härte ihres sozialen Schicksals erfahren“. Es formuliere mit den Mitteln der Ironie gleichermaßen Anklage und Resignation. Durch das Leid der Kinder rücke Kästner besonders den pädagogischen Aspekt in den Mittelpunkt. Dabei entlarve Kästner laut Ruth Klüger „die Scheinheiligkeit eines konsumbesessenen, sich karitativ gebärdenden Kapitalismus“. Stefan Neuhaus sah das Gedicht Weihnachten, chemisch gereinigt in der Reihe einer ganzen Anzahl weiterer Gedichte, mit denen Kästner wiederholt die sozialen Verwerfungen in der Weimarer Republik thematisiert habe. So beschrieb er auch in der Ballade vom Nachahmungstrieb die Auswirkungen sozialer Kälte auf Kinder. In Ansprache an Millionäre kritisierte er direkt die wirtschaftliche Ordnung der Weimarer Republik. Der Titel geht zurück auf die neu eingeführte chemische Reinigung, die zur Entstehungszeit des Gedichts zum allgemeinen Slogan geworden war, der – auf die unterschiedlichsten Bereiche angewandt – für eine besonders gründliche Säuberung und Entschleierung von Sachverhalten stand. Laut Hermann Kurzke pendelte Kästner in seiner Jugend in der Äußeren Neustadt Dresdens selbst zwischen den Extremen der Armut und des Reichtums, zwischen der ärmlichen Dachwohnung seiner Eltern und der Villa des vermögenden Onkels Franz Augustin, die die Kinder lediglich durch den Dienstboteneingang bis zur Küche betreten durften. Die Erfahrung der Gegensätze von Arm und Reich habe Kästner ein Leben lang geprägt und sei mal idyllisch wie in Pünktchen und Anton oder Drei Männer im Schnee, mal satirisch verarbeitet worden wie im Gedicht Weihnachtslied, chemisch gereinigt. Kästners Lebensgefährtin und erste Biografin Luiselotte Enderle urteilte: „Kästners Werk und Leben kann man völlig auf diese ersten Milieuerfahrungen zurückführen.“ „Linke Melancholie“ Walter Benjamin kritisierte 1931 die frühe Lyrik Kästners, darunter auch Weihnachtslied, chemisch gereinigt, als „linke Melancholie“ und „Nihilismus“. Die Gedichte befänden sich „links vom Möglichen überhaupt“; „in negativistischer Ruhe sich selbst zu genießen“ genüge ihnen. „Die Verwandlung des politischen Kampfes in einen Gegenstand des Vergnügens, aus einem Produktionsmittel in einen Konsumartikel – das ist der letzte Schlager dieser Literatur.“ Aus der Sicht Benjamins knebelte Kästner in seinen Gedichten „Kritik und Erkenntnis [, die] zum Greifen naheliegen, aber die wären Spielverderber und sollen unter keiner Bedingung zu Worte kommen“. Hermann Kurzke stimmte knapp 75 Jahre später Benjamins Befund der „linken Melancholie“ zu. Zwar verstehe sich Kästner als Aufklärer, der ein verlogenes Fest und die herrschende Ungerechtigkeit demaskiere, doch wirke der Ton des Gedichts seltsam gebremst. Es steuere nicht auf einen Befreiungsakt oder eine Rebellion zu, sondern verbleibe unpolitisch. Kurzke führte dies auf den biografischen Hintergrund Kästners zurück, der Revolutionär sein wollte und gleichzeitig Musterschüler war. Zur Aussage des Gedichts wurde für Kurzke die moralische Haltung, ausgedrückt durch die Appelle, klug und stolz zu werden, fürs Leben zu lernen und zu lachen. Letztlich wohne dem Gedicht eine Sehnsucht inne, auch die armen Kinder mögen eines Tages an Weihnachtsbaum, Gänsebraten und Puppe teilhaben, auch die Armen würden eines Tages von den Reichen beschenkt, so unvernünftig und unwahrscheinlich diese Hoffnung auch sei. Verordnete Passivität und Widerspruch Wulf Segebrecht stellte hingegen im Jahr 2006 die Frage, ob Benjamin Kästners Gedicht nicht genau genug gelesen habe, da er die zynische Absicht dahinter nicht erkannt habe. Das Gedicht unterbreite den Kindern in jeder Strophe einen Vorschlag, wie man sich mit seiner Armut zu Weihnachten arrangieren könne: Warten auf eine künftige Bescherung in der fernen Zukunft, Ablehnung von Geschenken, die sogar schädlich seien, Begnügen mit dem öffentlichen Weihnachtsrummel, überlegene Verachtung der Feierlichkeiten, Vertrauen auf einen Gott, der für größere Dimensionen verantwortlich sei. Jede Lehre führe letztlich zu einem Verharren in der Passivität, lege den Kindern nahe, sich mit ihrem Status abzufinden, statt sich aufzulehnen. Noch verstärkt werde diese repressive Unterweisung durch Kästners erfundene Anmerkung zum Gedicht: „Dieses Gedicht wurde vom Reichsschulrat für das Deutsche Einheitslesebuch angekauft.“ Der Schulrat, dem Erhalt der öffentlichen Ruhe und Ordnung verpflichtet, sei daran interessiert, dass die armen Kinder sich in ihr Schicksal fügen anstatt aufzubegehren. Gerade dies entlarve aber den Zynismus der Vorschläge, der vom Leser durchschaut werden solle. Der Leser werde zum Nachdenken über die Absichten hinter den vorgeführten Lehren angeregt und zum Widerspruch provoziert, ohne dass das Gedicht selbst einen solchen formuliere. Dieser Widerspruch befreie das Weihnachtsfest von falscher Sentimentalität wie politischer Instrumentalisierung; das Weihnachtslied werde mit den Mitteln der Neuen Sachlichkeit „chemisch gereinigt“. Mit Verweis auf den Kinderreport des Deutschen Kinderhilfswerks betonte Segebrecht fast 80 Jahre nach der Entstehung des Gedichts die noch immer ungebrochene Aktualität des Themas Kinderarmut. Veröffentlichungen und Adaptionen Kästners Weihnachtslied, chemisch gereinigt wurde erstmals in der Weihnachtsausgabe 1927 der Zeitschrift Das Tage-Buch veröffentlicht. Im Jahr 1928 nahm Kästner es in seine erste Gedichtsammlung Herz auf Taille auf. Danach erschien das Gedicht in unveränderter Form in Auswahlbänden seiner Werke, so 1946 in Bei Durchsicht meiner Bücher und 1966 in Kästner für Erwachsene, sowie in diversen Anthologien zum Thema Weihnachten. Zahlreiche Künstler haben das Gedicht rezitiert oder gesungen. Veröffentlicht wurden etwa Lesungen von Hans-Jürgen Schatz, Otto Mellies, Gerd Wameling und Ralf Bauer. Von einer frühen Lesung des Schauspielers Alfred Beierle für seine kurzlebige Plattenfirma Die neue Truppe aus dem Herbst 1930 existiert nur eine zerbrochene Schellackplatte im Deutschen Historischen Museum, die für eine Veröffentlichung des Deutschen Rundfunkarchivs restauriert wurde. Musikalische Interpretationen greifen oftmals auf die Originalmelodie von Morgen, Kinder, wird’s was geben von Carl Gottlieb Hering zurück, so beispielsweise jene von Gina Pietsch. Eine eigene Vertonung unterlegte dem Gedicht der Komponist Marcel Rubin. 2015 wurde das Gedicht von Saltatio Mortis auf deren Album Fest der Liebe vertont. Ausgaben (Auswahl) Erich Kästner: Herz auf Taille. Mit Zeichnungen von Erich Ohser. Curt Weller, Leipzig 1928 (Erstausgabe). Textgetreuer Neudruck: Atrium, Zürich 1985, ISBN 3-85535-905-9, S. 102–103. Erich Kästner: Bei Durchsicht meiner Bücher. Atrium, Zürich 1946, ISBN 3-85535-912-1, S. 103–104. Erich Kästner: Kästner für Erwachsene. S. Fischer, Frankfurt am Main 1966, ISBN 3-85535-912-1, S. 35. Erich Kästner: Zeitgenossen haufenweise. Band 1 der Werkausgabe in 9 Bänden. Herausgegeben von Harald Hartung und Nicola Brinkmann. Hanser, München 1998, ISBN 3-446-19563-7, S. 221. Literatur Hermann Kurzke: Kirchenlied und Kultur. Francke, Tübingen 2010, ISBN 978-3-7720-8378-5, S. 228–229. Karl-Josef Kuschel: Das Weihnachten der Dichter. Große Texte von Thomas Mann bis Reiner Kunze. Neuausgabe, Patmos, Ostfildern 2011 (Erstausgabe 2004), ISBN 978-3-491-72484-6, S. 96–97 (Originaltexte mit Erschließungen und Interpretationen). Wulf Segebrecht: Schöne Bescherung! In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Band 29, Insel, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-458-17322-6, S. 167–171. Weblinks Weihnachtslied, chemisch gereinigt, Text des Gedichtes Weihnachtslied, chemisch gereinigt, in einer Leseprobe von Achtung Weihnachten! Diogenes Verlag, Zürich 2010, ISBN 978-3-257-01015-2, S. 15 (PDF; 11,61 MB). Weihnachtslied, chemisch gereinigt (MP3; 1,5 MB), vorgetragen von Gottfried Riedl. Einzelnachweise Literarisches Werk Literatur (Deutsch) Literatur (20. Jahrhundert) Gedicht Werk von Erich Kästner Literatur (Weihnachten)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Geologie%20des%20Pf%C3%A4lzerwaldes
Geologie des Pfälzerwaldes
Die Geologie des Pfälzerwaldes kennzeichnen vorwiegend Gesteinsschichten des Buntsandsteins und in geringerem Maße auch des Zechsteins, die im ausgehenden Perm (vor 256–251 Millionen Jahren) und zu Beginn der Trias (vor 251–243 Millionen Jahren) unter vorwiegend wüstenhaften Bedingungen abgelagert wurden. Typisch sind feinkörnige und grobkörnige bis konglomeratische Sedimentabfolgen von unterschiedlicher Festigkeit, Dichte und Färbung. Es kommen stark verfestigte, kieselig gebundene mittel- und grobkörnige Sandsteine vor, zum Beispiel in den Trifels-Schichten des Unteren Buntsandsteins; aber auch feinkörnige Sandsteine mit toniger Bindung sind verbreitet, zum Beispiel in den Annweilerer Schichten des Oberen Zechsteins. Man unterscheidet Felszonen mit einheitlicher Gesteinsstruktur (Trifels-Schichten) und solche mit heterogener Gesteinsstruktur; ein Beispiel für den heterogenen Fall sind die Rehberg-Schichten im Unteren Buntsandstein, in denen die Sedimentstrukturen auf engem Raum wechseln. Vor etwa 48 Millionen Jahren im Paläogen begann der Oberrheingraben einzubrechen, dadurch wurden diese Gesteinsformationen tektonisch umgelagert; sie wurden ungleichmäßig gehoben, in Teilschollen zerbrochen, der Buntsandstein wurde freigelegt und schräggestellt. Seine heutige Gestalt erhielt das Buntsandsteinpaket gegen Ende der Erdneuzeit (vor 5–0,01 Millionen Jahren). Es entwickelte sich ein komplexes Relief, mit tief eingeschnittenen Kerbtälern, vielfältigen Bergformen und nährstoffarmen Böden, auf denen dichte Wälder stehen. Im Süden des Pfälzerwaldes entstand eine besonders abwechslungsreiche Felsenlandschaft mit Kegelbergen und bizarren Felsgebilden (Annweilerer und Dahner Felsenland). Naturräumliche Abgrenzung Die vorherrschenden Gesteine des Buntsandsteins und Zechsteins bestimmen die Oberflächengestalt des Pfälzerwaldes und damit seine naturräumliche Abgrenzung. Dabei erstreckt sich ihr Verbreitungsgebiet nicht nur auf den Pfälzerwald, sondern auch auf die sich südlich der deutsch-französischen Grenze ohne geomorphologische Trennung anschließenden nördlichen und mittleren Vogesen. Es endet erst mit dem Weilertal (frz. ‚Val de Villé‘), ab dem die Gesteine des Sockels die Oberfläche des Gebirges bilden. Der gesamte Gebirgsraum gehört zum System des deutsch-französischen Schichtstufenlandes, wobei Pfälzerwald und Nordvogesen (frz. ‚Vosges du Nord‘) zu einem einheitlichen Naturraum zusammengefasst werden, der sich bis zur Zaberner Steige erstreckt. Der deutsche Teil des Gebirges, der Pfälzerwald, wird nördlich des Stumpfwaldes und des Otterberger Waldes bogenförmig vom Nordpfälzer Bergland abgegrenzt; ab hier dominieren nicht mehr Gesteine des Buntsandsteins und Zechsteins, sondern des Permokarbons das Landschaftsbild. Im Osten bilden der Rheingrabenrand und im Westen die jüngeren Gesteinsschichten des Muschelkalks, welche dort den Buntsandstein überdecken, die natürlichen Begrenzungen. Im Süden trennt die deutsch-französische Grenze den Pfälzerwald von den geologisch gleichartigen Nordvogesen. Entwicklungsgeschichte Gebirgssockel und Sandsteine des Zechsteins Im Karbon (vor 358–296 Millionen Jahren) kam es durch Kollision der beiden Urkontinente Gondwana und Laurussia zu Auffaltungen der Erdkruste, die vom östlichen Nordamerika bis nach Zentralasien reichten und unter anderem auch im heutigen West- und Mitteleuropa zur Entstehung des Variszischen Gebirges führten. Dieses Faltengebirge wurde zwar im nachfolgenden Zeitalter des Perms (vor 296–251 Millionen Jahren) wieder abgetragen, die aus Schiefer, Granit und Gneis bestehenden Rumpfflächen blieben jedoch erhalten und bilden, wie in anderen Mittelgebirgen, das Fundament des heutigen Pfälzerwaldes. Zu Beginn des Oberkarbons vor etwa 315 Millionen Jahren entstand das Senkungsgebiet des Saar-Nahe-Beckens, das auch weite Gebiete der heutigen Pfalz umfasste. In ihm sammelten sich vom Oberkarbon bis zum Unterperm (unteres Rotliegend) vor 315 bis 270 Millionen Jahren verschiedene Sediment- und Vulkangesteine, zum Beispiel magmatische Gesteine der Donnersberg-Formation oder tonig gebundene Sandsteine der jüngeren Standenbühl-Formation (siehe auch Abschnitt Permokarbon und Rotliegend). Tektonische Prozesse verursachten gegen Ende des Unterperms (vor etwa 270–260 Millionen Jahren) eine Anhebung der Gesteinsschichten des Saar-Nahe-Beckens, sodass sich das Pfälzer Sattelgewölbe mit Nahe- und Prims-Mulde im Nordwesten und Pfälzer Mulde im Südosten entwickelte. Großräumige Absenkungen, die während des Oberperms (vor 260–251 Millionen Jahren) einsetzten und zur Bildung des Germanischen Beckens führten, ließen das Zechstein-Meer zeitweilig von Norden in das Gebiet der heutigen Pfalz vordringen. Es kam zur vorwiegend fluviatilen Ablagerung von Gesteinsschichten mit einer Mächtigkeit von etwa 100 Metern, wobei die Gesteinseinheit des Zechsteins für den Bereich des südlichen Pfälzerwaldes vier Schichten umfasst, die neben Fein-, Mittel- und Grobsandsteinen auch Tonsteine enthalten (siehe Abschnitt Zechstein). Entstehung des Buntsandsteins In der Trias (vor 251–200 Millionen Jahren) erweiterte sich das Germanische Becken nach Süden und Westen, wobei für das Gebiet der heutigen Pfalz das Senkungsgebiet der Hessischen Senke und Pfälzer Mulde von Bedeutung ist, da sich dort die Sedimente dieses Zeitalters ablagerten. Von der Untertrias bis zum Beginn der Mitteltrias (vor 251–243 Millionen Jahren) war Mitteleuropa von einer Wüstenlandschaft bedeckt, in der insbesondere äolische und gelegentlich fluviatile Kräfte formend wirkten. Diese Prozesse führten zu Sandablagerungen, die aus den Hochlagen um das Germanische Becken stammten. Im Bereich des heutigen Pfälzerwaldes entstanden Gesteinsschichten mit einer Mächtigkeit von bis zu 500 Metern. Dabei kam es durch Beimengung von Eisenoxid zu verschiedenartigen Färbungen des Gesteinspakets und je nach Art der Bindung in der Körnung – zum Beispiel tonig gebundene Sandsteine im Gegensatz zu verkieselten Sandsteinen – zur Ausbildung von Gesteinsschichten unterschiedlicher Festigkeit. Es entstanden die Untergruppen des unteren, mittleren und oberen Buntsandsteins, die durch „Dünnschichten“ mit stark grobkörnigen Sandsteinen (Konglomerate) voneinander abgegrenzt sind (siehe Abschnitt Schichten des Buntsandsteins). Diese Buntsandsteinformationen wurden vor 243 bis 235 Millionen Jahren durch ungefähr 190 Meter mächtige Muschelkalkablagerungen (Mergel- und Kalksedimente) eines großen Binnenmeers überdeckt, gefolgt von den Sedimenten der Keuperzeit (234–200 Millionen Jahren). Weitere Ablagerungen entstanden im Jura (vor 200–142 Millionen Jahren) und in der Kreidezeit (vor 142–65 Millionen Jahren), deren Dicke im Inneren des Germanischen Beckens ursprünglich etwa 1300 Meter betrug. Teile dieser Sedimente wurden jedoch bis zum Beginn des Paläogens vor etwa 65 Millionen Jahren durch Erosion wieder abgetragen. Lagerung des Buntsandsteins Zu Beginn der Erdneuzeit, dem Känozoikums, begann im Paläogen vor ungefähr 48 Millionen Jahren die Kollision afrikanischer und eurasischer Platten, die zu massiver Auffaltung der Gesteinsschichten und als Folge zur Entstehung der Alpen führte. Das damit zusammenhängende starke Spannungsfeld beeinflusste die Gebiete nördlich der Alpen, wobei Zugspannungen, wahrscheinlich entlang einer alten variszischen Schwächezone, den harten, oberen Teil des Erdmantels, der subkrustalen Lithosphäre, aufrissen und dadurch weiche Erdmantelmaterie (Peridotit) nach oben drang und die subkrustale Lithosphäre überlagerte. Diese Ausstülpung des Erdmantels führte zur Ausdünnung der darüber liegenden Erdkruste, die zum Beispiel im Bereich des späteren Oberrheingrabens eine Dicke von nur 24 Kilometern aufweist und deren Gesteinsformationen ebenfalls Aufwölbungsprozessen („Aufdomung“) mit erheblichen Zugspannungen unterworfen wurden (passives Rifting). Diese Spannungen erreichten vor ungefähr 35 Millionen Jahren im Scheitel dieser Wölbung ihren Höhepunkt, sodass bei maximaler Dehnung im Bereich des heutigen Oberrheins tiefgehende Brüche und Einsenkungen auftraten. Die Erdkruste im Inneren des Oberrheingrabens senkte sich in einer Mächtigkeit von mindestens 20 Kilometern um etwa 3300 Meter, was an der Oberfläche zur Bildung einer Tiefebene führte. Parallel dazu wurden die Grabenränder angehoben, im Falle des Pfälzerwaldes um etwa 1000 Meter. Diese tektonischen Prozesse, welche gegenwärtig noch anhalten, hatten und haben für das heutige Landschaftsbild des Mittelgebirges als Schichtstufenlandschaft vier wichtige Auswirkungen: Erstens wurden während der Hebevorgänge etwa 800 Meter Deckgebirge (Dogger, Lias, Keuper, Muschelkalk) abgetragen und in der neu entstandenen Tiefebene abgelagert. Dies bewirkte eine Freilegung der Gesteinsschichten des Buntsandsteins, Zechsteins und an wenigen Stellen auch von Ablagerungen des Permokarbons vor allem des Rotliegend. Zweitens verursachte die Aufwölbung eine Schrägstellung der verschiedenen Schichten. Sie sinken allmählich vom Grabenrand im Osten mit einer Neigung von ein bis vier Grad nach Westen. Drittens kam es zu einer ungleichmäßigen Heraushebung des Buntsandsteins. Die Gesteinsschichten lagern nämlich nicht völlig eben, sondern besitzen eine Sattel-Muldenstruktur, die sich von Südwest nach Nordost erstreckt (siehe auch Abschnitt Gebirgssockel und Sandsteine des Zechsteins). So steht einer sattelförmigen Aufwölbung im Bereich des Nordpfälzer Berglands (Pfälzer Sattel) südöstlich eine durch den zentralen Pfälzerwald parallel verlaufende Mulde (Pfälzer Mulde) gegenüber, der noch weiter im Südosten im Wasgau eine erneute Aufwölbung (Südpfälzer Sattel) folgt. Dies bedeutet, dass die Gesteinsschichten im nördlichen und südlichen Abschnitt des Pfälzerwaldes höher und in seinem mittleren Teil tiefer liegen. Während hier – zum Beispiel im Gebiet um Johanniskreuz und Eschkopf – jüngere Gesteine der Rehberg-, Schlossberg- und Karlstal-Schichten das Relief prägen, dominieren in den nördlichen und südlichen Bereichen Schichten des Zechsteins und des Unteren Buntsandstein und hier vor allem die Trifelsschicht das Landschaftsbild. Viertens zerbrachen die Gesteinsschichten durch Heraushebung und Schrägstellung in einzelne Teilschollen. Es entstanden verschieden große Spalten und Klüfte, an denen die Gesteine vertikal gegeneinander verschoben wurden. Dieses Phänomen zeigt sich besonders entlang größerer Verwerfungen, die das Gebirge von Nordost nach Südwest durchziehen. Beispiele sind neben der Hauptverwerfung am Grabenrand die dazu parallel verlaufenden Lambrechter und Elmsteiner Verwerfungen, an denen die verschiedenen Schichten um bis zu 100 Meter gegeneinander versetzt sind. Entwicklung der heutigen Oberflächengestalt Im späteren Paläogen (vor 34–23,8 Millionen Jahren) und Neogen (vor 23,8–2,8 Millionen Jahren) standen wieder Erosionsprozesse im Vordergrund, sodass es zu einer weiteren Aufschüttung der Oberrheinischen Tiefebene kam. Erneute tektonisch verursachte Hebungen gegen Ende des Neogens (vor 5–2,8 Millionen Jahren) führten zur heutigen Höhe des Pfälzerwaldes und durch Abtragung zu weiterer Freilegung des Buntsandsteins. Im Quartär (vor 2,8–0,01 Millionen Jahren), dem letzten geologischen Zeitabschnitt der Erdneuzeit, schufen erneute Verwitterung und Abtragung, vor allem während der verschiedenen Kalt- und Warmzeiten, die Oberflächengestalt des heutigen Pfälzerwaldes. Es entwickelten sich ein differenziertes, tief eingeschnittenes Talsystem, vor allem in seinem Nord- und Mittelteil, vielfältige Bergformen und bizarre Felsformationen; Beispiele hierfür sind der Teufelstisch bei Hinterweidenthal und der Eilöchelfels bei Busenberg. Gliederung Aus seiner Entwicklungsgeschichte ergibt sich die geologische Gliederung des heutigen Pfälzerwaldes: Gneise, Schiefer und magmatisches Gestein bilden das Fundament des heutigen Pfälzerwaldes, werden jedoch meist durch jüngere Gesteinsschichten überdeckt. Sie treten nur an wenigen Stellen des östlichen Gebirgsrandes an die Oberfläche, wo sie beispielsweise in den tief eingeschnittenen Tälern der Queich und des Kaiserbaches anstehen. Entsprechend befinden sich dort große Steinbrüche, in denen Granodiorit bei Waldhambach und Orthogneis mit granitischem Habitus bei Albersweiler aufgeschlossen sind und als „Hartsteine“ abgebaut werden. Permokarbon Rotliegend Die vom Oberkarbon bis Unterperm im Saar-Nahe-Becken gebildeten Gesteinsschichten (siehe auch Abschnitt Gebirgssockel und Sandstein des Zechsteins) sind nur an einigen Stellen des Pfälzerwaldes freigelegt und prägen dort dessen Relief. Dies trifft beispielsweise für den im Norden gelegenen Stumpfwald und im Südosten für das Queichtal mit Seitentälern zu, in denen rote Ton-, Silt- und feinkörnige Sandsteine der Kreuznach- und Standenbühl-Formation und im unteren Teil eine Wechselfolge aus roten Siliziklastika, Tuff und Effusiva der Donnersberg-Formation aufgeschlossen sind. Da mergelig und tonig gebundene Sandsteine eine relativ weiche Konsistenz besitzen, wurden sie vor allem im Raum Ramsen zu breiten Tälern ausgeräumt. Gleiches gilt auch für das Queichtal vor seinem Austritt in die Rheinebene, das zwischen Annweiler und Albersweiler ebenfalls beckenartige Züge trägt. Zechstein Im oberen Perm (vor 256–251 Millionen Jahren) entstanden Gesteinsschichten (siehe Abschnitt Gebirgssockel und Sandsteine des Zechsteins), welche am Nordrand des Pfälzerwaldes zwischen Eisenberg und Waldmohr als Stauf-Schichten – nach dem Ort Stauf bei Ramsen – an die Oberfläche treten und im Raum Schwedelbach eine Mächtigkeit von 70 bis fast 300 Metern besitzen. Sie bestehen hauptsächlich aus geröllreichen, grobkörnigen, vorwiegend braunroten Sandsteinen (Konglomerate), die durch Beimengung von Eisenoxid besonders stark verfestigt wurden. Lithostratigrafisch werden sie in einen ähnlich aufgebauten oberen und unteren Teil gegliedert, zwischen denen jeweils fast geröllfreie, feinkörnige Sandsteine von geringerer Festigkeit (Formsande) abgelagert sind. Die Erzhaltigkeit des Gesteins brachte es mit sich, dass an mehreren Stellen der Region, bei Ramsen schon zur Zeit der Kelten, bei Erzenhausen seit dem Mittelalter und bei Erzhütten seit 1725, Eisenerz gefördert und beispielsweise in Eisenberg verarbeitet wurde. Im südöstlichen Teil des Pfälzerwaldes bestehen die Gesteinsschichten dagegen eher aus feinkörnigeren Sandsteinen mit toniger Bindung und Schiefertonen. Sie erstrecken sich in einer Mächtigkeit von etwa 80 bis 100 Metern vom Raum Annweiler über Gossersweiler und Silz bis in die südöstlich von Dahn gelegenen Bereiche um Vorderweidenthal, Busenberg und Bundenthal. Da das Material eher von weicher Konsistenz ist und daher besser ausgeräumt wurde, kam es auch dort zu größeren Verebnungsflächen, zwischen denen die kegelförmigen Berge des Wasgaus häufig isoliert emporragen. Im Gegensatz zu anderen Regionen des Mittelgebirges sind diese Ablagerungen relativ nährstoffreich und verwittern zu fruchtbaren Böden, sodass diese schon frühzeitig – seit dem Hochmittelalter – gerodet und landwirtschaftlich genutzt wurden. Daneben sind die Ablagerungen des Zechsteins auch hydrogeologisch interessant, da die tonreichen Schichten häufig Quellhorizonte bilden, an denen sich das Grundwasser stauen kann. Gegliedert wird der südpfälzische Zechstein nach Untersuchungen aus den Jahren 1995 und 1996 in vier Schichten: Sie beginnen mit der etwa 40 Meter dicken Queich-Schichten – benannt nach dem gleichnamigen Fluss – und Rothenberg-Schichten des Unteren Zechsteins, in welchen fein-, mittel- und grobkörnige Sandsteine und vor allem in der Rothenbergschicht auch rotbrauner Tonstein und rötlich-grauer Dolomit („Zechstein-Horizont“) abgelagert sind. Ihnen folgen im Oberen Zechstein die 40 bis 60 Meter mächtigen Annweilerer- und darüber Speyerbach-Schichten, wobei die Annweilerer-Schichten eher aus roten, massigen bis schräggeschichteten fein- und mittelkörnigen Sandsteinen und die darüber liegenden Speyerbach-Schichten aus braunroten bis grauroten Tonsteinen bestehen. Trias Buntsandstein Große Teile des gesamten linksrheinischen Gebirges – Pfälzerwald, Nord- und Mittelvogesen – werden durch die zu Beginn der Trias entstandenen Buntsandsteinformationen bestimmt. Dabei wird dieses Gesteinspaket für den Bereich der Pfalz in folgende Schichten oder Gruppen mit Untergruppen gegliedert (Buntsandstein-Stratigraphie der Pfalz): Unterer Buntsandstein Er ist das charakteristische Gestein des Pfälzerwaldes und bestimmt mit einer Mächtigkeit von 280 bis 380 Metern – mit Ausnahme der Verebnungsflächen im südöstlichen Wasgau – weite Teile des Mittelgebirges. Im Gegensatz zu den Sandsteinen aus der Zechstein-Zeit enthält er viel Quarz, dagegen wenig Feldspat und Glimmer und verwittert deshalb zu sandigen, nährstoffarmen Böden. Dieser Sachverhalt und die Schwierigkeiten des Geländes, das heißt starke Zertalung mit Kerbtälern und felsigen Steilhängen (siehe Abschnitt Täler), hatten zur Folge, dass seit dem Mittelalter in weiten Bereichen des Pfälzerwaldes kaum Rodungen und damit landwirtschaftliche Nutzung erfolgten, sodass das Waldgebiet bis heute in seiner Kompaktheit erhalten blieb. Typisch für den Unteren Buntsandstein ist außerdem die Ausbildung mehrerer harter Felszonen, die von dünngeschichteten, tonreicheren Sandsteinen getrennt werden. Damit ergibt sich eine Gliederung in folgende drei Teilschichten: Trifels-Schichten Diese kompakten, vorwiegend fluviatil entstandenen Gesteinsschichten in einer Mächtigkeit von bis zu 145 Metern, die nach dem Felsenriff auf dem Burgberg des Trifels bei Annweiler benannt sind, bestehen aus violett bis hellrot gefärbten schräggeschichteten mittel- und grobkörnigen Sandsteinen, die im Korngefüge kieselig gebunden sind und daher eine besondere Festigkeit besitzen. Sie nehmen vor allem im nordwestlichen und südlichen Teil des Pfälzerwaldes einen größeren Raum ein und bilden dort seine Oberfläche. Im Mittleren Pfälzerwald ist diese Gesteinsfolge aufgrund ihrer Schrägstellung hauptsächlich in den östlichen Regionen zwischen Frankenweide und Rheingrabenrand anzutreffen, wobei sie vor allem in Tälern und Seitenhängen bis in mittlere Höhen aufgeschlossen ist. Eine besondere Bedeutung kommt den Trifels-Schichten im südöstlichen Pfälzerwald zu. Hier bilden sie aufgrund ihrer Härte zusammen mit den Rehberg-Schichten die oft kegelförmigen Bergformen des Wasgaus, die zwischen den Verebnungsflächen des Rotliegend und Zechsteins emporragen und häufig bizarre Felsgebilde tragen (siehe genauer Abschnitt Berge). Rehberg-Schichten Namengebend ist der Rehberg, mit 577 m ü. NHN der höchste Berg des deutschen Wasgaus in der Nähe des Trifels, dessen Gipfelbereich durch diese Gesteinsschichten aufgebaut wird. Sie treten in weiten Bereichen des mittleren und südwestlichen Pfälzerwaldes an seine Oberfläche und werden erst etwa westlich einer Linie Johanniskreuz (470 m ü. NHN), Leimen, Münchweiler, Hohe List (476 m ü. NHN) und Erlenkopf (472 m ü. NHN) von den jüngeren Gesteinen des Mittleren und Oberen Buntsandsteins abgelöst. Eine schmale, Sandsteinschicht, die einen höheren Gehalt an Tonmineralen besitzt, grenzt die etwa 145 Meter mächtige Gesteinsfolge von den Trifels-Schichten ab; sie bildet wegen ihrer geringeren Wasserdurchlässigkeit einen wichtigen Quellhorizont. Im Gegensatz zur kompakten Gesteinseinheit der Trifels-Schichten besteht die Rehberg-Stufe nicht aus einem einheitlichen Felspaket, sondern aus mehreren schräggeschichteten und kleinräumigen Felszonen, die durch Dünnschichten voneinander getrennt sind. In den Felszonen dominieren ebenfalls kieselig gebundene und damit stark verfestigte mittel- und grobkörnige Sandsteine, die meist unter fluviatilen Bedingungen abgelagert wurden. Die vorwiegend äolisch entstandenen, eher tonisch gebundenen Dünnschichten verlaufen dagegen meist horizontal, besitzen eine vorwiegend feinkörnige, geringer kristallisierte Struktur und unterliegen deshalb stärker Verwitterung und Abtragung. Diese Wechselfolge unterschiedlich stark erodierter Felszonen spiegelt sich unter anderem in charakteristischen Felsbildungen wider, wobei zum Beispiel Felsüberhänge, Felsentore und vor allem pilz- und tischförmige Strukturen auffallen. Ein bekanntes Beispiel ist der Teufelstisch bei Hinterweidenthal, an dessen tischförmiger Gestalt die Wirkung dieser kleinräumigen Verwitterungsprozesse besonders deutlich wird. Schlossberg-Schichten Benannt wurden diese Formationen nach ihrem Auftreten in den Schlossberghöhlen der saarländischen Stadt Homburg. Es handelt sich um eine bis zu 90 Meter hohe Felsstufe, die vorwiegend aus gröberem Material vorwiegend aus Roll- und Springkörnern von Wanderdünen besteht. Besonders ins Auge fallen die unterschiedlichen farblichen Schattierungen des Materials, das meist rot bis orangegelb, in geringerem Maße aber auch weiß, grün oder lila gefärbt ist. Mittlerer Buntsandstein Zwischen Mittlerem und Oberem Buntsandstein lagert eine weitere tonreiche Gesteinsschicht, die erneut einen wichtigen Quellhorizont bildet. Auch diese Gesteinseinheit wird durch verschiedene Teilschichten aufgebaut: Karlstal-Schichten Namengebend ist das Karlstal bei Trippstadt im Nordwesten des Pfälzerwaldes, in dem diese Sandsteinformationen in exemplarischer Form auftreten. Dabei wird zwischen der etwa 30 bis 40 Meter mächtigen Karlstal-Felszone und den sich anschließenden Oberen Karlstalschichten unterschieden. Die Karlstal-Felszone setzt sich aus massigen, grobkörnig verkieselten Gesteinspaketen zusammen, die häufig als graurote, harte Felsblöcke mit mehreren Metern Durchmesser an die Oberfläche treten. Diese Blockfelder sind außer im Karlstal auch an anderen Talhängen des mittleren Pfälzerwaldes zu finden; als Beispiel dient unter anderem das unterhalb des Annweilerer Forsthauses gelegene Eiderbachtal, in welchem diese Felszone in etwa 300 bis 400 m ü. NHN aufgeschlossen ist. Aufgrund der Elmsteiner Verwerfung, einer westlich des Eiderbachtals von Nord nach Süd verlaufenden Verwerfungslinie, liegen dort die einzelnen Gesteinsschichten etwa 100 Meter höher, sodass auch die höchsten Erhebungen im zentralen Pfälzerwald durch diese Gesteine aufgebaut werden. So treten zum Beispiel am Eschkopf wie auch am Südwesthang und Gipfelplateau des Weißenbergs die typischen Blockfelder der Karlstalstufe an die Oberfläche. Da die Gesteinsschichten des Mittelgebirges generell schräg gestellt sind, das heißt von West nach Ost ansteigen, wurden Gesteine des Mittleren und Oberen Buntsandsteins östlich der Elmsteiner Verwerfung in verstärktem Maße abgetragen, sodass hier eher die Trifels- und Rehberg-Schichten des Unteren Buntsandsteins dominieren. Eine Ausnahme bilden einige der höchsten Erhebungen am östlichen Gebirgsrand, deren Gipfelbereich ebenfalls von der Karlstal-Felszone aufgebaut wird. Dieser Gebirgszug, naturräumlich auch als Haardt bezeichnet, wird durch die Lambrechter Verwerfung vom Bereich des inneren Pfälzerwaldes abgegrenzt; sie erstreckt sich in einem Abstand von zwei bis fünf Kilometern parallel zum Grabenrand und führt im Bereich der Haardt zur Versetzung der verschiedenen Gesteinsfolgen um 80 bis 100 Meter nach unten. Wegen dieser tektonisch bedingten Absenkung waren die Karlstalschichten deshalb zunächst der Abtragung entzogen und erodierten erst später, vor allem im Laufe der verschiedenen Kalt- und Warmzeiten, zu ihrer heutigen Gestalt. Entsprechende Blockfelder bestehen zum Beispiel auf dem Hochberg und vor allem im Gebiet der Kalmit. So befindet sich auf dem Hüttenberg, einem südwestlichen Ausläufer der Kalmit, in etwa 600 m ü. NHN ein besonders ausgedehntes Felsenmeer, welches außer von der Karlstal-Felszone auch durch Gesteine der Oberen Felszone (siehe unten) gebildet wird. Abgeschlossen wird die Karlstalstufe schließlich durch weichere Gesteine der Oberen Karlstalschichten, die hauptsächlich aus gerundeten, rot bis orangegelb gefärbten Grobsandsteinen bestehen und deshalb stark den Schlossbergschichten ähneln. Obere Felszone, Hauptkonglomerat und Violette Grenzzone Die Obere Felszone in einer Mächtigkeit von 9 bis 26 Metern setzt sich aus stark verkieselten, geröllführenden Mittel- und Grobsandsteinen von besonderer Festigkeit zusammen und bildet vor allem im zentralen Pfälzerwald im Bereich der inneren Pfälzer Mulde felsdurchsetzte Steilhänge. Ein typisches Beispiel bietet der Wartenberg im südwestlichen Weißenberggebiet, welcher durch Steilwände der Oberen Felszone in Kombination mit Blockfeldern der Karlstal-Schichten charakterisiert ist. Das sich anschließende, bis zu 15 Meter mächtige Hauptkonglomerat befindet sich vorwiegend im Südteil der Pfälzer Mulde. Es ist Folge der Ablagerungen eines früheren, tief eingeschnittenen Flusssystems und besteht aus dunkelroten, geröllführenden Grobsandsteinen. Abgeschlossen wird der Mittlere Buntsandstein mit einer Mächtigkeit von etwa 1,5 Meter durch die Violette Grenzzone, die vor allem im nördlichen Teil der Pfälzer Mulde, das heißt im nordwestlichen Teil des Pfälzerwaldes aufgeschlossen ist und in erster Linie aus glimmerreichen Feinsedimenten mit Dolomitknauern (Dolomitknollen) besteht. Karlstal-Felszone, Obere Felszone und Hauptkonglomerat bilden aufgrund ihrer Verwitterungsresistenz mehrere markante Felsriffe, wobei die Altschlossfelsen bei Eppenbrunn mit fast zwei Kilometern Länge die bekanntesten Beispiele sind. Der etwa ein bis zwei Meter mächtige Kugelfelshorizont, welcher der Oberen Felszone zuzurechnen ist, enthält kugelförmige Gebilde, die aufgrund unterschiedlicher Eisenanreicherung im Gestein in dieser Form erodiert sind. Sie werden häufig von einem lockeren Mantel umgeben und können deshalb leicht aus dem Felsen herausfallen oder herausgelöst werden. Diese geologische Besonderheit kennzeichnet verschiedene Felsen im Raum Pirmasens, wobei der namengebende Kugelfelsen auf dem Rödelschachen ein besonders prägnantes Beispiel ist. Oberer Buntsandstein Zwischenschichten und Voltziensandstein sind Untergruppen des Oberen Buntsandsteins, der die älteren Sedimente dieser Gesteinseinheit mit einer Mächtigkeit von etwa 100 Metern überdeckt. Sie beeinflussen das Relief vor allem im westlichen und südwestlichen Teil des Pfälzerwaldes, zum Beispiel im Gräfensteiner Land, Holzland und in den Gebieten südlich und südöstlich von Pirmasens; dagegen wurden sie in östlicher gelegenen Regionen wegen der generellen Schrägstellung der Gesteinsschichten abgetragen. Zwischenschichten Diese etwa 75 Meter mächtige Gesteinseinheit ist ebenfalls das Ergebnis von Ablagerungen eines Flusssystems und setzt sich in ihren unteren Bereichen aus grau- bis hellroten, teilweise geröllführenden Mittel- bis Grobsandsteinen zusammen, während die oberen Bereiche eher aus violett- oder braunroten Feinsandsteinen mit höherem Gehalt an Glimmer, Karbonaten und Tonmineralien bestehen. Voltziensandstein Der etwa 25 Meter mächtigen Voltziensandstein enthält versteinerte Pflanzenreste der Koniferenart Voltzia heterophylla der Voltziales; sie sind Indikatoren für veränderte Ablagerungsbedingungen zu Beginn des Muschelkalkzeitalters. Sein unterer Teil – die Werksteinzone – besteht aus roten, fein- und mittelkörnigen Sandsteinen, die neben Gesteinen des Mittleren Buntsandsteins auch heute noch in Steinbrüchen zum Beispiel im Schweinstal bei Schopp, ferner in Eselsfürth bei Kaiserslautern gewonnen werden und eine beachtliche historische Anwendungstradition besitzen. Sie wurden im südwestdeutschen Raum seit alters her mit unterschiedlicher Zwecksetzung als beliebtes Baumaterial verwendet, prägen das Erscheinungsbild von Burgen, Kirchen, ja sogar ganzer Dörfer in der Region und kommen beim Bau von Dorfbrunnen, Denkmälern, Brücken und Eisenbahntunneln bis heute häufig zum Einsatz. Im Bereich der Baukunst fertigte man ornamentale Architekturteile und aus hellen Varietäten Grabsteine. Bedeutende Baudenkmäler wie der im romanischen Stil erbaute Dom zu Speyer oder die ebenfalls romanische Abteikirche Otterberg, außerdem viele der barocken Bauten des ursprünglich anhalt-zerbstschen Baumeisters Friedrich Joachim Stengel in Saarbrücken sind mit diesem Sandstein ausgestattet worden. Den oberen Bereich – die Lettenregion – kennzeichnen tonige Ablagerungen, welche auf beginnende Einflüsse des Muschelkalkmeeres verweisen. Zwischenschichten und Voltziensandstein verwittern aufgrund ihrer Eigenschaften zu nährstoffreicheren Böden, welche sich zur landwirtschaftlichen Nutzung besser als die „armen“ Sandböden des Unteren und Mittleren Buntsandsteins eignen. So entstanden vor allem im Holzland schon früh hochgelegene Rodungsinseln, in denen sich in der Folgezeit Höhendörfer wie zum Beispiel Heltersberg, Schmalenberg und Trippstadt entwickeln konnten. Oberflächengestalt Landschaftscharakter Unterschiedlich harte Gesteinsschichten führten im Pfälzerwald zu mehr oder weniger starker Verwitterung und Abtragung. So wurden beispielsweise Formationen des Rotliegend und Zechsteins stärker zu Verebnungen und breiten Tälern ausgeräumt, während die widerstandsfähigeren Gesteine des Unteren und Mittleren Buntsandsteins als Schichtstufen erhalten blieben. Gemeinsam mit einem dichten, tief eingeschnittenen Talsystem entwickelte sich das komplexe Schichtstufenrelief des heutigen Pfälzerwaldes. Während sich das Gebirge im Süden ohne geomorphologische Begrenzung als Nordvogesen fortsetzt und nach Westen allmählich in die Westricher Hochfläche übergeht, bestehen in seinem nördlichen und östlichen Teil mehrere Schicht- und Bruchstufen. So fallen am Nordrand zwei Schichtstufen ins Auge, die das Mittelgebirge gegenüber dem Nordpfälzer Bergland abgrenzen. Dies sind einerseits die Staufer Schicht bei Ramsen mit einer Höhe von 40 bis 70 Metern und andererseits eine wesentlich höhere Landstufe aus Rehberg- und Karlstalschichten, die bei Landstuhl in einer Mächtigkeit von etwa 200 Metern parallel zur Westricher Niederung verläuft. Im Osten bildet der Gebirgsrand eine markante, etwa 300 bis 400 Meter hohe Bruchstufe, die in ihrem Nord- und Mittelteil hauptsächlich aus Gesteinen des Unteren und Mittleren Buntsandstein besteht und nur von engen Kerbtälern unterbrochen wird. Südlich der Queich setzt sich aufgrund der veränderten geologischen Voraussetzungen diese Bruchstufe nicht mehr als kompakte Gebirgsmauer, sondern als offene Kette eher voneinander getrennter Kegel- und Rückenberge fort. Dieses Landschaftsbild gilt für den gesamten südöstlichen Teil des Pfälzerwaldes, sodass sich in diesem Bereich keine zusammenhängenden Schichtstufen ausbildeten. Auch die Karlstalschichten treten im zentralen und östlichen Pfälzerwald nicht als zusammenhängende Gesteinsschicht, sondern nur als isolierte Felsstufen auf. Da die Gesteinsschichten generell schräg gestellt sind, werden diese in höheren Bergregionen wie auf dem Rahnfels (), dem Teufelsberg bei Burrweiler () und der Kalmit () angetroffen (siehe Abschnitt Mittlerer Buntsandstein). Täler Charakteristisch für den Unteren und Mittleren Buntsandstein sind tief in das Gesteinspaket eingeschnittene enge Kerbtäler mit schmaler Talsohle und steilen Seitenhängen. Sie sind die typische Talform im mittleren Pfälzerwald, während in seinem südlichen und nördlichen Teil eher sogenannte Kastentäler mit breiterer Talsohle überwiegen. Im Oberlauf der Bäche nimmt die Höhendifferenz zwischen Talboden und umgebenden Berghängen mehr und mehr ab, sodass Muldentäler mit Fließgewässern und Dellen ohne Fließgewässer das Relief charakterisieren. Ein Beispiel für diese Formen ist das Wellbachtal: Vom Eschkopf talabwärts Richtung Annweiler ist es zunächst ein Muldental, das nach wenigen Kilometern in ein Kerbtal übergeht. Nach Einmündung des Modenbachs am Zwiesel entsteht ein Kastental, das sich nach fünf bis sechs Kilometern mit dem Queichtal vereinigt. Im südwestlichen Pfälzerwald, zum Beispiel im Bereich Eppenbrunn, Fischbach und Ludwigswinkel, prägen Woogtäler das Landschaftsbild. Ihr Talboden ist besonders breit und eignet sich deshalb gut zur Anlage von Teichen (Wooge), Weihern und kleinen Seen. Aufgrund der dort siedelnden vielfältigen Pflanzengesellschaften und der sie umgebenden naturnahen Mischwälder sind diese Täler, wie das Stüdenbachtal bei Eppenbrunn, wertvolle Biotope und Naturreservate. Berge In Abhängigkeit jeweils vorherrschender Gesteinsfolgen besteht im pfälzischen Buntsandsteingebirge eine Vielfalt unterschiedlicher Bergformen. Typisch für den nördlichen und mittleren Pfälzerwald sind hochaufragende Bergklötze und langgezogene trapezförmige Bergrücken mit häufig felsigem Gipfelbereich, wofür der Almersberg (564 m ü. NHN) und der am östlichen Gebirgsrand liegende Kesselberg (661,8 m ü. NHN) charakteristische Beispiele sind. Diese Landschaftsformen gehen im westlichen Pfälzerwald im Bereich des Oberen Buntsandsteins mehr und mehr in hochflächenähnliche Bergformationen mit Rodungsflächen über, an die sich westlich einer Linie Landstuhl, Waldfischbach, Pirmasens, Eppenbrunn die vom Muschelkalk dominierte Westricher Hochfläche anschließt (siehe Abschnitt Oberer Buntsandstein). Während im südwestlichen Teil des Pfälzerwaldes ähnliche geomorphologische Verhältnisse wie weiter im Norden herrschen, gelten in seinem südöstlichen Teil andere geologische Voraussetzungen. Im Bereich des Südpfälzer Sattels wurden die Schichten des Buntsandsteins besonders stark aufgewölbt und verbogen, was zu erheblicher Verwitterung und Abtragung dieser Schichten und zur Freilegung der Sedimente des Rotliegend und Zechsteins führte. Gleichzeitig blieben jedoch Teile der besonders widerstandsfähigen Trifels- und Rehberg-Schichten erhalten, sodass eine besonders vielfältige Oberflächengestalt entstand. Das typische Landschaftsbild des südöstlichen Wasgaus ist deshalb durch häufig isoliert stehende, die Schichten des Zechsteins überragende Bergformen gekennzeichnet, die einen großen Formenschatz aufweisen und häufig bizarre Felsformationen tragen. In diesem Zusammenhang unterscheidet Geiger sechs verschiedene Bergformen, wobei vor allem Bergklötze (z. B. Rindsberg), Kegelrückenberge (z. B. Rehberg), Bergrücken (z. B. Dimberg) und reine Bergkegel (z. B. Burgberg des Lindelbrunn) das Mittelgebirge kennzeichnen. Felsen Verwitterung und Abtragung haben über Jahrmillionen je nach witterungsbedingter Widerstandsfähigkeit des Sandsteins eine Vielzahl bizarrer Felsformationen geschaffen, die aufgrund der besonderen geologischen Voraussetzungen – wie im vorigen Abschnitt beschrieben – vor allem im südöstlichen Teil des Mittelgebirges zu finden sind. So werden je nach Erosion der Trifels-Schichten Felstürme (z. B. Hundsfelsen bei Waldhambach), Felswände (z. B. Asselstein bei Annweiler), Felsmauern (z. B. Dimberg bei Dimbach) und Felsklötze (z. B. Lindelbrunn bei Vorderweidenthal) unterschieden. Durch kleinförmige Verwitterung schmaler, unterschiedlich harter Schichten entstanden Felsöffnungen, Torfelsen (z. B. Eichelberg bei Busenberg) und Tischfelsen (z. B. Teufelstisch bei Hinterweidenthal) (siehe Abschnitt Rehberg-Schichten). An dem fast zwei Kilometer langen Felsenriff des Altschlossfelsens sind außerdem Felsspalten, Überhänge und Wabenverwitterung zu sehen; Felsenmeere und Blockfelder kennzeichnen dagegen eher Tal-, aber auch Bergregionen im Mittleren Pfälzerwald (siehe Abschnitt Karlstal-Schichten). Bei ungestörtem Verlauf der Gesteinsschichten würde die typische Landschaftsstruktur des Felsenlandes bereits kurz hinter Annweiler enden. Tektonische Prozesse (siehe auch Abschnitt Lagerung des Buntsandsteins) führten jedoch zu Verschiebungen und Versetzungen der einzelnen Schichten, sodass westlich der Elmsteiner Verwerfung etwa von Wilgartswiesen, Spirkelbach, Schwanheim, Erlenbach bis nach Niederschlettenbach die felsbildenden Trifels-Schichten um ungefähr 80 bis 100 Meter emporgehoben wurden und deshalb im Dahner Felsenland auch weiterhin die Oberflächenstruktur prägen. Erst westlich der (Wies-)Lauter tauchen diese Schichten endgültig unter die jüngeren Rehberg- und Karlstalschichten, sodass das Landschaftsbild des westlichen Wasgaus ab dort eher dem des Mittleren Pfälzerwaldes entspricht. Wasserhaushalt Ein typisches Merkmal des Pfälzerwaldes ist sein Wasserreichtum, der zu einem differenzierten System von Bächen, kleinen Flüssen und Feuchtgebieten, z. B. Mooren, Weihern und kleinen Seen geführt hat. Seine Wasserführung ist im Allgemeinen sehr gleichmäßig, sodass auch bei anhaltenden Trockenperioden oder sehr niederschlagsreicher Witterung ein ausgeglichener Wasserhaushalt gewährleistet ist. Dafür sind nicht nur die überdurchschnittlich hohen Niederschlagsmengen im Gebirge, die in mittleren und höheren Lagen etwa 900 bis 1100 mm betragen, sondern vor allem auch die hydrogeologischen Eigenschaften der verschiedenen Gesteine des Buntsandsteins verantwortlich. Die durch Verwitterung entstandenen Sandböden sind sehr wasserdurchlässig, sodass Niederschlagswasser schnell in den Boden einsickern und als Grundwasser durch Klüfte und Spalten des Sandsteinpakets weitergeleitet werden kann (Kluftgrundwasserleitung). Dieses Grundwasser wird anschließend in verschiedenen Felszonen, sogenannten Grundwasserstockwerken, gespeichert und nur verzögert als Quellwasser wieder an die Oberfläche abgegeben. Von den einzelnen Schichten des Buntsandsteins sind in diesem Zusammenhang die umfangreichen Felsbänke und -zonen der Trifels-Schichten im Unteren Buntsandstein und die Felszone der Karlstalschichten im Mittleren Buntsandstein von besonderer Bedeutung, da in ihnen auch umfangreichere Grundwassermengen, unter anderem durch teilweise Erweiterung der Klüfte zu größeren Hohlräumen und Kleinhöhlensystemen (Sandsteinverkarstung), rasch weitergeführt und längerfristig gespeichert werden. Auch die Bedingungen für die Grundwasserneubildung sind günstig: Aufgrund hoher Versickerungsraten und damit geringem Oberflächenabfluss verdunsten nur zwei Drittel der jährlichen Niederschlagsmenge, sodass der Rest direkt dem Grundwasser und seiner Neubildung zur Verfügung steht. Das reichlich vorhandene Grundwasser tritt in einer Vielzahl von Quellen und Feuchtgebieten an die Oberfläche und wird zum Teil durch den Bau ergiebiger Tiefbrunnen für die Bevölkerung genutzt. Es ist ein Charakteristikum des Buntsandsteins, dass in seiner Schichtfolge grundwasserleitende Felszonen von Dünnschichten mit eher tonig gebundenen Sandsteinen abgelöst werden (siehe Abschnitt Buntsandstein). Diese Schichtserien sind nur wenig wasserdurchlässig und bilden deshalb häufig Quellhorizonte, in denen das Grundwasser als Schichtquelle an die Oberfläche treten kann; ein Beispiel bietet hierfür die Rehbergquelle, die an einer Dünnschicht der Rehberg-Schichten im Gipfelbereich dieses Berges entspringt. Schichtquellen sind daher der am häufigsten vorkommende Quelltyp des Pfälzerwaldes, während Verwerfungsquellen im Grenzbereich von wasserleitenden und wasserstauenden Schichten wie der Wolfsbrunnen bei Bad Bergzabern und Talrandquellen wie der Lauterspring bei Kaiserslautern weniger häufig vorkommen. Nicht nur die Menge, sondern ebenso die Qualität des zur Verfügung stehenden Grundwassers machen den Pfälzerwald für viele pfälzische Gemeinden zu einem besonders wertvollen Trinkwasserreservoir. Da der Sandstein sehr mineralarm ist und sein Grundwasser deshalb nur geringe Lösungsinhalte aufweist, handelt es sich um Wasser mit niedrigem Härtebereich (Härtebereich weich). Auch Belastungen durch anthropogene Einflüsse vor allem durch Abwasser und landwirtschaftliche Düngung, sind aufgrund der Siedlungsferne vieler Brunnen und der Filterfunktion des Sandsteins selten nachweisbar. Dabei wird raumplanerisch angestrebt, die zukünftige Trinkwassergewinnung noch genauer an hydrogeologischen Kriterien auszurichten und gleichzeitig ökologische Belange, zum Beispiel den Erhalt von Feuchtbiotopen, verstärkt zu berücksichtigen. Besonderheiten Haardtsandstein Am östlichen Gebirgsrand ist in einigen Regionen hellgelber, gebleichter Sandstein aufgeschlossen, der früher bei Bad Bergzabern, Frankweiler und Hambach in großen Steinbrüchen abgebaut wurde oder wie bei Leistadt und Haardt noch abgebaut wird. Seit Entstehung der Oberrheinischen Tiefebene bildeten sich in der Bruchzone zwischen Pfälzerwald und Rheingraben zahlreiche Verwerfungen und Klüfte, durch die heiße Lösungen aufstiegen und die rötlichen Eisenoxide wegführten. Dadurch kam es am Haardtrand zur Entfärbung des Sandsteins, während diese Prozesse an anderen Stellen des Gebirges zu Ablagerungen des Eisenerzes in Klüften und Spalten führten, das vor allem zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert in Bergwerken abgebaut wurde (siehe auch Abschnitt Formationen des Zechstein). Eines dieser Bergwerke der St.-Anna-Stollen bei Nothweiler, ist als Besucherbergwerk ausgebaut. Bei einer Führung und in einem kleinen Museum werden die geologischen Vorgänge veranschaulicht und die teilweise extremen Arbeits- und Abbaubedingungen unter Tage direkt erlebt. Frühere vulkanische Aktivitäten am Pechsteinkopf Grundlagen Als im Paläogen der Oberrheingraben entstand, kam es unter anderem durch Zugspannungen im Bereich des Grabenbruchs zur Ausdünnung und Schwächung der Erdkruste (siehe auch Abschnitt Lagerung des Buntsandsteins) und damit zur Druckverminderung mit anschließenden Schmelzprozessen im plastischen Gestein des darunter liegenden Erdmantels. Diese Schmelzen besaßen eine geringere Dichte und damit ein geringeres Gewicht als das feste Umgebungsgestein und begannen deshalb in den Bruchstellen der Erdkruste nach oben zu steigen. Durch Druckentlastung während des Aufstiegs wurde das Magma dekomprimiert, sodass Gase, welche vorher in ihm gelöst waren, entweichen konnten. Es entstand ein Gasüberdruck, dessen Intensität unter anderem davon abhing, wie stark das Magma vorher mit Gasen durchsetzt war. Bei einem Vulkanausbruch treten deshalb entweder explosive – bei hohem Gasdruck – oder länger anhaltende, effusive Eruptionen – bei niedrigerem Gasdruck – auf. Entstehung des Vulkans Während es bei der Bildung des Oberrheingrabens in verschiedenen Regionen zu erhöhtem Vulkanismus kam – Beispiele sind der Kaiserstuhl in Südbaden, der Vogelsberg in Mittelhessen und der Katzenbuckel im Odenwald –, wurden im Gegensatz dazu im Bereich des pfälzischen Grabenbruchs nur am Pechsteinkopf bei Forst vulkanische Aktivitäten nachgewiesen. Dabei erfolgte seine Entstehung in mehreren Abschnitten: In einer ersten Phase kam es durch explosive Eruption zur Ausbildung eines Sprengtrichters, der sich mit vulkanischen Lockermassen (Tephra) wie etwa Bomben, Schlacke, Lapilli und Asche füllte. Anschließend stieg in einem zweiten Abschnitt Magma wahrscheinlich in ruhiger und nicht explosiver Form (effusive Eruption) nach oben, sodass es allmählich abkühlen und erstarren konnte. Es sonderten sich im Förderschlot des Vulkans innerhalb der Tephra dunkle, aufrecht oder schräg stehende Säulen aus Olivinnephelinit ab, wobei nicht sicher ist, ob das Magma die damalige Oberfläche erreichte. In diesem Zusammenhang äußern einige Autoren die Auffassung, dass während der effusiven Phase ebenfalls Gasexplosionen auftraten und Säulen zu Brocken zertrümmerten. Andere Autoren vertreten eine andere Erklärung. Die im Vulkanschlot erkennbaren, steil verlaufenden Spalten sind demnach nicht das Ergebnis der vulkanischen Aktivitäten, sondern späterer tektonischer Bewegungen im Grabenbruch. Zum Alter des Vulkans liegen unterschiedliche Angaben vor: Während ältere Untersuchungen von 29 oder 35 Millionen Jahren ausgingen, ergaben neuere geologische Untersuchungen unter anderem mit Hilfe der Kalium-Argon-Methode ein Alter von 53 Millionen Jahren. Bis in die 1980er Jahre wurde in einem Steinbruch das basaltartige Gestein großflächig abgebaut; das stillgelegte Gelände bildet ein Geotop, in welchem die verschiedenen, oben beschriebenen vulkanischen Prozesse und ihre Gesteinsablagerungen vor Ort besichtigt werden können. Siehe auch Literatur Michael Geiger u. a. (Hrsg.): Der Pfälzerwald, Porträt einer Landschaft. Verlag Pfälzische Landeskunde, Landau/Pf. 1987, ISBN 3-9801147-1-6, S. 21–46. Michael Geiger: Die Landschaften der Pfalz. In: Michael Geiger u. a. (Hrsg.): Geographie der Pfalz. Verlag Pfälzische Landeskunde, Landau/Pf. 2010, ISBN 978-3-9812974-0-9, S. 98–101. Jost Haneke/Michael Weidenfeller: Die geologischen Baueinheiten der Pfalz. In: Michael Geiger u. a. (Hrsg.): Geographie der Pfalz. Verlag Pfälzische Landeskunde, Landau/Pf. 2010, ISBN 978-3-9812974-0-9, S. 74–91. Adolf Hanle: Meyers Naturführer, Pfälzerwald und Weinstraße. Bibliographisches Institut, Mannheim 1990, ISBN 3-411-07131-1, S. 7–12. Ulrike Klugmann (Hrsg.): Naturpark PfälzerWald Naturmagazin draußen, Nr. 24. Harksheider Verlagsgesellschaft, Norderstedt o. J., S. 20–29. Landesamt für Geologie und Bergbau Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Geologie von Rheinland-Pfalz. Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 2005, ISBN 3-510-65215-0. Landesamt für Geologie und Bergbau Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Geologische Übersichtskarte von Rheinland-Pfalz 1: 300 000. Mainz 2003. Landesamt für Geologie und Bergbau Rheinland-Pfalz (Hrsg.): Steinland-Pfalz. Verlag von Zabern, Mainz 2005, ISBN 3-8053-3094-4. Roland Walter: Geologie von Mitteleuropa. Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-510-65225-9. Ludwig Spuhler: "Einführung in die Geologie der Pfalz". Verlag der pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften Speyer, 432 S., 4 Karten, 55 + 106 Abb., Speyer 1957. Wolfgang Stucke: “Geologie und Tektonik im Bereich der Elmsteiner Störung zwischen Wilgartswiesen und Eschkopf (Pfälzerwald)”, 198 S., 94 Abb., (Doktorarbeit Universität Karlsruhe) Karlsruhe, 1977 Geologische Übersichtskarte 1 : 200 000 Blatt Mannheim, CC 7110, Hannover 1986. Weblinks Pollichia, Verein für Naturforschung und Landespflege e. V., Arbeitskreis Geowissenschaften Landesamt für Geologie und Bergbau Rheinland-Pfalz Deutsche Stratigraphische Kommission Einzelnachweise Pfälzerwald Felsen in Rheinland-Pfalz Germanische Trias Pfälzerwald
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https://de.wikipedia.org/wiki/Der%20begossene%20G%C3%A4rtner
Der begossene Gärtner
Der begossene Gärtner (auch bekannt als Der begossene Rasensprenger; französischer Originaltitel: L’Arroseur arrosé) ist ein französischer Kurzfilm aus dem Jahr 1895. Er zählt zu den zehn Filmen der Filmpioniere Auguste und Louis Lumière, die bei der ersten öffentlichen Präsentation ihres Cinématographe am 28. Dezember 1895 im Pariser Salon Indien du Grand Café vorgeführt wurden. Der rund 50 Sekunden lange Streifen gilt als der erste inszenierte Spielfilm der Geschichte; die auf visuellem Humor aufbauende Handlung nahm die Entwicklung der Slapstickkomödie vorweg, führte aber auch das Element der Suspense im neuen Medium Film ein. Der begossene Gärtner wurde in den Anfangsjahren der Filmgeschichte häufig kopiert, daneben war der Film Vorbild für eine Vielzahl von Werken mit ähnlichen Gags. Heute zählt Der begossene Gärtner zu den bekanntesten Werken der frühen Filmgeschichte, auch wenn die Verfilmung eines fiktionalen Stoffes lange als untypisch für das Schaffen der Brüder Lumière galt. Handlung Ein Gärtner gießt Gartenbeete mit einem Wasserschlauch. Von ihm unbemerkt schleicht sich ein Junge heran, der auf den Schlauch tritt. Als daraufhin die Wasserzufuhr versiegt, inspiziert der Gärtner den Schlauch. In diesem Moment hebt der Junge seinen Fuß, das Wasser fließt wieder und der Gärtner wird von dem Wasserschwall ins Gesicht getroffen. Lachend versucht der Junge wegzulaufen, doch holt ihn der Gärtner ein, führt ihn zurück zum Ort des Geschehens und versohlt ihm den Hintern. Entstehungsgeschichte Louis und Auguste Lumière, die mit ihrer Société Lumière zu den führenden Produzenten fotografischer Platten zählten, hatten nach mehrmonatiger Entwicklungsarbeit am 13. Februar 1895 den Cinématographe, eine Apparatur, die als Filmkamera, Kopiermaschine und Filmprojektor eingesetzt werden konnte, zum Patent angemeldet. Sie präsentierten ihre Erfindung erstmals am 22. März 1895 in Paris vor der Société d’Encouragement à l’Industrie Nationale. Für die Vorführung hatten sie eigens den knapp einminütigen Film Arbeiter verlassen die Lumière-Werke produziert, der beim Fachpublikum für großes Aufsehen sorgte. Die Brüder Lumière traten mit ihrer Erfindung in Konkurrenz zu Thomas Alva Edison, in dessen Laboratorien bereits 1891 mit dem Kinetograph eine Filmkamera entwickelt wurde und der seit 1893 kommerziell Filme für das Kinetoskop, ein Bildbetrachtungsgerät, produzierte. Während Edison aber seine Filme in einem eigens errichteten Filmstudio, der Black Maria, drehen ließ, bevorzugten die Brüder Lumière als passionierte Fotografen die Arbeit im Freien. Als Reaktion auf die erste erfolgreiche Präsentation des Cinématographe nahmen die Lumières im Frühjahr und Sommer 1895 weitere Filme in ihrer Heimatstadt Lyon sowie in der südfranzösischen Hafenstadt La Ciotat auf. Mit ihren gerade einmal 50 Sekunden langen Aufnahmen dokumentierten sie Szenen aus der Arbeitswelt, aber auch Alltägliches wie das Füttern eines Kleinkinds (Babys Frühstück). Die Laufzeit der Filme entsprach der maximalen Länge der Filmstreifen von 17 Metern, die in den Cinématographe eingelegt werden konnte. Der im Frühjahr 1895 aufgenommene Streifen Der begossene Gärtner nimmt unter den ersten Filmen der Brüder Lumière eine Sonderstellung ein. Im Gegensatz zu den dokumentarischen Aufnahmen (die später als actualités bezeichnet wurden), wurde bei diesem Film eine Handlung sorgfältig inszeniert. Nach eigenen Angaben hatte Louis Lumière mit Der begossene Gärtner einen Streich nachgestellt, den sein jüngerer Bruder Edouard als Zehnjähriger einem Gärtner gespielt hatte. Eine ähnlich strukturierte Geschichte wurde allerdings mehrmals in Comics beschrieben. Eine populäre Bildergeschichte namens L’Arroseur wurde im Jahr 1887 von Hermann Vogel gezeichnet; ein auch visuell stark dem Film ähnelnder Comic wurde 1889 von dem französischen Zeichner Christophe (Georges Colomb) unter dem Titel Histoire sans paroles – un Arroseur public veröffentlicht. Der begossene Gärtner wurde mit François Clerc, dem Gärtner der Familie, und Benoît Duval, einem Tischlergesellen aus der Nachbarschaft, in Szene gesetzt. Edouard Lumière trat nicht selbst vor die Kamera, da er als zu jung für diese Aufgabe erachtet wurde. Der Film wurde im Garten des lumièreschen Landhauses in Clos des Plages bei La Ciotat in einer einzigen Einstellung aufgenommen, was von den Darstellern erforderte, sich innerhalb des von der Kamera erfassten Bildfelds zu bewegen. Aufführungsgeschichte Die erste Vorführung von Der begossene Gärtner erfolgte am 10. Juni 1895, als Louis und Auguste Lumière während eines mehrtägigen Kongresses der französischen Fotografenvereinigung in Lyon erstmals eine Auswahl ihrer Filme in einem größeren Rahmen vorstellten. In den folgenden Monaten fanden weitere private Vorführungen der Lumière-Filme für Mitglieder fotografischer und wissenschaftlicher Gesellschaften statt, darunter im November 1895 auch erstmals in Belgien. Der begossene Gärtner, damals noch unter dem Titel Le Jardinier (Der Gärtner) angekündigt, zählte bei fast allen Aufführungen zu den vorgestellten Filmen. Berichte über diese Veranstaltungen in den Fachzeitschriften erweckten ein großes Interesse an dem Cinématographe. Angesichts der zahlreichen Anfragen nach weiteren Filmvorführungen entschlossen sich die Lumières, eine erste kommerzielle Vorführung ihrer Filme vorzubereiten. Antoine Lumière, der Vater von Louis und Auguste, mietete einen Kellerraum im Grand Café am Pariser Place de l’Opéra an und bereitete dort eine erste Präsentation vor. Die erste Vorführung fand am 28. Dezember 1895 vor Theaterbetreibern und Pressevertretern statt. Innerhalb einer Viertelstunde wurden zehn Filme vorgeführt; gemäß dem überlieferten Programm wurde Le Jardinier als sechster Film gezeigt. Insgesamt fanden sich am 28. Dezember nur 33 zahlende Kunden ein. In den folgenden Tagen stieg die Zahl der Interessenten aber kontinuierlich an, so dass im Januar 1896 bis zu 2500 Zuschauer täglich die Vorführungen besuchten. Das Eintrittsgeld betrug 1 Franc. Parallel zu dem Cinématographe wurden in Deutschland, in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien konkurrierende Filmprojektoren entwickelt, doch dank der technischen Überlegenheit und der professionellen Vermarktung des Cinématographe setzten sich die Lumières mit ihrem System durch und wurden innerhalb weniger Monate zu den weltweit führenden Filmproduzenten. Im Jahr 1896 wurde der Cinématographe in zahlreichen europäischen Staaten, in Nordamerika, Mexiko, Nordafrika, Indien, Japan und Australien präsentiert. Bei der ersten Vorführung des Cinématographe durch Félicien Trewey in London am 20. Februar 1896 zählte Der begossene Gärtner unter dem englischsprachigen Titel Watering the Gardener zu den gezeigten Filmen, wohingegen der Film bei der New Yorker Premiere am 29. Juni 1896 als The Gardener and the Bad Boy angekündigt wurde. Auch bei den ersten von Ludwig Stollwerck organisierten Filmvorführungen in Köln im April 1896 war Der begossene Gärtner Teil des Filmprogramms. Die große Nachfrage nach Filmkopien sorgte dafür, dass Der begossene Gärtner bis 1897 mindestens zweimal neu aufgenommen werden musste, da sich die Originalnegative zu schnell abnutzten. In den Katalogen der Brüder Lumière wurde der Film neben dem Originaltitel Le jardinier auch als Le jardinier et le petit espiegle, Arroseur et arrosé und schließlich unter dem heute geläufigen Titel L’Arroseur arrosé geführt. Der letzte Katalog der Société Lumière erschien 1905, in diesem wurde Der begossene Gärtner als Film No. 99 aufgelistet. Nach Ansicht des Filmhistorikers Alan Williams ist die heute in Filmarchiven und auf DVD zugängliche Version von Der begossene Gärtner nicht die 1895 aufgeführte Originalfassung, sondern eine Neuaufnahme aus dem Jahr 1896, die zuerst unter dem Titel Arroseur et arrosé vertrieben wurde. Verantwortlich für diese Aufnahme war Francis Doublier, der zu den ersten weltweit agierenden Kameraoperateuren der Société Lumière zählte. Nach neueren Untersuchungen führt dagegen das Institut Lumière die bekannte Version, in der der übermütige Junge am Ende des Films vom Gärtner geschlagen wird, als Originalversion von 1895 auf (unter der Katalognummer 99-1). Daneben verzeichnet das Institut zwei weitere Versionen, in denen auch der Junge vom Gärtner nass gespritzt wird, als Filme No. 99-2 und 99-3. Rezeption Zeitgenössische Rezeption Die frühen Filme der Brüder Lumière wurden von ihren Zeitgenossen nicht als künstlerische Werke, sondern eher als technische Neuerung wahrgenommen. Louis Lumière selbst sah seine Erfindung als ein verbessertes chronofotografisches System, entsprechend standen beim Publikum nicht die einzelnen Filme im Vordergrund, sondern das Erlebnis, bewegte Bilder in bisher unbekannter Qualität zu sehen. Die Filmhistoriker Tom Gunning und André Gaudreault prägten für diese frühe Rezeption des Mediums Film den Begriff Kino der Attraktionen. So zeigte der Pariser Journalist Henri de Parville in einem Zeitungsartikel im April 1896 größeres Interesse an Details im Bildhintergrund wie dem „Zittern der vom Wind erregten Blätter“ als an der eigentlichen Handlung der Filme, deren Motive er nur kurz auflistete. Der russische Schriftsteller Maxim Gorki setzte sich dagegen ausführlicher mit den Filmen auseinander, die er bei einer Vorführung des Cinématographe Lumière während der Allrussischen Industrie- und Handwerksausstellung in Nischni Nowgorod im Sommer 1896 gesehen hatte. Er beschrieb seinen Besuch mit den Worten „Gestern war ich im Königreich der Schatten“. Gorki empfand die Schwarzweißbilder als verstörend und deprimierend. Er zeigte sich zugleich fasziniert und schockiert von der fotografischen Wirklichkeitstreue des Films Der begossene Gärtner, dessen Handlung er ausführlich beschrieb und schließlich feststellte: „Der Zuschauer glaubt, dass auch er im nächsten Augenblick vollgespritzt werde, und fährt unwillkürlich zurück.“ Gorkis Zeitungsartikel ist einer der wenigen zeitgenössischen Berichte, die näher auf den Film Der begossene Gärtner eingehen. Trotzdem nahm dieser Film bereits früh eine herausragende Stellung in der Rezeption des Cinématographe ein, das Bild des nass gespritzten Gärtners besaß einen hohen Wiedererkennungswert. So erklärte die französische Wochenzeitung L’Illustration im Mai 1896 die Funktionsweise eines Filmprojektors anhand einer Aufführung von Der begossene Gärtner. Ebenfalls 1896 zeichnete der Grafiker Marcellin Auzolle ein Werbeplakat für die Société Lumière, das ein lachendes Publikum während einer Aufführung von Der begossene Gärtner zeigt. Diese Grafik gilt als das erste Filmplakat, das einen individuellen Film darstellt, auch wenn in diesem Fall der Cinématographe Lumière beworben wurde. Einfluss auf andere Filmemacher Die hohe Popularität von Der begossene Gärtner führte dazu, dass zahlreiche Nachahmungen und Neuverfilmungen entstanden, die wiederum die Bekanntheit des Filmstoffes steigen ließen. Alle bedeutenden Filmproduzenten der späten 1890er Jahre griffen das Thema des nass gespritzten Gärtners auf und schufen ihre eigene Kopie als Plagiat; die Filmjournalisten Maurice Bardeché und Robert Brasillach hatten bereits 1935 in ihrer Histoire du cinéma festgestellt, dass die Filmpioniere alle im Grunde genommen die gleichen Filme gemacht hatten. Die Filmhistorikerin Jane M. Gaines listete 2006 mehr als zehn Versionen von Der begossene Gärtner auf, die zwischen 1895 und 1898 in den Vereinigten Staaten, im Vereinigten Königreich und in Frankreich entstanden sind. Der begossene Gärtner war der erste Film der Lumière-Brüder, den Edison kopieren ließ; vermutlich wurde schon eine Neuverfilmung mit Edisons Vitascope-Projektor gezeigt noch bevor der Cinématographe erstmals in den Vereinigten Staaten vorgestellt wurde. Eine weitere Version von Der begossene Gärtner entstand 1896 in den Vereinigten Staaten durch J. Stuart Blackton. Im Vereinigten Königreich sind Kopien von George Albert Smith (Gardener with Hose, or the Mischievous Boy, 1896), Birt Acres (A Surrey Garden, 1896) sowie Bamforth & Company (The Biter Bit, 1899) belegt. In Frankreich drehten sowohl Georges Méliès als auch Alice Guy zu Beginn ihrer Karriere Kopien von Der begossene Gärtner. Beide waren schon früh mit den Filmen der Brüder Lumière vertraut; Méliès zählte zu den 33 Besuchern der ersten Filmvorführung im Salon Indien, Alice Guy war bei der allerersten Vorführung des Cinématographe am 22. März 1895 zugegen. Guy drehte für Gaumont eine Reihe von Nachverfilmungen der lumièreschen Werke, darunter Anfang 1898 auch L’Arroseur arrosé. Méliès’ L’Arroseur von 1896 war seine sechste Regiearbeit, er griff darüber hinaus das Thema in dem 1903 veröffentlichten Film Un malheur n’arrive jamais seul auf, der nach Ansicht des Filmhistorikers Richard Abel wie eine Hommage auf den Lumière-Film wirkt. Auch der deutsche Filmpionier Oskar Messter vertrieb mit dem Film Fabrik-Ausgang eine eigene Version von Der begossene Gärtner, in der er den Komödienstoff mit Arbeiter verlassen die Lumière-Werke verknüpfte. Neben den verschiedenen Imitaten stand Der begossene Gärtner Pate für eine Vielzahl von Filmen, die ähnlich inszenierte Streiche zeigten. Die Handlungen glichen sich größtenteils in ihrer Grundstruktur, entsprachen aber den Erwartungen des Publikums. Die Art und Weise, wie der Streich zustande kam, war wichtiger als der eigentliche Gag. Nach Ansicht des Filmhistorikers Tom Gunning entwickelte sich eine eigene Gattung der mischief-gag-Filme, die zwischen 1896 und 1905 zu den wichtigsten Filmgenres zählte. Vor allem in den Vereinigten Staaten entstanden zahlreiche kurze Filmkomödien, in denen Lausbuben die Hauptrolle spielten. Titel wie Biographs The Bad Boy and the Poor Old Grandpa von 1897 oder Edisons The Terrible Kids von 1906 prägten das Bild der „bösen Buben“, das sich ab 1910 auch im Western-Genre wiederfand. Das Motiv des sich selbst mit dem Gartenschlauch nass spritzenden Gärtners blieb auch in den folgenden Jahrzehnten in der Filmkomödie präsent. Biographs und Vitagraphs Komödien der frühen 1910er Jahre unterschieden sich in ihrer Handlung kaum von den Werken der frühen Filmgeschichte. Mack Sennett, dessen Karriere bei Biograph begonnen hatte, entwickelte als Leiter der Keystone Studios aus diesen einfachen Komödien überaus erfolgreiche Slapstickfilme mit den Keystone Kops und Stars wie Mabel Normand und Charles Chaplin. Für den Filmtheoretiker Gerald Mast sind die Tortenschlachten der Keystone-Komödien eine direkte Weiterentwicklung des Gags aus Der begossene Gärtner. Chaplin konnte sich allerdings 1914 nicht bei Normand und Sennett mit der Idee durchsetzen, in die Handlung des Kurzfilms Mabel at the Wheel den Gartenschlauch-Gag einzubauen. Eine moderne Neuverfilmung von Der begossene Gärtner schuf der britische Filmemacher Malcolm Le Grice 1974 mit dem experimentellen Kurzfilm After Lumière – L’Arroseur arrosé. Weitere Reverenzen zu Der begossene Gärtner finden sich unter anderem in François Truffauts Kurzfilm Die Unverschämten, in David Lynchs Thriller Blue Velvet sowie in der Episode Der Videobeichtstuhl in der Zeichentrickserie Die Simpsons. Filmhistorische Bewertung Einordnung als Genrefilm Auch wenn Louis und Auguste Lumière keineswegs als Erfinder des Films oder Kinos betrachtet werden können, ist ihr Beitrag zur Etablierung des Mediums Film in der Filmwissenschaft unbestritten. Für den Filmhistoriker David A. Cook markierte der Cinématographe den „Höhepunkt der Vorgeschichte des Kinos“. Der begossene Gärtner gilt als „Geburtsstunde des Spiel-Films“ und kann – so Siegfried Kracauer – als „Keimzelle und Urbild aller späteren Filmlustspiele“ betrachtet werden. Zwar gab es bereits vorher Filme mit komischen Inhalten, so den 1894 von William K. L. Dickson für Edison gedrehten Streifen Fred Ott’s Sneeze, doch wiesen diese Filme keine Handlung auf. Für die Filmwissenschaftlerin Corinna Müller erfüllt Der begossene Gärtner dagegen den „Tatbestand einer filmischen ‚Narration‘“. Die Filmhistorikerin Lisa Trahair beschrieb drei Komponenten in Der begossene Gärtner, die den Stil der Filmkomödie in den folgenden Jahren bestimmten: eine narrative Struktur, ein Gag und ein Mechanismus zum Auslösen des Gags (hier der Gartenschlauch). In Anlehnung an den Philologen Wladimir Propp definierte Noël Burch die Elemente Beginn, Fortführung und Abschluss der Handlung als minimale Anforderungen an einen narrativen Film; diese seien bei Der begossene Gärtner erfüllt. Wegen des Fehlens einer Montage könne aber nach Ansicht von Roger Odin nur von einer extrinsischen narrativen Struktur gesprochen werden. Der Romanist Hans-Jürgen Lüsebrink sieht dagegen in Der begossene Gärtner die ersten „episch-narrativen“ Strukturen, die den frühen französischen Film und dessen Verhältnis zur Literatur kennzeichnen. Aufgrund der Inspiration des Films durch die Bildergeschichten von Vogel und Colomb wird Der begossene Gärtner auch als die erste Literatur- und Comicverfilmung der Geschichte betrachtet. Neben der Inszenierung des visuellen Gags gelang mit Der begossene Gärtner die Einführung der Suspense als dramatisches Mittel im Film. Zwar handelt es sich bei dem Film nicht um einen Hitchcock-Thriller, doch wird Spannung dadurch erzeugt, dass der Zuschauer einen Wissensvorsprung gegenüber dem ahnungslosen Gärtner besitzt. Die Spannung entlädt sich schließlich in dem komischen Moment des Films. Louis Lumière folgte durch die Wahl der Totalen als Einstellungsgröße der ersten Regel der Suspense: „Teile dem Zuschauer alle Fakten mit“. Spannung ergibt sich auch aus der Frage, ob der Gärtner den Lausbuben erwischen kann. Damit enthält Der begossene Gärtner ein Element der chase films, der gefilmten Verfolgungsjagden, die sich zwischen 1904 und 1907 zu einem der populärsten Genres des frühen Kinos entwickelten. Für den Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser ergibt sich ein weiteres Spannungsmoment aus der Frage, ob die Handlung innerhalb der Filmlänge, die durch das Filmmaterial vorgegeben war, abgeschlossen werden kann. Dadurch besaßen die frühen Lumière-Filme eine durch das klassische Erzählkino vertraute „Countdown-Struktur“. Stilistische Bewertung Da Der begossene Gärtner einen klar erkennbaren fiktionalen Inhalt besitzt, wurde der Streifen von Filmhistorikern wie Siegfried Kracauer als „nicht charakteristisch“ für das Werk der Brüder Lumière angesehen. In der Bewertung des Werkes hat allerdings seit den 1970er Jahren ein Wandel eingesetzt, der nach Ansicht von Thomas Elsaesser einer „Neuinterpretation“ der Lumière-Filme gleichkommt. Die Lumières gelten nicht mehr ausschließlich als Schöpfer nicht-narrativer, dokumentarischer Filme, sondern werden in der sogenannten „Neuen Filmgeschichte“ als Schöpfer „realistischer Illusionen“ betrachtet. Nicht nur in Der begossene Gärtner, sondern auch in den Ansichten und Aktualitätenfilmen wurde die Filmkamera so platziert, dass „dank einer Reihe sorgsam getroffener Entscheidungen eine logische Erzählstruktur“ vermittelt werden konnte. Der Inszenierung der Handlung in Der begossene Gärtner entsprach die sorgsame Inszenierung der Wirklichkeit in dokumentarischen Ansichten wie Arbeiter verlassen die Lumière-Werke. Da die frühen Filme der Société Lumière im Tableau-Stil ohne Kameraschwenk gedreht wurden, musste das zur Verfügung stehende Bildfeld optimal ausgenutzt werden. Bei Der begossene Gärtner ist die Mise-en-scène (Bildgestaltung, Bildkomposition) besonders gut durchdacht. Mit der genau ausgearbeiteten Choreografie der Zick-Zack-Bewegungen der Figuren im Film gelang es Louis Lumière, den Rahmen der technischen Möglichkeiten zu erkunden. Die Beschränkung des Bildrahmens wird vor allem dadurch augenscheinlich, dass der Gärtner den Jungen ins Bild zerren muss, um ihn zu züchtigen. Gemäß Thomas Elsaesser kann man bei Der begossene Gärtner von einem doppelten Rahmen sprechen: es gibt einen zeitlichen Rahmen, innerhalb dessen die Handlung stattfinden muss, und einen räumlichen Rahmen, über den hinweg die Handlung nicht stattfinden darf. In der Auseinandersetzung mit der Begrenzung des Bildrahmens inszenieren die Brüder Lumière einen „selbstreflexiven Blick“. Dabei wurden die Vorgaben einer zentrierten Bildkomposition bewusst missachtet, so ist der Gärtner zu Beginn in der linken Bildhälfte zu sehen. Trotzdem besitzt Der begossene Gärtner – wie auch viele andere Filme der Lumière-Brüder – eine Symmetrie in der Handlung; vor allem in den späteren Versionen des Films zeigt sich eine „Spiegelung“, in der der Gärtner den Jungen nicht mehr schlägt, sondern ebenfalls nass spritzt. Das Motiv der Spiegelung und Umkehr wird bereits im Originaltitel Arroseur arrosé (sinngemäße Übersetzung: Der begossene Begießer) angedeutet. Symmetrisch ist auch der bildliche Rahmen, in dem die Handlung eingebettet ist. Das letzte Bild entspricht genau dem Beginn des Films, die Ordnung ist für den Gärtner wiederhergestellt. Literatur Georges Sadoul: Louis Lumière. Seghers, Paris 1964. Tom Gunning: Crazy Machines in the Garden of Forking Paths: Mischief Gags and The Origins of American Film Comedy. In: Kristine Brunovska Karnick, Henry Jenkins (Hrsg.): Classical Hollywood Comedy. Routledge, New York 1995, ISBN 0-415-90640-7, S. 88–105. Thomas Elsaesser: Filmgeschichte und frühes Kino: Archäologie eines Medienwandels. edition text + kritik, München 2002, ISBN 3-88377-696-3. Weblinks Louis & Auguste Lumière - L'arroseur arrose' - 1896 Website des Institut Lumière (französisch) Anmerkungen und Einzelnachweise Filmtitel 1895 Französischer Film Schwarzweißfilm Stummfilm Kurzfilm Slapstick-Film Brüder Lumière Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Spanisch-Portugiesischer%20Krieg%20%281735%E2%80%931737%29
Spanisch-Portugiesischer Krieg (1735–1737)
Der Spanisch-Portugiesische Krieg war ein militärischer Konflikt zwischen dem Königreich Spanien und dem Königreich Portugal in den Jahren 1735 bis 1737. Die Operationen des formell unerklärten Krieges beschränkten sich fast ausschließlich auf die südamerikanischen Kolonien, wo beide Staaten um ihren Einfluss in der Banda Oriental am Río de la Plata (heutiges Uruguay) kämpften. Durch die Vermittlung von Großbritannien und Frankreich kam es letztlich zu einer vertraglichen Einigung der Kriegsparteien und der Wiederherstellung des Status quo ante. Während der konkrete Verlauf des Konfliktes in Südamerika maßgeblich durch die Initiative der jeweiligen Verantwortlichen vor Ort geprägt wurde, kam es in Europa lediglich zu diplomatischen Auseinandersetzungen. Sie verliefen, bedingt durch die großen Entfernungen zum Kriegsschauplatz und die damit einhergehenden Probleme in der Kommunikation, sehr schleppend. Nach dem Historiker Heinz Duchhardt ist dieser Konflikt ein zumindest für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts gültiges Beispiel für „das Bemühen, koloniale Konflikte auszugrenzen und nicht zu einer Belastung der europäischen Staatenbeziehungen werden zu lassen“. Erst später habe sich die Tendenz eingestellt, Konflikte aus Übersee auch als zentral für die europäischen Verhältnisse einzustufen. Vorgeschichte Koloniale Hintergründe Seit dem Vertrag von Tordesillas (1494) besiedelten das Königreich Spanien und das Königreich Portugal den südamerikanischen Kontinent und errichteten dort Kolonien. Dabei blieb zwischen dem portugiesischen Villa da Laguna und dem spanischen Buenos Aires ein unbesiedeltes Gebiet, die sogenannte Banda Oriental, auf das beide Seiten Anspruch erhoben. Prinz Dom Pedro, seit 1667 Regent und ab 1682 als Pedro II. König von Portugal, ergriff 1678 die Initiative und befahl die Besetzung des umstrittenen Gebietes. Zu seinem Schutz vor Spanien wurde 1680 am Río de la Plata gegenüber von Buenos Aires die befestigte Nova Colônia do Sacramento (dt.: Neue Kolonie des Heiligen Sakraments) angelegt. Zwar reagierten die Spanier umgehend mit einem militärischen Angriff auf die vermeintliche Verletzung ihrer Rechte in dieser Region und zerstörten die portugiesische Siedlung noch im gleichen Jahr, doch die internationale Lage gab schließlich den Ausschlag zugunsten Portugals. Spanien befand sich im Krieg gegen Frankreich (→ Reunionskrieg) und war auf gute oder zumindest nicht feindselige Beziehungen zu Portugal angewiesen. Am 7. Mai 1681 einigte man sich darauf, dass das Gebiet vorläufig weiter beiden Seiten offenstehen und die Kolonie Sacramento wiederhergestellt werden sollte. Die am 24. Februar 1682 neu errichtete Colônia do Sacramento war aufgrund ihrer geostrategischen Lage von Bedeutung, auch wenn sie kaum über Verbindungen zu den restlichen brasilianischen Kolonien verfügte. Sie beherrschte teilweise den Río de la Plata und setzte dem Vordringen der Spanier in die Banda Oriental Grenzen. Daneben bildete Sacramento bald einen wichtigen Wirtschaftsfaktor für den Zwischenhandel und trat somit in direkte Konkurrenz zu Buenos Aires. Bereits nach etwa 20 Jahren hatte sich der Ort zu einem der wichtigsten Umschlagsorte vor allem für Schmuggelwaren in den südamerikanischen Kolonien entwickelt, und obwohl die spanische Krone die Situation dringend ändern wollte, waren ihr aufgrund der weiterhin angespannten Situation in Europa die Hände gebunden. Nachdem der Bourbone Philipp V. den spanischen Thron bestiegen hatte, versuchte auch er umgehend ein gutes Verhältnis zu Portugal herzustellen, indem er am 18. Juni 1701 vertraglich die portugiesischen Besitzungen garantierte. Allerdings trat der Lissaboner Hof 1703 trotzdem der antibourbonischen Koalition bei, und somit weitete sich der Spanische Erbfolgekrieg (1701–1714) auch auf Südamerika aus. Dabei wurde Colônia do Sacramento im März 1705 von spanischen Truppen erobert. Erst im Frieden von Utrecht legten beide Seiten am 6. Februar 1715 ihre Streitigkeiten bei; Spanien gab auf Druck Englands und Frankreichs Colônia do Sacramento an Portugal zurück. Ungeklärt blieb, welchen Umfang die Kolonie genau haben sollte. Die Portugiesen verstanden darunter das gesamte Gebiet bis zum nördlichen Ufer des Río de la Plata, während die Spanier davon ausgingen, dass nur die Stadt Colônia do Sacramento selbst gemeint war und das Gebiet, welches ihre Geschütze beherrschen konnten (Kanonenschussweite). Nördlich dieser Entfernung bezogen daher spanische Kavallerieposten Stellung und verhinderten jeden Vorstoß portugiesischer Siedler nach Norden an den Río Uruguay. Die Portugiesen protestierten zwar, konnten sich jedoch nicht durchsetzen. Stattdessen orientierten sie sich nach Süden auf die Küstenregion, wo eine kleine Militärexpedition am 27. November 1723 an der Mündung des Río de la Plata einen neuen Stützpunkt errichtete. Die Spanier reagierten wiederum mit einer Blockade und vertrieben das portugiesische Kontingent. Sie übernahmen jedoch den Stützpunkt, nun San Felipe y Santiago de Montevideo genannt, und bauten ihn bis 1726 zu einer florierenden Kolonie aus. Damit war Colônia do Sacramento nördlich und südlich von spanischen Territorien umgeben und nur über See mit den übrigen portugiesischen Kolonien verbunden. Die anschließenden Reibereien und Proteste der Portugiesen führten zu nichts. Allerdings waren in jener Zeit sämtliche europäischen Mächte so sehr auf die gleichzeitigen Krisen in Europa (→ Englisch-Spanischer Krieg) konzentriert, dass ein offener Kriegsausbruch auf der Iberischen Halbinsel vorerst vermieden wurde. Ausbruch der Feindseligkeiten Das Königreich Portugal gehörte mit seinen 2,1 Millionen Einwohnern in Europa zu den kleinen Mächten ohne ein großes Militär und mit nur einer kleinen Flotte von nie mehr als 25 Linienschiffen. König Johann V. interessierte sich ohnehin kaum für die Außenpolitik und konzentrierte sich fast ausschließlich auf die inneren Angelegenheiten seines Landes oder beschränkte sein Interesse auf die Iberische Halbinsel. Der engste Verbündete des Landes war seit 1654 das Königreich Großbritannien, mit dem spätestens seit dem Methuenvertrag (27. Dezember 1703) enge wirtschaftliche Beziehungen sowie ein Bündnisabkommen existierten. Seit dem Utrechter Frieden waren die territorialen Verhältnisse in Südamerika ungeklärt geblieben und zum ständigen Streitpunkt in den portugiesisch-spanischen Beziehungen geworden. Selbst ein von beiden Seiten anvisiertes und vorteilhaftes Handelsabkommen scheiterte an diesem offenen Konflikt. Bei seiner Abreise im Jahr 1733 erhielt der neue Gouverneur des Río de la Plata, Miguel de Salcedo y Sierralta (1689–1765), vom spanischen Außen- und Kriegsminister José de Patiño y Morales daher den Auftrag, die Bewegungen der Portugiesen in der Banda Oriental einzuschränken, Druck auszuüben und die seit 1716 noch offenen territorialen Fragen mit dem Gouverneur von Sacramento zu klären. Im Jahr 1734 nach dem Ausbruch des Polnischen Thronfolgekrieges, in dem sich auch König Philipp V. von Spanien militärisch engagierte, griff eine zunehmend antispanische Stimmung am Lissaboner Hof um sich. Es kamen Gerüchte auf, es sei geplant, in Spanien zu intervenieren, die Königin Elisabetta Farnese zu vertreiben und dem Kronprinzen Ferdinand (seit 1729 verheiratet mit einer portugiesischen Prinzessin) auf den Thron zu verhelfen. Gleichzeitig machte König Johann Ansprüche auf Territorien in Galicien geltend. In diesem Sinne versuchte er die britische Regierung für einen Krieg gegen Spanien zu gewinnen, was vom britischen Botschafter Baron Tyrawley unterstützt wurde. Doch der leitende Minister Robert Walpole dachte nicht daran, sich in den aktuellen kontinentalen Krieg hineinziehen zu lassen, da er den britischen Vorteil ausschließlich im Überseehandel sah. Die Spannungen zwischen Madrid und Lissabon schlugen sich jedoch bald in einem Handelskrieg nieder, und schließlich führte ein Zwischenfall in Madrid zum offenen Bruch. Im Februar 1735 wurden einige diplomatische Vertreter Portugals in Spanien festgenommen. Nun erinnerte die portugiesische Regierung sowohl in London als auch in Den Haag an den Beistandspakt von 1703. Die Niederländer reagierten zwar nicht auf die portugiesischen Vorstellungen, doch in Großbritannien war die Öffentlichkeit ebenfalls antispanisch eingestellt. Die Händler klagten über die Behinderung durch Spanien in der Karibik und fürchteten spanische Angriffe auf die portugiesische Brasilienflotte. Letzteres hätte wirtschaftlich sehr negative Auswirkungen gehabt. Daher entschlossen sich Walpole und der Direktor des „Southern Department“ des Außenministeriums, der Duke of Newcastle, eine Flotte zu entsenden. Diese schlecht ausgerüstete und schlecht versorgte Flotte stand unter dem Befehl von Admiral John Norris und erreichte die Mündung des Tagus am 9. Juni 1735. Norris hatte jedoch Befehl, sich auf keinen Fall in einen Krieg gegen Spanien verstricken zu lassen, es sei denn, Portugal würde direkt angegriffen. Seine Aufgabe bestand lediglich im Schutz der portugiesischen Küsten und Handelsschiffe – ein Umstand, der König Johann verbitterte. Unter dem Eindruck des Bruches zwischen Portugal und Spanien sowie der sich anbahnenden englisch-portugiesischen Aktionen wurde auch die Madrider Regierung aktiv. Am 18. April 1735 schickte Außenminister José de Patiño an Gouverneur Salcedo den Befehl, nicht auf eine förmliche Kriegserklärung zu warten, sondern Colonia del Sacramento bei Gelegenheit überraschend anzugreifen und einzunehmen. Dieser Befehl sollte im August/September 1735 in Buenos Aires eintreffen und dort den Beginn eines offenen Krieges einläuten. Kriegsverlauf Auch ohne Anweisungen aus Europa spitzte sich der Konflikt in der Banda Oriental rasch zu einer bewaffneten Auseinandersetzung zu. Miguel de Salcedo y Sierralta, der spanische Gouverneur von Buenos Aires, hatte den Druck auf die Portugiesen seit 1734 immer weiter erhöht. In Erwartung einer baldigen Konfrontation ging auch Brigadegeneral Antonio Pedro de Vasconcelos in Colonia del Sacramento daran, die Stadt mittels der beiden Bastionen „San Pedro de Alcántara“ und „Santa Rita“ zu verstärken. Im Sommer stattete Salcedo schließlich den Korsaren Francisco de Alzaybar mit einem Kaperbrief aus und setzte ihn mit seinem Schiff San Bruno auf den portugiesischen Handel an. Als erstes portugiesisches Schiff fiel ihm am 29. Juli 1735 die Nossa Senhora del Rosario e Animas in die Hände, welche kurz zuvor den Hafen von Colonia del Sacramento verlassen hatte. Am 15. September folgte die Nuestra Señora de la Encina, die als Prise nach Buenos Aires gebracht wurde. Belagerung von Colonia del Sacramento Doch dies war erst der Auftakt eines umfassenden Feldzuges, den Salcedo verfolgte, ohne die versprochene Verstärkung durch zwei Fregatten aus dem Mutterland abzuwarten. Bis zum 3. Oktober 1735 versammelte er unter Don Francisco de Alzaybar 400 Soldaten, die, unterstützt durch das bewaffnete Handelsschiff San Bruno (36 Kanonen), gegen Colonia del Sacramento vorgingen. Ihnen folgten eine bewaffnete Galeere und zwei Transportschiffe mit weiteren 650 Soldaten. Dem konnte der portugiesische Gouverneur Vasconcelos zunächst lediglich ein angeworbenes englisches Handelsschiff unter Kapitän William Kelly (30 Kanonen) sowie 200 Soldaten und 500 Berittene entgegensetzen. Diese beschatteten die Bewegungen der Spanier vorerst nur. Die Spanier führten währenddessen indianische Guaraní-Hilfstruppen aus dem Umland heran. In den ersten Tagen verwüsteten die Spanier das Umland der portugiesischen Kolonie und nahmen viele Einwohner gefangen. Am 20. Oktober stand die spanische Streitmacht vor Sacramento. Sie bezog Quartiere nahe dem Ort Vedras und versuchte am 5. November einen ersten Angriff auf die Stadt, der jedoch scheiterte. Daraufhin begann Salcedo am 9. November 1735 mit einer regulären Belagerung. Diese hatte jedoch von Anfang an nur geringe Erfolgsaussichten, da Salcedo dauerhaft nur 500 Soldaten und 4.500 Indios einsetzen konnte und ihm lediglich 36 Kanonen zum Beschuss der Portugiesen zur Verfügung standen. Demgegenüber verfügte Vasconcelos in Sacramento über 935 Soldaten und 80 Geschütze, im Hafen noch ergänzt durch die Galeere Nossa Senhora da Penha de França und die kleinere Camaragipe. Dem englischen Handelsschiff unter Captain William Kelly war es unterdessen gelungen, die La-Plata-Mündung zu verlassen und den portugiesischen Gouverneur in Rio de Janeiro von den Vorgängen in der Banda Oriental zu unterrichten. Die Portugiesen hatten die vorangegangenen Tage genutzt, um die Einwohner zu bewaffnen und die Befestigungen auszubessern. Lediglich die vorgelagerte Isla San Gabriel hatten sie den Spaniern überlassen müssen. Salcedo begann am 28. November schließlich mit einem zwölftägigen Bombardement und versuchte dann am 10. Dezember, die Stadt zu erstürmen. Der Angriff wurde jedoch zurückgeschlagen, sodass die Spanier ihr Bombardement auch in den folgenden Tagen fortsetzten. Am 6. Januar 1736 traf portugiesische Verstärkung ein und durchbrach die spanische Blockade. Auf die Bitte um Hilfe, die Vasconcelos nach Rio de Janeiro geschickt hatte, waren vom dortigen Vizekönig André de Melo e Castro die Fregatten Nossa Senhora de Nazaré (50 Kanonen) und Bom Jesús de Vila Nova (20 Kanonen) mit 370 Seeleuten und 460 Soldaten unter Tomaz da Gonçalvez da Silva entsandt worden. Damit wurde ein Aushungern von Sacramento unmöglich, und Salcedo führte die Masse seiner Truppen bis zum 10. Februar nach Buenos Aires zurück. Im Umfeld der portugiesischen Siedlungen blieben lediglich 200 Infanteristen und 500 Kavalleristen zurück, um weiterhin Druck auszuüben. Portugiesische Gegenoffensiven Da die zahlenmäßig überlegenen portugiesischen Truppen von einer Dysenterie-Epidemie geschwächt wurden, konnten sie keine Vorteile aus dieser Situation ziehen. Doch bis zum 5. April 1736 holten die Portugiesen weitere 270 Soldaten heran und setzten sie zusammen mit den Schiffen Nossa Senhora de Nazaré, Bom Jesús da Confiança und dem englischen Handelsschiff von Kapitän Kelly offensiv gegen die Spanier ein. Am 18. April überfielen sie die spanischen Siedlungen am Río de la Plata und besiegten am 24. April erstmals die vor Sacramento verbliebenen spanischen Truppenkontingente. Die Initiative ging nach der Abwehr der spanischen Angriffe eindeutig auf Portugal über. In Rio de Janeiro wurde eine schlagkräftige kleine Flotte von zwei Linienschiffen (je 74 Kanonen), einer Fregatte, einer Galeere, einer Brigantine und zwei angeheuerten Handelsschiffen unter Kommodore Luiz de Abreu Prego zusammengestellt. Mit 600 Soldaten unter Brigadegeneral José da Silva Pais stieß der Verband am 25. Juni 1736 in See und verstärkte die portugiesischen Truppen in der Banda Oriental. In der Mündung des Río de la Plata kam es Ende August zu mehreren Seegefechten mit den spanischen Fregatten Hermonia (52 Kanonen) und San Esteban (50 Kanonen), die zur Verstärkung aus Spanien eingetroffen waren. Den spanischen Schiffen gelang es, sich nach Buenos Aires durchzuschlagen und unterwegs einige Soldaten zur Verstärkung der Blockadetruppen vor Sacramento abzusetzen. Als nun jedoch am 26. September 1736 der portugiesische Flottenverband Sacramento erreichte und seine Soldaten an Land brachte, war das militärische Übergewicht der Portugiesen so groß geworden, dass sie am 4. Oktober sämtliche spanischen Verbände hinter den San-Juan-Fluss treiben konnten. Trotz weiterer portugiesischer Verstärkungen im November kam es hier zum Stellungskrieg. Lediglich am 9. Dezember 1736 führte ein portugiesischer Vorstoß am San-Juan-Fluss zu einem Gefecht, in dem die Angreifer 134 von 180 Mann verloren. Brigadegeneral da Silva Pais und Kommodore Abreu Prego entschlossen sich nun zu einer eigenen Offensive gegen Montevideo, die am 24. Dezember 1736 begann. Allerdings gelang es den fünf Schiffen und mehr als 1200 Soldaten nicht, die 800 Mann starke spanische Besatzung zu überwältigen, die von einer Fregatte im Hafen unterstützt wurde. Nach etwa zwei Wochen zogen die Portugiesen schließlich nach Brasilien ab, jedoch nicht ohne zuvor am 13. Januar 1737 bei Punta del Este, nördlich von Montevideo, einen Stützpunkt einzurichten. Aus diesem entwickelte sich später die Stadt Maldonado. Eine weitere Gründung da Silva Pais’ auf seiner Rückreise nach Norden war das Fort „Jesus Maria e José“, dessen Grundstein am 17. Februar 1737 gelegt wurde und aus dem sich später die Stadt Rio Grande entwickelte. Die Spanier reagierten auf die vermehrte militärische Präsenz der Portugiesen mit eigenen Verstärkungen. Im März 1737 trafen bei Buenos Aires die beiden Kriegsschiffe Galga (56 Kanonen) und Paloma (52 Kanonen) ein, die den Truppentransporter Rosario begleitet hatten. Unterwegs hatten sie insgesamt fünf portugiesische Schiffe erobert. Gouverneur Salcedo fühlte sich nunmehr stark genug, um wieder selbst in die Offensive zu gehen. Am 15. Mai erschien er mit vier Fregatten, zwei Brigantinen und zahlreichen weiteren Transportschiffen vor Sacramento. Die inzwischen auf 1000 Mann angewachsene Garnison konnte er jedoch nicht überwältigen, und in den folgenden Tagen kam es lediglich zu ergebnislosen Gefechten mit den fünf portugiesischen Brigantinen in diesen Gewässern. Am 27. Mai erlitten die Spanier jedoch eine Niederlage bei der Isla Martín García, durch welche es den Portugiesen möglich wurde, Sacramento über See zu versorgen. Damit war auch dieser spanische Blockadeversuch gescheitert. Erst am 15. August traf die portugiesische Fregatte Nossa Senhora da Boa Viagem des Kapitäns Duarte Pereira im Stützpunkt Maldonado ein und überbrachte die Nachricht, dass bereits am 16. März 1737 in Paris eine Einigung zwischen Portugal und Spanien erzielt worden sei. Damit endeten die Kampfhandlungen in der Banda Oriental. Verhandlungen in Europa Admiral Norris und Botschafter Tyrawly waren schon bald davon überzeugt, dass von spanischer Seite keine ernsthafte Gefahr für Portugal ausging, obwohl König Johann auch weiterhin auf ein gemeinsames Vorgehen drängte. Auf die Nachricht von der Ankunft der englischen Flotte hatten zudem Frankreich und Sardinien, die Verbündeten Spaniens, Schiffe in die spanischen Gewässer verlegt. Allerdings war dem leitenden Minister Frankreichs, Kardinal André-Hercule de Fleury, an einer Begrenzung des gerade laufenden Polnischen Thronfolgekrieges gelegen. Er stand kurz vor dem Abschluss eines vorteilhaften Präliminarfriedens mit Kaiser Karl VI. (der jedoch erst am 3. Oktober 1735 abgeschlossen werden konnte) und wollte eine Auseinandersetzung mit Großbritannien daher vermeiden. Stattdessen bot man auch von dieser Seite seine Vermittlung zwischen Portugal und Spanien an. Bereits im Hochsommer 1735 knüpfte Dom Manoel José, der Bruder des portugiesischen Königs, Kontakte zum französischen Konsul Jacques de Montagnac, in deren Ergebnis man übereinkam, einen Jesuiten namens Louis Gonçalves zur Besprechung der Lösungsvorschläge nach Paris zu entsenden. Währenddessen verhandelten in Lissabon jedoch auch Admiral Norris, Botschafter Tyrawly, Montagnac, der niederländische Resident Van Thiel, Johann V. und sein erster Minister Diogo de Mendonça Corte-Real miteinander. Diese Verhandlungen verzögerten sich vor allem durch die widersprüchlichen Meldungen aus Südamerika. So erfuhren die Diplomaten erst am 19. Februar 1736 von dem direkten spanischen Angriff auf Colonia del Sacramento und den Seegefechten auf dem Río de la Plata. Mit dem Hinweis, dass Sacramento mehr englische Wolle importiere als der gesamte Rest Brasiliens, forderte Mendonça die Entsendung englischer Schiffe nach Südamerika. Admiral Norris lehnte dies mit der Begründung ab, dass die englische Flotte in Europa gebraucht würde, um Portugal vor direkten Angriffen zu schützen. Kurz darauf starb Mendonça am 9. Mai 1736, und es dauerte Monate, bis sein Nachfolger bestimmt wurde. Die Portugiesen legten die Nachrichten aus Südamerika den übrigen Diplomaten nicht sofort vor, so dass diese erst im September 1736 erfuhren, dass portugiesische Schiffe eine Gegenoffensive eröffnet hatten und dass Colonia del Sacramento noch nicht gefallen war. Zudem begab sich Dom Manoel José in dieser Zeit auf eigene Faust an den Madrider Hof, um eine Übereinkunft zu erreichen, jedoch ohne Erfolg. König Johann erfuhr inzwischen von den wenig erfolgreichen portugiesischen Operationen in der Banda Oriental und entschied sich, den Verhandlungsweg nun konsequenter zu verfolgen. Er beorderte den Botschafter Luis da Cunha aus Den Haag nach Paris, wo sich seit dem Juli 1736 die Vertreter Großbritanniens, Frankreichs und der Niederlande darauf geeinigt hatten, Portugal und Spanien durch gemeinsamen Druck zu Zugeständnissen zu bewegen. Erst damit begannen sich wirkliche Fortschritte in den Verhandlungen zu ergeben. Admiral Norris und Tyrawly informierten daraufhin Johann V., dass die drei Vermittler einen Vorschlag zur Lösung des Konfliktes unterbreiten würden, und wenn dieser von ihm angenommen würde, die Vermittlermächte auch Spanien zur Annahmen bewegen würden. Luis da Cunha vertrat in Paris die portugiesischen Interessen, und so kam es im Januar 1737 zu einer Einigung. Am 16. März wurde der Vertrag von Paris unterzeichnet. Im Kern legte der Vertrag fest, dass sich die Kronen von Portugal und Spanien vorbehielten, die südamerikanischen Grenzstreitigkeiten zu einem späteren Zeitpunkt umfassend zu klären. Bis dahin sollte der Status quo, also der Besitzstand vor den Kämpfen, wiederhergestellt werden. Der Vertrag von Paris trug daher eher den Charakter eines Waffenstillstandes. Am 11. April wurde die Unterzeichnung des Vertrages bekannt. Die diplomatischen Beziehungen zwischen Lissabon und Madrid wurden wieder normalisiert, und die britische Flotte unter Admiral Norris verließ Portugal am 16. April 1737. Folgen Nachdem die vertragliche Einigung der Mutterländer im Laufe des Septembers 1737 am ganzen La-Plata-Gebiet bekannt geworden war und die Kampfhandlungen eingestellt worden waren, begann in der Region ein wirtschaftlicher Aufschwung. Colonia del Sacramento kehrte zum Schmuggelhandel und zur Viehzucht zurück, doch die Landwirtschaft im Umland war durch die Verheerungen praktisch zerstört und sollte sich nie wieder erholen. Die Konsequenz für die portugiesischen Siedler war zudem, dass sie ihr Konzept umstellen mussten. Ursprünglich hatten sie geplant, von Sacramento aus nach Osten entlang der Küste zu siedeln und somit irgendwann Anschluss an Brasilien zu gewinnen. Doch dies war allein schon wegen der neuen Begrenzung durch Montevideo unmöglich geworden. Stattdessen verlief die Siedlungsbewegung nun landeinwärts entgegen dem Río de la Plata. Der Umfang dieser Besiedlung erreichte nie das geplante Ausmaß, aber man errichtete ein neues Fort namens Fortaleza do Sul und ging auch an die Besiedlung der Insel Santa Catarina. Viele der neuen Siedler stammten von den Azoren und konzentrierten sich vornehmlich auf die Landwirtschaft anstatt wie bisher auf den Handel. Der Konflikt beförderte in erster Linie jedoch das portugiesische Interesse an seinen südamerikanischen Kolonien. Die Gouverneure wurden aufgefordert, Expeditionen zu entsenden, Karten zu erstellen und die Grenzen zu überwachen. Die neuen Befestigungsanlagen von Sacramento verschlangen teilweise ein Drittel des königlichen Haushaltes. Allerdings stellte sich bald heraus, dass Sacramento und ein großer Teil der brasilianischen Territorien westlich der Linie von Tordesillas lagen und damit eigentlich Spanien zustanden. Noch hatten die spanischen Kartographen dies nicht herausgefunden, und so blieb es vorläufig beim Status quo. Es blieb jedoch nicht ganz friedlich in der Region, denn beide Seiten bereiteten sich auf neue Auseinandersetzungen vor. Neben dem Bau von Festungsanlagen begannen die Portugiesen bereits im folgenden Jahr mit der Besetzung der strategisch wichtigen Insel Santa Catarina (August 1738) durch Brigadegeneral da Silva Pais. Er blieb auch in den folgenden Jahren Gouverneur dieser Insel. Im Gegenzug verwandelten die Spanier Montevideo zu einer Festung und Marinebasis. Die Regierungszeit König Fernandos VI. von Spanien ab 1746 war jedoch geprägt von inneren Reformen und außenpolitischem Ausgleich, unter anderem mit Portugal, wobei es sicher auch eine Rolle spielte, dass der neue König über seine Ehefrau Maria Bárbara de Bragança gute Beziehungen zum Nachbarland pflegte. Unter der Federführung des Ministers José de Carvajal y Lancaster kam es im Jahr 1750 zum Abschluss des Vertrags von Madrid, der folgende Bestimmungen enthielt: Colonia del Sacramento sollte an Spanien übergeben werden, welches im Gegenzug die Jesuitenreduktionen östlich des Rio Uruguay abtrat und die übrigen portugiesischen Siedlungen im Amazonas und im Mato Grosso anerkannte. In Südamerika selbst stießen diese Veränderungen teils auf heftigen Widerstand, vor allem der Jesuiten und der Guaraní (1754/55). Letztlich wurde auch Sacramento aus diesem Grund nicht an die Spanier übergeben, und der Vertrag blieb weitgehend nur ein theoretisches Konstrukt. Die Banda Oriental blieb jedoch ein Zankapfel der Politik. Ferdinands Nachfolger König Carlos III. verwarf die vertraglichen Bestimmungen 1760 während des Siebenjährigen Krieges. Der damals amtierende spanische Gouverneur von Río de la Plata, Pedro de Cevallos, stellte den portugiesischen Siedlern inakzeptable Bedingungen und ging schließlich zum Angriff über. Er eroberte nicht nur Colonia del Sacramento, sondern nahm das gesamte Gebiet ein, welches heute den brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul umfasst und das in den Jahrzehnten zuvor von Portugiesen besiedelt worden war. Auch in Europa führten beide Mutterländer Krieg gegeneinander. Im Frieden von Paris (1763) wurde wiederum die Rückgabe von Colonia del Sacramento an Portugal bestimmt, und vier Jahre darauf fiel auch das eroberte brasilianische Gebiet zurück an die Portugiesen. Erst 1777 führte ein weiterer Konflikt (→ Spanisch-Portugiesischer Krieg (1776–1777)) zur endgültigen Eroberung von Colonia del Sacramento und der Banda Oriental durch spanische Truppen. Im Ersten Vertrag von San Ildefonso (1. Oktober 1777) kehrte man im Wesentlichen zur Einigung von 1750 zurück. Spanien behauptete daraufhin das Gebiet des Río de la Plata bis zum Beginn der Südamerikanischen Unabhängigkeitskriege. Literatur Heinz Duchhardt: Balance of Power und Pentarchie – Internationale Beziehungen 1700–1785. Schöningh, Paderborn 1997 (= Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen, Bd. 4), ISBN 3-506-73724-4. Alan David Francis: Portugal 1715–1808 – Joanine, Pombaline And Rococo Portugal As Seen by British Diplomats and Traders. Tamesis Books Ltd., London 1985, ISBN 0-7293-0190-7. Heinrich Handelmann: Geschichte von Brasilien. Julius Springer, Berlin 1860. David Marley: Wars of the Americas – A Chronology of Armed Conflict in the New World 1492 to the Present. ABC-Clio, Santa Barbara 1999, ISBN 0-87436-837-5. Weblinks Santiago Gómez: Guerras entre España y Portugal en la cuenca del Río de la Plata. Auf: todoababor.es (Stand: 15. Juli 2013) Anmerkungen Militärgeschichte Uruguays Portugiesische Kolonialgeschichte (Amerika) Krieg (Südamerika) Portugiesische Militärgeschichte Krieg (Spanien) Krieg (Portugal) Krieg (18. Jahrhundert) Kolonialkrieg 1730er Portugiesisch-spanische Beziehungen Geschichte Uruguays (Neuzeit) Portugiesische Geschichte (18. Jahrhundert)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Englisch-Spanischer%20Krieg%20%281625%E2%80%931630%29
Englisch-Spanischer Krieg (1625–1630)
Der Englisch-Spanische Krieg war ein militärischer Konflikt zwischen dem Königreich England und dem Königreich Spanien in den Jahren 1625 bis 1630 im größeren Rahmen des Achtzigjährigen bzw. Dreißigjährigen Krieges. Den frühzeitigen Höhepunkt der Kampfhandlungen bildete ein englisches Unternehmen gegen den spanischen Hafen von Cádiz zu Beginn des Konfliktes. Mangelnde Finanzreserven und das zunehmende Engagement Englands in den französischen Hugenotten-Unruhen sowie Spaniens Konzentration auf den gleichzeitigen Kampf gegen die Niederlande führten zu einem Abebben der Kämpfe. Diese beschränkten sich auf Aktionen von Freibeutern und das Vorgehen der Spanier gegen die englischen Siedlungen in der Karibik. Der Krieg endete am mit dem Abschluss des Friedens von Madrid und der Wiederherstellung des Status quo ante. Vorgeschichte Der englisch-spanische Konflikt hatte seine Ursache in der Verwicklung beider Staaten in den Dreißigjährigen Krieg (1618–1648). Am 26. August 1619 war Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz (1596–1632), Schwiegersohn des englischen Königs James I., von den gegen die Habsburger rebellierenden böhmischen Ständen zum König von Böhmen gewählt worden. Nach der Niederlage in der Schlacht am Weißen Berg am 8. November 1620 und der anschließenden Besetzung seiner Stammlande durch habsburgisch-spanische Truppen im folgenden Jahr befand er sich auf der Flucht. Er warb deshalb bei den protestantischen Mächten für sich und seine Sache gegen die katholischen Spanier und den Kaiser verstärkt um Unterstützung. Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits kleinere Kontingente englischer Söldner an den Kämpfen in der Pfalz teilgenommen. Im Königreich England hatte das House of Commons bereits im Juni 1621 seine Unterstützung der Verteidigung des protestantischen Glaubens in Deutschland erklärt und ein Bündnis mit den Vereinigten Provinzen der Niederlande gewünscht. Dies wäre auch insofern folgerichtig gewesen, als England seit 1612 mit der Protestantischen Union verbündet war. König James I. versuchte jedoch seinem Ruf als Friedensbewahrer und Vermittler gerecht zu werden, den er seit seiner Vermittlung im Kalmarkrieg (1613) und im Jülich-Klevischen Erbfolgestreit (1614) innehatte. Um eine Eskalation des Glaubenskrieges zu verhindern und sich selbst in eine Schiedsrichterposition zu bringen, wollte er sich an Spanien anlehnen und zwischen den religiösen Parteien vermitteln. Kernpunkt dieser Politik waren Pläne für eine Ehe zwischen seinem Sohn und Erben Prince Charles und Maria Anna von Spanien (1606–1646), der Schwester des spanischen Königs Philipp IV. – das sogenannte „Spanish Match“. Eine solche Verbindung hätte nebenbei eine für England nachteilige französisch-spanische Annäherung konterkariert, das Haus Stuart aufgewertet und mit bis zu £ 600.000 Mitgift (Kaufkraft um 2012 ≈ £ 90,3 Mio.) die maroden Staatsfinanzen saniert. Andererseits war diese Option im protestantischen England unpopulär, wo man eine Konversion des Herrschers befürchtete, die mit ähnlichen religiösen Ausschreitungen einhergehen würde wie einst unter Königin Mary I. Tudor. Obwohl bereits 1618 ein Entwurf für einen Ehevertrag existierte, wurde die Frage erst durch die Entwicklung des Dreißigjährigen Krieges dringend. Um aus einer Position der Stärke heraus zu verhandeln, ersuchte James I. das Parlament 1621 um Gelder für militärische Rüstungen. Dieses knüpfte die Bewilligung jedoch an die Bedingung, das katholisch-spanische Heiratsprojekt fallen zu lassen. Der König, der eine Einmischung in außenpolitische Fragen nicht tolerierte, löste die Versammlung umgehend auf. Ohne Gelder konnte er jedoch kaum Druck auf die spanische Regierung ausüben. Im Sommer 1622 strengte James I. in Brüssel eine Friedenskonferenz an, doch da die katholischen Mächte gerade zahlreiche militärische Erfolge verbucht hatten, war deren Verhandlungsbereitschaft nur gering. Spanien hatte zudem kein Interesse, durch eine Räumung der Kurpfalz seinen festen Stand im Rheinland zu gefährden, durch das zahlreiche Nachschubgüter aus dem Mittelmeer zu den spanischen Truppen in den Niederlanden transportiert wurden. Die Konferenz wurde deshalb Ende des Jahres abgebrochen. Derweil liefen noch immer die Verhandlungen über eine eventuelle Heirat. Die spanische Regierung forderte nicht weniger als die Gleichstellung der Katholiken in England. James I. befahl daher im August 1622 die Gesetze für deren Verfolgung nicht mehr anzuwenden und verbot lediglich politische Inhalte in Predigten. Seine Popularität erreichte damit einen Tiefpunkt. Wohl in der Absicht, die hinhaltende Position der Spanier zu durchbrechen und endlich Ergebnisse vorweisen zu können, reisten Prinz Charles und der engste Berater des Königs, Lord Buckingham (1592–1628), im Februar 1623 nach Madrid. Dort forderten sie den umgehenden Abschluss eines Ehevertrages und die Räumung der pfälzischen Gebiete. Die spanische Regierung verlangte ihrerseits die Konversion des Prinzen sowie des Sohns von Friedrich V. zum Katholizismus. Dies war für England in jeder Hinsicht inakzeptabel und kam einer Zurückweisung gleich. Der Prinz und Buckingham erreichten ihre Heimat am 5. Oktober 1623. Beide fühlten sich durch die Behandlung in Spanien gedemütigt und waren sich bewusst, dass sie durch diese Reise bedeutend an Ansehen unter den englischen Protestanten verloren hatten. Entscheidung zum Krieg Nach ihrer Rückkehr im Oktober 1623 läuteten Charles und Buckingham die von den Zeitgenossen so bezeichnete „Blessed Revolution“ ein – einen fundamentalen Umschwung in der bisher spanienfreundlichen Politik Englands seit 1604. Diese erfolgte nicht sofort, denn der alte König und ein bedeutender Teil des Staatsrates hielten noch an einem friedlichen Ausgleich mit Spanien fest. Als Philipp IV. von Spanien im Januar 1624 die Herausgabe der Pfalz anbot, wenn die Heirat realisiert würde, weigerte sich Charles dem nachzukommen. Stattdessen zogen er und Buckingham Mitglieder des Staatsrates auf ihre Seite. Viele Minister folgten, denn es war abzusehen, dass Charles schon bald König sein würde. Im Parlament, das von Februar bis Mai 1624 tagte, gelang es, die Abgeordneten zum Bruch aller Verträge mit Spanien zu bewegen und einige Gelder für einen Krieg zu bewilligen. Allerdings blieb dabei zunächst offen, gegen wen dieser geführt werden sollte – gegen Spanien oder direkt gegen den Kaiser zur Rückeroberung der Pfalz. Die Idee eines Krieges war an sich populär. Die Abgeordneten rechneten mit ihm und hatten deshalb £ 300.000 bewilligt. Allerdings bestand keine Einigkeit über die Art dieses Krieges, denn die Parlamentarier bevorzugten einen kostengünstigen Feldzug gegen die reichen spanischen Kolonien, der ihren Handelsinteressen entgegenkam. War die Popularität des Duos Charles/Buckingham im Sommer 1624 besonders hoch, so schlug sich die folgende Tatenlosigkeit bald in Unzufriedenheit der Öffentlichkeit nieder, denn der alte König James stellte sich den Bemühungen der Kriegspartei um seinen Sohn weiter entgegen. Für ihn stand noch immer die Pfalz und nicht Spanien im Mittelpunkt. Er versuchte daher ein anti-habsburgisches Bündnis mit Frankreich zu initiieren, deren Kernpunkt die Heirat seines Sohnes mit einer französischen Prinzessin sein sollte. Dafür machte er große Zugeständnisse, wie die Aussetzung der Katholiken-Verfolgungen in England und die Unterstützung der französischen Krone gegen die aufständischen Hugenotten. All diese Maßnahmen waren in der englischen Öffentlichkeit zutiefst umstritten. Das vom Parlament bewilligte Geld verwendete James dazu, eine Expedition unter dem Söldnerführer Peter Ernst II. von Mansfeld auszurüsten, deren Ziel die Pfalz sein sollte. Allerdings scheute Frankreich noch die Konfrontation mit Spanien und verweigerte den englischen Truppen das Durchmarschrecht. Die Mansfelder Truppen wurden daher im Januar 1625 in die Vereinigten Niederlande verschifft, wo sie allerdings schlecht versorgt wurden. Nur wenige Wochen später waren von den 12.000–15.000 Mann nur noch 5000 übrig – der Rest war desertiert, erkrankt oder verstorben. Die Politik James’ I. in diesen Monaten war teuer und unpopulär, ohne jedoch zu irgendwelchen Vorteilen zu führen. Am 27. März 1625 starb James I. schließlich und sein Sohn bestieg als König Charles I. den Thron. Bereits am 9. April berief er eine Kommission unter dem Duke of Buckingham ein, welche über die Außenpolitik des Landes beraten sollte. Kernpunkte waren das Verhältnis zu Spanien, ein Bündnis mit Frankreich und Wege zur Wiederherstellung der Pfalz, eventuell mit niederländischer Hilfe. Eine zweite Kommission, deren Vorsitz ebenfalls Buckingham innehatte, beriet fast zeitgleich über alle militärischen Maßnahmen des Landes. Zumindest der Allianz mit Frankreich kam man mit der Hochzeit Charles’ mit Henrietta Maria von Frankreich im Mai 1625 einen großen Schritt näher. Doch den Mansfelder Truppen wurde der Durchmarsch durch Frankreich noch immer verwehrt. Die Außenpolitik gestaltete Charles nun wesentlich aggressiver. Er befahl die Aufstellung von 10.000 Soldaten, unterstützte Christian IV. von Dänemark gegen den Kaiser mit £ 30.000 und unterstellte die Mansfelder Truppen den Vereinigten Provinzen, damit sie im Krieg gegen Spanien Verwendung fanden. Bereits Ende April wies Charles die Admiralität an, Kaperbriefe auszustellen, die es erlaubten, Schiffe im Besitz der Spanischen Niederlande zu überfallen. In internen Memoranden sprach der neue König explizit von einem bevorstehenden Krieg gegen Spanien. Um die finanziellen Mittel dafür zu erhalten, berief er das Parlament ein und ersuchte dort im Juni 1625 um die Bewilligung von Geldern. Nach 12 Tagen Beratungen gewährte die Versammlung £ 160.000, was lange nicht ausreichte, um einen Krieg zu finanzieren. Da inzwischen die Pest in London ausgebrochen war, berief Charles eine weitere Zusammenkunft in Oxford ein, wo er darlegte, dass mindestens £ 800.000 nötig wären. Die Abgeordneten forderten ihrerseits jedoch eine strengere Verfolgung der Katholiken im Königreich sowie eine Beschränkung der Macht des Duke of Buckingham. Obwohl Charles zusicherte, dass er sich in einer folgenden Sitzung im Winter der Beschwerden annehmen werde, wenn die Abgeordneten ihm jetzt die nötigen Gelder gäben, erhielt er keinerlei weitere finanzielle Mittel. Er löste das Parlament deshalb auf. Buckingham schlug nun vor, die Mitgift Henrietta Marias sowie eine königliche Zwangsanleihe zu verwenden, um eine erste Expedition auszurüsten. Sie sollte dann die spanische Küste plündern, die Silberflotte abfangen und auf diese Art die Finanzierung des Krieges sicherstellen. Am 18. September 1625 konnte der Vertrag von Southampton mit den Vereinigten Provinzen abgeschlossen werden. In ihm verpflichteten sich beide Seiten zu einer gemeinsamen Expedition gegen Spanien. Die Niederlande sollten 22 Kriegsschiffe dafür bereitstellen und mit 25 weiteren Schiffen die Freibeuter aus Dünkirchen in spanischem Dienst in Schach halten, während England seine Hauptstreitkräfte in spanische Gewässer entsenden sollte. Verlauf Nachdem der Angriff auf Spanien beschlossen war, ging man an die militärischen Vorbereitungen. Die Aufstellung von Landtruppen wurde durch die Gemeinden geregelt. Jede von ihnen musste ein bestimmtes Kontingent an Rekruten stellen, doch nach welchen Prinzipien diese ausgewählt wurden, blieb den Gemeinden überlassen. Dies führte dazu, dass ein Großteil der mehr als 10.000 Rekruten, die in Dorset und Devon zusammengezogen wurden, gegen ihren Willen in den Militärdienst gepresst worden war, weil sie z. B. Streit mit den Dorfvorstehern hatten oder in ihren Gemeinden als unerwünschte Elemente galten. Bei der Besichtigung eines Regiments von 2000 Mann waren 200 Männer körperlich untauglich, 24 ernsthaft krank, 26 älter als 60 Jahre, 4 blind, einer geisteskrank und viele andere hatten körperliche Behinderungen. Da die Männer kaum Geld besaßen, andererseits aber auch schlecht versorgt waren, kam es bald zu Übergriffen auf die Zivilbevölkerung, der Lebensmittel und Kleidung geraubt wurde. Schließlich musste man der Soldateska die Waffen abnehmen, um weitere Übergriffe abzuwenden. Andererseits konnte so kein militärisches Training mehr erfolgen. Auch die Schiffe, welche diese Armee transportieren sollten, befanden sich in schlechtem Zustand. Insgesamt konnten zwar 12 Kriegsschiffe der Royal Navy sowie 73 bewaffnete Kauffahrer und Transportschiffe aufgeboten werden, doch waren diese oft überaltert und langsam. Viele von ihnen hatten bereits 1588 im Kampf gegen die spanische Armada gestanden. Auf diesen Schiffen befanden sich Anfang Oktober 1625 zusammen 5952 Matrosen und 10.448 Soldaten. Fragwürdig war auch die Qualifikation der designierten Oberbefehlshaber. Der Duke of Buckingham überging den verdienten Veteranen Admiral Sir Robert Mansell und ernannte stattdessen einige seiner loyalen Anhänger. An der Spitze der Expedition sollte Sir Edward Cecil stehen, der zumindest als Regimentskommandeur in den Niederlanden Erfahrungen gesammelt hatte. Bei den übrigen Kommandeuren der einzelnen Geschwader, wie dem Earl of Essex, hielten sich selbst diese Art von Erfahrungen in engen Grenzen. Darüber hinaus hatte keiner der sechs maßgeblichen Führungsoffiziere jemals maritime Streitkräfte befehligt. Als besonders nachteilig sollte sich dabei die völlig unzureichende Arbeit des unerfahrenen Oberquartiermeisters auswirken, der die Schiffe nicht adäquat ausrüstete. Hinzu kam, dass Sir Cecil keine klaren Befehle erhielt. Er sollte den Spaniern lediglich Schaden zufügen, reiche Städte überfallen und vielleicht die spanische Silberflotte abfangen. Der Oberbefehlshaber versuchte daher seine Entscheidungen mittels eines Kriegsrates zu treffen. Aber auch ohne klare Anweisungen war es bald bekannt, dass die Stadt Cádiz, welche schon mehrfach von englischen Truppen geplündert worden war, das Ziel der Expedition werden sollte. Die Geheimhaltung versagte völlig. Cádiz-Expedition Die Stadt Cádiz zählte 1625 etwa 14.000 Einwohner. Sie genoss das königliche Privileg, mit den Westindischen Inseln zu handeln, und war daher das Ziel der alljährlichen Silberflotte. Eine englische Flotte unter Francis Drake hatte den Hafen bereits 1587 überfallen, und 1596 war die Stadt noch einmal von englischen Truppen eingenommen und geplündert worden. Nach diesen Erfahrungen aus dem Englisch-Spanischen Krieg zwischen 1586 und 1604 hatten die Spanier Anfang des 17. Jahrhunderts ihre Befestigungsanlagen verstärkt. Die Flotte verließ Plymouth am 8. Oktober 1625 und traf das niederländische Geschwader von 22 Kriegsschiffen unter Wilhelm von Nassau im Ärmelkanal. Tage später begann eine Serie von Friktionen. Das Schiff Lion hatte zu viele Lecks und musste umkehren. Viele andere Schiffe waren inkompetent ausgerüstet worden, sodass der Proviant bereits am dritten Tag auf See knapp zu werden begann und die Rationen gekürzt werden mussten. Das Flaggschiff wurde während eines Sturmes so in Mitleidenschaft gezogen, dass es nur durch konstantes Abpumpen über Wasser gehalten werden konnte. Nachdem das Wetter sich gebessert hatte, berief Sir Cecil am 20. Oktober einen Kriegsrat ein, um einen Überblick über die Schäden zu bekommen. Es stellte sich heraus, dass die Versorgung schlechter war als angenommen, dass Trinkwasser kontaminiert und sogar Schießpulver nass geworden war. Während der Stürme war zudem der Kontakt zur Schwadron des Earls of Essex verloren gegangen. Als man nahe der spanischen Küste schließlich einen Verband ohne Flaggenkennzeichen entdeckte, eröffnete Sir Cecil die Jagd auf diesen vermeintlich fliehenden Teil der spanischen Silberflotte. Später stellte sich jedoch heraus, dass es die verloren gegangene Schwadron war. Trotz aller Schwierigkeiten erreichte der englisch-niederländische Verband am 1. November Cádiz. Die Nachricht von der Vorbereitung einer englisch-niederländischen Expedition verursachte einige Verwirrung in Madrid. Man befürchtete, dass gegnerische Truppen ins Mittelmeer befördert werden sollten, wo Genua, Sizilien oder Neapel als Ziele in Betracht kamen. Nördlich von Genua führte Spanien bereits Kämpfe gegen den Herzog von Savoyen und im Veltlin gegen die Franzosen. Diese Kriegsschauplätze waren denkbare Ziele. Auf spanischer Seite hatte man, begünstigt durch die schlechte englische Geheimhaltung, auch mit einem Angriff auf die Stadt Cadiz gerechnet und sie deshalb gut mit Proviant ausgestattet und mit Truppen besetzt. Als die Engländer jedoch den ganzen Sommer über nicht auftauchten und der Herbst nahte, verlegte man die Truppen in Quartiere, die über ganz Andalusien verteilt lagen. Sie standen unter dem Befehl von Juan Manuel Pérez de Guzmán y Gómez de Silva, dem Sohn des Admirals, der 1588 die spanische Armada gegen England geführt hatte. In Cádiz, wo der greise Gouverneur Don Fernando Girón befehligte, verblieben nur 300 Mann. Zunächst entsandte Cecil die Schwadron Essex’ in die Hafenbucht, um einen geeigneten Ankerplatz zu suchen. Essex entdeckte dort 12 Galeonen sowie etwa 15 Galeeren und griff diese sofort an. Bald erreichte auch das Gros der englischen Flotte die Bucht und schuf so ein erdrückendes Übergewicht. Die Spanier zogen sich deshalb in einen nördlichen Seitenfluss zurück. Sir Cecil plante zunächst, die spanischen Schiffe sofort zu verfolgen; dagegen meldeten mehrere Kapitäne in einem kurzfristig anberaumten Kriegsrat Bedenken an: Die Spanier säßen ohnehin im Fluss fest und könnten nicht entkommen, weshalb deren Verfolgung keine Priorität habe. Ein englischer Händler aus Cádiz unterrichtete Cecil unterdessen, dass die Stadt nur schwach besetzt sei und man sie leicht einnehmen könne, wenn man nur schnell wäre. Dagegen insistierte der Kriegsrat darauf, dass zunächst das Fort Puntal, welches die Bucht beherrschte, eingenommen werden müsse. Der Angriff auf das Fort begann bei Einbruch der Dunkelheit und sollte von 20 englischen Handelsschiffen mit geringem Tiefgang und 5 niederländischen Kriegsschiffen durchgeführt werden. Doch die Handelsschiffskapitäne dachten nicht daran, ihre privaten Schiffe zu riskieren, und weigerten sich, am Angriff teilzunehmen. Die Niederländer erlitten bei ihrem allein vorgetragenen Vorstoß hohe Verluste durch die acht schweren Kanonen des Forts, und eines ihrer Schiffe lief auf Grund. Nach einem wütenden Protest des niederländischen Admirals unterstützte die Schwadron Essex’ den Angriff, aber die Händler weigerten sich noch immer. Als sie sich endlich am Feuerwechsel beteiligten, lagen ihre Salven zu tief und ein Schuss ging sogar durch das Heck von Essex’ Flaggschiff. Am folgenden Tag gingen Soldaten des Regiments unter Sir John Burgh an Land und nahmen Puntal ein, mussten jedoch feststellen, dass die etwa 2000 Kanonenschüsse kaum Schäden angerichtet hatten. Der 120 Mann starken spanischen Besatzung unter Capitan Francisco Bustamante wurde freier Abzug gewährt. Die gesamte Operation hatte 24 Stunden in Anspruch genommen und den Spaniern die Zeit für Gegenmaßnahmen gelassen. Denn inzwischen waren von Pérez Verstärkungen organisiert und mithilfe von Galeeren in die Stadt gebracht worden, sodass der Gouverneur bereits am Abend des Tages über etwa 4000 Soldaten verfügte. Weitere Verstärkungen verteilte Pérez in den umliegenden kleineren Küstenorten, um auf weitere englische Landungen vorbereitet zu sein. Nun begann die Anlandung der gesamten englischen Truppen. Sir Cecil entschloss sich, die Suazo-Brücke einzunehmen, um seinen Angriff gegen Cádiz im Rücken abzusichern. Dort hatten sich 2300 spanische Soldaten mit sieben Kanonen unter Luis Portocarrero bereitgestellt. Etwa 8000 englische Soldaten marschierten daher über die Isla de León auf die Brücke zu. Allerdings hatte ein Regiment keinen Proviant von Bord mitgenommen und musste daher umkehren. Überhaupt fehlte es an Essen und Wasser. Als man am Abend das Lager aufschlug, entdeckte man in einigen Häusern die Weinvorräte der spanischen Marine. Cecil genehmigte das Aufbrechen von einem Fass pro Regiment, aber durch das wenige Essen und die große Wärme kam es bald zu einem regelrechten Besäufnis, bei dem die Offiziere die Kontrolle über ihre Mannschaften vollständig verloren. Bald musste die Leibwache Sir Cecils in die Menge feuern, da die Leute auf ihren Befehlshaber losgingen. Am folgenden Morgen zog Sir Cecil mit der Masse der Truppen wieder in Richtung Puntal ab. Viele betrunkene Soldaten mussten zurückgelassen werden. Als die Spanier später vorstießen, fielen ihnen etwa 2000 Engländer ohne Kampf in die Hände. Unterdessen wurde auch die spanische Marine aktiv. Sie versenkte vier Hulks am Eingang des Flusses, sodass bei einem Angriff der Flotte nur ein Schiff nach dem anderen passieren konnte. Ein Angriff war damit praktisch unmöglich gemacht worden. Sir Cecil entschloss sich daher zum allgemeinen Rückzug. Die Unordnung am Strand war jedoch so groß, dass es die ganze Nacht dauerte, die Soldaten wieder einzuschiffen. Bis dahin blieben die Soldaten im Regen und kaum versorgt im Freien. Erst am folgenden Tag verließen die Engländer die Bucht von Cádiz. Sir Cecil kreuzte nun vor der spanischen Küste und versuchte die Silberflotte abzufangen. Die bereits gewarnten Spanier nahmen jedoch eine südlichere Route entlang der nordafrikanischen Atlantikküste und vermieden somit einen Zusammenstoß. Am 14. November 1625 entschied sich Sir Cecil zur Rückkehr nach England, da der Zustand seiner Schiffe, Mannschaften und Vorräte ein längeres Verweilen auf See unmöglich machte. Ein großes Problem stellte die Unterbesetzung der Schiffsbesatzungen dar, denn aufgrund der miserablen Ernährungslage waren viele Seeleute krank geworden. Auf einigen Schiffen brach zudem die Pest aus. Schon bald waren die Mannschaften mancher Schiffe so stark dezimiert, dass ihre Schiffe nicht mehr durch die Herbststürme nach England gesteuert werden konnten. Sir Cecils „Lösung“ verschlimmerte die Situation: Er befahl, dass jedes nicht betroffene Schiff zwei gesunde Männer an die dezimierten Besatzungen abzugeben hat – im Austausch für jeweils zwei kranke Seeleute. Mit dieser Maßnahme wurde die Pest innerhalb kürzester Zeit über die ganze Flotte verbreitet. In den folgenden Unwettern wurde fast der gesamte Verband verstreut. Einzeln oder in kleinen Gruppen steuerten die Überlebenden die irische oder südenglische Küste an. In einigen Schiffen gab es nicht mehr genug Leute, um ein Langboot zu besetzen oder die Pumpen zu bedienen. So waren von der 150 Mann starken Besatzung der Anne Royal, dem Flaggschiff, nur noch 20 Mann übrig, als sie am 11. Dezember 1625 in Kinsale ankam. Erst am 28. Januar 1626 waren das Schiff und seine Mannschaft bereit, mit Sir Cecil an Bord nach England zu fahren, wo es erst am 28. Februar anlangte. Aufgrund ihrer miserablen Gesundheit starben in den folgenden Wochen noch Dutzende Seeleute in den englischen Küstenstädten, wo die Pest weitere Verluste verursachte. Der Abgeordnete im Unterhaus und Sekretär des Lords der Admiralität Sir John Glanville verfasste ein Manuskript über die Ereignisse der Expedition, welches bald unter dem Titel Voyage to Cadiz in politischen Kreisen zirkulierte und besonders für die Gegner der Regierung interessant war. Am 6. März 1626 klagten der Staatssekretär Sir Edward Conway, der Earl of Essex sowie neun weitere Untergebene Cecil vor dem Privy Council an. Sie alle waren Anhänger des Dukes of Buckingham und ohne größere militärische Erfahrung, während die Berufssoldaten weiterhin loyal zu Sir Cecil standen und ebenso wie die Mehrheit der Unterhausabgeordneten Buckingham als den Schuldigen ansahen. Doch Charles I. nahm Sir Cecil in Schutz. Mehr noch: Er bestätigte dessen Titel als Viscount Wimbledon und ernannte ihn zum Lord Lieutenant of Surrey. Weiterer Kriegsverlauf in Europa Obwohl beide Staaten auch in den folgenden fünf Jahren im Kriegszustand verblieben, waren die Kampfhandlungen, wie ein spanischer Historiker schrieb, nach der fehlgeschlagenen Cádiz-Expedition eher symbolischer als realer Natur. Spanien brauchte seine Ressourcen zum Kampf gegen die Vereinigten Provinzen der Niederlande und zur Unterstützung des Kaisers im Reich. So wurde der Krieg vor allem durch die spanischen Freibeuter von Dünkirchen aus gegen den englischen Handel geführt. Im Winter 1625/26 operierten sie jeweils in Gruppen von zwei bis drei schnellen Fregatten und brachten Dutzende englischer Prisen ein. Zwischen Edinburgh und Falmouth setzten sie der gegnerischen Fischerei und der Küstenschifffahrt zu. Die Royal Navy fand keine Mittel gegen diese Bedrohung, und so gingen in den folgenden Jahren etwa 300 Schiffe verloren, was 15 bis 20 % der englischen Handelsmarine entsprach. Hinzu kam, dass die lukrativen Absatzmärkte auf der Iberischen Halbinsel und im Mittelmeer nun nicht mehr zur Verfügung standen. Der damit verbundene ökonomische Niedergang vor allem in den englischen Hafenstädten führte bald zu hoher Arbeitslosigkeit und sozialen Unruhen. Verstärkt wurde die niedergedrückte Stimmung noch durch den Ausbruch einer Pest-Epidemie, die allein im Sommer 1625 in London 34.417 Todesopfer forderte. Charles I. versuchte den Krieg fortzuführen, indem er sich in eine breite protestantische Koalition gegen die Habsburger einreihte. Diese am 19. Dezember 1625 abgeschlossene Haager Allianz bestand aus den Niederlanden, Dänemark und England. Unter anderem verpflichtete sich Charles I. zur Zahlung von Subsidien an König Christian IV. von Dänemark, der im Gegenzug die Kurpfalz zurückerobern sollte. Aber für diese Pläne wie überhaupt für die gesamte weitere Kriegführung benötigte Charles I. Geld, welches er u. a. durch einen Kaperkrieg gegen spanische Schiffe zu erhalten hoffte. Er veröffentlichte daher am 31. Dezember 1625 eine weitere „Proklamation um zu erklären, dass alle Schiffe, die Getreide oder Nahrungsmittel oder irgendeine Form von Kriegsgütern für oder zu dem König von Spanien oder einem seiner Untertanen transportieren, als rechtmäßige Prise genommen werden dürfen und sollen.“ Gleichzeitig war absehbar, dass der englische König erneut das Parlament einberufen musste, um weitere Gelder zur Kriegsfinanzierung fordern. In der englischen Öffentlichkeit galt der Duke of Buckingham als Verursacher dieser Missstände, und tatsächlich trug er als Lord Admiral zweifellos einen Teil der Verantwortung. So war es wenig verwunderlich, dass sich gleich bei Eröffnung des Parlaments im Februar 1626 harte Kritik an seiner Führung entlud. Sir John Eliot aus Newport hatte die desaströsen Folgen der Cádiz-Expedition mit eigenen Augen gesehen und rief in einer Rede vor dem Unterhaus: „Unsere Ehre ist ruiniert, unsere Schiffe versenkt, unsere Männer niedergemacht, aber nicht durch das Schwert, nicht durch den Feind und nicht durch Zufall, sondern durch diejenigen, denen wir trauen [sollten].“ Während Charles I. Gelder für die Fortsetzung des Krieges verlangte, waren die Abgeordneten im März 1626 lediglich bereit, die £ 300.000 zu bewilligen, wenn der König auf ihre innenpolitischen Forderungen eingehen würde. Charles wollte sich jedoch nicht festlegen. Im Mai leiteten die Abgeordneten schließlich ein Verfahren gegen den Duke of Buckingham ein, woraufhin Charles das Parlament im Juni auflöste. Die Aussichten für die Verbündeten von König Charles verschlechterten sich im Laufe des Jahres weiter. Die Niederlage in der Schlacht bei Lutter (27. August 1626) beendete die Hoffnungen, die Kurpfalz durch den dänischen Verbündeten wieder zu erringen. Ab dem Frühjahr 1626 hatte die Royal Navy unter Captain Sir John Pennington den Kaperkrieg gegen die spanischen Schiffe im Ärmelkanal geführt. Zwar hatte dies der Krone bald £ 50.0000 eingebracht, doch da auch zahlreiche französische Schiffe angegriffen worden waren, musste dies kurze Zeit später zu einem bewaffneten Konflikt mit Frankreich führen. Die Weigerung Kardinal Richelieus, des leitenden Ministers in Frankreich, direkt gegen Spanien vorzugehen und englischen Truppen den Durchmarsch in die Kurpfalz zu gestatten, sowie die Ausweisung des Hofstaates der aus Frankreich stammenden englischen Königin belasteten das Verhältnis zusätzlich. Als der Duke of Buckingham gegen Richelieu zu intrigieren und die französischen Hugenotten zu unterstützen begann, war der offene Bruch im Februar 1627 unvermeidlich geworden. Frankreich verständigte sich daraufhin am 20. März 1627 in einem Vertrag mit Spanien. Dieser sah unter anderem die Stellung von 80 Kriegsschiffen und der nötigen Ausrüstung für eine Invasion der britischen Inseln durch die beiden Vertragspartner vor. Charles I. sah sich nunmehr mit nur geringen finanziellen Mitteln in einer Auseinandersetzung sowohl mit Spanien als auch mit Frankreich verwickelt. Er beschloss sich auf die Unterstützung der Hugenotten im Krieg gegen die französische Krone (siehe Englisch-Französischer Krieg) zu konzentrieren, weshalb die Kampfhandlungen gegen Spanien nun völlig zum Erliegen kamen. Besonders Buckingham förderte diese Politik, gab sie ihm doch Gelegenheit, sich als Vorkämpfer des protestantischen Glaubens zu profilieren und gleichzeitig einen äußerst „populären Krieg“ zu führen. Karibische Expedition Der an sich europäische Konflikt hatte zunächst nur geringe Auswirkungen auf die Entwicklung in Übersee, da beide Parteien ihre Ressourcen in den Konflikten auf dem Festland einsetzen mussten. Bereits im Januar 1624 hatte eine kleine englische Expedition Siedlungen auf der Insel St. Kitts in der Karibik gegründet, obwohl diese Inseln von Spanien beansprucht wurden. Kurz darauf stießen auch französische Kolonisten zu ihnen, und es entwickelte sich eine örtliche Zusammenarbeit beider Nationen gegen die Kariben. Bereits 1625/26 diente die Insel nunmehr einer französischen Brigantine als Flucht- und Stützpunkt. Bald darauf wurden die beiden Befestigungen Fort Charles und Fort Pointe de Sable angelegt. Selbst während des Krieges zwischen ihren Heimatländern in Europa hielt die englisch-französische Kooperation auf St. Kitts an. Lediglich nach Abschluss des Friedensvertrags zwischen England und Frankreich in Europa kam es im Juli 1629 über die territoriale Aufteilung der Insel zu einem kurzen Feuergefecht. Zwischenzeitlich hatten englische Siedler 1628 auch auf der benachbarten Insel Nevis eine erste Siedlung gegründet. In Spanien wollte man verhindern, dass sich England in der Karibik festsetzte. Für das Jahr 1629 plante man deshalb eine Expedition zur Zerstörung der neuen englischen Kolonien. Im Herbst trafen daher zwei spanische Flotten ein. Die erste bestand aus sieben Galeonen und drei weiteren Schiffen unter Admiral Fadrique de Toledo und dessen Stellvertreter Vize-Admiral Antonio de Oquendo. Die zweite Flotte bestand aus zehn Galeonen unter Admiral Martín de Vallecilla. Sie sollte später die jährliche Silberflotte eskortieren. Am 16. September 1629 überfielen vier Galeonen den Hafen von Nevis und eroberten dort acht englische Handelsschiffe. Zwei weitere konnten entkommen und St. Kitts vor dem bevorstehenden Angriff warnen. Während des Kampfes zwischen den spanischen Schiffen und der englischen Batterie auf dem Pelican Point lief die Jesus María auf Grund und erhielt zahlreiche Treffer. Daher gingen spanischen Truppen an Land und stürmten die Batterie. Dabei wurden 22 Engländer getötet und viele weitere in den Dschungel gejagt. Am Morgen des 18. September 1629 kapitulierte John Hilton, Bruder des abwesenden Gouverneurs Anthony Hilten, woraufhin alle englischen Gebäude auf der Insel zerstört wurden. Nachdem sie durch einen Sturm aufgehalten worden war, erschien Admiral de Toledos Flotte vor St. Kitts und beschoss zunächst das französische Fort Basseterre. Danach landete sie Truppen an einem Strand nahe Fort Charles. Zwar wehrten die Engländer die ersten Angriffe in einem vorbereiteten Grabensystem ab, doch dank ihrer numerischen Überlegenheit brachen die Spanier schließlich in die englische Verteidigung ein. Der französische Befehlshaber Du Roissey evakuierte daraufhin 400 französische Siedler von der Insel. Noch während die Spanier dabei waren, Fort Charles zu schleifen, kapitulierten die verbliebenen englischen und französischen Siedler auf St. Kitts. Die Expedition stellte einen großen spanischen Erfolg dar: 129 Kanonen, 42 Mörser, 1350 Musketen, Munition, 3100 Gefangene und ein halbes Dutzend Prisen waren in Admiral de Toledos Hände gefallen. Auch in den folgenden Wochen ging de Toledo gegen kleinere englisch-französische Siedlungen zum Beispiel auf Hispaniola vor. Als er am 4. Oktober 1629 St. Kitts und Nevis verließ, brachte er 800 katholische Siedler nach Cartagena, während die 2300 anderen auf spanischen Schiffen zurück nach Europa gebracht wurden. Allerdings wurde keine spanische Garnison zurückgelassen, sodass die Engländer bald zurückkehren konnten. Ab Frühjahr 1630 verstärkten sie ihre Kolonisierungsbemühungen in der Karibik (vor allem auf den Bahamas), wobei ihnen Tortuga lange als Basis diente. Friedensschluss Eine Reihe von Ereignissen in Europa bereitete den Weg für eine Beilegung des englisch-spanischen Konflikts. Im Dezember 1627 starb der Herzog von Mantua, und bald begann sich ein französisch-spanischer Konflikt (siehe Mantuanischer Erbfolgekrieg) über die Frage seiner Nachfolge abzuzeichnen, in der jede Macht einen jeweils anderen Favoriten unterstützte. Damit zerbrach nicht nur die kurzlebige französisch-spanische Allianz, vielmehr versuchte die spanische Regierung nun zu einem Ausgleich mit England zu gelangen, der es ihr erlaubte, den Rücken freizubekommen. Dies erwies sich für England als Glücksfall, denn tatsächlich hatte der Conde de Olivares, leitender Minister in Spanien, im Zuge des französisch-spanischen Bündnisses vom Frühjahr 1627 mit dem Gedanken an eine Invasion der britischen Inseln in Irland oder Schottland gespielt. Außerdem wurde im August 1628 der Duke of Buckingham ermordet. Neuer außenpolitischer Berater des Königs wurde Sir Dudley Carleton, der im Gegensatz zu seinem Vorgänger kaum eigene Interessen verfolgte. Die Expeditionen gegen Frankreich hatte Charles I. nur unter großen Opfern finanzieren können. Unter anderem hatte er Krongut und Juwelen verkauft, wertvolles Besteck einschmelzen lassen und die Eintreibung von Zwangsanleihen befohlen. Dennoch hatte sich auch dieser Krieg als Desaster erwiesen. Am 24. April 1629 unterzeichneten Frankreich und England den Frieden von Susa; er brachte Charles keinerlei Gewinn ein. Die spanische Regierung ließ nun die Friedensbereitschaft in London zunächst durch Abbé Cesare Alessandro Scaglia (1592–1641) aus dem verbündeten Savoyen sondieren, bevor im Juni 1629 der in spanischen diplomatischen Diensten stehende Maler Peter Paul Rubens (1577–1640) zu direkten Verhandlungen in London eintraf. Die Gespräche verliefen fruchtbar, sodass Charles bereits im November 1629 den ehemaligen Botschafter Sir Francis Cottington (1579–1652) mit dem Auftrag nach Madrid entsandte, den Frieden von London, welcher 1604 den letzten englisch-spanischen Krieg beendet hatte, zu bestätigen. Hier fuhren sich die Verhandlungen jedoch bald fest, da Charles auf der vollständigen Räumung der Pfalz von spanischen Truppen bestand. Ab April 1630 war abzusehen, dass die Spanier dem nicht zustimmen würden. Dennoch zogen sich die englischen Versuche sie umzustimmen bis zum Herbst hin. Erst am 27. September 1630 stimmte Charles schließlich einem Vertragsentwurf zu, in welchem von der Pfalz keine Rede mehr war. So gelang nach neunmonatiger Verhandlungsdauer am 15. November 1630 der Abschluss eines Friedensvertrags, der eine modifizierte Version des Vertrags von 1604 darstellte und im Wesentlichen den Status quo ante herstellte. Am 15. Dezember 1630 wurde der Friedensvertrag offiziell bekannt gegeben und zwei Tage später von Philipp IV. und Charles I. ratifiziert. Folgen Der Einfluss des englischen Vorgehens auf den Verlauf des Dreißigjährigen Krieges blieb gering. So gibt es keine Indizien dafür, dass der englische Krieg Spanien in seinen Anstrengungen, die Vereinigten Provinzen zu besiegen, wesentlich behindert hätte. Zwar hatten die Niederländer Gelder und Verstärkungen durch in England geworbene Söldnerkontingente erhalten, doch da der Krieg in diesen Jahren fast nur aus Belagerungen, nicht aber aus größeren Operationen und Feldschlachten bestand, fiel das kaum ins Gewicht. Aus dem Friedensschluss und der anschließenden kooperativen Haltung Englands zog Spanien eher Vorteile. Spanischen Schiffen wurde ab 1631 erlaubt, auf ihrem Weg von Spanien nach den Niederlanden und zurück englische Häfen zu benutzen. Dies stellte zweifellos eine logistische Unterstützung dar. Die wichtigsten unmittelbaren Folgen hatte der Friedensschluss deshalb auf die Vereinigten Provinzen der Niederlande. Aus diesem Grund versuchte die englische Diplomatie lange, ihre Friedensverhandlungen gegenüber den Verbündeten geheim zu halten oder herunterzuspielen. Doch das Verhältnis beider Staaten verschlechterte sich zusehends und erreichte mit dem Frieden von Madrid einen Tiefpunkt. Am 12. Januar 1631 kam sogar noch ein geheimer Zusatzvertrag zwischen Spanien und England zustande, der einen gemeinsamen Angriff auf die Vereinigten Provinzen vorsah. Dies war eine Geste, mit der König Charles I. seine guten Absichten gegenüber Spanien demonstrieren wollte. Denn er hoffte nun in Kooperation mit Spanien zu erreichen, was er durch einen Krieg nicht hatte erzwingen können: die Wiederherstellung der Kurpfalz und deren Räumung von spanischen Truppen. Auch wenn unklar bleibt, inwieweit beide Seiten wirklich vorhatten, den Bedingungen des Vertrags zu entsprechen, hatte Charles damit England erstmals seit 1560 wieder ins spanische Lager geführt, wo es bis zum Ausbruch des Französisch-Spanischen Krieges im Jahre 1635 verblieb. In den Jahren 1632 und 1634 erreichten Nachrichten die Niederlande, dass der spanische Botschafter in London versuche, einen englisch-niederländischen Konflikt über die Kolonie Nieuw Nederland zu provozieren und somit einen Krieg beider Länder auszulösen. Obwohl es dazu nicht kommen sollte, wurde offensichtlich, dass die Politik Charles’ I. das englisch-niederländische Verhältnis für die nächsten Jahrzehnte belastet hatte. Beide Staaten sollten sich in den kommenden 50 Jahren misstrauen und nicht weniger als drei Kriege gegeneinander (siehe Englisch-Niederländische Seekriege) führen. Nach dem Frieden von Madrid zog sich England aus den europäischen Konflikten weitgehend zurück. Zwar versuchte man seit 1630 den im Reich gelandeten Schwedenkönig Gustav II. Adolf gegen die Zahlung von Subsidien zur Befreiung der Kurpfalz zu bewegen, doch auch diese diplomatischen Bemühungen schlugen fehl. Als Friedrich V. von der Pfalz im November 1632 gestorben war, hatte das Thema für die englische Politik keine Priorität mehr. Seit 1630 trat Frankreich außerdem als größter Geldgeber und Unterstützer der protestantischen Mächte gegen die Habsburger auf. Charles I. verfügte demgegenüber ohne Gelder und Truppen über keinerlei diplomatisches Gewicht mehr in Europa und verlor darum im protestantischen Lager zwangsläufig an Bedeutung. Erst als Frankreich sich ab 1635 im Krieg mit Spanien befand und eine Eroberung der Kurpfalz durch französische Truppen wahrscheinlicher wurde, signalisierte Charles I. seine Bereitschaft, erneut gegen Spanien Partei zu ergreifen. Bevor dies realisiert werden konnte, machte der Konflikt in Schottland (siehe Bischofskrieg) eine Intervention im Ausland jedoch unmöglich. Spanien wiederum hatte nach dem Ausbruch des Krieges gegen Frankreich ein erhöhtes Interesse an einem Bündnis mit England, um die englischen Häfen im Ärmelkanal nutzen zu können. Es versprach daher bereits 1636, sich für eine Restauration der Kurpfalz (nun im Besitz Kaisers Ferdinands III.) einzusetzen. Es zeigte sich jedoch 1639 während der Seeschlacht bei den Downs, dass England nicht einmal über die nötigen Kräfte verfügte, um seine eigenen Küstengewässer zu schützen, geschweige denn die Rolle eines nützlichen Verbündeten zu übernehmen. Überdies hatte sich das Verhältnis zwischen König Charles I. und dem englischen Parlament durch die Streitigkeiten während des Krieges dramatisch verschlechtert. Als Kronprinz war die Initiative zum Krieg von ihm und Buckingham ausgegangen, wobei er das Parlament gegen seinen zögernden Vater benutzt hatte. Aber 1625 hatte sich die Versammlung unkooperativ gezeigt und im folgenden Jahr hatte sie überhaupt keine Gelder bewilligt. Als Charles sich diese Gelder durch Zwangsanleihen verschaffte und Leute, die sich dem widersetzten, inhaftierte, stärkte er die Opposition. Im Jahr 1628 wies Charles die vom Parlament eingereichte „Petition of Right“ zurück und löste es zum dritten Mal auf, um seinen Favoriten Buckingham zu schützen. Damit „goss er Öl in das Feuer der konstitutionellen Krise“. Ein letzter Versuch, das Parlament 1629 zur Geldbewilligung zu bewegen, endete in der Erklärung der Abgeordneten, dass die Geldeintreibungen des Königs und die Verhaftungen illegal seien. Nachdem Charles I. das Parlament wiederum aufgelöst hatte, berief er es für fast zehn Jahre nicht mehr ein. Die spanienfreundliche Politik der nächsten Jahre machte ihn besonders unter den radikalen Puritanern unbeliebt. Als Charles die Abgeordneten schließlich wieder für Steuerbewilligungen brauchte und ein Parlament einberief, markierte dies den Beginn des Englischen Bürgerkrieges, an dessen Ende der König im Januar 1649 enthauptet wurde. Literatur Ronald G. Asch: Jakob I. – König von England und Schottland. Kohlhammer, Stuttgart 2005, ISBN 3-17-018680-9. Porfirio Sanz Camañes: Diplomacia hispano-inglesa en el siglo XVII – Razón de estado y relaciones de poder durante la Guerra de los Treinta Años, 1618–1648. Univ. de Castilla, La Mancha 2002. ISBN 84-8427-155-2. Charles Carlton: Charles I – The personal monarch. Routledge, London, New York 1995, ISBN 0-7448-0016-1. Thomas Cogswell: The Blessed Revolution. Cambridge University Press, Cambridge 1989, ISBN 0-521-36078-1. Richard Cust: Charles I – A Political Life. Parson/Longman Publ., London, New York 2007, ISBN 978-1-4058-5903-5. Frances Gardiner Davenport (Hrsg.): European Treaties Bearing on the History of the United States and Its Dependencies to 1648. Lawbook Exchange, Clark/New Jersey 2004, ISBN 1-58477-422-3. Geoffry Parker (Hrsg.): The Thirty Years’ War. Routledge, London, New York 1997, ISBN 0-415-12883-8. Geoffrey Regan: The Guinness Book of Military Blunders. Guinness Publ., Enfield 1991, ISBN 0-85112-961-7. Peter Hamish Wilson: The Thirty Years War – Europe’s tragedy. Penguin Books, London 2009, ISBN 978-0-674-03634-5. ältere Darstellungen John Glanville: The Voyage to Cadiz in 1625. London 1838. Luis Gamboa y Eraso: Verdad de lo sucedido con ocasión de la venida de la armada inglesa sobre Cádiz en primero de noviembre de 1625. Córdoba 1626. Weblinks British History Online: Articles of Peace Entercourse and Commerce, Concluded. – Text des Friedensvertrages vom 15. November 1630 (englisch) Einzelnachweise Krieg (17. Jahrhundert) Geschichte Englands in der Frühen Neuzeit Militärgeschichte (England) Spanische Geschichte (Habsburgerzeit) Krieg (Spanien) Krieg in der britischen Geschichte Dreißigjähriger Krieg Achtzigjähriger Krieg 1620er
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https://de.wikipedia.org/wiki/Roche-Turm%20%28Bau%201%29
Roche-Turm (Bau 1)
Der Roche-Turm (Bau 1), auch Roche Tower, ist ein Hochhaus in der Schweizer Stadt Basel. Das Gebäude ist Hauptsitz des Pharmakonzerns Roche Holding, der auch Eigentümer und Bauherr des Bauwerks ist. Mit 178 m war der Roche-Turm von seiner Fertigstellung 2015 bis zur Eröffnung des Roche-Turm (Bau 2) im September 2022 das höchste Hochhaus der Schweiz. Das höchste freistehende Gebäude des Landes ist jedoch weiterhin der nur wenige Kilometer von Basel entfernte Fernsehturm St. Chrischona mit 250 Metern. Das Hochhaus dient rein betrieblichen Zwecken und ist öffentlich nicht zugänglich. Der von den Architekten Herzog & de Meuron entworfene Roche-Turm entstand im Rahmen einer umfangreichen baulichen Neustrukturierung des Basler Stammsitzes. Geschichte Vorgeschichte und Planungen Im September 2006 stellte die Konzernleitung der Roche Holding ein erstes Hochhaus-Projekt vor. Das damals ebenfalls von Herzog & de Meuron geplante und als Twist 2 Spirals bezeichnete Gebäude sollte ursprünglich 163 Meter, später 154 Meter hoch werden. Die Gebäudehülle sollte die Form zweier gegenläufiger stoffbespannter Wendeln (als Referenz auf eine Doppelhelix) aufweisen und Platz für 2400 Arbeitsplätze bieten. Vorgesehen war eine Eröffnung im Jahr 2011. Nach mehreren Modifizierungen musste dieses Projekt im Stil des Dekonstruktivismus 2008 aufgrund zu hoher Investitionskosten – das Bauprojekt wäre auf mindestens 750 Mio. Franken Baukosten gekommen – und nicht erfüllbarer funktionaler Anforderungen aufgegeben werden. Schliesslich wurde im Dezember 2009 ein markant überarbeitetes Projekt vorgestellt. Dieser neue Entwurf orientierte sich an der modernen Formensprache der Architektur von Otto Rudolf Salvisberg. Weisse Beton- und dunkle Fensterbänder sollten den Turm stark horizontal gliedern. Damals beliefen sich die Schätzungen der Kosten dieses Neubaus auf 368 Mio. Franken. Dieser überarbeitete Entwurf erfuhr eine moderate Neugestaltung, die das Hochhaus «dezenter und symmetrischer» erscheinen lassen soll. Insbesondere wurden die treppenartigen Abstufungen zur Westseite überarbeitet. Auch die horizontalen Bänder verlaufen parallel zur Strasse und kragen nicht mehr aus, was dazu führt, dass sich das Bauwerk besser in die Strassenflucht fügt. Statt der dunklen Fenstergläser sollten nun helle verwendet werden. Der nach dem Minergie-Standard zu errichtende Bau 1 würde etwas höher ausfallen und eine Geschossfläche von 76'000 m² aufweisen. Er würde 2000 Mitarbeitern Platz bieten sowie ein Auditorium mit 500 Sitzplätzen haben. Nachdem im Dezember 2009 die rund einjährige Projektierungsphase beendet war, konnte im Januar 2010 die Planung aufgenommen werden. Im November 2010 folgte die Genehmigung des Bebauungsplans, im Oktober 2010 die Baueingabe und im Februar 2011 die Baubewilligung. Am Standort des zukünftigen Hochhauses wurde von Oktober 2010 bis Februar 2011 der ältere Bau 15 von Salvisberg abgebrochen. Bauarbeiten Zur Vorbereitung der Bauarbeiten wurde von Oktober 2010 bis Februar 2011 der «Bau 15» abgebrochen, an dessen Stelle das neue Hochhaus stehen sollte. Diese Arbeiten hatten aufgrund der benachbarten Laboratorien mit möglichst niedrigen Erschütterungen zu erfolgen. Mit der erteilten Baubewilligung konnte dann im Anschluss im Februar 2011 mit dem Aushub begonnen werden; die Grundsteinlegung erfolgte am 9. Mai 2012 in der knapp 22 Meter tiefen Baugrube. Die Baukosten sollen sich nun auf 550 Mio. Schweizer Franken belaufen. Wegen der unmittelbaren Nähe zum Rheinufer war ein tiefes Fundament notwendig, das mit 490 Ankern und 389 Pfählen bis zu 50 Meter in das Erdreich ragt. Zum Schutz des westlich von der Baustelle stehenden 63 Meter hohen Nachbargebäudes «Bau 52» und aufgrund des anstehenden Grundwassers mussten eine wasserdichte Baugrube geschaffen und gleichzeitig der Grundwasserspiegel abgesenkt werden. Damit sich der vom Architekten Roland Rohn entworfene 18-geschossige «Bau 52» möglichst wenig setzt, wurden im Vorfeld aufwändige Verformungsberechnungen mittels Finite-Elemente-Methode angestellt. Zuständig für den Hochbau war das Bauunternehmen Marti. Die Generalplanung übernahm Drees & Sommer, die Tragwerkplanung das Stuttgarter Ingenieurbüro Weischede, Herrmann und Partner. Die Projektierung des Gebäudes sah vor, dass im Dezember 2014 der Rohbau fertiggestellt sein solle, die Eröffnung war für das zweite Halbjahr 2015 vorgesehen. Nachdem im Februar 2014 die 100-Meter-Marke erreicht wurde, übertraf seine Bauhöhe bereits im Juni 2014 die des 2011 eröffneten Zürcher Prime Towers. Insgesamt wuchs das Bauwerk jeden Monat um etwa ein Stockwerk an. An den Bauarbeiten waren rund 450 Personen beteiligt. Im Juli 2014 wurde bekannt, dass bei 30 Arbeitern eines polnischen Subunternehmers aus Danzig, die für die Fassadenarbeiten angestellt worden waren, Lohndumping betrieben wurde. Nach einem kurzzeitigen Streik soll es zu einer Einigung gekommen sein, die auch eine Nachzahlung umfasste. Insgesamt dauerten die Arbeiten an der Fassadenverkleidung von September 2013 bis August 2015 an. Etwa im selben Intervall erfolgte parallel der Innenausbau des Hochhauses. Am 22. Oktober 2014 konkretisierte das Unternehmen Roche ein Investitionspaket in Höhe von 3 Milliarden Franken, mit dem es den Standort des Basler Roche-Areals weiter stärken will. Neben Forschungsstätten werde das Unternehmen seine über ein Dutzend bisher im Stadtgebiet verteilten Standorte weiter verdichten. Dazu soll ein weiteres Hochhaus (Bau 2) bis 2021 für 1700 Büroarbeitsplätze bezugsfertig sein; mit rund 50 Stockwerken und 205 Meter Höhe werde es den bisherigen Roche-Turm übertreffen. Der Bau 2 soll optisch an den Roche-Turm angelehnt sein und auf der gegenüberliegenden Seite der Grenzacherstrasse stehen. Am 27. November 2014 wurde nach Fertigstellung des Rohbaus das Richtfest des Roche-Turms gefeiert. Mit dem Erreichen der vollständigen Hochhaushöhe erreichte der hydraulisch gesteuerte Kletterkran eine Hakenhöhe von etwa 204 Metern und eine finale Höhe des Turmkrans von 191,5 Metern. Damit war er der höchste bisher in der Schweiz eingesetzte Kran. Während der Bauarbeiten war der Wolffkran 7532.16 an bis zu sechs Stellen fest mit dem Hochhausrohbau verbunden und arbeitete sich gerüstfrei nach oben. Die Fassadenteile, die der Kran hievte, wogen bis zu zwei Tonnen. Ein weiterer kompakter Wippkran an der Westseite der Hochhausbaustelle konnte mit seinem steil nach oben aufstellbaren 45 Meter langen Auslegearm am Bauwerk vorbeischwenken. Eine Kletterschalung umschloss den inneren Kern des Hochhausbauwerks, in dem die tragende Struktur der Stockwerke armiert und betoniert wurden. Bis der Beton ausgehärtet war, was rund zehn Wochen dauerte, wurden die einzelnen Etagen mittels Spriessen gestützt. Mehrere Etagen versetzt folgte eine zweite Arbeitsplattform, welche durch einen umlaufenden Windschild gesichert und abgeschirmt war. Im Schutz des Windschilds befand sich auch eine der Technikzentralen der Baustelle. Mitte April 2015 war der wenige Tage dauernde Rückbau des Kletterkrans abgeschlossen. Die wegen der Verankerung des Krans am Hochhaus ausgesparten Fassadenelemente wurden Ende August/Anfang September gesetzt. Seit Eröffnung Am 18. September 2015 wurde der Roche Tower offiziell eröffnet. Die rund 2000 Mitarbeiter bezogen das Gebäude sukzessive bis zum Frühjahr 2016. Vollständig bezogen war das Gebäude im Mai 2016. Seit Juli 2016 wird in kleinen Besuchergruppen die interessierte Öffentlichkeit durch das Gebäude geführt. Im Februar 2017 kam es zur Bildung von Vereisung an der Aussenfassade. Aus Sicherheitsgründen wurde die Grenzacherstrasse am Bauwerk teilweise gesperrt. Nach einer längeren Kälteperiode löste sich nach gestiegenen Temperaturen Eis an der Fassade. Man vermutet die gute Isolierung des Bauwerks als Ursache dafür. Ab dem 28. September 2021 feierte das Unternehmen Roche sein 125-jähriges Jubiläum mit einer Lichtshow, die vier Nächte lang auf die Fassade des Roche-Turm 1 projiziert wurde. Untermalt wurde die Lichtshow mit elektronischer Musik des Künstlers Worakls, die vom Sinfonieorchester Basel gespielt wurde. Beschreibung Lage und Umgebung Der Roche-Turm befindet sich in Kleinbasel auf dem Betriebsgelände des Pharmaunternehmens Roche auf 257 m ü. M. Das Areal wird von der Wettsteinallee und dem Rhein begrenzt und wird im südlichen Drittel von der Grenzacherstrasse unterbrochen. In diesem südlichen Abschnitt steht der Roche-Turm, der den 80 Jahre alten sogenannten Bau 15 ersetzt hat. Östlich angrenzend befindet sich der am Rheinufer gelegene Solitudepark mit dem Tinguely-Museum. Sowohl die Bahnstrecke zum Badischen Bahnhof als auch die A2 verlaufen nur wenige hundert Meter vom Hochhaus entfernt. Der Roche-Turm steht etwa 1500 Meter Luftlinie östlich des Basler Stadtkerns und ist aufgrund der geografischen Gegebenheit der Basler Bucht auch von weit über die Stadtgrenzen hinaus zu sehen. Abgesehen von den umgebenden Höhenzügen ist er beispielsweise auch von erhöhten Standpunkten im Birs- oder Wiesental zu sehen. Architektur und Daten Der zur Westseite treppenartig, sich nach oben verjüngende Turm verfügt über drei Unter- und 41 Obergeschosse – mit Raumhöhen zwischen 2,90 und 3,48 Metern. Mit Ausnahme der obersten beiden Stockwerke bilden jeweils zwei Stockwerke eine Stufe. Die Ostfassade hat hingegen nur alle drei Stockwerke eine leichte Abstufung, während die Nord- und Südfassade senkrecht stehen, und passt sich in die Strassenflucht der Grenzacherstrasse ein. Die Masse des Roche-Turms beträgt 210'000 Tonnen. Der Aushub betrug 130'000 Tonnen. Für das Hochhaus wurden 56'000 Kubikmeter Beton, davon rund ein Drittel unterirdisch, und 12'000 Tonnen Bewehrung verbaut. Der gesamte Baukörper ist schlicht gehalten, mit weissen Fassadenelementen. Die Architektur orientiert sich an der modernen Architektursprache von Otto Rudolf Salvisberg, der in den 1930er Jahren der Stammarchitekt des Pharma-Konzerns war und neben Bebauungsplänen auch viele Gebäude am Hauptsitz in Basel entwarf. Die Länge auf Erdgeschossniveau beträgt 94 Meter, die Breite 37 Meter, was eine Grundfläche von 3500 Quadratmeter ergibt. Im vierten Geschoss befindet sich eine grosse Terrasse, die einen Abschluss mit der unteren Einheit bildet. Diese ist der Sondernutzung durch Auditorium im 2. Obergeschoss und Personalrestaurant im 3. Obergeschoss vorbehalten. In diesen ersten Geschossen wurden Räume mit übergeordneten Funktionen untergebracht. In den drei Untergeschossen wie auch im 18. und 39. Obergeschoss ist die Technikzentrale untergebracht. Die oberirdische Bruttogeschossfläche ist 74'200 Quadratmeter, das oberirdische Gebäudevolumen 324'000 Kubikmeter; gesamthaft beträgt es 375'000 Kubikmeter. Unterhalb des auskragenden Auditoriums, welches über dem Eingangsbereich eine grosszügige Plaza überdacht, steht eine rund 6,5 Meter hohe und 60 Tonnen schwere Steinskulptur. Diese Arbeit Rock on Top of Another Rock, bei der zwei massive Steine aus Gurtnellen aufeinandergesetzt sind, stammt von dem Künstlerduo Peter Fischli und David Weiss. Auf drei Ebenen des Hochhauses befindet sich an den Ecken je eine Leuchteinheit der Flugsicherungsbefeuerung. Die acht Leuchteinheiten in den unteren beiden Ebenen leuchten permanent, während die Sicherheitsbeleuchtung an der Dachkante blinkt. Auf dem Nordteil des Hochhausdaches befindet sich ein Hebezeug mit drehbarem Teleskopausleger, der unter anderem für Wartungsarbeiten am Hochhaus verwendet wird. Die höchsten Fassadenelemente oberhalb des höchsten Stockwerks stellen einen Blendenschutz dar. Sie bilden eine Brüstung, hinter der sich der Kran und der auskragende Versorgungsschacht verbergen lassen. Aufgrund der Lage Basels am Oberrheingraben äusserte Roche als Bauherr den Wunsch, den Erdbebenschutz des Hochhauses weit über die normativen Anforderungen zu verstärken. Üblicherweise wird ein Erdbeben mit einer Wiederkehrperiode von 475 Jahren zugrunde gelegt. Der Roche-Turm wurde derart konstruiert, dass er stärkeren Erdbeben mit einer Wiederkehrperiode von 2000 Jahren standhält. Dazu wurde die kombinierte Pfahl-Platten-Gründung des vergleichsweise schmalen Hochhauses verstärkt. 2018 wurde das Haus mit dem Architektur- und Ingenieurpreis erdbebensicheres Bauen gewürdigt. Innenarchitektur und Technik Neben einem Mitarbeiterrestaurant für 350 Personen sowie einer Cafeteria mit 100 Plätzen und einer Aussichtsterrasse im 38. Obergeschoss beherbergt der Roche-Turm ein Auditorium mit einer Kapazität für bis zu 500 Sitzplätze. Dieses zeichnet sich durch eine variable Gestaltungsfähigkeit aus, um so einer Vielzahl von Veranstaltungen zur Verfügung stehen zu können. Die Bürolandschaft wird geprägt durch einen Mix von Einzel- und Gruppenbüros, die sich ebenfalls variabel den Erfordernissen anpassen lassen. So kann beispielsweise jeder Mitarbeiter individuell Licht, Storen und Temperatur an seinem Arbeitsplatz regeln. Im Zuge der Minergie-Bauweise wurde das Haus vollständig mit LED-Lichttechnik – über 10'000 im ganzen Bauwerk – und Präsenz- sowie Bewegungsmeldern ausgestattet. In verschiedenen Teilen des Bürohochhauses existieren sogenannte Kommunikationszonen (hausintern «Studios» genannt), die stockwerkübergreifende Freiräume schaffen und eine vertikale Kommunikation ermöglichen. Diese Kommunikationszonen beziehen teilweise auch Balkone mit ein, die den Aufenthaltsbereich entsprechend erweitern, und verlaufen über zwei oder drei Stockwerke und sind zur West- oder Ostseite ausgerichtet. Der Roche-Turm verfügt über zwei Aufzugsschächte. Einer führt von den Tiefgeschossebenen bis zum 17. Obergeschoss. Ein weiterer verläuft durchgängig und verbindet die Tiefgeschosse mit den Etagen ab dem 17. Stockwerk. Damit ermöglicht dieser zweite Aufzugsschacht einen Umstieg in der 17. Etage. Die Aufzüge des Unternehmens Schindler befördern die Passagiere mit einer Geschwindigkeit von bis zu 6 Metern pro Sekunde. Insgesamt verkehren 14 Aufzüge im Hochhaus. Das Heizen im Roche-Turm erfolgt ausschliesslich über die Abwärme aus dem betriebseigenen Areal und die Kühlung wird mit Hilfe des Grundwassers vorgenommen. Aus diesem Gründen wird unter anderem der Minergie-Standard deutlich übertroffen. Mit einem Primärenergiebedarf von 80,2 kWh/(m2·a) für Heizen, Kühlen, Lüftung und Licht liegt der Roche-Turm im Vergleich zu anderen Hochhäusern an sehr guter Stelle und erfüllt auch die Kriterien für ein Grünes Gebäude. Die Roche beabsichtigt, nach einer zweijährigen Überwachungsphase, Optimierungen am Gebäude- und Anlagenbetrieb vornehmen zu lassen. Rezeption Trotz der Bemühungen, das markant hohe Bauwerk den schlichten Formen Salvisbergs anzugleichen, fiel die erste Beurteilung zum Fertigstellungszeitpunkt über die architektonische Wirkung im Stadtbild eher kritisch aus. Der Roche-Turm ist fast doppelt so hoch wie der 105 Meter hohe Messeturm, das bisher höchste Gebäude in Basel, rund 100 Meter höher als die Wohn- und Geschäftshäuser der 1960er und 1970er Jahre und überragt den durchschnittlichen Stadtkörper um das Zehnfache. Damit wirkte das Hochhaus im Fertigstellungsjahr wie ein Solitär im Basler Stadtbild. Der Kunsthistoriker und wissenschaftliche Mitarbeiter des Wohnforums der ETH Zürich Klaus Spechtenhauser beschreibt, dass in Fachkreisen und der breiten Öffentlichkeit mehrheitlich Ratlosigkeit und leise Resignation angesichts des Turmbaus vorherrsche. Ein tatsächlicher öffentlicher Diskurs habe nie stattgefunden, man sei mit dem enormen Massstab konfrontiert worden und die Zurschaustellung der wirtschaftlichen Potenz sei fast schon beängstigend. Auch der ehemalige Basler Kantonsbaumeister Carl Fingerhuth sieht den fehlenden Diskurs über den Roche-Turm kritisch. Die fehlende städtebauliche Einbettung zeuge von Arroganz der Bauherren, die lediglich ein exemplarisches Zeichen ihrer Macht mit dem Bauwerk monumentalisiert hätten. Die Kunstkritikerin Karen N. Gerig sieht zwar Zweck und Notwendigkeit des Roche-Turms ein, bezeichnet aber seine Höhenpräsenz als Mahnmal dafür, dass Basel nicht weiter wachsen kann, und dafür, wie abhängig die Stadt vom Geld der ansässigen Pharmaindustrie sei, weil die sie nicht ausserhalb ihrer Kantonsgrenzen schicken könne. Es wäre dumm gewesen, das Bauwerk nicht zu erlauben, aber gerade deswegen sei es ein Zeichen der Resignation und schlicht nicht schön. Der Kulturredaktor Till Briegleb ist in seiner Kritik noch drastischer. Bei der Gestaltung des Roche-Turms sei der menschliche Massstab abhandengekommen, schrieb er in art – Das Kunstmagazin. Er vergleicht die Form mit dem utopischen Plan einiger britischer Architekten, in Hamburg das Alsterzentrum Ende der 1960er Jahre durch eine Vielzahl ähnlicher Wohnhochhäuser zu gestalten. Der massive, auffällige Baukörper würde in einem zu starken Kontrast zur kleinteilig und seit Jahrhunderten gewachsenen Struktur Kleinbasels stehen. Der Roche-Turm sei daher nichts anderes als eine gleichermassen langweilige wie geschmacklose «Chemie-Säge» babylonischen Ausmasses. Demgegenüber findet Andreas Janser, der Kurator des Museums für Gestaltung Zürich, die Gestaltung der Arbeitsplätze im Roche-Turm sehr überzeugend und das Hochhaus auch insgesamt gelungen. Er erklärt die ablehnende Haltung damit, dass Hochhäuser in Europa immer Fremdkörper seien. Auch der Schweizer Städtebau- und Planungshistoriker Angelus Eisinger findet, dass die Hochhausdebatte nur an der Silhouette und an der Höhe des Baukörpers auszumachen, zu kurz greife. Vielmehr müsse das Hochhaus Brücken zur Stadt schlagen. Eisinger sieht die weltweite Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit, die von dem Roche-Turm für Basel ausgehe ebenso wie die positiven Effekte in den Betriebsabläufen der Roche. Darüber hinaus sehe er zwar keinen Mehrwert für die Stadt, aber das sei eben nicht zwingend eine Frage des Hochhauses an sich. Denn auch der Novartis-Campus gehe wenig Beziehung mit der Stadt ein, obwohl er ein städtebaulich und ästhetisch perfekt inszeniertes Stück Stadt sei. Rund 130 Anwohner im Wettsteinquartier haben sich zu einem Verein zusammengeschlossen und wollen ihren Forderungen gegenüber der Roche und der Stadt Basel Gehör verschaffen. Sie sind durch die relative Nähe des Hochhauses täglich von grösserem Verkehrsaufkommen und dem langen Schattenwurf betroffen. Da durch das noch höher geplante Hochhaus Bau 2 und vier weitere hohe Gebäude sich das Problem in den nächsten Jahren noch verschärfen wird, fordert der Verein für die Anwohner finanzielle Entschädigungen. Literatur Angelus Eisinger: Der Roche-Turm zu Basel. In: Hochparterre, 9/2010, , S. 34–35. (online) Der Roche-Turm: sind 175 Meter zu hoch für Basel? In: Hochparterre, 23/2010, , S. 6–7. (online) Rahel Marti: Kniefall vor dem Hochhaus. Die Diskussion über den 180 Meter hohen Turm der Roche fällt Basel schwer. In: Hochparterre, 4/2010, . (online) Bauer, Mösle, Schwarz: Green Building. Leitfaden für nachhaltiges Bauen. Springer Berlin 2013, ISBN 978-3-642-38296-3, S. 214–227. Bauen + Wirtschaft. Basel-Stadt. Basel-Landschaft. Wirtschafts- und Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-944820-05-7, S. 18–19. (online) Curt M. Mayer: Energieeffizienz beim Roche-Turm Basel. In: Haustech, 27/2014, , S. 24–30. (hier online) Alexander Hosch: Architekturführer Schweiz, die besten Bauwerke des 21. Jahrhunderts. Callwey, München 2015, ISBN 978-3-7667-2149-5, S. 254. Ernst, Erb, Frank, Herrmann: Ein innovativer Schritt in die Höhe. Roche Verlag, Basel 2016, ISBN 978-3-907770-95-5. Tilo Richter: 178 Meter jenseits der Stadt. In: Basler Stadtbuch 2014, S. 114–119 PDF; 10,2 MB. Weblinks Roche eröffnet neues Bürogebäude Bau 1 in Basel. Medienmitteilung der Roche vom 18. September 2015 Geniessen Sie die Aussicht auf Basel und Region aus einer Höhe von 178 Meter. Webcamsicht vom Roche-Turm Laurent Pitteloud: Baugrube und Fundation des höchsten Hauses der Schweiz (Roche Bau 1). (pdf), Mitteilung der Geotechnik Schweiz zur Herbsttagung 13. September 2012. 20 Minuten: «Bau 1» legt pro Woche ein halbes Stockwerk zu. Abgerufen am 6. Februar 2014. SRF: Roche Turm wächst alle zwei Wochen um eine Etage. Bericht vom 25. Juni 2013, abgerufen am 3. März 2014. SRF: 178 Meter über Basel: Das höchste Schweizer Gebäude ist eröffnet. Beitrag vom 18. September 2015, abgerufen am 23. September 2015. Einzelnachweise Bürogebäude in Basel Hochhaus in Basel Hochhaus in Europa Bauwerk der Moderne in der Schweiz Roche Holding Herzog & de Meuron Erbaut in den 2010er Jahren Bürohochhaus
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https://de.wikipedia.org/wiki/Frank%20Rizzo
Frank Rizzo
Frank Rizzo (* 23. Oktober 1920 in Philadelphia, Pennsylvania; † 16. Juli 1991 ebenda) war ein amerikanischer Politiker und von 1972 bis 1980 Bürgermeister von Philadelphia. Er entstammte einer italoamerikanischen Familie und wuchs in kleinbürgerlichen Verhältnissen in South Philadelphia auf. Ohne Schulabschluss begann er seinen Werdegang als Polizist und arbeitete sich bis zum Polizeichef der Stadt empor. In dieser Funktion erreichte er wegen seines kontrovers diskutierten harten Vorgehens gegen die afroamerikanische Bürgerrechts- und studentische Protestbewegung internationale Bekanntheit. Viele Seiten warfen ihm Polizeigewalt und Rassismus vor. Rizzo trat bei insgesamt fünf Bürgermeisterwahlen an, von denen er die ersten beiden für sich entschied, und kandidierte dabei zuerst für die Demokraten und später für die Republikanische Partei. Richard Nixon orientierte sich im Präsidentschaftswahlkampf von 1972 thematisch an Rizzos Law-and-Order-Politik und suchte seine Kooperation. Rizzos Person und Amtsführung polarisierten die Bürger Philadelphias in hohem Maße, wobei ihm polizeistaatliche Methoden vorgeworfen wurden. So ordnete er als Bürgermeister die Telefonüberwachung von politischen Gegnern durch eine eigens dafür eingerichtete Spionage-Einheit an. Eine Petition für Rizzos Abwahl, ausgelöst durch historisch einmalige Abgabenerhöhungen zu Beginn seiner zweiten Amtszeit, scheiterte im Jahr 1976. Weil die in der Stadtordnung Philadelphias festgeschriebene Mandatsbeschränkung keine dritte Amtszeit zuließ, schied er 1980 aus dem Rathaus aus. Danach trat er bei den folgenden drei Bürgermeisterwahlen an und moderierte zwischenzeitlich eine Talk-Show in einem lokalen Radiosender. Während des Wahlkampfes 1991 starb Rizzo an den Folgen eines Herzinfarktes. Im Juni 2020 wurden als Reaktion auf die Proteste infolge des Todes von George Floyd sowie die Black-Lives-Matter-Bewegung in Philadelphia ein Denkmal Rizzos entfernt sowie ein ihn abbildendes Wandgemälde am Italian Market übermalt. Leben und Laufbahn Ausbildung und Erziehung Rizzos Vater, Raffaele Rizzo, emigrierte wegen der Krise in der Landwirtschaft Süditaliens im Jahr 1908 als 14-Jähriger aus dem italienischen Chiaravalle Centrale, Kalabrien, in die Vereinigten Staaten. Er ließ sich in Philadelphia nieder, das in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sein größtes Bevölkerungswachstum hatte. Die Einwanderer kamen hauptsächlich aus Süd- und Osteuropa. Wie fast alle Italoamerikaner, die einen äußerst niedrigen sozialen Status hatten und von den früher zugewanderten sowie wirtschaftlich erfolgreicheren Deutsch- und Irischamerikanern von politischer Machtteilhabe ausgeschlossen wurden, lebte er in South Philadelphia. Diese Ghettoisierung war damals in Philadelphia nur noch bei den Afroamerikanern zu beobachten. Die Kriminalität der Black Hand Gang und das Entstehen der Philadelphia Crime Family unter Salvatore Sabella verstärkten die Diskriminierung der Italoamerikaner noch weiter. Raffaele Rizzo arbeitete als selbständiger Schneider mit eigenem Geschäft. Im Jahr 1917 trat er in den Polizeidienst ein und führte die Schneiderei als Nebenerwerb fort. Frank Rizzos Mutter, Theresa Erminio, wuchs in South Philadelphia auf und hatte aus Italien stammende Eltern. Ihr Vater war ein Handwerker aus der Toskana, der in den 1880er Jahren in die Vereinigten Staaten ausgewandert war und als Steinmetz arbeitete, während ihre Mutter aus den Abruzzen kam. Raffaele Rizzo und Theresa Erminio heirateten im Sommer 1918. Sie erwarben ein Reihenhaus in der South Rosewood Street, das etwas außerhalb der italoamerikanischen Stadtviertel lag. Frank Rizzo kam am 23. Oktober 1920 als ältester von drei Söhnen zur Welt und wurde nach seinem Großvater väterlicherseits, Francesco Rizzo, benannt, wobei der Vorname amerikanisiert wurde. Rizzo wuchs in South Philadelphia auf und erfuhr eine strenge Erziehung. Wie in italoamerikanischen Familien dieser Zeit oft zu beobachten, hatte der Vater zu seinem erstgeborenen Sohn ein mehr forderndes und distanzierteres Verhältnis als zu den jüngeren Brüdern. Die Erwartung an Rizzo war schon in jungen Jahren, sich selbständig zu beschäftigen und Verantwortung für die jüngeren Geschwister zu übernehmen. Auch legte der Vater wenig Wert auf Bildung, sondern betonte harte Arbeit und Gesetzestreue als Ideale. Typischerweise war Rizzos Beziehung zur Mutter enger. Schon als Kind seinen meisten Altersgenossen körperlich überlegen, entwickelte er wenig Ehrgeiz in Schule oder Sport, sondern zeichnete sich durch ausgeprägte Rauflust aus. 1938 musste er die High School ohne Abschluss verlassen, weil er seine verloren gegangenen Schulbücher nicht wieder beschafft hatte. Noch im selben Jahr meldete er sich ohne Erlaubnis des Vaters als Freiwilliger bei der United States Navy. Nach nur kurzer Dienstzeit auf dem Kreuzer USS Houston wurde Rizzo im November 1939 wegen einer Diabetes-insipidus-Diagnose aus der Marine entlassen. Danach arbeitete er auf dem Bau und nach Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg in einem Stahlwerk im Nordwesten Philadelphias, das Schiffsgeschütze herstellte. Im Jahr 1940 half Rizzo seinen Eltern beim Umzug von South Philadelphia nach Germantown, einen Stadtteil mit deutlich höherem Sozialstatus. 1942 starb Rizzos Mutter im Alter von nur 39 Jahren. Einen Monat danach, im April 1942, heiratete er Carmella Silvestri, deren Eltern 1908 aus der Provinz Salerno in die Vereinigten Staaten migriert waren. Bald darauf kaufte er mit seiner Frau ein Reihenhaus in unmittelbarer Nähe der Schwiegereltern in Germantown. Da sein Industriejob zum Unterhalt nicht mehr genügte, orientierte er sich beruflich um. Im März des folgenden Jahres kam Rizzos erster Sohn zur Welt, dem im Jahr 1950 eine Tochter folgte. Streifenpolizist in North Philadelphia (1943–1951) Am 6. Oktober 1943 trat Rizzo in den republikanisch kontrollierten Polizeidienst Philadelphias und, rund um diesen Zeitpunkt, auch in die republikanische Partei ein. Obwohl der Berufseinstieg während des Kriegs einfacher war als zuvor, benötigte er die politische Patronage eines Ortsvorstands Germantowns, der Rizzos Vater kannte; beide waren Mitglieder der Republikaner. Die Polizei Philadelphias wurde zu dieser Zeit von Deutsch- und Irischamerikanern dominiert; so waren von 47 Hauptleuten nur zwei Italoamerikaner. Für die kommenden sieben Jahre ging er im Viertel Nicetown-Tioga, das in North Philadelphia liegt, auf Streife. Neben seiner Körpergröße fiel Rizzo in der Wache von Anfang an durch eine makellose Uniform auf, die zu seinem Markenzeichen wurde. Im April 1944 berichtete das Philadelphia Bulletin erstmals über ihn, als er außerhalb des Dienstes einen Brand in einer Apotheke gelöscht und sich dabei die Hände verbrannt hatte. 1948 fand Rizzos Polizeiarbeit erstmals Erwähnung in der Presse, als er fünf Personen, die einen Taxifahrer überfallen hatten, festnahm. Er trug dabei lediglich Verletzungen im Gesicht davon, während vier der Räuber im Krankenhaus behandelt werden mussten. Im Jahr 1950 richtete der Senat einen Untersuchungsausschuss unter der Leitung von Estes Kefauver mit dem Ziel ein, landesweit Verbindungen zwischen organisiertem Verbrechen, Politik und Polizei aufzudecken. Ganz oben in der Prioritätenliste der Kefauver-Hearings stand Philadelphia, dessen Polizeidienst als besonders korrumpiert galt. Im Oktober 1950 entzog sich ein hochrangiger Polizeibeamter der Anhörung durch Selbstmord, dem noch zwei weitere Suizide von korrupten Polizeioffizieren folgten. Der Beauftragte für öffentliche Sicherheit in Philadelphia, Sam Rosenberg, sah sich daher gezwungen, das ramponierte Ansehen der städtischen Polizei durch Erneuerung des Personalbestands wieder aufzubessern. Zu dieser Zeit fiel ihm auf dem Weg zur Arbeit eines Morgens Rizzo auf, der den Verkehr regelte. Nach Studium seiner Personalakte erhob Rosenberg Rizzo in den Rang eines Sergeants und versetzte ihn nach South Philadelphia, wo er das Kommando über eine Squad, also eine Gruppe von bis zu zwölf Polizisten, an der South 7th Street erhielt. Sein Revier grenzte nördlich an die Downtown des historischen Stadtzentrums (Center City). Rizzo hatte von Rosenberg ausdrücklich den Auftrag erhalten, gegen das Racketeering, also die illegalen Geschäfte des organisierten Verbrechens, vorzugehen. Zu dieser Zeit kam in der amerikanischen Cosa Nostra Philadelphias mit Joseph Ida und seinem Capo Angelo Bruno eine neue Generation an die Macht und drängte die von Harry Rosen geführte Kosher Nostra zurück, die in den 1940er Jahren die Stadt kontrolliert hatte. Als Sergeant stand Rizzo in engem Kontakt mit dem Nachtclubbesitzer Frank Palumbo, der freundschaftliche Beziehungen zu Polizisten, Politikern und Mobstern hatte. Inwieweit es zwischen den beiden zu einer Verständigung kam, ist unklar, jedoch ging Rizzo robust gegen Straßenkriminalität vor, während er die Cosa Nostra und das illegale Glücksspiel weitgehend in Ruhe ließ. Andererseits setzte er laut dem Biographen S. A. Paolantonio in seinem Revier den von Rosenberg vorgegebenen Kurs gegen Polizeikorruption durch. Rizzo war bald für seinen Wagemut und die Vorliebe für brutale Kampfhandlungen mit Schlagstockeinsatz bekannt. Seitdem er im Juli 1951 nach einer gemeldeten Ruhestörung die Tür zu einem Bordell eingetreten und dort nach einer Prügelei neun Personen verhaftet hatte, trug er den Spitznamen Cisco Kid nach dem bekannten Westernheld. Revierleiter in West Philadelphia und Center City (1951–1959) Im November 1951 wurde erstmals nach 67 Jahren republikanischer Vorherrschaft mit Joseph S. Clark ein Demokrat zum Bürgermeister von Philadelphia gewählt. Dies gelang, weil die Demokraten in der weißen Arbeiterklasse und unter den Italoamerikanern South Philadelphias die Dominanz der Republikaner brechen konnten. Als eine seiner letzten Amtshandlungen beförderte Rosenberg Rizzo nach bestandener Prüfung am 18. November 1951 offiziell zum Sergeant und gab ihm das Kommando über eine motorisierte Straßenpolizeieinheit an der South 7th Street. Der neue Polizeichef Philadelphias, Thomas J. Gibbons, war ein alter Freund von Rizzos Vater. Obwohl Rizzo wegen seiner gewaltsamen Polizeimethoden als Cisco Kid berüchtigt war, beförderte Gibbons ihn im Januar 1952 zum Captain. Kurz darauf wurde er erstmals zum Leiter eines Polizeireviers ernannt. Es lag an der North 39th Street in West Philadelphia in einem Gebiet, das hauptsächlich von Afroamerikanern bewohnt wurde. Gibbons gab Rizzo die Order, sich vor allem auf Speakeasys, also illegale Kneipen, zu konzentrieren. Rizzo setzte seine robusten Polizeimethoden auch gegenüber Schwarzen unverändert fort. Als er sogar Logenhäuser der Elk Lodge stürmte, wurde das von der ansässigen Mittelschicht als Tabubruch wahrgenommen. Bereits nach wenigen Wochen erhoben afroamerikanische Anwälte Sammelklagen gegen Rizzo beim Bezirksstaatsanwalt Richardson Dilworth, was rechtlich jedoch folgenlos blieb. Im Mai 1952 versetzte Gibbons Rizzo an die 12th South Street in Center City. Der Hintergrund für diese Versetzung war, dass zu dieser Zeit eine Gruppe von reformorientierten und einflussreichen Geschäftsleuten, darunter einer der wichtigsten Fundraiser des Democratic National Committees, die zumeist irischamerikanischen Parteifunktionäre der Demokraten zum Umbau der Downtown drängte. Die Stadtplanung stieß auf Widerstand der dortigen Bewohner und Kleinunternehmer, bei denen es sich größtenteils um Besitzer von Nachtclubs und Bars handelte. Um hier robust die Sperrzeiten und Alkoholverbote durchzusetzen, sowie die verbreitete Prostitution zu bekämpfen, entschieden sich Clark, Gibbons und Dilworth für Rizzo als Revierleiter an der 12th South Street. Nach einigen negativen Pressemeldungen über seine Razzien gegen Prostitution und illegales Glücksspiel entschloss sich Rizzo zur Kooperation mit der Presse und gezielten Weitergabe von Informationen an den Klatschkolumnisten des Philadelphia Inquirer. Im Januar 1953 beendete Rizzo mit dem Schlagstock ein Handgemenge zwischen mehreren Personen nach einer Gewerkschaftsversammlung, wobei er das erste und einzige Mal während seiner Dienstzeit die Dienstwaffe zog. Dank seines Einsatzes konnten zwei Schwerverletzte gerettet werden, die ohne sein Eingreifen wahrscheinlich gestorben wären. Mit diesen und weiteren Aktionen verschaffte Rizzo sich allgemein Respekt. Im Zusammenhang mit dem Verdrängungsprozess, dem sich die Kosher Nostra in Center City gegenüber der Cosa Nostra ausgesetzt sah, verdächtigte Dilworth Rizzo, nur gegen die jüdische Mafia vorzugehen und das italoamerikanische organisierte Verbrechen gewähren zu lassen. Er sowie Clark und Gibbons hatten als demokratische Irischamerikaner zudem ethnische Vorbehalte gegen ihn; außerdem waren die Italoamerikaner in South Philadelphia traditionell Republikaner. Um dem Bezirksstaatsanwalt seine Loyalität unter Beweis zu stellen, verhaftete Rizzo im November 1953 zwei hochrangige Racketeers des Capos Bruno. Im Jahr 1954 konzentrierte sich Rizzo darauf, gegen Stripteasebars nahe der South Broad Street vorzugehen, wo die Renovierung der Bürogebäude begonnen hatte. Im Februar 1955 verhaftete eine Teileinheit aus Rizzos Revier die bekannte Stripperin Blaze Starr, die bald darauf die Stadt verließ. In ihrer Autobiographie zwanzig Jahre später warf sie Rizzo vor, drei Wochen nach ihrer Verhaftung eine sexuelle Affäre mit ihr gehabt zu haben, wobei ihn aber andere Zeugenaussagen entlasteten. Da ihn die Stadtregierung als Frontmann zur Säuberung von Center City einsetzte, war Rizzo bereits 1955 eine umstrittene und so populäre politische Figur in Philadelphia, dass im Wahlkampf für das Amt des Bezirksstaatsanwalts beide Kandidaten volle Unterstützung für Rizzo signalisierten. Dilworth wurde im gleichen Jahr mit großer Mehrheit zum Bürgermeister gewählt. Als Rizzo im August 1955 fünf Seeleute der United States Navy inhaftierte, warfen sie ihm später vor, sie mit dem Schlagstock auf der Polizeistation verprügelt zu haben. Daraufhin erfolgte die erste richterliche Anhörung zu einem möglichen Fehlverhalten Rizzos als Polizist, die Klagen wurden jedoch abgewiesen. Police Inspector und zunehmende Prominenz (1959–1963) In den späten 1950er Jahren entstand in der Center City eine Bohème, die allerdings im Vergleich zu der in San Francisco, New York City oder Boston angepasster und ruhiger war. Dennoch betrachtete Rizzo diese Szene mit großer Antipathie. Als Schulabbrecher und hart arbeitender Polizist störte er sich an deren obsessiver Bücherliebe und dem Hang zum Müßiggang. Nachdem sich Anwohner bei ihm über die gleichfalls aufkommende offene Homosexuellenszene beschwert hatten, stürmte am 12. Februar 1959 eine Gruppe unter Führung Rizzos die Schwulenbar Humoresque und setzte ihren Besitzer Melvin Haifetz sowie 24 Gäste für eine Nacht unter Arrest. Haifetz reichte daraufhin eine Klage wegen Bedrohung und Beleidigung ein, in der er 25.000 US-Dollar (das entspricht 2021 inflationsbereinigt etwa 220.000 Dollar) von Rizzo forderte. Die Mehrheit der Anwohner und Zeitungen unterstützten Rizzo. So wurde in der Nachbarschaft des Humoresque von den Anliegern eine Pro-Rizzo-Kundgebung organisiert. Noch bevor das zuständige Bundesbezirksgericht die Klage von Haifetz abwies, versetzte Gibbons Rizzo am 20. März 1959 in ein neues Polizeirevier im prosperierenden Northeast Philadelphia und beförderte ihn gleichzeitig zum Police Inspector. Diese Episode führte dazu, dass Rizzo für viele Polizisten zu einem Idol wurde. Im Jahr 1959 wurde Dilworth mit großem Vorsprung als Bürgermeister wiedergewählt. Er strebte als nächstes das Amt des Gouverneurs von Pennsylvania an, weshalb er sehr darum bemüht war, das hauptsächlich aus Weißen bestehende demokratische Parteiestablishment nicht zu verärgern. Aus diesem Grund förderte er in den folgenden Jahren den populären Rizzo, wo er nur konnte. Als dieser zu erkennen gab, in Northeast Philadelphia nicht ausgelastet zu sein, wurde er nach West Philadelphia versetzt, wo sich die afroamerikanische Bevölkerungsmehrheit unmittelbar nach Rizzos Dienstantritt über seine Polizeiarbeit beschwerte. Im August 1960 wurde er auf Drängen des Kongressabgeordneten William A. Barrett und seinem Finanzier Palumbo nach Center City beordert. Hier schloss er ein Abkommen mit Bruno, der inzwischen Boss der Philadelphia Crime Family war. Während Bruno Gewaltverbrechen stoppte und keinen Drogenhandel betrieb, ließ Rizzo diesen bei seinen Geschäften mit illegalem Glücksspiel und im Kredithaiwesen in Ruhe. Im Februar 1962 wurde James Hugh Joseph Tate Bürgermeister, während Dilworth als Gouverneur kandidierte. Obwohl Tate Demokrat war, bedeutete seine Wahl im Vergleich zu den reformorientierten Vorgängern Clark und Dilworth einen Politikwechsel. Seine Basis bildeten die Gewerkschaften und Arbeiter (Blue Collars), weniger das liberale Bürgertum. Seine Vorgänger hatten versucht, die seit der Great Migration („Große Wanderung“) ausgeprägte „Rassen“-Segregation Philadelphias, die landesweit eine der höchsten war, durch die visionäre Stadtplanung Edmund Bacons aufzubrechen. Häufig wurde jedoch das Gegenteil davon erreicht. So war insbesondere Northeast Philadelphia erschlossen worden und hatte sich zu einem Wohnsitz der gehobenen weißen Arbeiterklasse entwickelt, die sich gegen den Zuzug von Afroamerikanern wehrte. Die Schwarzen andererseits waren besonders häufig vom Abriss von Slums betroffen. Northeast Philadelphia wurde zu einer späteren Hochburg von Rizzo. Tate beendete weitere Reformversuche und zementierte damit die „Rassen“-Segregation der Stadt. Tate gab die Order, verstärkt gegen die Kriminalität in Downtown vorzugehen, wobei sich Rizzo erfolgreich auf das Rotlichtmilieu konzentrierte. Im Juni 1962 sagte Rizzo in Washington, D.C. vor dem Permanent Subcommittee on Investigations aus; einem Unterausschuss des United States Senate Committee on Homeland Security and Governmental Affairs. Er war der einzige, nicht im Range eines Police Commissioner stehende Polizist, der als Experte für die Bekämpfung des organisierten Verbrechens geladen wurde. Rizzo erlangte jetzt nationale Bekanntheit und sagte gegenüber dem Ausschussvorsitzenden John Little McClellan aus, dass die Gerichtsbarkeit und die American Civil Liberties Union zu nachsichtig gegenüber Verbrechen seien. Stellvertretender Polizeichef (1963–1967) Als die Demokraten sich wegen interner Streitigkeiten in einer Krise befanden und der Internal Revenue Service Korruption in der Polizei Philadelphias aufdeckte, ernannte Tate im Herbst 1963 vier neue stellvertretende Polizeichefs (Deputy Police Commissioner), darunter Rizzo, der so das Kommando über 6000 Polizisten erhielt. Der Vorsitzende der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), Cecil B. Moore, kritisierte diese Ernennung scharf und warf als erster Rizzo öffentlich Rassismus vor. Er war als Anwalt mit Rizzo schon zehn Jahre zuvor aneinandergeraten, als dieser Revierleiter in West Philadelphia gewesen war. Moore bemängelte, dass Rizzo als Schulabbrecher die Bildungsvoraussetzungen für dieses Amt fehlten, und beschuldigte ihn, ohne dafür Beweise vorlegen zu können, gegen afroamerikanische Geschäftsinhaber „SA-Taktiken“ angewandt zu haben. Trotz dieser Kritik an seiner Personalentscheidung gewann Tate die Bürgermeisterwahl im November 1963. Vom 28. bis 30. August 1964 entbrannten in North Philadelphia auf der Columbia Avenue „Rassenunruhen“ (Columbia Avenue Riots). Entgegen dem Drängen Rizzos, der mit Gewalt gegen die plündernde und teilweise bewaffnete afroamerikanische Menge vorgehen wollte, befahl Polizeichef Howard Leary eine defensive Polizeitaktik. Zur Untätigkeit verdammt, musste Rizzo vor Ort beobachten, wie nahezu ein komplettes Viertel zerstört wurde. Am Ende waren zwei Tote und 309 Verletzte zu beklagen und über 600 geplünderte Geschäfte, viele davon in jüdischem Besitz. Dieses landesweit im Fernsehen übertragene Ereignis bildete einen prägenden Moment der Stadtgeschichte und in der Beziehung zwischen Weißen und Afroamerikanern in Philadelphia. Die Columbia Avenue Riots waren Teil einer ganzen Serie derartiger Unruhen in den amerikanischen Großstädten der 1960er Jahre, die einerseits bei der weißen Stadtbevölkerung den Ruf nach Law-and-Order-Politik verstärkte, während sie andererseits bei den Afroamerikanern den Kampf um volle Bürgerrechte radikalisierte. Im nächsten Jahr führte Moore ab dem 1. Mai täglich Demonstrationen gegen das Girard College in Philadelphia an, auf dem nur weiße Schüler zugelassen waren. Als am 24. Juni 1965 Demonstranten versuchten, den Campus zu stürmen, gab Rizzo einigen Polizeikräften Order, mit ihren Motorrädern in die Menge zu fahren. Drei Wochen später wurde Rizzo vor Ort von Demonstranten angegriffen und zu Boden geworfen, wobei er sich an der Hand verletzte. Trotzdem blieb er öffentlichkeitswirksam am Ort des Geschehens, wie die Fernsehnachrichten zeigten. Zu dieser Zeit war Rizzo landesweit der Polizist, der den größten Einfluss auf das Image und die Politik einer Großstadt hatte. In Philadelphia festigte dieses Vorgehen gegen die afroamerikanischen Demonstranten Rizzos hohes Ansehen beim Großteil der weißen Arbeiter. Im Februar 1966 wechselte Leary als Polizeichef nach New York City. Nachfolger wurde Edward J. Bell, ein enger Freund des Bürgermeisters, jedoch war allen klar, dass danach Rizzo an der Reihe war. Im August 1966 vertrat er den Polizeichef und ging in dieser Zeit gegen das örtliche Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC) vor, als er die Information erhielt, dass Mitglieder dieser schwarzen Bürgerrechtsbewegung Waffenlager einrichteten. Eine Razzia in vier Häusern am 12. August verlief bis auf den Fund von wenigen Stangen Dynamit erfolglos. Es kam zu einigen Verhaftungen, aber am Ende nur zu einer Verurteilung mit Bewährungsstrafe. Der Vorsitzende des SNCC, Stokely Carmichael, griff Rizzo nach dieser Aktion als Rassisten an. Noch im November 1965 war Arlen Specter zum neuen Bezirksstaatsanwalt gewählt worden, der erste republikanische Erfolg bei Stadtwahlen seit 1953. Zu diesem Sieg hatte unter starker Betonung von Law-and-Order-Themen ein TV-Wahlkampf geführt, den es in dieser Form vorher noch nicht gegeben hatte. Außerdem sank die Popularität der demokratischen Reformer um Präsident Lyndon B. Johnson angesichts von „Rassenunruhen“, Vietnamprotest und 68er-Bewegung insgesamt, so dass der Demokrat Tate um seine Wiederwahl im November 1967 fürchten musste. Insbesondere bei weißen Wählergruppen, wie den Italoamerikanern South Philadelphias, wo Rizzo besonders populär war, und später Richard Nixon, wuchs die Distanz zur Regierung Johnsons. Auf Anraten des einflussreichen Kongressabgeordneten Barretts erklärte Tate daher am 16. Mai 1967 während der Primaries, dass Polizeipräsident Bell krankheitsbedingt sein Amt an Rizzo abgeben müsse. Der Bürgermeister räumte Rizzo ausdrücklich freie Hand in der Polizeiarbeit ein. Im Gegenzug streifte Rizzo die republikanische Familientradition ab und registrierte sich als Demokrat. Polizeipräsident (1967–1972) Nach einer Welle von „Rassenunruhen“ im Sommer 1967, darunter diejenigen von Detroit, wuchs in Philadelphia die Sorge vor einem derartigen Ereignis in der Stadt, weshalb am 17. August ein Versammlungsverbot erlassen wurde. Rizzo setzte die Maßnahme mit aller Härte durch und es kam zu mehreren hundert Festnahmen. An vielen Orten, an denen sich Widerstand regte oder Unruhe ausbreitete, tauchte Rizzo an vorderster Front mit Polizisten und einem filmenden Kamerateam des Lokalfernsehens sowie dem Schlagstock in der Hand auf. Rizzo wurde enorm populär und erreichte Spitzenwerte in den Umfragen. Im Falle seiner Wiederwahl versprach der Bürgermeister, weiter mit Rizzo als Polizeichef zu arbeiten, während sein Gegner Specter keine derartige Zusage machte. Am Ende gewann Tate die Wahl sehr knapp, aber als der eigentliche Gewinner wurde Rizzo angesehen. Am 17. November 1967 marschierten 3000 afroamerikanische Schüler auf die städtische Schulbehörde zu und forderten die Einführung von Black studies in den Unterrichtsplan sowie eine neue Kleidungsordnung an den High Schools. Ob und inwieweit eine vorherige Provokation erfolgte, bleibt unklar, jedenfalls befahl Rizzo vor Ort die Bildung eines Polizeikessels und den Einsatz von Schlagstöcken, wobei es zu mehreren Verletzten kam. Das Bild der auf unbewaffnete jugendliche Demonstranten einschlagenden Polizisten brannte sich in das Gedächtnis der schwarzen Gemeinde Philadelphias ein und spaltete die gesamte Stadt; immer mehr Stimmen forderten Rizzos Ablösung. Tate sah nun die passende Gelegenheit, den ihm lästigen Rizzo loszuwerden, doch sein Stellvertreter, Charles W. Bowser, überzeugte ihn, am Polizeipräsidenten festzuhalten. Am 20. Dezember 1967 gab Tate bekannt, Rizzo auch für diese Amtszeit zum Polizeichef zu ernennen. Civil Defense Squad und Bekämpfung der 68er-Bewegung Als Polizeipräsident verfolgte er, wie von Tate gewünscht, eine restriktive Sicherheitspolitik. Rizzo forderte und erwies seinen Untergebenen gegenüber stetige Loyalität. Posten in seiner unmittelbaren Umgebung besetzte er vorzugsweise mit Personen mit militärischer Vergangenheit, was ihm den Spitznamen The General einbrachte. Die schon bestehende Kooperation mit dem FBI verstärkte Rizzo weiter, der ein großer Verehrer von J. Edgar Hoover war. Von seinem liberalen Vorgänger Leary war 1964 die Civil Defense Squad (CD) gegründet worden, deren Hauptauftrag die Informationsgewinnung im Vorfeld von Demonstrationen und die deeskalierende Kommunikation mit Aktivisten war. Das erste Ziel der CD unter Rizzo war das Revolutionary Action Movement (RAM), eine maoistische Gruppe der Black-Power-Bewegung. Sie wurde über ein Jahr lang infiltriert, bevor im November 1968 bei einer Razzia ein kleines Waffenlager entdeckt wurde. Zwar kam es in der Folge zu keiner Verurteilung eines RAM-Mitglieds, aber die Gruppe war danach nicht mehr in Philadelphia aktiv. Laut dem Anwalt und Bürgerrechtler Frank Donner wandelte Rizzo die CD in ein aggressives Instrument zur Unterdrückung der schwarzen Bürgerrechts- und studentischen Protestbewegung um, so dass es in der Folge immer häufiger zu Polizeigewalt gegen Demonstranten kam. Die CD überwachte zudem Angehörige der New Left, wie zum Beispiel Mitarbeiter der Philadelphia Free Press, die das Sprachrohr der Bewegung in Philadelphia war und Rizzo scharf kritisierte. Angehörige der CD bezogen demonstrativ Quartier in der unmittelbaren Nachbarschaft der Zeitungs-Mitarbeiter, brachen in deren Wohnungen und Autos ein, beschlagnahmten „subversive Bücher“, bedrohten sie mit Schusswaffen oder versuchten, sie mit gewaltsamen Übergriffen und vorläufigen Festnahmen einzuschüchtern. Rizzo ließ dem befreundeten Journalisten Albert V. Gaudiosi vom Philadelphia Bulletin CD-Informationen zukommen, die dieser in einer den Charakter einer Werbekampagne für den Polizeipräsidenten tragenden Artikelserie gegen die Free Press verwendete. Ein weiteres Ziel der CD war die Schulbehörde, die ab Dezember 1967 Konferenzen von Schülern, Direktoren und Sozialwissenschaftlern durchführte, um die rassischen Spannungen nach der Demonstration vom 17. November zu befrieden. Rizzo ließ den abgelegenen Konferenzort in Chestnut Hill vom CD überwachen, die Teilnehmer identifizieren und Dossiers über sie anfertigen. Als er 1972 Bürgermeister wurde, entließ er den landesweit bekannten Schulinspektor Mark Shedd, weil er ihn als einen nachgiebigen Progressiven verachtete. In den Jahren 1968–1969 setzte Rizzo die CD außerdem gegen die National Caucus of Labor Committees (NCLC) ein, einen Ableger der die Studentenproteste im Wesentlichen organisierenden Students for a Democratic Society (SDS). Dem NCLC wurde unter anderem vorgeworfen, die Sprengung einer Schule geplant zu haben. Es kam in dieser Sache zu Verhaftungen, aber die Verfahren wurden nach vier Jahren ergebnislos eingestellt. Rizzo the Raider Während des Präsidentschaftswahlkampfs im Jahr 1968 besuchte Nixon Philadelphia und traf dort, den demokratischen Bürgermeister ignorierend, am 17. Juli Rizzo, dessen Polizeiarbeit er öffentlich in den höchsten Tönen lobte. Er sah in Rizzo einen natürlichen Verbündeten mit einem guten Gespür für die jeweiligen Wählerstimmungen in unterschiedlichen Races und Gesellschaftsschichten. Daher versuchte er, ihn zu einer Bürgermeisterkandidatur für die Republikaner zu überreden. Selbst als Polizeipräsident führte Rizzo weiterhin mehrere Razzien gegen Homosexuelle und Bars an, in denen er Drogenhandel vermutete. Dies brachte ihm den Spitznamen Rizzo the Raider („Rizzo der Angreifer“) ein. Besonders bekannt wurde seine Auseinandersetzung mit dem Electric Factory Coffee House, das im Februar 1968 eröffnet worden und ein Treffpunkt von Hippies, Rockern und Studenten war. Für den 5. September 1970 rief die Black Panther Party zu einem „revolutionären Volkskonvent“ in der Temple University Philadelphia auf. Nach dem Tod zweier Mitglieder im Dezember des Vorjahres hatte sie der Polizei landesweit den Krieg erklärt. Als es am 29. und 30. August zu mehreren, teilweise tödlichen Übergriffen auf Polizisten kam, nahm Rizzo dies zum Anlass, mit aller Härte gegen die Black Panthers vorzugehen. Am 31. August 1970 ließ Rizzo zeitgleich in drei Büros der Partei in Germantown und North Philadelphia Razzien durchführen und auf fragwürdiger Rechtsgrundlage räumen. Dabei wurden die vor Ort angetroffenen Black Panthers dazu gezwungen, sich im Freien nackt auszuziehen, damit die Polizisten ihre Kleidung durchsuchen konnten. Wenige Tage später wurden sie alle wieder freigelassen. Die Philadelphia Daily News veröffentlichte ein Foto dieser Szene als Titelbild, das auf Associated Press weltweit Bekanntheit erlangte und Kritik an den Polizeimethoden Rizzos auslöste. Dieses Bild überschattete sein politisches Image bis zum Ende seiner Karriere. Von mehreren Rückschlägen vor Gericht, die elf seiner Razzien betrafen, zeigte sich Rizzo unbeeindruckt – ihm ging es um seine öffentliche Wirkung als „Retter“. Er pflegte insgesamt einen geschickten Umgang mit der Öffentlichkeit, indem er nach seinen Razzien mit markigen Worten auf Pressekonferenzen aussagekräftige Fotos präsentierte und die Reporter mit Gefälligkeiten für sich einnahm. Bis 1970 hatte sich Rizzo so national den Ruf als bester Mann im Kampf gegen das Verbrechen erworben. Dass er als Bürgermeister zu kandidieren beabsichtigte, war ein offenes Geheimnis. Trotz des historischen Stimmungstiefs der Demokraten nach der verlorenen Präsidentschaftswahl 1968 gegen Nixon war Rizzo bei den weißen Arbeitern der Stadt populär. Dadurch konnte Barrett den zögernden Bürgermeister überzeugen, Rizzo die Unterstützung bei den nächsten Bürgermeisterwahlen anzubieten, bevor Nixon dies tat. Für Tate selbst schloss die Stadtverordnung eine dritte Amtszeit im Rathaus aus. Der Parteiführer der Republikaner bezeugte erst zu spät Interesse an Rizzo, so dass dieser Anfang Januar 1971 den Demokraten zusagte. Bürgermeisterwahlen von 1971 Am 2. Februar 1971 trat Rizzo als Polizeipräsident zurück, um für das Bürgermeisteramt kandidieren zu können. Damit war er der erste Polizist der USA, der sich in einer Metropole um dieses Amt bewarb. Der ungern in der Öffentlichkeit sprechende und vertrauliche Treffen mit Pressevertretern bevorzugende Rizzo wurde von Gaudiosi als Wahlkampfmanager unterstützt. In der Primary waren der Afroamerikaner Hardy Williams und der Reformer William J. Green seine Konkurrenten. Williams war zwar der erste Schwarze Philadelphias, der mit einer bedeutsamen Anhängerschaft und vor dem Hintergrund eines erheblich gestiegenen afroamerikanischen Bevölkerungsanteils in die Vorwahlen eintrat, aber er hatte keine realistischen Erfolgsaussichten. Rizzo profitierte von dieser Kandidatur, da Williams möglicherweise Green Stimmen abnehmen konnte, der als Favorit des liberalen Parteiflügels und von Gouverneur Milton Shapp antrat. Green rechnete als katholischer Irischamerikaner mit Rückhalt aus dieser ethnischen Gruppe in der Arbeiterschicht. Andererseits war in Philadelphia, das seit 1950 7 % seiner Bevölkerung verloren hatte – viel davon im Rahmen der Suburbanisierung an das benachbarte Umland –, wie in anderen Großstädten der Nation eine Stimmung des Niedergangs vorherrschend. In Philadelphia wurde dafür vor allem das das Rathaus kontrollierende demokratische Parteiestablishment verantwortlich gemacht, was Green schadete. Obwohl Rizzo im Wahlkampf einige Fehler unterliefen, indem er sich für die Legalisierung des Glücksspiels aussprach und die Presse mied, führte er konstant in den Umfragen. Seine liberalen Parteigegner gerieten in Panik, so dass sie ihm schließlich persönliche Verbindungen zum Mafiaboss Bruno vorwarfen, ohne Rizzo dadurch entscheidend schaden zu können. Die Demokraten verzeichneten im Vorwahlprozess eine Rekordsumme neu registrierter Wähler, darunter über 17.000 ehemalige Republikaner. Am Ende gewann Rizzo die Primary mit knapp 50 %. Insgesamt zeigte sich hier erstmals das später bekannt gewordene Rizzo-Phänomen: Seine Popularität resultierte nicht aus politischen Positionen, sondern aufgrund der Persönlichkeitswirkung als Mann von der Straße, Polizist und international bekannte Autorität in der Verbrechensbekämpfung und einem dafür besonders empfänglichen Zeitgeist. Zur Bürgermeisterwahl im November 1971 trat er mit dem Slogan Rizzo means business gegen den gemäßigt liberalen, kaum bekannten Kandidaten der Republikaner, W. Thatcher Longstreth, an. Rizzo thematisierte fast ausschließlich Verbrechensbekämpfung als Botschaft. Seine Wahlkampfauftritte in Philadelphia fanden ausschließlich in Wohngebieten der weißen Arbeiterklasse statt. Obgleich er im Oktober in drei Debatten mit Longstreth laut Paolantonio teilweise schlecht vorbereitet und übermäßig aggressiv gewirkt hatte, setzte er sich am Ende mit einem Vorsprung von annähernd 50.000 Stimmen durch, wobei er nur 35 von 66 Wahlbezirken gewann und bei den afroamerikanischen Wählern klar gegen Longstreth unterlag. Zu Rizzos Wahlerfolg trug eine hohe Zustimmung bei weißen Wählern bei, die seine harten Polizeieinsätze in der Vergangenheit befürworteten. Hinzu kam, dass in Philadelphia 200.000 mehr Demokraten als Republikaner als Wähler registriert waren. Innerhalb der demokratischen Partei hatten sich profilierte Politiker wie Ramsey Clark und Eugene McCarthy gegen ihn und für seinen republikanischen Konkurrenten Longstreth ausgesprochen. Bürgermeister (1972–1980) Erste Amtszeit Die erste Krise, mit der er als Bürgermeister konfrontiert wurde, betraf die Polizei Philadelphias. Kent Pollock hatte für den Inquirer, der 1969 von Rizzos Freund Walter Annenberg verkauft worden war, über weit verbreitete Korruption in deren Reihen berichtet. Rizzo veröffentlichte zur Schadensbegrenzung eine Liste vergangener Korruptionsfälle und ihrer Sanktionen. Der Vorwurf erschütterte Rizzos bis dahin enges Verhältnis zur lokalen Presse, von der er viele Journalisten, insbesondere vom Philadelphia Bulletin, in den Mitarbeiterstab als Bürgermeister übernommen hatte. Unter den neuen Eigentümern des Inquirer kam es zu einer Neuausrichtung der Zeitung, die sich deutlich von Rizzo distanzierte und präziser sowie kritischer über ihn berichtete. So hatte der Inquirer während der Bürgermeisterwahl Partei für Longstreth ergriffen. Insgesamt führte der Weggang des konservativen Annenberg zu einem langsamen, aber stetigen Linksruck der Presselandschaft Philadelphias. Noch während des Wahlkampfs hatte eine Anhörung der United States Commission on Civil Rights (deutsch: „Regierungskommission für Bürgerrechte“) auf Bundesstaatsebene 41 Zeugen Raum gegeben, schwere Vorwürfe gegen die Polizei Philadelphias wegen Brutalität und Missachtung von Bürgerrechten zu erheben. Rizzo tat dies als eine Verschwörung ab, um Kontrolle über die Polizei zu bekommen. Am Ende empfahl das Komitee dem United States Attorney eine Anklage gegen die Polizei Philadelphias, was aber durch das Weiße Haus gestoppt wurde. Die Ämtervergabe traf Rizzo vor allem auf Grundlage persönlicher Beziehungen und stellte sicher, dass Familie und Freunde berücksichtigt wurden. Den wichtigsten Berater Martin Weinberg ernannte er zum Rechtsvertreter der Stadt und Gaudiosi verschaffte er einen Sitz in der städtischen Kommission zur Organisation der Feiern zum 200. Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten. Seinen jüngeren Bruder Joseph Rizzo beförderte er vom Bataillonschef zum Feuerwehrpräsidenten. Er nutzte seine Macht als Bürgermeister aus, um insbesondere gegen kritische Journalisten lokaler Medien vorzugehen und konnte mitunter deren Entlassung erreichen. Um die Jahresmitte 1972 ordnete Rizzo die Bildung einer speziellen Sondereinheit der Polizei an. Diese sollte ursprünglich für Specter in Sachen städtischer Korruption Informationen gewinnen, wurde aber vom Bürgermeister für seine persönlichen Interessen zweckentfremdet. Er ließ politische Gegner, Mitglieder der Bürgerrechts- und 68er-Bewegung bis hin zu streikenden Lehrern und dem Erzbischof John Joseph Krol überwachen. Diese Sondereinheit fertigte sogar über den Bezirksstaatsanwalt ein Dossier an. Im Rathaus war er schnell von der mühseligen Bürokratie und der Schwere der Probleme überwältigt, denen die Stadt gegenüberstand. Sein erster städtischer Haushaltsplan wies ein Budgetdefizit von 100 Millionen US-Dollar (das entspricht 2021 inflationsbereinigt etwa 630 Millionen Dollar) auf, weshalb er Nixon um Hilfe bat. Zusammenarbeit mit Nixon Rizzo war für Nixon bei der Auswahl der Kernthemen für seinen Präsidentschaftswahlkampf 1972 ein Vorbild. Der Präsident erkannte, dass die weiße Arbeiterklasse und ethnische Katholiken wie Italo- und Irischamerikaner durch ihre zunehmende Stadtflucht den Demokraten als urbane Stammwählerschaft verloren gingen, und suchte deshalb die Nähe zu Rizzo, der gerade bei diesen Wählergruppen mit seinen Law-and-Order-Themen populär war. John Ehrlichman und Harry Robbins Haldeman sowie Nixon selbst telefonierten ab Januar 1972 wöchentlich mit dem Bürgermeister von Philadelphia, der im April bekannt gab, dass er nicht den Präsidentschaftskandidaten der Demokraten, George McGovern, unterstützen werde. Bis Juni hatte sich Rizzo zu einem wichtigen Berater für den Wahlkampf Nixons entwickelt und erhielt im Gegenzug beispielsweise Bundesmittel für die Einstellung von mehr Polizisten. Obwohl der Präsident und sein Beraterstab sich in der heißen Wahlkampfphase befanden und mit der aufkommenden Watergate-Affäre zu tun hatten, revanchierte er sich bei Rizzo und unterzeichnete am 20. Oktober in der Independence Hall in Philadelphia den State and Local Fiscal Assistance Act. Dieses Gesetz gewährte den mit der Suburbanisierung kämpfenden Großstädten Subventionen, wobei Philadelphia überproportional begünstigt wurde. Für Nixon lohnte sich die Allianz mit Rizzo, da er am 7. November 1972 bei seinem Erdrutschsieg Pennsylvania gewann und in South Philadelphia fast doppelt so viele Stimmen erhielt wie McGovern. Kurz nach diesem Erfolg war der Präsident so stark mit der Watergate-Affäre beschäftigt, dass der Kontakt zu Rizzo einschlief und Philadelphia seinen privilegierten Status im Weißen Haus verlor. So wurden die Pläne einer Weltausstellung in Philadelphia anlässlich des 200. Unabhängigkeitstags nicht weiter verfolgt. Trotzdem stellten insbesondere Bauprojekte die größten Erfolge von Rizzos erster Amtsperiode dar. In dieser Zeit wurde der Philadelphia International Airport renoviert und erweitert und Grundsteine für vier Museen gelegt, darunter das National Museum of American Jewish History und das African American Museum. „Frank Rizzos Spionage-Truppe“ Ende 1972 deckte die Philadelphia Daily News auf, dass Rizzo durch Vermittlung seines Freunds Alvin Pearlman ein Grundstück für ein Fünftel des Marktwerts gekauft hatte. Der Verkäufer hatte es zuvor der Stadt als Erweiterung für den Fairmount Park angeboten, was aus Kostengründen abgelehnt wurde. Rizzo geriet noch weiter unter Druck, als die Zeitung recherchierte, dass ihm Pearlman für den Hausbau in Roxborough nur etwas mehr als ein Viertel des marktüblichen Preises berechnen wollte. Kurz vor Weihnachten informierten Dilworth und Tate den Inquirer darüber, dass sie Rizzo im Verdacht hatten, ihre Telefonleitungen überwachen zu lassen. Zu dieser Zeit verlor er die Unterstützung durch Peter J. Camiel, den Parteiführer der Demokraten in Philadelphia, der in Rizzos Unterstützung für Nixon einen Verrat an der Partei sah. Als Rizzos Popularität wegen der Affäre um den Grundstückskauf und wegen des aktuellen Lehrerstreiks sank, hielt Camiel den richtigen Zeitpunkt für gekommen, um anlässlich der Primaries für die Wahlen zum Bezirksstaatsanwalt und dem städtischen Rechnungsprüfer auf Konfliktkurs mit dem Bürgermeister zu gehen. Zudem waren mit Specter und Tom Gola beide Amtsinhaber Republikaner. Der wichtigste Verbündete von Camiel im Rathaus war der Vorsitzende des Stadtrats George X. Schwartz, der an der Spitze eines breit gefächerten Systems von Ämterpatronage stand. Am 27. Februar zeigte Rizzo im Beisein des Vizebürgermeisters Philip R. T. Carroll Camiel eine Liste mit städtischen Mitarbeitern und Projekten, über die Schwartz Kontrolle suchte. Dennoch unternahm er erst nichts, als Camiel im April 1973 mit F. Emmett Fitzpatrick einen aussichtsreichen Kandidaten gegen Specter in die Primaries schickte, da er selbst wegen einer zweiten Welle von Presseberichten über die Baukosten des Hauses in Roxborough so sehr unter Druck stand, dass er Mitte Mai vom Kauf zurücktrat. Außerdem strebte Rizzo an, im nächsten Jahr zum Gouverneur von Pennsylvania gewählt zu werden, wofür er die Unterstützung der Partei benötigte. Um dennoch Specters Wiederwahl gegen Fitzpatrick zu sichern, ordnete er die Ausweitung der Telefonüberwachung von Camiel an. Dieser wusste davon und informierte die Presse, so dass am 5. August sowohl Bulletin als auch Inquirer „Frank Rizzos Spionage-Truppe“ als Titelgeschichte brachten. Einige Tage später warf er Rizzo vor, dass er ihm am 27. Februar die Liste gezeigt habe, um ihn zu bestechen: Für den Verzicht auf die Kandidatur Fitzpatricks habe er ihm die Ämterpatronage über ein städtisches Bauprojekt seiner Wahl angeboten. Rizzo und Carroll stritten diesen Vorwurf kategorisch ab. Die Philadelphia Daily News forderte alle drei Beteiligten zu einem Lügendetektortest heraus, dem sie sich am 13. August unterzogen. Als Rizzo bei sechs von neun Fragen in diesem Test scheiterte, während Camiel bei allen bestand, titelte die Zeitung am nächsten Tag Rizzo lies, Tests Show (deutsch: „Test zeigt: Rizzo lügt“). Dieses Titelbild wurde zu einem der berühmtesten in der Pressegeschichte Philadelphias und verfolgte Rizzo für den Rest seiner Karriere. Seine Wahlchancen als Gouverneur waren durch diese Affäre stark gesunken. Weinberg hatte ihm ohnehin von einer Kandidatur abgeraten, weil er als Gouverneur im beschaulichen Harrisburg residieren müsste und die volksnahe Tätigkeit eines Bürgermeisters vermissen würde. Auf dem Höhepunkt des Jom-Kippur-Kriegs schlug Rizzo Anfang Oktober 1973 vor, dass Philadelphia zur Unterstützung Israels Staatsanleihen in Höhe von einer Million US-Dollar kaufen sollte. Zum einen sah er in Israel einen Verbündeten der Vereinigten Staaten, zum anderen ging es ihm darum, seinen nach der Lügendetektor-Affäre ramponierten Ruf wieder aufzubessern. Am 1. November stimmte der Stadtrat Rizzos Vorschlag zu und autorisierte den Kauf. Im Wahlkampf um die Besetzung der Ämter brach Rizzo in den letzten Wochen sein Schweigen und griff vier Richter als zu milde im Umgang mit Kriminellen an. Von diesen Richtern waren zwei Frauen und zwei Afroamerikaner. Specter verlor zwar letztendlich gegen Fitzpatrick, konnte aber mit seinen letzten Amtshandlungen dafür Sorge tragen, dass Rizzo für die Aktionen seiner „Spionage-Truppe“ vor einem großen Geschworenengericht am 5. Januar 1974 mit einem milden Tadel davonkam. Untersuchungsbericht der Pennsylvania Crime Commission Im März 1974 gab die Pennsylvania Crime Commission, ein Ausschuss der State Legislature, ihren Untersuchungsbericht zur Polizeibehörde von Philadelphia bekannt. Dieser konstatierte, dass die Polizei über alle Ränge und Bezirke hinweg an systematischer Korruption litt, und führte für über 400 Polizisten konkretes Fehlverhalten an. Der Bericht traf Rizzo als früheren Polizeipräsidenten und amtierenden Bürgermeister zu einem ungünstigen, von Shapp festgelegten Zeitpunkt, da die Primary für die Gouverneurswahl in zwei Monaten anstand. Ein Wechsel zu den Republikanern war keine Option, weil sie sich aufgrund der Watergate-Affäre in einem historischen Stimmungstief befanden. Auf einer Pressekonferenz zum Flughafenbau zwei Tage nach Veröffentlichung des Untersuchungsberichts verließ Rizzo den Raum, als ihn die Journalisten beharrlich zu den Erkenntnissen der Pennsylvania Crime Commission befragten. Er schenkte dem Bericht keinen Glauben und war fest dazu entschlossen, zu den Polizisten zu halten, selbst wenn ihre Korruptheit bewiesen war. Der nach Philadelphia für die Anklageerhebung entsandte Sonderermittler Phillips litt unter einem zu kleinen Mitarbeiterstab. Trotzdem entwickelte er den Ehrgeiz, weitere Korruptionsfälle in der Stadtverwaltung und den Parteien aufzudecken. Am 7. September 1974 schrieb die Stadt 280 offene Stellen für einfache Arbeiter aus, woraufhin am nächsten Morgen mehrere tausend Bewerber, darunter viele unter Armut leidende und Afroamerikaner, in langen Schlangen vor den Meldestellen anstanden. Wie das Bulletin kurz darauf aufdeckte, wurde von diesen kein einziger genommen, da in der Nacht zuvor bereits alle Stellen von Rizzos Mitarbeitern an politische Freunde vergeben worden waren. Phillips war der festen Überzeugung, dass der Bürgermeister selbst diese Vetternwirtschaft angeordnet hatte, nicht zuletzt da Rizzo zu diesem Zeitpunkt eine zweite Amtszeit im Rathaus anstrebte. Doch bevor er Rizzo gefährlich werden konnte, sorgte dessen Verbündeter im Senat von Pennsylvania, State Senator Henry Cianfrani, dafür, dass Phillips die Mittel erheblich gekürzt wurden. Primaries von 1975 Bei der Primary der Demokraten für die Bürgermeisterwahl war mit Louis G. Hill, dem Stiefsohn von Dilworth, ein Überraschungskandidat, stärkster Konkurrent von Rizzo, nachdem Green und John B. Kelly junior, der ältere Bruder von Grace Kelly, das Rennen gescheut hatten und der stellvertretende Bürgermeister Bowser sich für eine parteiunabhängige Kandidatur entschieden hatte. Einige enge Mitarbeiter von Rizzo erwogen seinen Wechsel zu den Republikanern, doch Weinberg und Cianfrani sprachen sich dagegen aus; die Grand Old Party litt immer noch unter der Watergate-Affäre und wurde in Philadelphia von Irischamerikanern kontrolliert, denen sie nicht vertrauten. Hills erste Ehefrau stammte aus der Eigentümerfamilie des Wall Street Journals, was Rizzo im Wahlkampf ausnutzte, um seinen Gegner als Six Million Dollar Man und Lobbyist für die Wall Street zu verspotten. Tatsächlich erhielt der Bürgermeister während der Primary mehr Spenden von großen Unternehmen aus Center City als sein Herausforderer. Laut dem Mafia-Informanten Nicholas Caramandi unterstützte Bruno den Straßenwahlkampf von Rizzo über Geldzahlungen an Pearlman. Im April 1975 kam Phillips mit seinen Ermittlungen Rizzo sehr nahe, als er Anklage gegen den Stadtdirektor Hillel Levinson erhob. Der Inquirer unterstützte zwar in den Leitartikeln Phillips und Hill, aber die Redakteurin für Stadtpolitik hatte eine Affäre mit State Senator Cianfrani und berichtete sehr wohlwollend über den Bürgermeister. Ihr wurde voller Zugang zu Rizzos Wahlkampfmaterial gewährt. Weinberg und Cianfrani gelang es nicht, einen afroamerikanischen Kandidaten für die Primary der Demokraten zu finden, der zum Vorteil Rizzos Hill Stimmen abnehmen konnte wie 1971 der schwarze Williams dem liberalen Green. Andererseits konnte Rizzo mit einer großzügigen Lohnerhöhung und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen einen drohenden Streik der American Federation of State, County and Municipal Employees (AFSCME) abwenden, die in Philadelphia 16.000 städtische Arbeiter repräsentierte, die meisten davon Afroamerikaner. Mit Geschick positionierte Weinberg den Bürgermeister als Vertreter der weißen und afroamerikanischen Arbeiter gegen den vermeintlichen Patrizier Hill, der im vornehmen Chestnut Hill residierte. Bei der Primary am 20. Mai siegte Rizzo mit 52 % und gewann neben South Philadelphia und den Hafenvierteln am Delaware River auch viele Distrikte in North Philadelphia, wo überwiegend schwarze Angehörige der Arbeiterklasse lebten. Vier Wochen später strich der zuständige Ausschuss des Senats von Pennsylvania Phillips alle Geldmittel, was seine Ermittlungstätigkeit beendete. Ende August zog Rizzo in ein sanierungsbedürftiges, elf Zimmer großes Anwesen in Chestnut Hill, wobei Freunde die kompletten Renovierungsarbeiten übernahmen. Zwar wurde erneut Kritik in der Presse laut, die hinterfragte, wie sich der Bürgermeister diese Residenz in bester Wohngegend leisten konnte, doch dieses Mal ignorierte Rizzo die Berichterstattung. Bürgermeisterwahlen 1975 Trotz der großen Zugeständnisse an die AFSCME zeigte Rizzo danach kein Bemühen, den Schwarzen mehr Macht und Einfluss in der Stadtverwaltung einzuräumen. Afroamerikanische Unternehmer und professionelle Berufstätige beobachteten mit Verärgerung, dass die Stadt lukrative Verträge fast immer mit weißen Firmen und Geschäftspartnern abschloss. Die Presse warf Rizzo in dieser Beziehung Rassismus vor, was ihn von aller gegen ihn geäußerten Kritik am stärksten traf. Der Parteichef der Republikaner von Philadelphia, William Meehan, stellte Thomas M. Foglietta gegen Rizzo auf, nachdem ihm Specter abgesagt hatte, der sich auf seine Kandidatur als Senator für den 95. Kongress im folgenden Jahr konzentrieren wollte. Der wenig bekannte Foglietta war ein Italoamerikaner und stammte wie Rizzo aus South Philadelphia. Da er unverheiratet war, umgaben ihn von Anfang an Gerüchte über seine sexuelle Orientierung. Foglietta hatte an der renommierten Temple University Jura studiert und gehörte dem liberalen Parteiflügel unter Jacob K. Javits an. Rizzo verwendete diese Aspekte seines Opponenten im Wahlkampf erfolgreich gegen ihn und gewann so die Stimmen der konservativen italienisch-, irisch- und polnischstämmigen Amerikaner im Süden und Nordosten der Stadt, die eine Law-and-order-Politik wünschten. Bowser trat im Wahlkampf für eine dritte, von ihm selbst gegründete Partei namens The Philadelphia Party an. Dies führte zur weiteren Spaltung der Anti-Rizzo-Kräfte und beraubte sie jeglicher Siegeschancen. Als zentrales Wahlkampfthema entpuppte sich der städtische Haushalt. Unter Nixons Nachfolger Gerald Ford war es zu einer Rezession gekommen, die die wirtschaftliche Situation in den Großstädten weiter verschlechterte. Zwar war die Lage in Philadelphia weniger prekär als in anderen amerikanischen Metropolen, aber auch hier verließen immer mehr Unternehmen, und mit ihnen Arbeitsplätze, die Downtown und siedelten sich in den Vororten an, wo die Produktionskosten niedriger waren. Dennoch versprach Rizzo, weder Steuern zu erhöhen noch Entlassungen im öffentlichen Dienst vorzunehmen. Seine bekannteste Äußerung, im Falle seines Sieges mit politischen Gegnern so hart umzugehen, dass „Attila der Hunne aussieht wie eine Schwuchtel“, fiel im Rahmen dieses Wahlkampfes. Als am 22. Oktober eine Raffinerie in Southwest Philadelphia brannte, verließ Rizzo einen Wahlkampfauftritt vorzeitig, um sich an den Ort des Geschehens zu begeben. Durch eine explodierende Pipeline in seiner Nähe erlitt er dabei einen Hüftbruch. Danach musste er seine ohnehin unregelmäßigen Wahlkampfauftritte einstellen, aber das Ereignis stärkte seinen Ruf als „starken Mann“. Am 4. November 1975 errang Rizzo einen überwältigenden Wahlsieg mit über 170.000 Stimmen Vorsprung auf Bowser. Haushaltskrise und Unterschriftensammlung gegen Rizzo Kurz nach Rizzos Amtseinführung ließ er Stadtkämmerer Lennox Moak am 20. Januar 1976 eine revidierte Haushaltsprognose bekannt geben, nach der das erwartete Defizit von 65 Mio. auf über 80 Mio. US-Dollar stieg. Er kündigte an, dass dies nur durch eine Notfallgesetzgebung für mehr Steuereinnahmen aufgefangen werden könnte, was bei vielen weißen Arbeitern sofort für Empörung sorgte und die politische Basis seiner Popularität untergrub. Wenige Tage später hielten die Philadelphia Party, die liberale politische Organisation Americans for Democratic Action (ADA) und städtische Aktivisten eine Versammlung ab und berieten, ob für die Ablösung Rizzos als Bürgermeister gemäß der Home Rule Philadelphias eine Mehrheit in einem entsprechenden Volksentscheid erreichbar sei. Derart wurde zuletzt Frank L. Shaw im Jahr 1938 in Los Angeles seines Amtes enthoben. Treibende Kraft der Initiative, Rizzo abzuwählen, war Henry Nicholas, ein enger Verbündeter von Bowser und Führer der städtischen Gewerkschaft der Krankenhausmitarbeiter, deren Mitglieder überwiegend Afroamerikaner waren. Normalerweise hätte der Abwahlantrag des populären Rizzo keine Aussicht auf Erfolg gehabt, aber durch die angekündigten Steuererhöhungen sahen Bowser, Nicholas und die ADA-Führung für ihre Initiative realistische Siegeschancen. Zur Initiierung eines Volksentscheids für Rizzos Abwahl waren knapp 145.000 Unterschriften in einer entsprechenden Petition notwendig. Rizzo benötigte für die Steuererhöhungen per Notfallgesetzgebung die Zustimmung im Repräsentantenhaus von Pennsylvania. Dieses Vorhaben scheiterte am Widerstand der Abgeordneten aus den urbanen Randbezirken, die unter ihren Wählern viele aus Philadelphia und anderen Metropolen abgewanderte Bürger hatten. Rizzo ordnete daher am 15. Februar die Schließung des Philadelphia General Hospitals an, des einzigen öffentlichen Krankenhauses der Stadt. Damit traf er vor allem die ärmeren, überwiegend afroamerikanischen Bevölkerungsteile, die auf diese Klinik angewiesen waren. Da er keine anderen Kürzungen vornahm und das teure Patronagesystem, das bestimmte Unternehmen bevorzugte, unberührt ließ, sah er sich erneut mit dem Vorwurf des Rassismus konfrontiert. Aufgrund seines großen Wahlvorsprungs im November 1975 fühlte er sich jedoch als Bürgermeister trotz der Kritik deutlich legitimiert. Anfang März erhielt Rizzo einen satirischen Beitrag des Inquirers vier Tage vor seinem geplanten Erscheinungsdatum von befreundeten Mitarbeitern zugespielt. Dieser fiktive Bericht hatte ein Selbstgespräch des Bürgermeisters über das Haushaltsdefizit zum Inhalt und persiflierte seinen Redestil. Rizzo empfand den Text als einen Angriff auf seine ethnische Herkunft und reichte am 13. März 1976 eine Beleidigungsklage über 6 Mio. US-Dollar (das entspricht 2021 inflationsbereinigt etwa 28 Millionen Dollar) gegen die Zeitung ein, konnte damit aber nicht das Erscheinen der Kolumne am nächsten Tag verhindern. Er nutzte die Gelegenheit, sich als Opfer darzustellen und die Kritik an den geplanten Steuererhöhungen umzukehren. Am 19. März demonstrierten mehrere hundert Bauarbeiter vor dem Firmensitz des Inquirer gegen dessen vermeintlich wirtschaftsfreundliche und arbeiterfeindliche Berichterstattung und verhinderten die Auslieferung der Daily News bis zum nächsten Morgen, als ein United States District Court die Blockade untersagte. Rizzo hatte vorher insgeheim dem Gewerkschaftsführer Thomas Magrann für die Aktion grünes Licht gegeben. Seine Bedingung war, dass die Transparente das Thema Arbeiter gegen Management aufgriffen und es zu keiner Gewalt kam. Landesweit wurde die Aktion als Angriff auf die Pressefreiheit verurteilt, während Rizzo seine Passivität damit begründete, dass er dem Inquirer nicht helfen wollte, „die Arbeiterbewegung zurück in die 1920er Jahre zu werfen“. Ende März 1976 gab Rizzo eine knapp 50-prozentige Erhöhung der Wasser- und Abwassergebühren bekannt, die bis dahin größte Abgabenerhöhung in der Stadtgeschichte. Am 31. März machten ADA und Philadelphia Party ihr Bemühen um eine Abwahl Rizzos der Öffentlichkeit bekannt. Als der Bürgermeister am nächsten Tag höhere Grund- und Lohnsteuern in der Größenordnung von 250 Mio. US-Dollar (das entspricht 2021 inflationsbereinigt etwa 1,1 Milliarden Dollar) ankündigte, ein im damaligen Philadelphia historisch unerreicht hoher Anstieg, starteten sie noch am gleichen Tag mit der Unterschriftensammlung. Bei den demokratischen Primaries Ende April 1976 in Pennsylvania, die der deutlich gegen Rizzo Position beziehende Jimmy Carter mit großem Vorsprung gewann, kamen allein am Wahltag in Philadelphia 30.000 Unterschriften für die Petition zur Abwahl des Bürgermeisters hinzu. Bis dahin war bereits über die Hälfte des notwendigen Quorums von 145.000 Unterschriften für den Abwahlantrag erreicht worden. Der zunehmend unter Druck stehende Rizzo entmachtete Ende Mai gemeinsam mit Cianfrani seinen Gegner Camiel, womit er zum Parteiführer der Demokraten in Philadelphia wurde. Zum Fristende am 15. Juni legte die Abwahlinitiative über 200.000 Unterschriften vor. In der städtischen Kommission, die die Gültigkeit der Stimmen überprüfte, standen zwei der drei Mitglieder auf Seiten Rizzos. Am 24. August gaben sie über den städtischen Solicitor bekannt, dass nur knapp 90.000 Unterschriften gültig seien, womit das Quorum für einen Volksentscheid verfehlt wurde. Zum Beispiel ordneten sie Stimmen als ungültig ein, bei denen der Name nicht vollständig ausgeschrieben war, also Initialen benutzt wurden, oder die Unterzeichner nicht als Wähler registriert waren, was allein zum Ausschluss von über 40.000 Voten führte. Am 30. September bestätigte das Oberste Gericht Pennsylvanias diese Entscheidung und verwarf die Abwahlregelung in der Home Rule Philadelphias als verfassungswidrig. Inquirer-Bericht über Polizeigewalt und Konflikt mit der Move-Organisation Ende April 1977 erschien im Inquirer eine Artikelserie, die aufdeckte, dass städtische Polizeibeamte Gewalt und Foltertechniken anwandten, um von Verdächtigen Geständnisse zu erpressen. Die Recherche versetzte Philadelphia in Aufruhr und polarisierte die Bürger. Der Bürgermeister lehnte eine Interviewanfrage des Inquirers in diesem Zusammenhang ab. Insbesondere die afroamerikanische Gemeinschaft fühlte sich in ihrem Misstrauen gegen die Polizei und Rizzo bestärkt, der im folgenden Monat einen weiteren Rückschlag hinnehmen musste, als bei den städtischen Primaries seine Kandidaten unterlagen. Um sein Image wieder aufzupolieren, reifte zu dieser Zeit in ihm der Entschluss, entgegen der Home Rule für eine dritte Amtszeit zu kandidieren. Während Pearlman ihn in diesem Beschluss bestärkte, riet Weinberg von diesem Vorhaben als politischem Selbstmord ab. Nachdem Cianfrani im Spätsommer 1977 wegen Racketeering zu einer Haftstrafe verurteilt worden war und Gaudiosi als Stadtvertreter zurücktrat, womit wichtige Verbündete und Berater verloren gingen, kamen Rizzo Zweifel an einer dritten Kandidatur. Seine Lage wurde außerdem durch die zunehmende Konfrontation mit der afroamerikanischen Move-Organisation (MOVE) in West Philadelphia und die Entscheidung des Obersten Bundesgerichts erschwert, das Ende Februar 1978 den als „Schlacht um den Whitman Park“ bekannten Widerstand der überwiegend weißen Bevölkerung in South Philadelphia gegen ein soziales Wohnungsbauprojekt abwies, das vor allem Afroamerikanern zugutekam. Bei seinem Amtsantritt als Bürgermeister hatte Rizzo dieses Bauprojekt gestoppt und war deswegen von dessen Befürwortern des Rassismus bezichtigt worden. Auf einer Bürgerversammlung in Whitman Park, die ihn begeistert begrüßte und seine erneute Kandidatur forderte, gab er Mitte März bekannt, die Home Rule nicht ändern zu wollen, um eine dritte Amtszeit zu ermöglichen. Dort bestärkte er die Menge in dem Gefühl, wie „Bürger zweiter Klasse“ behandelt worden zu sein, während bestimmte Minderheiten im Gegensatz dazu bevorzugt behandelt worden seien. Laut Paolantonio war in dieser Grundstimmung, die die Rizzocrats in Philadelphia definierte, der Keim für eine neue politische Bewegung in Amerika angelegt, aus der kurze Zeit später die von weißen Grundbesitzern initiierte California Proposition 13 und die Reagan Democrats hervorgingen. Nachdem im Frühling 1978 noch eine Verständigung mit MOVE erreicht worden war, deren Haus seit März auf richterliche Anordnung hin verbarrikadiert war, kam es im August zur Eskalation. Die von Vincent Leaphart geführte Gruppe lebte in einem Doppelhaus, in dem sie Waffen horteten, und hatte die Nachbarschaft von Anfang an durch ihr gewalttätiges Verhalten und die Verwahrlosung des Grundstücks verstört. Am 8. August, wenige Tage nach Ablauf der ausgehandelten Schonfrist, umstellten mehr als 600 Polizisten das Anwesen. Rizzo war vor Ort, aber überließ Polizeichef O’Neill die Leitung der Operation. Es begann ein Schusswechsel, bei dem ein Polizist tödlich getroffen wurde. In der Fernsehübertragung dieses Ereignisses sorgte jedoch die Gewalt gegen Leaphart für Aufsehen, der sich mit erhobenen Händen den Ordnungskräften genähert hatte und von diesen verprügelt wurde. Diese Szene wurde von den Sendern mehrere Tage lange immer wieder gezeigt und mobilisierte die afroamerikanische Gemeinde Philadelphias gegen die Polizei, für deren Brutalität einmal mehr Rizzo verantwortlich gemacht wurde. Im August 1979 erhob das Justizministerium der Vereinigten Staaten Anklage gegen die Polizei Philadelphias und mehrere Amtsträger der Stadt, darunter Rizzo, die von einem Bundesgericht zwei Monate später aus formalen Gründen abgelehnt wurde. Abschied aus dem Rathaus Im September 1978 gab sein früherer Wahlkampfmanager Gaudiosi seine Kandidatur für die Bürgermeisterwahlen im nächsten Jahr bekannt und attackierte Rizzo. Er machte ihn für den Tod des Polizisten bei der Belagerung des MOVE-Hauses verantwortlich und warf ihm die Spaltung der Stadt entlang von „Rassengrenzen“ vor. Einige Tage später hielt Rizzo vor dem Hintergrund eines Referendums zur Änderung der Stadtverordnung, das ihm eine dritte Amtszeit ermöglichen sollte, eine seiner umstrittensten Reden. Er warb zu diesem Anlass für seine Sache mit der Aufforderung “I say vote white” („Ich sage euch, wählt weiß“), was ihn für den Rest seiner politischen Karriere verfolgte. Beim Volksentscheid am 7. November wurde die Änderung der Stadtverordnung mit großer Mehrheit abgelehnt. Die Wahlbeteiligung der Afroamerikaner, die nahezu geschlossen gegen eine dritte Amtszeit für Rizzo stimmten, war die bis dahin höchste in der Geschichte Philadelphias. Von den elf Kandidaten, die bei den demokratischen Primaries für die Bürgermeisterwahlen 1980 ins Rennen gingen, unterstützte er keinen, sondern freute sich nur über das Ausscheiden von Gaudiosi. Am Ende setzte sich Green bei den Vorwahlen durch und besiegte anschließend den Republikaner David Marston und den Afroamerikaner und Gewerkschafter Lucien E. Blackwell, der für die Consumer Party kandidierte. Die neue Stadtregierung bewertete das von Rizzo übernommene politische Erbe und führte in vielen Bereichen grundlegende Änderungen durch. Während seiner Amtszeit war die Suburbanisierung rasant fortgeschritten und die Stadtbevölkerung um mehr als 10 % geschrumpft, sodass ganze Stadtviertel Philadelphias verlassen und dem Verfall preisgegeben waren. Aufgrund dieser verheerenden Bilanz hatte das Bundesministerium für Wohnungsbau und Stadtentwicklung (HUD) die Projektförderung für Philadelphia 1979 eingestellt und eine Wiederaufnahme an mehrere Bedingungen geknüpft. So forderte HUD unter anderem sozialen Wohnungsbau auch in mehrheitlich weißen Stadtvierteln. Kurz nach Amtsantritt eröffnete Green die umstrittenen Baumaßnahmen in Whitman Park, die Bürgermeister Rizzo noch blockiert hatte. Aufgrund Rizzos schlechter Beziehung zu Präsident Carter waren die Bundessubventionen, die unter Nixon und Ford Philadelphia zugutegekommen waren, weitgehend ausgetrocknet. Während seiner Amtszeit als Bürgermeister hatte die Stadt 90.000 Arbeitsplätze verloren, was ihn nicht davon abgehalten hatte, die Ämterpatronage in der Stadtverwaltung auszuweiten und dort die Anzahl außertariflicher Angestellter mehr als zu verdoppeln. Auf der anderen Seite ermöglichte es Rizzo den Bürgern in einem bis dahin unbekannten Ausmaße, ihre Anliegen bei ihm persönlich vorzubringen. Eine der größten Errungenschaften seiner Administration war die Schaffung einer städtischen Krankenhausbehörde (Hospital Authority), die mit mehr als einer Mrd. US-Dollar den Neubau und die Renovierung von 27 Hospitälern unterstützte. Beim Thema innere Sicherheit zeigte die Kriminalstatistik für die 1970er Jahre in Philadelphia keine wesentlichen Änderungen. Das Justizministerium ordnete Philadelphia als die sicherste der zehn größten Städte des Landes ein. Dem gegenüber stand ein hoher Vertrauensverlust insbesondere der afroamerikanischen Bürger in die Polizei und den Bürgermeister. Unter dem neuen Bürgermeister schuf Bezirksstaatsanwalt Ed Rendell eine Ermittlungseinheit, die den Vorwürfen der Polizeigewalt in mehreren hundert Fällen nachging. Selbst nach seiner Abwahl nutzte Rizzo seinen Einfluss auf die Polizei Philadelphias, um die Ermittlungen zu blockieren. Im Ruhestand und weitere Bürgermeisterkandidaturen (1980–1991) Als Rizzo im Januar 1980 das Rathaus verließ, galt er in der Öffentlichkeit größtenteils als brutaler Rassist. Für ihn war klar, dass er sich von diesem Vorwurf nur reinwaschen konnte, wenn er wieder Bürgermeister würde. Nicht zuletzt weil er Green bei den Primaries 1971 besiegt hatte, rechnete er sich gute Chancen auf eine Wiederwahl zum Bürgermeister aus. Im Juli 1980 kehrte er in das Rathaus zurück, um im Prozess gegen die MOVE-Mitglieder wegen des bei der Belagerung im August 1978 getöteten Polizeibeamten eine Aussage zu machen. Im Anschluss fingen ihn MOVE-Anhänger im Gerichtsflur ab und beleidigten ihn lautstark, wobei sie auch Drohungen aussprachen. Aufgrund dieses Vorfalls wagte sich Rizzo in der Zeit danach nicht mehr alleine aus dem Haus. Green und der neue Polizeipräsident Solomon versuchten derweil, bei der Polizei Philadelphias einen Kulturwandel herbeizuführen. Sie ließen alle Aufzeichnungen und Akten der Civil Defense Squad und von Rizzos Spionage-Einheit vernichten. Außerdem machten sie den Streifenbeamten strengere Vorgaben zum Einsatz von Schusswaffen. Als im September 1980 ein Polizeibeamter im Dienst erschossen wurde, sahen daher viele seiner Kollegen die persönliche Verantwortung dafür bei Green und Solomon. Verschärft wurde dies dadurch, dass Green wegen des Haushaltsdefizits 700 Polizeibeamte entlassen musste. Im Juli 1981 verbuchte Rizzo bei einer Sonderwahl im South Philadelphia umfassenden Kongresswahlbezirk einen politischen Sieg gegen seinen Nachfolger; der von ihm unterstützte Joseph Francis Smith siegte gegen Greenes Kandidaten David Glancey. Zu dieser Zeit begann sich um den Geschäftsführer der Stadtverwaltung (Managing Director) Wilson Goode allmählich eine Koalition aus Liberalen, Wirtschaftsvertretern und Afroamerikanern herauszubilden, die mit Verdruss wahrnahmen, wie Green an Zustimmung verlor und Rizzo sein Comeback vorbereitete. Im Dezember 1981 wurde in Philadelphia der weiße Polizist Daniel Faulkner ermordet und der afroamerikanische Journalist und Bürgerrechtler Mumia Abu-Jamal im folgenden Jahr als Täter zum Tode verurteilt. Von Anfang an waren dieser Fall und der Gerichtsentscheid höchst umstritten. Neben der aufflammenden Polarisierung zwischen Weißen und Schwarzen zeigte die Kontroverse auch Aspekte einer Klassenfrage. Während viele Prominente, Liberale und Intellektuelle Zweifel an Abu-Jamals Schuld und der Rechtmäßigkeit des Verfahrens äußerten und ihn in seinem Kampf gegen das Todesurteil unterstützten, solidarisierte sich die weiße Arbeiterklasse in Philadelphia mit dem Mordopfer und forderte die Hinrichtung Abu-Jamals. Der Historiker Timothy J. Lombardo sieht die Konfrontation entlang „Rassen“- und Klassenlinien, die der Mordfall von Beginn an auslöste, als eine Folge der jahrzehntelangen Prägung der Polizei- und Strafverfolgungspolitik durch Rizzo an. Bürgermeisterwahl 1983 Green, der es nie schaffte, aus dem Schatten seines Vorgängers hervorzutreten, gab im November 1982 bekannt, dass er nicht zur Wiederwahl antreten werde. Er war damit der erste Bürgermeister in der Stadtgeschichte, der dies tat. Sofort brachen daraufhin unter den Demokraten Nachfolgekämpfe aus. Die ersten, die ihren Hut in den Ring warfen, waren der Afroamerikaner Goode und Tommy Leonard, der unter Rizzo Rechnungsprüfer gewesen und mit Weinberg verschwägert war. Trotz seines festen Vorsatzes, erneut zu kandidieren, wartete Rizzo vorerst ab, weil er sich über seine Popularität noch unsicher war. Später gab er an, dass ein Restaurantbesuch im Montgomery County Ende 1982, in dessen Verlauf sich eine applaudierende Menge spontan um ihn versammelte, ihm wieder ausreichend Selbstvertrauen gegeben habe. Etwa um diese Zeit erwog der republikanische Parteichef Philadelphias, Billy Meehan, erstmals, Rizzo zu einer Bürgermeisterkandidatur für seine Partei zu gewinnen. Rizzo und sein Berater Weinberg hatten diese Idee aber bereits verworfen, als Leonard sich ins Rennen gebracht hatte. Gegen Leonard als weißen Spitzenkandidaten der Demokraten rechneten sie sich keine Chancen aus, sollten sie sich für eine republikanische Wahlplattform entscheiden. Am 12. Januar 1983, zwei Tage nachdem Leonard aus den demokratischen Primaries ausgeschieden war, um als unabhängiger Kandidat anzutreten, kündigte Rizzo auf einer Pressekonferenz seine Kandidatur für die Bürgermeisterwahlen an. Dadurch blieb der republikanische Kandidat John Egan in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend unbeachtet, wovon sich seine Kampagne nicht mehr erholte. Am Abend hatte Rizzo einen Auftritt in dem bekannten Nachrichtenmagazin Nightline von Ted Koppel auf ABC. Zwar räumte er dort einige Fehler ein, die ihm als Bürgermeister unterlaufen seien, aber er weigerte sich, sich von einigen martialischen Äußerungen aus der Vergangenheit zu distanzieren. Als Medienberater engagierte Rizzo David Sawyer, der jedoch schon im Wahlkampf von Jane Byrne in Chicago gegen ihren afroamerikanischen Herausforderer Harold Washington gebunden war. Sawyer geriet in einen Interessenkonflikt, weil eine Schmähkampagne gegen Goode ihm als Rassismus ausgelegt werden könnte und somit die Wiederwahl Byrnes gefährdete. Ende Februar erhob die Bezirksstaatsanwaltschaft Anklage gegen fünf hochrangige aktuelle und ehemalige Mitglieder der Polizei Philadelphias wegen Korruption und Veruntreuung. Rizzo nutzte dies für eine Attacke gegen Green und Solomon, womit er sich jedoch selbst schadete. Zum einen wurde er mit dem Bericht der Pennsylvania Crime Commission konfrontiert, der bereits 1974 systematische Korruption innerhalb der städtischen Polizei festgestellt hatte, zum anderen trieb er damit den amtierenden Bürgermeister und Polizeipräsidenten in das Lager von Goode. Im März gab Sawyer schließlich die Beratung von Rizzo an Robert Goodman und dessen Sohn ab. Beide waren Republikaner und Robert hatte bei den Primaries zur Präsidentschaftswahl 1980 George Bush senior betreut, weshalb sie im Wahlkampf gegen Goode weniger Rücksicht als Sawyer nehmen mussten. Als Goodes Team in der Folge ihre Angriffe mit gleicher Münze zurückzahlte, entstand in Philadelphia ein Wahlkampf, der in bis dahin noch nie erlebtem Ausmaß den Charakter einer gegenseitigen Schmähkampagne trug. Als der Bürgerrechtler und Pastor Jesse Jackson in einer Predigt zur Wahl von Goode aufrief, ließ Rizzo Fotos veröffentlichen, die Jackson mit Jassir Arafat und Muammar al-Gaddafi zeigten, was eine kaum verhohlene Werbung um weiße Wähler war. Für das Fernsehen produzierte Goodman Kurzporträts von Rizzo, die seine Liebe zur Stadt Philadelphia und Erfolge während seiner Amtszeit hervorhoben. Eine Stunde vor Beginn der TV-Debatte zwischen den beiden Kandidaten durchsuchten Polizeibeamte und FBI-Agenten am 19. April 1983 mehrere Orte in drei Bundesstaaten nach Joseph V. Mastronardo, dem Schwiegersohn Rizzos, um einen Haftbefehl wegen des Verdachts auf illegale Buchmacherei zu vollstrecken. Mastronardo war an der gesamten Ostküste als Glücksspieler bekannt und hatte in den frühen 1980er Jahren einen Mordanschlag durch die Philadelphia Crime Family überstanden, die sich nach dem Tod von Bruno unter seinem Nachfolger Nicodemo Scarfo nicht mehr Rizzo verpflichtet fühlte. Bei ihrer Suche am 19. April drangen die Beamten auch in ein teures Dinner von Rizzo-Anhängern in einem Hotelsaal ein, zeitgleich mit dem Start der Fernsehdebatte. Mastronardo stellte sich am nächsten Tag den Behörden und wurde später in einem anderen Fall zu einer Haftstrafe verurteilt. Später stritt der verantwortliche Polizeioffizier jeden Zusammenhang zwischen dem zeitlichen Ablauf dieser Aktion und der TV-Debatte ab. Paolantonio vermutet jedoch dahinter eine persönliche Rache des Polizeipräsidenten für Rizzos öffentliche Angriffe auf seine Person. Rizzo selbst sah darin einen Versuch, seine Glaubwürdigkeit durch Schuld durch Assoziation zu untergraben. Wenige Tage nach diesem Vorfall gab der Inquirer eine Wahlempfehlung für Goode ab. Der polarisierende Zweikampf zwischen den Beiden führte dazu, dass sich in Philadelphia mehr als 800.000 Bürger als demokratische Wähler registrieren ließen, während es bei den Republikanern weniger als 200.000 waren. Am 17. Mai verlor Rizzo schließlich gegen Goode mit knapp zehn Prozentpunkten Rückstand. Bei einer Rekord-Wahlbeteiligung von über 70 % hatte er bei den afroamerikanischen Wählern nur 2 % der Stimmen erhalten. Im November 1983 gewann Goode die Bürgermeisterwahlen. Bürgermeisterwahl 1987 Anfang 1984 nahm Rizzo eine Stelle bei den städtischen Gaswerken an, wo er für die Verbesserung der Werksicherheit zuständig war. Die Philadelphia Gas Works, zu jener Zeit der größte amerikanische Erdgasversorger in öffentlicher Hand, waren ein häufig genutzter Arbeitgeber für entmachtete Politiker. Als öffentlich noch am gleichen Tag bekannt wurde, dass der ehemalige Bürgermeister neben seiner Pension ein weiteres Gehalt durch die Stadt bezog, griffen dies die Philadelphia Daily News in einer Karikatur auf. Sie stellte Rizzo als einen Gasmann dar, aus dessen Taschen Geldscheine quollen. Dieser kündigte daraufhin sofort die Beschäftigung, die er nach einiger Zeit allerdings wieder aufnahm, und reichte Klage gegen die Zeitung ein. Außerdem verklagte Rizzo das Wochenmagazin The Welcomat, das ihn in einem Artikel Ende 1982 mit Adolf Hitler und Benito Mussolini verglichen hatte, auf 11 Mio. US-Dollar Entschädigung. Die Gerichtsverhandlung im Mai 1986 nutzte Rizzo als Bühne, um seine Erfolge als Bürgermeister herauszustreichen. Am Ende lehnte der Richter die Klage mit dem Verweis auf das Recht zur Meinungsfreiheit ab. Trotz dieser Niederlage war Rizzo zu einer erneuten Bürgermeisterkandidatur entschlossen, denn mit dem Erstarken des Konservativismus im gesamten Land während der Präsidentschaft von Ronald Reagan sah er seine eigenen Erfolgsaussichten wachsen. Im Jahr zuvor hatte Goode sein Ansehen stark beschädigt, als er am 13. Mai 1985 die Erstürmung eines von MOVE besetzten Hauses in West Philadelphia befahl. Die Mitglieder hatten das Anwesen zu einem Bunker ausgebaut, das mit Handwaffen nicht eingenommen werden konnte. Also hatte Goode grünes Licht für einen Angriff mit Sprengstoff gegeben. Das dadurch ausgelöste Feuer war außer Kontrolle geraten, hatte mehr als 60 Häuser in der Nachbarschaft zerstört und elf Todesopfer gefordert. Zwar hatte das Ereignis keine juristischen Folgen für die Goode-Administration, aber bei den folgenden Wahlen zum Bezirksstaatsanwalt zeigte sich mit dem Sieg des Republikaners Ronald D. Castille ein Stimmungswandel in der Stadt, auch bei der afroamerikanischen Bevölkerung. Bald darauf traf sich Rizzo regelmäßig mit Meehan, um seine Unterstützung für eine republikanische Bürgermeisterkandidatur zu gewinnen. Im November 1986 kündigte Rizzo seine Stelle bei Philadelphia Gas Works und betrat wieder die politische Bühne. Als erstes sprach er in zwei Synagogen in North Philadelphia vor der Öffentlichkeit. Er entschied sich aufgrund von Wahlanalysen für diese Startorte, weil unter allen weißen Bevölkerungsgruppen Goode und die Demokraten insgesamt den größten Wähleranteil unter den jüdischen Amerikanern hatten. Mitte Dezember stellte Rizzo schließlich einen Mitgliedsantrag bei den Republikanern. Wenige Tage später lud ihn der republikanische Vorsitzende seines Stadtteils, der ebenfalls Italoamerikaner war, zu einem Dinner in sein Familienrestaurant ein und begrüßte ihn in der Partei. Mitte Februar 1987 entschieden sich Meehan und kurz darauf der Parteivorstand, Rizzos Bürgermeisterkandidatur zu unterstützen. Zwar zeigten die Umfragen unter den republikanischen Wählern einen deutlich Vorsprung für dessen Konkurrenten Egan an, aber die Annahme war, dass bei der Bürgermeisterwahl viele Rizzocrats und Reagan Democrats, also Demokraten, die bei den Präsidentschaftswahlen 1980 und 1984 für Reagan gestimmt hatten, für Rizzo votierten. Bei den Primaries ignorierte Rizzo Egan und verweigerte eine öffentliche Debatte. In einer Zeit, in der die Republikaner in Metropolen wegen Reagans starken Kürzungen bei den Sozialausgaben einen schweren Stand hatten, glich sein Wahlkampf inhaltlich und von seinem persönlichen Auftreten her stark denjenigen aus der Vergangenheit. Wie in der Vergangenheit positionierte er sich etwas rechts der politischen Mitte. Reagans Politik zugunsten der allgemein besser situierten suburbanen Bevölkerungsschichten hatte dazu geführt, dass Rizzo bei der Präsidentschaftswahl 1984 seinen Herausforderer Walter Mondale unterstützt hatte. Vor diesem bundespolitischen Hintergrund und in Verbindung mit den Misserfolgen der Goode-Administration hatte sich in Philadelphia eine besonders negative Stimmung gegenüber Washington und dem Rathaus ausgebreitet. Letztendlich gewann er die parteiinterne Vorauswahl im Mai mit 58 %. Rizzo wurde somit der erste Politiker in der Stadtgeschichte, der im Verlauf seiner Karriere von Demokraten und Republikanern zum Spitzenkandidat für das Bürgermeisteramt gekürt wurde. Mitte August engagierte Rizzo den Filmregisseur Joe Vandergast für die Gestaltung seiner Fernsehwerbung, die zum teuersten Posten in der letzten Phase des Wahlkampfes wurde. Insgesamt entstanden zwei Dutzend Werbespots, die überwiegend die Person des früheren Bürgermeisters ins Zentrum stellten. Ein Clip attackierte hingegen Goode für den Bombenabwurf auf den MOVE-Bunker. Rizzo untergrub diese Kampagne jedoch zum Teil selbst: In einer Wahlwerbung räumte er Fehler als Bürgermeister ein. Als er von dem bekannten Lokaljournalisten Vernon Odom diesbezüglich um eine konkrete Aussage gebeten wurden, antwortete er darauf mit einer spöttischen Bemerkung. Wählerbefragungen zeigten, dass die TV-Kampagne nicht den gewünschten Erfolg erzielte, obwohl Rizzo bei der Sendezeit Goode um ein Mehrfaches voraus war. Zur Katastrophe für Rizzo wurde schließlich die Fernsehdebatte mit dem amtierenden Bürgermeister am 6. Oktober. Hier zeigte er sich schlecht vorbereitet, Goode gegenüber rachsüchtig und bei der Interaktion mit den Moderatoren äußerst ungeduldig. So verkündete er, das Abfallproblem der Stadt binnen 90 Tagen zu lösen, ohne auf Nachfrage sagen zu können, wie er das bewerkstelligen wollte. Einige Tage später veröffentlichte der Inquirer eine Titelgeschichte von Buzz Bissinger, die ausführlich auf die Polizeibrutalität in Philadelphia einging und Rizzo als Polizeichef und späteren Bürgermeister für dieses Phänomen verantwortlich machte. Diese Story schadete seiner Wahlkampagne erheblich; der Inquirer gab Ende Oktober eine Wahlempfehlung für Goode. Einen weiteren Rückschlag nur wenige Tage vor der Wahl musste Rizzo einstecken, als er sich von der Lebensrechtsbewegung distanzierte, in deren Nähe ihn zuvor der Staatssenator und Rizzocrat Joseph Rocks in einem Radio-Interview gerückt hatte. Durch diesen Vorfall verlor er in der Konsequenz sowohl bei liberalen Wählern als auch bei Abtreibungsgegnern. Bei der Wahl am 3. November siegte schließlich Goode knapp mit 2,7 % Vorsprung. In der afroamerikanischen Wählergruppe kam Goode auf 97 %, Rizzo bei den Weißen auf 82 %. Er räumte seine Niederlage nie öffentlich ein und weigerte sich Goode zu seinem Wahlerfolg zu gratulieren. Talkmaster auf WCAU-FM Nach dieser Enttäuschung zog sich Rizzo fürs Erste wieder aus der Öffentlichkeit zurück. Ende 1987 machte er sich Hoffnungen, im Präsidentschaftswahlkampf 1988 in Philadelphia Hauptverantwortlicher für die Bush-Kampagne zu werden, obwohl er diesen wie Reagan für den Niedergang der Großstädte verantwortlich machte. Dessen Wahlkampfteam ging jedoch auf Abstand zu Rizzo und entschied sich für seinen Schützling Michael Smerconish. Zwar wurde ihm beim Besuch von Bush in Philadelphia im April 1988 ein persönliches Treffen zugestanden, aber als dieser sich die Nominierung für das Rennen um das Weiße Haus gesichert hatte, zeigte er ihm wieder die kalte Schulter. Im August 1988 erhielt Rizzo von Programmdirektor Greg Tantum das Angebot, für den lokalen Radiosender WCAU-FM zu arbeiten. Er unterschrieb einen Zweijahresvertrag und moderierte ab dem 9. November eine Talk-Show. Weil er als Person weiterhin höchst umstritten war, war die endgültige Entscheidung für seine Einstellung in der CBS auf höchster Ebene vom damaligen CEO Laurence Tisch getroffen worden. Rizzos Sendung hieß Frank Talk with Frank Rizzo („Freimütiges Gespräch mit Frank Rizzo“) und bestand im Wesentlichen aus Höreranrufen, aber auch -briefen, die von ihm entgegengenommen und kommentiert wurden. Rizzo erreichte zu seiner Sendezeit den höchsten Höreranteil in Philadelphia. Häufige Anrufer in Frank Talk with Frank Rizzo waren Polizisten, die sich über das Präsidium beschwerten. Insgesamt erreichten Rizzo Anrufe und Briefe aus allen Gesellschaftsschichten und Stadtteilen. Im Jahr 1989 klagte er, veranlasst durch den Hinweis eines Hörers, erfolgreich gegen die Pensionszahlungen an Goodes ehemaligen Polizeipräsidenten Kevin Tucker. Dieser hatte nie als Polizist gedient, sondern kam aus dem United States Secret Service, und hatte während seiner 30-monatigen Amtszeit nicht in Philadelphia gelebt. Zudem war er bei seinem Polizei-Dienstabschied Mitte 1988, dem ein Wechsel in das Management einer Bank folgte, erst 48 Jahre alt und somit sieben Jahre jünger als das reguläre Pensionsalter. Während Goodes zweiter Amtszeit hatte sich die Finanzkrise der Stadt so verschärft, dass sie in die Gefahr einer Insolvenz geriet. Im Stadtrat positionierte sich Lucien E. Blackwell als Nachfolger Goodes, der auf Grund der Amtszeitbeschränkung nicht zur Wiederwahl antreten konnte, während der einflussreiche demokratische Kongressabgeordnete William H. Gray seinen Protegé George R. Burrell als Kandidaten aufbaute und sich mit Rendell ein dritter Aspirant in Stellung brachte. Einige der engen Unterstützer Rizzos erwarteten von ihm nun eine Aussage, ob er wieder kandidierte, weil sie andernfalls zu den Demokraten zurückkehren und Rendells Kampagne unterstützen wollten. Anfang Februar 1990 ließ er über den Inquirer bekannt machen, dass er bei den republikanischen Primaries 1991 antreten werde, notfalls ohne Unterstützung durch die Parteiführung. Sein Arbeitgeber CBS verlangte von ihm umgehend einen Rückzug von diesem Vorhaben, weil sonst Sanktionen durch die Federal Communications Commission („Bundeskommunikationskommission“) drohten. Rizzo verneinte daraufhin in wenig glaubwürdiger Form seine Ambitionen auf das Rathaus. Das Problem einer möglichen Doppelfunktion Rizzos als Radiomoderator und Bürgermeisterkandidat löste sich sechs Monate später von selbst, als WCAU-FM wegen sinkender Hörerzahlen den Betrieb einstellte. Bürgermeisterwahlen 1991 Wie schon bei den Vorwahlen 1987 registrierten sich wegen Rizzo die weißen Wähler vor allem bei den Republikanern, was bei den Demokraten dem Afroamerikaner Blackwell zum Vorteil gereichte. Rizzo eröffnete Ende Januar 1991 seinen Vorwahlkampf mit einer öffentlichen Veranstaltung, bei der unter anderen der frühere Boxweltmeister Joe Frazier und der bekannte Vietnamkriegsveteran David A. Christian zugegen waren. Er machte wieder durch seine Wortwahl negative Schlagzeilen, indem er die Crackdealer als Wolfsrudel bezeichnete, die die Stadt terrorisierten und von der Polizei auf der Straße bekämpft werden müssten. Goodman, der erneut als sein Medienberater fungierte, hielt ihn danach zu einer gemäßigteren Rhetorik an, was Rizzo in der Folge beherzigte. Parteichef Meehan entschied sich nach diesem Wahlkampfauftakt Rizzos, und nachdem Vorwürfe wegen sexueller Belästigung gegen den anderen Kandidaten Samuel Katz laut wurden, die Bewerbung von Bezirksstaatsanwalt Castille für das Bürgermeisteramt zu unterstützen. Als Rizzo Mitte Februar davon erfuhr, hielt er trotzdem an seiner Kandidatur fest. Um gegen Castille eine Chance zu haben, animierte er Katz dazu, nicht aus dem Rennen auszusteigen, und schloss mit ihm einen Nichtangriffspakt. Entsprechend richteten sich die Wahlkampfspots seiner Kampagne vor allem gegen Castille. Über den Kolumnisten der Philadelphia Daily News Chuck Stone lancierte er einen Bericht über einen Unfall Castilles, den dieser beim Spielen mit einer Handfeuerwaffe erlitten hatte. Unmittelbar danach griff Rizzo dies in einer persönlich verletzenden TV-Wahlwerbung auf, an deren Ende er Castille pathetisch ermahnte, dass Waffen kein Spielzeug seien. In einem TV-Interview legte er nach und bezeichnete Castille als einen Trinker mit psychopathologischen Auffälligkeiten. Nachdem er diese Negativkampagne für ausgereizt erachtete, entschied Rizzo, in den letzten beiden Wochen der Primaries positive Werbespots zu senden, die auf seine Persönlichkeit fokussierten. Am Ende gewann er wie Wahl am 21. Mai 1991 knapp mit etwas mehr als tausend Stimmen Vorsprung auf Castille. Insgesamt waren mehr als 130.000 registrierte Republikaner zur Wahl gegangen. Bei der Bürgermeisterwahl stand er Rendell gegenüber, der das Rennen bei den Demokraten gemacht hatte, jedoch einen schweren Stand bei den afroamerikanischen Bürgern hatte. Um hier entscheidend Stimmen zu gewinnen, setzte er auf Anraten seines Wahlkampfmanagers Weinberg ausschließlich auf das Thema Kriminalität. Weil insbesondere die schwarzen Stadtviertel unter den Folgen des Crack-Missbrauchs zu leiden hatten, sahen dort etliche Bewohner, insbesondere solche, die sich ehrenamtlich im Kampf gegen Drogen engagierten, in Rizzo einen vielversprechenden Bürgermeister, obwohl er in weiten Kreisen als Rassist in Verruf stand. Auch die einflussreiche afroamerikanische Radiomoderatorin Mary Mason sowie einige stadtbekannte schwarze Geistliche und Gemeindeführer signalisierten ihre Unterstützung für den republikanischen Kandidaten, darunter soger Bowser, der 1976 ein Mitinitiator der Unterschriftensammlung zur Amtsenthebung Rizzos war. Einen weiteren Hebelpunkt gegen Rendell setzte Rizzos Wahlkampfteam an, indem es versuchte, einen Afroamerikaner als unabhängigen Kandidaten zu gewinnen, der den Demokraten Stimmen abnehmen sollte. Letztendlich scheiterten sie aber mit diesem Vorhaben. Im nächsten Schritt der Kampagnenführung versuchte Weinberg in der Stadtverwaltung an Falschparktickets zu kommen, die gegen Rendell ausgestellt worden waren. Dadurch wollte er an eine Adresse kommen, hinter der viele eine außereheliche Affäre von Rendell vermuteten. Dieses Gerücht war bereits bei der Wahl zum Bezirksstaatsanwalt im Jahr 1977 ein Thema gewesen, das seine Gegner öffentlich machten. Am 12. Juli besuchte Rizzo eine Anti-Drogen-Demonstration in einem afroamerikanischen Stadtviertel. Lokale Fernsehsender berichteten publikumswirksam vom Beifall der Bürger anlässlich seines Auftritts. Es wurde offensichtlich, dass sein Wahlkampf im Aufwind war. Am 14. Juli besuchte Rizzo die Kathedralbasilika St. Peter und Paul um Erzbischof Anthony Joseph Bevilacqua zu ehren, der kurz zuvor in das Kardinalskollegium aufgenommen worden war. Tod Am 16. Juli 1991 wurde Rizzo kurz nach 13:20 Uhr in der Toilette seines Wahlhauptquartiers bewusstlos aufgefunden. Er starb knapp eine Stunde später an einem Kreislaufstillstand in Folge eines Herzinfarkts im nahegelegenen Thomas Jefferson Hospital. Auf Wunsch der Witwe wurde sein Leichnam in der Kathedralbasilika St. Peter und Paul aufgebahrt. Schon drei Stunden vor Start des öffentlichen Zugangs standen annähernd 14.000 Menschen in der Schlange, um Rizzo ein letztes Mal zu sehen. Präsident Bush und Vizepräsident Dan Quayle sowie Nixon drückten der Witwe in persönlichen Briefen ihr Beileid aus. Rizzo wurde nach einer Trauermesse in der Kathedralbasilika auf dem Holy Sepulchre Cemetery in Cheltenham, Montgomery County, beigesetzt. Die Trauerprozession zum Friedhof war seit über hundert Jahren die größte in Philadelphia und wurde von mehr als 300 Polizeifahrzeugen begleitet. Laut Paolantonio endete mit Rizzos Tod eine Ära in der Großstadt-Politik in den Vereinigten Staaten, die durch Männer gekennzeichnet gewesen sei, die mit ihrer offenen und unverblümten Sprache die Wähler überzeugten und eine geringe Parteibindung aufwiesen. Als Beispiel für einen Bundespolitiker dieses Typus führt er Ross Perot an, den unabhängigen Bewerber bei der Präsidentschaftswahl 1992. Bei der Bürgermeisterwahl im November 1991 gewann zwar Rendell mit großer Mehrheit gegen den republikanischen Ersatzkandidaten Egan, erhielt dabei aber weniger Stimmen als Rizzo bei seiner Niederlage 1987. Rezeption Ehrungen und Denkmäler Im Jahr 1988 wurde vor dem Rathaus eine überlebensgroße Bronzestatue von Frank Rizzo aufgestellt, die durch den Bildhauer Zenos Frudakis geschaffen worden war. Von Anfang an umstritten, wurde sie als Symbol für Rassismus und Polizeigewalt im Rahmen der Proteste infolge des Todes von George Floyd beschädigt. Viele Bürger Philadelphias teilten diese Bewertung der Persönlichkeit Rizzos durch die Black-Lives-Matter-Bewegung, unter ihnen der Bürgermeister Jim Kenney, der die Entfernung des Denkmals anordnete. Auch Frudakis selbst hatte die Entfernung des Denkmals vorgeschlagen. In der Nacht vom 2. auf den 3. Juni 2020 demontierten Arbeiter schließlich die Statue. Ein Wandbild Rizzos am Italian Market wurde wenige Tage danach mit Einverständnis der Eigentümer mit schwarzer Farbe übermalt. Historische Bewertung Rizzos politisches Leben wird sowohl von seinen Biografen als auch von der amerikanischen Politikwissenschaft sehr kritisch gesehen. In der Geschichte Philadelphias ist Rizzo bis heute eine der umstrittensten Figuren, in einer vom Fachmagazin Social Science Quarterly durchgeführten Abstimmung aus dem Jahr 1997 wählten ihn 160 Wissenschaftler, die Arbeiten zu Bürgermeistern amerikanischer Großstädte veröffentlicht hatten, zum schlechtesten Bürgermeister des Zeitraums 1960 bis 1993. Zu seinem politischen Leben erschienen in den Jahren 1977, 1993 und 2018 insgesamt drei Biografien, die seine Spielart des populistischen Blue Collar-Konservativismus, genannt Rizzoism/Rizzoismus, als im Ergebnis gescheitert und katastrophal, aber bei weißen Arbeitern zeitweise erfolgreich kennzeichnen. Bereits im Jahr 1977 erschien mit The Cop who would be King: The Honorable Frank Rizzo von Joseph R. Daughen und Peter Binzen eine erste Biografie Rizzos. In diesem kritischen Werk konstatierten die Autoren, dass seine durch Gewalt und Misswirtschaft gekennzeichnete Amtsführung katastrophal gewesen und er daran gescheitert sei, seinem Vorbild Richard J. Daley nachzueifern. Den Rizzoismus erachteten sie als einen lokalen Virus, der sich nicht weiter ausbreiten werde. In ihrer Analyse fokussierten sie sich auf die von Rizzo ausgeübte Patronage. Diese erinnere zwar an die mächtigen Parteimaschinen in den amerikanischen Metropolen früherer Zeiten, sei aber eigentlich besser mit dem „Padronesystem“ zu vergleichen, das Ende des 19. Jahrhunderts von italienischen Einwanderern in die Vereinigten Staaten gebracht worden sei. In diesem System verteilte der „Padrone“ als politische Führungsfigur und familiärer Patriarch Jobs an die Italoamerikaner und forderte dafür deren Loyalität ein. Entsprechend hatte der Arbeitstitel des Buches von Daughen und Binzen The Padrone gelautet. Frank Donner, der frühere Direktor der American Civil Liberties Union, sieht in der Art und Weise, mit welcher Rizzo die Polizei als ein Mittel zur Durchsetzung seiner moralischen und rassistischen Überzeugungen und zur Bekämpfung politischer Gegner ausnutzte, einen urbanen Polizeistaat verwirklicht. Laut Donner ist das Philadelphia während der Ägide Rizzos ein herausragendes Beispiel für die Ausbreitung polizeistaatlicher Methoden in der Regierungsführung. Deshalb spricht er vom Philadelphia jener Zeit als einer police city. Laut Paolantonio verfolgte Rizzo bei seinem politischen Handeln in erster Linie nicht ein Programm, sondern richtete es allein nach persönlichen Beziehungen aus. Er war der erste Politiker in der durch das Quäkertum traditionell egalitär geprägten Stadt, dessen Macht allein in seiner charismatischen Anziehungskraft lag und der das Rampenlicht suchte. Mit seinem personalisierten Politikstil beschleunigte er die Spaltung zwischen den Races in Philadelphia. Die Rizzocrats sind im Kontext der ausgehenden 1960er Jahre zu sehen, als eine wachsende Mittelschicht, darunter viele katholische Einwanderer der zweiten Generation, ihren Schwerpunkt rechts der politischen Mitte hatte. Sie bildeten später mit den Anhängern anderer bedeutender demokratischer Bürgermeister wie Joseph Alioto, Sam Yorty und Kevin White die Wählergruppe der Reagan Democrats, also der städtischen, traditionell demokratischen Arbeiterschicht, die ab der Präsidentschaftswahl 1980 in großem Umfang republikanisch wählte. Laut seinem Biografen Timothy J. Lombardo verhalf Rizzo dessen Law-and-Order-Politik zu nationaler Prominenz. Während der amerikanischen Großstadt-Krise in den 1960er und 1970er Jahre konnten sich damit Polizisten und die Arbeiterklasse identifizieren. Sie betrachteten den Migrantensohn und Schulabbrecher Rizzo als einen aus ihrer Mitte, nicht zuletzt weil er der Bürgerrechtsbewegung reaktionär gegenübertrat. Ein weiterer Faktor war, dass in den Metropolen in dieser Ära Polizeipolitik und der Berufsverband Fraternal Order of Police zentrale Bedeutung hatten. Rizzo sei ein archetypisches Beispiel für den populistischen Konservativismus weißer Großstädter in dieser Ära; ähnliche Politikertypen seien Reagan, Nixon, Daley, Yorty und Alabamas Gouverneur George Wallace gewesen. Rizzos Erfolg basierte auf einem „Blue-Collar-Konservativismus“, der den Wohlfahrtsstaat und New-Deal-Liberalismus selektiv ablehnte, weil diese Institutionen vermeintlich nicht mehr weißen Arbeitern, sondern anderen Ethnien zugutekamen. Aus Sicht der Rizzocrats hatten Afroamerikaner und andere Nichtweiße kein Anrecht auf staatliche Unterstützung, weil sie sie nicht durch harte Arbeit verdient hätten. Entsprechend wurden Maßnahmen zur Gleichstellung als ungerechtfertigte Privilegierung abgelehnt. Aus dieser Einstellung in Verbindung mit einer Vorliebe für Law-and-Order-Politik und großer Verehrung für die Polizei entwickelte sich laut Lombardo das Phänomen der Masseninhaftierung von Afroamerikanern, das das Gefängnissystem der Vereinigten Staaten bis heute kennzeichnet. Viele Rizzocrats sahen in ihm jemanden, der nicht nur ihr Stadtviertel vor Kriminalität, sondern auch ihre Traditionen und Institutionen vor liberalen Veränderungsprozessen schützte. Entsprechend lag in der konfliktträchtigen, baulichen Neuordnung des städtischen Raums während der 1960er und 1970er Jahre ein wichtiger Faktor für seinen Aufstieg. Zu Beginn der 1980er Jahre benutzten Experten zur Bezeichnung des Phänomens des populistischen „Blue Collar-Konservativismus“, der besonders unter Katholiken Anhänger hatte, erstmals den Begriff Reagan Democrats. Der „Blue Collar-Konservativismus“ hatte laut Lombardo neben negativen Werten wie der Ablehnung von Liberalismus und Multikulturalismus eigene kulturelle Normen und Ideale. Dies waren vor allem harte Arbeit, der ausgeprägte Wille zum sozialen Aufstieg und die Bewahrung der weißen ethnischen Identität und ihrer Traditionen, wie im Falle Rizzos der italoamerikanischen. Außerdem wurde in dieser Schicht eine extreme Form der Männlichkeit verehrt, der Rizzo durch robustes Auftreten und brutale Polizeipolitik entsprach. Ein weiterer Faktor, der seinen Aufstieg beförderte, war eine Ästhetisierung und Heroisierung der weißen Arbeiterklasse in der amerikanischen Populär- und Sportkultur der 1970er Jahre. So entwickelten sich die rein weißen Philadelphia Flyers durch ihre harte Spielweise zu einem in der Arbeiterklasse beliebten Verein, dessen Image auf die Stadt selbst ausstrahlte. Als Beispiele im Kulturbetrieb führt Lombardo die Serie All in the Family oder den Film Hundstage (1975) an. Das Bild von Philadelphia als eine zutiefst durch die weiße Industriearbeiterschaft und ihre konservativen Werte geprägte Stadt machte 1976 der Film Rocky weltbekannt. Laut Lombardo fanden sich in Donald Trumps Präsidentschaftswahlkampf 2015/16 etliche Werte aus dem „Blue Collar-Konservativismus“ wieder, die bereits Rizzo vertreten hatte. So habe sich Trump im Wahlkampf vor allem an weiße Arbeiter gerichtet und ihnen unter anderem versprochen, gegenüber Black Lives Matter Law-and-Order-Politik zu machen und mehr Jobs in der Industrie zu schaffen. Gleichzeitig nutzte er wie Rizzo in seinen Wahlkämpfen die verbreitete Wahrnehmung aus, dass die Polizei in den Großstädten in ihrer Existenz bedroht werde. Ebenso spielte er mit dem rassistischen Vorurteil, dass die Metropolen sich im Niedergang befänden, weil ihre Bevölkerungsmehrheit zunehmend schwarz sei. Wie bei Rizzo sei nicht so sehr der Inhalt seiner Botschaften Grund für seine Popularität gewesen, sondern vielmehr die Ausdrucksweise, die unter anderem beleidigende Angriffe auf politische Gegner oder provokative Äußerungen beinhaltete. Damit habe er es trotz seiner deutlich anderen Herkunft geschafft, von den weißen Arbeitern als einer von ihnen betrachtet zu werden. Literatur Timothy J. Lombardo: Blue-Collar Conservatism: Frank Rizzo’s Philadelphia and Populist Politics. University of Pennsylvania, Philadelphia 2018, ISBN 978-0-8122-5054-1. S. A. Paolantonio: Frank Rizzo: The Last Big Man in Big City America. Camino Books, Philadelphia 1993, ISBN 0-940159-18-X. Joseph R. Daughen, Peter Binzen: The cop who would be king: Mayor Frank Rizzo. Little, Brown and Company, Boston 1977, ISBN 0-316-09521-4. Weblinks Jake Blumgart: The Brutal Legacy of Frank Rizzo, the Most Notorious Cop in Philadelphia History. In: vice.com, 22. Oktober 2015. Einzelnachweise Bürgermeister (Philadelphia) Mitglied der Demokratischen Partei (Vereinigte Staaten) Mitglied der Republikanischen Partei Polizeipräsident Polizist (Vereinigte Staaten) US-Amerikaner Geboren 1920 Gestorben 1991 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Lokalan%C3%A4sthesie%20%28Zahnmedizin%29
Lokalanästhesie (Zahnmedizin)
Die Lokalanästhesie (; „Ort“, „ohne“ und „Wahrnehmung“ mit Alpha privativum, demnach örtliche Empfindungslosigkeit, lokale Schmerzausschaltung) oder örtliche Betäubung ist – im Gegensatz zur Allgemeinanästhesie (umgangssprachlich Vollnarkose) – eine auf einen kleinen Bereich beschränkte Ausschaltung des Schmerzes im Bereich von Nervenendigungen oder Nervenleitungsbahnen, ohne das Bewusstsein des Patienten zu beeinträchtigen. Die häufigste ambulante Anwendung findet die Lokalanästhesie in der Zahnmedizin. Dabei wird vor allem unterschieden zwischen der Infiltrationsanästhesie (auch Terminalanästhesie), der intraligamentären Anästhesie und der Leitungsanästhesie (auch Regionalanästhesie). Die Leitungsanästhesie am Unterkiefer erfolgt insbesondere am Nervus alveolaris inferior als Teil des dritten Astes des Nervus trigeminus, des Nervus mandibularis, während die Leitungsanästhesie am Oberkiefer am Nervus maxillaris erfolgt. Das Ziel ist die Schmerzausschaltung bei allen schmerzhaften Eingriffen im Fachgebiet der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Die Lokalanästhesie leistet einen entscheidenden Beitrag zur Vermeidung der Dentophobie (Zahnbehandlungsangst), bei entsprechender schmerzarmer beziehungsweise schmerzloser Injektionstechnik auch zur Vermeidung der Trypanophobie (Spritzenangst). Die Durchführung einer Lokalanästhesie steht unter (Zahn-)arztvorbehalt. Abgrenzung Bei der Oberflächenanästhesie wird in der Regel das Anästhetikum auf die Schleimhaut aufgebracht, wobei die sensiblen Nervenenden per Diffusion erreicht werden. Die Infiltrationsanästhesie ist eine Umspritzung des Zahnes beziehungsweise des Zielgebietes im Gewebe mit einem Lokalanästhetikum. Sensible Leitungsbahnen, die aus einem Bündel Nervenfasern bestehen, leiten die Impulse von Empfindungsrezeptoren zum Gehirn. Die Leitungsanästhesie hat die Blockade einer Nervenbahn zum Ziel, wodurch alle durch diesen Nervenast innervierten (versorgten) Bereiche anästhesiert werden. Mit der intraligamentären Anästhesie wird gezielt nur ein Zahn anästhesiert. Wirkungsweise Lokalanästhetika liegen chemisch in zwei Formen vor. Während die nicht dissoziierte, lipophile Base zum Nerv vordringt, ist die hydrophile, dissoziierte Form (Kation) lokal wirksam. Sie blockiert den Natriumeinstrom in (Nerven-)Zellen und somit die Reizleitung. Je dicker die Nervenfaser, desto höher muss die Konzentration des Lokalanästhetikums sein. Aufgrund des geringen Durchmessers der schmerzleitenden C- und A-delta-Fasern werden diese früh gehemmt, während die motorischen A-alpha-Fasern erst spät unterbunden werden. Oberflächenanästhesie Die Oberflächenanästhesie wird in der Mundhöhle zur Schmerzausschaltung der Mundschleimhaut, beispielsweise zur Schmerzreduktion des Einstichschmerzes der nachfolgenden Lokalanästhesie oder bei oberflächlichen Eingriffen am Zahnfleisch angewandt. Zur Anwendung kommen vorwiegend Articain in 2- bis 4-prozentiger Konzentration, Lidocain oder Tetracain in 0,5- bis 3-prozentiger Konzentration. Die Oberflächenanästhetika sind als Gel, Salbe oder Spray erhältlich. Zur besseren punktgenauen Anwendung wird das Anästhetikum meist auf ein Watte- oder Schaumstoffpellet aufgetragen, das etwa eine Minute lang auf die zu anästhesierende Stelle gedrückt wird. Durch den Ethanolgehalt kann auch eine Desinfektion der Injektionsstelle erfolgen. Die Oberflächenanästhesie wird daneben bei empfindlichen Patienten zur Ausschaltung des Würg- oder Schluckreflexes angewandt, beispielsweise bei der Abformung oder der Anfertigung von Röntgenaufnahmen in der Mundhöhle. Dabei wird das Oberflächenanästhetikum auf das Gaumensegel und den Zungengrund aufgebracht. Zur Anwendung kommt hierbei eine 0,5- bis 1-prozentige Lösung. Eine Überschreitung des Grenzdosis muss vermieden werden. Daneben kann eine Anästhesie der Oberfläche auch durch infiltrierende Umspritzungen des Gewebes (Hautquaddeln) erfolgen, ebenso im Rahmen der Segmenttherapie. Auch durch eine Druckanästhesie kann der Einstichschmerz reduziert oder vermieden werden. Dabei wird Druck durch einen Finger oder ein Instrument für etwa 15 Sekunden auf den vorgesehenen Injektionsbereich ausgeübt. Dem Patienten die Angst vor der Spritze zu nehmen, bedeutet, ihm auch die Angst vor der Behandlung zu nehmen, denn diese verläuft unter Lokalanästhesie schmerzfrei oder schmerzarm. Meist entstand die Spritzenphobie aus schlechten Vorerfahrungen, vorwiegend in der Kindheit. Eine deutlich wahrnehmbare Empathie des behandelnden Zahnarztes trägt ein Übriges zum Abbau der Spritzenangst bei. Ein anästhesierendes Gel wird bei Erwachsenen verwendet und ist für die professionelle Zahnreinigung (PZR) bei schmerzempfindlichen Patienten geeignet. Es kann auch bei kleineren parodontalchirurgischen Eingriffen angewendet werden. Es wird mit Hilfe einer stumpfen Nadel in den Sulkus jedes zu behandelnden Zahnes appliziert und besteht – in 5-prozentiger Konzentration – aus gleichen Teilen Lidocain und Prilocain (Oraqix). Instrumentarium In der Regel wird das Anästhetikum zur Infiltrationsanästhesie oder Leitungsanästhesie mit einer Zylinderampullenspritze, auch Karpulenspritze genannt, verabreicht. Es werden jedoch auch Einmalspritzen verwendet, mit denen das Anästhetikum aus Ampullen oder Durchstichflaschen aufgezogen wird. Nach jedem Patienten werden die Nadeln in einer Kanülenabwurfbox entsorgt und das Spritzenbesteck sterilisiert. Teilverbrauchte Zylinderampullen dürfen nicht für andere Patienten weiterverwendet werden. Im Handel sind auch kostenintensivere selbstaspirierende Einmalspritzen mit eingebautem Aspirationsmechanismus erhältlich, sowie selbstaspirierende Zylinderampullenspritzenbestecke (Beispiel: Aspiject nach Evers). Aspiration (siehe unten) und Injektion erfolgen in gleicher Richtung durch Kolbendruck, ohne dass ein Aspirationszug notwendig wird. Zur Anwendung kommen Kanülen nach ISO 7864 beziehungsweise DIN 13097 mit einer Gaugegröße 25 (⌀ 0,5 mm) oder 27 (⌀ 0,4 mm) bei einer Länge von 1" (25 mm) bei der Infiltrationsanästhesie oder 1½" (40 mm) bei der Leitungsanästhesie. Bei Einwegspritzen wird die Kanüle mit der Spritze mittels konischem Luer-Ansatz verbunden, bei Zylinderampullenspritzen mittels Verschraubung. Schmerzarme Injektionstechnik Eine schmerzreduzierte beziehungsweise schmerzfreie Injektion kann durch das Einhalten mehrerer Maßnahmen erreicht werden. Hierzu gehören die Verwendung eines Oberflächenanästhetikums oder die Anwendung einer Druckanästhesie vor der eigentlichen Injektion. Das Lokalanästhetikum soll auf Körperwärme (37 °C) erwärmt sein. Einmalspritzen lassen sich gefühlvoller handhaben als Zylinderampullenspritzen. Auf Grund ihrer geringen Größe erscheinen Einmalspritzen weniger „bedrohlich“ für den Patienten. Die Injektionskanülen sollen für einen geringeren Initialschmerz einen dreifachen Facettenschliff aufweisen und für ein schmerzreduziertes Gleiten durchs Gewebe silikonbeschichtet sein. Die Injektionskanülen verlieren bereits nach einer ersten Injektion ihre schmerzreduzierende Schärfe, sodass für jede weitere Injektion beim selben Patienten eine neue Kanüle verwendet werden soll. Ein Zurückziehen der Injektionsnadel nach dem Knochenkontakt vermeidet eine schmerzhafte subperiostale Injektion. Die Injektionsgeschwindigkeit soll 1 ml/min nicht überschreiten. Andernfalls führt der plötzlich erzeugte Druckanstieg im Gewebe zu Schmerzen. Alternativ kann eine fraktionierte (aufgeteilte) Injektionstechnik angewandt werden, bei der zuerst ein kleines Depot des Anästhetikums gesetzt wird. Das Einspritzen ins Gewebe erfolgt kurz danach, wenn das erste Depot den Injektionsbereich bereits anästhesiert hat. Die fraktionierte Injektion kann zusätzlich zum Aspirationstest eine intravasale Injektion der Gesamtdosis verhindern helfen, was insbesondere bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen sinnvoll ist. Das erste Depot würde in diesem Fall zu einem Pulsanstieg führen. Ein zu heftiger Knochenkontakt führt zum Umbiegen der Nadelspitze, die beim Herausziehen der Kanüle nach der Injektion wie ein kleiner Widerhaken wirkt und schmerzhaft das Gewebe aufreißt. Aspirationstest Vor der eigentlichen Injektion wird durch einen Aspirationstest (Ansaugen der Gewebsflüssigkeit) sichergestellt, dass die Kanülenspitze nicht in einem Blutgefäß zu liegen kommt und dass nicht direkt in ein Gefäß injiziert wird (insbesondere im Bereich der Arteria alveolaris inferior, die unmittelbar neben dem Nervus alveolaris inferior liegt). Läge die Kanülenspitze in einem Blutgefäß, würde dies durch das angesaugte Blut in der gläsernen Zylinderampulle oder Spritze sichtbar. In diesem Fall wird die Injektion abgebrochen und das Spritzenbesteck ausgetauscht und eine neue Injektion – einschließlich erneutem Aspirationstest – durchgeführt. Der Aspirationstest schließt jedoch eine intravasale Injektion nicht völlig aus. Eine intravasale Injektion führt einerseits zu einem Anästhesieversager, andererseits zu unerwünschten Wirkungen auf Herz und Kreislauf, auch durch den in der Anästhetikumlösung enthaltenen Vasokonstriktor (Adrenalin, Noradrenalin). Anästhesie im Oberkiefer Infiltrationsanästhesien Bei zahnärztlichen Eingriffen im Oberkiefer wird zumeist eine Infiltrationsanästhesie durchgeführt. Der Einstich erfolgt in der Umschlagfalte im Mundvorhof in Höhe der Wurzelspitze. Das Anästhetikum wird unter die Schleimhaut (submukös) und über die Knochenhaut (supraperiostal) injiziert, damit es sich im Knochen ausbreitet und durch ihn diffundiert. Der Kieferknochen hat vestibulär eine Dicke von etwa 1–3 mm. Die Wirkung der Anästhesie setzt meist nach ein bis drei Minuten ein und erreicht nach 20 Minuten ihre maximale Wirkungstiefe. Diese genügt, um beispielsweise schmerzfrei einen Zahn zu ziehen (Extraktion). Leitungsanästhesien Der Nervus palatinus major versorgt die dorsalen (hinteren) zwei Drittel der Gaumenschleimhaut. Er kann durch eine Anästhesie am Foramen palatinum majus ausgeschaltet werden, einer kleinen Öffnung, durch die der Nerv hindurchtritt. Dafür genügen 0,2–0,3 ml Anästhetikum. Bei oralchirurgischen Eingriffen wird zusätzlich zur vestibulären Infiltrationsanästhesie die Mundschleimhaut des Gaumens durch einen zweiten Einstich anästhesiert. Für den Seitenzahnbereich (Zähne 4 bis 8) erfolgt dieser gaumenseitige Einstich in Höhe des oberen ersten Molaren, etwa 1 cm vom Zahnhals entfernt. In seltenen Fällen ist eine zusätzliche Anästhesie des Nervus nasopalatinus notwendig, der das vordere Drittel der Gaumenschleimhaut versorgt. Hierzu erfolgt eine Injektion von etwa 0,2 ml Anästhetikum am Rande der Papilla incisiva. Für die Frontzähne (Zähne 13 bis 23) erfolgt der gaumenseitige Einstich dicht neben der Papille, jedoch nicht direkt in sie, da diese sehr schmerzempfindlich ist. Alternativ zur Leitungsanästhesie des Nervus incisivus kann die Lokalanästhesie durch einen Einstich direkt im Gaumenbereich des zu behandelnden Zahnes als Infiltrationsanästhesie erfolgen. Die Abbildung zeigt eine fehlerhafte und schmerzhafte Leitungsanästhesie direkt in die Papilla incisiva. Die Anästhesie wurde mit zu hohem Druck verabreicht, was an der blassen Farbe der Papille erkennbar ist. Zudem wurde eine zu hohe Menge an Anästhetikum gespritzt, was die Papille überproportional anschwellen ließ. Diese Injektionstechnik bei einer palatinalen Lokalanästhesie kann zu einer Nekrose der Gaumenschleimhaut führen. Ferner wurde eine zu dicke Kanüle verwendet, wodurch die Schmerzhaftigkeit erhöht wird. Durch das Abknicken der Injektionskanüle am Kanülenansatz entsteht eine unnötige Bruchgefahr der Kanüle. Anästhesie im Unterkiefer Leitungsanästhesie am Foramen mandibulae Bei zahnärztlichen Eingriffen im Unterkiefer wird normalerweise eine Leitungsanästhesie des Nervus alveolaris inferior am Foramen mandibulae, das innenseitig am aufsteigenden Ast des Unterkieferknochens liegt, gesetzt. Die Schwierigkeit bei der Leitungsanästhesie des N. alveolaris inferior besteht darin, dass der Injektionspunkt, das Foramen mandibulae, selbst klinisch weder tastbar noch auf andere Weise exakt lokalisierbar ist. Die Führung der Kanüle orientiert sich deshalb an tastbaren anatomischen Strukturen. Die Einstichstelle liegt seitlich der Plica pterygomandibularis (Flügel-Unterkiefer-Falte), etwa in der Mitte zwischen den Zahnreihen von Ober- und Unterkiefer. Die Kanüle wird etwa 1 bis 2 cm tief bis auf Knochenkontakt eingeführt. Der Knochenkontakt selbst ist bei entsprechender Injektionstechnik schmerzlos. Die Kanülenspitze befindet sich an der Innenseite des Unterkieferastes, oberhalb des Foramen mandibulare im Spatium pterygomandibulare. Ist die Kanüle exakt positioniert, wird sie nach Knochenkontakt etwas zurückgezogen, um eine Injektion unter die Knochenhaut zu vermeiden, und dann die Injektion vorgenommen. Weitere Leitungsanästhesien Durch das Setzen eines weiteren kleinen Depots von etwa 0,3 ml des Anästhetikums wird in etwa 10 mm Abstand vom Knochen am aufsteigenden Ast des Unterkiefers der Nervus lingualis anästhesiert. Zur Anästhesie des Nervus buccalis werden entweder in der Umschlagfalte des Mundvorhofes vestibulär im Bereich des zu behandelnden Zahnes oder am medialen Rand des aufsteigenden Unterkieferastes 0,3 ml des Anästhetikums injiziert. Zur Ausschaltung der Anastomosen wird bei Bedarf der Nervus mentalis am Foramen mentale anästhesiert. Infiltrationsanästhesien Infiltrationsanästhesien werden im Unterkiefer speziell im Frontzahnbereich angewandt. Im Seitenzahnbereich genügt eine Infiltrationsanästhesie meist wegen der Knochendicke nicht, da das Anästhetikum nicht den Nervus alveolaris inferior erreichen kann. Sie wird jedoch bei Eingriffen, die nur die Gingiva betreffen, angewandt. Intraligamentäre Anästhesie Eine weitere Möglichkeit der Anästhesie ist die Intraligamentäre Anästhesie (ILA, engl.: PDL-Injection (Periodontal ligament injection), Intraligamentary anesthesia), die sowohl für Unterkiefer- als auch Oberkieferzähne geeignet ist, jedoch mit gewissen Einschränkungen für den Unterkiefer-Seitenzahnbereich. „Intraligamentär“ bedeutet, dass eine Minikanüle in den Periodontalspalt, in die Bänder des Zahnhalteapparates, die Sharpey-Fasern, eingeführt wird. Dort wird das Anästhetikum mit einer besonders dünnen (⌀ 0,3 mm, Gaugegröße G 30), kurzen (12 mm) und spitzen Kanüle injiziert. Die Injektion erfolgt mit geringem Druck mittels einer Spezialspritze (zum Beispiel Citoject), die wie ein Füllfederhalter aussieht, in den Periodontalspalt jeder Zahnwurzel. Das Lokalanästhetikum muss tropfenweise abgegeben werden können. Die Lokalanästhesikum-Abgabe muss mit einem Volumen von 0,1 ml über eine Zeitspanne von mindestens zehn Sekunden kontinuierlich tropfenweise erfolgen. Diese sehr langsame Applikation des Anästhetikums stellt sicher, dass das zahnumgebende Gewebe die Möglichkeit hat, das angediente Anästhetikum zu resorbieren, so dass es nicht zu einer Depotbildung im Desmodont kommt. Neuere Entwicklungen stellen die Dosierradspritzen nach DIN-Norm 13989:2013 (beispielsweise Soft-Ject, HSW HENKE-JECT, HSA 855-00 Hammacher) dar, sowie das elektronisch gesteuerte STA-System (, The Wand). Die Anästhesielösung durchdringt den Zahnhalteapparat einschließlich der knöchernen Alveole bis zur Wurzelspitze des Zahnes und betäubt dort in wenigen Sekunden die in das Zahnmark eintretenden Nervenfasern. Bei einer intraligamentären Anästhesie wird wenig Anästhetikum je Zahn verabreicht, was besonders bei Herz-Kreislauf-Risikopatienten von Vorteil sein kann. Bei entsprechender Technik ist der Injektionsschmerz geringer als bei anderen Lokalanästhesieverfahren. Die Wirkungsdauer beträgt etwa 20 bis 30 Minuten. Erforderlichenfalls kann nachinjiziert werden. Die Technik der intraligamentären Anästhesie kann auch bei Trypanophobie (Spritzenangst) des Patienten hilfreich sein. Ferner ermöglicht die intraligamentäre Anästhesie eine gezielte Differentialdiagnostik bei pulpitischen Beschwerden, wenn der schuldige Zahn anderweitig nicht ermittelt werden kann. Kontraindiziert ist die ILA bei Patienten mit Endokarditisrisiko, da es zur Keimverschleppung aus dem Periodontalspalt kommen kann. Gemäß, BGB § 670 e Patientenrechtegesetz gehört es auch zu den Aufklärungspflichten eines Zahnarztes, dem Patienten gleichwertige Alternativen zu den herkömmlichen Lokalanästhesieverfahren anzubieten und sie darüber aufzuklären. Bei Patienten mit hämorrhagischer Diathese und unter Antikoagulanzientherapie sind beispielsweise Leitungsanästhesien kontraindiziert, da diese infolge des Risikos massiver Hämatombildung lebensbedrohliche Folgen haben können. Leitungsanästhesien im Mundbereich Folgende Leitungsanästhesien können (auch kombiniert) je nach Eingriff notwendig sein, um eine ausreichende Anästhesie zu erreichen. CCLADS Im Jahre 1997 wurde ein computergestütztes Lokalanästhesieverfahren (Computer-controlled local anesthetic delivery system, CCLADS) entwickelt (bekannt geworden unter dem Handelsnamen The Wand). Dadurch können mehrere Injektionstechniken angewandt werden: Anterior middle superior alveolar nerv block (AMSA), zur örtlichen Betäubung der Oberkieferzähne 15 bis 25. Palatinal anterior superior alveolar nerve block (PASA), zur örtlichen Betäubung der Oberkieferzähne 13 bis 23. Crestal intraosseous approach (CIA), zur örtlichen Betäubung mittels Injektion in den Knochen. Weiterentwicklungen führten zur Einzelzahnanästhesie (SingleTooth-Anesthesia-System, STA) und zur intraligamentären Anästhesie. Das Funktionsprinzip besteht darin, dass das Anästhetikum vom Gerät durch einen dünnen Schlauch bis zur Nadelspitze fließt, die an einer bleistiftartigen Halterung befestigt ist. Das Anästhetikum fließt dabei der Nadelspitze voraus. Die Nadelspitze dringt dadurch in bereits betäubtes Gewebe vor und verursacht keine Schmerzen während der Einführung der Injektionsnadel. Bei diesen Anästhesietechniken wird der Slow-Flow-Mode angewandt, bei der das Gerät 0,005 ml Anästhetikum pro Sekunde abgibt. Klinisch entspricht dies ungefähr einem Tropfen pro 2 Sekunden, was der maximalen Absorptionsrate im spongiösen Knochen entspricht. Diese Techniken machen sich die Porosität des Knochens im Ober- und im Unterkiefer zunutze. Das Anästhetikum wird tropfenweise abgegeben, diffundiert durch den Knochen und erreicht so direkt den Nerv am Apex des Zahnes. Von Vorteil ist, dass keine kollaterale Taubheit der Wangen, der Zunge und der Lippen nach einer Injektion entsteht. Der Fast-Flow-Mode wird bei der herkömmlichen Infiltrationsanästhesie und bei der Leitungsanästhesie angewandt. Der Inhalt einer Ampulle (1,7–2 ml) kann dabei in 45 Sekunden appliziert werden. Bei allen Methoden steuert die Elektronik sowohl Druck als auch Flussrate des eingebrachten Anästhetikums, wodurch die Abgabe in das Gewebe kaum wahrgenommen wird. TENS Die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) ist die Anwendung von Reizstrom, die in der Zahnmedizin neben der Behandlung von Schmerzen auch zur Analgesie bei kleineren Eingriffen wie beispielsweise der Kariestherapie eingesetzt wird. Als Mechanismen sollen schmerzhemmende Botenstoffe (Neurotransmitter) und Endorphine sowie Enkephaline vermehrt ausgeschüttet werden. Durchblutungsfördernde gefäßerweiternde Substanzen wie beispielsweise vasoaktives intestinales Peptid (VIP-Hormon) werden vermehrt gebildet, wodurch die Übertragung von Schmerzimpulsen blockiert wird. Die Impulsweiterleitung peripherer (außerhalb des Rückenmarks und des Gehirns liegender) Nerven wird durch elektrische Hemmvorgänge blockiert. Das batteriebetriebene TENS-Therapiegerät besteht aus einem Generator und zwei Elektroden. Die Elektroden werden intraoral (im Mund) oder extraoral (außerhalb des Mundes) angebracht. Die Impulsstärke, -frequenz und Stromstärke werden vom Zahnarzt vorab eingestellt, können aber durch den Patienten über einen Handregler je nach Schmerzintensität verändert werden. Nasenspray K305 Die Kombination des Lokalanästhetikums Tetracain-HCl (30 mg/ml) mit dem Vasokonstringenz Oxymetazolin-HCl (0,5 mg/ml) als Nasenspray bewirkt bei leichteren Eingriffen eine Lokalanästhesie im Oberkiefer. In den USA ist ein solches Präparat unter dem Namen Kovanaze für Patienten ab einem Körpergewicht von 40 kg durch die FDA zugelassen. Bevorzugt kann diese Form der Lokalanästhesie sowohl bei Trypanophobikern als auch bei Kindern Anwendung finden. Als Nebenwirkungen des Sprays können vorübergehend eine laufende oder verstopfte Nase, Halsschmerzen, Kopfschmerzen und tränenden Augen resultieren. Zusatz eines Vasokonstriktors Der Zusatz eines Vasokonstriktors (zur Gefäßverengung) bewirkt eine antagonistische Wirkung zur Vasodilatation (Gefäßerweiterung) des Lokalanästhetikums. Die Blutgefäße im Wirkbereich verengen und die Durchblutung wird gesenkt. Dadurch wird der Abtransport des Lokalanästhetikums selbst verlangsamt und seine Wirkungsdauer verlängert. Außerdem führt dies zu einer Blutleere im Operationsgebiet und dient somit bei chirurgischen Eingriffen der besseren Übersicht für den Operateur. Die Kombination von Procain und Adrenalin wurde im Jahre 1905 von Heinrich Braun als Meilenstein des medizinischen Fortschritts gelobt. Patientenklassifikation Die Einteilung der Patienten in Risikoklassen erfolgt nach der ASA-Klassifikation. Das im Mai 1941 von Meyer Saklad et al. unter dem Titel Grading of patients for surgical procedures von der American Society of Anesthesiologists (ASA) vorgeschlagene Schema unterscheidet die Patienten vor der Narkose anhand von systemischen Erkrankungen. Für die ambulante zahnärztliche Behandlung sind von den sechs Gruppen nur die ersten drei Gruppen relevant. Die Gruppen vier bis sechs beschreiben Fälle, die einer stationären Behandlung bedürfen. ASA 1: Normaler, gesunder Patient ASA 2: Patient mit leichter Allgemeinerkrankung ASA 3: Patient mit schwerer Allgemeinerkrankung Neben den in der ASA-Klassifikation mit ASA 3 und höher Eingruppierten gelten Schwangere, Kinder und Patienten über 65 Jahre bei der zahnärztlichen Lokalanästhesie als Risikopatienten. Insbesondere die Auswahl der Konzentration des Vasokonstriktors soll je nach ASA-Grad und der voraussichtlichen Dauer des Eingriffs erfolgen. Die Klassifikation ist jedoch wegen unklaren Definitionen, auch nach diversen Modifikationen, umstritten. Adrenalin Bei einem Katecholaminzusatz > 1:100.000 wird die Grenzdosis eher durch den Vasokonstriktor bestimmt als durch die lokalanästhetische Substanz. Die Höchstdosis an Adrenalin (Epinephrin) limitiert in diesem Fall die zu verabreichende Menge an Lokalanästhetikum je Behandlungssitzung bei einem 70 kg schweren Menschen auf 20 ml. Bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen beträgt die Maximaldosis 40 Mikrogramm, was 8 ml der Lösung 1:200.000 (4 Karpulen) entspricht. Hinsichtlich der Höchstdosis ist der Adrenalinzusatz in Retraktionsfäden zu berücksichtigen, die zur Blutstillung nach der Präparation von Zähnen für Zahnersatz Anwendung finden. Bei Kindern bis 2 Jahren beträgt die Tageshöchstdosis eines adrenalinhaltigen Anästhetikums (1:200.000) 2 ml, bis 4 Jahren 4 ml, bis 12 Jahren 6 ml. Noradrenalin Noradrenalin (Norepinephrin) hat eine erheblich höhere Rate an unerwünschten Nebenwirkungen, beispielsweise das Auftreten von Kopfschmerzen, einer starken Blutdruckerhöhung und Bradykardie. Die Nebenwirkungsquote von Noradrenalin zu Adrenalin liegt bei 9:1. Adrenalin hat deshalb größtenteils das Noradrenalin als Vasokonstriktor verdrängt. Sonstige Felypressin (Octapressin) ist ein synthetischer Vasokonstriktor, chemisch mit Vasopressin verwandt, mit identischer Funktionsweise wie Epinephrin oder Norepinephrin, jedoch bei geringerer Wirkung und hat deshalb an Bedeutung verloren. Als wehenauslösendes Mittel ist es in der Schwangerschaft kontraindiziert. Es wird dem Prilocain mit 0,03 I.E. zugesetzt (Xylonest). Wirkungsdauer Eine Leitungsanästhesie hält unterschiedlich lange an, je nach verwendetem Lokalanästhetikum, dessen Konzentration und der zugesetzten Menge des Vasokonstriktors (Adrenalin oder Noradrenalin). Überwiegend werden die Lokalanästhestika Articain und Lidocain verwendet. Beispiel Articain: 2 % ohne Vasokonstriktor: eingriffsreife Wirkungsdauer ca. 20 Minuten 4 % mit Vasokonstriktor Adrenalin 1:200.000: eingriffsreife Wirkungsdauer ca. 45 Minuten 4 % mit Vasokonstriktor Adrenalin 1:100.000: eingriffsreife Wirkungsdauer ca. 75 Minuten Demgegenüber kann ein subjektives Taubheitsgefühl zwei bis drei Stunden andauern. Es wird bei chirurgischen Eingriffen eine über den Eingriff hinausgehende Wirkungsdauer angestrebt, um unmittelbare postoperative Schmerzen zu vermeiden. Bei länger dauerndem Eingriff kann die Lokalanästhesie wiederholt werden. Erwachsene können im Laufe einer Behandlung bis zu 7 mg Articain pro kg Körpergewicht erhalten. Unter Aspirationskontrolle wurden bei gesunden Erwachsenen Mengen bis zu 500 mg (entspricht 12,5 ml Injektionslösung, beziehungsweise 7–8 Karpulen der 4-prozentigen Lösung) gut vertragen. Die Anflutzeit des Articains kann individuell bis zu 13 Minuten dauern, bevor eine ausreichende Anästhesietiefe erreicht wird. Bupivacain (z. B. Carbostesin) ist eines der am stärksten wirksamen Präparate, es wird in der Zahnheilkunde im Rahmen besonders langdauernder Behandlungen, für therapeutische Nervenblockaden sowie in der Schmerztherapie eingesetzt. Es ist in 0,25 und 0,5%iger Lösung im Handel. Der Wirkungseintritt findet verzögert statt. Die Wirkungsdauer hingegen beträgt im Oberkiefer durchschnittlich bis zu fünf, im Unterkiefer bis zu acht Stunden. Der Zusatz an Vasokonstriktor verlängert die Wirkungsdauer nicht. Phentolaminmesilat ist in der Lage, die Wirkungsdauer um die Hälfte und damit das Taubheitsgefühl des Lokalanästhetikums bei zahnärztlichen Anwendungen zu verkürzen. Es ist seit Anfang 2011 in Deutschland zugelassen und seit 2013 in Deutschland unter dem Handelsnamen OraVerse, in der Schweiz als Regitin erhältlich. Eine Patrone enthält 400 μg Phentolaminmesilat. Es wird in gleicher Weise appliziert wie das Anästhetikum selbst. Die Injektion ist schmerzfrei, weil die verabreichte Lokalanästhesie noch wirkt. Häufigkeit der Anwendung In Deutschland wird die zahnärztliche Lokalanästhesie etwa 57 Millionen Mal pro Jahr ambulant durchgeführt, davon etwa 51,6 Millionen Mal bei Kassenpatienten. Demgegenüber werden in allen anderen medizinischen Fachgebieten etwa 7,5 Millionen Lokalanästhesien ambulant durchgeführt. Seltene Anwendungen Nur noch in seltenen Ausnahmefällen werden eine Tuberanästhesie (am Oberkieferhöcker, Tuber maxillae), eine Schädelbasisanästhesie, eine perkutane Leitungsanästhesie im Gesicht, eine extraorale Leitungsanästhesie, eine intraossäre Anästhesie, eine intraseptale Anästhesie oder die Ausschaltung des Nervus infraorbitalis durchgeführt. Die Kälteanästhesie wird wegen der schleimhautschädigenden Wirkung kaum angewandt. Die zentrale Anästhesie des Nervus trigeminus durch eine Blockade am Ganglion Gasseri (Ganglion semilunare) erfolgt nur noch bei schwer beherrschbaren Schmerzzuständen bei einer Trigeminusneuralgie. Sie erfolgt in der Regel durch den Neurochirurgen unter röntgenologischer Kontrolle. Gow-Gates-Technik Die Gow-Gates-Technik (benannt nach dem Erstbeschreiber, dem Australier George Gow-Gates) wurde 1973 entwickelt, um die Misserfolgsquote der Leitungsanästhesien auf nur 5 % zu vermindern. Mittels einer einzigen Injektion werden mehrere Leitungsanästhesien, nämlich des Nervus alveolaris inferior, des Nervus lingualis, des Nervus mylohyoideus, des Nervus auriculotemporalis und – mit 75-prozentiger Wirkung – auch des Nervus buccalis, durchgeführt. Hierzu wird ein Depot des Lokalanästhetikums am Kondylenhals des Unterkiefers gesetzt. Bei weit geöffnetem Mund wird an der Incisura intertragica der Kondylenkopf ertastet und dient als „Zielmarke“. Die Injektionsnadel (Gaugegröße 27) wird zu zwei Dritteln in die Umschlagfalte hinter dem Tuber maxillae in den paratubären Raum eingeführt und der Knochenkontakt am Kondylenhals gesucht. Der Nervenstrang selbst liegt distal des Kondylus. Nach Aspirationstest und erfolgter Injektion soll der Patient den Mund eine weitere Minute weit geöffnet halten. Wegen der geringen vaskulären Versorgung dieses Bereichs und des dadurch verlangsamten Abtransports des Lokalanästhetikums wird ein Lokalanästhetikum (Mepivacain – Scandicain, Meaverin) ohne Vasokonstriktor verwendet. Die Injektion ist für den Patienten kaum wahrnehmbar. Der Patient sollte zuvor aufgeklärt werden, dass bei der Gow-Gates-Lokalanästhesie eine Gesichtshälfte mehr oder minder vollständig anästhesiert sein wird. Methode nach Laguardia und der Vazirfani-Akinosi-Block Die Leitungsanästhesie nach Laguardia und der Vazirfani-Akinosi-Block wurden entwickelt, um notwendige Leistungsanästhesien des Nervus mandibularis bei behinderter Mundöffnung zu ermöglichen und dabei eine extraorale Leitungsanästhesie vermeiden zu können. Dabei wird die Injektionskanüle bei geschlossener Zahnreihe des Patienten an den oberen Backenzähnen entlang bis in das Spatium pterygomandibulare vorgeschoben und das Lokalanästhetikum injiziert. Intrapulpale Anästhesie Die unmittelbar in die eröffnete Pulpa durchgeführte Injektion von etwa 0,2–0,3 ml Anästhesielösung wird ergänzend zur üblichen Lokalanästhesie durchgeführt, wenn bei endodontischen Behandlungen (Wurzelkanalbehandlungen) keine ausreichende Schmerzausschaltung erreicht werden kann. Extraorale Leitungsanästhesie Bei einer stark eingeschränkten Mundöffnung und Nichtdurchführbarkeit der erwähnten Anästhesietechniken wird in seltenen Fällen auf die extraorale Leitungsanästhesie zurückgegriffen. Nervus alveolaris inferior Zur extraoralen Leitungsanästhesie des Nervus alveolaris inferior wird die Einstichstelle zwei Zentimeter vor dem Kieferwinkel, medial des Ramus mandibulae, aufgesucht. Die Injektionskanüle wird senkrecht entlang des Unterkieferknochens bis zur Lingula mandibulae (Knochenzunge an der Innenseite des Unterkieferastes, die das Foramen mandibulae überdeckt) vorgeschoben. Nervus mentalis In ebenfalls sehr seltenen Fällen kann eine extraorale Leitungsanästhesie des Nervus mentalis durchgeführt werden. Hierzu wird die Einstichstelle drei Zentimeter unterhalb des Mundwinkels aufgesucht. Die Injektionskanüle wird senkrecht bis zum Knochenkontakt eingeführt. Nervus infraorbitalis Bei der extraoralen Technik zur Leitungsanästhesie des Nervus infraorbitalis markiert man durch Palpation mit dem Zeigefinger der linken Hand von außen die Gegend des Foramen infraorbitale und sticht die Kanüle unterhalb des markierenden Fingers durch die Haut in Richtung auf das Foramen infraorbitale ein. Eine Injektion in den Canalis infraorbitalis ist zu vermeiden, da sonst eine Nervschädigung mit langandauernden Beschwerden nicht ausgeschlossen werden kann. Anästhesieversager Als Anästhesieversager bezeichnet man Lokalanästhesien, deren Wirkung nicht oder nur partiell eintritt. Lokalanästhesie im entzündeten Bereich Entzündungen oder Infektionen an dem zu betäubenden Zahn können wegen des dadurch verursachten Abfalls des pH-Wertes zu einer Abschwächung der anästhetischen Wirkung (und zu einer Keimverschleppung in das umliegende Gewebe) führen. Eine Diffusion des Anästhetikums in die Nervenfasern kann nur durch die undissoziierte (nicht in Ionen gespaltene) Base erfolgen. Der normalerweise leicht basische pH-Wert des Gewebes fällt durch eine Entzündung ab (pH ≤ 6,0), wodurch auf Grund des damit verbundenen geringeren Basenanteils die Diffusionsfähigkeit verringert und damit die Wirkung des Lokalanästhetikums (bis zur Wirkungslosigkeit) abgeschwächt werden kann. Anatomische Ursachen Durch die hohe Gefäßdichte im Kopf- und Halsbereich kann es – auch bei negativem Aspirationstest – zu partieller oder völliger intravasaler Injektion des Anästhetikums kommen, so dass es seine Wirkung im Injektionsbereich nicht entfalten kann. Dies betrifft etwa 20 % aller Lokalanästhesien im Mundbereich. Die hohe Gefäßdichte kann zu einem schnellen Abtransport des Anästhetikums führen, wodurch die Wirkung beziehungsweise die Wirkungsdauer reduziert werden kann. Der Injektionspunkt bei der Leitungsanästhesie des Nervus mandibularis, speziell des Nervus alveolaris inferior, das Foramen mandibulae, ist klinisch weder tastbar noch auf andere Weise exakt lokalisierbar und unterliegt gleichzeitig einer anatomischen Vielfalt. Das Foramen mandibulae liegt beispielsweise bei Kindern weiter hinten, bei Totalprothesenträgern weiter vorn, was zum zahnärztlichen Allgemeinwissen gehört. Trotzdem kann es zum Anästhesieversager kommen, wenn das Foramen mandibulae von der üblichen Position abweicht. Es kann eine akzessorische Innervation beispielsweise durch die Nervi mylohyoideii vorliegen. Fehlerhafte Injektionstechnik Zu einem Anästhesieversager bei der Leitungsanästhesie des Nervus mandibularis kann es auch durch eine fehlerhafte Injektionstechnik in den Musculus pterygoideus medialis, in den Plexus venosus pterygoideus oder in die Parotisloge kommen. Diagnostische Lokalanästhesie Die Lokalanästhesie wird zur Eingrenzung von Zahnschmerzen verwendet, wenn der die Schmerzen verursachende Zahn nicht durch andere Verfahren herausgefunden werden kann. Hierzu werden einzelne Zähne gezielt anästhesiert und im Ausschlussverfahren der Verursacher gesucht. Therapeutische Lokalanästhesie Zur Behandlung der atypischen Odontalgie (atypische Zahnschmerzen, siehe auch atypischer Gesichtsschmerz) wird die therapeutische Lokalanästhesie angewandt. Dabei werden einmalig oder an zwei aufeinander folgenden Tagen 1,7 ml des Lokalanästhetikums Articain ohne Vasokonstriktor in den Ort des Schmerzes injiziert. Sie kommt auch im Rahmen der Neuraltherapie in Form der Heilanästhesie zur Anwendung. Bei einem Teil der Patienten wird dadurch eine Schmerzlinderung erzielt, die weit über die Wirkdauer der Anästhesie andauert und im Idealfall zum völligen Verschwinden der Beschwerden führt; die Wirkung von Heilanästhesie über den Placeboeffekt hinaus, lässt sich allerdings nicht belegen, weshalb sie auch zu den Pseudowissenschaften gezählt wird. Präventive Lokalanästhesie Bei einer Chemotherapie in der Onkologie werden zur Vorbeugung einer ausgeprägten Mukositis mehrere Lokalanästhesien mit Vasokonstriktor im Mund-/Kieferbereich verabreicht, wodurch eine Anflutung des Chemotherapeutikums in die Schleimhaut vermindert wird. Zusätzlich kann eine dreißigminütige Kältetherapie mittels Lutschen von Eiswürfeln vor der Bestrahlung die lokale Vasokonstriktion bei der Strahlentherapie verstärken. Die dadurch erreichte Sauerstoffunterversorgung des Gewebes vermindert die zelluläre Strahlenempfindlichkeit. Kontraindikationen Für die Anwendung des Vasokonstriktors Adrenalin gelten als absolute Kontraindikationen das Engwinkelglaukom, die hochfrequente absolute Arrhythmie und die Einnahme von trizyklischen Antidepressiva. Letztere erhöhen die Adrenalinwirkung um das Dreifache. Bei Kokain-Abusus darf dem Lokalanästhetikum kein (Nor-)Adrenalin zugesetzt sein, da Kokain den Abbau dieser Substanzen hemmt und es zu lebensbedrohlichen Hochdruckkrisen kommen kann. Unerwünschte Wirkungen Intravasale Injektion Gelangt eine zu große Menge der verwendeten Substanz in das Kreislaufsystem, beispielsweise bei unbemerkter intravenöser Injektion, kann es zu unerwünschten Wirkungen kommen. Diese zeigen sich in Unruhe, Schwindelgefühl, Herzklopfen, oralem Kribbeln, metallischem Geschmack im Mund bzw. Taubheit bis hin zu generalisierten Krampfanfällen. Allergische Reaktionen Bei Lokalanästhetika vom Amid-Typ wurden vor allem allergische Reaktionen gegen bestimmte Stabilisatoren, die den Präparaten beigemischt waren, beobachtet, wie beispielsweise Methylparaben oder Natriumthiosulfat, welche als Konservierungsmittel dienen. Neuere Lokalanästhetika vom Amid-Typ werden parabenfrei hergestellt. Allergien treten vor allem bei Lokalanästhetika vom Ester-Typ (Procain – Novocain) auf, da beim Abbau dieser Substanzen Paraaminobenzoesäure entsteht, die für die allergische Reaktion verantwortlich gemacht wird. Lokalanästhetika vom Ester-Typ werden nur noch selten verwendet, Alveolitis sicca Die regelrechte Wundheilung nach einer Zahnextraktion erfolgt als Primärheilung. Dabei blutet die Alveole (Zahnfach) voll, es bildet sich ein Koagulum (Blutpfropf) in der Alveole, das nach einigen Tagen von einsprießenden Kapillaren durchblutet wird und sich über ein Granulationsgewebe in ein Narbengewebe umwandelt, woraus sich später wieder Knochen bildet. Bei einer sehr schwachen Blutung aus der Extraktionswunde – hierfür kann der Vasokonstriktorzusatz im Lokalanästhetikum verantwortlich sein – bildet sich eventuell erst gar kein Koagulum und der Knochen liegt frei, wodurch er den Mundkeimen ausgesetzt ist und eine Kontamination mit Bakterien resultiert. Die Folge ist eine schmerzhafte Wundheilungsstörung, die Alveolitis sicca (Synonyme: Trockene Alveole, Alveolitis sicca dolorosa, Dolor post extractionem oder dry socket), eine spezielle Form der Osteitis (Knochenentzündung). Lokalanästhesie bei ADHS Bei Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS) kann es zu Abweichungen bei der Wirkung von Lokalanästhetika kommen. Die Wechselwirkungen von Methylphenidathydrochlorid (Ritalin), dem primär benutzten Medikament bei diesen Patienten, der ein selektiver Noradrenalin-/Dopamin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNDRI) ist, schränken die Medikamentenauswahl ein. Die medikamentöse Therapie kann auch mit Atomoxetin (Strattera), einem selektiven Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer oder individuell rezeptierten Amphetaminen, die die Noradrenalin/Dopamin-Freisetzung beeinflussen, erfolgen. Die Wechselwirkungen sind Gegenstand der Forschung. Alle Präparate sind Sympathomimetika, was eine Erhöhung von Blutdruck und Herzfrequenz und eine Bronchodilatation bedeutet. Der Einsatz von Vasokonstriktoren in der Lokalanästhesie sollte daher vorsichtig erfolgen, das heißt in geringer Dosis (max. 1 mg/kg Körpergewicht, max. 40 mg). Wie bereits ausgeführt, beträgt bei Kindern bis 2 Jahren die Tageshöchstdosis eines adrenalinhaltigen Anästhetikums (1:200.000) 2 ml, bis 4 Jahren 4 ml, bis 12 Jahren 6 ml der Anästhesielösung. Der Einsatz einer intraligamentären Anästhesie sei – wenn möglich – zu bevorzugen. Aus einer Ambulanz für Erwachsene mit ADHS wurde berichtet, dass etwa 10–20 % der Betroffenen auffällig verlängerte (circa 24 Stunden) oder (häufiger) deutlich verkürzte und abgeschwächte Wirkungen einer Lokalanästhesie bei einer zahnärztlichen Behandlung angaben. Komplikationen Neben den systemischen unerwünschten Wirkungen (beispielsweise durch eine intravasale Injektion) kann es zu verschiedenen Komplikationen auf Grund der Verabreichungstechnik der Lokalanästhesie kommen. In den meisten Fällen sind diese reversibel und bleiben damit ohne Folgen. Es können Nervenschädigungen auftreten, insbesondere des Nervus lingualis und des Nervus alveolaris inferior. Diese sind meist irreversibel und aufklärungspflichtig. Daneben können Gefäßschädigungen und Gewebeschäden der Schleimhaut auftreten. Hämatome (Blutergüsse) können durch Eröffnung von Blutgefäßen auftreten. In sehr seltenen Fällen kommt es zur Infektion (Spritzenabszess) oder zu einer Kieferklemme. Extrem selten tritt ein Bruch der Injektionskanüle auf, der im schlimmsten Fall zu ihrer Aspiration oder zum Verschlucken führen kann. Bei (auch vermuteter) Aspiration oder Verschlucken des Kanülenbruchstücks ist umgehend ein notärztlicher Transport zur stationären Behandlung beziehungsweise Überwachung notwendig. Nadelstichverletzungen Zahnärzte erleiden bei ihrer beruflichen Tätigkeit durchschnittlich drei perkutane Verletzungen pro Jahr, am häufigsten als Nadelstichverletzung bei der Durchführung von Lokalanästhesien. Bei Nadelstichverletzungen können verschiedenste infektiöse Erreger übertragen werden, vor allem das humane Immundefizienz-Virus (HIV) sowie das Hepatitisvirus B (HBV) und Hepatitisvirus C (HCV). Insgesamt wurde in Deutschland im Jahre 2002 die Zahl der Nadelstichverletzungen im Gesundheitswesen auf etwa 500.000 geschätzt. Pro Jahr erkranken bei ihrer beruflichen Tätigkeit durch perkutane Verletzungen deutschlandweit rund 500 Personen an Hepatitis B. 2007 verzeichnete die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung 3959 meldepflichtige Arbeitsunfälle, die durch „stechende und schneidende ärztliche Werkzeuge“ verursacht worden waren. Seither geht die Kurve stark nach unten. Im aktuellen Berichtsjahr 2014 wurden 1162 vergleichbare Fälle gemeldet. Statistik Statistik der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege zu Fällen mit Arbeitsunfähigkeit (AUF) im Bereich der Zahnmedizin nach Nadelstichverletzungen, bei denen eine HIV- oder Hepatitis-Postexpositionsprophylaxe bei Versicherten durchgeführt wurde: * AUF = Fälle mit Arbeitsunfähigkeit Impfungen Hepatitis-A-Impfstoffe und Hepatitis-B-Impfstoffe werden zur Vorbeugung einer Infizierung empfohlen. Gegen Hepatitis C existiert bislang kein Impfstoff. Die Immunität dauert beim Hepatitis-B-Impfstoff etwa 25 Jahre. Bei beruflich exponierten Personen wird in Großbritannien eine erneute Impfung alle fünf Jahre empfohlen. Hepatitis-A-Impfstoffe befinden sich auf der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation und sind auch Bestandteil von Mehrfachimpfstoffen in Kombination mit Hepatitis-B-Impfstoffen. Biostoffverordnung Ende Juli 2013 ist eine Neufassung der Biostoffverordnung (BioStoffV) in Kraft getreten. Vor allem sollen Beschäftigte im Gesundheitsdienst besser vor Infektionsrisiken durch Stich- und Schnittverletzungen geschützt werden. Gemäß müssen gebrauchte spitze und scharfe Arbeitsmittel, zu denen Injektionsnadeln oder Skalpelle zählen, sicher entsorgt werden. Anlass für die Neufassung war die nötige Umsetzung der EU-Nadelstichrichtlinie von 2010 in nationales Recht. Im Einzelnen sieht die Verordnung vor: Festlegung und Anwendung sicherer Verfahren für den Umgang mit scharfen/spitzen medizinischen Instrumenten und kontaminierten Abfällen und für deren Entsorgung Einführung sachgerechter Entsorgungsverfahren sowie deutlich gekennzeichneter und technisch sicherer Behälter für die Entsorgung scharfer/spitzer medizinischer Instrumente und Injektionsgeräte Vermeidung bzw. Einschränkung des unnötigen Gebrauchs scharfer/spitzer Instrumente Bereitstellung und Verwendung medizinischer Instrumente mit integrierten Sicherheits- und Schutzmechanismen Verbot des Wiederaufsetzens der Schutzkappe auf die gebrauchte Injektionsnadel (Recapping) Recapping Die „Technischen Regeln für Biologische Arbeitsstoffe“ (TRBA 250), die vom Ausschuss für biologische Arbeitsstoffe (ABAS) im Gemeinsamen Ministerialblatt veröffentlicht werden, beschreiben unter Punkt 4.2.5 Ziffer 5 explizit für die Zahnmedizin im Bereich der Lokalanästhesie das einhändige Recapping als sicheres Arbeitsgerät im Sinne der TRBA 250. Das einhändige Recapping ist damit in Deutschland in Zahnarztpraxen zugelassen. Das bedeutet, dass die Injektionsnadel nach der Injektion mit einer Hand in die Schutzhülle wiedereingeführt werden darf, sofern die andere Hand sich nicht in der Nähe der Schutzhülle befindet. Beispielsweise kann dazu ein Schutzkappenhalter verwendet werden, der einen sicheren Abstand beim Recapping gewährleistet. Injektionskanülen sind auf der Zylinderampullenspritze verschraubt, so dass diese nicht einfach entsorgt werden können, sondern vom Spritzenbesteck abgeschraubt werden müssen. Injektionskanülen dürfen auch nicht verbogen oder abgeknickt werden, es sei denn, diese Manipulation dient der Aktivierung einer integrierten Schutzvorrichtung. In Österreich ist das Recapping seit Mai 2013 gemäß Nadelstichverordnung (NastV) § 4 Abs. 2, Nr. 2 verboten. Zur Vermeidung von Nadelstichverletzungen wurde speziell für die Zylinderampullenhalter ein System (VarioSafe) entwickelt, bei dem nach der Injektion einhändig eine Kunststoffhülle über die Kanüle geschoben und in zwei Positionen arretiert werden kann. Die erste und reversible Arretierung dient der Ablage zwischen den einzelnen Injektionen und die zweite der sicheren Entsorgung. Aufklärung des Patienten Bereits die Lokalanästhesie erfordert gemäß BGB die Erfüllung der medizinischen Aufklärungspflicht. Ferner wird vorgeschrieben, dass die Aufklärung mündlich, persönlich und rechtzeitig vor einem Eingriff zu erfolgen hat, damit der Patient über seine Entscheidung ausreichend nachdenken kann. Hierzu gehört bezüglich der Lokalanästhesie unter anderem die Aufklärung über die Alternativen, mögliche Nervenschädigungen oder die Gefahr der Bissverletzung während der Wirkungsdauer. Die Aufklärung ist zu dokumentieren. Eine eingeschränkte Fahrtüchtigkeit kann – im Gegensatz zu früherer Meinung – nicht dem Lokalanästhetikum allein angelastet werden. Das Oberlandesgericht Hamm hat am 19. April 2016 entschieden, dass ein Zahnarzt für eine Behandlung mittels Infiltrations- oder Leitungsanästhesie haften kann, wenn er den Patienten über die als echte Alternative mögliche Behandlung mittels intraligamentärer Anästhesie nicht aufgeklärt hat und die vom Patienten für den zahnärztlichen Eingriff erteilte Einwilligung (engl.: Informed consent) deswegen unwirksam gewesen ist. Es verurteilte den Zahnarzt zur Zahlung eines Schmerzensgelds in Höhe von 4.000 €. Geschichte der Lokalanästhesie in der Zahnmedizin Nachdem der Augenarzt Carl Koller (1857–1944) 1884 erkannte, dass Kokain bei Verkostung die Zunge betäubt, benutzte 1885 der Chirurg William Stewart Halsted (1852–1922) erstmals Kokain in der Zahnmedizin. Nach ersten Tierversuchen wendete er das Verfahren zur Betäubung des Nervus mandibularis als Leitungsanästhesie an. Neben der Oberflächen- und Leitungsanästhesie entwickelte sich daraus die Infiltrationsanästhesie. 1905 verlängerte der Leipziger Chirurg Heinrich Braun die Wirkdauer und -tiefe des von Alfred Einhorn entwickelten Procains, welcher dem Wirkstoff den Namen Novocain zuordnete, durch die Beigabe von Adrenalin. Dem aus Heilbronn stammenden Chemiker Friedrich Stolz war es 1905 im Auftrag von Hoechst gelungen, das Hormon Suprarenin künstlich herzustellen. Der Zahnarzt und Anatom Harry Sicher beschrieb 1920 in seinem Lehrbuch „Anatomie und Technik der Leitungsanästhesie im Bereiche der Mundhöhle“ die exakte Vorgehensweise bei der Durchführung der verschiedenen Lokalanästhesien im Mundbereich. Lidocain war das erste Amino-Amid-Lokalanästhetikum, das durch die schwedischen Chemiker Nils Löfgren (1913–1967) und Bengt Lundqvist (1922–1953) im Jahre 1943 synthetisiert wurde. Sie verkauften die Patentrechte des Lidocains an den schwedischen Pharmakonzern Astra AB. 1957 schritt die Entwicklung der Lokalanästhetika mit Synthetisierung des Mepivacains, 1963 des Bupivacains, 1958 des Prilocains und 1976 des Articains voran. Im Jahre 1981 wurde als neue Anästhesiemethode die intraligamentäre Anästhesie entwickelt. Erste Versuche gab es bereits 1920 in Frankreich, wo die „Anesthésie par injections intraligamenteuses“ berichtet wird. Sie konnte sich zum damaligen Zeitpunkt aufgrund der zur Verfügung stehenden Instrumente nicht als Standardmethode durchsetzen. Honorierung Deutschland Die Lokalanästhesie wird – wie die meisten medizinischen Behandlungen – nach Dienstvertragsrecht (nicht nach Werkvertragsrecht) erbracht. Das bedeutet, dass eine ordnungsgemäße Behandlung geschuldet wird und in diesem Fall auch abgerechnet werden kann. Es wird jedoch nicht der Erfolg der Behandlung, also der Eintritt einer ausreichenden Betäubung, geschuldet. Für die Lokalanästhesie bedeutet dies, dass sie – nach ordnungsgemäßer Durchführung – jedoch mangelhaftem Wirkungseintritt (siehe oben: Anästhesieversager) – erneut erbracht und abgerechnet werden kann. Gesetzliche Krankenkassen In Deutschland wird gemäß der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung bei der Behandlung im Oberkiefer der Schmerz durch Infiltrationsanästhesie ausgeschaltet, bei größeren Eingriffen oder bei entzündlichen Prozessen sowie bei der chirurgischen Behandlung im Unterkiefer durch eine Leitungsanästhesie. Die Infiltrationsanästhesie ist neben der Leistungsanästhesie in der Regel nicht angezeigt. Dies gilt nicht bei einer Pardontalbehandlung. Bei chirurgischen und parodontal-chirurgischen Leistungen können in begründeten Ausnahmefällen die Infiltrationsanästhesie neben der Leitungsanästhesie abgerechnet werden, wenn nur so eine ausreichende Anästhesietiefe oder die Ausschaltung der Anastomosen erreicht werden kann. Gemäß Bewertungsmaßstab zahnärztlicher Leistungen (BEMA) werden die Lokalanästhesien in Deutschland von den gesetzlichen Krankenkassen nach der BEMA-Nr. 40 Infiltrationsanästhesie mit 8 Punkten (ca. 7,50 €). (Die Leistung kann im Bereich von zwei nebeneinander stehenden Zähnen (Ausnahme: die beiden mittleren Schneidezähne oder bei intraligamentärer Anästhesie, bei denen die Infiltrationsanästhesie je Zahn abgerechnet wird) nur einmal je Sitzung abgerechnet werden), BEMA-Nr. 41a intraorale Leitungsanästhesie mit 12 Punkten (ca. 11,20 €), BEMA-Nr. 41b extraorale Leitungsanästhesie mit 16 Punkten (ca. 15,- €), honoriert (Stand Juli 2014). Die Kosten der verwendeten Anästhetika sind mit dem Honorar abgegolten. Die intraorale Oberflächenanästhesie, die Schmerzausschaltung durch TENS und CCLADS sind keine Vertragsleistungen. Bei einer langen Dauer des Eingriffs und nachlassender Wirkung der Anästhesie kann diese erneut durchgeführt und abgerechnet werden. Privatbehandlung Nach der privaten Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) wird die Lokalanästhesie nach folgenden GOZ-Positionen berechnet: GOZ-Nr. 0080 Intraorale Oberflächenanästhesie, je Kieferhälfte oder Frontzahnbereich 30 Punkte (bei Ansatz des 2,3-fachen Satzes ca. 3,88 €) GOZ-Nr. 0090 Intraorale Infiltrationsanästhesie, 60 Punkte (bei Ansatz des 2,3-fachen Satzes ca. 7,76 €) GOZ-Nr. 0100 Intraorale Leitungsanästhesie, 70 Punkte (bei Ansatz des 2,3-fachen Satzes ca. 9,05 €) GOZ Extraorale Leitungsanästhesie: Analogberechnung gemäß Wird die Leistung nach Nummer 0090 je Zahn mehr als einmal berechnet, ist dies in der Rechnung zu begründen. Bei den Leistungen nach den Nummern 0090 und 0100 sind die Kosten der verwendeten Anästhetika gesondert berechnungsfähig (ca. 1,- € je Zylinderampulle). Die Schmerzausschaltung durch TENS oder mittels CCLADS sind als Leistung weder im BEMA noch in der GOZ enthalten. Die Berechnung kann als Verlangensleistung nach GOZ erfolgen – bei GKV-Patienten nach vorheriger Vereinbarung gemäß Bundesmantelvertrag-Zahnärzte § 4 Abs. 5 (BMV-Z) beziehungsweise Ersatzkassenvertrag-Zahnärzte § 7 Abs. 7 (EKVZ). Österreich Gemäß den Autonomen Honorarrichtlinien (AHR) der Österreichischen Zahnärztekammer (die jedoch nicht bindend sind) beträgt das Honorar für jede Art der Lokalanästhesie in der Zahnmedizin 20.- €. Dies gilt, falls ein Wahlzahnbehandler (Zahnarzt, der keinen Vertrag mit einer Gebietskrankenkassa abgeschlossen hat und daher auch keinen Zahnbehandlungsschein entgegennimmt) tätig wird. Schweiz Schweizer Zahnärzte sind an keinen Tarif gebunden. Gemäß dem Schweizer Zahnarzttarif, der jedoch nur für Mitglieder der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft (SSO) bindend ist, wird das Honorar durch Multiplikation der Taxpunktzahl der Leistung bei der Behandlung von Privatpatienten mit dem Taxpunktwert (TPW) ermittelt, der für eine Infiltrationsanästhesie maximal SFr. 5.80 (Stand 2014) betragen darf, aber auch unterschritten werden kann. Hiernach gilt nach der Ziffer 4065 eine Taxpunktzahl von 11 für die Infiltrationsanästhesie, was höchstens einen Betrag von SFr. 63,80 (umgerechnet 58,82 €) ergibt. Bei Sozialversicherungsfällen, die unter das Unfallversicherungsgesetz und das Krankenversicherungsgesetz fallen, sind sowohl Taxpunktzahl als auch Taxpunktwert (SFr. 3,10) pro Leistung fix. Dies ergibt für eine Infiltrationsanästhesie ein Honorar von SFr. 34,10 (umgerechnet 31,44 €). Siehe auch Lachgassedierung Literatur Walter Artelt: Die deutsche Zahnheilkunde und die Anfänge der Narkose und Lokalanästhesie. In: Zahnärztliche Mitteilungen. Band 54, 1964, S. 566–569, 671–677, 758–762 und 853–856. HA McLure, AP Rubin: Review of local anaesthetic agents. In: Minerva Anestesiol. Band 71, Nr. 3, 2005, S. 59–74, PMID 15714182, minervamedica.it (PDF; 113 kB). Weblinks Einzelnachweise Therapeutisches Verfahren in der Zahnmedizin Therapeutisches Verfahren in der Anästhesie Injektion und Infusion
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https://de.wikipedia.org/wiki/Berlin-Charlottenburger%20Stra%C3%9Fenbahn
Berlin-Charlottenburger Straßenbahn
Die Berlin-Charlottenburger Straßenbahn (BCS) war ein privates Straßenbahnunternehmen im Großraum Berlin. Sie wurde 1865 als Berliner Pferde-Eisenbahn (BPfE) gegründet und 1894 anlässlich der bevorstehenden Elektrifizierung umbenannt. Die von ihr am 22. Juni 1865 eröffnete Linie zwischen dem Brandenburger Tor in Berlin und der bis 1920 selbstständigen Stadt Charlottenburg war die erste Straßenbahnlinie Deutschlands. Bis 1914 weitete die Gesellschaft ihr Netz vor allem innerhalb Charlottenburgs aus. Die Linien führten darüber hinaus bis in die Berliner Innenstadt, nach Spandau, Weißensee und Neukölln. Im Jahr 1900 erwarb die konkurrierende Große Berliner Straßenbahn drei Viertel der Anteile an der BCS und übernahm ab 1907 deren Verwaltung. Die vollständige Übernahme fand 1919 statt. Während der zentrale Abschnitt der ersten Strecke der Gesellschaft durch den Großen Tiergarten in den 1930er-Jahren dem Ausbau der Ost-West-Achse zum Opfer fiel, wurde der westliche Ast bis zur Stilllegung des West-Berliner Straßenbahnnetzes am 2. Oktober 1967 befahren. Ein ebenfalls 1865 eröffnetes Teilstück in der Dorotheenstraße ist als der älteste noch vorhandene Streckenabschnitt im Netz der Berliner Straßenbahn in Betrieb. Geschichte Vorgeschichte und Eröffnung Am 26. November 1832 ging mit der New York and Harlem Railroad die weltweit erste Straßenbahn in Betrieb. In Europa verbreitete sich das neue Verkehrsmittel ab 1854 zuerst in Paris. Den öffentlichen Nahverkehr in Berlin bewerkstelligten zu dieser Zeit eine Vielzahl an Fuhrunternehmern mit Droschken und Pferdeomnibussen. Das Berliner Polizeipräsidium wünschte daher eine „Centralisation des sämtlichen öffentlichen Fuhrwesens“, indem es die erforderlichen Konzessionen an einen einzelnen Unternehmer vergab. 1858 trat der französische Staatsrat Carteret mit dem Präsidium in Verbindung. Er schlug ein flächendeckendes Netz aus Pferdeomnibussen und -bahnen vor. Das Vorhaben scheiterte, da Carteret die erforderlichen Mittel nicht aufbringen konnte. Die ihm erteilten Konzessionen erloschen zum 1. Dezember 1859. 1863 traten der württembergische Ingenieur von Binger und der dänische Ingenieur Møller auf den Plan. Møller hatte 1862 die königliche Bewilligung für die Einrichtung einer Pferdebahnlinie in Kopenhagen erhalten, musste sein Vorhaben aber wieder fallen lassen. Zeitgleich stand er mit dem Hamburger Senat und dem Berliner Polizeipräsidium für zwei ähnliche Projekte in Verbindung. Der preußische Handelsminister von Itzenplitz stand Møllers Plänen einer Bahn von Berlin nach Charlottenburg nicht abgeneigt gegenüber. Auf Anraten der Behörden musste dieser jedoch die geplante Streckenführung durch das Brandenburger Tor und den Boulevard Unter den Linden aufgeben und stattdessen eine Streckenführung durch die Sommerstraße und Dorotheenstraße wählen. Hierfür war ein zusätzlicher Durchbruch durch die Berliner Zollmauer vonnöten. Der Endpunkt sollte sich Am Kupfergraben befinden. Am 23. März 1864 erteilte der Minister Møller die Konzession. Die Konzessionsdauer war auf Wunsch Møllers von fünf auf zehn Jahre ausgedehnt worden. Neben der Linie Kupfergraben – Charlottenburg war Møller die Einrichtung einer Zweiglinie vom Brandenburger Tor über das Kroll’sche Etablissement und die Ausflugsgaststätte In den Zelten zum Kleinen Stern und einer weiteren Linie vom Dönhoffplatz durch die Leipziger Straße und Potsdamer Straße nach Schöneberg gestattet worden. Zur Finanzierung der Bahn wurde die Übertragung der Konzession auf eine Gesellschaft zugelassen. Am 11. Mai 1864 gründete sich die Kommanditgesellschaft auf Aktien in Firma Berliner Pferdeeisenbahn-Gesellschaft E. Besckow, die sämtliche Rechte und Pflichten übernahm. Die Gebrüder Ernst und Wilhelm Besckow waren Fuhrunternehmer aus Berlin. Das Grundkapital sollte für beide Linien 510.000 Taler (1.530.000 Mark) betragen. Die Gesellschaft brachte jedoch nur das für die Charlottenburger Linie erforderliche Kapital von 280.000 Talern (840.000 Mark) zusammen, sodass der Bau der Schöneberger Linie zunächst unterblieb. Møller soll die Konzession dieser Linie zunächst behalten und sie 1872 an die Große Internationale Pferde-Eisenbahn-Gesellschaft übertragen haben. Neben der vom Polizeipräsidenten ausgestellten Konzessionsurkunde musste die Gesellschaft die straßenbaupolizeiliche Genehmigung zur Anlage von Pferdebahnen beantragen und die Zustimmung des Straßeneigentümers zur Benutzung einholen. Bis zum 31. Dezember 1875 oblag die erste Maßnahme ebenfalls dem Berliner Polizeipräsidium, für die Zustimmung war bis zum gleichen Zeitpunkt die Königliche Ministerial-Bau-Commission zuständig. Durch Kabinettsorder vom 28. Dezember 1875 unterstand die Straßenbaupolizei mit Jahresbeginn 1876 den Städten, ebenso gingen die meisten Straßen in das Eigentum der Städte über. Unberührt hiervon blieben diverse Landstraßen und die Straße Unter den Linden. Der Bau der Strecke begann im Januar 1865. Knapp einen Monat vor der Inbetriebnahme gab der Berliner Polizeipräsident eine Verordnung über den Betrieb der Pferdeeisenbahn heraus. Die 42 Paragraphen umfassende Vorschrift regelte unter anderem die Beschriftung der Wagen, Dienstkleidung und die Beförderungsbedingungen. Die Kutscher waren dazu angehalten, nicht schneller als im Trab zu fahren, vor Straßenkreuzungen war Schritt vorgeschrieben. Frauen war darüber hinaus das Betreten des Oberdecks untersagt, diese Regelung wurde erst im Vorfeld der Berliner Gewerbeausstellung 1896 aufgehoben. Gegenüber den Torwagen („Kremser“), die häufig nur bei voller Besetzung abfuhren, war den Kutschern das Auffordern von Passanten zur Mitfahrt untersagt. War die Weiterfahrt durch Hindernisse, die nicht augenblicklich beseitigt werden konnten, unterbrochen, sollten die Wagen aus den Schienen herausgehoben und die Stelle umfahren werden. Bei Fahrten in Kolonne sollten mindestens 60 Schritte, bei stehenden Wagen mindestens zehn Schritte Abstand gehalten werden, damit die Zugpferde die Wagen nicht anknabberten. Am 22. Juni 1865 ging der erste Abschnitt zwischen Brandenburger Tor und dem Straßenbahnhof in Charlottenburg in Betrieb. Zwei Monate darauf folgte am 28. August die Verlängerung der Bahn vom Brandenburger Tor zum Kupfergraben. Die Strecke war zunächst eingleisig mit acht Ausweichen angelegt. Der Streckenverlauf führte von der Dorotheenstraße über Sommerstraße, Charlottenburger Chaussee, Berliner Straße und Spandauer Berg zur Ecke Sophie-Charlotte-Straße. Ausweichmöglichkeiten gab es an den Endstellen sowie an der Kreuzung Dorotheenstraße Ecke Neue Wilhelmstraße, in der Sommerstraße, am Großen Stern, an der Grenze zu Charlottenburg, am Knie, am Wilhelmplatz und am Luisenplatz. Die 1865 ebenfalls genehmigte Zweigstrecke Zu den Zelten konnte 1866 oder 1872 eröffnet werden. Sie blieb wegen mangelnder Rentabilität nur bis 1874 oder 1875 in Betrieb. Ausbau des Streckennetzes Trotz des anfangs hohen Fahrpreises von zweieinhalb Silbergroschen (25 [Reichs-]Pfennig; 1901 kostete die gleiche Fahrt 10 Pfennig) erwies sich die Bahn als Erfolg. Im ersten vollen Betriebsjahr 1866 transportierte sie rund 960.000 Fahrgäste; wobei eine außerordentliche Belastung im Ausflugsverkehr in die damals noch als Sommerfrische geltende Stadt Charlottenburg zu beobachten war. Während im Januar 1866 46.560 Fahrgäste die Pferdebahn nutzten, waren es im August desselben Jahres 165.230. Der Schriftsteller Hans Wachenhusen schilderte eine solche Ausflugsfahrt während der ersten Betriebsjahre. Am Kupfergraben waren an solchen Tagen mehrere Hundert Menschen an der Haltestelle zu beobachten, ein Zustieg entlang der Strecke war nahezu unmöglich. Zeitungen berichteten, dass die für 45–50 Personen zugelassenen Wagen teilweise bis zu 93 Fahrgäste aufnehmen mussten. Da dadurch wiederum der Fahrplan nur bedingt einzuhalten war, ergab sich kaum eine Zeitersparnis gegenüber den Fußgängern auf gleicher Strecke. Die Satireschrift Kladderadatsch nahm diese Umstände zum Anlass ein „Reglement zur Benutzung der Berliner Pferdebahn“ herauszugeben, in dem beispielsweise für Fußgänger, die Pferdebahnwagen überholten, eine Übereilungsstrafe von fünf Silbergroschen vorgesehen war. Im Jahr 1871 ließ die Terrain-Gesellschaft Westend H. Quistorp & Co. auf eigene Kosten eine eingleisige Strecke vom Pferdebahnhof in die Villenkolonie Westend anlegen. Die Betriebsführung übertrug sie der BPfE. Die Strecke war 1,4 Kilometer lang und wies auf einer Länge von 620 Metern eine Steigung von 33,3 Promille auf. Die Bedienung erfolgte mit einer Pendellinie ab dem Pferdebahnhof, da die auf der Hauptlinie eingesetzten zweispännigen Decksitzwagen außerstande waren, die Steigung zu bewältigen. Im gleichen Jahr gründete sich die Große Berliner Pferde-Eisenbahn-Aktien-Gesellschaft (GBPfE), die beginnend ab 1873 mehrere Strecken von Berlin in die Vororte eröffnete. Nach Ablauf der ersten Konzession firmierte das Unternehmen ab 1875 unter dem Namen Berliner Pferde-Eisenbahn-Gesellschaft, Kommandit-Gesellschaft auf Aktien J. Lestmann & Co. Im gleichen Jahr ging eine Zweigstrecke vom Großen Stern über Fasanerieallee und Corneliusbrücke zum Haupteingang des Zoologischen Gartens in Betrieb. Die Hauptstrecke erhielt durchgehend ein zweites Streckengleis. Es folgten weitere Strecken von Westend zum Spandauer Bock (1879), vom Knie über die Hardenbergstraße zum Zoologischen Garten (1880), über die Rankestraße zum Joachimsthalschen Gymnasium (1881), vom Kurfürstendamm zum Lützowplatz (1885), vom Wilhelmplatz über die Wilmersdorfer Straße zum Stadtbahnhof (1887) sowie vom Knie über Marchstraße, Gotzkowskybrücke und Alt-Moabit nach Moabit, Paulstraße (1890). Mit der Stadt Berlin schloss das Unternehmen am 7. Mai 1881 einen neuen Zustimmungsvertrag bis zum 31. Dezember 1909 ab, der unter anderem die Genehmigung zur Anlage neuer Linien enthielt. Häufiger Traktionswechsel Der Betrieb als Pferdebahn zeigte schnell die Grenzen dieser Traktionsart auf. Um die Leistungsfähigkeit zu erhöhen, experimentierte die BPfE mehrfach mit unterschiedlichen Antriebsmöglichkeiten. Ab dem 20. April 1878 setzte die BPfE auf der Strecke Brandenburger Tor – Pferdebahnhof zwei Kastendampflokomotiven von Wöhlert und Krauss ein. Als Beiwagen dienten Pferdebahnwagen. Der Versuch mit Dampfstraßenbahnen lief parallel zu den Pferdebahnen bis zur Einstellung am 11. August 1878. Neben der Rauchbelästigung stellte sich heraus, dass der Ober- und Unterbau zu schwach für die Lokomotiven ausgelegt waren. 1881/82 startete die Bahn einen zweiten erfolglosen Versuch mit Rowan’schen Dampftriebwagen. Nach der Eröffnung der ersten elektrischen Straßenbahn der Welt im Mai 1881 suchte Siemens & Halske nach einer geeigneten Strecke, um den elektrischen Antrieb weiter erproben zu können. Die zweieinhalb Kilometer lange Strecke vom Pferdebahnhof über Westend zum Spandauer Bock bot mit ihrer für Berliner Verhältnisse starken Steigung ein optimales Versuchsfeld. Am 1. Mai 1882 begann der Versuchsbetrieb mit den umgerüsteten Wagen 36 und 38. Parallel zur Strecke waren in einer Höhe von vier bis fünf Metern zwei voneinander isolierte Kupferdrähte gespannt. Auf diesen lief ein mit Motor versehener zwei- beziehungsweise vierrädriger Kontaktwagen. Über ein biegsames Kabel war der Kontaktwagen mit den Triebwagen und den Fahrmotoren verbunden. Da die Fahrleitung nur einspurig verlegt war, mussten die Triebwagen an den Begegnungspunkten vom Kontaktwagen getrennt und mit dem jeweils anderen Kontaktwagen wieder verbunden werden. Das System bewährte sich nicht, sodass Siemens & Halske ab Ende 1882 die Fahrleitung durch eine Schlitzrohrfahrleitung ersetzte. Als Stromabnehmer dienten nun in die Fahrleitung eingelassene Schlitten, die die Triebwagen während der Fahrt hinter sich her zogen. Die Betriebsspannung lag bei 180 Volt Gleichstrom, die Triebwagen erreichten in der Ebene eine Geschwindigkeit von 20 km/h, in der Steigung 10–12 km/h. Im Mai 1883 wurde der Versuchsbetrieb wieder eingestellt. Im August 1886 führte die BPfE probeweise Fahrten mit einem Akkumulatortriebwagen auf der Linie Pferdebahnhof – Lützowplatz durch. Nach mehreren Entgleisungen war der Triebwagen derart beschädigt, dass der Versuch eingestellt werden musste. Umbenennung und Elektrifizierung 1892 schlug Siemens & Halske dem Charlottenburger Magistrat die Einrichtung einer elektrischen Straßenbahnlinie im Verlauf der ersten Linie von 1865 vor. Hintergrund war die zum 30. Juni 1895 auslaufende Konzession. Da der Magistrat dem Vorhaben wohlwollend gegenüberstand, sah sich die BPfE dazu veranlasst, Siemens & Halske mit der Elektrifizierung des Streckennetzes zu beauftragen, um die Konzessionen weiterhin zu erhalten. Am 6. Januar 1893 unterzeichneten beide Seiten den entsprechenden Vertrag. Im Hinblick auf die bevorstehende Elektrifizierung änderte das Unternehmen am 26. September 1894 seinen Firmennamen in Berlin-Charlottenburger Straßenbahn AG. Ab 1896 begannen erneut Testfahrten mit Akkumulatortriebwagen. Da mehrere Institute und Behörden Bedenken äußerten, entschied sich das Unternehmen zur vollständigen Einführung des Akkumulatorbetriebes. Die Behörden wollten eine Verunzierung des Straßenbildes durch die Fahrdrähte verhindern, außerdem fürchtete die Physikalisch-Technische Reichsanstalt eine Verfälschung ihrer Messergebnisse durch „vagabundierende Ströme“. Parallel dazu fanden Fahrten mit einem Gasmotortriebwagen der Deutschen Gasbahngesellschaft statt; das Fahrzeug war später bei der Hirschberger Thalbahn im Einsatz. Die offizielle Umstellung auf elektrischen Akkumulatorbetrieb begann am 3. August 1897 auf dem Streckenabschnitt Brandenburger Tor – Pferdebahnhof. Einen Monat später war die komplette Linie bis Kupfergraben umgestellt. Ende November schloss die BCS mit der Stadt Charlottenburg einen neuen Zustimmungsvertrag mit Gültigkeit bis zum 30. September 1937 ab, in dem die Stadt die Einrichtung weiterer Linien zusagte. Die BCS verpflichtete sich gleichzeitig zur Einführung eines 10-Pfennig-Einheitstarifes innerhalb der Gemeinde. Mit der Gemeinde Deutsch-Wilmersdorf kam ein ähnlicher Vertrag zustande. Noch während der Umstellungsphase zeigten sich die Nachteile des Akkumulatorbetriebs auf. Neben der geringen Reichweite und der hohen Störanfälligkeit fühlten sich die Fahrgäste durch die Säuredämpfe belästigt. Daher beantragte das Unternehmen 1898 die Umrüstung auf Oberleitungsbetrieb mit Schleifbügel. Die ersten Linien konnten am 1. Januar 1899 umgestellt werden. Auf einigen Streckenabschnitten, so in einem Radius von einem Kilometer um die Physikalisch-Technische Reichsanstalt und am Brandenburger Tor, war hingegen weiterhin keine Oberleitung gestattet. Einhergehend mit der Elektrifizierung eröffnete die BCS weitere Streckenabschnitte und baute die bestehenden Strecken zweigleisig aus. Die 1880 in der Hardenbergstraße angelegte Strecke erhielt 1898 das zweite Gleis. Im August 1899 ging die Strecke von der Spandauer Straße über Schloßstraße, Suarezstraße, Amtsgerichtsplatz und Leonhardstraße zum Stadtbahnhof in Betrieb, im gleichen Monat war die Strecke durch die Wilmersdorfer Straße elektrifiziert. Ab dem 28. Oktober 1899 fuhr die Straßenbahn durch die Bismarckstraße, Grolmannstraße und Knesebeckstraße bis zum Kurfürstendamm. Ab dem 30. Mai 1900 war die Bismarckstraße zwischen Knie und der Schloßstraße am Sophie-Charlotte-Platz durchgängig befahrbar. Übernahme durch die Große Berliner Straßenbahn Am 9. März 1900 kam zwischen der BCS und der Stadt Berlin ein neuer Zustimmungsvertrag mit Gültigkeit bis zum 31. Dezember 1919 zustande. Im gleichen Jahr erwarb die Große Berliner Straßenbahn (GBS, ehemals GBPfE) drei Viertel des Aktien- und Obligationskapitals, womit die formelle Selbstständigkeit der Bahn aufhörte. Die Verwaltung übernahm die GBS. Im Gegenzug ergab sich für die BCS die Möglichkeit, ihre Linien über die Strecken der GBS und deren Tochtergesellschaften Westliche Berliner Vorortbahn (WBV) und Südliche Berliner Vorortbahn (SBV) auszudehnen. Hierzu war die Umrüstung der Oberleitung und Triebwagen von Schleifbügel auf Rollenstromabnehmer vonnöten. Am 16. Juni 1900 erhielt die Bahn vom Berliner Polizeipräsidium eine neue Konzession bis zum 31. Dezember 1949. Der Inhalt deckte sich weitestgehend mit der Konzession für die GBS. Da Konzession und Zustimmungsvertrag unterschiedliche Laufzeiten aufwiesen, kam es in der Folge zu Differenzen und Rechtsstreitigkeiten zwischen der GBS und ihren Tochtergesellschaften auf der einen und dem Berliner Magistrat auf der anderen Seite. Der Magistrat beschloss daraufhin die Einrichtung eines städtischen Straßenbahnbetriebes. Die Aufsichtsbehörde erließ am 26. September 1900 eine Anordnung, die die Umstellung der verbliebenen, mit Akkumulatortriebwagen betriebenen, Strecken auf Oberleitungsbetrieb vorschrieb. Auf der Charlottenburger Chaussee westlich der Ecke Siegesallee bis zum Brandenburger Tor und weiter durch die Sommerstraße sowie vor dem Schloss Charlottenburg war aus ästhetischen Gründen eine Unterleitung vorgeschrieben. In Höhe der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt wurde hingegen eine zweipolige Oberleitung gespannt, um einen Rückstrom durch die Fahrschienen zu vermeiden. Im Februar 1901 verkehrte die letzte Pferdebahnlinie, der Akkumulatorbetrieb endete im Folgejahr. Der Unterleitungsbetrieb stellte sich ebenfalls als störanfällig heraus, da die Kabelkanäle in der kalten Jahreszeit oft mit Laub und Schneematsch verstopft waren. Die letzten Unterleitungsabschnitte wurden daher 1906/07 auf Oberleitung umgerüstet. 1902 verpflichtete sich die Straßenbahngesellschaft, für die vollständige oder teilweise Verlegung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt 100.000 Mark aufzubringen. Zwischen 1911 und 1913 wurde auf dem Telegrafenberg bei Potsdam ein Gebäude für magnetische Messungen errichtet, zu dem die Straßenbahngesellschaft den versprochenen Beitrag leistete. Am 6. Mai 1902 führten die GBS und ihre Tochtergesellschaften zur Kennzeichnung ihrer Linien-Nummern und Buchstaben ein. Diese ersetzten die zuvor an den Wagen angebrachten farbigen Signallaternen; bei der BCS waren diese spätestens mit dem Übergang zur GBS eingeführt worden. Für die Linien der GBS waren ein- bis dreistellige Zahlen vorgesehen, die Linien der WBV erhielten die Buchstaben A bis M zugeordnet, die Linien der BCS die Buchstaben N bis Z. Die Umstellung zog sich bis Dezember 1902 hin. Im September 1905 legte die GBS zwei Projekte für Straßenbahntunnel vor, die den Ost-West-Verkehr bündeln und die viel befahrene Leipziger Straße entlasten sollten. Ein Nordtunnel sollte vom Kleinen Stern entlang der Straße Unter den Linden bis zum Opernplatz führen und die entlang der Dorotheenstraße fahrenden Linien aufnehmen. Am Brandenburger Tor und am Opernplatz waren Gleisschleifen vorgesehen, um auch den Nord-Süd-Verkehr aufzunehmen. Da die Pläne vielfach ob ihrer mangelhaften Ausführung kritisiert wurden, kam es zu keiner Realisierung. Lediglich eine Nord-Süd-Verbindung in Höhe des Opernplatzes, den Lindentunnel, errichtete die Stadt Berlin 1914 bis 1916 in Eigenregie. Die BCS erweiterte ihr Streckennetz in Charlottenburg und Deutsch-Wilmersdorf zwischen 1901 und 1914 um weitere Verbindungen. 1901 ging die Verbindung vom Stadtbahnhof zum Kurfürstendamm in Betrieb. Es folgten Strecken durch die Wilmersdorfer Straße und Brandenburgische Straße zum Fehrbelliner Platz und in Deutsch-Wilmersdorf von der Wilhelmsaue zur Prinzregentenstraße (1902), in der Leibnizstraße und Alt-Moabit westlich der Gotzkowskybrücke (1905), in der Ringbahnstraße in Halensee sowie in der Kaiser-Friedrich-Straße (1912). Außerhalb des Kernnetzes befuhren die Züge ab 1902 durch die Prinz-Albrecht-Straße und Zimmerstraße in der Berliner Friedrichstadt. Zwischen 1911 und 1914 ging zudem eine Verbindung in Weißensee von der Weißenseer Spitze zur Rennbahnstraße in Betrieb. Den Abschluss bildete die Strecke durch den Kaiserdamm vom Sophie-Charlotte-Platz zum Bahnhof Heerstraße am 30. Juni 1914. Westlich von Charlottenburg entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Nonnenwiesen die Siemensstadt. Da diese noch unzureichend erschlossen war, traten die Unternehmen Siemens & Halske und Siemens-Schuckertwerke in Verhandlungen mit der BCS und der Stadt Charlottenburg ein. Die Stadt erklärte sich bereit, eine Straße zur Grenze nach Siemensstadt anzulegen, die BCS errichtete parallel dazu eine 1,9 Kilometer lange Straßenbahnstrecke vom Landgericht am Gustav-Adolf-Platz über Bahnhof Jungfernheide zur Gemarkungsgrenze. Auf dieser verkehrte ab dem 1. Dezember 1913 eine Pendellinie V. Nach drei Monaten wurde die Linie am 1. Februar 1914 zugunsten der verlängerten Linie 164 der GBS eingestellt. Diese verkehrte ab dem 9. Juni 1914 über die Gemarkungsgrenze hinaus in die Siemensstadt. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges kam es ab dem 3. August 1914 zu Einschränkungen im Linienverkehr. Die 1875 angelegte Strecke vom Großen Stern zum Kurfürstendamm wurde ab dem 15. November 1916 nicht mehr bedient. Der Endpunkt in der Dorotheenstraße wurde am 24. Dezember 1915 direkt in die Straße Am Kupfergraben verlegt. Der Zeitraum dazwischen markiert den größten Ausbauzustand, die Streckennetzlänge betrug 39,62 Kilometer zweigleisige Strecken bei einer Gesamtgleislänge von 87,72 Kilometer. Da sich im westlich benachbarten Spandau mehrere kriegswichtige Betriebe befanden (u. a. die Siemenswerke und die Armee-Konservenfabrik), veranlasste das Militär die Verknüpfung des Charlottenburger mit dem Spandauer Straßenbahnnetz. Die Spandauer Linien fuhren seit 1906 zum Spandauer Bock und seit 1908 in die Siemensstadt, eine Gleisverbindung zwischen beiden Netzen bestand trotz gleicher Spurweite und Oberleitungsbauart nicht. Am Spandauer Bock verhinderte zudem eine Anhöhe die Gleisverbindung. Nach Abtragung dieser konnten ab dem 13. Mai 1917 die Linien über den Spandauer Bock hinaus zur Triftstraße in Spandau verkehren. Ab dem 21. Januar 1918 waren beide Netze in Siemensstadt miteinander verbunden. Am 28. Mai 1918 kam es zwischen der GBS und ihren Tochtergesellschaften und dem Verband Groß-Berlin zum Abschluss eines neuen Zustimmungsvertrages bis Ende 1949. Der Vertrag enthielt die Option zur Verschmelzung der GBS mit ihren Tochtergesellschaften, welche der Zweckverband am 3. März 1919 genehmigte. Die Übernahme der Berlin-Charlottenburger Straßenbahn und ferner der Westlichen, Südlichen und Nordöstlichen Berliner Vorortbahn durch die Große Berliner Straßenbahn wurde am 15. Mai 1919 vollzogen. Die BCS hörte damit auf zu bestehen. Zwei Monate später erwarb der Verband Groß-Berlin die Große Berliner Straßenbahn und wandelte diese am 20. September 1919 in ein kommunales Unternehmen um. Durch den Zusammenschluss der GBS mit der Berliner Elektrischen Straßenbahn und den Straßenbahnen der Stadt Berlin entstand am 13. Dezember 1920 die Berliner Straßenbahn (BSt), aus der 1923 die Berliner Straßenbahn-Betriebs-Gesellschaft und 1928/29 die Berliner Verkehrs-Gesellschaft (BVG) hervorgingen. Weitere Entwicklung nach 1919 Nach dem Zusammenschluss strukturierte die Berliner Straßenbahn das Liniennetz neu und vergab einheitliche Liniennummern. Da es durch die Hyperinflation Anfang der 1920er-Jahre zu mehrfachen Linienänderungen und -einstellungen kam, ist ein Vergleich zwischen den einzelnen Linien für diese Zeit nicht möglich. In dieser Zeit kommt es zu Streckeneinstellungen im nördlichen Kurfürstendamm und der Wichmannstraße sowie in der Rankestraße. Am 1. November 1934 wurde die Straßenbahnstrecke durch die Charlottenburger Chaussee und Berliner Straße zwischen Brandenburger Tor und Knie für den Ausbau des Straßenzuges zur Ost-West-Achse stillgelegt. Die daran anschließende Strecke durch die Bismarckstraße und den Kaiserdamm bis zum Adolf-Hitler-Platz folgte drei Jahre darauf am 1. November 1937. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mehrere Streckenabschnitte nicht wieder in Betrieb genommen, unter anderem in Moabit, zwischen Amtsgerichtsplatz und Halensee sowie in Weißensee. Die nach 1948 in West-Berlin gelegenen Strecken legte die BVG ab 1954 kontinuierlich still. Der letzte Abschnitt vom Bahnhof Zoo über Ernst-Reuter-Platz und Luisenplatz und die daran anschließende Strecke entlang des Spandauer Damms bis zur Königin-Elisabeth-Straße wurden am 2. Oktober 1967 eingestellt. Das Datum markiert gleichzeitig das Ende der Straßenbahn in den Westsektoren der Stadt. Den im Ostsektor gelegene Abschnitt in der Ebertstraße und Clara-Zetkin-Straße westlich der Planckstraße nutzten die Straßenbahnzüge bis zum Bau der Berliner Mauer als Wendedreieck. Der verbliebene Rest bis zum Kupfergraben ist nach wie vor in Betrieb. Unternehmen Betriebsergebnisse Die Berliner Pferde-Eisenbahn erzielte bis 1882 befriedigende, teilweise sogar überragende Ergebnisse; 1872 betrug die Dividende beispielsweise 24 Prozent. Diese Entwicklung verschlechterte sich durch die Inbetriebnahme der Stadtbahn vom Schlesischen Bahnhof zum Bahnhof Charlottenburg schlagartig. Die Eröffnung der Haltestelle Tiergarten in Höhe der Charlottenburger Chaussee verschärfte die Situation zusätzlich. Für Fahrten zwischen der Berliner Innenstadt und dem Kurfürstendamm nutzten die Fahrgäste vorzugsweise die Linien der GBPfE über Potsdamer Platz und Lützowplatz. Durch die bis 1890 eröffneten Linien ließen sich zwar die Fahrgastzahlen steigern, diese standen jedoch in keinem Verhältnis zu den Betriebsausgaben. Die Linien dienten überwiegend dem Charlottenburger Binnenverkehr, der im Verhältnis zu den Verkehrsströmen von und nach Berlin sehr gering ausgeprägt war. Eine Ausdehnung des Netzes nach Berlin war durch die Konkurrenz der GBPfE nicht möglich, da diese alle wichtigen Einfallstraßen mit ihren Gleisen belegte. Im Rahmen der Netzelektrifizierung schloss die Berlin-Charlottenburger Straßenbahn nach Erteilung der Konzession neue Zustimmungsverträge mit den Städten Berlin, Charlottenburg und Wilmersdorf. Der darin vereinbarte Einheitstarif für Charlottenburg, später auch für Berlin, ließ die Bilanz weiter schrumpfen. Die Übernahme durch die GBS änderte zunächst nur wenig an der Bilanz. Durch die Übernahme der Verwaltung, ab 1907 auch des Personals, und die Ausweitung der Linien auf das Verkehrsgebiet der GBS konnte das Ergebnis bis 1911 langsam verbessert werden. Die Fahrgastzahlen stiegen von 1902 bis 1911 auf mehr als das Doppelte an. 1911 schüttete das Unternehmen eine erstmals nach 1906 wieder eine Dividende von 2,5 Prozent aus. Im Jahr 1911 betrug das Aktienkapital der Gesellschaft 6.048.000 Mark, das Obligationskapital betrug 5.496.500 Mark mit Tilgung bis 1949. Die Verlustrücklagen lagen bei 14.889,44 Mark. Der Amortisationsfonds, also der Abschreibungswert von Bahnkörper, Gebäude und Wagen, betrug im gleichen Jahr 724.446,91 Mark. Die beiden Instandhaltungsrücklagen beliefen sich auf zusammen 308.432,09 Mark. Tarif Über die Tarife und Fahrpreise der Gesellschaft in der Anfangszeit liegen nur wenige Informationen vor. Auf der Linie vom Kupfergraben nach Charlottenburg galt zunächst ein entfernungsbasierter Tarif. Als Grundlage diente der Fahrpreis einer Eisenbahnfahrt 3. Klasse. Eine einmalige Fahrt über die gesamte Distanz kostete zweieinhalb Silbergroschen (25 [Reichs-]Pfennig), die Teilstrecke Kupfergraben – Brandenburger Tor kostete einen Silbergroschen (10 [Reichs-]Pfennig). Eine Jahreskarte kostete 50 Taler (150 Mark). Durch den mit der Stadt Charlottenburg abgeschlossenen Zustimmungsvertrag verpflichtete sich das Unternehmen zur Einführung eines 10-Pfennig-Einheitstarifs auf Charlottenburger Gebiet zum 1. Dezember 1897. Am 1. Januar 1901 wurde der 10-Pfennig-Einheitstarif auf den Linien der GBS und ihrer Tochtergesellschaften eingeführt. Er galt für Fahrten innerhalb des jeweiligen städtischen Weichbildes und darüber hinaus bis zum Endpunkt der zu benutzenden Linie. Innerhalb der Stadtgemeinden Charlottenburg und Deutsch-Wilmersdorf galt für die Linien der BCS zudem ein Umsteigetarif zu 10 und 15 Pfennig. Für Fahrten zwischen den Verkehrsgebieten, also den Streckennetzen der einzelnen Gesellschaften, erhoben diese bei Bedarf einen gestaffelten Fahrpreis von bis zu 20 Pfennig mit Teilstreckentarifen zu 15 und 10 Pfennig. Er fand auf den Linien O, P, Q, R, S und W Anwendung, während auf den Linien N, T und U der Binnentarif von 10 Pfennig galt. Mit der Einführung des Einheitstarifs gaben die GBS und ihre Tochtergesellschaften linienbezogene Zeitkarten aus. Diese waren auf eine oder mehrere Linien ausgestellt, berechtigten aber zur Benutzung aller in der betroffenen Relation verkehrenden Linien. Der Fahrpreis betrug für eine Linie sechs Mark, für jede weitere Linie zwei Mark zusätzlich, höchstens jedoch insgesamt 15 Mark. Nach einer ersten Preiserhöhung im Jahr 1904 betrug der Preis für eine Linie sieben Mark, für zwei Linien zehn Mark, für drei Linien 13 Mark und für das gesamte Liniennetz 15 Mark. Eine Monatskarte für das Verkehrsgebiet aller Gesellschaften kostete 30 Mark. Durch die Einführung der Fahrkartensteuer erhöhten sich die Tarife 1906 nochmals geringfügig. Für den Binnenverkehr in Charlottenburg gab die Gesellschaft bis Ende 1910 zusätzliche Monatskarten zu drei Mark für eine und je eine Mark zusätzlich für jede weitere Linie aus. Zum Vergleich: 1909 betrug das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Angestellten der GBS (Fahrer oder Schaffner) 1400 Mark (≈  Euro). Schülerzeitkarten für Schüler unter 16 Jahren kosteten drei Mark pro Monat und berechtigten zur Benutzung von zwei Linien für Fahrten zwischen Wohnung und Schule, Sportverein oder Nachhilfeunterricht. Für jede weitere zu benutzende Linie war ein Aufschlag von je einer Mark fällig. Arbeiterwochenkarten gab die Gesellschaft nicht aus. Kinder unter sechs Jahren fuhren umsonst mit, sofern diese keinen separaten Platz für sich beanspruchten Für zwei Kinder unter sechs Jahren war der Fahrpreis für eine Person zu entrichten. Die Mitnahme von Schoß- oder Jagdhunden – letztere waren nur auf besonderen Strecken gestattet – kostete zehn Pfennig. Fahrbetrieb Fahrzeuge Die BPfE verzeichnete im Eröffnungsjahr 18 Pferdebahnwagen und 130 Pferde in ihrem Bestand. Die Wagen 1–6 und 17 waren zweispännige Decksitzwagen, Wagen 7–10 waren normale Zweispänner, die übrigen Wagen waren Einspänner. Wagen 11–13 waren zudem mit einem Salon ausgestattet. 1886/87 folgte der Umbau aller Wagen zu Decksitzwagen. Mit dem weiteren Ausbau des Netzes beschaffte die BPfE weitere Wagen bei verschiedenen Herstellern. Ab 1892 setzte die BPfE speziell für den Ausflugsverkehr Sommerwagen mit offenen Seitenwänden ein. Bis 1895 stieg der Bestand auf 101 Wagen an, davon zehn offene Einspänner (Sommerwagen), zehn geschlossene Zweispänner, 47 geschlossene Einspänner und 34 Decksitzwagen. Einen Teil der Wagen verwendete die Gesellschaft nach dem Beschluss zur Elektrifizierung als Beiwagen weiter. Die Decksitzwagen ließ sie zu Eindeckern umbauen. Die Sommerwagen wurden während des Ersten Weltkrieges verschlossen, sodass ein ganzjähriger Einsatz erfolgen konnte. Die letzten Pferdebahnwagen musterte die Berliner Straßenbahn in den 1920er-Jahren aus. Für den elektrischen Versuchsbetrieb der Jahre 1882/83 wurden die Einspänner 36 und 38 herangezogen. Die Verbindungskabel zwischen den Stromabnehmern und den Wagen waren an einem Wagenende angebracht. Die Wagen wurden nach dem Ende des Versuchsbetriebs wieder zurückgebaut. Nach der flächendeckenden Elektrifizierung mit Oberleitung waren die beiden Fahrzeuge wieder als Triebwagen im Einsatz bis zu ihrer Ausmusterung 1920. Der Akkumulatorbetrieb umfasste 34 Triebwagen, die die Gesellschaft in den Jahren 1895 bis 1897 beschaffte. Vier Triebwagen (Tw 24II, 32II, 133, 134) entstanden aus ehemaligen Pferdebahnwagen. Bei zwei weiteren Triebwagen (Tw 290 und 150) handelte es sich um Einzelexemplare. Triebwagen 150 erhielt später die Nummer 291. Nach der Umstellung auf Oberleitungsbetrieb wurden die Triebwagen umgerüstet und die ehemaligen Pferdebahnwagen zu Beiwagen umgebaut oder ausgemustert. Die verbliebenen Triebwagen waren in einer 29 Fahrzeuge umfassenden Serie zusammengefasst. Sie hatten zwei zweiachsige Drehgestelle und sieben Seitenfenster in der Anordnung breit–schmal–breit–schmal–breit–schmal–breit. Die Verwendung von Drehgestellen begründete sich in dem hohen Eigengewicht der Akkumulatoren. 1899 wurden die Fahrzeuge mit jeweils zwei Bügelstromabnehmern ausgestattet, 1901 folgte die Umstellung auf Rollenstromabnehmer, im darauffolgenden Jahr der Ausbau der Akkumulatoren. Stattdessen waren die Wagen nun mit einem Kontaktschuh für den Unterleitungsbetrieb ausgestattet. Zwischen 1905 und 1907 erhielten elf Triebwagen nach einem Umbau Maximum-Drehgestelle und vergrößerte Einstiegsplattformen. Die übrigen 18 Triebwagen baute die BCS 1913 um. Sie erhielten zusätzlich neue Wagenkästen mit zehn Seitenfenstern. Triebwagen 221 musste nach einem Unfall ausgemustert werden, die übrigen Fahrzeuge gingen 1920 in den Bestand der BSt über. Die 1905/07 umgebauten Triebwagen musterte die Berliner Straßenbahn bis 1929 aus. Von den 1913 umgebauten Triebwagen wurden 1925 wiederum fünf Triebwagen mit geschlossenen Plattformen der Berliner Einheitsbauform ausgestattet. Während die offenen Wagen bis 1936 verkehrten, waren von den fünf Umbauwagen (ab 1934 als Typ TD beziehungsweise TD 07/25) drei nach dem Zweiten Weltkrieg noch vorhanden. Die BVG-West musterte ihre zwei Triebwagen 1955 aus, den in Ost-Berlin verbliebenen Triebwagen bezog die BVG-Ost 1969 in das Reko-Programm ein. Der elektrische Mischbetrieb mit Oberleitung und Akkumulatoren erforderte die Bestellung weiterer Fahrzeuge. Die BCS bestellte 1898 bei der Dessauer Waggonfabrik 60 zweiachsige Triebwagen. Die Stromentnahme sollte nach dem Siemens’schen System über Schleifbügel erfolgen. Die Auslieferung zog sich vom 1. August 1899 bis zum 1. Oktober 1901 hin. Für den elektrischen Teil der Ausrüstung waren vermutlich die Akkumulatorenfabrik Berlin-Hagen sowie Siemens & Halske verantwortlich. Die Wagenkästen ruhten zunächst auf Pressblechfahrgestellen. 1902 wurden die Akkumulatoren ausgebaut. Da die Physikalisch-Technische Reichsanstalt eine Beeinflussung durch Kriechströme befürchtete, wurde in der Marchstraße eine zweite Oberleitung als Rückleiter gespannt. Zunächst erhielten 15 Triebwagen hierzu zwei weitere Rollenstromabnehmer, die im Gegensatz zum ersten nicht drehbar waren. Mit der Ausweitung des Verkehrs rüstete die BCS weitere Fahrzeuge um. Die doppelte Fahrleitung war auf einer Länge von 1,19 Kilometern bis in den Ersten Weltkrieg hinein gespannt. Neben dieser Maßnahme erfuhren die Triebwagen weitere umfangreiche Umbauten. 1902 folgte zusätzlich die Umrüstung auf Rollenstromabnehmer und der Austausch der Fahrschalter durch Modelle der Union-Elektricitäts-Gesellschaft. Die alten 12-PS-Fahrmotoren ersetzte man durch 15-PS-Motoren. Weitere Maßnahmen betrafen die Umstellung der Kupplung von Trompeten- auf Trichterkupplung oder die Anpassung der Lackierung an das Farbschema der GBS mit tannengrünen Seitenwänden. 1903 erhielten die Wagen zudem neue Fahrgestelle der Bauart Neu-Berolina. Die Wagen waren nach dem Zusammenschluss zur Berliner Straßenbahn bis in die 1920er-Jahre im Fahrgasteinsatz anzutreffen. Ein Teil der Wagen diente danach als Arbeitswagen. Ebenfalls 1902 beschaffte die BCS noch 15 Berolina-Triebwagen. Die Fahrzeuge glichen den Berolina-Triebwagen der GBS. Die Fahrzeuge wurden 1920 von der Berliner Straßenbahn übernommen bis 1929 ausgemustert. Ein Triebwagen diente nach der Ausmusterung noch als Hilfsgerätewagen H11. Pfw – Pferdebahnwagen; Bw – Beiwagen; Tw – Triebwagen Der Pferdebahnwagen 1 aus dem Eröffnungsjahr 1865 ist als historisches Fahrzeug erhalten. Der Wagen wurde seit 1993 in der Monumentenhalle des Deutschen Technikmuseums Berlin aufbewahrt und ist das älteste vorhandene Straßenbahnfahrzeug Europas. Im Juni 2023 wurde der Wagen in die historischen Lokschuppen des Museums gebracht. Er soll dort Teil der neuen Dauerausstellung Schienenverkehr werden. Der Beiwagen 147 wurde zuletzt unter der Nummer 1688 im Zustand der 1930er-Jahre präsentiert. Das Fahrzeug wurde 2016 verschrottet. Die nachfolgende Tabelle bietet eine Übersicht über die bei der Berliner Pferde-Eisenbahn und Berlin-Charlottenburger Straßenbahn eingesetzten Fahrzeuge. Die Sortierung erfolgt numerisch nach der Wagennummer. Da das Unternehmen einen Großteil der Pferdebahnwagen nach der Elektrifizierung um die Jahrhundertwende ausmusterte, sind in der zweiten Spalte nur die Wagennummern berücksichtigt, die für den elektrischen Betrieb umgerüstet wurden. Geklammerte Nummern verweisen darauf, dass ein Pferdebahnwagen oder Beiwagen als Triebwagen genutzt wurde oder umgekehrt. Umnummerierungen, die nach 1920 stattgefunden haben, sind nicht berücksichtigt, Ausnahme sind die Nummern der bekannten Arbeitswagen. Fahrzeuge, die nur vorübergehend auf dem Netz verkehrten, etwa während der ersten Versuche mit Dampf- oder Akkumulatortriebwagen, sind nicht aufgeführt. Betriebshöfe Betriebshof Charlottenburg Der erste Betriebshof der BPfE befand sich am westlichen Streckenende an der Spandauer Straße 13/14, Ecke Sophie-Charlotten-Straße. Der Hof ging zeitgleich mit der Strecke 1865 in Betrieb. Die hölzerne, von einem Satteldach gedeckte Wagenhalle, maß 95 Meter in der Länge, der Stall fasste 128 Pferde. Hinzu kamen ein in Holzfachwerk errichtetes Wohnhaus, eine Wartehalle und eine Fahrkartenausgabe. 1871 wurde der Hof um einen zweigeschossigen Verwaltungsbau ergänzt. Vier Jahre darauf kamen eine zweite Wagenhalle sowie ein zweigeschossiger Stall hinzu. Für das Jahr 1876 werden ferner zwei weitere Ställe, Kontor, Waage und Treibhaus erwähnt. Bis zum Traktionswandel waren im Hof bis zu 100 Wagen und 300 Pferde beheimatet, die Wagenaufstellfläche war für bis zu 124 Wagen ausgelegt. Im Jahr 1900 erfolgte der Umbau des Hofes für den elektrischen Betrieb und die Erweiterung der Stellfläche für 187 Wagen, die Werkstatt wurde in den neu errichteten Hof Spreestraße verlegt. Nach dem Übergang zur GBS und ihren Nachfolgern erhielt der Hof die Nummer XVI beziehungsweise 16 zugeteilt. Mit der Inbetriebnahme des neuen Betriebshofes Charlottenburg in der Königin-Elisabeth-Straße wurde der alte Hof von 1865 geschlossen. Bis 1932 nutzte die BVG die Fläche zum Abstellen ausgemusterter Wagen, bis 1935 diente sie zudem einer Spedition zur Abstellung ihrer Fahrzeuge. Der Abriss erfolgte 1935, auf dem Gelände befinden sich seitdem Wohnungen. Betriebshof Spreestraße Im Rahmen der anstehenden Umstellung auf elektrischen Akkumulatorbetrieb ließ die BCS 1896/97 nach Plänen der S&H-Bauabteilung einen neuen Betriebshof errichten. Er umfasste das 8442 Quadratmeter große Grundstück Spreestraße 59, Charlottenburger Ufer 20–24 und Havelstraße 10–12. Die Zufahrten befanden sich in der Spree- und Havelstraße. Der Betriebshof verfügte über zwei jeweils zweigeschossige Wagenhallen, Verwaltungsbauten und ein Kraftwerk zur Stromerzeugung und Ladung der Akkumulatoren. Die Fassaden der Bauten waren mit Blendziegeln verkleidet. Die Hallen wurden von Satteldächern gedeckt, die Zwischendecken waren als Kappendecke angelegt. Die größere Wagenhalle an der Havelstraße verfügte im Untergeschoss über elf Aufstellgleise für 40 Wagen. Die kleinere Halle an der Spreestraße hatte je Geschoss fünf Gleise für insgesamt zehn Trieb- und fünf Beiwagen. Zwischen beiden Hallen befand sich eine Schiebebühne, die mit einem Wagenaufzug kombiniert war. In den Wagenhallen waren außerdem die Werkstätten untergebracht. Am 1. Juli 1906 gab die BCS die eigene Werkstatt auf. Sie ließ ihre Fahrzeuge fortan gegen Erstattung der Selbstkosten in den Werkstätten der GBS warten. Bereits 1921 wurde das nun nicht mehr benötigte Kraftwerk stillgelegt. Die schrittweise Stilllegung der Hallen erfolgte ab 1926 in Anbetracht des geplanten neuen Betriebshofs Charlottenburg in der Königin-Elisabeth-Straße. Die Hallen dienten danach verschiedenen Zwecken. Unter anderem nutzte das Bezirksamt Charlottenburg sie als „Haus des Sports“. Das Grundstück wurde in den 1950er-Jahren aufgeteilt. In den 1970er Jahren beschädigte ein Brand die größere Wagenhalle, die daraufhin wiederaufgebaut wurde. Im Frühjahr 2019 wurden die große Halle an der Arcostraße abgerissen und die nicht vorhandenen Gleisreste an der Hofeinfahrt entfernt, um Platz für eine seit 2014 auf dem Grundstück vorgesehene Wohnbebauung zu schaffen. Die kleinere Halle an der Wintersteinstraße ist weiterhin vorhanden. Wagenhallen Neben den beiden Betriebshöfen verfügte die BPfE beziehungsweise BCS über zwei Wagenhallen. Die Wagenhalle Zoologischer Garten befand sich auf einem vom Zoo gepachteten Gelände an der Lichtensteinbrücke, die genaue Lage ist nicht bekannt. Sie war für etwa zehn bis zwölf Wagen und 50 Pferde ausgelegt. Sie wurde mit Inbetriebnahme der Strecke am 3. Juli 1875 eröffnet und war bis zur Einstellung des Pferdebahnbetriebs im Februar 1901 in Nutzung. Am Spandauer Bock mietete die BCS um die Jahrhundertwende auf dem Grundstück des namensgebenden Lokals einen Schuppen zur Abstellung ausgemusterter Pferdebahnwagen an. Das Grundstück lag südlich der Spandauer Chaussee. Nach dem Verkauf der Wagen wurde der Schuppen wieder dem Eigentümer überlassen. Anmerkungen Literatur Neue Folge Bd. 19, Spalten 158–161; Google-Books Einzelnachweise Straßenbahn Berlin Straßenbahnbetrieb (Deutschland) Gegründet 1865 Aufgelöst 1919 Ehemaliges Verkehrsunternehmen (Berlin)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Fiqh%20al-aqall%C4%ABy%C4%81t
Fiqh al-aqallīyāt
Fiqh al-aqallīyāt () ist ein Konzept der islamischen Rechtstheorie, das seit Ende der 1990er Jahre insbesondere unter arabischsprachigen Muslimen diskutiert wird. Es zielt darauf ab, durch Rückgriff auf Idschtihād, also Findung von Normen durch eigenständige Urteilsbemühung, ein neues System islamischer Verhaltensnormen zu entwickeln, das Lösungen für die speziellen ethischen und religiösen Probleme der in den westlichen Ländern lebenden muslimischen Minderheiten bietet. Eine führende Rolle bei der Ausarbeitung des Konzepts übernahm Tāhā Dschābir al-ʿAlwānī (1935–2016), der Gründer und frühere Vorsitzende des Fiqh Council of North America (FCNA). Er prägte den Begriff und erstellte im Jahr 2000 eine der ersten Programmschriften zum Fiqh al-aqallīyāt. Nach al-ʿAlwānī soll das Minderheiten-Fiqh dabei helfen, „die psychische und geistige Spaltung zu überwinden, die die muslimischen Minderheiten speziell im Westen erleben, indem es sie zu einem Partner in diesen Gesellschaften im Glück und Unglück macht.“ 1999 wurde das Konzept durch den European Council for Fatwa and Research (ECFR) unter der Leitung von Yūsuf al-Qaradāwī übernommen. Al-Qaradāwī veröffentlichte 2001 ein eigenes Buch zum Minderheiten-Fiqh, in dem er die Meinung vertrat, dass der Minderheitenstatus der in den westlichen Ländern lebenden Muslime bestimmte normative Erleichterungen notwendig mache, die ansonsten für Muslime verboten wären. Er beschrieb „Integration ohne Assimilation“ als eines der Ziele des Minderheiten-Fiqh. Seit dieser Zeit war das Konzept Thema einer transnationalen islamischen Debatte. Die anhaltende Kritik an dem Konzept, insbesondere an den sozialen und politischen Implikationen des zugrundegelegten Minderheitenbegriffs, führte dazu, dass seine ursprünglichen Verfechter den Ausdruck Fiqh al-aqallīyāt nur noch selten verwendeten und sich stärker auf die Frage konzentrierten, wie sich das moderne Konzept der Staatsbürgerschaft mit islamischem Normensystem und islamischer Identität vertrage. Der Weg zum Fiqh al-aqallīyāt Vorgeschichte: Islamische Gelehrte und muslimische Minderheiten Obwohl Fiqh al-aqallīyāt ein relativ neues Konzept ist, haben sich schon früher islamische Rechtsgelehrte mit der Lebenssituation von Muslimen in nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaften befasst und für sie Fatwas produziert. Anfang des 20. Jahrhunderts erstellte der syro-ägyptische Scheich Raschīd Ridā (1865–1935) zahlreiche Fatwas für in der Minderheitensituation lebende Muslime. Sie erschienen in seiner bekannten panislamischen Zeitschrift al-Manār, die zwischen 1898 und 1935 in Kairo veröffentlicht wurde. Sowohl thematisch als auch hinsichtlich ihrer madhhab-kritischen und utilitaristischen Ausrichtung weisen diese Fatwas Ähnlichkeit mit dem heutigen Fiqh al-aqallīyāt auf. So vertrat Ridā zum Beispiel ähnlich wie die späteren Verfechter des Minderheiten-Fiqh die Auffassung, dass Muslime, wenn sie ihre Religion in nichtislamischem Gebiet ausüben können, nicht verpflichtet sind, auf islamisches Territorium auszuwandern. Ein weiterer Gelehrter, der sich schon früh mit den muslimischen Minderheiten befasste, war Yūsuf al-Qaradāwī. Er veröffentlichte in den 1960er Jahren im Auftrag des Scheich der Azhar sein Buch Das Erlaubte und das Verbotene im Islam speziell für die Muslime in den westlichen Ländern. Ende der 1970er Jahre wurde an arabischen Universitäten Forschung über muslimische Minderheiten durchgeführt, insbesondere an der König-Abdulaziz-Universität in Dschidda. In derselben Zeit begannen sich auch die Islamische Weltliga in Mekka und die Welt-Versammlung der Islamischen Jugend mit den muslimischen Minderheiten zu beschäftigen. Auch Taha Dschabir al-Alwani, ein irakischer Gelehrter, der 1973 an der Azhar eine Dissertation über Usūl al-fiqh erstellt hatte und seit 1975 an der Islamischen Universität Imam-Muhammad-ibn-Saud tätig war, fing in dieser Zeit an, sich mit den muslimischen Minderheiten im Westen zu befassen. Anlass dafür war, dass seiner Universität der Auftrag erteilt wurde, die saudischen Studenten, die zum Studium in die USA entsandt wurden, auf ihren dortigen Aufenthalt vorzubereiten. Als al-ʿAlwānī 1976 von der Muslim Students’ Association in die USA eingeladen wurde, schlugen ihm führende Vertreter dieser Organisation vor, eine Studie zur Normenlehre für die muslimischen Minderheiten vorzubereiten. Er schrieb damals auch tatsächlich einen Text über die ʿIbādāt – die gottesdienstlichen Verrichtungen –, konnte diesen jedoch lange nicht vollenden. Aufbau von Fiqh-Gremien in westlichen Ländern Desgleichen begannen ab den 1970er Jahren im Westen lebende Muslime selbst Anstrengungen zu unternehmen, Scharia-konforme Lösungen für Alltagsprobleme der muslimischen Minderheiten zu finden. Zakī Badawī hat nach eigener Aussage zu diesem Zweck 1978 mit anderen Imamen in Großbritannien den United Kingdom Shari'ah Council gegründet, den Londoner Islamischen Scharia-Rat. Tāhā al-ʿAlwānī, der 1983 in die USA umsiedelte und 1984 eine Position am International Institute of Islamic Thought (IIIT) in Herndon (Virginia) übernahm, unternahm ähnliche Bemühungen in Nordamerika. 1985 begann er Fragen zu sammeln, die damals die muslimische Gemeinde in den USA bewegten, mit dem Ziel, diese der neu gegründeten Islamischen Fiqh-Akademie zur Beantwortung vorzulegen. Da aber dort die Beratungen über die Fragen äußerst schleppend verliefen und al-ʿAlwānī die schließlich erhaltenen Antworten wegen ihrer konservativen Ausrichtung sehr unbefriedigend fand, wuchs bei ihm die Überzeugung, dass es notwendig sei, selbst eine Normenlehre für die muslimischen Minderheiten zu entwickeln. 1988 wurde er zum Vorsitzenden des neu gegründeten Fiqh-Rates von Nordamerika berufen, dessen Aufgabe es nach den Statuten sein sollte, „ein Fiqh für die in nichtislamischen Ländern lebenden Muslime zu entwickeln.“ Al-ʿAlwānī selbst arbeitete in dieser Zeit eine Studie über die Annahme der Staatsbürgerschaft nichtmuslimischer Staaten durch Muslime aus. Ab dem Jahr 1992 hielten die französische Union des organisations islamiques de France (UOIF) und die mit ihr verbundene Föderation Islamischer Organisationen in Europa (FIOE) Seminare zum islamischen Recht ab. 1997 gründete die FIOE den European Council for Fatwa and Research (ECFR). Die Aufgabe dieses Gremiums mit Sitz in Dublin sollte es sein, eine Normenlehre für die in Europa lebenden Muslime auszuarbeiten, die zeitgemäß sein sollte und Zeit, Ort, Brauch sowie Lebensumstände berücksichtigte. Geleitet wurde das Gremium von Yūsuf al-Qaradāwī. Er befasste sich in dieser Zeit ohnehin schon viel mit den Fragen muslimischer Minderheiten, so in der jeden Sonntagabend ausgestrahlten Sendung Die Scharia und das Leben in dem arabischen Fernsehsender Al Jazeera und auf der von ihm unterhaltenen Website IslamOnline, die viel auf die muslimischen Minderheiten im Westen und Osten einging. Entstehung und Verbreitung der Idee vom Fiqh al-aqallīyāt Al-ʿAlwānī war es allerdings, der als erster den Ausdruck Fiqh al-aqallīyāt verwendete, und zwar 1994, als der FCNA unter seiner Leitung eine Fatwa ausstellte, der zufolge es amerikanischen Muslimen erlaubt ist, aktiv an Wahlen teilzunehmen. Bei einer Diskussion im IIIT, die im selben Jahr stattfand, beschrieb er das Fiqh al-aqallīyāt als einen neuen Namen für das, was in der malikitischen Rechtsschule in früheren Zeiten als „Jurisprudenz der Vorfälle“ (fiqh an-nawāzil) bezeichnet wurde, in der man sich mit der normativen Beurteilung bestimmter Vorfälle beschäftigte. Yusuf Talal DeLorenzo, der Sekretär des Fiqh-Rates von Nordamerika, vertiefte 1998 in einem Aufsatz den Gedanken einer Kontinuität des Fiqh al-aqallīyāt zum Fiqh an-nawāzil und erklärte: „Da das traditionelle Fiqh des Islam im Wesentlichen das Fiqh des historischen muslimischen Staates und seiner muslimischen Mehrheit ist, schenkt es dem Fiqh der muslimischen Minderheiten keine Beachtung, außer in Form der Nawāzil, die in verschiedenen Zeiten der Krise ausgestellt wurden, so während der Mongoleneinfälle, der Kreuzzüge oder während der Morisken-Periode der andalusischen Geschichte.“ Als 1996 die Graduate School of Islamic and Social Sciences (GSISS) in Ashburn (Virginia) gegründet wurde, sorgte al-ʿAlwānī dafür, dass das Minderheiten-Fiqh als obligatorisches Fach in den Lehrplan aufgenommen wurde. Nadia Mahmud Mustafa, eine ägyptische Professorin der Politikwissenschaft, die mit dem IIIT verbunden ist, entwickelte einen Kurs über die „politische Jurisprudenz der muslimischen Minderheiten“ (al-fiqh as-siyāsī li-l-aqallīyāt al-muslima) für die United Arab Emirates University. Später wurde das Minderheiten-Fiqh auch Unterrichtsfach an der privaten Islamic American University in Southfield, Michigan. Das Konzept des Fiqh al-aqallīyāt war 1997 auch in den arabischen Ländern schon so verbreitet, dass der Fernsehsender al-Jazeera ihm im November dieses Jahres eine eigene Folge seiner populären Sendung Die Scharia und das Leben widmete. Yūsuf al-Qaradāwī, der zu dieser Sendung wie sonst auch meist als Gast eingeladen war, stand damals dem Ausdruck noch skeptisch gegenüber und zog den Begriff Fiqh al-ightirāb („Jurisprudenz des Lebens in der Fremde“) vor. Als er 1999 die erste Fatwa-Sammlung des ECFR herausgab, hatte er mit diesem Konzept aber keine Probleme mehr. In der Vorrede zu dieser Sammlung verwendet er es zur Rechtfertigung der Existenz des ECFR als eines separaten Fiqh-Gremiums neben den großen islamischen Fiqh-Akademien wie der Islamischen Forschungsakademie in Kairo, der Fiqh-Akademie der Organisation der islamischen Konferenz in Dschidda und der Fiqh-Akademie der Islamischen Weltliga: Der ECFR, so sagte er, mache diesen Gremien keine Konkurrenz, sondern ergänze sie nur auf einem Spezialfeld der Normenlehre, nämlich dem Fiqh al-aqallīyāt. Der ECFR wurde in den folgenden Jahren zu einem der wichtigsten Foren zur Diskussion und Verbreitung der verschiedenen Vorstellungen vom Minderheiten-Fiqh. Im Jahre 2004, nachdem bereits mehrere Bücher zum Minderheiten-Fiqh erschienen waren, bekannte sich der ECFR in seiner Zeitschrift zur Rechtmäßigkeit (mašrūʿīya) dieses Konzepts und erklärte, dass er es beim normenwissenschaftlichen Idschtihād sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Ebene als methodische Grundlage verwende. Die ersten Ausarbeitungen des Konzepts Tūbūlyāk (1997) und ʿAbd al-Qādir (1997/1998) Versuche, eine Normenlehre für muslimische Minderheiten zu entwickeln, erfolgten in den 1990er Jahren auch in Form von akademischen Qualifikationsarbeiten, die den Scharia-Fakultäten von Universitäten in Marokko, in Saudi-Arabien und im Libanon vorgelegt wurden. Ihre Verfasser waren Studierende, die aus Europa stammten oder ein spezielles Interesse an Europa hatten. 1996 verteidigte der bosnische Wissenschaftler Sulaimān Muhammad Tūbūlyāk an der Juristischen Fakultät der Universität von Jordanien eine Master-Arbeit mit dem Titel „Die politischen Regeln für die muslimischen Minderheiten in der islamischen Jurisprudenz“ (al-Aḥkām as-siyāsīya li-l-aqalliyāt al-muslima fī l-fiqh al-islāmī). Darin wies er die malikitische Auffassung zurück, wonach Muslime zur Auswanderung aus nichtislamischen Gebieten verpflichtet sind, und machte sich für die schon von Raschīd Ridā vertretene Meinung stark, dass Muslime weiter unter Ungläubigen leben dürfen, solange sie dort ihre Religion ausüben dürfen. Tūbūlyāks Buch wurde 1997 in Amman und Beirut veröffentlicht. Eine ähnliche Ausrichtung hatte das Buch mit dem Titel „Aus der Jurisprudenz der muslimischen Minderheiten“ (Min fiqh al-aqallīyāt al-muslima) des libanesischen Gelehrten Chālid Muhammad ʿAbd al-Qādir (geb. 1961), das 1997 vom Katarischen Religionsministerium in der renommierten Reihe Kitāb al-Umma veröffentlicht worden ist. Es ist das erste Buch, das den Begriff Fiqh al-aqallīyāt im Titel führt. ʿAbd al-Qādir ist ein ehemaliger Schüler von Yūsuf al-Qaradāwī und hat bei ihm in Katar studiert. Bei dem Buch handelt sich um eine Kurzversion der Magister-Arbeit, die ʿAbd al-Qādir 1994 an der Hochschule Imam al-Auzāʿī in Beirut erstellt hatte. 2003 gab das Ägyptische Religionsministerium eine englische Übersetzung der Kurzversion des Textes heraus. Eine Langversion von ʿAbd al-Qādirs Dissertation erschien 1998 unter dem Titel „Jurisprudenz der muslimischen Minderheiten“ (Fiqh al-aqallīyāt al-muslima) im Libanon. Das Buch ist in drei Kapitel eingeteilt, von denen das erste die internationalen Beziehungen (S. 18–187), das zweite die Regeln für die gottesdienstlichen Handlungen und Moscheen (S. 189–363) und das dritte die gesellschaftlichen Beziehungen (S. 365–680) beschreibt. Die einzelnen Kapitel bestehen aus einer Serie von Antworten zu Fragestellungen, die für muslimische Minderheiten von Belang sind, wie die Regelung des Ritualgebets und die Finanztransaktionen in der Minderheitensituation. Auch die Frage der Reinheit von Hunden und Ungläubigen, die Kombination von Ritualgebeten und die Eheschließung mit einer Nichtmuslimin sowie die Frage des Fastens bei extrem langen Tageslängen in den Polargebieten werden behandelt. Tāhā Dschābir al-ʿAlwānī (1999/2000) ʿAbd al-Qādirs Buch behandelte zwar verschiedene Einzelfragen, die mit dem dauerhaften Aufenthalt von Muslimen in nichtislamischen Ländern zusammenhängen, befasste sich jedoch nicht mit dem Konzept des Minderheiten-Fiqh selbst. Eine erste theoretische Ausarbeitung erfuhr dieses Konzept in al-ʿAlwānīs Essay Madḫal ilā Fiqh al-aqallīyāt („Einführung in die Minderheitenjurisprudenz“), der im Winter 1999/2000 in der vom IIIT herausgegebenen Zeitschrift Islāmīyat al-maʿrifa („Die Islamisierung des Wissens“) veröffentlicht wurde. Der kurze Text wurde in der Folgezeit mehrfach in verschiedenen Abwandlungen erneut publiziert, so schon im Juni 2000 in Ägypten in einer der „islamischen Aufklärung“ gewidmeten Buchreihe unter dem Titel Fī fiqh al-aqallīyāt al-muslima („Über das Fiqh der muslimischen Minderheiten“). Ein Jahr später erschien er in einer Kurzversion unter dem Titel Naẓarāt taʾasīsīya fī fiqh al-aqallīyat („Grundlegende Betrachtungen über das Minderheiten-Fiqh“) auf der arabischen Website Islamonline.net. Der kuwaitische Gelehrte ʿUdschail Dschāsim an-Naschamī, der selbst Mitglied des ECFR ist, hat al-ʿAlwānīs Programmschrift einen kritischen Kommentar gewidmet, der 2005 in der Zeitschrift des ECFR veröffentlicht wurde. Al-ʿAlwānīs Text wurde auch ins Englische, Französische und Russische übersetzt. Die englische Übersetzung, zu der Zakī Badawī eine Vorrede verfasste, wurde 2003 vom IIIT unter dem Titel „Towards a Fiqh for Minorities. Some Basic Reflections“ herausgegeben. In einer neu hinzugefügten Einleitung nimmt al-ʿAlwānī auf den Schock Bezug, den die Anschlägen vom 11. September 2001 bei Muslimen und Amerikanern ausgelöst haben, und betont, dass dadurch der Bedarf an einem neuen Fiqh für die muslimischen Minderheiten im Westen größer geworden sei als je zuvor. Dschamāl ad-Dīn ʿAtīya (2000/2001) Ein weiterer Beitrag zum Thema war der 2000/2001 veröffentlichte Essay „Hin zu einem neuen Minderheiten-Fiqh“ (Naḥwa fiqh ǧadīd li-l-aqallīyāt) des ägyptischen Rechtsdenkers Dschamāl ad-Dīn ʿAtīya Muhammad (1928–2017). Er wurde 2003 erneut als eigenständiges Buch veröffentlicht. Dieser Essay stellt insofern eine Ausnahme dar, als er sich nicht nur mit den muslimischen Minderheiten außerhalb der islamischen Länder befasst, sondern mit religiösen, ethnischen, sprachlichen und kulturellen Minderheiten ganz allgemein. Yūsuf al-Qaradāwī (2001) Im Jahre 2001 veröffentlichte Yūsuf al-Qaradāwī sein eigenes Buch zum Minderheiten-Fiqh mit dem Titel „Über die Jurisprudenz der muslimischen Minderheiten: Das Leben der Muslime in den anderen Gesellschaften“ (Fī fiqh al-aqallīyāt al-muslima: ḥayāt al-muslimīn fī l-muǧtamaʿāt al-uḫrā). Wie er selbst in der Vorrede schreibt, kam er damit der Bitte des Generalsekretariats der Islamischen Weltliga nach, das ihn ersucht hatte, ein Buch über die normenwissenschaftlichen Probleme der muslimischen Minderheiten im Westen abzufassen. In der Vorrede verortet al-Qaradāwī seine Publikation auch in den bisherigen Debatten über das islamische Recht im Westen und hebt sein eigenes früheres Engagement für die muslimischen Minderheiten hervor. Diese vielfältige wissenschaftliche Aktivität um die muslimischen Minderheiten bedürfe jedoch einer schariarechtlichen Grundlegung, „die die Einzelregelungen auf ihre Grundlagen und die Partikularien auf die Universalien zurückführt und die Regeln begründet, die notwendig sind, um eine wissenschaftliche Methodik für dieses Fiqh festzulegen.“ Der erste Teil des Buches, der aus einer theoretischen Darlegung der Problematik der muslimischen Minderheiten und ihrer Lösung durch das Minderheiten-Fiqh besteht, umfasst drei Kapitel. Das erste ist den muslimischen Minderheiten und ihren Problemen hinsichtlich der islamischen Normenlehre gewidmet (S. 15–29). Das zweite Kapitel behandelt die sieben Ziele sowie verschiedene Besonderheiten und Quellen des Minderheiten-Fiqh (S. 30–39). Al-Qaradāwī präsentiert sein Buch hier als Antwort auf an ihn gerichtete Fragen von Muslimen im Westen, die von ihm eine systematische Abhandlung zur Normenlehre der muslimischen Minderheiten in den nichtmuslimischen Gesellschaften wünschten. Diese Minderheiten außerhalb des Dār al-Islām, also der Gebiete außerhalb der islamischen Herrschaft, bedürfen seiner Auffassung nach einer speziellen Normenlehre, weil „sie gezwungen sind, entsprechend den Regeln und Gesetzen jener Gesellschaft zu handeln, obwohl einige von ihnen im Widerspruch zur Scharia des Islams stehen.“ In einem eigenen Abschnitt (S. 34f.) nennt al-Qaradāwī für das angestrebte Minderheiten-Fiqh sieben Ziele. Im dritten Kapitel erörtert er neun Grundpfeiler (rakāʾiz asāsīya), die das Minderheiten-Fiqh mehr als jedes andere Fiqh berücksichtigen müsse (S. 40–60). Der zweite Teil des Buchs, der fast zwei Drittel (S. 61–188) einnimmt, besteht aus Anwendungsbeispielen für das Minderheiten-Fiqh in Form einer Sammlung von 15 Fatwas. Al-Qarādāwī geht hier auf einzelne Fragestellungen und Probleme von Muslimen in nichtmuslimischen Gesellschaften ein und zeigt, wie sich unter Beachtung der von ihm zuvor genannten methodischen Vorgaben Lösungen entwickeln lassen. Die Fatwas sind auf vier Themenbereiche (1. Glaubensgrundsätze und gottesdienstliche Handlungen, 2. Familienrecht, 3. Speisen und Getränke, 4. Umgang mit der nichtmuslimischen Umgebung) aufgeteilt und variieren stark in ihrer Länge. Im vierten Themenbereich wird sehr ausführlich die Frage behandelt, ob der Kauf eines Hauses mit Hilfe eines verzinsten Darlehens für Muslime zulässig sei. Der betreffende Abschnitt nimmt ein Viertel des ganzen Buches ein. Al-Qaradāwīs Buch wurde im April 2002 auf der Vierten Allgemeinen Islamischen Konferenz der Islamischen Weltliga in Saudi-Arabien der Öffentlichkeit vorgestellt. Durch die Al-Falah Foundation, einen der Muslimbruderschaft nahestehenden Verlag in Kairo, wurde es auch ins Englische und Französische übersetzt. Diese Übersetzungen enthalten allerdings nicht den ersten Teil des Buchs, in dem al-Qaradāwī sein theoretisches Verständnis des Fiqh-al-aqallīyāt-Konzeptes entwirft, weil die Herausgeber meinten, dass dieses zu fachsprachlich sei und deswegen auf kein großes Interesse bei den Lesern stoßen würde. ʿAbd al-Madschīd an-Naddschār (2003/04) Ein weiterer Gelehrter, der sich um eine Theoretisierung des Minderheiten-Fiqh bemühte, war der in Paris lebende tunesische Intellektuelle ʿAbd al-Madschīd an-Naddschār. Er veröffentlichte 2003 in der Zeitschrift des ECFR einen Artikel mit dem Titel „Hin zu einer grundlegenden Methode für das Minderheiten-Fiqh“ (Naḥwa manhaǧ uṣūlī li-fiqh al-aqallīyāt). Dort nennt er fünf leitende Prinzipien für diese Disziplin: 1. Bewahrung des religiösen Lebens für die muslimische Minderheit; 2. Das Streben nach der Bekanntmachung des Islams; 3. Grundlegung für ein zivilisatorisches Fiqh, das sich nicht auf den Gottesdienst beschränkt; 4. Grundlegung für ein kollektives Fiqh, das die muslimische Gemeinschaft als Ganzes läutert; und 5. Orientierung an bestimmten rechtstheoretischen Regeln, die für das Fiqh al-aqallīyāt angepasst werden müssen. Als rechtstheoretische Regeln, an denen sich das Minderheiten-Fiqh orientieren soll, nennt er beispielhaft: a) die Regel, dass die Handlungsresultate (maʾālāt al-afʿāl) maßgeblich sind, b) den Grundsatz, dass Zwangslagen verbotene Dinge erlaubt machen, und c) die Notwendigkeit der Abwägung zwischen nützlichen und schädlichen Aspekten einer Sache. In einer zweiten Untersuchung, die 2004 in der ECFR-Zeitschrift veröffentlichte wurde, hat an-Naddschār das rechtstheoretische Konzept der Handlungsresultate, das auf den andalusischen Gelehrten des 14. Jahrhunderts Abū Ishāq asch-Schātibī zurückgeht, und seine Bedeutung für das Minderheiten-Fiqh noch weiter ausgeführt. Inhaltliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede Daʿwa als ideologische Grundlage des Minderheiten-Fiqh Nach Andrew F. March ist die wichtigste Grundlage für die Theoretisierung des Minderheiten-Fiqh das Konzept der Daʿwa. Tatsächlich spielt dieses Konzept eine sehr wichtige Rolle in den Büchern zum Minderheiten-Fiqh. ʿAbd al-Qādir zum Beispiel stellt am Anfang seines Buches fest, dass der Islam alle anderen offenbarten Religionen abrogiere, sie also inhaltlich, da später, ablöse, und die Vorherrschaft über sie habe; die Lehren, die im Widerspruch zum Islam stehen, seien Irrtum und falsche Reden. Grundlage der Beziehung des Islams zu den Angehörigen anderer Religionen sei die Daʿwa. Diejenigen im Irrtum zu lassen, die nichtiges Zeug reden, sei ein Unrecht, über das der Islam nicht schweigen könne. Vielmehr hätten die Muslime die Aufgabe, diesen Zustand nach Möglichkeit zu ändern. Diese „emanzipatorische Daʿwa“ (daʿwa taḥrīrīya) sei gekommen, um den Menschen, und zwar jeden Menschen, mit dem Himmel zu verbinden. ʿAbd al-Qādir verweist darauf, dass die Mehrheit der klassischen islamischen Rechtsgelehrten der Auffassung war, dass die Grundlage der Beziehung zwischen Islam und Unglauben Krieg sei, Frieden lediglich eine Ausnahmesituation aufgrund eines Notstands darstelle und die Grundlage für diesen Krieg der Unglaube sei. Er selbst sieht jedoch nur dann einen Grund zum Krieg gegen Nichtmuslime gegeben, wenn sie sich der Daʿwa feindselig entgegenstellen. In diesem Fall müsse sie der muslimische Staat „mit Macht und Härte überraschen“. Der Herausgeber der Buchreihe, in der die Kurzversion seines Buches erschien, der syrische Journalist ʿUmar ʿUbaid Hasana, hob in seiner Einführung die Notwendigkeit der Präsenz von muslimischen Minderheiten in den nichtislamischen Ländern für die Daʿwa hervor und verwies auf verschiedene historische Präzedenzfälle, in denen die Migration von Muslimen in nichtislamische Gebiete zur Verbreitung des Islams geführt habe. Auch al-Qaradāwī hebt die Notwendigkeit der muslimischen Präsenz im Westen hervor. Sie wird von ihm damit begründet, dass die Muslime mit dem Islam eine „globale Botschaft“ hätten und der Westen eine führende Stellung in der Welt einnehme. Wenn es nicht schon eine islamische Präsenz im Westen gäbe, so hätten die Muslime die Pflicht, eine solche Präsenz zu schaffen, damit sie „diesen starken machtvollen Westen nicht allein dem jüdischen Einfluss überlassen“. Bei Betrachtung der Geschichte könne man erkennen, dass individuelle Muslime, Händler, Sufis und andere, die aus ihren Heimatländern in verschiedene Gebiete Asiens und Afrikas auswanderten und sich mit der lokalen Bevölkerung mischten, von großer Bedeutung für die Verbreitung des Islams gewesen seien, weil sie dazu führten, dass in den betreffenden Gebieten die Menschen einzeln oder kollektiv zum Islam konvertierten. Das Minderheiten-Fiqh soll nach al-Qaradawī die muslimische Gemeinschaft dazu befähigen, die Aufgabe der Verkündigung der „globalen Botschaft des Islams“ (risālat al-islām al-ʿālamīya) gegenüber denjenigen wahrzunehmen, mit denen sie zusammenleben, um mit ihnen auf gute Weise das Gespräch zu führen, wie es Sure 16:25 verlangt. Neukonzeptionalisierung des geographischen Raums Alle Verfechter des Minderheiten-Fiqh haben die Gemeinsamkeit, dass sie die Bezeichnung Dār al-harb („Haus des Krieges“) für den Westen ablehnen. Allerdings halten sie an einer Aufteilung des geographischen Raumes fest. Während ʿAbd al-Qādir die islamischen Länder als Dār al-Islām und die nichtislamischen als Dār al-kufr („Haus des Unglaubens“) bezeichnet, meidet al-Qaradāwī auch diesen Begriff und spricht lieber von dem „Unterschied zwischen dem Dār al-Islām und den anderen Gebieten“. Dieser Unterschied ist allerdings so gravierend, dass er alle anderen geographischen Unterschiede wie diejenigen zwischen Stadt und Dorf, Sesshaften und Nomaden oder Nordländern und Südländern in den Schatten stellt, und zwar deswegen, „weil das Dār al-Islām dem Muslim hilft, islamische Gebote und Verbote einzuhalten, während anderen Gebieten dieser Vorteil fehlt.“ Die Zulässigkeit des Aufenthaltes in einem nichtmuslimischen Land, bzw. dem Dār al-kufr, steht für al-Qaradāwī außer Frage, „denn wenn wir das verboten hätten, wie es sich einige Gelehrte denken, dann hätten wir das Tor des Rufs zum Islam und seiner Verbreitung in der Welt verschlossen, und der Islam hätte sich immer nur auf die arabische Halbinsel beschränkt und wäre nie aus ihr herausgekommen.“ Al-ʿAlwānī verwirft die traditionellen islamischen Bezeichnungen für die Aufteilung der Welt vollständig. Dies ergibt sich für ihn aus der Notwendigkeit, das koranische Konzept der Geographie zu übernehmen. Ihm zufolge gehöre die Erde Gott und der Islam sei seine Religion. Infolgedessen sei jedes Land Dār al-Islām, entweder reell in der Gegenwart oder potentiell in der Zukunft. Am Ende seines Buches führt er diesen Gedanken noch weiter aus. Er meint, dass sich die Angehörigen der muslimischen Minderheiten nicht an die historische Fiqh-Terminologie von Dār al-islām und Dār al-kufr gebunden fühlen, sondern von der koranischen Sichtweise ausgehen sollten, die sich in Sure 7:128 („Siehe, die Erde gehört Gott. Er vererbt sie denen seiner Knechte, die er will.“) und Sure 21:105 („Wir schrieben im Psalter, nach der Mahnung, dass meine frommen Knechte die Erde zum Erbe bekommen werden“) zeigt. Deswegen sollten die Muslime ihren Aufenthalt in einem Land auch nicht als zufällig oder vorübergehend betrachten, sondern als dauerhaft und nach und nach anwachsend. Al-ʿAlwānī ruft in einem eigenen Abschnitt den Muslimen in Erinnerung, dass sie „die beste Umma, die den Menschen hervorgebracht wurde“, sind, wie der Koran in Sure 3:110 sagt. Ihre Vorzugsstellung manifestiere sich darin, dass sie von Gott damit beauftragt seien, die Menschen aus der Dunkelheit ins Licht zu führen. Sie dürften sich deshalb auch nicht auf einen geographischen Raum beschränken, sondern müssten jedes Land als Dār al-Islām betrachten, in dem der Muslim seine Religion sicher leben kann, selbst wenn er unter einer nichtmuslimischen Mehrheit lebt. Das Dār al-kufr sei umgekehrt jedes Land, in dem der Gläubige seine Religion nicht sicher leben könne, selbst wenn alle Bewohner der islamischen Religion und Kultur angehören. Zur Begründung dieser Auffassung verweist al-ʿAlwānī auf eine bei Ibn Hadschar al-ʿAsqalānī zitierte Aussage von al-Māwardī, eines Rechtsgelehrten vornehmlich des 11. Jahrhunderts. Er soll gesagt haben: „Wenn (der Muslim) die Religion in einem der Länder des Dār al-harb offen zeigen kann, dann wird dadurch das Land zum Dār al-Islām. Sich in diesem Land aufzuhalten, ist dann verdienstvoller als von dort abzureisen, weil erwartet werden kann, dass andere zum Islam konvertieren.“ Als Alternative für die geographischen Bezeichnungen Dār al-harb und Dār al-Islām empfiehlt al-ʿAlwānī die Begriffe Dār ad-daʿwa („Haus des Rufs [sc. zum Islam]“) und Dār al-idschāba („Haus der Beantwortung [sc. des Rufs]“). Die Menschen könne man analog gliedern in Ummat ad-daʿwa („Gemeinschaft des Rufs“), d. h. die Nichtmuslime, und Ummat al-idschāba („Gemeinschaft der Beantwortung“), d. h. die Muslime. Schon der persische Gelehrte des 12. Jahrhunderts Fachr ad-Dīn ar-Rāzī soll diese Begriffe verwendet haben. Neugestaltung der Beziehung zu den Nichtmuslimen Ein wichtiges Thema der Abhandlungen zum Minderheiten-Fiqh ist auch die Beziehung zu den Nichtmuslimen. Ausführlich erörtert zum Beispiel ʿAbd al-Qādir die Frage der Loyalität von Muslimen gegenüber Nichtmuslimen. Er weist darauf hin, dass schon immer unter den muslimischen Rechtsgelehrten ein Konsens darüber bestanden habe, dass der Muslim sich nicht an Leben oder Vermögen der Ungläubigen vergreifen dürfe, wenn zwischen ihm und ihnen ein Schutzvertrag bestehe, weil dieser eine gegenseitige Pflicht zur Schutzgewährung nach sich ziehe. Außerdem befasst sich ʿAbd al-Qādir eingehend mit dem koranischen Verbot einer Loyalitätsbeziehung (muwālāt) zu Juden und Christen (Sure 5:51) bzw. mit Ungläubigen (Sure 3:28). Er meint, dass sich dieses Verbot allein auf Hilfe (nuṣra), Gefolgschaft (ittibāʿ), Liebe (ḥubb) und Billigung (riḍā) beschränke. Das Verbot bedeute aber nicht, dass Muslime Ungläubigen keine Wohltaten erweisen dürften. Es sei im Gegenteil durchaus zulässig, sie mit Freundlichkeit zu behandeln, ihnen gegenüber tolerant, gütig, gerecht und gastfreundlich zu sein, mit ihnen Geschenke auszutauschen und in Darlehensbeziehungen zu treten, sie zu besuchen usw. Verboten sei es nur, die Glaubenslehren und religiösen Praktiken der Ungläubigen gutzuheißen. Doch könne der Islam zusammen mit der Religion der Ahl al-kitāb eine Front gegen den Atheismus bilden. Als Beleg dafür, dass Anständigkeit im Umgang mit Nichtmuslimen nicht verboten sei, verweist ʿAbd al-Qādir auf die von Ibn Taimīya überlieferte Aussage: „Es ist niemandem erlaubt, jemanden Unrecht zuzufügen, selbst wenn er ein Ungläubiger ist.“ Nach al-ʿAlwānī sollen die beiden folgenden Koranverse die goldene Regel für die Beziehung der Muslime zu Andersgläubigen bilden: „Gott verbietet euch nicht, freundlich zu sein zu denen, die euch nicht der Religion wegen bekämpften und nicht aus euren Häusern vertrieben, und sie gerecht zu behandeln. Gott verbietet euch nur, diejenigen zum Freund zu nehmen, die euch wegen eurer Religion bekämpften und euch aus euren Häusern vertrieben und anderen bei eurer Vertreibung halfen. Wer sich sie zum Freund nimmt, der gehört zu den Frevlern“ (Sure 60:8–9). Diese beiden Verse definieren nach al-ʿAlwānī die ethische und rechtliche Grundlage, nach der Muslime Andersgläubige behandeln sollen, nämlich Güte und Gerechtigkeit gegenüber jedem, der ihnen nicht die Feindschaft angesagt hat. Alle neu auftretenden Fälle sollen auf dieser Grundlage entschieden werden. Die heutigen Muslime, die in westlichen Staaten Zuflucht gesucht haben, sieht al-ʿAlwānī in einer ähnlichen Lage wie die ersten Anhänger Mohammeds in Mekka, die vor der Verfolgung durch die Quraisch nach Abessinien auswanderten. Die Gewinnung der Freundschaft anderer Menschen habe ihnen geholfen, ihre Religion zu schützen und ihre Interessen zu wahren. An diesem Beispiel sollten sich die Muslime heute orientieren. Als besonders vorbildlich sieht al-ʿAlwānī die Verhaltensweise von Dschaʿfar ibn Abī Tālib an, der die Verhandlungen mit dem Negus geführt haben soll. Wie berichtet wird, verweigerte er die von ihm verlangte Prosternation vor dem Herrscher, doch konnte er trotzdem dessen Sympathie für die Muslime gewinnen, so dass der Herrscher am Ende zum Islam konvertierte. Befürwortung politischer Partizipation ʿAbd al-Qādir meint, dass Muslime in Staaten, die dem Dār al-kufr angehören, auch politische Ämter übernehmen dürfen. Er verweist zur Begründung auf die Aussage Yūsuf al-Qaradāwīs, dass eine Nichtteilnahme am politischen System dazu führe, dass die Muslime isoliert würden und im Dunkeln blieben. Al-Qaradāwī selbst nennt als eines der Ziele des Minderheiten-Fiqh, dass es zur Ausbildung und Aufklärung der Minderheiten beitragen soll, so dass sie ihre religiösen, kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Rechte und Freiheiten wahrnehmen können, die in der Verfassung verbrieft sind. Al-ʿAlwānī betont, dass die Partizipation der muslimischen Minderheiten am politischen Leben des Landes, in dem sie sich aufhalten, nicht ein schlechter Zustand sei, der nach einer Konzession legitimiert werden müsse, sondern die Wahrnehmung einer positiven Pflicht und zivilisatorischen Aktivität. In den Gesellschaften, in denen sie leben, sollten die muslimischen Minderheiten für ihre Rechte einstehen und sich nicht mit Unrecht abgeben. Dies entnimmt al-ʿAlwānī den beiden Koranversen Sure 26:227 und 42:39, in denen diejenigen Gläubigen gelobt werden, die sich selbst helfen, wenn ihnen Unrecht angetan wird. Positive Interaktion mit der aufnehmenden Gesellschaft als Ziel Nach al-Qaradāwī soll das Minderheiten-Fiqh den muslimischen Minderheiten helfen, die „Essenz der islamischen Eigenart“ (ǧauhar aš-šaḫṣīya al-islāmīya) mit ihren Glaubenslehren, kultischen Bräuchen (šaʿāʾir) und Werten zu bewahren, so dass sie imstande sind, ihre Kinder auf ihrer Grundlage aufzuziehen. Die eigentlich schwierige Aufgabe bestehe allerdings darin, das Gleichgewicht zu halten zwischen der Aufrechterhaltung der muslimischen Eigenart auf der einen Seite und dem Streben nach Integration in und Einflussnahme auf die sie umgebende Gesellschaft auf der anderen Seite. Al-Qaradāwī hebt in seinem Buch hervor, dass die muslimische Minderheit sowohl Teil der islamischen Umma als auch Teil der spezifischen Gesellschaft sei, in der sie lebe. Es sei unumgänglich, beide Seiten zu berücksichtigen, „in der Weise, dass wir keiner das Übergewicht über die andere geben und keine auf Kosten der anderen aufblähen.“ Nach al-Qaradāwī lässt sich der Weg der muslimischen Minderheiten im Zeitalter des Islamischen Erwachens in sieben Phasen einteilen: 1. das Erkennen der Identität (aš-šuʿūr bi-l-huwīya), 2. das Aufwachen (al-istīqāẓ), 3. der Aufbruch (taḥarruk), 4. die Sammlung (at-taǧammuʿ), 5. der Aufbau (al-bināʾ), 6. die Niederlassung (at-tauṭīn) und 7. die Interaktion (at-tafāʿul). Die Muslime befänden sich jetzt in dieser letzten Phase der positiven Interaktion mit der aufnehmenden Gesellschaft. Eines der Ziele des Minderheiten-Fiqhs sei es, diese positive Interaktion zu fördern. Es soll der muslimischen Minderheit zu Flexibilität und geregelter Öffnung zu verhelfen, so dass sie sich nicht auf sich selbst zurückziehe und gegenüber der aufnehmenden Gesellschaft abkapsle, sondern eben mit ihr positiv interagiere, in der Weise, dass die Muslime ihr das Beste geben, was sie zu bieten haben, und von dieser Gesellschaft das Beste übernehmen, was sie zu bieten hat. Auf diese Weise soll die islamische Gemeinschaft den schwierigen Ausgleich verwirklichen: „Bewahrung ohne Abschottung“ (muḥāfaẓa bi-lā inġilāq) und „Integration ohne Assimilation“ (indimāǧ bi-lā ḏawabān). Ansatzweise formuliert diesen Gedanken auch schon al-ʿAlwānī. Er meint, dass die Muslime in positiver Weise an den Mehrheitsgesellschaften partizipieren sollten, auch wenn dies „eine gewisse Höflichkeit in einem Dunkelbereich“ (nauʿ min al-muǧāmala fī nauʿ min al-ġabaš) erfordere, der nicht die Essenz des Glaubens und die Grundlagen der Religion berühre. Unrecht und Sünden, die von Nichtmuslimen begangen werden, sollten den Muslim nicht davon abhalten, an ihren guten Aktivitäten teilzunehmen. In seinem Schlusswort betont er, dass es Pflicht der Muslime sei, in positiver Weise am politischen und sozialen Leben (ihrer Gesellschaften) teilzunehmen, um für ihre Rechte einzustehen, ihre Glaubensbrüder, wo immer sie sind, zu unterstützen, die Wahrheiten des Islams zu übermitteln und die Internationalität des Islams zu verwirklichen. Theoretische und methodische Grundlagen für das neue Fiqh Während die Verfechter des Minderheiten-Fiqh hinsichtlich ihrer Zielsetzung große Gemeinsamkeiten zeigen, weisen ihre Vorstellungen hinsichtlich der theoretischen und methodischen Grundlagen für diese neu zu gründende Disziplin größere Unterschiede auf. Unterschiede im Fiqh-Verständnis Insbesondere in ihrem Fiqh-Verständnis unterscheiden sich die Verfechter des Minderheiten-Fiqh stark. Nach Midhat Māhir lassen sie sich in zwei Lager teilen: 1. diejenigen, die das Minderheiten-Fiqh im konventionellen Sinn als Wissenschaft der religionsgesetzlichen Normen verstehen; und 2. diejenigen, die es in einem neuen Sinne als „Kenntnis praktischer Lösungen für reelle Probleme“ verstehen. Wichtigster Vertreter des ersten Lagers ist seiner Auffassung nach al-Qaradāwī, wichtigster Vertreter des zweiten Lagers al-ʿAlwānī. Nach al-Qaradāwī ist das Minderheiten-Fiqh nur ein spezielles Fiqh innerhalb des allgemeinen Fiqh. Es ist seiner Meinung nach deswegen notwendig geworden, weil es in der Gegenwart zu einer gegenseitigen Vermischung der Völker und zu Migrationsprozessen gekommen ist, und sich die verschiedenen Regionen soweit angenähert haben, dass sie „wie ein Land“ sind. Dieses spezielle Fiqh soll eine ähnliche Stellung haben wie andere bereits etablierte Spezialgebiete des Fiqh wie das medizinische, das wirtschaftsbezogene und das politische Fiqh. Gegenüber dem Erbe der islamischen Normenlehre soll das Minderheiten-Fiqh in einem ambivalenten Verhältnis stehen: es beachte dieses zwar, müsse aber in gleichem Maße auch die Verhältnisse, Strömungen und Probleme der Zeit beachten. Es überdecke nicht das Erbe, das durch „geniale Köpfe“ (ʿuqūl ʿabqarīya) in 1400 Jahren geschaffen worden sei, doch versinke es darin auch nicht so sehr, dass es die eigene Zeit mit ihren theoretischen und wissenschaftlichen Strömungen und Problemen vergesse. Al-ʿAlwānī betont dagegen stärker den Bruch mit der Vergangenheit. Nach seiner Vorstellung darf das Minderheiten-Fiqh nicht in dem heute verbreiteten Sinne als ein Fiqh der rechtspraktischen Anwendungen (furūʿ) verstanden werden. Vielmehr müsse man es in dem allgemeinen Sinn von Fiqh („Verständnis, Erkenntnis“) als etwas verstehen, das sowohl die dogmatischen als auch die praktischen Seiten der Offenbarung einschließe, im Sinne „des größeren Fiqh“ (al-fiqh al-akbar), wie es Abū Hanīfa im 8. Jahrhundert genannt hatte. Derjenige, der sich auf diesem Feld betätige, benötigt seiner Meinung nach nicht nur Wissen über die Scharia, sondern muss sich auch mit einigen Sozialwissenschaften auskennen, insbesondere mit Soziologie, Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft und Internationalen Beziehungen. Die Probleme, die sich für die muslimischen Minderheiten stellen, gehen nach al-ʿAlwānī weit über die traditionellen Fragen auf individueller Ebene wie erlaubtes Essen, Halāl-Fleisch, Feststellung des Monatsanfangs und Heirat mit einer Nichtmuslimin hinaus. Sie betreffen Fragen, die mit der „islamischen Identität“ zusammenhängen, nämlich die Botschaft des Islams in seiner neuen Heimat, seine Verbindung mit der islamischen Umma und die Zukunft des Islams jenseits der heutigen Grenzen. Notwendig für die Entwicklung des Minderheiten-Fiqh ist nach al-ʿAlwānī auch, dass die richtigen Fragen gestellt werden. Das vierte Kapitel seines Buches widmet er dem, was er „die großen Fragen“ (al-asʾila al-kubrā) nennt. Die erste dieser Fragen lautet: „Wie können die Angehörigen der Minderheiten auf die Fragen ‚Wer sind wir?‘ und ‚Was wollen wir?‘ eine präzise Antwort finden, die sowohl ihre spezielle Situation als auch das, was sie mit anderen gemeinsam haben, reflektiert.“ Der Katalog, der 18 Fragen umfasst, zeigt, dass al-ʿAlwānī das Minderheiten-Fiqh nicht als ein simples System zur Beantwortung persönlicher Normenfragen betrachtet, sondern als einen theoretischen Rahmen für die politische und soziale Interaktion zwischen der Mehrheit und den muslimischen Minderheiten in den nichtmuslimischen Ländern sowie innerhalb der muslimischen Minderheit selbst. Am Schluss des Kapitels trifft er die Feststellung, dass „viele von den früheren Fiqh-Bemühungen, die während der Zeit der Großreiche unternommen wurden, bei der Begründung eines zeitgemäßen Minderheiten-Fiqh den Muslimen kaum helfen“ könnten. Nach al-ʿAlwānīs Meinung ist ein neues Fiqh auch deswegen notwendig, weil die früheren Fiqh-Gelehrten in einer Welt gelebt haben, „die aus getrennten Inseln bestand, zwischen denen keine Koexistenz und Verständigung bestand.“ Aufgrund der damaligen Erfordernisse sei ein „Fiqh des Krieges“ (fiqh al-ḥarb) vorherrschend gewesen, während das, was man heute in einer veränderten Realität benötige, die Konstruktion eines „Fiqh der Koexistenz“ (fiqh at-taʿāyuš) sei. Werke wie Iqtiḍāʾ aṣ-ṣirāt al-mustaqīm von Ibn Taimīya, in denen die Muslime dazu aufgerufen wurden, sich von Juden, Christen und Nichtmuslimen zu unterscheiden, seien die Reaktion auf eine bestimmte Realität gewesen, die sich von der heutigen Realität unterscheide. In der Schlussrede zur englischen Übersetzung seines Buches erklärt al-ʿAlwānī, dass Fiqh-Räte nicht das adäquate Mittel für die Entwicklung des Minderheiten-Fiqh seien, weil sie nur alte Fatwas in einer modernen Sprache reproduzierten. ʿUdschail an-Naschamī, der einen kritischen Kommentar zu al-ʿAlwānīs Programmschrift verfasst hat, wirft darin diesem vor, theoretische Prinzipien und praktische Regeln im Fiqh al-aqallīyāt durcheinanderzuwerfen. Während das Minderheiten-Fiqh praktische Regeln (aḥkām) benötige, beanspruche al-ʿAlwānī, „das größere Fiqh“ (al-Fiqh al-akbar) wiederzubeleben, das aber nur theoretische Prinzipien generiere. An-Naschamī bezweifelte in seinem Kommentar auch, dass der Begriff Fiqh al-aqallīyāt eine „genaue Bezeichnung“ sei, wie al-ʿAlwānī behauptet hatte, und schlug als Alternative „Grundlagen der Jurisprudenz der Koexistenz“ (uṣūl fiqh at-taʿāyuš) vor. Die Notwendigkeit eines neuen Idschtihād Die Fragen, die sich für die muslimischen Minderheiten stellen, können nach Vorstellung al-ʿAlwānīs nur durch einen neuen Idschtihād gelöst werden. Das ererbte Fiqh mit seinen Regeln für den Umgang mit Nichtmuslimen sei sehr eng mit der historischen Realität, in der es entstanden ist, verknüpft, so dass es für anders geartete historische Situationen nicht brauchbar sei. Für al-ʿAlwānī ist Idschtihād keine Aktivität, die sich auf den Bereich der normenwissenschaftlichen Produktion erstreckt, sondern ein intellektueller Zustand, der den Menschen zum methodischen Denken entsprechend logischer Regeln führt. Ähnlich äußert sich ʿAtīya. Seiner Auffassung nach sind die Fiqh-Schriften nur menschliche Bemühungen ohne religionsgesetzliche Verbindlichkeit, zumal sie nur eine Antwort auf bestimmte Zeitumstände waren, die sich von den heutigen unterscheiden. Notwendig seien neue Idschtihād-Bemühungen, „die unsere Umstände berücksichtigen und die neu hinzugetretenen Dinge behandeln.“ Auch al-Qaradāwī sieht die Notwendigkeit eines neuen Idschtihād. So nennt er als eines der Ziele des Minderheiten-Fiqh, dass dieses die Fragen, die sich für die muslimischen Minderheiten in den nichtmuslimischen Gesellschaften stellen, beantwortet, „und zwar im Rahmen eines neuen auf die Scharia gegründeten Idschtihād vor Ort durch Menschen, die Teil dieser Gesellschaften sind.“ Außerdem erwähnt er unter den neuen Grundpfeilern, auf die sich das Minderheiten-Fiqh stützt, an erster Stelle den „soliden zeitgemäßen Idschtihād“ (iǧtihād muʿāṣir qawīm). Idschtihād ist nach al-Qaradāwī eine Pflicht, die die Religion auferlegt, weil allein er gewährleistet, dass die Scharia zu allen Zeiten und allen Orten angewandt werden kann. Al-Qaradāwī unterscheidet beim Idschtihād zwei Arten, nämlich den „abwägenden selektiven“ (tarǧīḥī intiqāʾī) und den „originellen schöpferischen“ (ibdāʿī inšāʾī) Idschtihād. Bei ersterem studiere der Fiqh-Gelehrte das reiche Erbe an Lehrmeinungen früherer Rechtsgelehrter und wähle aus, was zur Verwirklichung der Zwecke der Scharia und Interessen der Menschen am besten geeignet erscheint, letzterer soll bei neu auftretenden Fragen des Lebens zur Anwendung kommen, auf die das klassische Fiqh keine Antwort gibt. Wenn schon das Fiqh ganz allgemein den Idschtihād in seinen beiden Formen benötige, so sei das Minderheiten-Fiqh wegen der besonderen Umstände, unter denen die Minderheiten leben, noch stärker darauf angewiesen. Der Idschtihād ist nach al-Qaradāwīs Auffassung Teil der „Erneuerung“ (taǧdīd), auf den der Hadith hinweist, demzufolge Gott der Umma zu Beginn eines jeden Jahrhunderts einen Erneuerer der Religion schicke. Die Erneuerung der Religion solle die Erneuerung ihres Fiqh und ihres Verständnisses einschließen, die wiederum nur mit einem soliden zeitgemäßen Idschtihād möglich sei. Die Rolle der Maqāsid-Theorie Wenn sich eine Frage erhebt, die mit dem Minderheiten-Fiqh zusammenhängt, dann ist es nach al-ʿAlwānī notwendig, den Hintergrund der Frage und des Fragenden und die sozialen Faktoren zu erforschen, die die Frage hervorgebracht haben, um sie dann unter Berücksichtigung der grundlegenden maqāṣid aš-šarīʿa zu behandeln. Die maqāṣid aš-šarīʿa sind ein Konzept der neueren islamischen Rechtstheorie, das davon ausgeht, dass es eine bestimmte Anzahl von universalen Maqāsid („Zwecke, Ziele, Absichten“) gibt, auf die sich alle Einzelbestimmungen der Scharia, also der islamischen Normenlehre, zurückführen lassen. Üblicherweise werden die Zwecke Bewahrung von Leben, Religion, Familie, Vernunft und Eigentum genannt. Al-ʿAlwānī plädiert dafür, dass die Fiqh-Gelehrten die Liste der anerkannten Scharia-Zwecke entsprechend den Notwendigkeiten und Prioritäten der islamischen Gemeinschaft erweitern sollten. Neben den Maqāsid der Scharia empfiehlt al-ʿAlwānī für die Entwicklung von Regeln für das Minderheiten-Fiqh eine Orientierung an den „Maqāsid des Korans“ (maqāṣid al-qurʾān). Diese sind ein spezielles Konzept seines eigenen Denksystems. Um diese Zwecke aufzudecken, ist es erforderlich, Idschtihād zu treiben in Form einer „Kombination der beiden Lektüren“ (ǧamʿ baina al-qirāʾatain), der „Lektüre, die beim Verständnis des Daseins und der Entdeckung seiner Gesetzmäßigkeiten die Offenbarung zum Begleiter nimmt“, und der „Lektüre, die beim Verständnis der geoffenbarten Verse die Gesetzmäßigkeiten des Daseins zum Begleiter nimmt“. Sobald man die Operation der „Kombination der beiden Lektüren“ durchführe, finde man, dass die drei höchsten Werte, auf die die beiden Bücher, nämlich das schriftlich fixierte (= der Koran) und das erschaffene (= die Natur), hinwiesen, der Tauhīd, die Läuterung (tazkīya) und die Zivilisation (ʿumrān) seien. In diesen Werten spiegelten sich die Zwecke, die Gott mit seiner Schöpfung verfolge. Dies seien die ursprünglichen Werte des Islams gewesen, bevor Rechtsgelehrte kamen, die von griechischer Logik und Philosophie beeinflusst waren, und sagten, dass dies oder das wāǧib bzw. farḍ (‚obligatorisch‘) sei, mandūb bzw. mustaḥabb (‚erwünscht‘) oder harām bzw. maḥẓūr (‚verboten‘), bevor also die Kategorien zur Beurteilung menschlicher Handlungen eingeführt wurden. Bei al-Qaradāwī ist die Ausrichtung an den Maqāsid der Scharia nicht ganz so stark ausgeprägt. Zwar soll sich der Fiqh-Gelehrte beim selektiven Idschtihād an ihnen orientieren, doch meint al-Qaradāwī, dass das Minderheiten-Fiqh einen Ausgleich zwischen den partikularen Quellentexten der Scharia und ihren universalen Zielen herstellen müsse. Die Quellen des Minderheiten-Fiqh Um eine Ausrichtung an den „Zwecken des Korans“ (maqāṣid al-qurʾān) zu gewährleisten, müssen nach al-ʿAlwānī verschiedene Prinzipien eingehalten werden, wie zum Beispiel die Anerkennung von beherrschender Stellung und Vorrang des Korans als dem Richter über alles andere einschließlich der Hadithe und religiösen Traditionen. Wenn dann der Koran eine allgemeine Regel aufstelle, wie zum Beispiel das Prinzip der „Güte und Gerechtigkeit“ (al-birr wa-l-qisṭ) in der Beziehung mit den Nichtmuslimen, und Hadithe existieren, die scheinbar im Widerspruch dazu stehen, dann habe man sich am Koran zu orientieren und die Hadithe nach Möglichkeit in der Weise auszulegen, dass sie der Lehre des Korans entsprechen. Allgemein misst al-ʿAlwānī der prophetischen Sunna nur die Rolle einer untergeordneten Hilfsnorm zu: „Die Sunna dreht sich um den Koran und steht mit ihm in Verbindung, hat aber nie Vorrang vor ihm.“ In etwas abgeschwächter Form vertritt diese Auffassung auch al-Qaradāwī. Er meint, dass die Quellen des Minderheiten-Fiqh die gleichen sein sollten wie beim Fiqh allgemein, wobei allerdings das Minderheiten-Fiqh innovative Positionen (wiqfāt taǧdīdīya) gegenüber diesen Quellen einnehmen müsse. Zu den Quellen gehörten zunächst einmal der Koran, „Vater aller Gesetze und Vorschriften“, dann die Sunna, bei der zu beachten sei, dass nicht alles darin für Gesetzgebung geeignet sei. Einige Hadithe seien zwar richtig, jedoch interpretationsbedürftig wie der Hadith: „Grüßt Juden und Christen nicht als erste. Und wenn ihr sie auf der Straße antrefft, dann drängt sie an den engsten Punkt.“ Er widerspreche den Koranworten, die den Gläubigen erlauben, zu Nichtmuslimen freundlich zu sein (Sure 60:8), und sie dazu auffordern, diejenigen zu grüßen, die sie grüßen (Sure 4:86). Man müsse also diesen Hadith in der Weise interpretieren, dass er sich nur auf diejenigen bezieht, die die Muslime bekämpfen, nicht aber auf diejenigen, die mit ihnen Frieden schließen. Nach al-Qaradāwīs Auffassung sollen neben Koran und Sunna aber auch Konsens und der Analogieschluss bei der Rechtsfindung Anwendung finden, darüber hinaus auch verschiedene sekundäre Quellen wie die Erwägung des Nutzens (istiṣlāḥ) und das Gewohnheitsrecht. Unter den neun Grundpfeilern des Minderheiten-Fiqh nennt al-Qaradāwī außerdem die Berücksichtigung der Islamischen Rechtsmaximen. Er zählt in dem betreffenden Abschnitt insgesamt vierzig solcher Rechtsmaximen auf. Beachtung der Lebensrealität der Minderheiten Das Minderheiten-Fiqh ist nach al-ʿAlwānīs Definition „ein spezifisches Fiqh, das die Gebundenheit der rechtlichen Beurteilung an die Lebensumstände der betreffenden Gemeinschaft und an den Ort, an dem sie lebt, berücksichtigt“. Es sei das Fiqh einer fest umschlossenen Gemeinschaft mit besonderen Lebensumständen und speziellen Bedürfnissen. Was für sie tauglich sei, tauge nicht unbedingt für andere Gemeinschaften. Unter den Regeln für die Entwicklung des Minderheiten-Fiqh nennt er die „genaue Prüfung der Lebensrealität“. Solange diese Realität mit all ihren Komponenten nicht verstanden sei, sei es unmöglich, das Fiqh-Problem in der Weise zu formulieren, dass diesbezüglich erfolgreich der Koran befragt werden könne. Außerdem betont er, dass das Fiqh immer an der praktischen Realität ausgetestet werden müsse. Der Prozess der Erschließung der Regeln und der Fatwa-Erteilung muss nach al-ʿAlwānī zu einem fortwährenden Streit zwischen Fiqh und Realität werden. Die Realität soll dabei ein Laboratorium werden, das den Muslimen aufzeigt, wie tauglich die jeweilige Fatwa ist. Auch al-Qaradāwī betont diesen Punkt. Den meisten muslimischen Gelehrten, so meint er, seien die wahre Situation und das Leiden der muslimischen Minderheiten in der nichtmuslimischen Gesellschaft nicht bewusst; es reiche aber nicht aus, ihnen Fatwas aufgrund der klassischen Fiqh-Bücher zu erteilen, ohne ihre Lebenswirklichkeit zu kennen und ihre Nöte und Bedürfnisse in ausreichendem Maße zu studieren. Der zeitgemäße Idschtihād kann seiner Auffassung nach nur dann seine Aufgabe erfüllen, wenn der Rechtsgelehrte Interesse an der Lebenswirklichkeit (al-wāqiʿ al-muʿaiyaš) hat und zum Verständnis der Texte und Argumente das Verständnis der Lebenswirklichkeit hinzufügt. So wie ein Arzt nur dann ein Gegenmittel verabreichen kann, wenn er zuvor durch genaue Beobachtung des Kranken die Krankheit vollständig verstanden hat, müsse der Mufti, der Erteiler von islamischen Rechtsgutachten, für die Durchführung eines erfolgreichen zeitgemäßen Idschtihād neben dem Gesetz Gottes die Lebenswirklichkeit der jeweiligen Minderheit kennen. Deswegen sei es eine Pflicht des Mufti, die Realität der Minderheit zu studieren, für die er Fatwas erstellt. Hierbei müsse er auch berücksichtigen, dass sich die Minderheiten stark voneinander unterscheiden. Große Unterschiede bestünden zum Beispiel zwischen zugewanderten und alteingesessenen Minderheiten, zwischen unterdrückten und einflussreichen Minderheiten, zwischen zahlenmäßig kleinen und großen Minderheiten, zwischen solchen in freiheitlichen Rechtsstaaten und solchen, die in Diktaturen leben sowie zwischen zersplitterten und gut organisierten Minderheiten. Am Anfang seines Buches gibt al-Qaradāwī einen Überblick über die verschiedenen muslimischen Minderheiten in Ost und West. Grundsätzlich, so meint er, muss das Minderheiten-Fiqh die Probleme der Menschen nicht aus einem idealistischen, sondern einem realistischen Blickwinkel betrachten. Berücksichtigung von Zwangslagen und Bedürfnissen Schon Nuh Ha Mim Keller, der 1995 mit al-ʿAlwānī über das Minderheiten-Fiqh diskutierte, betonte darin die Bedeutung des Prinzips der Darūra, das besagt, dass Muslime, die sich in einer Schwächeposition befinden, Ausnahmeregeln im Fiqh in Anspruch nehmen können. Eine zentrale Bedeutung hat dieses Prinzip in der Theorie al-Qaradāwīs. Die Anerkennung menschlicher Notwendigkeiten (ḍarūrāt) und Bedürfnisse (ḥāǧāt) gehört bei ihm zu den neun Grundpfeilern, die das Minderheiten-Fiqh berücksichtigen müsse. Er sieht dieses Prinzip schon in der Scharia selbst angelegt, weil diese für Zwangslagen Ausnahmen von den Verboten vorsehe. Als Beispiel dient ihm Sure 2:173, in der ausgesprochen wird, dass Gläubige, die verbotene Speisen gezwungenermaßen essen, keine Sünde begehen. Zur Realitätsorientierung der Scharia gehört seiner Auffassung nach, dass sie das Bedürfnis (ḥāǧa) in einigen Fällen der Zwangslage gleichstellt. Die Anerkennung des Bedürfnisses als Grund für die Erleichterung von Vorschriften ist seiner Auffassung nach auch in der Sunna belegt, weil es die Überlieferung gibt, dass Mohammed seinen beiden Gefährten ʿAbd ar-Rahmān ibn ʿAuf und az-Zubair ibn al-ʿAuwām, die aufgrund der Beschaffenheit ihrer Gewänder unter Juckreiz litten, gestattete, seidene Kleidung zu tragen, obwohl er dies vorher allgemein den Männern verboten hatte. Bei an-Naddschār gehört der Grundsatz, dass Zwangslagen verbotene Dinge erlaubt machen, zu den drei rechtstheoretischen Regeln, an denen sich das Minderheiten-Fiqh orientieren soll. Er meint, dass dieser Grundsatz deswegen im Minderheiten-Fiqh angewandt werden dürfe, weil die Muslime in Europa positivem Recht unterworfen sind, das in vielen Fällen der Scharia zuwiderläuft. Al-ʿAlwānī dagegen stand diesem Konzept eher skeptisch gegenüber. In seinem Buch äußerte er, dass es nicht das Ziel des Minderheiten-Fiqh sei, den Minderheiten Konzessionen zuzugestehen, in deren Genuss die islamischen Mehrheiten nicht kommen. Vielmehr sollten durch dieses Fiqh die Minderheiten zu exemplarischen Modellen gemacht werden, die die islamische Umma in den Ländern, in denen sie leben, repräsentieren. Insofern stelle es ein Fiqh der „Elite“ und der rigorosen Pflichtenauslegungen (ʿazāʾim) dar. Die Fragen, die sich für die muslimischen Minderheiten stellen, mit der Maxime beantworten zu wollen, dass Zwangslagen verbotene Dinge erlaubt machen, habe eine schädliche Wirkung für ihre „islamische Eigenart“. Auch diesen Punkt hat ʿUdschail an-Naschamī in seinem Kommentar kritisiert. Er wirft al-ʿAlwānī vor, den Minderheiten das Leben schwerer machen zu wollen als nötig, indem er ihnen legitime Möglichkeiten zur Erleichterung der islamischen Normen entzieht. Das Prinzip der Erleichterung bei al-Qaradāwī Die starke Berücksichtigung von Zwangslagen und Bedürfnissen der Muslime steht bei al-Qaradāwī in einem funktionalen Zusammenhang. Das Minderheiten-Fiqh hat nämlich seiner Auffassung nach das primäre Ziel, den muslimischen Minderheiten zu helfen, und zwar sowohl den Einzelnen, als auch den Familien und verschiedenen Gemeinschaften, mit ihrem Islam „ein unbeschwertes Leben“ (ḥayāh muyassara) zu führen. Die Übernahme des Prinzips der Erleichterung (manhaǧ at-taisīr) gehört für al-Qaradāwī auch zu den Grundpfeilern des Minderheiten-Fiqh. Dieses Prinzip leitet al-Qaradāwī aus verschiedenen Koranversen (u. a. Sure 2:185, 4:28) her sowie aus der Überlieferung, wonach Mohammed seine Gefährten aufgefordert hat, die Dinge zu erleichtern und nicht zu erschweren (yassirū wa-lā tuʿassirū). Von den Prophetengefährten sei dieses Prinzip noch gelebt worden, aber in den folgenden Generationen immer mehr verlorengegangen. Dadurch seien erneut Belastungen für die Menschen entstanden, für deren Beseitigung der Prophet eigentlich entsandt worden sei. Das Prinzip der Erleichterung ist nach al-Qaradāwī insbesondere im Zusammenhang mit der Regel der „Änderung der Fatwa entsprechend den veränderten Erfordernissen“ (taġaiyur al-fatwā bi-taġaiyur mūǧibāti-hā) zu beachten, die seiner Auffassung nach auf die eine oder andere Weise in allen Rechtsschulen vertreten werde. Hierzu merkt er an, dass die größte Änderung, die durch einen Ortswechsel herbeigeführt werden könne, der Unterschied zwischen Dār al-Islām und den anderen Gebieten sei, weil das Dār al-Islām dem Muslim helfe, islamische Gebote und Verbote einzuhalten, während anderen Gebieten dieser Vorteil fehle. Deswegen sei im Dār al-Islām die Unkenntnis der religiösen Vorschriften unentschuldbar, während sie außerhalb des Dār al-Islām beim Unwissenden ein Entschuldigungsgrund sein könne. Grundsätzlich sei ein Muslim in einer nichtislamischen Gesellschaft schwächer und bedürfe deswegen eines höheren Maßes der Erleichterung. Um das Prinzip der Erleichterung zu verwirklichen, ist nach al-Qaradāwī auch eine Befreiung von der Madhhab-Bindung (at-taḥarrur min al-iltizām al-maḏhabī) notwendig. Der zeitgemäße Mufti soll nach Vorstellung al-Qaradāwīs die Menschen aus dem „Gefängnis des bedrängenden Madhhab-Wesens in den weiten Hof der Scharia herausführen“, die neben den acht Madhhabs, die noch befolgt werden, auch solche Madhhabs einschließt, die untergegangen sind, Lehrmeinungen von Imamen, die keinen Madhhab begründet haben, und darüber hinaus auch die Lehrmeinungen der Gelehrten unter den Prophetengefährten. Mit der Bindung an eine Rechtsschule haben sich die Menschen nach al-Qaradāwī das Leben unnötig schwer gemacht, während Gott es ihnen leicht machen wollte. Ein Fiqh nicht nur für muslimische Minderheiten: der Gegenentwurf ʿAtīyas Fast alle Studien zum Fiqh al-aqallīyāt sind dadurch gekennzeichnet, dass sie den Minderheitenbegriff auf die muslimischen Minderheiten beschränken. Die einzige Ausnahme bildet das Buch Hin zu einem neuen Minderheiten-Fiqh von Dschamāl ad-Dīn ʿAtīya. Es befasst sich nicht nur mit den muslimischen Minderheiten außerhalb der islamischen Länder und den nichtmuslimischen Minderheiten innerhalb der islamischen Länder, sondern mit religiösen, ethnischen, sprachlichen und kulturellen Minderheiten ganz allgemein und dem global verbreiteten Problem des Chauvinismus gegenüber Minderheiten und ihrer Diskriminierung. Nach ʿAtīyas Auffassung können diese Probleme nur mit Hilfe internationaler Abkommen gelöst werden. Er misst solchen Abkommen wie den religiösen Texten „absolute Autorität“ (marǧiʿīya muṭlaqa) zu. Deswegen sieht er es als eine der wichtigsten Pflichten der islamischen Staaten an, dass sie sich an die internationalen Abkommen halten, denen sie sich angeschlossen haben. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Koranworte in Sure 5:1 und Sure 2:177, die zur Einhaltung der Verträge aufrufen. Ein weiteres Prinzip, das ʿAtīya beim Minderheiten-Fiqh beachtet wissen will, ist das der Reziprozität, das seiner Auffassung nach nicht nur im Internationalen Recht, sondern auch in der Scharia verankert sei. Dieses Prinzip erlege den Muslimen auf, bei jeder Minderheitenfrage nichtmuslimische Minderheiten in den islamischen Ländern und muslimische Minderheiten in den nichtislamischen Ländern in ein Verhältnis zu setzen und dann mit dem gleichen Maß zu messen. ʿAtīya meint allerdings, dass die Reziprozität auf islamischer Seite an das gebunden werden muss, was tugendhaft ist. Wenn zum Beispiel die Feinde die Ehre der Frauen der Muslime verletzen, dann sollten die Muslime umgekehrt nicht die Ehre ihrer Frauen verletzen. Wenn sie die Frauen und Kinder töten, dann sollten die Muslime nicht das Gleiche tun. Wenn sie Kriegsgefangene zu Tode hungern, dann sollten es ihnen die Muslime nicht mit gleicher Münze heimzahlen. ʿAtīya betont, dass für die Suche nach gerechten Lösungen ein ganzheitlicher Blick notwendig sei. Man müsse die Menschen so behandeln, wie man selbst von ihnen behandelt werden wolle, und dürfe nicht mit zweierlei Maß messen, je nachdem, ob man zur Mehrheit oder Minderheit gehöre. Aus diesem Grund lehne er auch solche Konzeptionen ab, die alleine auf die Forderungen der muslimischen Minderheiten gegründet sind, ohne die Forderungen der nichtmuslimischen Minderheiten zu betrachten. Als Negativbeispiel verweist er hier auf das Buch zum Minderheiten-Fiqh von Tāhā al-ʿAlwānī. Anwendungsbeispiele Al-Qaradāwī bietet im zweiten Teil seines Buches eine Anzahl von Fatwas als Anwendungsbeispiele für das Fiqh al-aqallīyāt. Eine weitere Sammlung von Fällen findet sich im dritten Teil seines Buches „Von der Rechtleitung des Islams. Zeitgemäße Fatwas“ (Min hady al-Islām. Fatāwā muʿāṣira). In den folgenden Abschnitten wird eine Auswahl besonders bekannter und viel diskutierter Fatwas, die dem Fiqh al-aqallīyāt zugerechnet werden, vorgestellt: Ist eine Annäherung zwischen den Religionen zulässig? Die erste Fatwa in al-Qaradāwīs Buch zum Fiqh al-aqallīyāt ist der Frage gewidmet, ob eine Annäherung zwischen den Religionen, insbesondere zwischen Islam und Christentum, zulässig ist. Er beginnt seine Ausführungen zu dieser Frage mit dem Hinweis, dass der Begriff „Annäherung zwischen den Religionen“ für unterschiedliche Sachverhalte verwendet werde, von denen einige abzulehnen, andere dagegen zulässig seien. Abzulehnen sei eine Auflösung der fundamentalen Unterschiede zwischen den verschiedenen Religionen, wie zum Beispiel zwischen dem Tauhīd im Islam und der Dreifaltigkeit im Christentum sowie zwischen dem transzendentalen Gottesbild (tanzīh) im Islam und dem anthropomorphen Gottesbild (tašbīh) im Judentum. Hierzu gehöre auch die unterschiedliche Sicht auf Jesus Christus bei Muslimen und Christen. Ein weiterer fundamentaler Unterschied zwischen Muslimen und Ahl al-kitāb bestehe darin, dass der Koran, das heilige Buch der Muslime, vor jeder Veränderung bewahrt worden sei, während bei Tora und Evangelium erwiesen sei, dass sie verfälscht wurden. Zu den zulässigen Formen der Annäherung zwischen den Religionen zählt al-Qaradāwī das „Gespräch auf gute Weise“ (al-ḥiwār bi-llatī hiya aḥsan). Zu einem solchen Streit mit den Gegnern auf gute Weise seien die Muslime sogar verpflichtet, weil es ein Mittel zur Daʿwa sei, wie es der Koran in Sure 16:125 sage: „Rufe auf zum Wege deines Herrn mit Weisheit und mit schöner Predigt und streite mit ihnen auf gute Weise“. Auch die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Atheismus und Libertinismus sei erwünscht. Als ein Beispiel, dass ein vereintes Handeln von Muslimen und Christen erfolgreich sein kann, führt er das koordinierte Vorgehen der Azhar (Ägypten), der Islamischen Weltliga und des Vatikans auf der Weltbevölkerungskonferenz 1994 in Kairo und auf der Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking an. Ein weiteres gemeinsames Betätigungsfeld könne der Kampf um Gerechtigkeit für unterdrückte Völker sein. Schließlich sieht al-Qaradāwī auch die Möglichkeit eines gemeinsamen Vorgehens für die Verbreitung des Geistes der Toleranz gegen den Fanatismus. Ehe eines Muslims mit einer Nichtmuslimin Al-Qaradāwī weist darauf hin, dass es grundsätzlich zulässig sei, wenn ein Muslim eine Frau von den Ahl al-kitāb heiratet. Verboten sei nur die Ehe mit einer Polytheistin, einer Atheistin, einer Angehörigen der Bahai oder einer Apostatin. Die prinzipielle Erlaubnis hinsichtlich der Ehe mit einer Frau von den Ahl al-kitāb schränkt al-Qaradāwī allerdings insofern deutlich ein, als er vier dabei einzuhaltende Bedingungen nennt: Die Frau muss gläubig sein. Es reicht also nicht aus, dass sie nur aus einem christlichen Elternhaus kommt. Die Frau muss keusch sein, eine Eigenschaft, die in den heutigen westlichen Gesellschaften nur selten zu finden sei. Die Frau darf nicht zu einem Volk gehören, das den Muslimen feindlich gesinnt ist und sie bekämpft. Hieraus leitet al-Qaradāwī ab, dass ein Muslim in der Gegenwart keine Jüdin heiraten dürfe, weil „jede Jüdin in ihrem Geiste Soldatin in der israelischen Armee“ sei. Aus der Ehe darf kein Schaden oder Zwist erwachsen. Wenn sich zum Beispiel unter der betreffenden muslimischen Minderheit Ehen mit Nichtmusliminnen stark verbreiteten, erforderten Logik und Geist der Scharia das Verbot solcher Ehen, weil sonst muslimische Frauen keine muslimischen Ehemänner mehr fänden. Da außerdem die Gefahr bestehe, dass eine nichtmuslimische Ehefrau das Ehe- und Familienleben kulturell dominiere und die gemeinsamen Kinder im Sinne ihrer eigenen Werte erziehe, müsse sichergestellt werden, dass die Ehefrau, wenn sie schon nicht den islamischen Glauben annimmt, so doch die sozialen Traditionen und Bräuche des Islams annehme. Aufgrund der von ihm angenommenen Gefahren für die muslimische Familie gelangt al-Qaradāwī zu der Auffassung, dass in der Gegenwart die Ehe mit Nichtmusliminnen verboten werden sollte. Eine solche Ehe sei nur dann erlaubt, wenn eine „zwingende Notwendigkeit“ oder ein „dringendes Bedürfnis“ bestehe. Fall der Frau, die ohne ihren Ehemann zum Islam konvertiert Al-Qaradāwī erörtert auch die Frage, ob eine verheiratete Frau, die zum Islam konvertiert, während ihr Ehemann Nichtmuslim bleibt, sich von diesem scheiden lassen muss. Die Frage ist aus seiner Sicht deswegen bedeutsam, weil eine derartige Regel, wie sie von vielen islamischen Rechtsgelehrten propagiert wird, verheiratete Frauen davon abhalten kann, zum Islam zu konvertieren. Zu Beginn seiner Erörterung listet al-Qaradāwī neun verschiedenen Meinungen klassischer Rechtsgelehrter zu dieser Frage auf, die er in dem Werk Aḥkām ahl aḏ-ḏimma von Ibn Qaiyim al-Dschauzīya gefunden hat. In den ersten fünf Ansichten wird die sofortige oder spätere Trennung der Ehegatten gefordert, während die zweite Gruppe von Meinungen eine Aufrechterhaltung der Ehe favorisiert. Die sechste Meinung gesteht der Frau die Möglichkeit zu, darauf zu warten und zu hoffen, dass ihr Mann ebenfalls konvertiert, selbst wenn dies Jahre dauert. Sie stützt sich auf die Überlieferung, wonach ʿUmar ibn al-Chattāb einer konvertierenden Frau die Wahl ließ, bei ihrem christlich verbliebenen Mann zu bleiben oder ihn zu verlassen. Die siebte Meinung, die auf ʿAlī ibn Abī Tālib zurückgeführt wird, besagt, dass der Mann, selbst wenn er Nichtmuslim bleibt, das Recht auf seine Ehefrau behält, solange sie nicht auswandert. Nach der achten Meinung bleibt die Ehe bestehen, sofern der Imam oder der Qādī sie nicht trennt. Die letzte Meinung besagt, dass die Frau weiter seine Ehefrau bleibt und dass alle Rechte und Pflichten mit Ausnahme der sexuellen Beziehung weiter bestehen. Ibn al-Qaiyim hatte sich selbst bei der Erörterung dieser Frage für die sechste Meinung entschieden. Al-Qaradāwī kritisiert Ibn al-Qaiyim dafür, in seiner Erörterung nicht alle neun Meinungen ausreichend behandelt, sondern sich allein auf diese sechste Meinung beschränkt zu haben. Er selbst macht sich für die siebte Lehrmeinung stark, die auf ʿAlī ibn Abī Tālib zurückgeführt wird. Seiner Auffassung nach stellt sie eine Spezifizierung für die koranische Vorschrift in Sure 60:10 dar. Dort heißt es: „O ihr, die ihr glaubt! Wenn gläubige Frauen als Ausgewanderte zu euch kommen, so prüft sie! Gott kennt ihren Glauben sehr genau. Wenn ihr sie dann als Gläubige anerkennt, so schickt sie nicht zu den Ungläubigen zurück. Sie sind den Ungläubigen nicht erlaubt und die Ungläubigen ihnen nicht.“ Nach ʿAlīs Auffassung, so erklärt al-Qaradāwī, sollte diese Regel nur für Frauen gelten, die ihre Ehemänner verlassen hatten und zu den Muslimen ausgewandert waren, nicht jedoch für Frauen, die bei ihren Ehemännern verblieben waren. Da auch ʿUmar ibn al-Chattāb eine zum Islam konvertierte Ehefrau vor die Wahl gestellt hatte, bei ihrem christlich gebliebenen Ehemann zu verbleiben, sieht es al-Qaradāwī als erwiesen an, dass auch heutige Islam-Konvertitinnen bei ihren nichtmuslimischen Ehemännern bleiben dürfen. Dies soll für sie eine „große Erleichterung“ (taisīr ʿaẓīm) sein. Al-Qaradāwī beschreibt seine Entscheidung für die siebte der von Ibn al-Qaiyim überlieferten Lehrmeinungen an anderer Stelle als „selektiven, abwägenden Idschtihād“. Darf ein Muslim von einem Nichtmuslim erben? Die vier sunnitischen Rechtsschulen verbieten dies eigentlich, aufgrund eines überlieferten Prophetenworts, wonach weder ein Muslim von einem Kāfir erbt, noch umgekehrt ein Kāfir von einem Muslim. Diese Regel beeinträchtigt nach der Auffassung al-Qaradāwīs die finanziellen Möglichkeiten westlicher Islam-Konvertiten, deren Eltern nicht konvertieren, und steht somit Konversionen zum Islam im Wege. Aufgrund dessen empfiehlt er, sich über den bestehenden Gelehrtenkonsens hinwegzusetzen und sich am Konzept des allgemeinen Interesses (maṣlaḥa) zu orientieren. Da es ein Interesse daran gebe, potentiellen Islam-Konvertiten die Konversion zu erleichtern, müsse man die Erbschaft eines Muslims von einem Nichtmuslim erlauben. Adoption eines Kindes Dieser Fall wurde von dem mauretanischen Gelehrten Muhammad Al-Mukhtar Al-Shinqiti (geb. 1966), Direktor des Islamic Center of South Plains in Lubbock (Texas), entschieden. Al-Shinqiti urteilte 2005 in einer Fatwa, dass Muslime, die in nichtmuslimischen Ländern leben und ein Kind adoptieren wollen, diesem den eigenen Familiennamen geben dürfen, obwohl das nach Sure 33:5 eigentlich verboten ist. Diese Ausnahme begründete er damit, dass hier eine Zwangslage vorliege, weil Eltern, die ihren Adoptivkindern nicht den eigenen Familiennamen geben, in nichtmuslimischen Ländern auf viele rechtliche Schwierigkeiten stoßen. Beglückwünschung der Ahl al-kitāb zu ihren Festen Al-Qaradāwī befasst sich in seinem Buch auch mit der Frage eines in Deutschland lebenden muslimischen Studenten, ob es Muslimen erlaubt sei, Angehörigen der Ahl al-kitāb zu ihren Festen zu gratulieren. In seiner Antwort verweist al-Qaradāwī auf Sure 60:8–9, wonach Gott den Gläubigen nicht verbietet, zu denjenigen freundlich zu sein, die sie nicht bekämpfen. Hieraus könne man schließen, dass es den Muslimen nicht verboten ist, mit den Ahl al-kitāb Geschenke und Grüße zu Feierlichkeiten auszutauschen, solange diese keine Symbole der anderen Religion wie etwa das Kreuz enthalten. Zwar wisse er, dass Ibn Taimīya eine strengere Meinung vertreten habe, doch könne er sich dessen Meinung nur hinsichtlich der Ablehnung der Teilnahme von Muslimen an religiösen Feiern der Polytheisten und Ahl al-kitāb anschließen. Unzulässig sei es auf jeden Fall, wenn Muslime selbst Weihnachten feierten, „denn wir haben unsere Feste und sie haben ihre Feste.“ Gegen eine Beglückwünschung der Menschen durch muslimische Nachbarn oder Kollegen sei jedoch nichts einzuwenden. Er selbst gehe davon aus, dass Ibn Taimīya seine Meinung geändert oder abgemildert hätte, wenn er in der Gegenwart gelebt hätte, weil es mehrere Gründe gebe, die Fatwa an die Zeit anzupassen. Hierzu zählt al-Qaradāwī 1. das Bedürfnis der Muslime nach Umgang mit Nichtmuslimen, weil diese in vielen Wissenschaften und Künsten ihre Lehrmeister geworden sind; 2. den Bedarf der islamischen Daʿwa nach Annäherung an die Menschen durch Freundlichkeit; 3. die Tatsache, dass die Beglückwünschung des Kollegen oder Nachbarn keine Einverständnis mit dem christlichen Glauben impliziert; 4. die Tatsache, dass das Weihnachtsfest in der Gegenwart seinen religiösen Charakter weitgehend verloren habe und zu einem nationalen Brauch geworden sei. Reinheit von Hunden Dieses Beispiel behandelt al-Qaradāwī in dem Abschnitt zu den Grundpfeilern des Minderheiten-Fiqh. Während Hanafiten, Schafiiten und Hanbaliten in ihrer Betonung der Unreinheit von Hunden sehr rigide seien, sei Mālik ibn Anas weniger streng und halte jedes Lebewesen, sogar Hund und Schwein, für rein. Die Reinheit von Hunden leitete Mālik im 8. Jahrhundert aus der koranischen Aussage in Sure 5:4 ab, dass von ihnen bei der Jagd erbeutete Tiere gegessen werden dürfen. Da Hunde im Westen allgegenwärtig seien, sollten sich die Muslime an der Lehrmeinung Māliks orientieren, weil die Auffassung von der Unreinheit der Hunde „sie in ihrer Religion beenge und ihr Alltagsleben kompliziert mache“. Kauf eines Wohnhauses mit Hilfe eines verzinsten Darlehens Ist es erlaubt, in den westlichen Ländern ein Wohnhaus mit Hilfe eines verzinsten Darlehens zu erwerben? Diese Frage erörtert al-Qaradāwī in seinem Buch besonders ausführlich, weil sie unter den Muslimen in den Jahren zuvor für besonders heftige Kontroversen gesorgt hatte. Er beginnt seine Ausführungen zu dieser Frage mit der Bemerkung, dass einige muslimische Gelehrte aus Indien und Pakistan, die dem hanafitischen Madhhab angehören, ihren in Großbritannien lebenden muslimischen Landsleuten per Fatwa derartige Geschäfte erlaubt hatten, so dass diese Häuser im Zentrum von London erwerben konnten und heute zu den großen Grundeigentümern in England gehören. In einer langen Liste hebt er die finanziellen und die nichtfinanziellen Vorteile von Wohneigentum hervor (u. a. Steuervorteile, Unabhängigkeit, zukünftige Sicherheit). Sodann gibt er einen Überblick über das Spektrum der Positionen der verschiedenen modernen muslimischen Gelehrten zu dieser Frage: So hatte zum Beispiel die Rechtsakademie der Organisation der Islamischen Konferenz die Aufnahme eines verzinsten Darlehens mit Verweis auf das Ribā-Verbot für unzulässig erklärt, während der syrische Rechtsgelehrte Mustafā az-Zarqā (1904–1999) solche verzinsten Darlehen in nichtislamischen Ländern in Anknüpfung an die hanafitische Rechtstradition erlaubt hatte. Az-Zarqā hatte in einer Fatwa seine Position damit begründet, dass es ein Ziel der Scharia sei, das Vermögen des Muslims zu bewahren. Da der Kauf eines Hauses den Muslim besser stelle als ein Mietverhältnis, sei die Aufnahme eines verzinsten Darlehens zum Kauf eines Hauses zulässig. Al-Qaradāwī selbst hatte zwanzig Jahre lang in Fatwas den Erwerb von Hauseigentum mit Hilfe von verzinsten Darlehen als verboten eingestuft. Später sei bei ihm aber ein Sinneswandel eingetreten, den al-Qaradāwī mit Altersmilde erklärt. 1999 wirkte er an einer Fatwa des ECFR mit, in der solche Geschäfte für zulässig erklärt wurden. Die ECFR-Fatwa, die al-Qaradāwī in ihrer vollen Länge wiedergibt, stützt sich in ihrer Argumentation hauptsächlich auf die islamische Rechtsmaxime „Zwangslagen machen die verbotenen Dinge erlaubt“ (aḍ-ḍarūrāt tubīḥ al-maḥẓūrāt) und verweist gleichzeitig darauf, dass nach Auffassung der islamischen Rechtsgelehrten ein spezielles oder allgemeines Bedürfnis (ḥāǧa) die gleiche Stellung einnehmen kann wie die Zwangslage (ḍarūra). Ein solches Bedürfnis sei im europäischen Kontext gegeben, weil das Verbot, verzinste Darlehen aufzunehmen, die Muslime davon abhalte, Grundeigentum zu erwerben, und sie somit in eine schwächere Position bringe. Daneben verwies die Fatwa auf die Lehrmeinung von Abū Hanīfa, wonach es Muslimen außerhalb des Dār al-islām erlaubt ist, Geschäfte mit Ribā zu betreiben. Hieraus wurde geschlossen, dass Muslime nicht dazu angehalten sind, die wirtschaftlichen und finanziellen Regeln in einer nichtislamischen Gesellschaft zu ändern. Zwei Mitglieder des ECFR, der Muslimbruder Muhammad al-Barāzī in Dänemark und der in England lebende Pakistaner Suhaib Hasan ʿAbd al-Ghaffār, hatten die Fatwa des ECFR öffentlich in der Zeitung Asch-Scharq al-ausat kritisiert. Hierbei argumentierten sie zum einen damit, dass das Gremium den hanafitischen Madhhab in zweifacher Weise fehlinterpretiert hatte, weil erstens Hanafiten Ribā nur im Dār al-Harb erlauben, diese Kategorie für europäische Länder jedoch nicht zutreffe, und zweitens Hanafiten Muslimen in nichtislamischen Gesellschaften nur erlauben, Zinsen zu nehmen, jedoch nicht zu geben. Zum anderen machten al-Barāzī und ʿAbd al-Ghaffār geltend, dass der Rat in diesem Fall das Prinzip des Bedürfnisses, das zu einer Zwangslage wird, unzulässigerweise angewandt habe, weil die finanzielle Schwäche der Muslime in Europa nicht das Ergebnis der Vermeidung von verzinsten Darlehen, sondern ihrer Uneinigkeit sei. Nur wenn die Muslime, die ein Haus kaufen wollten, nicht in der Lage seien, eine Wohnung zu einem angemessenen Preis zu mieten oder in religiös zulässiger Weise zu kaufen, dürften sie ein verzinstes Darlehen aufnehmen. Al-Qaradāwī beendet seine Ausführungen mit der Wiedergabe einer Replik, in der er die Einwendungen der beiden Gelehrten zurückgewiesen hatte. Darin betont er, dass man die Beurteilung der Frage, ob das Bedürfnis der muslimischen Minderheiten nach Hauseigentum eine „Zwangslage“ darstelle, nicht den islamischen Rechtsgelehrten überlassen dürfe, sondern dafür auch nichtreligiöse Experten und die europäischen Muslime selbst hinzuziehen müsse. Teilnahme an Wahlen in nichtislamischen Ländern Dürfen Muslime an Wahlen in nichtislamischen Ländern aktiv teilnehmen? Dieses Problem wird von dem amerikanischen Scheich Muhammad Nur Abdullah als Anwendungsbeispiel für das Minderheiten-Fiqh angeführt. Er erklärt, dass politische Wahlen in muslimischen Ländern ganz anders einzuordnen seien als in nichtmuslimischen Ländern, weil in den ersteren Muslime islamische Parteien wählen könnten, während in letzteren solche Parteien nicht existierten. Unter diesen Umständen könnten einige Muslime zu der irrigen Auffassung gelangen, dass man durch aktive Teilnahme an Wahlen gegen das im Koran (z. B. Sure 5:51) ausgesprochene Verbot verstoße, dass man sich Nichtmuslime nicht zum Patron nehmen dürfe. Im Fiqh al-aqallīyāt verstehe man das aber anders, nämlich dass Muslime diejenige Partei wählen sollten, die ihren Interessen am besten dient. Die öffentliche Diskussion um das Minderheiten-Fiqh Al-ʿAlwānīs Programmschrift und al-Qaradāwīs Abhandlung lösten in der islamischen Öffentlichkeit großes Interesse an dem Konzept des Minderheiten-Fiqh aus, so dass dieses zum Gegenstand einer lebhaften öffentlichen Debatte wurde. Eine der ersten Veranstaltungen, bei der dieses Konzept diskutiert wurde, war die 13. Konferenz des Höchsten Rats für Islamische Angelegenheiten, der dem ägyptischen Religionsministerium untersteht, im Mai/Juni 2001. Allein vier Vorträge bei dieser Veranstaltung befassten sich mit dem Fiqh al-aqallīyāt. Die Polemik al-Būtīs (2001/03) Die öffentliche Diskussion über das Konzept wurde dadurch besonders entfacht, dass im Juni 2001 der syrische Gelehrte Muhammad Saʿīd Ramadān al-Būtī in einem seiner im Internet veröffentlichten Monatsbriefe heftige Kritik an dem Konzept übte. In diesem Text mit dem Titel „Es ist kein Zufall, dass der Ruf nach dem Minderheiten-Fiqh mit dem Vorhaben, den Islam zu spalten, zeitlich zusammentrifft“ hielt er den Verfechtern des Minderheiten-Fiqh vor, ein Projekt zu betreiben, das letztendlich auf eine Fragmentierung des einheitlichen globalen Islams in verschiedene regionale Islame hinauslaufe, die dann im Widerstreit miteinander lägen. Die Herausbildung eines eigenständigen westlichen Islams, der sich vom Islam in den islamischen Ländern unterscheide, sei keineswegs wünschenswert und könne sich auf keine Grundlagen stützen. Wenn die Verfechter des Fiqh al-aqallīyāt darauf verwiesen, dass sich dieses auf verschiedene Rechtsmaximen stütze, so könne man ihnen entgegenhalten, dass dies allgemeine Prinzipien seien, die in keinerlei Weise auf bestimmte Regionen wie Europa und Amerika beschränkt seien. Al-Būtī warf den Verfechtern des Fiqh al-aqallīyāt vor, eine spezielle islamische Normenlehre entwickeln zu wollen, die sich mit den umgebenden „Strömungen von Unglauben, Lasterhaftigkeit und Aufsässigkeit“ vertrage. Der bloße Aufenthalt von Muslimen im „Haus des Unglaubens“ (dār al-kufr) stelle jedoch keine Zwangslage dar, die die Entwicklung einer solchen Spezial-Normenlehre rechtfertige. Da Gott den Muslimen befohlen habe, in das Dār al-Islām auszuwandern, wenn ihnen die Anwendung der islamischen Vorschriften nicht ermöglicht werde, dürften sie keine Veränderungen an der islamischen Normenlehre zulassen. In diesem Zusammenhang verweist al-Būtī zum einen auf das Vorbild des Propheten Mohammed, der mit seinen Anhängern aus Mekka auswanderte, als er von den Muschrikūn in die Enge getrieben wurde, und zum anderen auf Sure 4:97, wo denjenigen Gläubigen, die nicht aus dem Gebiet der Unterdrückung ausgewandert sind, die Höllenstrafe angedroht wird. Das Minderheiten-Fiqh sah al-Būtī dagegen als Bedrohung für die im Westen lebenden Muslime an, weil sie dadurch in die Gefahr gerieten, in der Bewegung der „sündigen westlichen Zivilisation“ aufzugehen. Al-Būtī polemisierte auch später noch öfter gegen das Minderheiten-Fiqh. Am 16. Mai 2003, dem Freitag nach dem Maulid an-Nabī, geißelte er es in seiner Freitagspredigt in Damaskus, die im Satellitenfernsehen live übertragen wurde, als „das neueste Mittel, mit dem man an der Religion Gottes herumtrickst“ (aḥdaṯ wasāʾil at-talāʿub bi-dīn Allāh). Die New Muslims of Nottingham, eine neo-traditionalistisch ausgerichtete Gruppe von Neu-Muslimen in England, übersetzten al-Būtīs Kritik am Minderheiten-Fiqh ins Englische und machten sie auf diese Weise auch der westlichen Öffentlichkeit zugänglich. Die Kritik von Tariq Ramadan (2003) Kritik aus einer anderen ideologischen Richtung äußerte Tariq Ramadan, der als ein Vordenker der Idee des Euro-Islams gilt. Er wies 2003 in seinem Buch „Muslime des Westens und die Zukunft des Islams“ (Musulmans d’Occident et l’avenir de l’Islam) die im Minderheiten-Fiqh vorausgesetzte Vorstellung, dass die im Westen lebenden Muslime Minderheiten seien, zurück. Hinsichtlich der Universalität der vom Islam vertretenen Werte meinte er, dass die Muslime ihre Präsenz in den westlichen Gesellschaften nicht im Sinne einer „Minderheit“ denken sollten. Er meinte, dass der Status der Minderheit keine natürliche Kategorie sei, sondern Ergebnis einer bestimmten politischen Vorstellung, die danach strebe, muslimische Handlungsmöglichkeiten einzuschränken, während sich die Muslime eigentlich als Teil der „ethischen Mehrheit“ sehen sollten. Ramadan kritisierte auch den Untertitel von al-Qaradāwīs Buch, in dem vom „Leben der Muslime inmitten anderer Gesellschaften“ die Rede ist. Dieser impliziere, dass westliche Gesellschaften für die Muslime, die dort lebten, andere, fremde Gesellschaften seien. Die westlichen Muslime seien jedoch in diesen Gesellschaften zu Hause und sollten diese Gesellschaften eben nicht als fremde Gesellschaften wahrnehmen. Verteidigung des Konzepts durch FCNA und ECFR Mit Kritik am Minderheiten-Fiqh hatte sich auch der Fiqh Council of North America auseinanderzusetzen. Wie aus einer Kollektiv-Fatwa hervorgeht, die im Dezember 2003 auf der Internet-Plattform Islamonline.net veröffentlicht wurde, betrachteten einige muslimische Gelehrte dieses Konzept als eine unzulässige Neuerung, die die „Religion Allahs manipuliert“. Zwei Gelehrte des Fiqh Councils, Tāhā al-ʿAlwānī und Muhammad Nur Abdullah, und der bereits genannte Gelehrte Muhammad Al-Mukhtar Al-Shinqiti verteidigten das Konzept gegen diese Kritik und betonten, dass es in keiner Weise die Grundlagen der Religion antaste oder abwandle. Al-Shinqiti verwahrte sich vor allem gegen den Vorwurf, dass Fiqh al-aqallīyāt eine Bidʿa, eine mit der Sunna in Widerspruch stehende Neuerung, sei: „Das Fiqh der muslimischen Minderheiten ist keine Neuerung. Die früheren Bücher der Jurisprudenz enthalten zahlreiche Regeln, die die in den nichtislamischen Ländern lebenden Muslime betreffen. Neu ist lediglich der Begriff, der für solche Regeln verwendet wird, nämlich ‚Fiqh der muslimischen Minderheiten‘. An der Änderung von Begriffen ist aber nichts auszusetzen.“ Auch der ECFR sah sich vor die Aufgabe gestellt, das Konzept zu verteidigen. Auf der zwölften ECFR-Tagung, die vom 31. Dezember 2003 bis zum 4. Januar 2004 in Dublin stattfand, wurde das Konzept über einen Tag lang ausführlich diskutiert. Hierbei wurden einschlägige Untersuchungen von sechs Mitgliedern des ECFR erörtert: Yūsuf al-Qaradāwī, ʿAbdallāh ibn Baiya, Tāhā Dschābir al-ʿAlwānī, ʿAbd al-Madschīd an-Naddschār, al-ʿArabī al-Bischrī und Salāh ad-Dīn Sultān. Der in Saudi-Arabien lehrende malikitische Gelehrte ʿAbdallāh ibn Baiya hatte schon 2001 am Zaytuna Institute in Berkeley eine Reihe von Vorträgen über das Minderheiten-Fiqh gehalten. Diese Vorträge, bekannt als Rihla Class, waren in Form von 18 CDs von der Firma Alhambra Productions verbreitet wurden, In seinem Beitrag zur ECFR-Tagung erörterte er den Unterschied zwischen Zwangslage und Bedürfnis, womit er auf die Kritiker der ECFR-Fatwa zur Zulässigkeit der Aufnahme eines verzinsten Kredits reagierte, die dem Gremium eine Fehlinterpretation vorgeworfen hatten. Der in Bahrain lebende ägyptische Gelehrte Salāh ad-Dīn Sultān präsentierte in seinem Beitrag methodische Regeln für das Minderheiten-Fiqh und betonte darin auch die Verantwortung der muslimischen Minderheiten für die Verbesserung der Länder, in denen sie leben. Die Untersuchung al-ʿAlwānīs besteht lediglich aus einer um ein Vorwort erweiterten Version seines Buches aus dem Jahr 2000. Am Ende der Sitzung bekräftigte das Gremium – wahrscheinlich in Reaktion auf die Kritik von Tariq Ramadan – die Verwendung des Begriffs „Minderheit“ (aqallīya) und berief sich dabei auf den „internationalen Usus“ (al-ʿurf ad-daulī). Das Fiqh al-aqallīyāt definierte der ECFR relativ neutral als „die normwissenschaftlichen Bestimmungen, die sich auf den Muslim beziehen, der außerhalb der islamischen Länder lebt“. Die meisten der dem Gremium vorgelegten Untersuchungen (Sultān, al-ʿAlwānī, Ibn Baiya, Naddschār und al-Bischrī) wurden noch in demselben Jahr in der ECFR-Zeitschrift veröffentlicht. Die AMSS-Konferenz 2004 Kurz nach der ECFR-Tagung, im Februar 2004, richtete der britische Zweig der Association of Muslim Social Scientists (AMSS [UK]) in Verbindung mit dem International Institute of Islamic Thought (IIIT), dem Muslim College und Q-News Media an der University of Westminster seine fünfte Jahreskonferenz aus und widmete sie dem Thema „Fiqh Today: Muslims as Minorities“. Auf dieser Konferenz wurde das Minderheiten-Fiqh zum Teil sehr kritisch betrachtet. Zwar forderte der AMSS-Vorstandsvorsitzende Anas Al-Shaikh-Ali in seiner Eröffnungsrede die Teilnehmer dazu auf, auf eine „umfassende Methodologie für das Minderheiten-Fiqh“ hinzuarbeiten, doch eröffnete Mustafa Cerić, Großmufti von Bosnien und Herzegowina, der als Hauptreferent eingeladen war, seine Grundsatzadresse mit der Bemerkung, dass er nicht an das Minderheiten-Fiqh glaube, weil er aufgrund seines Minderheiten-Status nicht nur als ein halber Muslim betrachtet werden wolle. Der syro-amerikanische Gelehrte Louay Safi, der einen Vortrag über „Die kreative Mission der muslimischen Minderheiten im Westen“ hielt, meinte, dass „Minderheiten-Fiqh“ eigentlich eine Fehlbezeichnung sei, weil das Bedürfnis nach Überwindung historischer Interpretationen des islamischen Rechts nicht nur bei muslimischen Minderheiten im Westen, sondern bei allen Muslimen bestehe. Der tunesisch-französische Denker Mohamed Mestiri hielt einen Vortrag mit dem Titel „Vom Fiqh der Minderheiten zum Fiqh der Staatsbürgerschaft“. Darin schlug er vor, dass sich die muslimischen Gelehrten vom Konzept des Minderheiten-Fiqh, das zu sehr an eine Immigranten-Mentalität gebunden sei, lösen sollten, und sich einem „Fiqh der Staatsbürgerschaft“ zuwenden sollten. Ziel dieses neuen Fiqh sei es, „die Philosophie der Staatsbürgerschaft im Westen zu integrieren, um ein neues Fiqh in einer pluralen Sphäre zu schaffen“ und „dem Prinzip des Humanismus, das auf die Gleichheit aller Menschen gestützt ist, Rechnung zu tragen“. Auf diese Weise könne der marginale Status als Einwanderer mit einer inkompatiblen Ordnung in den eines vollwertigen Bürgers transformiert werden. Anstatt einer „Kultur der Fatwas“ gehe es darum, eine „Kultur der Finalität“ zu entwickeln. Das Konzept des Minderheiten-Fiqh wurde bei der Konferenz nur durch al-ʿAlwānī verteidigt. Er war allerdings bei der Konferenz nicht selbst anwesend, sondern hatte seinen Vortrag in Form einer Video-Präsentation voraufgezeichnet. Der britische Konvertit Charles Le Gai Eaton forderte, dass ein neues Minderheiten-Fiqh geschaffen werden müsse, das erheblich einfacher sei als das, was bisher angedacht worden sei, weil sich sonst die muslimische Jugend im Westen vom Islam abwenden würde. Die Kritik von Hizb ut-Tahrir (2004) Im Jahre 2004 veröffentlichte außerdem Asif Khan (geb. 1977), ein hochrangiges Mitglied der islamistischen Organisation Hizb ut-Tahrir in Großbritannien, im Internet einen Traktat, in dem er das Minderheiten-Fiqh als Versuch der Unterwanderung des Islams zurückwies. Der 44 Seiten lange Traktat besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil wird die Auffassung, dass es den Bedarf nach einem Minderheiten-Fiqh gibt, zurückgewiesen, im zweiten Teil die Grundlagen von politischer Partizipation und Integration angefochten. Asif Khan nahm besonders daran Anstoß, dass die Verfechter des Fiqh al-aqallīyāt es für zulässig halten, dass eine Frau, die zum Islam konvertiert, mit ihrem nichtmuslimischen Ehemann verheiratet bleibt. Nach seiner Auffassung steht dies im Widerspruch zu der koranischen Regel in Sure 60:10. Eine Abänderung dieser Regel führt seiner Auffassung nach zu einer Verwerflichkeit (munkar). Darüber hinaus wies Asif Khan auch die Lehre von den fünf universalen „Zwecken der Scharia“ (maqāṣid aš-šarīʿa) zurück, auf die sich die Verfechter des Minderheiten-Fiqh stützen. Diese fünf universalen Zwecke, nämlich der Schutz von Religion, Leben, Verstand, Abstammung und Eigentum, seien zwar Zwecke der Scharia insgesamt, aber nicht der einzelnen Bestimmungen, und könnten von daher auch nicht zur Legitimation spezifischer Einzelhandlungen verwendet werden. Ein anderes Schlüsselkonzept des Minderheiten-Fiqh, das von Asif Khan in Frage gestellt wird, ist das der Staatsbürgerschaft. Er vertritt die Auffassung, dass die Annahme der Staatsbürgerschaft eines nichtmuslimischen Staates nicht dazu führen dürfe, dass die Scharia modifiziert werde oder Muslime als Teil einer nichtmuslimischen Armee gegen Muslime kämpfen, weil dies dem Islam widerspreche. In seiner Schlussbemerkung resümierte Asif Khan, dass das Minderheiten-Fiqh „das Symptom eines korrupten Denkprozesses“ sei, „der für seine Lösungen auf den dominanten Westen schaut“. Zu den Befürwortern des Minderheiten-Fiqh in Großbritannien gehörte Kamal El-Helbawy. In einem Interview, das er Ende Juli 2005 einem Vertreter der Jamestown Foundation gab, schlug er vor, in Großbritannien Behandlungszentren für junge muslimische Extremisten zu schaffen, in denen diese über die Sīra des Propheten, Minderheiten-Fiqh und die Rolle des Westens bei der Entwicklung der menschlichen Zivilisation unterrichtet werden sollten. Stellungnahmen von der arabischen Halbinsel Ähnlich kritisch äußerte sich 2005 der Generalsekretär der Islamischen Weltliga ʿAbdallāh at-Turkī zum Fiqh al-aqallīyāt. In einem Geleitwort zur Zeitschrift der Islamischen Fiqh-Akademie, die der Weltliga angeschlossen ist, geißelte er den Versuch, für die muslimischen Minderheiten mit dispensorientierten Fatwas ein gesondertes Fiqh zu schaffen, als Phänomen einer generellen „Störung“ (iḫtilāl). Er mahnte an, dass das legitime Prinzip der Erleichterung, das auf Zwangslagen und Bedürfnisse gestützt ist, nicht dazu führen dürfe, dass die islamischen Vorschriften dauerhaft außer Kraft gesetzt werden. Auch die Internationale Islamische Fiqh-Akademie (IIFA) in Dschidda, die der Organisation für Islamische Zusammenarbeit angeschlossen ist, nahm indirekt zum Minderheiten-Fiqh Stellung. Im April 2005 veröffentlichte sie einen Beschluss, in dem sie dazu aufrief, die Verwendung des Begriffs „Minderheit“ für die außerhalb der islamischen Welt lebenden Muslime zu vermeiden, weil er ein Begriff des weltlichen Rechtes sei, der nicht die Wirklichkeit islamischer Existenz zum Ausdruck bringe, „die sich durch Universalität, Authentizität, Stabilität und Koexistenz mit anderen Gesellschaften auszeichnet.“ Angemessen seien allein Ausdrücke wie „die Muslime im Westen“ oder „die Muslime außerhalb der islamischen Welt“. Außerdem wurde die Bildung einer schariarechtlichen Kommission innerhalb der Akademie empfohlen, die sich mit der Findung von Lösungen für die Fiqh-Probleme beschäftigen sollte, mit denen die Muslime außerhalb der islamischen Welt konfrontiert sind. Der Verabschiedung des Beschlusses waren umfassende Diskussionen innerhalb des Gremiums vorausgegangen, an denen 25 islamische Gelehrte aus verschiedenen Ländern teilnahmen. Die Ablehnung des Minderheiten-Begriffs in dem Beschluss knüpfte an einen Vortrag des libyschen Gelehrten Muhammad Fathallāh az-Ziyādī an, in dem dieser argumentiert hatte, dass „Minderheit“ ein vom Westen entlehnter Begriff sei, der bestimmte Machtbeziehungen („schwache Minderheit“ versus „starke Mehrheit“) impliziere und in sich die Möglichkeit von Diskriminierung, Spaltung und Antagonismus einschließe. Eine erheblich positivere Stellungnahme gab das Fatwa-Zentrum der vom katarischen Religionsministerium betriebenen Internetseite Islamweb.net zum Fiqh al-aqallīyāt ab. Als es im März 2006 dazu befragt wurde, ob ein Spezial-Fiqh für die muslimischen Minderheiten existiere, gab es eine bejahende Antwort und stellte klar, dass das Minderheiten-Fiqh wie andere Fiqh-Zweige auf Koran und Sunna fuße, aber in den Einzelheiten auf die universalen Prinzipien der Scharia rekurriere, die eine Beseitigung von Beschwerlichkeit vorsehe. Ibn Baiyas Neuausarbeitung des Minderheiten-Fiqh (2007) Auch in der Folgezeit wurde weiter Kritik an dem Konzept geübt. So äußerte im August 2007 der Schādhilīya-Scheich Nuh Ha Mim Keller auf der jährlichen Versammlung seiner Anhänger im Vereinigten Königreich, dass das Minderheiten-Fiqh unvereinbar mit dem Prinzip der Taqwā sei, einer vor allem im Sufismus gepflegten Form der Gottesfürchtigkeit. Trotz dieser andauernden Kritik hielten die Verfechter des Minderheiten-Fiqh zunächst an dem Konzept fest. Das IIIT richtete im Jahr 2007 ein Seminar zum „Minderheiten-Fiqh und den Zwecken der Scharia“ aus, an dem 25 islamische Aktivisten aus aller Welt teilnahmen. Eine internationale Konferenz zu exakt demselben Thema fand im November 2009 in Kuala Lumpur statt. Sie wurde von der Islamischen Weltliga und der Internationalen Islamischen Universität Malaysia organisiert. Und der mauretanische Gelehrte ʿAbdallāh ibn Baiya richtete 2007 eine fünftägigen Konferenz in Cardiff aus, die sich mit Fatwa-Erstellung und Minderheiten-Fiqh befasste und von 60 muslimischen Gelehrten besucht wurde. Wahrscheinlich stellte er bei dieser Konferenz den Inhalt seines neuen Buches vor, das noch im gleichen Jahr unter dem Titel „Die Fatwa-Herstellung und die Jurisprudenz der Minderheiten“ (Ṣināʿat al-fatwa wa-fiqh al-aqallīyāt) veröffentlicht wurde. Ein besonderes Merkmal von Ibn Baiyas Buch ist, dass darin das westliche Konzept der Staatsbürgerschaft besonders positiv bewertet wird. Ibn Baiya würdigt dieses Konzept als eine reziproke Rechtsbeziehung zwischen Individuen einer auf demselben Territorium lebenden Gruppe von Menschen, die nicht zwangsläufig die gleichen Vorfahren, das gleiche kulturelle Gedächtnis oder die gleiche Religion haben, sondern allein durch eine Verfassung und Gesetze zusammengehalten werden, die die Pflichten und Rechte der einzelnen Mitglieder definieren. Dieses Konzept, so führt er aus, „ist vielleicht die wichtigste Brücke dafür, dass die religiösen Werte jeder Menschengruppe respektiert und akzeptiert werden, und stimmt mit dem islamischen Verständnis der menschlichen Koexistenz überein. Der Muslim hat nichts dagegen einzuwenden, ja könnte sich sogar dafür einsetzen.“ Viele Dinge, die mit der Staatsbürgerschaft verbunden sind, sind nach Ibn Baiyas Auffassung auch „von der Religion her gefordert und von Natur aus erwünscht“. Hierzu zählt er „das Recht auf Leben, Gerechtigkeit, Gleichbehandlung, Freiheiten, Schutz des Eigentums, Schutz vor willkürlicher Inhaftierung und Folter, Recht auf soziale Sicherheit für Arme, Alte und Kranke, Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft zum allgemeinen Wohlergehen sowie die damit zusammenhängenden Pflichten wie die Zahlung von Steuern, die Verteidigung des Heimatlandes gegen Aggression und die Befolgung von Gesetzen“. Ibn Baiya erkennt auch die Werte des „neutralen Säkularismus“ (al-ʿilmānīya al-muḥāyida) als positiv an. Dazu gehören für ihn die Respektierung religiöser Überzeugungen, religiöse Neutralität, die Anerkennung der individuellen und kollektiven Menschenrechte, über deren Schutz der Staat wacht, das Recht zur Meinungsverschiedenheit, Vielfalt und Abweichung von den Merkmalen des Einzelnen und Gruppen usw. All dies, so meint Ibn Baiya, steht nicht im Widerspruch zu den großen Werten der Offenbarungsreligionen, insbesondere nicht zu den Werten der islamischen Religion, „die zu Güte, Nächstenliebe und Brüderlichkeit zwischen den Menschen aufruft.“ Deswegen ist seiner Auffassung nach Loyalität (al-walāʾ) gegenüber einem westlichen Staat auch nicht unvereinbar mit Loyalität gegenüber der Religion. Zwar sei die Ergebenheit gegenüber Gott, seinem Gesandten und seinem Buch eine unbestreitbare Notwendigkeit, doch dürfe diese keine ausschließende „Mauer“ bilden, die jegliche weltliche Beziehung zu anderen Menschen ausschließe. Vielmehr sei es notwendig, mit den Menschen bei der Verfolgung gemeinsamer Interessen und der Abwendung von unheilvollen Dingen zusammenzuarbeiten, mit ihnen freundschaftliche Zuneigungen auszutauschen und mit ihnen einen guten Umgang zu pflegen, entsprechend der Aufforderung in Sure 2:83: „Sprecht nur Gutes zu den Menschen!“ Der saudische Gelehrte Salmān al-ʿAuda, der im Oktober 2010 das Minderheiten-Fiqh zum Thema einer Sendung seiner Talkshow al-Ḥayāt kalima („Das Leben ist ein Wort“) auf MBC machte, lobte dort Ibn Baiyas Buch als „eines der besten Bücher, die zu diesem Thema abgefasst wurden“. Verschiebung des Diskurses Generell lässt sich beobachten, dass sich die Verfechter des Minderheiten-Fiqh in Europa gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts von dem Konzept der Minderheit ab- und ihr Interesse stärker dem Konzept der Staatsbürgerschaft (muwāṭana) zuwandten. Alexandre Caeiro führt dies auf den Einfluss der Kritik Tariq Ramadans zurück. ʿAbd al-Madschīd an-Naddschār veröffentlichte 2009 ein Buch mit dem Titel „Jurisprudenz der Staatsbürgerschaft“ (Fiqh al-muwāṭana). Darin äußerte er, dass die Implikationen, die dem Minderheiten-Begriff anhaften, ihn dazu veranlasst hätten, sein Buch in Fiqh al-muwāṭana umzubenennen. Im Grunde genommen seien aber Fiqh al-aqallīyāt und Fiqh al-muwātana das Gleiche. Am Institut Européen des Sciences Humaines in Paris wurde der Kurs, den Ahmad Jaballah dort regelmäßig über das Minderheiten-Fiqh gab, 2010 in „Fiqh der muslimischen Präsenz in Europa“ (Fiqh al-ḥuḍūr al-islāmī fī Ūrūbbā) umbenannt. Der Syllabus enthielt jetzt nicht mehr al-Qaradāwīs Buch über das Fiqh al-aqallīyāt, sondern verschiedene Bücher über das Konzept der Staatsbürgerschaft, Islam im Westen und die Fatwas des ECFR und anderer Fiqh-Räte. Al-Qaradāwī selbst veröffentlichte 2010 ein Buch über „Heimat und Staatsbürgerschaft im Lichte der Glaubensgrundlagen und der Zwecke der Scharia“ (al-Waṭan wa-l-Muwāṭana fī ḍauʾ al-uṣūl al-ʿaqadīya wa-l-maqāṣid aš-šarʿīyya), in dem er nicht mehr von dem Minderheiten-Fiqh sprach. Eine späte Blüte erlebt die Debatte über das Minderheiten-Fiqh zurzeit in Israel. Dort hat sich Iyad Zahalka, Qādī am Scharia-Gericht von Jerusalem, für den Aufbau eines Minderheiten-Fiqh für die Muslime in Israel ausgesprochen. Zwei andere Wissenschaftler, Mohanad Mustafa und Ayman K. Agbaria, haben dagegen die Tauglichkeit dieses Konzepts für den palästinensisch-israelischen Kontext in Frage gestellt, zum einen aufgrund der in Israel herrschenden politischen Situation und zum anderen wegen des indigenen Charakters der palästinensisch-arabischen Minderheit. Was den europäischen Kontext betrifft, so hat der britische muslimische Wissenschaftler Shahrul Hussain 2016 mit Bezug auf die ECFR-Fatwa zum Hauskauf mittels verzinstem Darlehen noch einmal kritisiert, dass unklar sei, was das Paradigma des Minderheiten-Fiqh leisten könne, was nicht bereits durch die normale islamische juristische Methodologie und durch die islamischen Rechtsmaximen gesichert sei. Beurteilung des Konzepts außerhalb der islamischen Gelehrsamkeit Insgesamt ist das Konzept des Minderheiten-Fiqh in der westlichen Wissenschaft als ein Versuch, den Islam an den europäischen bzw. westlichen Kontext anzupassen, sehr positiv aufgenommen worden. Die Religionswissenschaftlerin Gritt Klinkhammer charakterisierte schon 2005 Fiqh al-aqallīyāt als einen „der traditionellen Wege der Integration“. In ähnlicher Weise wird das Konzept von Alexandre Caeiro in seiner 2011 verteidigten Dissertation Fatwas for European Muslims: the minority fiqh project and the integration of Islam in Europe interpretiert, die eine der wichtigsten Studien zur Minderheiten-Fiqh-Debatte darstellt. Caeiro beschreibt das Minderheiten-Fiqh „als einen Versuch, im Kontext von Migration und sozialem Wandel eine autoritative Interpretation der islamischen Tradition bereitzustellen“. Er meint, dass diese Debatte unmittelbar mit der Integrationsdebatte verbunden ist, die den Diskurs über den Islam in Westeuropa beherrscht. Der Eindruck, dass die zunehmende Islamfeindlichkeit in Europa eine Integration der Muslime unmöglich mache, habe dementsprechend auch ab 2010 zu einem Abflauen des Interesses an dem Konzept geführt. Auch viele andere Wissenschaftler heben in ihren Veröffentlichungen den Beitrag, den das Minderheiten-Fiqh zur Integration muslimischer Minderheiten in Europa und Amerika leisten kann, hervor (Taha 2013, Houot 2014, Kazemipur 2016). Uriya Shavit hat in zwei Studien herausgearbeitet, dass das vom ECFR vertretene Fiqh al-aqallīyāt in einem diametralen Gegensatz zum salafistischen Konzept al-Walā' wa-l-barā' steht, das die Muslime dazu anhält, sich von Nichtmuslimen fernzuhalten (Shavit 2012, 2015). Y. Matsuyama, die an der Tokyo University of Foreign Studies eine Master-Arbeit zum Minderheiten-Fiqh erstellt hat, rückt dagegen die Funktion in den Vordergrund, welche dieses Konzept für die islamischen Gelehrten selbst hat. Ihrer Auffassung nach ist Fiqh al-aqallīyāt „eines der effektivsten Güter, das von den ʿUlamā' erfunden wurde, um […] in dem hoch kompetitiven religiösen Markt des Islams, insbesondere in muslimischen Minderheitengesellschaften, ihre Autorität zurückzugewinnen“. Das Minderheiten-Fiqh war seit 2007 Gegenstand einer Anzahl von Qualifikationsarbeiten an Universitäten in Europa (neben Caeiro 2011 noch Remien 2007, Schlabach 2009, Albrecht 2010, Rafeek 2012), Nordamerika (Dogan 2015) und Japan (Matsuyama 2010). Eine Besonderheit deutscher Publikationen zum Fiqh al-aqallīyāt ist, dass hier der Begriff meist mit „Minderheitenrecht“ übersetzt wird (so z. B. bei Schlabach und Albrecht). Angesichts der Tatsache, dass der arabische Begriff Fiqh nicht die Bedeutung von „Recht“, sondern von „Verständnis, Kenntnis, Jurisprudenz“ hat und Tāhā al-ʿAlwānī den generellen erkenntnistheoretischen Charakter des Fiqh beim Fiqh al-aqallīyāt besonders betont hat, stellt sich allerdings die Frage, ob diese Übersetzung angemessen ist. Literatur Arabische und englische Grundlagentexte Ašraf ʿAbd-al-ʿĀṭī: Fiqh al-aqallīyāt al-muslima bain an-naẓarīya wa-t-taṭbīq. Dār al-Kalima li-n-Našr wa-t-Tauzīʿ, al-Manṣūra 2008. Ḫālid Muḥammad ʿAbd al-Qādir: Min fiqh al-aqallīyāt. 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(Sonderausgabe der Zeitschrift Ḥaulīyat Ummatī fī l-ʿālam. 2000/2001) Bd. V, S. 7–105. PDF – Neudruck als eigenständiges Buch bei Dār as-Salām, Kairo 2003. PDF Jasser Auda (Hrsg.): Rethinking Islamic law for minorities. Towards a Western-Muslim identity. n. d., hier einsehbar. Muṣṭafā Muḥammad Ḥasan Dūmān: Ḍawābiṭ al-ḍarūrah aš-šarʿīya wa-taṭbīquhā ʿalā fiqh al-aqallīyāt al-Muslimah fī Urūbbā. Dār Ibn Ḥazm li-ṭ-Ṭibāʿa wa-n-Našr wa-t-Tauzīʿ, Beirut 2013. Ismāʿīl al-Ḥasanī: Qirāʾa fī bunyat fiqh al-aqallīyāt. In: Maǧallat Islāmīyat al-Maʿrifa. 30 (Herbst 2002) 119–144. PDF ʿAbdallāh Ibn-aš-Šaiḫ al-Maḥfūẓ Ibn-Baiya: Ṣināʿat al-fatwā wa-fiqh al-aqallīyāt. Dār al-Minhāǧ, Ǧidda 2007 – erw. Aufl. Ar-Rābiṭa al-Muḥammadīya li-l-ʿUlamāʾ, [ar-Ribāṭ], 2012. – Online-Version mit anderer Paginierung Nuh Ha Mim Keller: Which of the four orthodox madhhabs has the most developed fiqh for Muslims living as minorities. Ursprünglich veröffentlicht in Q-News. The Muslim Magazine. 1995. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Der%20Lotse%20geht%20von%20Bord
Der Lotse geht von Bord
Der Lotse geht von Bord (im englischen Original Dropping the Pilot) ist eine Karikatur von John Tenniel, die am 23. März 1890 in der auf den 29. März datierten Ausgabe der britischen Satirezeitschrift Punch gemeinsam mit einem gleichnamigen Gedicht von Edwin James Milliken (1839–1897) erschien. Sie bezieht sich auf den wenige Tage zuvor erfolgten Rücktritt Otto von Bismarcks als Reichskanzler, der von Kaiser Wilhelm II. forciert worden war, und gilt als bekannteste Karikatur Tenniels und des Punchs sowie als eine der berühmtesten Karikaturen überhaupt. Sie bildete die Vorlage für viele weitere Karikaturen und ist häufig in deutschen Schulgeschichtsbüchern abgebildet. Die Redewendungen „Dropping the Pilot“ und „Der Lotse geht von Bord“ sind zu geflügelten Worten der englischen bzw. deutschen Sprache geworden. Historischer Kontext Otto von Bismarck war ab 1862 Ministerpräsident des Königreichs Preußen und ab 1867 Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes. Er hatte die Vorherrschaft Preußens in Deutschland durchgesetzt und gilt als treibende Kraft der deutschen Reichsgründung im Jahr 1871, ab der er Reichskanzler war. Als solcher galt er als wichtigste politische Persönlichkeit des Reichs, die ihre politischen Vorstellungen fast immer bei Kaiser Wilhelm I. durchsetzen konnte. So klagte Wilhelm: „Es ist nicht leicht, unter einem solchen Kanzler Kaiser zu sein.“ Nach dem Tod Wilhelms I. und seines Sohnes Friedrich III. im sogenannten Dreikaiserjahr 1888 kam Wilhelm II. auf den Thron. Bismarck hielt nicht viel vom jungen Wilhelm. Er sei ein „Brausekopf, könne nicht schweigen, sei Schmeichlern zugänglich und könne Deutschland in einen Krieg stürzen, ohne es zu ahnen und zu wollen.“ Wilhelm äußerte jedoch den Plan, selbst deutlich stärker politischen Einfluss zu nehmen: „Sechs Monate will ich den Alten verschnaufen lassen, dann regiere ich selbst.“ So kam es bald zu erheblichen Differenzen zwischen dem Kaiser und seinem Kanzler. Ursache waren unter anderem unterschiedliche Ansichten zur Bündnispolitik, zum Kulturkampf und zu den Sozialistengesetzen. Am 17. März 1890 ließ der Kaiser Bismarck die Nachricht überbringen, er solle noch am selben Tag ins Schloss kommen und sein Abschiedsgesuch mitbringen. Bismarck stellte es dem Kaiser am folgenden Tag zu. Damit endete die 19-jährige Amtszeit Bismarcks als Reichskanzler. Der Kaiser soll dies in einem Telegramm wie folgt kommentiert haben: „Das Amt des wachhabenden Offiziers ist Mir zugefallen. Der Kurs bleibt der alte: und nun Volldampf voraus!“ Über den Adressaten des Telegramms gibt es verschiedene Angaben. So werden Wilhelms alter Lehrer Georg Ernst Hinzpeter und der Großherzog von Sachsen-Weimar genannt. Die Reaktionen auf Bismarcks Sturz fielen in Deutschland eher erleichtert aus. Der Kanzler hatte sich am Ende weitgehend isoliert. Unter den Sozialdemokraten war er wegen der Sozialistengesetze verhasst, aber auch bei den Liberalen und dem Zentrum war er unbeliebt, ebenso bei den polnischen Einwohnern der Ostprovinzen wegen seiner antipolnischen Politik. Selbst in seinem eigenen Lager, den sogenannten Kartellparteien, gab es wachsende Spannungen. Der junge Kaiser hingegen galt zu Beginn seiner Regierungszeit vielen als Hoffnungsträger. Im europäischen Ausland fiel das Urteil anders aus. Bismarck war es durch seine Bündnispolitik in den Jahren zuvor gelungen, eine europäische Führungsrolle zu übernehmen und den Frieden in Europa zu sichern. Diese Friedenspolitik sollte vor allem den Interessen Deutschlands dienen und verschaffte ihm zugleich im Ausland Respekt. Sein Abgang rief deshalb vor allem Besorgnis hervor. So schrieb die britische Times: „Wir in diesem Lande hören die Nachricht vom Rücktritt des großen Mannes mit Bedauern und Besorgnis. Die Entfernung des Fürsten Bismarck vom Steuerruder […] ist von derart weitreichender Bedeutung, dass niemand, der dessen außerordentliche Verdienste um den europäischen Frieden kennt, dieses Ereignis ohne ein Gefühl der Furcht im Hinblick auf die Zukunft registriert.“ Diese Besorgnis richtete sich vor allem auf den Kaiser und seinen neuen Kanzler Leo von Caprivi. So schreibt die Times weiter: „Der Kaiser und der neue Kanzler haben ein leeres Papier vor sich, um darauf Geschichte zu schreiben. Die Welt fragt sich ängstlich, welche Art von Geschichte dies sein wird.“ Beschreibung Die Karikatur zeigt einen Ausschnitt eines Schiffes. Der Politologe Stephan Leibfried vermutet dahinter eine Fantasiedarstellung der kaiserlichen Jacht Hohenzollern. Bismarck, der statt einer Uniform Seemannskleidung trägt, schreitet die Fallreepstreppe hinab. Unten wartet auf ihn ein nur teilweise sichtbares Boot. Bismarck wird entweder als verbittert, in sich gekehrt oder gedankenvoll, voller Zweifel und Sorge beschrieben. Der Kunsthistoriker Karl Arndt beschreibt Bismarcks Miene als düster, seine Haltung lasse ungebeugtes Selbstbewusstsein erkennen. Mit seiner linken Hand stützt Bismarck sich am Schiff ab. Die Hand liegt auf einer Halbklappe mit Scharnieren, in der sich ein Loch befindet. Über sie gibt es verschiedene Angaben. Arndt sieht darin eine Stückpforte eines Geschützes, Leibfried hält sie für seetaugliche Fensterläden. Die Zeichner von späteren Adaptionen der Karikatur stellten sie oft als Bullauge dar. Neben der Fallreep-Pforte lehnt über der Reling mit verschränkten Armen Wilhelm II. Er trägt eine Offiziersuniform und eine Fantasiekrone und blickt auf den scheidenden Kanzler. Sein Gesichtsausdruck wird als selbstbewusst, selbstgefällig, gelassen, kühl und gleichgültig oder höhnisch grinsend beschrieben. Neben Wilhelm könnte der hintere Teil einer Schiffskanone angedeutet sein. Auffällig ist das Fehlen typischer Gestaltungsmerkmale von Karikaturen. So verzichtet Tenniel auf groteske Verzerrungen der Figuren und Übertreibungen im Handlungsablauf. Das einzige für Karikaturen typische Gestaltungsmittel, das Tenniel verwendet, ist die Versetzung von Bismarck und Wilhelm von der politischen in die nautische Welt. Diese Zurückhaltung ist laut Karl Arndt kennzeichnend für Tenniels politische Cartoons. Laut Thomas Noll sah sich Tenniel auch nicht als Karikaturist, sondern sein Ziel war es, „die satirische Darstellung dem Historienbild anzunähern.“ Aufgrund der fehlenden Verzerrungen führt Dietrich Grünewald Dropping the Pilot als ein klassisches Beispiel einer deskriptiven Karikatur an. Darüber hinaus verkörpert die Karikatur laut Lachlan R. Moyle viktorianische Zurückhaltung und Höflichkeit, da sie so gestaltet sei, keine der beiden Figuren zu verletzen. Interpretation Laut dem Politologen Wolfgang Bergem (* 1962) lässt die Karikatur zwei mögliche Interpretationen zu. Zum einen kann das Verlassen des Schiffes durch den Lotsen andeuten, dass das Schiff alle schwierigen und gefährlichen Passagen der Reise hinter sich gelassen hat und nun zur großen Fahrt auf der offenen See aufbricht. Zum anderen kann man die Karikatur auch als Warnung verstehen, da ein Schiff ohne kundige Führung verunglücken kann, wenn es der Lotse zu früh verlässt. Laut Dietrich Grünewald lässt die verzerrungsfreie Präsentationsform der Karikatur keine Rückschlüsse auf eine Wertung zu, weshalb beide Interpretationen möglich seien. Für Imanuel Geiss verkörpert die Karikatur das Bedauern Europas über den Fall Bismarcks, der für die Europäer bis dahin als Symbol für die Stabilität Deutschlands galt. Ernst Gombrich sieht ein Erfolgsrezept von Karikaturen darin, den Lesern zu sagen, dass es keinen Grund gibt, sich Sorgen zu machen. Dessen habe sich auch Tenniel bei Dropping the Pilot bedient, indem er Bismarck als Lotsen darstellt, obwohl er eigentlich der Kapitän des Staatsschiffs gewesen sei. Damit habe er versucht, den Schock zu beruhigen, den der Abgang des respektiertesten und gefürchtetsten Staatsmanns bei den englischen Lesern ausgelöst habe. Karl Arndt sieht in der Karikatur in erster Linie einen huldigenden Nachruf auf Bismarck. Darüber hinaus sieht er in der Kleidung Bismarcks und Wilhelms einen Hinweis auf die unterschiedliche Einschätzung der beiden durch den Karikaturisten. Während Bismarck durch seine Seemannskleidung kompetent und professionell erscheint, unterstreicht aus Arndts Sicht die Krone Wilhelms seine jugendliche Unerfahrenheit, denn der Führer eines Schiffes stehe nicht mit einer Krone auf dem Kopf am Steuer. Die Bedeutung und Macht Bismarcks gegenüber Wilhelm wird laut Arndt auch durch die Wahl der Perspektive verdeutlicht, durch die Bismarck groß im Vordergrund erscheint, während der Kaiser kleiner im Hintergrund halb verdeckt durch die Bordwand dargestellt wird. Das Objekt neben Wilhelm hält Arndt für eine Kanone; die Klappe, auf die Bismarck seine Hand legt, interpretiert er als Geschützpforte. In diesen beiden Darstellungen sieht er einen Hinweis auf die Friedenspolitik Bismarcks und die Unsicherheit darüber, ob diese auch unter Wilhelm fortgesetzt werden wird. Titel Der englische Originaltitel der Karikatur Dropping the Pilot heißt wörtlich übersetzt so viel wie „Den Lotsen entlassen/absetzen“. Er weist Wilhelm II. den aktiven Part zu, Bismarck hingegen ist nur das Objekt, das entlassen oder abgesetzt wird. Dies beschreibt die historischen Vorgänge deutlich genauer als die gängige deutsche Übersetzung Der Lotse geht von Bord. In ihr wird Bismarck zum Subjekt, das das Schiff verlässt. Damit wird eine freiwillige Aktion suggeriert, wo eigentlich eine unfreiwillige Reaktion gemeint ist. Das führt dazu, dass zum einen Wilhelm II. nicht als derjenige erscheint, der Bismarck von Bord wirft, zum anderen wird Bismarck im Gegensatz zum Originaltitel nicht zum hilflosen Gekündigten degradiert. Stephan Leibfried vermutet dahinter die preußische Zensur. Das englische Wort „pilot“ kann im Zusammenhang mit der Seefahrt sowohl mit Lotse als auch mit Steuermann übersetzt werden. Leibfried geht davon aus, dass Tenniel den Steuermann meinte. So soll er von einer Karikatur zur deutschen Reichsgründung des österreichisch-amerikanischen Karikaturisten Joseph Keppler aus dem Jahr 1871 inspiriert worden sein. Auf ihr ist Bismarck als Steuermann des Bootes Germania zu sehen, im Hintergrund ist das untergehende französische Staatsschiff dargestellt. Sie war gleichzeitig mit „Deutschlands größter Steuermann“ überschrieben und mit „The champion pilot of the age“ untertitelt. Laut Leibfried macht es auch einen entscheidenden Unterschied, ob der Lotse das Schiff nach getaner Arbeit verlässt oder das Schiff ohne Steuermann führungslos zurückbleibt. Gedicht Dropping the Pilot wurde im Punch zusammen mit einem Gedicht gleichen Namens von Edwin James Milliken präsentiert. Dieses besteht aus vier Strophen mit jeweils neun Versen. Für Lachlan R. Moyle zeigt es deutlicher als die Karikatur die Besorgnis der Briten über die Entlassung Bismarcks. Dabei verweist Moyle auf die letzten fünf Verse der zweiten Strophe. Entstehung und Veröffentlichung Über die Entstehung von Dropping the Pilot gibt es einige Gerüchte. Eines davon besagt, der Zeichner Tenniel habe von Königin Victoria von der bevorstehenden Entlassung Bismarcks erfahren. So soll sie bei einer Audienz aus Versehen die Pläne ihres Enkels Wilhelm verraten haben. Das wird von dem australischen Historiker Richard Scully als falsch angesehen, denn das Ende der Amtszeit Bismarcks soll schon einige Tage vor seinem offiziellen Rücktrittsgesuch am 18. März bekannt gewesen sein. Die Idee für Dropping the Pilot soll vom schreibenden Mitarbeiter des Punch Gilbert Arthur à Beckett (1837–1891) stammen. Er habe sie kurz vor einem Dinner der Redaktion am 19. März 1890 vorgeschlagen, an dem er wegen einer Krankheit nicht teilnehmen konnte. Dort soll sie von der Redaktion begeistert aufgenommen worden sein. Edward Linley Sambourne behauptete in einem Tagebucheintrag jedoch, die Idee, dass Bismarck die Leiter an der Seite des Schiffes hinabsteigt, gehe auf ihn zurück. Innerhalb von 48 Stunden nach dem Dinner hatte John Tenniel die Zeichnung fertiggestellt und zum Holzschneider des Punchs Joseph Swain (1820–1909) geschickt, von wo aus sie am nächsten Tag zu den Druckern des Punchs gelangte. Diese arbeiteten über das Wochenende, weshalb die neue Ausgabe am Montag, dem 23. März, erscheinen konnte, obwohl sie auf den 29. März datiert wurde. Dropping the Pilot erschien dabei als „big cut“, also die große Karikatur der Woche, auf einer Doppelseite. Dies war eher eine Ausnahme und blieb bedeutenden Anlässen vorbehalten. Die Karikatur soll bei der Leserschaft sehr gut angekommen sein. Der Earl of Rosebery und spätere Premierminister Archibald Primrose, ein intimer Freund der Familie Bismarck, erwarb von Tenniel die Originalzeichnung. Eine originalgetreue Kopie schenkte er später Bismarck, der sie sehr mochte und mit „It is indeed a fine one!“ („Sie ist in der Tat eine schöne!“) kommentierte. Bismarcks Ehefrau Johanna von Puttkamer soll sie über dem Bett im Schloss Schönhausen aufgehängt haben. Über die Meinung Kaiser Wilhelms zu der Karikatur gibt es verschiedene Angaben. Einige Quellen behaupten, sie habe ihm sehr gefallen, anderen Quellen zufolge sei er bis auf die nautische Metapher unglücklich über sie gewesen. Weitere Werke Tenniels zu Bismarck und Wilhelm II. Bereits am 6. Oktober 1888 wurde im Punch die Karikatur A Wise Warning (Eine weise Warnung) Tenniels veröffentlicht, auf der Bismarck und Wilhelm II. zu sehen sind. Wilhelm wird auf ihr als Ikarus dargestellt, der auf einem Felsen steht, seine Flügel ausbreitet und kurz davor ist, loszufliegen. Bismarck erscheint in der Rolle des besorgten Vaters Dädalus. Im Hintergrund ist die Sonne des Cäsarismus zu sehen, die Wilhelm lockt. In der Bildunterschrift bringen die Herausgeber des Punchs ihr herablassendes Vertrauen zum Ausdruck, dass der zweite Teil der alten Fabel (also der Absturz Ikarus’) nicht stattfinden wird. Des Weiteren legen sie Bismarck acht Zeilen aus der Fabel Daedalus und Icarus aus Ovids Metamorphosen in den Mund, in denen Ikarus davor gewarnt wird, nicht zu nah an der Sonne, aber auch nicht zu nah am Meer zu fliegen. Am 10. Mai 1890, also kurz nach der Veröffentlichung von Dropping the Pilot, erschien eine weitere Karikatur Tenniels, die Wilhelm II. als Thema hatte und auf der er deutlich unvorteilhafter dargestellt wurde. Auf ihr ist der deutsche Kaiser zusammen mit Repräsentanten von Spanien, Frankreich, Österreich-Ungarn und Italien in einem Boot zu sehen. Spanien wird dabei von der Regentin Maria Christina vertreten, die ihren dreijährigen Sohn Alfons XIII. auf ihrer Schulter hält. Österreich-Ungarn wird durch Kaiser Franz Joseph I. und Italien durch König Umberto I. vertreten. Nur die französische Republik wird nicht durch einen Regenten, sondern durch die Nationalfigur Marianne repräsentiert. Durch das ungestüme Verhalten Wilhelms droht das Boot zu kentern. Dies wird auch durch die Bildunterschrift verdeutlicht. Auf ihr wird Wilhelm als Enfant terrible, also als schreckliches Kind bezeichnet. Die anderen Bootsinsassen geben als Chor im Heck die Bedenken von sich, dass sie alle kentern würden, falls Wilhelm so weitermache („Chorus in the Stern. ‚Don’t go on like that — or you upset us all!!‘“). Der australische Historiker Richard Scully sieht darin eine Referenz auf Wilhelms Enthusiasmus für einen „kaiserlich-protegierten Sozialismus“, der Europas Stabilität gefährdete. Wilhelm trägt die Reichskrone des Heiligen Römischen Reiches. Karl Arndt sieht darin einen Hinweis darauf, dass Wilhelm sich im Glanz alter Kaiserherrlichkeit gefiel und unzeitgemäße Rollen schätzte. Im August 1891 trug sich Wilhelm mit dem Spruch „Suprema lex regis voluntas!“ („Der Wille des Herrschers ist das höchste Gesetz“) in das Goldene Buch von München ein. Dieser absolutistische Herrschaftsanspruch sorgte für Aufsehen und Missfallen, auch in Großbritannien, wo man aufgrund der starken parlamentarischen Tradition dem kontinentalen Absolutismus argwöhnisch gegenüberstand. So veröffentlichte Tenniel am 28. November im Punch eine Karikatur zu diesem Ereignis. Auf ihr ist Wilhelm im Stile absolutistischer Herrscher dargestellt. Er trägt erneut die alte Kaiserkrone, einen Hermelinmantel und hat die Füße zu einem übertriebenen Tanzschritt gesetzt. Ihm gegenüber stehen Bismarck in ziviler Kleidung und eine Personifikation des Sozialismus, die versuchen, Wilhelm sein Zepter zu entreißen. Im Hintergrund ist auf einem Banner der ins Goldene Buch eingetragene Spruch zu sehen. Untertitelt ist die Karikatur mit The little Germania Magnate; or trying to sway the sceptre (deutsch: Der kleine deutsche Magnat, oder: Der Versuch das Zepter zu schwingen). Den Tod Bismarcks am 30. Juli 1898 kommentierte Tenniel zeichnerisch auf einer Doppelseite im Punch vom 13. August. Darauf ist der tote Bismarck zu sehen, wie er von Personifikationen unter anderem Preußens, Bayerns, Sachsens und Württembergs getragen wird. Davor läuft Deutschland in Gestalt einer trauernden Frau. Die Darstellung beschreibt Karl Arndt als würdevoll ritterlich-romantisch, nicht frei von Sentimentalität, aber frei von Ironie. Aus seiner Sicht kommt darin das hohe Ansehen zum Ausdruck, das Bismarck zu dieser Zeit immer noch genoss. Darin unterschied er sich von dem negativen Bild Wilhelm II. im Punch und anderen Zeitungen. Nachwirkung Bewertung Dropping the Pilot gilt als die bekannteste Karikatur John Tenniels und des Punchs sowie eine der berühmtesten Karikaturen überhaupt. Karl Walther bezeichnete sie in seinem 1898 erschienenen Werk Bismarck in der Karikatur als die „Perle aller englischen Karikaturen“. Der Politikwissenschaftler Franz Schneider (1932–2013) sieht in ihr „die berühmteste Karikatur zur deutschen Politik“. Dieter und Gisela Burkamp bezeichnen Dropping the Pilot als „Jahrhundertzeichnung“. Adaptionen Dropping the Pilot bildet die Vorlage für viele weitere Karikaturen, die neben Deutschland und Großbritannien auch in den USA, den Niederlanden, Südafrika und Neuseeland erschienen. Aus diesem Grund wurden die Karikatur und einige ihrer Abwandlungen zum 100. Jubiläum 1990 mit einer Ausstellung im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover gewürdigt, die danach auch im Mönchehaus Museum Goslar und im Kunstverein Oerlinghausen zu sehen war. In ihr wurden Arbeiten von 23 Künstlern präsentiert. Adaptionen mit Bezug zu Bismarck und Wilhelm II. Am 10. Oktober 1914, wenige Monate nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges, erschien im Daily Herald die Karikatur Prophecy? (Dropping the Pilot) (deutsch: Prophezeiung? (Den Lotsen absetzen)) von Will Dyson (1880–1938). Auf ihr nimmt Wilhelm II. die Rolle Bismarcks ein und verlässt das Schiff über das Fallreep. Im Gegensatz zu Bismarck trägt der Kaiser dabei jedoch seine Uniform. Beobachtet wird er von Germania, der Personifikation Deutschlands. Im Gegensatz zum Original, in dem Wilhelm II. Bismarck mit einem lockeren Gesichtsausdruck hinterherblickt, blickt Germania ärgerlich bis ungehalten. Jost Rebentisch sieht darin eine „augenfällige Trennung“ zwischen Deutschland und Wilhelm II. Direkten Bezug zum Original nimmt The Haunted Ship (deutsch: Das Spuk-Schiff) von Bernard Partridge (1861–1945), die im Punch vom 31. März 1915 anlässlich des hundertsten Geburtstags Bismarcks veröffentlicht wurde. Die Karikatur zeigt den durchsichtigen Geist Bismarcks als Wiedergänger, der das Fallreep vom Beiboot aus wieder hinaufklettert. Beobachtet wird er dabei von einem deutlich gealterten Wilhelm, der als überrascht oder entsetzt beschrieben wird. Er trägt im Gegensatz zum Original nun die Kaiserkrone des Deutschen Reichs. Bismarck, der als Ghost of the old pilot (Geist des alten Lotsen) bezeichnet wird, fragt sich, ob der Kaiser ihn jetzt auch noch entlassen würde („I wonder if he would drop me now“). Auf die Abdankung Wilhelms II. bezieht sich die Karikatur Dropping the Pirate (deutsch: Den Piraten absetzen) von William H. Walker (1871–1938), die im Dezember 1918 im amerikanischen Magazin Life erschien. Sie zeigt den zu der Zeit bereits abgedankten Kaiser Wilhelm, der das Schiff über das Fallreep verlässt. An Deck beobachtet ihn dabei ein Soldat der Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Wie Bismarck trägt Wilhelm Seemannskleidung, allerdings zeigt seine Mütze das Piratensymbol. Zudem hängt an seinem linken Fuß eine Kette mit einer Kugel, auf der „justice“ (Gerechtigkeit) steht. Anders als bei Bismarck wartet auf Wilhelm kein Boot am Ende der Treppe, sondern nur das Meer, in dem ein Brett mit der Aufschrift „oblivion“ (Vergessenheit) schwimmt. Das Wortspiel mit „Pirat“ und „Pilot“ taucht bereits in der komischen Oper Die Piraten von Penzance aus dem Jahr 1879 auf. Weitere Adaptionen Im Daily Mirror erschien 1909 eine Karikatur von William Haselden (1872–1953), die den Sturz des osmanischen Sultans Abdülhamid II. karikiert. Abdülhamid benutzt darin nicht den Fallreep, sondern wird von einem Jungtürken mit einem Stein beschwert ins Meer geworfen. In einer 1924 in Die Burger veröffentlichten Karikatur des Südafrikaners D. C. Boonzaier (1865–1950) verlässt John Bull, die Personifikation des Königreichs Großbritannien, das Schiff Die Unie van Suid-Afrika. Beobachtet wird er dabei vom südafrikanischen Premierminister Barry Hertzog. Das von Arthur Johnson stammende Titelbild des Kladderadatsch vom 10. Mai 1925 dreht die Richtung des Lotsen um. Es zeigt eine Karikatur Paul von Hindenburgs, der mit energischem Schritt über das Fallreep das Schiff betritt. Beobachtet wird er dabei von einem zufrieden lächelnden Deutschen Michel in Matrosenuniform. Hindenburg war kurz vorher zum Reichspräsidenten gewählt worden. Durch den Titel Der Lotse betritt das Schiff sollte er zum direkten Nachfolger Bismarcks stilisiert werden. Zudem sollte die Wahl als verheißungsvolles Ereignis in eine ehrwürdige nationalgeschichtliche Perspektive gerückt werden. Nach der Unterhauswahl 1945, die die Conservative Party deutlich gegen die Labour Party verlor, musste der britische Premierminister Winston Churchill von seinem Amt zurücktreten. Diesen Abgang kommentierte Daniel Bishop mit einer Karikatur mit dem Titel Dropping the Pilot, auf der Churchill an Bismarcks Stelle tritt. Mit einer Zigarre im Mund verlässt er gelassen und selbstbewusst das moderne Schlachtschiff. Laut Arndt sollte der Rücktritt damit als einschneidendes Ereignis dargestellt werden. Vor dem konstruktiven Misstrauensvotum am 1. Oktober 1982 gegen Helmut Schmidt und der damit verbundenen Bonner Wende erschien auf dem Titelblatt des Spiegels vom 20. September eine Darstellung Schmidts als von Bord gehender Lotse. Die Zeichnung von Hermann Degkwitz ist eine fast identische Kopie von Tenniels Bismarck-Darstellung. Nur die Kopfbedeckung wurde zu einer Helgoländer Lotsenmütze verändert. Auf eine Darstellung eines Beobachters wurde ebenfalls verzichtet. Laut Karl Arndt sollte Schmidt durch die Gleichsetzung mit Bismarck als Staatsmann allerhöchsten Ranges dargestellt werden. Die Krise der sozialliberalen Koalition hatte zuvor bereits Walter Hanel in einer Karikatur mit dem Titel Der Lotse bleibt an Bord verarbeitet, die am 2. September in der FAZ erschienen war. Darauf ist Schmidt als Steuermann des gestrandeten Schiffs namens Koalition zu sehen. Der zuvor bereits mehrfach geflickte Schiffsrumpf ist bis auf wenige Planken zerfallen. Trotz dieses Zustands versucht Schmidt noch zu manövrieren. Ebenfalls auf dem Schiff befindet sich Außenminister und Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher, der in der Nähe des Beiboots seine Angel ausgeworfen hat. Dies wird als das Angeln nach neuen Koalitionspartnern und der Versuch des politischen Überlebens interpretiert. Anlässlich des erzwungenen Rücktritts Erich Honeckers am 18. Oktober 1989 veröffentlichte Luis Murschetz in der Zeit eine Karikatur mit dem Titel Der Lotse soll von Bord. Sie zeigt ein Schiff mit der DDR-Flagge, auf dem ein überdimensional großer Honecker sitzt, der von einer Menschenmasse von Bord gestoßen werden soll. Da er sich jedoch dagegen wehrt, gerät das Schiff durch den Druck der Massen in Schräglage. Ein auf dem Schiff befindliches Rettungsboot bleibt unbenutzt. Einen Tag nach der Deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 erschien im New Zealand Herald die Karikatur Dropping the Pilots von Laurence Clark (* 1949). Sie zeigt ein Schiff namens Germany, das von den Hauptsiegermächten in Person von Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt, Josef Stalin und Charles de Gaulle über das Fallreep verlassen wird. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl beobachtet dies von der Reling aus. Im Sommer 2007, kurz vor dem Rücktritt Tony Blairs als britischer Premierminister, erschien eine Karikatur des Briten Martin Rowson (* 1959), die Blair an die Stelle Bismarcks setzt. Von der Reling aus wird er von seinem späteren Nachfolger Gordon Brown beobachtet. Aus dem Loch in der Schiffswand, das Rowson als Bullauge interpretiert, schaut mit lächelndem Gesicht der Vorsitzende der Konservativen und „Schatten-Premierminister“ David Cameron. Blair fletscht seine Zähne, was darauf hindeutet, dass er das Schiff nicht freiwillig verlässt. Zudem hält er seine linke Hand, mit der er das V-Zeichen formt, nach oben. Für den Betrachter der Karikatur sieht es aus wie das „Victory-Zeichen“. Brown sieht jedoch Blairs Handrücken, womit sich die Geste in Großbritannien zu einer Beleidigung verkehrt. Auch Horst Haitzinger bediente sich häufig des Motivs des gehenden oder ankommenden Lotsen. Unter dem Titel Die Lotsen wollen an Bord kommentierte er die Auseinandersetzungen in der Union über den Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl 1980. Darauf sind die beiden Anwärter Franz Josef Strauß und Ernst Albrecht zu sehen, die sich am Fallreep des Schiffes Kanzlerkandidaten ’80 prügeln. Von oben schaut ihnen lächelnd der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt zu, der die Wahl später auch gegen Strauß gewann. Den Amtsantritt von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2005 kommentierte Haitzinger mit einer Karikatur in der tz. Auf ihr ist der damalige Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Barroso auf einem Schiff namens EU zu sehen, das auf Felsen aufgelaufen ist. Merkel betritt es von einem Boot aus über das Fallreep und wird von Barroso mit den Worten „Herzlich Willkommen …“ begrüßt. Untertitelt ist das Bild mit „… Lotsin, an Bord!“. Anlässlich des Rücktritts Edmund Stoibers vom Amt des Bayerischen Ministerpräsidenten und des CSU-Vorsitzenden im Jahr 2007 zeigte Haitzinger ihn, wie er von seinen Nachfolgern Erwin Huber (neuer Parteivorsitzender) und Günther Beckstein (neuer Ministerpräsident) von Bord des Schiffes CSU getragen wird. Unten wartet auf ihn ein Beiboot namens Brüssel, eine Anspielung auf Stoibers neuen Job in einer Arbeitsgruppe der Europäischen Kommission zum Bürokratieabbau. Zum Amtsantritt Barack Obamas 2009 stellte Haitzinger die USA als notgewassertes Flugzeug dar. Damit bezieht er sich auf die erfolgreiche Notwasserung des US-Airways-Flugs 1549 wenige Tage davor. Obama betritt den Flügel des Flugzeugs über ein Boot seines Namens und wird dabei von Uncle Sam mit einem „Hurra …“ begrüßt. Geflügelte Worte Der Originaltitel „Dropping the Pilot“ hat auch abseits von Karikaturen Eingang in die englische Sprache gefunden. So wird „drop the pilot“ im Oxford Dictionary of English Idioms und dem Oxford Dictionary of Word Origins aufgeführt und als „abandon a trustworthy adviser“ („einen vertrauenswürdigen Berater fallenlassen“) umschrieben. Dabei wird ausdrücklich auf Tenniels Karikatur verwiesen. Das Bloomsbury Dictionary of Idioms beschreibt „drop the pilot“ als „dismiss the political leader“ („den politischen Führer entlassen“) und verweist ebenfalls auf die Karikatur als Ursprung der Redewendung. Auch der gängige deutsche Titel „Der Lotse geht von Bord“ wurde zu einem geflügelten Wort für Führungswechsel, vor allem in der Politik. In der deutschsprachigen Presse wird er oft verwendet, so etwa beim Ende der Präsidentschaft Barack Obamas sowie bei den Rücktritten des österreichischen Bundeskanzlers Werner Faymann und des deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher. Geschichtsunterricht Dropping the Pilot ist unter seinem deutschen Titel Der Lotse geht von Bord sehr häufig in deutschen Geschichtsschulbüchern abgebildet. Die Interpretation der Karikatur ist eine häufige Aufgabe im Geschichtsunterricht in Deutschland. Literatur Herwig Guratzsch (Hrsg.): Der Lotse geht von Bord. Zum 100. Geburtstag der weltberühmten Karikatur. Wilhelm-Busch-Gesellschaft, Bielefeld 1990, ISBN 3-921752-28-0. Weblinks Punch, or the London Charivari. Volume 98. 29. März 1890 beim Project Gutenberg Einzelnachweise Anmerkungen Karikatur (Werk) Werk über Otto von Bismarck Wilhelm II. (Deutsches Reich) Geflügeltes Wort 1890 Lotsenwesen
10913861
https://de.wikipedia.org/wiki/Bristol%20406%20Zagato
Bristol 406 Zagato
Der Bristol 406 Zagato ist ein britisch-italienischer Sportwagen, der die Technik des Bristol 406 Saloon mit einer von Zagato entworfenen und gebauten Karosserie verbindet. Das vielfach als exzentrisch empfundene Sondermodell entstand im Auftrag des Bristol-Händlers Tony Crook und wurde in sehr geringer Stückzahl hergestellt. Es ist leichter, kleiner und schneller als das Basisfahrzeug mit Werkskarosserie. Daneben erhielten auch einige ältere Bristol-Chassis nachträglich vergleichbare Zagato-Karosserien. Der 406 Zagato gehört heute zu den teuersten Klassikern der Marke. Entstehungsgeschichte Bristol Cars, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründete Automobilabteilung des Flugzeugherstellers Bristol Aeroplane Company, produzierte ab 1946 Oberklassefahrzeuge, die auf BMW-Technik beruhten. Das Chassis und die Motoren waren von den vor dem Krieg entwickelten BMW-Typen 326, 327 und 328 abgeleitet, deren Konstruktionspläne möglicherweise als Kriegsreparation nach Großbritannien gekommen waren. Auf das Debütmodell 400, das außerdem eine an ein BMW-Coupé angelehnte Karosserie hatte, folgten die von Touring karossierten Modelle 401, 402 und 403, die in der Literatur als eine einheitliche Modellfamilie angesehen werden, bevor 1953 mit dem zweitürigen 404 und ein Jahr später mit dem viertürigen 405 die dritte Bristol-Generation erschien, deren Technik weiterhin auf BMW-Konstruktionen zurückzuführen war. Die meisten dieser Baureihen entstanden in jeweils dreistelliger Stückzahl, wobei das Produktionsniveau Mitte der 1950er-Jahre nur noch etwa halb so hoch war wie in den Anfangsjahren. Im Herbst 1958 führte Bristol schließlich mit dem viersitzigen 406 Saloon die vierte Modellgeneration ein, die eine Abkehr von der anfänglich betont sportlichen Ausrichtung der Marke bedeutete: Er war größer, schwerer und luxuriöser als alle bisherigen Bristol, verlor die Bristol-typische Agilität und war trotz eines größeren Motors langsamer als die Vorgänger, sodass er teilweise als untermotorisiert empfunden wurde. Bristol beabsichtigte anfänglich, dem 406 Saloon werksseitig einen kürzeren und schnelleren Zweisitzer zur Seite zu stellen. Entsprechend wurde 1958 ein Prototyp gebaut, das Projekt jedoch aus Kostengründen und wegen unklarer Zukunftsaussichten des Unternehmens eingestellt. Im folgenden Frühjahr griff Tony Crook, Mitglied im Vorstand von Bristol Cars und zugleich größter Händler der Marke, die Idee eines sportlichen Sondermodells auf 406-Basis wieder auf. Daraus wurde der 406 Zagato, der formal kein Modell von Bristol Cars, sondern ein eigenständiges Projekt von Anthony Crook Motors war. Der 406 Zagato sollte Bristol zu seinem Ursprung zurückbringen: Er war „für Fahrer (bestimmt), die bereit waren, zugunsten sportlicher Leistungen Abstriche beim Komfort und beim Raumangebot in Kauf zu nehmen“ (Tony Crook). Nach Crooks Verständnis gehörte dazu vor allem eine leichte und kompakte Karosserie. Mit deren Gestaltung und Aufbau beauftragte er die italienische Carrozzeria Zagato, die für Leichtbau bekannt und deren britischer Generalimporteur Crook seit Jahren war. Außerdem sollte Abarth die Motorleistung steigern. Der Prototyp des 406 Zagato wurde genau ein Jahr nach dem 406 Saloon präsentiert. Er debütierte vom 21. bis 31. Oktober 1959 auf der Londoner Earls Court Motor Show, wo er je nach Quelle auf dem Stand von Bristol Cars oder dem von Anthony Crook Motors bzw. Zagato gezeigt wurde. Im Herbst 1959 begann die reguläre Fertigung, die ein Jahr später endete. Der Bristol 406 war nur über Anthony Crook Motors erhältlich; die anderen Bristol-Händler hatten keinen Zugriff darauf. Der 406 Zagato war nicht erfolgreich: Statt der geplanten zehn entstanden lediglich sechs Fahrzeuge, und selbst die ließen sich nur schwer absetzen. Gleichwohl war der sportliche Gran Turismo der Ausgangspunkt einer langjährigen Zusammenarbeit Bristols mit Zagato: 1960 entstand ein kurzer Sportwagen mit 406-Technik und Fließheckkarosserie von Zagato (406S Zagato), dem 1961 ein ähnlich gestaltetes Auto auf der Basis des Bristol 407 mit Achtzylinder-V-Motor von Chrysler folgte (407 GTZ Zagato). Während diese beiden Fahrzeuge Einzelstücke blieben, verkaufte Bristol von 1975 bis 1993 insgesamt etwa 90 Exemplare des Targa-Coupés 412 und seines Nachfolgers Beaufighter, dessen Karosserie Giuseppe Mittino für Zagato entworfen hatte. Nomenklatur Der von Bristol Cars werksseitig hergestellte Viersitzer, der 1958 den Bristol 405 in der Rolle des Hauptmodells ablöste, wird in der englischsprachigen Literatur zumeist als 406 Saloon bezeichnet. Das leichtere Sondermodell mit italienischer Karosserie hingegen wurde als 406 Zagato vermarktet; in der jüngeren Literatur finden sich teilweise auch die (1959 nicht verwendeten) Bezeichnungen 406 Z, 406 GTZ oder 406 GT Zagato. Modellbeschreibung Chassis und Fahrwerk Der 406 Zagato ist auf einem aus Stahl gefertigten Kastenrahmen mit Längsträgern und Quertraversen aufgebaut, dessen Konstruktion und Abmessungen mit dem des regulären 406 Saloon übereinstimmen. Der Rahmen geht in den Grundzügen auf das Chassis des BMW 326 von 1936 zurück. Die Vorderräder sind einzeln an Querlenkern und einer unteren Querblattfeder aufgehängt. Hinten hat der Wagen eine Starrachse mit Watt-Gestänge und einem Längslenker, Drehstabfedern mit Traghebeln und selbst konstruierten Stoßdämpfern. Das Auto verzögert mit vier Scheibenbremsen von Dunlop. Motor und Kraftübertragung Alle 406 Zagato werden von Bristols Reihensechszylinder-Ottomotor angetrieben. Die hier verwendete 2,2 Liter große Version (2216 cm³, Bohrung × Hub: 68,69 bzw. 99,64 mm) ist eine Weiterentwicklung des bereits im 400 eingebauten Motors, der auf eine BMW-Konstruktion (328) von 1938 zurückgeht. In den wesentlichen Merkmalen gleicht der Bristol-Motor dem BMW-Motor; allerdings ist Bristols Version nicht nach metrischen, sondern in Zoll-Maßen konstruiert, und die verwendeten Materialien sind teilweise andere. Der Motor hat halbkugelförmige Brennräume mit V-förmig hängenden Ventilen, die über Stößel, Stoßstangen und Kipphebel von der unten liegenden Nockenwelle gesteuert werden. Die Auslassventile werden über zusätzliche Stoßstangen quer über den Zylinderkopf und je einen zweiten Kipphebel betätigt. Das Gemisch bereiten drei über dem Motorblock installierte Solex-Fallstromvergaser vom Typ 32 PBI/7 auf. Im 406 Zagato war der Motor mit zwei unterschiedlichen Leistungsstufen erhältlich: Einzelne Fahrzeuge, darunter der im Oktober 1959 öffentlich ausgestellte Prototyp, sind mit der Basisversion des Motors ausgestattet, die auch in allen 406 Saloon eingebaut wurde (Type 110). Sie leistet 105 bhp (78 kW, 106 PS). Das Drehmoment von 175 Nm fällt bei 4700 Umdrehungen pro Minute an. Die meisten 406 Zagato haben eine leistungsgesteigerte Version des Sechszylindermotors (Type 110S), die im 406 Saloon nicht erhältlich war. Sie kommt bei unverändertem Hubraum auf eine Höchstleistung von 130 bhp (97 kW, 132 PS). Das maximale Drehmoment ist mit 166 Nm niedriger als in der Basisversion, wird allerdings bereits bei 3750 Umdrehungen pro Minute erreicht. Die Leistungssteigerung wurde durch eine auf 9,0:1 erhöhte Verdichtung, eine geänderte Nockenwelle und eine neue Auspuffanlage samt Krümmer von Abarth erreicht. Die Motorleistung übertragen ein handgeschaltetes Vierganggetriebe mit Overdrive und eine Kardanwelle auf die Hinterachse. Der erste Gang des von Bristol selbst gebauten Getriebes ist nicht synchronisiert. Der – bei allen Bristols seit dem 405 – serienmäßige Overdrive von Laycock de Normanville kann im vierten Gang zugeschaltet werden und schaltet sich beim Zurückschalten automatisch aus. Karosserie Die Karosserie des 406 Zagato ist eigenständig. Sie hat weder stilistisch noch technisch Bezüge zu dem von Dudley Hobbs und Dennis Sevier gestalteten Aufbau des 406 Saloon. Design Das Design der Stufenheckkarosserie geht auf Gianni Zagato, den Sohn des Unternehmensgründers Ugo Zagato, zurück. An der Frontpartie finden sich Designmerkmale des ebenfalls von Zagato entworfenen und gebauten Lancia Flaminia Sport; die Kühlerverkleidung ist sogar direkt von Lancia übernommen und trägt bei einzelnen Fahrzeugen Lancias Wappeneinfassung, in die das Emblem von Bristol Cars eingesetzt wurde. Der Dachaufbau folgt der Trapezform, die sich Ende der 1950er-Jahre in Europa durchzusetzen begann. Mit der waagerecht verlaufenden Dachlinie und der weit nach hinten versetzten C-Säule setzte Zagato eine Vorgabe Tony Crooks um, wonach das Auto vier vollwertige Sitzplätze für Erwachsene haben musste. Der Innenraum des Zagato ist aber knapper bemessen als der des 406 Saloon. Das Dach ist profiliert: Es hat im hinteren Bereich die für Zagato typischen, Double Bubbles genannten Ausbuchtungen. Beim Prototyp von 1959 und dem danach hergestellten Fahrzeug ist das Dach geringfügig niedriger als bei den folgenden vier Fahrzeugen. Die Türen sind rahmenlos. Die vorderen Scheinwerfer sind zurückversetzt in die Kotflügel integriert und mit Plexiglas abgedeckt. Weil der hoch bauende Motor nicht unter die flache Motorhaube passt, ist mitten auf der Haube eine Hutze erforderlich, die auch als Lufteinlass dient. Über der Hinterachse befindet sich eine Stufe in der Gürtellinie; im Heckbereich ist sie höher als beim Vorderwagen. Der hintere Überhang ist kürzer als der des Standard-406. Wie bei Bristol üblich, ist das Reserverad stehend in einem der vorderen Kotflügel in einem von außen zugänglichen Fach zwischen dem Vorderrad und der A-Säule untergebracht. Auf der anderen Fahrzeugseite nimmt ein ähnliches Fach die Batterie auf. Die Dekorelemente variieren von Fahrzeug zu Fahrzeug. Das betrifft unter anderem das Kühlergitter und die seitliche Zierleiste, die bei einigen Autos waagerecht bis zum hinteren Radausschnitt oder auf den hinteren Kotflügel reicht, während sie bei mindestens einem Wagen einen Z-förmigen Knick macht, bei einem weiteren Fahrzeug dagegen gänzlich fehlt. Einige, aber nicht alle Fahrzeuge haben drei waagerechte Zierstreifen auf der C-Säule. Der Zagato-Entwurf wird in stilistischer Hinsicht zumeist kritisch bewertet. Einige Quellen sehen ihn als „exzentrisch“ an, andere sind sich unschlüssig, ob der Zagato-Entwurf „ein charismatischer Klassiker oder ein klassischer Fauxpas“ ist. Leichtbau Zagato setzte konsequent auf Leichtbau. Während die beim Londoner Karosseriebaubetrieb Jones Brothers hergestellte Karosserie des 406 Saloon von einem schweren Stahlunterbau getragen wurde, der maßgeblich für das hohe Gewicht des Serienmodells verantwortlich war, konstruierte Zagato ein leichtes Gerüst aus dünnen Stahlrohren, an dem die aus Aluminiumblechen gefertigten Karosserieteile befestigt sind. Zur Gewichtsreduzierung trägt auch der kürzere Aufbau bei. Im Innenraum verzichtete Zagato auf Dekorelemente. So ist der Instrumententräger, dessen Form dem des 406 Saloon entspricht, anders als beim Werksmodell nicht mit Walnussholz verkleidet; er besteht vielmehr aus dünnem, in der Farbe der Sitzbezüge lackiertem Aluminiumblech. Bei den meisten 406 Zagato sind leichte, nur wenig gepolsterte Sitze eingebaut; mindestens ein Auto hat allerdings die komfortablen Sessel des 406 Saloon. Mängel Die Karosserie hat einige Mängel. So sind die hinteren Radkästen zu klein. Fahrbahnunebenheiten führen dazu, dass die Reifen bei Stößen regelmäßig die Radkästen oben berühren. Crook erklärte 40 Jahre nach Einstellung der Produktion, dass die Verarbeitungsqualität der Zagato-Karosserien „nicht so gut“ gewesen sei. Seine Mechaniker hätten vielfach Details wie Passungen, Spaltmaße und Oberflächen nachbessern müssen. Abmessungen, Gewicht und Fahrleistungen Der Bristol 406 Zagato ist bei unverändertem Chassis 280 mm kürzer als der 406 Saloon. Sein Gewicht liegt mit 1100 kg deutlich unter dem des Standardmodells (1350 kg) und annähernd auf dem Niveau des Bristol 400 von 1946. Zeitgenössische Testfahrten ermittelten für den 406 Zagato mit dem 110S-Motor eine Höchstgeschwindigkeit von 122 mph (196 km/h), während der 106 Saloon nur 102 mph (164 km/h) erreichte. Produktionsprozess Der Produktionsprozess war auf mehrere Standorte verteilt. Die Chassis entstanden im Bristol-Werk in Filton. Von dort wurden sie per Lastwagen nach Mailand zu Zagato gebracht, wo italienische Mechaniker die in Handarbeit hergestellten Karosserien mit den Chassis verbanden. Tony Crook stellte zwei Mitarbeiter seiner Werkstatt ab, die die Arbeiten in Zagatos Fabrik überwachten und die Einhaltung von Bristols Qualitätsanforderungen sicherstellen sollten. Die fertigen Autos kamen dann „auf eigener Achse“ nach Großbritannien, wo sie in Crooks Werkstatt in Hersham in Surrey noch einmal nachbereitet wurden. Produktion und Preise Der Vertrag zwischen Anthony Crook Motors und Zagato sah den Aufbau von zehn 406 Zagato vor. In der Literatur besteht Einigkeit darüber, dass diese Zahl tatsächlich nicht erreicht wurde. Nahezu allen Quellen zufolge wurden insgesamt sechs 406 Zagato hergestellt. Soweit in einigen Quellen ein Produktionsumfang von sieben Fahrzeugen angegeben ist, schließt das den 406 S Zagato mit kurzem Radstand und eigenständiger Karosserie ein. Anthony Crook Motors bot den Bristol 406 Zagato Ende 1959 für 4.792 £ (Fahrzeugpreis 3.380 £ zuzüglich 1412 £ Purchase Tax) an. Er war damit 550 £ teurer als ein regulärer 406 Saloon mit Werkskarosserie (4.244 £ inklusive Steuern). Der Preis eines 406 Zagato entsprach dem Gegenwert von sieben Triumph Herald oder neun Mini (500 £). Die Bristol 406 Zagato ließen sich nur zögerlich absetzen. Das letzte Neufahrzeug verkaufte Crook im Oktober 1961 mit deutlichem Nachlass für 3.500 £ inklusive Steuern. Zur gleichen Zeit wurde ein gebrauchter 406 Zagato mit 6.000 Meilen Laufleistung für 2.800 £ angeboten. Von den sechs 406 Zagato existieren je nach Quelle noch vier oder fünf Autos. Der dritte hergestellte Wagen – der erste mit höherem Dach – war im 20. Jahrhundert in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt. Tony Crook ließ das Auto zerlegen; die verwertbaren Komponenten wurden als Ersatzteile genutzt. Der Bristol 406 Zagato und seine Konkurrenten Die zeitgenössische Presse und jüngere Publikationen sehen den Bristol 406 Zagato als Konkurrenten zum Alvis TD 21, zum Aston Martin DB4 (bzw. DB4 GT) und zum Jaguar Mark 2. Eine Gegenüberstellung zeigt, dass diese Konkurrenzmodelle jeweils deutlich preiswerter waren als der Bristol 406 Zagato, aber größere und zumeist auch deutlich leistungsstärkere Motoren hatten. Der 4.100 £ teure Aston Martin DB4 GT – die kurze Sportversion des DB4 –, hatte nach Werksangaben einen Motor mit einer Leistung von 222 kW (299 bhp, 302 PS), der mehr als doppelt so stark war wie der des 406 Zagato. Teurer als der Bristol 406 Zagato war nur das Hochleistungsmodell Aston Martin DB4 GT Zagato, das angeblich 231 kW (309 bhp, 314 PS) leistete und ähnlich selten ist wie der Bristol 406 Zagato. Das Missverhältnis von Preis und Leistung und der Umstand, dass die mittlerweile über 20 Jahre alte Grundkonstruktion des Motors an ihre Grenzen gestoßen war, werden als wesentliche Gründe für die geringe Nachfrage nach dem Bristol 406 Zagato angesehen. Der Bristol 406 Zagato als Klassiker Der Bristol 406 Zagato gehört zu den seltensten und „aufregendsten Klassikern“ der Marke Bristol. Er erzielt mittlerweile die höchsten Verkaufspreise aller Bristol. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden die 406-Zagatos für das 20- bis 30-Fache des Neuwagenpreises gehandelt. Ein 1960 aufgebautes Fahrzeug wurde 2014 in voll restauriertem Zustand für 169.500 £ (187.390 €) verkauft. Verwandte Modelle Zagatos Karosserien für ältere Bristol-Chassis Weil Anthony Crook Motors nur sechs 406 Zagato absetzen konnte, in Italien aber vertragsgemäß zehn Karosserien hergestellt worden waren, verwendete Crook die nicht verkauften Zagato-Aufbauten ab 1961 mehrheitlich für ältere Bristol-Chassis. In einem in Großbritannien als Upgrade bezeichneten Prozess wurden mehrere Fahrgestelle vom Typ Bristol 400 und 401 nachträglich mit den verbliebenen Karosserien im Stil des 406 Zagato ausgestattet, die in Crooks Werkstatt in Details stilistisch überarbeitet worden waren. Keines dieser Fahrzeuge verließ Crooks Werkstatt mit einem 2,2-Liter-Motor (Typ 110 oder Typ 110S), vielmehr behielten sie alle die 2,0-Liter-Triebwerke (Type 85), mit denen sie serienmäßig ausgestattet waren. Allerdings wurde mindestens eines dieser Autos auf Initiative seines Eigentümers mit einem Type-110-Motor ausgestattet. Wie schon die regulären 406-Zagatos, waren auch diese Upgrades Projekte von Anthony Crook Motors; einen direkten Bezug zu Bristol Cars gab es nicht. Crook bot die Umbauten ab Sommer 1961 zu einem Drittel des Preises eines originalen 406 Zagato an (1.550 £). Wie viele dieser Mischmodelle hergestellt wurden, ist nicht bekannt. Tony Crook erklärte im Jahr 2001, die Nachfrage sei „gut“ gewesen. Markendokumentationen gehen von „mindestens drei“ Autos aus, die auf diese Weise überarbeitet worden sind. Eines dieser Mischmodelle, das auf dem 1949 hergestellten Chassis mit der Nummer 400-1-568 basiert, wurde 2013 in verwahrlostem Zustand in Devon gefunden. Als sogenannter Scheunenfund (Barnfind) wurde das Auto im gleichen Jahr unrestauriert für 29.000 £ versteigert. Inzwischen ist es vollständig restauriert und wird wiederholt auf Ausstellungen gezeigt. Bristol 406 S Zagato Vom 406 Zagato ist der 406 S Zagato zu unterscheiden, ein stilistisch eigenständiges Fahrzeug, das einen kürzeren Radstand hat. Der Zusatz „S“ (für englisch short) weist auf diese Besonderheit hin. Das zweisitzige Auto, das werksintern als 406S-P2 bezeichnet wird, ist ein Einzelstück, das 1960 im Auftrag von Anthony Crook Motors bei Zagato in Mailand aufgebaut wurde. Es beruht auf einem Chassis des Bristol 404, das geringfügig verlängert wurde. Mit einem Radstand von 2743 mm liegt der 406 S Zagato zwischen dem kurzen 404 (2438 mm) und den regulären 406 Saloon und 406 Zagato (2896 mm). Dieses Chassis entspricht dem des 1958 hergestellten Prototyps 406S-P1. Die Aluminiumkarosserie des 406 S Zagato hat weiche Rundungen und ein Semifließheck. Die hinteren Kotflügel sind rundlich ausgeformt, außerdem ist hinten eine Panoramascheibe eingebaut, die von einem in Kleinserie hergestellten Lancia mit Zagato-Karosserie stammt. Der 406 S Zagato hat den 130 bhp starken Type-110S-Motor, der auch im längeren 406 Zagato zum Einsatz kam. Das Auto, das einige Jahre lang in Tony Crooks Familie genutzt wurde, existierte zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch. Der Entwurf der 406S-Zagato-Karosserie wurde wenig später in leicht veränderter Form für den Aston Martin DB4 GT Zagato verwendet. Eine ähnliche, allerdings deutlich längere Karosserie erhielt 1961 auch der Bristol 407 GTZ Zagato. Technische Daten Literatur Christopher Balfour: Bristol Cars. A very British story, Haynes Publishing, 2009, ISBN 978-1-84425-407-1 Chris (Christopher) Balfour: Bristol Sixes – 400 to 406, in: Classic & Sports Car, Heft Oktober 1990. Martin Buckley: Bristol Fashion. Vorstellung und Fahrbericht des Bristol 406 Zagato, in: Classiccars 9/2001, S. 104 ff. Martin Buckley: Souls of Discretion. Bristol has been in business for 50 years, Classic & Sports Car 1996, S. 116 ff. R.M. Clarke: Bristol Cars: A Brooklands Portfolio: 132 Contemporary Articles Drawn from International Motoring Journals, UK 2001 Dieter Günther: Bristol Cream. Der Motor macht’s: Die Bristol-Modelle 406 und 407, In: Oldtimer Markt Sonderheft 14 („Gran Turismo: Die Großen Reisecoupés“), 1994, S. 32 ff. Michael Palmer: Bristol Cars Model by Model, Crowood, 2015, ISBN 978-1-78500-077-5 L. J. K. Setright: A private car, 2 Bände, UK 1999 (englisch) A.G. Pritchard: Bristol built – but air inspired. Sporting Motorist, Oktober 1962. Till Schauen: High Fashion, British Classics, Heft 6/2014, S. 84 ff. Weblinks Der Bristol 406 Zagato auf der Internetseite www.zagato-cars.com Der Bristol 406 Zagato auf der Internetseite www.classicdriver.com Anmerkungen Einzelnachweise 406 Zagato Fahrzeug der Oberklasse Limousine
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Let Us Continue
Unter dem Titel Let Us Continue ist eine Rede bekannt, die Präsident Lyndon B. Johnson am 27. November 1963, fünf Tage nach dem tödlichen Attentat auf seinen Amtsvorgänger John F. Kennedy, vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses hielt. Sie fungierte als eine Trauerrede für den Ermordeten, als Versuch, die erschütterte amerikanische Nation aufzurichten, als Legitimierung der neuen präsidialen Macht Johnsons sowie als Skizze seines politischen Programms. Mit ihr würdigte er seinen Vorgänger und unterstrich den großen Verlust durch dessen Tod. Zugleich appellierte Johnson an den Kongress, zentrale Initiativen Kennedys zu vollenden. Hier betonte er, dass die Gleichberechtigung der Afroamerikaner endlich herzustellen sei sowie die Notwendigkeit umfassender Steuererleichterungen und die zügige Verabschiedung des Haushaltsplans. Die knapp 25-minütige Ansprache gilt als eine der wichtigsten in seiner politischen Laufbahn. Vorgeschichte Anlass und Hintergrund Am 22. November 1963 verübte Lee Harvey Oswald gegen 12:30 Uhr in Dallas ein Attentat auf John F. Kennedy. Die Ärzte des dortigen Parkland Memorial Hospital, die den 35. Präsidenten der Vereinigten Staaten in einer Notoperation zu retten versuchten, konnten seinen Tod nicht mehr abwenden. Mit dem Ableben Kennedys wurde sein Vizepräsident automatisch zum Amtsnachfolger. Am selben Tag legte Lyndon Johnson an Bord der Air Force One den Amtseid ab und wurde 36. US-Präsident. Nach der Landung der Präsidentenmaschine auf der Andrews Air Force Base nahe Washington, D.C. richtete Johnson ein paar Worte an die Öffentlichkeit. Sein Auftritt dauerte keine 40 Sekunden. Johnson stand dabei nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, denn Kameraleute und Fotografen konzentrierten sich auf den Abtransport des Sarges mit Kennedys sterblichen Überresten. Der Tote und die Hinterbliebenen – insbesondere seine Witwe Jackie Kennedy, sein Bruder Robert F. Kennedy und seine Kinder – blieben in den Folgetagen im Zentrum der medialen und öffentlichen Wahrnehmung; dies galt in hohem Maße für die Beerdigungszeremonien am 25. November 1963. Der als machthungrig geltende Texaner Johnson hatte, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, in Washington Karriere gemacht, zunächst als Mitglied im Repräsentantenhaus, dann des Senats und dort schließlich als Mehrheitsführer. Seit Beginn seiner Vizepräsidentschaft (1961) betrachtete er sich allerdings als ins politische Abseits geraten, von vielen Beratern und Ministern Kennedys systematisch geschnitten, gedemütigt und am Ende. Die neue Lage sah er als Pflicht und Chance. Er ergriff bereits in Dallas, noch vor dem Rückflug nach Washington, die Initiative und begann mit dem Transfer der Macht. Unverzüglich nach der Ankunft im Executive Office Building, in dem sich sein Amtssitz als Vizepräsident befand, setzte Johnson diese Arbeit fort. Er sprach noch am 22. November mit Everett Dirksen, dem Führer der republikanischen Senatsfraktion, und mit John W. McCormack, dem demokratischen Sprecher des Repräsentantenhauses. In den nächsten Tagen folgten Telefonate oder Treffen mit Gewerkschaftsvertretern wie George Meany, Walter Reuther, Alex Rose und David Dubinsky, mit Frederick Kappel, dem Sprecher von AT&T und Vorsitzenden des Business Council, und mit Vertretern der Bürgerrechtsbewegung wie Martin Luther King und Whitney Young. Auch die Meinungsführer des politischen Liberalismus und des Konservatismus im Kongress kontaktierte er. In diesen persönlichen Gesprächen erbat er Unterstützung und Hilfe bei der Aufgabe, die Vereinigten Staaten aus der Krise herauszuführen, die durch die Ermordung Kennedys ausgelöst worden war. Diese Intention verfolgte er auch am 25. November 1963, als er mit Gouverneuren der Bundesstaaten zusammentraf. Um die Kontinuität der Regierungsarbeit sicherzustellen und so öffentlich Stabilität herauszustreichen, bemühte sich der neue Präsident intensiv darum, wichtige Personen aus der Kennedy-Administration – zumindest für eine Übergangszeit – zum Bleiben zu bewegen. Das gelang unter anderem bei Robert McNamara (Verteidigungsminister), Dean Rusk (Außenminister) und McGeorge Bundy (Sicherheitsberater), ferner überraschend schnell und umfassend auch bei Kennedyberatern oder -bewunderern wie Ted Sorensen (Rechtsberater und Redenschreiber), Pierre Salinger (Pressesprecher), Walter Heller und John Kenneth Galbraith (beide Berater für Wirtschaftsfragen), Samuel Beer (Südamerika-Experte), Paul A. Samuelson (Experte für Finanzwirtschaft), William Walton (Journalist und Kunstfachmann), Richard M. Goodwin (Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler), Adlai Stevenson (US-Botschafter bei den Vereinten Nationen) und Arthur M. Schlesinger (Historiker). Selbst Robert Kennedy, Johnson seit ihrem ersten Aufeinandertreffen in gegenseitiger Abneigung verbunden, ließ sich überreden, seine Aufgaben als Justizminister weiterzuführen. Zur Demonstration politischer Handlungsfähigkeit zählten zudem Einzelgespräche, die Johnson mit Staatsgästen führte, die nach Washington gekommen waren, um am Staatsbegräbnis teilzunehmen. Zu diesen Personen gehörten unter anderem Lester Pearson (Premierminister Kanadas), Ikeda Hayato (japanischer Premierminister), Anastas Mikojan (Stellvertretender Ministerpräsident der Sowjetunion) und Charles de Gaulle (Staatspräsident Frankreichs). Entstehungsprozess Am Tag nach der Ermordung Kennedys führte Dwight D. Eisenhower mit Johnson ein Gespräch. Der Ex-Präsident schlug vor, Johnson solle vor beiden Häusern des Kongresses eine Rede halten. Das Kapitol schien geeignet zu sein, weil Johnson an diesem Ort zu einem führenden Politiker aufgestiegen war, zum Master of the Senate, weil er dort viele Freunde und nur wenige Gegner wähnte, weil der Gang auf den Capitol Hill eine Geste der Wertschätzung für die Legislative und ihre Unabhängigkeit darstellte und weil sich hier zugleich politische Forderungen an den Gesetzgeber richten ließen. Am Nachmittag des 23. November 1963 stand der Termin dieser Rede fest: Sie sollte vier Tage später, also am 27. November, gehalten werden. Zunächst hatte Johnson vor, sie bereits am 26. November zu halten, einen Tag nach der Beerdigung von John F. Kennedy. Bobby Kennedy hatte dagegen jedoch protestiert. Es war klar, dass diese Rede die wichtigste sein würde, die Johnson in seiner bisherigen Karriere zu halten hatte. Viele Amerikaner kannten ihn nicht und es musste gelingen, Vertrauen in seine Person und Amtsführung zu etablieren. Die Ansprache würde vom Fernsehen übertragen werden, Millionen Amerikaner würden sie sehen. Von Vorteil war, dass Fernsehsender nach dem 22. November Porträts ausstrahlten, die Johnson positiv zeichneten. Johnson stellte ein Team zusammen, das Rede-Entwürfe ausarbeiten sollte. Es umfasste die drei Kennedy-Vertrauten Ted Sorensen, John Kenneth Galbraith und McGeorge Bundy; Horace Busby und Bill Moyers kamen aus dem engen Johnson-Umfeld hinzu. Eine Reihe weiterer Männer lieferte wesentliche Ideen und Gedanken für die in Aussicht genommene Ansprache; Inputs kamen unter anderem von Dwight D. Eisenhower, Abe Fortas (ein mit Johnson befreundeter Anwalt in Washington), Hubert Humphrey (Exponent der Liberalen in der Demokratischen Partei), Mike Mansfield (Whip der Demokraten im Senat), Dean Rusk, Douglas Dillon (US-Finanzminister), Adlai Stevenson, Orville Freeman (US-Landwirtschaftsminister) und Kermit Gordon (Direktor des Bureau of the Budget). Galbraith lieferte einen Entwurf, der Johnson zunächst zusagte. Galbraiths Text stieß allerdings am 25. November bei Sorensen auf starke Ablehnung, Sorensen wollte diesen auf keinen Fall zur Grundlage einer Weiterarbeit machen. Das Urteil Sorensens war Johnson wichtig, denn er hielt ihn für den Urheber von Passagen, die Kennedys Reden so glanzvoll gemacht hatten. Aus diesem Grund hatte Sorensen seit dem 23. November ebenfalls den Auftrag für einen Rede-Entwurf. Der wichtigste Redenschreiber Kennedys legte einen Text vor, der dem von ihm bewunderten Ermordeten alle Ehre zuteilwerden ließ und wie ein persönlicher Nachruf Sorensens wirkte. In den Entwurfsversionen Sorensens blieb Johnson im Schatten seines Vorgängers. Johnson hätte beispielsweise sagen sollen, er könne die Fußstapfen Kennedys nicht ausfüllen (I who cannot fill his shoes …). Johnson hätte sich in der Öffentlichkeit als jemand präsentiert, der bestenfalls die Ideen seines Amtsvorgängers umsetzt, zu eigenständiger und zupackender Führung jedoch nicht willens sei. Auf der Grundlage verwendbarer Elemente aus Sorensens Feder sorgten Hubert Humphrey und Abe Fortas sowie Walter Jenkins, Jack Valenti, Bill Moyers und vor allem Horace Busby in der Nacht vom 26. auf den 27. November 1963 für die Synthese und den Feinschliff. Busby war es auch, der gemäß den Quellen am 26. November 1963 die prägenden Worte let us continue einfügte. Er schlug damit den Bogen zu Kennedys Antrittsrede vom 20. Januar 1961, in der dieser seine Landsleute bat: Let us begin. Die Erinnerung an Kennedys Worte machte Busby zu einem Instrument, um Johnsons Führung herauszustreichen, die auf action drängte, insbesondere auf die politische Umsetzung von Programmen und Gesetzesvorhaben, die völlig ins Stocken geraten waren. Busby sorgte dafür, dass Johnson nicht hinter Kennedy verschwand, sondern als politischer Führer seine Landsleute aufforderte, jenes Schicksal zu erfüllen, das die Geschichte – nicht Kennedy – den Amerikanern aufgegeben habe. Zentral war hier die Betonung der Notwendigkeit, endlich die Bürgerrechte der Afroamerikaner gesetzlich zu kodifizieren. Busby sah in Johnson keinen auf die Krise nur reagierenden Politiker, sondern einen vorausschauenden und aktiven Chef der Exekutive. Johnson selbst hatte am Vorabend der Rede darauf bestanden, die Bürgerrechte prominent anzusprechen. Gegen den Widerstand von Teilen seiner Berater, die dieses Thema für nachteilig hielten, weil im Kongress Fortschritt aufgrund der Blockadepolitik von Südstaaten-Politikern nicht zu erreichen sei, setzte Johnson die ganze Autorität des Amtes und fragte drastisch: „Wozu zum Teufel dient die Präsidentschaft?“ (What the hell’s the presidency for?) Insgesamt entwickelte sich die Rede in ihrem Entstehungsprozess – mindestens neun Versionen sind bekannt – von einer reinen Trauerrede weg hin zu einer Ansprache mit einer mobilisierenden Botschaft und einer knappen Skizze von Johnsons politischem Programm. Am Morgen des 27. November 1963 studierte Johnson den letzten Entwurf. Er veränderte nur wenig und fügte Hinweise ein, wo er, der Gefahr lief, zu rasch zu sprechen, eine Pause vorsah. Unterstreichungen kennzeichneten jene Worte, die er betonen wollte. Rede Aufbau Die Rede begann mit einem Tribut an Kennedy und sein Werk. Anschließend erklärte Johnson seine Absicht, die Kontinuität in der amerikanischen Außenpolitik zu wahren. An diesen Abschnitt schloss sich eine Passage an, die sich vor allem der Innenpolitik widmete. Der 36. Präsident richtete seine Worte dann direkt an die Kongressmitglieder; sie sollten eine Steuerreform beschließen und eine Gesetzesvorlage zum Abbau der Rassendiskriminierung. Im Gegenzug versprach Johnson Haushaltsdisziplin. Er betonte, dass er als früheres Kongressmitglied die Unabhängigkeit der Legislative achten werde und zugleich davon ausgehe, dass der Gesetzgeber jetzt entsprechend handle. Die Bitte um nationalen und politischen Zusammenhalt leitete zum Ende der Rede über, deren Schlusspunkt einige Zeilen aus dem patriotischen Lied America the Beautiful bildeten. Zentrale Botschaften und Stilmittel Johnson betonte zu Beginn, dass kein Wort ausreiche, um die Trauer zu ermessen, die die Ermordung Kennedys ausgelöst habe. Sofort schloss er daran eine Antithese an: Kein Wort sei stark genug, um die Entschlossenheit der Amerikaner auszudrücken, den von Kennedy begonnenen Vorwärtsdrang Amerikas fortzusetzen. Bereits an dieser frühen Stelle hob er Kennedys Initiativen gegen Rassentrennung hervor, den „Traum von gleichen Rechten für alle Amerikaner gleich welcher Rasse oder Farbe“ (above all, the dream of equal rights for all Americans, whatever their race or color). Zugleich stellte er heraus, es gehe nicht mehr nur um noble Ideale, sondern um „tatkräftiges Handeln“ (effective action). Johnson rief an dieser Stelle nicht allein den innenpolitischen „Traum“ gleicher Rechte in Erinnerung, sondern auch „Träume“ von der Bildung junger Menschen, von Arbeitsplätzen für alle, von der Betreuung älterer Menschen und von einer umfassenden Bekämpfung psychischer Krankheiten. Bei seinen Ausführungen zur Kontinuität in der Außenpolitik unterstrich der neue Präsident, Amerika werde seine Verpflichtungen einhalten – von West-Berlin bis Südvietnam. Das war eine Warnung an Mächte wie die Sowjetunion oder China, die aus Sicht der amerikanischen Politik die Freiheit bedrohten. Johnson forderte die Kongressmitglieder auf, jetzt gesetzgeberisch tätig zu werden. In seiner Rhetorik nutzte er erneut starke Gegensatzpaare und Metaphern, er forderte nachdrücklich dazu auf, ihm zu helfen. Das Attentat habe ihm die Last der Präsidentschaft aufgebürdet. Er könne sie nicht allein tragen, sondern nur mit Hilfe des Kongresses und der Amerikaner. Unsicherheit, Zweifel und Verzögerungen seien beiseite zu räumen; man möge zeigen, dass man zu entschlossenem Handeln fähig sei. Aus dem Verlust Kennedys solle nicht Schwäche, sondern Stärke geschöpft werden. In Anspielung auf das Kennedy-Wort let us begin formulierte Johnson let us continue. Er wurde konkret: Die frühestmögliche Verabschiedung des Bürgerrechtsgesetzes, für das Kennedy so lange gekämpft habe, sei eine beredtere Würdigung des Ermordeten als jede Lob- und Trauerrede. Mehr noch: Johnson hob hervor, dass lange genug über Gleichberechtigung gesprochen worden sei, hundert Jahre oder länger. Es sei jetzt an der Zeit, „das nächste Kapitel zu schreiben, und zwar in den Gesetzbüchern.“ Alle Spuren von Diskriminierung und Unterdrückung, die auf Rasse oder Hautfarbe beruhten, seien zu beseitigen. Johnson forderte vom Kongress überdies wie schon sein Vorgänger die Verabschiedung einer Steuerreform, die Unternehmens- und Einkommenssteuern senken sollte. Die Pläne sahen ferner moderat steigende Staatsausgaben vor (deficit spending). Beides – so das wesentlich auf Walter Heller zurückgehende Konzept – sollte Haushalte und Unternehmen entlasten, das Wachstum stimulieren und die Arbeitslosigkeit senken. Für ihre Mitarbeit an den dringend notwendigen Maßnahmen versprach der Präsident den Kongressmitgliedern strikte Haushaltsdisziplin, denn er wusste, dass der Haushaltsentwurf im Kongress blockiert war, weil dieser aus Sicht entscheidender Finanzpolitiker, allen voran Harry Byrd, die kritische Marke von 100 Milliarden US-Dollar überschritten hatte. Johnson war sich bewusst, dass dergleichen Forderungen den Anschein hervorrufen konnten, er missachte die Autonomie des Kongresses. Diesem Eindruck baute er vor durch die Versicherung, er glaube fest an die Unabhängigkeit und Integrität der Legislative. Der Respekt für diese Autonomie entspreche seiner tiefen Überzeugung. Mit gleicher Festigkeit gehe er davon aus, dass der Kongress zu klugem, energischem und schnellem Handeln fähig sei. Er strich heraus: „Die Notwendigkeit besteht, hier und jetzt. Ich bitte Sie um Ihren Beistand.“ (The need is here. The need is now. I ask your help.) Johnsons Forderung nach Taten kam in der Rede durch die häufige Verwendung des Begriffs action zum Ausdruck, den er insgesamt zehnmal nutzte. Schon in den Gesprächen mit den Repräsentanten der unterschiedlichen Interessengruppen und mit Einzelpersonen hatte er immer wieder um Hilfe gebeten; auch in der Ansprache vor beiden Kammern des Kongresses bat er zweimal explizit um Mithilfe. Wiederholungen setzte der Redner auch an anderen Stellen gezielt ein, um seine Botschaften deutlich zu übermitteln. So fand sich dieses Stilmittel gleich zu Beginn der Rede, als Johnson vom Weiterleben des Ermordeten sprach (he lives on). Ebenfalls zu Beginn nutzte er das Mittel der Repetitio, als er an die politischen Träume erinnerte, deren Realisierung Kennedy begonnen habe (the dream of …). Auch im weiteren Verlauf setzte der Redner Wiederholungen ein, als er erklärte, was in der Krise nicht passieren dürfe: „nicht zu zögern, nicht zu stocken, nicht kehrtzumachen und bei diesem schlimmen Augenblick zu verweilen“ (not to hesitate, not to pause, not to turn about and linger over this evil moment). Das zentrale Verb continue setzte er fünfmal ein. Johnson bezog sich nicht allein auf Kennedy. Gegen Ende spielte er auf eine Formulierung aus Abraham Lincolns berühmter Gettysburg Address von 1863 an: „So lassen Sie uns hier den heiligen Entschluss fassen, dass John Fitzgerald Kennedy nicht vergeblich gelebt haben und nicht umsonst gestorben sein soll.“ (So let us here highly resolve that John Fitzgerald Kennedy did not live – or die – in vain.) Vortragsweise und unmittelbare Reaktionen Öffentliche Reden zählten viele Jahre nicht zu den Stärken Johnsons. Sein ausgeprägter Südstaaten-Akzent konnte Zuhörer von Inhalten ablenken und brachte einige unter ihnen sogar gegen den Redner auf. Wenngleich Johnson davon ausging, sein Vortragstalent könne mit dem von Kennedy nicht mithalten, verbesserte er dennoch seine Fähigkeiten schrittweise. Johnson hatte lange Strecken seines Lebens mit seinem Temperament zu kämpfen, das auch die beabsichtigten Wirkungen seiner öffentlichen Auftritte durchkreuzen konnte. Dazu zählten seine Neigung, häufig zu schnell zu sprechen, dabei hektisch mit den Armen zu rudern sowie die Unruhe seiner Hände. In der Phase des Machtübergangs von Kennedy auf ihn selbst hatte er diese und andere persönliche Schwächen im Griff. Das zeigte sich in der Art, wie er am frühen Nachmittag des 27. November 1963 seine Rede hielt: Sein Tempo und seine Aussprache waren klar; er wirkte ruhig, gefasst und entschlossen. Er verströmte eine Aura der Selbstsicherheit und Sorgfalt. Johnsons Rede wurde vom Publikum im Saal – nicht nur Kongressmitglieder waren anwesend, sondern auch Johnsons Frau, Lady Bird Johnson, und seine Töchter, Regierungsmitglieder und -berater, Richter des Supreme Court, Angehörige der Joint Chiefs of Staff, ausländische Diplomaten sowie viele Pressevertreter – insgesamt 34 Mal durch Applaus unterbrochen. Dieser war am längsten und lautesten, als Johnson vom Kongress die zügige Verabschiedung eines Bürgerrechtsgesetzes forderte. Starker Beifall folgte auch gegen Ende von Johnsons Ansprache, als der Präsident nationalen und politischen Zusammenhalt über alle Differenzen hinweg anmahnte. Seine Zuhörer reagierten schließlich mit großem Beifall und erhoben sich, nachdem er die Ansprache unter Rückgriff auf Liedzeilen aus America the Beautiful – sehr langsam, mit viel Gefühl, mit sehr sanfter, fast brechender Stimme – beendet hatte. Nicht alle Kongressmitglieder applaudierten während der Rede. An vielen Stellen hielten sich Republikaner zurück. Insbesondere aber regte sich keine Hand der Südstaaten-Vertreter, sobald Johnson die Verabschiedung eines Gesetzes forderte, das die Rechte der Afroamerikaner stärken sollte. Wirkungen Rezeption Die Zeitungen des Landes waren voll des Lobes. Das galt etwa für die New York Times, die Washington Post, die New York Herald Tribune, den Boston Herald oder Newsweek. Johnsons ruhige und zugleich bestimmte Art des Vortrags hätten viel zur Überzeugungskraft seiner Worte beigetragen. In den nachfolgenden Wochen zeigte die deutliche Mehrheit entsprechender Briefe und Telegramme an das Weiße Haus, dass die Rede auch außerhalb der Presse sehr positiv aufgenommen wurde. In der internationalen Presse war das Echo ebenfalls wohlwollend. Das galt für Westeuropa, Lateinamerika (einschließlich Kuba) und den Nahen Osten. Auch in Moskau wurde sie mit Vorsicht, aber positiv bewertet. Einzig Renmin Ribao, das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Chinas, sparte nicht mit Kritik, in Peking erwartete man die Fortsetzung von außenpolitischer Aggression und Krieg durch die USA. Dem insgesamt positiven Tenor schlossen sich später Biografen und Historiker an. Nach Ashley Barrett hatte die Rede vom 27. November 1963, eine der wichtigsten in Johnsons Laufbahn, einen überwältigenden Erfolg. Robert Dallek urteilte, nur wenig andere Faktoren hätten mehr zum gelungenen Machttransfer beigetragen als diese Ansprache. Robert A. Caro nannte die Rede einen „Triumph“. Mittlerweile ist Johnsons Ansprache auch künstlerisch verarbeitet worden. Der Fernsehfilm All the Way (2016) – deutscher Titel: Der lange Weg – mit Bryan Cranston in der Hauptrolle griff sie gleich in den ersten Minuten auf. Politische Folgen Die Rede wirkte wie der Auftakt erfolgreichen Regierens. Es gelang Johnson in Rekordzeit, den lange blockierten Haushalt einschließlich eines Gesetzes zur Steuerreform durch den Kongress verabschieden zu lassen; die positiven Wirkungen auf Wachstum und Beschäftigung waren größer als erhofft. Unmittelbar danach setzten die Bemühungen ein, den Civil Rights Act durchzubringen, was trotz des erheblichen Widerstands von Südstaaten-Politikern im Juli 1964 gelang. Wahlrechtsregelungen waren in diesem Gesetz ausgenommen. Sie wurden ein Jahr später im Voting Rights Act geregelt. Unter dem Begriff Great Society, den Johnson am 22. Mai 1964 im Rahmen einer Rede an der University of Michigan einführte, fasste der Präsident ein weitgespanntes gesellschaftliches Reformprogramm zusammen. Es umschloss neben der Gleichberechtigungspolitik unter anderem die Armutsbekämpfung (War on Poverty), Gesundheitspolitik (Medicare und Medicaid), Bildungsprogramme, Kultur- und Kunstförderung (National Endowment for the Arts), Förderung von Geisteswissenschaften (National Endowment for the Humanities), Verbraucherschutz, Maßnahmen zur Förderung von Transport und Mobilität sowie Programme zur Förderung des Wohnens und der Stadtentwicklung. Umfragen zeigten sehr hohe Zustimmungswerte zur Amtsführung Johnsons. Zwischen März und Mai 1964 stiegen sie von 70 auf 77 Prozent. Das amerikanische Engagement in Südvietnam hatte Johnson in seiner Let-Us-Continue-Rede nur kurz erwähnt. Ohne es zu ahnen, hatte er damit sein Menetekel bezeichnet: Die vermeintliche Verteidigung der Demokratie im Vietnamkrieg sollte sich in den kommenden Jahren als Sargnagel für seine Glaubwürdigkeit und seine Präsidentschaft erweisen. Anhang Quellen To a Joint Session of the Congress. November 27, 1963. In: A time for action. A selection from the speeches and writings of Lyndon B. Johnson. Introduction by Adlai E. Stevenson. Illustrated with photographs. Pocket Books, New York 1964, S. 149–156. Vor beiden Häusern des Kongresses, Washington D. C., 27. November 1963. In: Lyndon B. Johnson: Zeit zu Handeln. Eine Auswahl aus Reden und Aufsätzen, 1953–1964. Mit einer Einführung von Adlai E. Stevenson. Übertragen aus dem Amerikanischen: Karl Mönch. Econ, Wien, Düsseldorf 1964. S. 147–153. (Deutsche Übersetzung der Rede, 1964) Spezialstudien Ashley Barrett: Lyndon B. Johnson, "Let Us Continue" (27 November 1963). In: Voices of Democracy. Band 4, 2009, S. 97–119 (PDF; 221 kB). Kurt Ritter: Lyndon B. Johnson’s Crisis Rhetoric after the Assassination of John F. Kennedy: Securing Legitimacy and Leadership. In: Amos Kiewe (Hrsg.): The Modern Presidency and Crisis Rhetoric. Praeger Publishers, Westport 1994, ISBN 0-275-94176-0, S. 73–89. Patricia D. Witherspoon: „Let Us Continue:“ The Rhetorical Initiation of Lyndon Johnson’s Presidency. In: Presidential Studies Quarterly. Band 17, Nr. 3, Sommer 1987: Bicentennial Considerations and the Eisenhower and L.B. Johnson Presidencies, S. 531–539. Weiterführende Literatur Vaughn Davis Bornet: The presidency of Lyndon B. Johnson. University Press of Kansas, Lawrence KS 1983, ISBN 0-7006-0237-2. Robert A. Caro: The Passage of Power (The Years of Lyndon Johnson, Band 4). Alfred A. Knopf, New York City 2012, ISBN 978-0-679-40507-8. Robert A. Caro: Der Nachfolger. Lyndon B. Johnson und der Tag, an dem John F. Kennedy starb (Auszug aus The Passage of Power), übernommen aus The New Yorker. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, ISBN 978-3-518-06488-7. Robert Dallek: Lyndon B. Johnson. Portrait of a President. Oxford University Press, Oxford u. a. 2004, ISBN 0-19-515920-9. Robert Dallek: Flawed giant. Lyndon Johnson and His Times, 1961–1973. Oxford University Press, New York City 1998, ISBN 0-19-505465-2. Rowland Evans, Robert Novak: Lyndon B. Johnson. Geschichte eines Scheiterns. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1968. Doris Kearns: Lyndon Johnson and the American Dream. André Deutsch Limited, London 1976, ISBN 0-233-96839-3. Irwin Unger, Debi Unger: LBJ. A Life. Wiley, New York NY u. a. 1999, ISBN 0-471-17602-8. Randall Bennett Woods: LBJ. Architect of American Ambition. Harvard University Press, Cambridge MA / London 2007, ISBN 0-674-02699-3. Weblinks Skript der Rede (PDF) archiviert von der National Archives and Records Administration President Lyndon B. Johnson’s Address to Congress, November 27, 1963. Aufzeichnung der Rede durch CBS im YouTube-Kanal des Lyndon Baines Johnson Library & Museum. Abgerufen am 29. September 2020. Einzelnachweise Rede Politik 1963 Lyndon B. Johnson Kongress der Vereinigten Staaten
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kanada
Kanada
Kanada ( und ) ist ein Staat in Nordamerika, der zwischen dem Atlantik im Osten und dem Pazifik im Westen liegt und nordwärts bis zum Arktischen Ozean reicht. Bundeshauptstadt ist Ottawa, die bevölkerungsreichste Stadt ist Toronto. Die einzigen Staatsgrenzen sind jene zu den Vereinigten Staaten im Süden und im Nordwesten sowie die 2022 geschaffene Grenze über die Hans-Insel zu Grönland. Kanada ist gemessen an der Fläche nach Russland der zweitgrößte Staat der Erde, hat etwa 37 Millionen Einwohner und eine Bevölkerungsdichte von nur vier Personen pro Quadratkilometer. Die Besiedlung durch die First Nations begann spätestens vor 12.000 Jahren, die Inuit folgten vor rund 5000 Jahren. Spätestens im 11. Jahrhundert und erneut ab dem späten 15. Jahrhundert erreichten Europäer das heutige Gebiet des Staates und begannen um 1600 mit der Kolonisierung. Dabei setzten sich zunächst Franzosen und Briten fest. Damals breitete sich die Bezeichnung „Canada“ aus, ursprünglich der Name eines Irokesendorfes. Frankreich trat 1763 seine Kolonie Neufrankreich an Großbritannien ab (siehe unten). 1867 gründeten drei britische Kolonien die Kanadische Konföderation. Mit dem Statut von Westminster erhielt der Staat 1931 gesetzgeberische Unabhängigkeit. Weitere verfassungsrechtliche Bindungen zum Vereinigten Königreich wurden 1982 aufgehoben. Kanada ist ein Königreich innerhalb des Commonwealth of Nations. Nominelles Staatsoberhaupt ist somit König Charles III., der durch den Generalgouverneur von Kanada vertreten wird. Kanada ist ein auf dem britischen Westminster-System basierender parlamentarisch-demokratischer Bundesstaat und eine parlamentarische Monarchie. Amtssprachen sind Englisch und Französisch. Die Unabhängigkeitsbestrebungen Québecs, die Stellung der frankophonen Kanadier und die Rechte der indigenen Völker (neben den First Nations und Inuit die Métis) sind wichtige Konfliktlinien in Staat und Gesellschaft. Die Themen Klimawandel und Umweltschutz, Einwanderungspolitik und Rohstoffabhängigkeit sowie das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten – von dem kulturell und historisch bedingt ein ambivalentes Bild besteht – kennzeichnen die öffentlichen Debatten. Geographie Ausdehnung und Grenzen Kanada ist mit einer Fläche von 9.984.670 km² nach Russland der zweitgrößte Staat der Erde und fast so groß wie Europa. Der Staat nimmt rund 41 % Nordamerikas ein. Im Süden und Nordwesten hat Kanada die längste Landgrenze der Welt zu den Vereinigten Staaten. Ein weiterer Nachbar ist das dänische Autonomiegebiet Grönland, das durch die rund 30 Kilometer breite Meerenge Kennedy-Kanal von der nördlichsten kanadischen Insel, Ellesmere Island, getrennt wird. Die winzige Hans-Insel war bis 2022 zwischen beiden Staaten umstritten, ehe sie durch das Ziehen einer etwa 1,2 Kilometer langen Staatsgrenze quer über das Eiland aufgeteilt wurde. Schließlich existiert mit der Inselgruppe Saint-Pierre und Miquelon südlich von Neufundland ein Überbleibsel der französischen Kolonie Neufrankreich. Die Nord-Süd-Ausdehnung erstreckt sich von 83,11° nördlicher Breite am Kap Columbia auf Ellesmere Island in Nunavut bis zur Insel Middle Island im Eriesee bei 41,68° (etwa die Breite von Rom) und beträgt somit 41,43° oder 4634 Kilometer. Die größte Ost-West-Entfernung beträgt 5514 Kilometer von Cape Spear auf Neufundland (52,62° W) bis zur Grenze des Yukon-Territoriums mit Alaska (141° W). Die Gesamtlänge der Grenze zwischen Kanada und den USA beträgt 8890 Kilometer. Kanada hat mit 243.042 Kilometern zugleich die längste Küstenlinie der Welt. Die größte Insel ist die Baffininsel im Nordosten, welche mit einer Fläche von 507.451 km² zugleich die fünftgrößte Insel der Welt ist. Die nördlichste Halbinsel ist Boothia. 9.093.507 km² Kanadas sind Land- und 891.163 km² Wasserfläche. Kanada hat Anteil an sechs Zeitzonen, siehe hierzu Zeitzonen in Kanada. Geologie und Landschaftsgliederung Das geologische Grundgebirge der östlichen Provinzen sind alte, abgetragene Berge neben noch älteren Abschnitten des Kanadischen Schildes, die bis zu 4,03 Milliarden Jahre alt sind. Dieser umfasst eine ausgedehnte Region mit einigen der ältesten Gesteine. Um die Hudson Bay gelegen, nimmt er fast die Hälfte des Staatsgebiets ein. Abgesehen von einigen niedrigen Bergen im östlichen Québec und in Labrador ist die Landschaft flach und hügelig. Das Gewässernetz ist dicht, die Entwässerung der Region erfolgt über eine Vielzahl von Flüssen. Die südliche Hälfte des Schildes ist mit borealen Wäldern bedeckt, während die nördliche Hälfte einschließlich der Inseln des arktischen Archipels jenseits der arktischen Baumgrenze liegt und mit Felsen, Eis und Tundrenvegetation bedeckt ist. Die östlichen Inseln des Archipels sind gebirgig, die westlichen dagegen flach. Westlich und südlich des Kanadischen Schildes liegen die Ebenen um den Sankt-Lorenz-Strom und die Großen Seen. Die natürliche Vegetation des südlichen Teils der dort liegenden Prärieprovinzen Saskatchewan, Manitoba und Alberta ist das Präriegras. Der nördliche Teil dagegen ist bis zur Tundra-Zone bewaldet. Die teils vulkanisch aktiven Gebirgszüge der Coast Range und der Rocky Mountains, wie der Mount Edziza oder die Northern Cordilleran Volcanic Province im Norden British Columbias, dominieren das westliche Kanada. Sie verlaufen in Nord-Süd-Richtung durch Yukon und British-Columbia, die dortige Küstenlinie wird tief von Fjorden durchschnitten. Vor der Küste liegt Vancouver Island, ein Ausläufer des Küstengebirges. Die höchsten kanadischen Gebirgsregionen liegen im Westen mit den Rocky Mountains – höchster Berg ist der hohe Mount Logan im Territorium Yukon – und der Kette der Küstengebirge am Pazifischen Ozean (Coast Mountains und Kaskadenkette). Ein weiteres wichtiges System verläuft entlang der Nordostküste von Ellesmere Island (Arktische Kordillere) bis zu den Torngatbergen in Québec sowie in Neufundland und Labrador. Im Osten Kanadas liegen die nördlichen Appalachen und die Laurentinischen Berge. Der wichtigste Fluss Kanadas ist der 3058 Kilometer lange Sankt-Lorenz-Strom. Er dient als Wasserstraße zwischen den Großen Seen und dem Atlantik. Kanadas zweitlängster Fluss ist der Mackenzie River (1903 Kilometer) in den Nordwest-Territorien. Weitere bedeutende Flüsse sind der Yukon River und der Columbia River, die teilweise auch in den Vereinigten Staaten verlaufen, der Fraser, der Nelson, der Churchill und der Manicouagan sowie Nebenflüsse wie der Saskatchewan River, der Peace River, der Ottawa und der Athabasca. Kanada ist zudem ein überaus seenreiches Land. 7,6 % seiner Landmasse sind mit insgesamt rund zwei Millionen Seen bedeckt. 563 Seen sind größer als 100 km². Zu den größten Seen gehören der Große Bärensee (31.153 km²), der Große Sklavensee (27.048 km²), der Winnipegsee (24.420 km²), der Athabascasee (7.850 km²) sowie die Großen Seen (zusammen rund 245.000 km²), durch die mit Ausnahme des Michigansees die Grenze zum südlichen Nachbarland verläuft. Der größte gänzlich in Kanada gelegene See ist der Große Bärensee in den Nordwest-Territorien. Klima Kanada umfasst unterschiedliche Klimazonen (vom Polarklima bis zum gemäßigten Klima). Überwiegend bestimmt das boreale Klima mit langen, kalten Wintern und kurzen, heißen Sommern den größeren Teil Kanadas. Im Winter 2004/2005 wurden Temperaturen von −58 °C in Burwash Landing des Territoriums Yukon gemessen; die tiefste je gemessene Temperatur wurde mit −63 °C in Snag im selben Territorium am 3. Februar 1947 aufgezeichnet. Die höchste Temperatur wurde in Lytton (British Columbia) mit 49,6 °C am 28. Juni 2021 ermittelt. An der Westküste findet man maritimes Klima mit hohen Niederschlägen, da sich die feuchte, vom Ozean kommende Luft am Westrand des Küstengebirges abregnet. Den Niederschlagsrekord hält Ucluelet in British Columbia mit 489,2 mm an einem einzigen Tag (6. Oktober 1967). Die Jahreszeiten sind in den Provinzen Québec und Ontario am deutlichsten ausgeprägt, mit kalten Wintern, milden Frühjahren und Herbstmonaten und von Juli bis September oft sehr schwül-heißen Sommern mit Durchschnittstemperaturen um 25 °C. Am häufigsten leiden die Prärieprovinzen Alberta, Saskatchewan und Manitoba unter Trockenheit. Eines der trockensten Jahre war das Jahr 1936, das trockenste jedoch 1961. Regina erhielt 45 % weniger Regen als im Durchschnitt. 1988 war so trocken, dass jeder zehnte Farmer aufgeben musste. Das wärmste Jahr in Kanada war das Jahr 1998. Flora und Fauna Große Naturgebiete, vor allem in den Tundra- und Bergregionen, bedecken 70 % Kanadas. Das entspricht 20 % der weltweit verbleibenden Wildnisgebiete (ohne Antarktis). Noch ist mehr als die Hälfte der ausgedehnten Wälder Urwald. Die nördliche Waldgrenze verläuft von der Ostküste Labradors über die Ungava-Halbinsel Richtung Süden entlang des Ostufers der Hudson Bay und setzt sich anschließend schlangenlinienförmig Richtung Nordwesten zum Unterlauf des Mackenzie und weiter nach Alaska fort. Nördlich der Baumgrenze gibt es kaum oder gar keinen fruchtbaren Boden (Tundra). Die Vegetation der südlichsten Tundragebiete besteht aus niedrigem Buschwerk, Gräsern und Riedgras. Die nördlichsten Gebiete sind zu weniger als einem Zehntel mit den für die Polarregion typischen Moosen bedeckt. Südlich der Baumgrenze, von Alaska bis Neufundland, schließt sich eines der größten Nadelwaldgebiete der Welt an. Im Osten, von den Großen Seen bis zu den Küsten, wachsen hauptsächlich Mischwälder mit Zuckerahorn, Buchen, Birken, Kiefern und Hemlocktannen. Die Tiefebenen im äußersten Süden sind mit reinen Laubwäldern bedeckt. Hier gedeihen neben Hickorybäumen, Eichen und Ulmen, Kastanien, Ahorn und Walnussbäume. In den westlichen Berggebieten sind die Fichte, Douglasie und Lodgepole-Kiefer am weitesten verbreitet, in Hochebenen wachsen außerdem Zitterpappel und Gelb-Kiefer. Die Vegetation der niederschlagsreichen Pazifikküste wird von Wäldern aus dichten, hohen Douglasfichten, westlichen Rot-Zedern und Hemlocktannen beherrscht. Das Prärieland ist zu trocken, um mehr als vereinzelte Baumgruppen hervorzubringen. Vom ursprünglich weiten, hügeligen Grasland ist heute nur noch wenig übrig; es ist dem heute berühmten Weizengürtel Kanadas gewichen. Die arktischen Gewässer bieten Nahrung für Wale, Walrosse, Seehunde und für Eisbären. In den Tundren leben Moschusochsen, Karibus, Polarwölfe, Polarfüchse, Polarhasen und Lemminge, vereinzelt auch Vielfraße; viele Zugvögel verbringen hier den Sommer, darunter Alke, Enten, Möwen, Seeschwalben und andere Seevögel. Die Wälder im Norden sind ein idealer Lebensraum für Karibus und Elche, Luchse, Schwarz- und Braunbären. Doch gehen die Bestände der riesigen Karibuherden aufgrund von Industrialisierung und winterlichen Freizeitaktivitäten, vor allem aufgrund der Störungen durch motorisierte Schlitten, zurück. Die Bedeutung der Jagd ist hierbei rückläufig. Fünf Milliarden Vögel kommen jeden Sommer in die borealen Wälder. Daher hat Kanada 1917 zusammen mit den USA angefangen, Schutzgebiete für Zugvögel einzurichten. Heute bestehen 92 solcher Gebiete mit einer Gesamtfläche von etwa 110.000 km². Zur artenreichen Vogelwelt zählen der Kardinal, der Waldsänger, der Weißkopfseeadler und die Spottdrossel sowie der seltene Marmelalk, der nur in alten Wäldern überleben kann. Biber, Marder, Bisamratten, Nerze sind auch heute noch Grundlage des inzwischen unbedeutenden Pelzhandels. Weiter im Süden findet man Wapitis, während es in dichter besiedelten Landstrichen vor allem kleinere Säugetiere, wie Grau- und Backenhörnchen, Wiesel und Otter gibt. In den Präriegebieten leben kleinere Tiere, wie Präriehasen, Taschenratten und das Spitzschwanzhuhn sowie Bisons und Gabelböcke. In den westlichen Bergen gibt es Dickhornschafe und Schneeziegen. Die einheimische Tier- und Pflanzenwelt steht in 44 Nationalparks, weit über tausend Provinzparks und Naturreservaten unter Schutz. Größtes Schutzgebiet ist der 44.802 km² große Wood-Buffalo-Nationalpark im nördlichen Teil von Alberta und den Nordwest-Territorien, in dem zahlreiche vom Aussterben bedrohte Arten vertreten sind. Bemerkenswert ist der dortige, mit etwa 6000 Tieren größte Bestand frei lebender Bisons der Welt. In vielen Seengebieten braucht der Mensch besonders im Sommer strenge Vorkehrungen gegen Insektenbisse, da Stech- und Kriebelmücken in sehr hoher Dichte leben. Ballungsräume → Siehe auch: Liste der Städte in Kanada Von den über 38 Millionen Einwohnern lebt mehr als die Hälfte der Bevölkerung in den 30 größten Städten. Geht man von den Ballungsräumen (census metropolitan areas) aus, steigt diese Zahl auf über 70 %. Toronto ist das bedeutendste Produktionszentrum und mit 5.928.040 Einwohnern (Stand: 2016) der größte Ballungsraum. Die Handelsmetropole Montreal zählte 4.098.927, Vancouver 2.463.431 Einwohner. Weitere Ballungsräume sind die Bundeshauptstadt Ottawa-Gatineau (1.323.783), Calgary (1.392.609), Edmonton (1.321.426), Québec (800.296), Winnipeg (778.489) und Hamilton (747.545). Herkunft des Namens Der Name Kanada ist mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Wort kanata abgeleitet, das in der Sprache der Sankt-Lorenz-Irokesen „Dorf“ oder besser „Siedlung“ bedeutete. 1535 gaben Bewohner der Region um die heutige Stadt Québec dem französischen Entdecker Jacques Cartier eine Wegbeschreibung zum Dorf Stadacona. Cartier verwendete daraufhin die Bezeichnung Canada nicht nur für dieses Dorf, sondern für das ganze Gebiet, das von dem in Stadacona lebenden Häuptling Donnacona beherrscht wurde. Ab 1545 war auf Karten und in Büchern die Bezeichnung Canada für diese Region üblich. Cartier nannte außerdem den Sankt-Lorenz-Strom Rivière de Canada, ein Name, der bis zum frühen 17. Jahrhundert in Gebrauch war. Forscher und Pelzhändler zogen in Richtung Westen und Süden, wodurch das als „Kanada“ bezeichnete Gebiet wuchs. Im frühen 18. Jahrhundert wurde der Name für den gesamten heutigen mittleren Westen bis Louisiana benutzt. Die seit 1763 britische Kolonie Québec wurde 1791 in Oberkanada und Niederkanada aufgeteilt, was etwa den späteren Provinzen Ontario und Québec entsprach. Sie wurden 1841 wieder zur neuen Provinz Kanada vereinigt. 1867 erhielten die neu gegründeten Bundesstaaten der Kolonien in Britisch-Nordamerika den Namen „Kanada“ und den formellen Titel Dominion. Bis in die 1950er-Jahre war die amtliche Bezeichnung Dominion of Canada üblich. Mit der zunehmenden politischen Autonomie gegenüber Großbritannien verwendete die Regierung mehr und mehr die Bezeichnung Canada in rechtlich bindenden Dokumenten und Verträgen. Das Kanada-Gesetz 1982 bezieht sich nur noch auf Canada, die inzwischen einzige amtliche (zweisprachige) Bezeichnung. Geschichte Ur- und Frühgeschichte Indianer (in Kanada First Nations genannt) besiedelten Nordamerika vor mindestens 12.000 Jahren, was den Anfang der paläoindianischen Periode markiert. Vor rund 5000 Jahren folgten die Inuit. In den Bluefish-Höhlen im nördlichen Yukon fand man die ältesten menschlichen Spuren in Kanada; in der Charlie-Lake-Höhle fanden sich Werkzeuge aus der Zeit ab etwa 10.500 v. Chr. Aus der Zeit ab etwa 9000 v. Chr. stammen Funde bei Banff und in Saskatchewan, aber auch bereits in Québec. Ab etwa 8000 v. Chr. folgte die archaische Phase. Gruppen aus dem Westen erreichten um 7500 v. Chr. das südliche Ontario. Dort fanden sich Speerschleudern. Siedlungsschwerpunkte waren im Osten der untere Sankt-Lorenz-Strom und die Großen Seen sowie die Küste Labradors (L’Anse Amour Site) an der im 6. Jahrtausend die ersten größeren Grabstätten entstanden, später Burial Mounds. Auf den Great Plains entstanden neue Waffentechnologien und weitläufiger Handel, etwa mit Chalzedon aus Oregon und Obsidian aus Wyoming. In einigen Gebieten wurden noch um 8000 v. Chr. Pferde gejagt; sie verschwanden ebenso wie die Megafauna. Erst später teilte sich der riesige Kulturraum erkennbar in zwei Großräume auf, die Frühe Shield- und die Frühe Plains-Kultur, wobei sich Kupferbearbeitung bereits um 4800 v. Chr. zeigen lässt. Im Westen reichen die Spuren bis vor 8000 v. Chr. zurück, vielfach ohne erkennbaren kulturellen Bruch. So besteht die Kultur der Haida auf Haida Gwaii seit über 9500 Jahren. Der Handel mit Obsidian vom Mount Edziza reicht über 10.000 Jahre zurück. Vor 2500 v. Chr. bestanden im Westen Siedlungen, dazu Anzeichen sozialer Differenzierung. Hausverbände bestanden, die sich saisonal zur Jagd in großen Gruppen zusammenfanden. Auch in den Plains lassen sich Dörfer nachweisen. Die Cree, Ojibwa, Algonkin, Innu und Beothuk, die in den frühen europäischen Quellen fassbar sind, gehen wohl auf Gruppen der Shield-Kultur zurück. Die Plainskulturen waren durch Bisons gekennzeichnet, Hunde wurden als Trage- und Zugtiere eingesetzt, das Tipi setzte sich durch sowie die Herstellung von Pemmikan. Als wichtigste kulturelle Veränderung der Plateaukultur im westlichen Binnenland gilt der Übergang von der Nichtsesshaftigkeit zur Halbsesshaftigkeit mit Winterdörfern und sommerlichen Wanderzyklen um 2000 v. Chr. Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich früher an der Küste, deren Kulturen sich mit den Küsten-Salish in Beziehung bringen lassen. Gegen Ende der Epoche lassen sich erstmals Plankenhäuser nachweisen. Einige Salish waren bereits vor 1600 v. Chr. Bauern – wie man von den Katzie weiß. Die Nuu-chah-nulth auf Vancouver Island entwickelten hochseetüchtige Kanus, mit denen sie (als einzige) auf Walfang gingen. Die Herstellung von Tongefäßen erreichte das Gebiet des heutigen Kanada wohl von Südamerika, Pfeil und Bogen kamen um 3000 v. Chr. aus Asien und wurden wahrscheinlich erstmals von Paläo-Eskimos eingesetzt. Er erreichte die Ostküste, kam aber erst rund drei Jahrtausende später in den Westen. Mit den Keramikgefäßen ab etwa 500 v. Chr. endete an der Ostküste die archaische Phase, die von den Woodland-Perioden abgelöst wurde. Manche Dörfer, meist aus Langhäusern bestehend, waren wohl schon ganzjährig bewohnt. Auf die Frühe Woodland-Periode an den Großen Seen und dem Sankt-Lorenz-Strom (etwa 1000 v. Chr. bis 500 n. Chr.) gehen wohl die Irokesen zurück, aber auch einige der Algonkin-Gruppen. Bis nach Zentral-Labrador zeigen sich auf dem kanadischen Schild die Einflüsse der Adena-Kultur. Ihre typischen Mounds erscheinen auch in der westlichen Schild-Kultur, beispielsweise im südlichen Ontario. Wahrscheinlich kam es infolge der Domestizierung von Wildreis zu einer herausgehobenen Schicht von Landbesitzern (Psinomani-Kultur). Der Süden Ontarios war in die Fernhandels-Beziehungen der Hopewell-Kultur eingebunden. Kupfer wurde im ganzen Osten Nordamerikas verbreitet. Die späte Plains-Kultur lebte in hohem Maße von Bisons. Fernhandel war weit verbreitet und reichte westwärts bis zum Pazifik. Im Norden überwogen kleinere nomadische Gruppen, während sich im Süden ein Zyklus saisonaler Wanderungen durchsetzte, deren Mittelpunkt feste Dörfer waren. Der späten Plateau-Kultur lieferten die Laichzüge der Lachse die Nahrung, ähnlich wie an der Pazifikküste. Ab 2500 v. Chr. lässt sich das so genannte Pit House („Grubenhaus“) nachweisen, das teilweise in die Erde gegraben wurde und eine bessere Bevorratung ermöglichte. Die Küstenkultur wurde zwischen 500 v. und 500 n. Chr. als Ranggesellschaft von Süden nach Norden strenger. Eine Schicht führender Familien beherrschte den Handel sowie den Zugang zu Ressourcen und hatte die politische und spirituelle Macht. Auch hier tauchen erstmals Begräbnishügel auf. In einigen Regionen herrschten Steinhaufengräbern (cairns) vor, wie etwa um Victoria. Die Dörfer wurden zahlreicher und vielfach größer, bald stärker befestigt. Die Kultur war von Plankenhäusern, oftmals monumentalen Schnitzwerken (Totempfählen), komplexen Zeremonien und Clanstrukturen gekennzeichnet. Nirgendwo war die Bevölkerungsdichte so groß, wie an der Westküste. Im Gegensatz dazu gestatteten die Klimabedingungen und starke vulkanische Aktivität im Nordwesten keine dauerhafte Ansiedlung. Mit den Athabasken verbinden sich Fundstellen im Einzugsgebiet des Mackenzie Rivers ab 1000 v. Chr. bis etwa 700 n. Chr. Gegen 2500 v. Chr. wanderte ein Teil der Paläo-Eskimos von Alaska nach Grönland; es entwickelte sich die Prä-Dorset-Kultur. Um 500 v. Chr. bis 1000 n. Chr. folgte die „Dorset-Kultur“ (nach Cape Dorset auf einer Baffin Island vorgelagerten Insel benannt). Um 2000 v. Chr. bis 1000 n. Chr. bestand die Neo-Eskimo-Kultur. Um 1000 setzte sich eine erneute Wanderung von Alaska nach Grönland in Bewegung. Aus der Vermischung der Kulturen ging wohl die Thule-Kultur hervor, die bis etwa 1800 bestand. Ihre Angehörigen sind die Vorfahren der heutigen Inuit. Kolonialisierung Europäische Siedler erreichten Nordamerika spätestens um das Jahr 1000, als Wikinger für kurze Zeit in L’Anse aux Meadows am nördlichsten Ende von Neufundland lebten. Als „Entdecker“ Nordamerikas gilt Giovanni Caboto, ein italienischer Seefahrer in englischen Diensten. Er landete am 24. Juni 1497 auf Neufundland und nahm das Land für England in Besitz. Baskische Walfänger und Fischer kamen ab etwa 1525 regelmäßig an die Küste Labradors und beuteten ein Jahrhundert lang die Ressourcen in der Region zwischen der Neufundlandbank und Tadoussac aus. Eine Expedition unter der Leitung von Jacques Cartier erkundete 1534/35 das Gebiet um den Sankt-Lorenz-Golf und den Sankt-Lorenz-Strom und erklärte es zu französischem Besitz. Samuel de Champlain gründete 1605 mit Port Royal (heute Annapolis Royal) und 1608 mit Québec die ersten dauerhaften Ansiedlungen in Neufrankreich. Die französischen Kolonisten teilten sich in zwei Hauptgruppen: Die Canadiens besiedelten das Tal des Sankt-Lorenz-Stroms, die Akadier (Acadiens) die heutigen Seeprovinzen. Französische Pelzhändler und katholische Missionare erforschten die Großen Seen, die Hudson Bay und den Mississippi bis nach Louisiana. Engländer gründeten ab 1610 Siedlungen auf Neufundland und besiedelten die weiter südlich gelegenen Dreizehn Kolonien. Cupids Plantation ist damit die zweitälteste angloamerikanische Siedlung in Nordamerika und war erfolgreicher als Jamestown in Virginia. Zwischen 1689 und 1763 kam es in Nordamerika zu vier bewaffneten Konflikten zwischen Engländern (bzw. Briten) und Franzosen, die jeweils Teil von Erbfolgekriegen in Europa waren. Der King William’s War (1689–1697) brachte keine territorialen Veränderungen, doch nach Ende des Queen Anne’s War (1702–1713) gelangte Großbritannien durch den Frieden von Utrecht in den Besitz von Akadien, Neufundland und der Hudson-Bay-Region. Die Briten eroberten 1745 im King George’s War die französische Festung Louisbourg auf der Kap-Breton-Insel, gaben diese aber 1748 gemäß dem Frieden von Aachen wieder zurück. Der Siebenjährige Krieg (in Nordamerika von 1754 bis 1760 bzw. 1763) brachte schließlich die Entscheidung: Mit dem Pariser Frieden musste Frankreich 1763 fast alle seine Besitzungen in Nordamerika abtreten. Britische Herrschaft Mit der Königlichen Proklamation von 1763 entstand aus dem ehemaligen Neufrankreich die britische Provinz Québec, im selben Jahr gelangte die Kap-Breton-Insel zur Kolonie Nova Scotia. Auch wurden Rechte der französischen Kanadier eingeschränkt. 1769 wurde eine weitere Kolonie namens St. John’s Island (seit 1798 Prince Edward Island) gegründet. Um Konflikte in Québec abzuwenden, verabschiedete das britische Parlament 1774 den Quebec Act. Das Gebiet Québecs wurde zu den Großen Seen und zum Ohiotal ausgedehnt. Für die französischsprachige Bevölkerungsmehrheit galt das französische Zivilrecht und Französisch war als Sprache in der Öffentlichkeit anerkannt; durch die Zusicherung der freien Religionsausübung konnte die Römisch-katholische Kirche in der Kolonie verbleiben. Das Gesetz verärgerte jedoch die Bewohner der Dreizehn Kolonien, die darin eine unzulässige Beschränkung ihrer nach Westen gerichteten Expansion sahen. Der Quebec Act war eines jener „unerträglichen Gesetze“ (Intolerable Acts), die schließlich zur Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten und zum Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg führten. Der Frieden von Paris erkannte die amerikanische Unabhängigkeit an und die Gebiete südlich der Großen Seen fielen an die Vereinigten Staaten. Etwa 50.000 Loyalisten flohen in das heutige Kanada, dazu kamen mit den Briten verbündete Indianerstämme, wie die Mohawk. New Brunswick wurde 1784 von Nova Scotia abgetrennt, um die Ansiedlung der Loyalisten an der Atlantikküste besser organisieren zu können. Um den nach Québec geflohenen Loyalisten entgegenzukommen, verabschiedete das britische Parlament das Verfassungsgesetz von 1791, das die Provinz Québec in das französischsprachige Niederkanada und das englischsprachige Oberkanada teilte und beiden Kolonien ein gewähltes Parlament gewährte. Die Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien entluden sich im Britisch-Amerikanischen Krieg (Juni 1812 bis Februar 1815). Der Friede von Gent stellte weitgehend den status quo ante bellum wieder her. In Kanada gilt der Krieg bis heute als erfolgreiche Abwehr amerikanischer Invasionsversuche. Die britisch- und französischstämmige Bevölkerung entwickelte durch den Kampf gegen einen gemeinsamen Feind ein kanadisches Nationalgefühl; die Loyalität der britischen Krone gegenüber wurde gestärkt. Der Wunsch nach Selbstverwaltung und der Widerstand gegen die wirtschaftliche und politische Vorherrschaft einer kleinen Elite führten zu den Rebellionen von 1837, die rasch niedergeschlagen wurden. Lord Durham empfahl daraufhin in seinem Untersuchungsbericht die Einsetzung einer selbstverantwortlichen Regierung und die allmähliche Assimilierung der französischen Kanadier in die britische Kultur. Der Act of Union 1840 verschmolz Nieder- und Oberkanada zur Provinz Kanada und erhob das Englische zur alleinigen Amtssprache. Bis 1849 erhielten auch die weiteren Kolonien in Britisch-Nordamerika eine eigene Regierung. Zwei Handelsgesellschaften, die Hudson’s Bay Company (HBC) und die North West Company (NWC), kontrollierten den Handel in den weiten, nur von wenigen Ureinwohnern besiedelten Gebieten der Prärien und der Subarktis. Die HBC hatte 1670 Ruperts Land als Pachtgebiet erhalten und besaß dort das Handelsmonopol mit Pelzen. Da aber auch die NWC dort Fuß zu fassen versuchte, kam es wiederholt zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Nach dem Pemmikan-Krieg in der Red-River-Kolonie (heute Manitoba) wurde die NWC 1821 zwangsliquidiert, und die HBC dehnte ihr Monopol auf fast den gesamten Nordwesten des Kontinents aus. 1846 schlossen die Vereinigten Staaten und Großbritannien den Oregon-Kompromiss, der westlich der Großen Seen den 49. Breitengrad als gemeinsame Grenze festlegte. Daraufhin folgte die Gründung der an der Pazifikküste gelegenen Kolonien Vancouver Island (1849) und British Columbia (1858). Kanadische Konföderation Während des Sezessionskriegs in den Vereinigten Staaten erkannten führende Politiker die Notwendigkeit, möglichen amerikanischen Expansionsbestrebungen einen starken Bundesstaat entgegenzustellen, und berieten in drei Verfassungskonferenzen über die Schaffung einer Kanadischen Konföderation. Daraus resultierte das Verfassungsgesetz von 1867, das am 1. Juli 1867 in Kraft trat und das Dominion Kanada schuf, das über eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der Kolonialmacht Großbritannien verfügte. Die Provinz Kanada wurde in Ontario und Québec aufgeteilt, hinzu kamen New Brunswick und Nova Scotia. Der neue Bundesstaat kaufte 1869 der Hudson’s Bay Company das Nordwestliche Territorium und Ruperts Land ab und vereinigte diese zu den Nordwest-Territorien. Nach der Niederschlagung der Red-River-Rebellion der Métis schuf der Manitoba Act 1870 im Unruhegebiet die Provinz Manitoba. British Columbia und Vancouver Island (die sich 1866 vereinigt hatten) traten 1871 der Konföderation bei, zwei Jahre später folgte Prince Edward Island. Um den Westen für die Besiedlung durch Einwanderer zu erschließen, beteiligte sich die Regierung an der Finanzierung von transkontinentalen Eisenbahnen und gründete die North-West Mounted Police (heute Royal Canadian Mounted Police), um die staatliche Kontrolle über die Prärien und subarktischen Regionen durchzusetzen. Die Nordwest-Rebellion und die darauf folgende Hinrichtung des Métis-Führers Louis Riel 1885 führten zu einem tiefen Zerwürfnis zwischen den beiden Sprachgruppen. Als direkte Folge des Klondike-Goldrauschs wurde 1898 das Yukon-Territorium geschaffen. Aufgrund der zunehmenden Besiedlung der Prärie entstanden 1905 aus dem südlichen Teil der Nordwest-Territorien die Provinzen Alberta und Saskatchewan. Mit den Indianern schloss Kanada zwischen 1871 und 1921 elf Verträge ab, die ihnen gegen geringe Kompensationen Reservate zuwiesen, ihnen aber ihre gewohnte Lebensweise garantierten. Bis in die 1960er-Jahre versuchte man sie zwangsweise zu assimilieren und verbot den Schülern den Gebrauch ihrer Muttersprachen. Die Ureinwohner durften bis 1960 nicht an Parlamentswahlen auf nationaler Ebene teilnehmen. An der Seite Großbritanniens nahm Kanada ab 1914 am Ersten Weltkrieg teil und entsandte Freiwillige an die Westfront. Als die Regierung versuchte, gegen den Widerstand des französischsprachigen Bevölkerungsteils den obligatorischen Wehrdienst einzuführen, kam es zur Wehrpflichtkrise von 1917. Eigenständigkeit und Separatismus Bei den Verhandlungen zum Versailler Vertrag trat Kanada als eigenständiger Staat auf. Es trat 1919 unabhängig von Großbritannien dem Völkerbund bei. Das Statut von Westminster von 1931 garantierte die gesetzgeberische Unabhängigkeit; einige verfassungsrechtliche Bindungen blieben bestehen. Das Land war besonders stark von der Weltwirtschaftskrise betroffen; als Reaktion darauf entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten ein gut ausgebauter Sozialstaat. Kanada erklärte 1939 dem Deutschen Reich den Krieg. Trotz einer weiteren Wehrpflichtkrise spielten kanadische Truppen während des Zweiten Weltkriegs eine wichtige Rolle, insbesondere in der Atlantikschlacht, der Operation Jubilee, der Invasion Italiens, der Operation Overlord (Landung am Juno Beach) und der Schlacht an der Scheldemündung. Die Regierung von Mackenzie King wagte es nicht, Soldaten gegen deren Willen in einen Kriegseinsatz im Ausland zu schicken. So blieben Männer im Umfang von fünf Divisionen in Kanada, wo sie deutsche Kriegsgefangene bewachten. Unter den kanadischen Freiwilligen, die in Europa gegen Deutschland kämpften, rief das großen Unmut hervor. 1945 wurden kanadische Soldaten maßgeblich während der Kämpfe um die Niederlande eingesetzt. Die britische Kolonie Neufundland, die sich 1867 nicht dem Bundesstaat angeschlossen hatte und von 1907 bis 1934 ein unabhängiges Dominion gewesen war, trat 1949 nach einer langen politischen und wirtschaftlichen Krise als letzte Provinz der kanadischen Konföderation bei. 1965 wurde die neue Ahornblattflagge eingeführt und seit dem Inkrafttreten des Amtssprachengesetzes 1969 ist Kanada offiziell ein zweisprachiger Staat. Premierminister Pierre Trudeau strebte die vollständige formale Unabhängigkeit von Großbritannien an; diese wurde mit dem Verfassungsgesetz von 1982 und der Charta der Rechte und Freiheiten erreicht. Während der 1960er-Jahre fand in Québec eine tiefgreifende gesellschaftliche und wirtschaftliche Umwälzung statt, die als „Stille Revolution“ bekannt ist. Québecer Nationalisten begannen, mehr Autonomie oder gar die Unabhängigkeit zu fordern. Nachdem die Front de libération du Québec Entführungen und Anschläge verübt hatte, wurde während der Oktoberkrise 1970 kurzzeitig ein Ausnahmezustand ausgerufen. Moderate Nationalisten stellten ab 1976 die Provinzregierung, 1980 wurde ein erstes Unabhängigkeitsreferendum mit 59,6 % der Stimmen abgelehnt. Ein weiteres Kennzeichen dieser Umwälzung ist die Ablösung der frankophonen Bevölkerung von der katholischen Kirche. Der Constitution Act / Loi constitutionelle vom 17. April 1982, mit dem auch Verfassungsänderungen nicht mehr vom britischen Parlament abgesegnet werden müssen, gilt als Datum der formalen Unabhängigkeit (vollen Souveränität) Kanadas. 1989 scheiterten Bemühungen der Bundesregierung, Québec mit dem Meech Lake Accord als „sich unterscheidende Gesellschaft“ anzuerkennen. Die vom separatistischen Parti Québécois geführte Provinzregierung setzte 1995 das zweite Unabhängigkeitsreferendum an, das mit 49,4 % Zustimmung knapp scheiterte. 1999 wurde Nunavut geschaffen, das erste kanadische Territorium mit mehrheitlich indigener Bevölkerung. Bevölkerung Die letzte Volkszählung von 2021 ergab eine Einwohnerzahl von 37,0 Millionen. Daraus errechnet sich eine Bevölkerungsdichte von etwa 4,2 Einwohner/km², eine der geringsten der Welt. Die Bevölkerung konzentriert sich zu einem großen Teil auf einem bis zu 350 km breiten Streifen entlang der Grenze zu den USA. Weite Teile des Nordens sind nahezu unbesiedelt. Fast vier Fünftel der Kanadier leben in Städten. Die größten Städte sind Toronto, Montreal, Calgary, Ottawa, Edmonton und Vancouver. Der Großteil der Bevölkerung lebt in den Provinzen Ontario (14,2 Mio.) und Québec (8,5 Mio.) entlang des St.-Lorenz-Stromes, das heißt rund um Toronto, Montreal, Québec, Ottawa, London und Hamilton (Québec-Windsor-Korridor). 5,0 Mio. Menschen leben in British Columbia, 4,3 Mio. in Alberta, in Manitoba 1,3 Mio. und in Saskatchewan weitere 1,1 Mio. Menschen. Die vier Atlantik-Provinzen haben alle weniger als 1 Million Einwohner. Die bevölkerungsärmsten Territorien Kanadas sind Nunavut, das Yukon-Territorium und das Nordwest-Territorien, die zwischen rund 37.000 und 41.000 Einwohner haben. Demographische Struktur und Entwicklung Kanada ist ein Einwanderungsland. 2020 waren rund 21 % der Bevölkerung im Ausland geboren. Große Einwanderergruppen kamen in der Vergangenheit aus dem Vereinigten Königreich, Frankreich, Deutschland, Italien, Irland, den Niederlanden, Ungarn, der Ukraine, Polen, Kroatien und aus den USA. Heutzutage wächst die Bedeutung der Einwanderer aus Ostasien, vor allem aus der Volksrepublik China, aus Südasien (Indien und Pakistan), von den Philippinen und aus der Karibik (vor allem Jamaika und Haiti). Von den etwa sechs Millionen deutschen Auswanderern der Jahre 1820 bis 1914 gingen nur 1,3 % nach Kanada, von den 605.000 der Jahre 1919 bis 1933 gingen 5 %, von den 1,2 Millionen der Jahre 1950 bis 1969 bereits 25 % dorthin. 2006 gaben rund 3,2 Millionen Kanadier an, deutscher Herkunft zu sein. Damit sind die Deutschkanadier nach den Einwohnern mit Wurzeln im Raum Großbritannien/Irland und denen mit Wurzeln im heutigen Frankreich die drittgrößte Bevölkerungsgruppe des Landes. Das Bevölkerungswachstum Kanadas von 2016 bis 2021 war mit 5,2 % das höchste unter den G7-Staaten. Die Lebenserwartung eines neugeborenen Kanadiers lag 2020 bei 82,5 Jahren (Frauen: 84,5, Männer: 80,6). 26 % der Kanadier sind 19 Jahre oder jünger, 13 % 65 Jahre oder älter. Der Median des Alters der Bevölkerung lag im Jahr 2020 bei 41,1 Jahren. 2006 waren 4635 Kanadier über 100 Jahre alt. Indigene Ethnien In Kanada unterscheidet man drei Gruppen indigener oder autochthoner Völker: Die First Nations (auch „Indianer“ genannt), die Inuit und die Métis, Nachfahren von Europäern, die mit indianischen Frauen eine Verbindung eingegangen waren, aber auch NunatuKavummiut, Nachkommen von Inuit und Europäern im Osten Labradors, sowie Nunatsiavut im Norden der Provinz. Zahlreiche weitere Kanadier haben indianische Vorfahren. Deren Ehen wurden sehr häufig nach der „Sitte des Landes“ (custom of the country) geschlossen, also ohne kirchliche oder staatliche Mitwirkung – wie es bei Ehen zwischen Männern der Hudson’s Bay Company und Indianerinnen üblich war. Ehen dieser Art waren erst ab 1867 vollgültig. Bei der Volkszählung im Jahr 2006 gaben 1.172.790 Kanadier an, Angehörige einer indigenen Gruppe zu sein. Das entsprach 3,8 % der Bevölkerung, wobei dieser Anteil regional sehr stark schwankt. Die Indigenen verteilten sich auf folgende Gruppen: 698.025 waren Angehörige der First Nations, 389.785 Métis, 50.485 Inuit, 6.665 Indigene gemischter Herkunft (Stand: 2001), 23.415 Indigene ohne eindeutige ethnische Zuordnung (Stand: 2001). Im Schnitt sind die Ureinwohner erheblich jünger als die übrige Bevölkerung. So sind 50 % der indianischen Bevölkerung unter 23,5 Jahre alt, im übrigen Kanada liegt dieser als Median bezeichnete Wert bei 39,5 Jahren. 185.960 Kanadier sprachen 2001 eine der 50 indigenen Sprachen, diese umfassen die Sprachen der First Nations sowie Inuktitut, die Sprache der Inuit. Die Interessen der indigenen Bevölkerung werden staatlicherseits vom „Department of Indian Affairs and Northern Development“/„Affaires indiennes et du Nord“ vertreten, dem das Indianergesetz von 1876 zugrunde liegt. Sie selbst sehen sich allerdings eher in eigenen Organisationen, wie der Versammlung der First Nations oder anderen Organisationen vertreten. Sie berufen sich auf die Verträge, die mit Kanada und Großbritannien geschlossen worden sind, wie die Numbered Treaties, auf allgemeine Menschenrechte und auf Entscheidungen der oberen Gerichtshöfe in Großbritannien und Kanada. Die Indianer besitzen erst seit 1960 das volle Wahlrecht. Ein Teil des besonderen Lebensraumes der Inuit wurde 1999 in ein eigenes Territorium namens Nunavut zusammengefasst. Seit 1996 wird der 21. Juni als „National Aboriginal Day“ bzw. „Journée nationale des Autochtones“ gefeiert. Zugleich kommt es nach wie vor zu Auseinandersetzungen um Landrechte und den Abbau von Bodenschätzen, wie die Grassy-Narrows-Blockade, der Streit um die Urwälder am Clayoquot Sound an der Westküste oder der Widerstand der Kitchenuhmaykoosib Inninuwug in Ontario zeigen. Sprachen Kanadas Amtssprachen sind Englisch und Französisch, wobei 20,1 % der Bevölkerung weder die eine noch die andere als Muttersprache angeben. In der Kanadischen Charta der Rechte und Freiheiten, im Amtssprachengesetz und in den Amtssprachenverordnungen ist die offizielle Zweisprachigkeit festgeschrieben, die vom Amtssprachenkommissariat durchgesetzt wird. In den Bundesgerichten, im Parlament und in allen Institutionen des Bundes sind Englisch und Französisch gleichberechtigt. Die Bürger haben das Recht, Dienstleistungen des Bundes in englischer oder französischer Sprache wahrzunehmen. In allen Provinzen und Territorien wird den sprachlichen Minderheiten der Schulunterricht in eigenen Schulen garantiert – ein Anrecht, das lange umstritten war. Die Ursachen reichen bis in die französische und britische Kolonialisierungsphase Nordamerikas zurück und standen zugleich mit kulturellen und religiösen Gegensätzen in Zusammenhang. Englisch und Französisch sind die Muttersprachen von 56,9 % bzw. 21,3 % der Bevölkerung, bei 68,3 % bzw. 22,3 % sind es die zu Hause am meisten gesprochenen Sprachen (2006). 98,5 % aller Einwohner sprechen Englisch oder Französisch (67,5 % sprechen nur Englisch, 13,3 % nur Französisch und 17,7 % beides). Zwar leben 85 % aller französischsprachigen Kanadier in Québec, doch gibt es bedeutende frankophone Bevölkerungsgruppen in Ontario und in Alberta, im Süden von Manitoba, im Norden und Südosten von New Brunswick (Akadier; insgesamt 35 % der Bevölkerung dieser Provinz) sowie im südwestlichen Nova Scotia und auf der Kap-Breton-Insel. Ontario hat die zahlenmäßig größte französischsprachige Bevölkerung außerhalb Québecs. Die Charta der französischen Sprache erklärt Französisch zur alleinigen Amtssprache in Québec, und New Brunswick ist die einzige Provinz, deren Verfassung die Zweisprachigkeit garantiert. Andere Provinzen haben keine Amtssprache als solche definiert; jedoch wird Französisch zusätzlich zu Englisch in Schulen, Gerichten und für Dienstleistungen der Regierung verwendet. Manitoba, Ontario und Québec erlauben das gleichberechtigte Sprechen von Englisch und Französisch in den Provinzparlamenten, und Gesetze werden in beiden Sprachen erlassen. In Ontario kennen einzelne Gemeinden Französisch als zweite Amtssprache. Die Wahl der Hauptstadt des seinerzeitigen Britisch-Nordamerika durch Königin Victoria (1857) fiel möglicherweise deshalb auf Ottawa, weil es etwa an der Grenze zwischen franko- und anglophonem Gebiet lag. Alle Regionen haben nicht-englisch- oder französischsprachige Minderheiten, hauptsächlich Nachkommen der Ureinwohner. Offiziellen Status besitzen mehrere Sprachen der First Nations in den Nordwest-Territorien. Im hauptsächlich von Inuit bevölkerten Territorium Nunavut ist Inuktitut die Mehrheitssprache und eine von drei Amtssprachen. Mehr als 6,1 Millionen Einwohner bezeichnen weder Englisch noch Französisch als ihre Erstsprache. Am weitesten verbreitet sind Chinesisch (1,012 Millionen Sprecher), Italienisch (etwa 455.000), Deutsch (etwa 450.000), Panjabi (etwa 367.000) und Spanisch (etwa 345.000). Das Kanadisch-Gälische, um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch die dritthäufigste Sprache Kanadas, ist mit etwa 500 bis 1000 vorwiegend älteren Sprechern mittlerweile fast ausgestorben, jedoch bestehen Kontakte zu schottischen Hochschulen, die Kanadiern Sprachkurse anbieten. Mehrere Schulen unterrichten die Sprache, ebenso drei Hochschulen sowie die 2006 gegründete Atlantic Gaelic Academy. Erst ab 1973 wurden in Ontario deutsche Schulen vom Staat wieder unterstützt. Zwischen 1977 und 1990 erhielten die Schulen Mittel aus dem Multikulturalismusprogramm der Regierung. Religion Mit der Kolonialisierung kamen zunächst vor allem französische Katholiken und anglikanische Engländer nach Kanada. Darüber hinaus förderte Großbritannien die Einwanderung protestantischer Gruppen vom Mittelrhein und aus Württemberg, in geringerem Maße auch aus der Schweiz, Frankreich und den Niederlanden, sodass der Süden von Nova Scotia bis heute protestantisch ist. Doch gab die Kolonialmacht 1774 mit dem Quebec Act jeden Versuch auf, die Katholiken zur Konversion zu bewegen. Nach der Unabhängigkeit der USA kamen zahlreiche protestantische Loyalisten in das heutige Ontario und bildeten dort die Mehrheit. In späteren Einwanderungswellen kamen wiederum katholische Iren und Italiener, aber auch ukrainische Duchoborzen hinzu. Die Einwanderung aus Schottland sorgte wiederum für eine Beseitigung des Vorrangs der Anglikanischen Kirche im Osten durch zahlreiche Presbyterianer. In Toronto setzten sich die Methodisten durch. In Opposition zu den Katholiken, die eher dem Ultramontanismus zugeneigt waren (les bleus), aber auch zu den dominierenden Anglikanern, die vom Oranier-Orden unterstützt wurden, bildeten sich antiklerikale Gruppen (vor allem les rouges). Mit dem Lord’s Day Act von 1906 wurde ein weitgehendes Arbeitsverbot am Sonntag durchgesetzt, das bis in die 1960er-Jahre Gültigkeit beanspruchte und das der Oberste Gerichtshof erst 1985 endgültig abschaffte. Eine ähnliche Bedeutungsminderung des Religiösen im Alltag fand in Québec statt. Dennoch gibt es bedeutende Gruppen, insbesondere im Süden Manitobas und Ontarios, in Alberta und im Binnenland von British Columbia. Dazu zählen die Mennoniten im Süden Manitobas, die ukrainischen Orthodoxen und Katholiken in Manitoba und Saskatchewan, die Mormonen bilden einen Schwerpunkt in Alberta. Hinzu kommen die Zeugen Jehovas und zahlreiche andere Gruppen. Die katholischen Missionare waren unter den Ureinwohnern erfolgreicher als die protestantischen, und so überwiegt dort der katholische Anteil. Dazu kommen indigene Glaubensorganisationen, wie die Shaker Church. Mit den jüngsten Einwanderungswellen verstärkten sich nichtchristliche Religionsgemeinschaften wie Hindus, Muslime, Juden, Sikhs und Buddhisten. Sie konzentrieren sich in Großstädten, insbesondere im Großraum Toronto. Die älteste Synagoge, Congregation Emanu-El, entstand 1863 in Victoria, die erste Moschee 1938 mit der Al Rashid Mosque in Edmonton. Etwa 67,3 % der kanadischen Bevölkerung gehörten 2011 einer christlichen Konfession an (39,0 % katholisch, etwa 24,1 % protestantisch). Die beiden größten protestantischen Glaubensgemeinschaften sind mit 6,1 % die United Church of Canada und mit 6,9 % die Anglikanische Kirche von Kanada, dazu kommen 1,9 % Baptisten, 1,4 % Lutheraner, etwa 1,7 % Orthodoxe sowie etwa 3,0 % andere christliche Glaubensgemeinschaften. Muslime stellen etwa 3,2 % der Bevölkerung, mehr als die Hälfte von ihnen lebt in Ontario. Etwa 1,0 % sind Juden, von denen wiederum knapp 60 % in Ontario leben, und etwa 1,1 % Buddhisten, 1,5 % Hindus sowie 1,4 % Sikhs. Etwa 23,9 % gaben an, keiner Glaubensgemeinschaft anzugehören. Die Volkszählungen von 2011, 2001 und 1991 ergaben: Zu beachten bei der Prozentzahl „Veränderung 1991–2011“ (rechte Spalte) ist, dass die Gesamtbevölkerung des Staates in diesen 20 Jahren erheblich zugenommen hat; der „Zuwachs“ etwa bei den Katholiken relativiert sich damit erheblich. Besonders schnell wachsen durch Zuwanderung die nicht-christlichen Gruppen, aber auch zahlreiche christliche Gruppen, die außerhalb der großen Kirchen stehen. Nach einer Umfrage von 2007 fühlten sich die Muslime in Kanada deutlich stärker integriert als in europäischen Staaten. Insgesamt setzt die kanadische Politik im Rahmen ihrer Integrationspolitik stärker auf Erhalt und Nutzung der ethnischen und religiösen Besonderheiten als auf Anpassung. Seit den 1960er-Jahren begann ein Wandel der Schulpolitik, die bis dahin auf Segregation basierte. Mit dem Canadian Multiculturalism Act von 1988 wurde diese formal beendet. Einwanderungspolitik/-system Kanada hat, gemessen an der Bevölkerung, eine der höchsten Einwanderungsraten unter den Flächenstaaten der Welt. Die Einwanderung wird über definierte Ziele gesteuert, die in einem Programm festgelegt worden sind. Hierbei gibt es etwa Programme für Flüchtlinge, zur Zuwanderung in den Arbeitsmarkt, für Existenzgründer und zum Familiennachzug. Die Einwanderungskriterien sind öffentlich einsehbar und können bereits vor Antragstellung selbst überprüft werden. Für Menschen mit Berufen, die in Kanada gefragt sind, existiert zum Beispiel das Skilled Worker-Programm. Je nach Lage des Arbeitsmarkts wird eine Mindestpunktzahl festgelegt, die ein Einwanderungsinteressierter erreichen muss. Die persönliche Punktzahl setzt sich aus Punkten für den aktuellen Bildungsstand und die Berufserfahrung zusammen, aus Punkten für die vorhandenen Sprachkenntnisse in Englisch und Französisch sowie für das Alter, für Verwandte und frühere Aufenthalte in Kanada. Ein verbindliches Arbeitsangebot eines kanadischen Arbeitgebers erhöht die Punktzahl nochmals maßgeblich. Das Immigrations-Programm wurde am 1. Juli 2011 dahingehend angepasst, dass ohne ein bestehendes Arbeitsangebot nur noch Personen zum Skilled Worker-Programm zugelassen werden, die Erfahrung in einem von 29 festgelegten Berufen nachweisen können. Daneben muss ein Interessent am Skilled Worker-Programm nachweisen, dass er sich für eine gewisse Zeit finanziell selbst versorgen kann. Die notwendige Summe beläuft sich derzeit (September 2011) für eine alleinstehende Person auf 11.115 CAD, für eine vierköpfige Familie auf 20.654 CAD. Außerdem werden polizeiliche Führungszeugnisse aus allen Ländern benötigt, in denen der Kandidat nach dem 18. Geburtstag für sechs Monate oder länger gelebt hat. Bei Fachkräften, die nach Kanada einwandern wollen, wird vor allem auf gute Sprachkenntnisse, eine Jobzusage und ein geringes Alter geachtet. Die Einwanderung erfolgt in zwei Stufen. Zunächst wird eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung erteilt. Nach drei Jahren als „Permanent Resident“ und entsprechendem Aufenthalt im Land kann der Einbürgerungsantrag gestellt werden. Einwanderer, die noch nicht eingebürgert sind, haben Residenzpflicht. Dies bedeutet, dass man Nachweise für die vorgegebene Zeit in Kanada erbringen, oder mit jemandem verheiratet sein muss, die oder der die kanadische Staatsbürgerschaft besitzt. Bei Verstößen kann der „Permanent Resident“-Status entzogen und der Einwanderer in sein Herkunftsland zurückgeschickt werden. Neben dem Programm für qualifizierte Einwanderungswillige steht eine gesonderte Regelung für Gastarbeiter, die keine Perspektive für eine Einbürgerung bekommen. Die Zahl der nur zeitweilig in Kanada zugelassenen Arbeitskräfte übersteigt seit etwa 2006 die der Einwanderer. Die Gastarbeiter erhalten Arbeitsgenehmigungen, die in der Regel für einige Monate gelten und nur selten die Dauer eines Jahres übersteigen. Sie gelten nur für den Arbeitgeber, der die Arbeitskräfte ins Land holt, eine Kündigung ist mit dem Verlust der Aufenthaltsgenehmigung verbunden. Während das Programm für Gastarbeiter ursprünglich für Pflegekräfte in Haushalten, Kindermädchen und Arbeiter in der Landwirtschaft eingeführt wurde, wird es inzwischen für alle Tätigkeiten des Niedriglohnbereichs eingesetzt. Außer den Programmen zur Einwanderung in den Arbeitsmarkt gibt es in Kanada auch humanitäre Aufnahmeprogramme zum Resettlement von Menschen, die vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) als Flüchtlinge anerkannt wurden. Noch vor der Einreise werden diese sogenannten Kontingentflüchtlinge einem Gesundheits- und Sicherheitscheck unterzogen, inklusive Iris-Scan zur eindeutigen Identifizierung. Unbegleitete Minderjährige bekommen keine Plätze, dafür bevorzugt Familien und Frauen. 2018 war Kanada der Staat mit dem weltweit größten Aufnahmeprogramm von Resettlement-Flüchtlingen. Jedes Jahr legt die kanadische Regierung genaue Kontingente für die Resettlement-Programme fest. Rund ein Drittel der gut 30.000 Plätze im Jahr 2019 wurden vom Staat finanziert, die restlichen Kontingentflüchtlinge wurden ganz oder teilweise von Organisationen und Privatleuten unterstützt. Mehr als 90 Prozent der Arbeitsmigrantinnen- und migranten sprechen bereits vor der Einreise Englisch, Französisch oder beides. Unter den Kontingentflüchtlingen und ihren Familien sind es 54 Prozent, auf die eines der drei Dinge zutrifft. Der weitaus größte der Teil der 341.180 Menschen, die im Jahr 2019 eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis für Kanada erhielten, waren Fachkräfte. neben guten Sprachkenntnisse, eine Jobzusage und ein geringes Alter vorwiesen. Menschen, die – über Grenze der USA – Kanada betreten und Asyl beantragen und keine Qualifikationen mitbringen, werden meist in die USA abgeschoben. Wird ein Asylbewerber jedoch anerkannt, bekommt er grundsätzlich eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis – bekommt aber keine Wohnung vom Staat zugewiesen. Notfalls erfolgt die Unterbringung in einem Gefängnis. Geflüchtete machen 14 Prozent aller Zuwanderer in Kanada aus. Politik Verfassung und Recht Kanada ist formal eine konstitutionelle Monarchie innerhalb des Commonwealth of Nations mit König Charles III. als Staatsoberhaupt. Er trägt den Titel König von Kanada und wird durch den Generalgouverneur vertreten. Der Staat ist auch eine repräsentative parlamentarische Demokratie, die in Form eines Bundesstaates organisiert ist. Die Verfassung Kanadas besteht aus schriftlichen Rechtsquellen und ungeschriebenem Gewohnheitsrecht. Das Verfassungsgesetz von 1867 enthält das Staatsorganisationsrecht, begründete ein auf dem Westminster-System des Vereinigten Königreichs basierendes parlamentarisches Regierungssystem und teilte die Macht zwischen Bund und Provinzen auf. Das Statut von Westminster von 1931 gewährte die vollständige gesetzgeberische Autonomie, und mit dem Verfassungsgesetz von 1982 wurden die letzten verfassungsrechtlichen Bindungen zum britischen Mutterstaat gelöst. Letzteres enthält einen Grundrechtskatalog (die Kanadische Charta der Rechte und Freiheiten) sowie Bestimmungen betreffend das Vorgehen bei Verfassungsänderungen. Einhergehend mit dem Status als Monarchie gibt es eine Reihe von Titeln und Orden, die in Kanada verliehen werden. Exekutive Theoretisch liegt die exekutive Staatsgewalt beim Monarchen, wird aber in der Praxis durch das Kabinett (formal ein Komitee des kanadischen Kronrates) und durch den Vertreter des Monarchen, den Generalgouverneur, ausgeübt. Der Monarch und dessen Vertreter sind unpolitisch und üben überwiegend zeremonielle Funktionen aus, um die Stabilität der Regierung zu garantieren. Gemäß Gewohnheitsrecht übergeben sie alle politischen Geschäfte ihren Ministern im Kabinett, die ihrerseits gegenüber dem gewählten Unterhaus verantwortlich sind. Die exekutive Staatsgewalt liegt somit de facto beim Kabinett, jedoch können Monarch und Generalgouverneur im Falle einer außergewöhnlichen Verfassungskrise ihre Hoheitsrechte wahrnehmen. Der Premierminister ist üblicherweise der Vorsitzende jener Partei, die im Unterhaus die meisten Sitze hält und das Vertrauen der Mehrheit der Abgeordneten besitzt. Er wird vom Generalgouverneur eingesetzt und führt als Regierungschef das Kabinett an. Da er über weitgehende Befugnisse verfügt, gilt er als mächtigste Person des Staates. Er ernennt die übrigen Kabinettsmitglieder, Senatoren, Richter des Obersten Gerichtshofes, Vorsitzende von Staatsbetrieben und Behörden und kann den Generalgouverneur sowie die Vizegouverneure der Provinzen vorschlagen. Die Bundesregierung ist unter anderem zuständig für Außenpolitik, Verteidigung, Handel, Geldwesen, Verkehr und Post sowie die Aufsicht über die Administration der drei bundesabhängigen Territorien. Aktuell ist der Vorsitzende der Liberalen Partei, Justin Trudeau, seit dem 4. November 2015 Premierminister und leitet das 29. Kanadische Kabinett. Vom 2. Oktober 2017 bis zum 21. Januar 2021 war Julie Payette die 29. Generalgouverneurin von Kanada. Sie trat nach Abschluss einer unabhängigen Untersuchung über das von ihr geschaffene Arbeitsumfeld als Generalgouverneurin zurück. Während der Zeit bis zur Ernennung einer Nachfolgerin wurden die Aufgaben durch Richard Wagner, Vorsitzender des Obersten Gerichtshofes von Kanada, als „Administrator of the Government of Canada“ wahrgenommen. Am 6. Juli 2021 wurde die Ernennung von Mary Simon zur neuen Generalgouverneurin von Kanada bekannt gegeben. Simon ist die erste Inuk die zum Vertreter des Königs ernannt wurde. Legislative Das kanadische Bundesparlament besteht aus dem Monarchen und zwei Kammern, dem demokratisch gewählten Unterhaus (englisch House of Commons, frz. Chambre des communes) und dem ernannten Senat von Kanada (Senate of Canada, Sénat de Canada). Jedes Mitglied des Unterhauses wird im relativen Mehrheitswahlrecht in einem von 338 Wahlkreisen gewählt. Allgemeine Wahlen werden vom Generalgouverneur angesetzt, wenn der Premierminister dies so vorschlägt oder wenn ein Misstrauensvotum gegen die Regierung die benötigte Mehrheit erreicht. Gemäß einem 2006 verabschiedeten Gesetz beträgt die Dauer der Legislaturperiode vier Jahre. Zuvor konnte der Premierminister den Wahltermin nach Belieben festsetzen, doch musste eine Neuwahl spätestens nach fünf Jahren erfolgen. Die Regierung stellt zurzeit die Liberale Partei, während die Konservative Partei die Rolle der „offiziellen Opposition“ innehat. Weitere im Parlament vertretene Parteien werden als „Drittparteien“ bezeichnet. Es sind dies die Neue Demokratische Partei, der Bloc Québécois und die Grüne Partei. Im Senat von Kanada, auch „Oberhaus“ (englisch upper house, frz. chambre haute) genannt, sitzen 105 Abgeordnete, die der Generalgouverneur auf Empfehlung des Premierministers ernennt. Die Sitze sind nach Regionen aufgeteilt, wobei diese seit 1867 nicht mehr angepasst wurden und deshalb große Disproportionalitäten in der Repräsentation im Verhältnis zur Einwohnerzahl bestehen. Die Senatoren haben keine feste Amtszeit, sondern können ihr Amt bis zum 75. Lebensjahr wahrnehmen. Der Einfluss des Senats ist bedeutend geringer als jener des Unterhauses. Entwicklung des Frauenwahlrechts in Kanada Die Bundesstaaten führten das Frauenwahlrecht ab 1916 nacheinander und zum Teil früher ein, als dies auf Bundesebene der Fall war. Schlusslicht war Québec: Das Gesetz, das auch Indianern das Wahlrecht verschaffte, wurde erst am 9. April 1949 ins Parlament eingebracht und trat am 25. April 1949 in Kraft. 1917 wurde das aktive Wahlrecht auf nationaler Ebene vor dem Hintergrund des Krieges durch den Wartime Elections Act bestimmten Gruppen von Frauen zugestanden, über deren genaue Zusammensetzung in der Literatur Unterschiedliches zu finden ist: Krankenschwestern, die im Krieg Dienst taten; euroamerikanische Frauen, die in der Armee arbeiteten oder dort nahe Angehörige (Vater, Ehemann oder Sohn) hatten oder deren Väter, Männer oder Söhne im Krieg getötet oder verwundet worden waren; Frauen, deren Ehemänner, Söhne oder Väter im Krieg getötet oder verwundet worden waren; eine weitere Quelle nennt zusätzlich die Anforderung, dass die zugelassenen Frauen auf der Ebene der ihres Bundesstaates wahlrechtlich Männern gleichgestellt waren. Am 24. Mai 1918 wurde das aktive nationale Wahlrecht auf alle Frauen britischer und französischer Abstammung ab 21 Jahren ausgedehnt, womit gleiche Kriterien für Frauen und Männer galten. Indianer waren ausgeschlossen. 1919 erhielten Frauen das passive Wahlrecht. Zwar nennen andere Quellen hierfür spätere Daten und sprechen von einem beschränkten Wahlrecht; doch beruht dies vermutlich darauf, dass erst 1929 in einem von The Famous Five angestrengten Gerichtsverfahren endgültig geklärt wurde, dass das passive Wahlrecht in der Verfassung auch für den Senat galt, nicht nur für das House of Commons. 1920 wurden die Eigentumsbeschränkungen aufgehoben. 1950 und 1951 wurde durch Änderungen am Indian Act und am Canada Elections Act das aktive Wahlrecht auf nationaler Ebene auf Veteranen aus dem Kreis der Indianer und ihre Ehefrauen sowie Indianer, die normalerweise außerhalb der Reservate lebten, ausgedehnt, wenn sie auf die Steuerbefreiungen verzichteten, die ihnen der Indian Act gewährte. 1950 hatten die Inuit das Wahlrecht erhalten, 1951 alle Bewohner der Nordwest-Territorien. Wahlurnen für die Inuit wurden in der östlichen Arktis erst 1962 aufgestellt. Erst im August 1960 wurde das Wahlrecht mit dem Act to Amend the Canada Elections Act auf alle Kanadier ausgedehnt. Frauen das passive Wahlrecht. Zwar nennen andere Quellen hierfür spätere Daten und sprechen von einem beschränkten Wahlrecht; doch beruht dies vermutlich darauf, dass erst 1929 in einem von The Famous Five angestrengten Gerichtsverfahren endgültig geklärt wurde, dass das passive Wahlrecht in der Verfassung auch für den Senat galt, nicht nur für das House of Commons. Judikative Kanadas Rechtssystem spielt eine wichtige Rolle bei der Interpretation von Gesetzen. Es berücksichtigt die sich verändernden gesellschaftlichen Gegebenheiten und hat die Macht, Gesetze zu widerrufen, die gegen die Verfassung verstoßen. Der Oberste Gerichtshof ist das höchste Gericht und die letzte Instanz. Die neun Mitglieder werden auf Vorschlag des Premierministers und des Justizministers vom Generalgouverneur ernannt. Vorsitzender des Obersten Gerichtshofes (Chief Justice of Canada, Juge en chef du Canada) ist seit 2017 Richard Wagner. Die Bundesregierung ernennt auch Richter der Obersten Gerichte der Provinzen und Territorien. Die Besetzung von Richterämtern auf unteren Stufen fällt in die Zuständigkeit der Provinz- und Territorialregierungen. In den Provinzen sind die obersten Gerichte die Courts of Appeal. Ihre Urteile sind allerdings, im Gegensatz zu denen des Obersten Gerichtshofs in Ottawa, in den anderen Provinzen nicht bindend, wenn sie auch nicht ohne Einfluss sind. Als weitere Rechtsquelle gelten gelegentlich noch immer der Londoner Court of Appeal und das britische House of Lords. Deren Entscheidungen aus der Zeit vor 1867 sind immer noch bindend, es sei denn, der kanadische Oberste Gerichtshof hat sie aufgehoben. Das Gleiche gilt für Entscheidungen bis 1949 für den Rechtsprechungsausschuss des Privy Council. Dies ist für die Rechtsstellung der indigenen und der frankophonen Bevölkerung von erheblicher Bedeutung, da ältere Verträge mit der britischen Krone weiterhin gültig sind. Politische Indizes Provinzen und Territorien Kanada ist ein in zehn Provinzen und drei Territorien gegliederter Bundesstaat. Diese subnationalen Einheiten können in geographische Regionen gegliedert werden. Westkanada besteht aus British Columbia und den drei Prärieprovinzen Alberta, Saskatchewan und Manitoba. Zentralkanada umfasst die zwei bevölkerungsreichsten Provinzen Ontario und Québec. Als Seeprovinzen werden New Brunswick, Prince Edward Island und Nova Scotia bezeichnet; zusammen mit Neufundland und Labrador bilden sie die Atlantischen Provinzen. Die drei Territorien Yukon, Nordwest-Territorien und Nunavut umfassen sämtliche Gebiete nördlich des 60. Breitengrades und westlich der Hudson Bay. Die Provinzen verfügen über einen hohen Grad an Autonomie, wogegen in den Territorien die Bundesregierung zahlreiche Verwaltungsaufgaben selbst übernimmt. Alle Provinzen und Territorien besitzen ein Einkammerparlament und einen Premierminister als Regierungschef. Der kanadische Monarch wird in allen Provinzen durch einen Vizegouverneur vertreten, der gleichrangig mit dem Generalgouverneur ist und überwiegend zeremonielle Aufgaben wahrnimmt. In den Territorien übernimmt ein von der Bundesregierung ernannter Kommissar die Aufgaben eines Vizegouverneurs. Während in den meisten Bundesverfassungen föderaler Staaten allein die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes explizit aufgezählt werden, führt das Verfassungsgesetz von 1867 (englisch Constitution Act, 1867, frz. Loi constitutionnelle de 1867) nicht nur in Art. 91 die ausschließlichen Kompetenzen des Bundes, sondern in den Artikeln 92, 92A und 93 auch die ausschließlichen Kompetenzen der Provinzen auf. Hiernach verfügen die Provinzen über das Gesetzgebungsrecht u. a. in den Bereichen direkte Steuern, Beamtenbesoldung, öffentliche Einrichtungen, Gemeindewesen, Schulwesen, Gast- und sonstiges lokales Gewerbe, Eigentum und bürgerliches Recht, Gerichtsverfassungsrecht, Zivilprozessrecht, Bergbau, Forstwirtschaft und Energie. 1974 gab es Bestrebungen im kanadischen Parlament, das britische Überseegebiet der Turks- und Caicosinseln in der Karibik als elfte Provinz in den kanadischen Staatsverband aufzunehmen. Der Gesetzesvorschlag fand jedoch keine Mehrheit und wurde somit abgelehnt. Seit 2003 gibt es jedoch erneute Bestrebungen in diese Richtung. Dafür müsste jedoch erstens Großbritannien die Inseln in die Unabhängigkeit entlassen und zweitens jede einzelne kanadische Provinz zustimmen. Insbesondere Letzteres ist infolge der sehr komplizierten kanadischen Verfassungsprozeduren indes wenig wahrscheinlich. Rechtssystem und Polizei Zwar ist Kanada ein relativ junger Staat, die Rechtsordnung hat jedoch eine lange Tradition. Das in allen Provinzen mit Ausnahme Québecs geltende Common Law basiert auf Grundsätzen, die sich während Jahrhunderten in England entwickelten und ein Erbe der britischen Kolonialzeit sind. Der in Québec im Bereich des Privatrechts geltende Code civil spiegelt Prinzipien des französischen Rechtssystems wider. Das Strafrecht hingegen ist Sache des Bundesstaates und in allen Provinzen einheitlich. Im Laufe der Zeit wurden beide Rechtssysteme den Erfordernissen in Kanada angepasst. Beide Rechtssysteme sind in die Verfassung eingeflossen. Deren Kern entstand 1867 mit der Gründung Kanadas und wurde zuletzt 1982 grundlegend durch das Verfassungsgesetz von 1982 und die Kanadische Charta der Rechte und Freiheiten ergänzt. Kanada schaffte 1976 die Todesstrafe für Verbrechen in Friedenszeiten ab, 1998 auch im Kriegsstrafrecht. Auslöser war die 1959 erfolgte Verurteilung des damals 14-jährigen Steven Truscott zum Tode. Er wurde nach zehn Jahren Haft auf Bewährung entlassen und 2007 freigesprochen. Die Strafverfolgung fällt in die Verantwortung der Provinzen. Die Polizeibehörden sind mehrstufig aufgebaut. Die Royal Canadian Mounted Police (Abkürzung RCMP, umgangssprachliche Kurzbezeichnung Mounties, französisch Gendarmerie royale du Canada, GRC) ist die nationale Polizei. Die beiden größten Provinzen verfügen mit der Ontario Provincial Police (OPP) bzw. der Sûreté du Québec über eigene Provinzpolizeien, dort beschränkt sich der Auftrag der RCMP auf den Schutz von Bundeseinrichtungen. Daneben gibt es weitere Polizeibehörden auf Provinzebene (z. B. British Columbia Sheriff Service, Royal Newfoundland Constabulary) und auf regionaler oder örtlicher Ebene (z. B. Toronto Police Service, York Regional Police). Ferner gibt es auf Bundesebene Polizeibehörden mit speziellen Aufgaben (z. B. Parks Canada Warden). Ähnlich den Vereinigten Staaten existieren für die Gebiete von Indianerstämmen und anderen Ureinwohnern eigene Polizeibehörden. Die beiden großen privaten Eisenbahngesellschaften (CP und CN) verfügen über je eine eigene Polizei zur Sicherung ihrer Einrichtungen. Einige Nahverkehrbetreiber sowie manche Universitäten haben eigene Hilfspolizeien (sogenannte Special Constables) eingerichtet. Außenpolitik Die Vereinigten Staaten und Kanada teilen sich die längste nicht verteidigte Staatsgrenze der Welt. Die Kooperation auf militärischem und wirtschaftlichem Gebiet ist eng; so sind beide Länder im Rahmen des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens jeweils der größte Handelspartner des anderen. Dennoch betreibt Kanada eine eigenständige Außenpolitik. Es unterhält diplomatische Beziehungen zu Kuba und beteiligte sich nicht am Vietnam- oder am Irakkrieg. Enge Beziehungen unterhält der Staat traditionell zum Vereinigten Königreich und zu Frankreich, über die Mitgliedschaft im Commonwealth of Nations und in der internationalen Organisation der Frankophonie auch zu anderen ehemaligen britischen und französischen Kolonien. Ein weiterer Schwerpunkt der außenpolitischen Beziehungen sind die Staaten der Karibischen Gemeinschaft. Im 2005 veröffentlichten International Policy Statement legte die Regierung die Leitlinien der Außenpolitik fest. Kanada sieht die Europäische Union als strategischen Partner in den Bereichen Klimawandel, Energieversorgung, Handel und Umweltschutz sowie bei außen- und sicherheitspolitischen Themen. Die Beziehungen zu Deutschland sind gut und von gemeinsamen Werten und Grundüberzeugungen geprägt. Seit 2022 finden jährliche bilaterale Treffen auf der Regierungsebene in Form der German-Canadian High Level Steering Group on Bilateral Cooperation (HLSG). Einen wichtigen Teil der kanadischen Identität bildet die Unterstützung der Multilateralität. 1945 gehörte Kanada zu den Gründungsmitgliedern der Vereinten Nationen. Der spätere Premierminister Lester Pearson trug wesentlich zur Beilegung der Sueskrise bei und wurde 1957 dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Sprach man bis dahin von der „Geburt der kanadischen Nation auf den Schlachtfeldern Europas“, so entwickelte sich unter dem Eindruck zahlreicher UN-Blauhelmeinsätze ein Peacekeeping-Mythos, der Kanadas Rolle in Abgrenzung zu den USA begreift. Kanada ist Mitglied zahlreicher internationaler Organisationen wie der OSZE, der Welthandelsorganisation, der OECD, der OAS, der APEC und der Gruppe der Sieben (G7). Verschiedene internationale Vereinbarungen entstanden auf kanadische Initiative und wurden in diesem Land verabschiedet. Dazu gehören die Ottawa-Konvention zum Verbot von Antipersonenminen und das Montreal-Protokoll zum Schutz der Ozonschicht. Militär Die kanadischen Streitkräfte (englisch Canadian Forces, frz. Forces canadiennes) entstanden in ihrer jetzigen Form 1968, als Heer, Marine und Luftwaffe organisatorisch zusammengeführt wurden. Die Truppen umfassten 2020 rund 67.490 freiwillige Berufssoldaten und rund 31.000 Reservisten. Hinzu kamen (Stand 2012) 5000 Canadian Rangers, deren Hauptaufgabe es ist, in entlegenen arktischen Gebieten militärische Präsenz zu zeigen. Die Streitkräfte verfügen über rund 1400 gepanzerte Fahrzeuge, 34 Kriegsschiffe und 300 Kampfflugzeuge. Kanada gab 2017 knapp 1,3 Prozent seiner Wirtschaftsleistung oder 20,6 Mrd. US-Dollar für seine Streitkräfte aus und lag damit weltweit auf Platz 14. Aufgrund der engen Bindungen an das britische Mutterland waren kanadische Truppen am Burenkrieg, am Ersten Weltkrieg und am Zweiten Weltkrieg beteiligt. Seit 1948 stellt Kanada einen bedeutenden Teil der Friedenstruppen der Vereinten Nationen und war an mehr Friedensmissionen beteiligt als jede andere Nation (seit 1989 ohne Ausnahme). Der Staat beteiligt sich grundsätzlich nur an kriegerischen Handlungen, die von den Vereinten Nationen sanktioniert wurden, wie etwa am Krieg in Korea, am Persischen Golf, in Afghanistan, jedoch ohne UN-Mandat im Kosovo. Kanada ist Gründungsmitglied der NATO und Vertragspartner des nordamerikanischen Luftraumverteidigungsbündnisses NORAD. Bildungspolitik Im föderalistischen Kanada gibt es kein einheitliches nationales Bildungssystem, jedoch unterliegt der tertiäre Bildungsbereich einer einheitlichen staatlichen Qualitätskontrolle und die meisten kanadischen Universitäten sind Mitglied in der Association of Universities and Colleges of Canada (AUCC), weshalb der Standard allgemein als ausgeglichen gilt. Für das Schulwesen sind ausschließlich die Provinzen und Territorien zuständig; es gibt kein landesweites Bildungsministerium. Daher unterscheiden sich in einigen Provinzen Schuleintrittsalter (fünftes oder sechstes Lebensjahr) und Dauer der Grundschulzeit (bis Klasse 6 oder 7). Die Sekundarstufe (in Québec École polyvalente genannt) umfasst in Form einer Gesamtschule die dreijährige Junior Highschool (Sekundarbereich I) und die zwei- bis vierjährige Senior Highschool (Sekundarbereich II). Da das Bildungssystem Chancengleichheit anstrebt, erfolgt der Übergang von einer Schulstufe in die andere ohne Leistungsprüfung. Erst innerhalb der Senior High School ist der Erwerb des Abschlusszeugnisses (High School Diploma bzw. Diplôme d’Études Secondaire) davon abhängig, ob eine bestimmte Zahl von Bewertungspunkten (Creditpoints) erreicht wird. Zwei Prozent der Schulen liegen in privater, überwiegend kirchlicher Hand. Etwa zehn Prozent der Schüler besuchen eine Privatschule. Das Leistungsniveau der Privatschulen galt 2006 als sehr hoch und Kanada war der einzige OECD-Staat, in dem deren Schüler selbst nach Abgleich des familiären und sozioökonomischen Hintergrundes mehr lernten, als die Schüler an öffentlichen Schulen. Während der Schulbesuch kostenfrei ist, werden an den Hochschulen Studiengebühren unterschiedlicher Höhe fällig. Von den über 80 Universitäten zählen die University of Toronto und die Universität Montreal zu den größten. Die ältesten sind die Universität Laval in Québec von 1663, eine jesuitische Institution, die nach Bischof Laval benannt wurde. Dies berührt einen Grundzug der kanadischen Hochschulentwicklung, denn die frühen Institutionen waren fast alle kirchlichen Ursprungs. Erst 1818 entstand die erste säkulare Hochschule und die zweite Kanadas, die Dalhousie University in Halifax. Ihr folgten die beiden englischsprachigen Institute, die McGill University in Montreal (1821) und die University of Toronto (1827). Ihnen folgten in den 1840er-Jahren die Queen’s University in Kingston (1841) und die Universität Ottawa (1848). Letztere geht wie die Laval-Universität auf einen Missionsorden zurück, in diesem Falle auf die Oblaten der Unbefleckten Jungfrau Maria. Nach der Unabhängigkeit im Jahr 1867 folgten die von einem anglikanischen Bischof gegründete University of Western Ontario in London (1878) und die im selben Jahr gegründete Universität Montreal (die zweite von vier Hochschulen in der Stadt) sowie die McMaster University in Hamilton in Ontario. Letztere wurde ursprünglich in Toronto gegründet und zog erst 1930 nach Hamilton um. Sie geht auf die Baptist Convention of Ontario zurück. Colleges verleihen meist nur 3- bis 4-jährige Bachelor-Abschlüsse (z. B. Minors, Majors, Spezialication, Honours), Universitäten auch 1-jährige konsekutive „post-bachelor“ Bachelor mit Honours-/Baccalaureatus Cum Honore-, 1- bis 3-jährige Master- und 3- bis 5-jährige Ph.D.-Abschlüsse. In diversen Hochschulrankings nehmen einige kanadische Universitäten Spitzenpositionen ein: Beispielsweise war in der langjährigen Durchschnittsbewertung des in Nordamerika am weitesten verbreiteten Rankings, der QS World University Rankings, im Jahr 2018 die McGill University innerhalb Kanadas auf Platz 1 und weltweit auf Platz 28. Laut dem Academic Ranking of World Universities (Shanghai-Ranking) aus dem Jahr 2018 (Jiaotong-Universität Shanghai) zählen die University of Toronto auf Platz 23 und die University of British Columbia in Vancouver auf Platz 43 zu den besten Hochschulen. Die First Nations besitzen seit 2003 eine eigene Universität, die First Nations University of Canada in Regina, der Hauptstadt der Provinz Saskatchewan. 1989 begannen die bedeutendsten Universitäten sich zusammenzuschließen, um Forschungsvorhaben zu koordinieren. Seit 2011 besteht die Gruppe als U15 Group of Canadian Research Universities, zu der ein nunmehr geschlossener Kreis von 15 Universitäten zählt. 2016 studierten über eine halbe Million ausländische Studenten an kanadischen Bildungseinrichtungen. Die größte Gruppe davon kam aus der Volksrepublik China. Im PISA-Ranking von 2015 erreichen Kanadas Schüler Platz 10 von 72 Ländern in Mathematik, Platz 7 in Naturwissenschaften und den zweiten Platz beim Leseverständnis. Kanadische Schüler gehörten damit zu den besten von allen teilnehmenden Ländern und schnitten deutlich besser ab als die aus den benachbarten Vereinigten Staaten. Die Studie stellte zudem fest, dass Schüler aus Ontario und British Columbia die besten Leistungen erbrachten. Umweltpolitik → Siehe auch: Klimapolitische Maßnahmen Kanadas Die Umweltpolitik Kanadas hat ungewöhnliche naturräumliche Grundlagen, vor allem ist aber die Gemengelage der Interessen eine spezifisch kanadische. Kanadas Natur ist zum bedeutendsten Faktor für den Tourismus geworden. Dazu tragen 43 National- und weit über 1500 Provinzparks sowie weitere Schutzgebiete bei, die vor allem riesige Waldgebiete beinhalten. Der älteste von ihnen ist der Banff-Nationalpark von 1885, der inzwischen über autobahnartige Straßen dem Massentourismus erschlossen wird. 1911 entstand Parks Canada (gleichberechtigt auch Parcs Canada) als älteste Nationalparkverwaltung der Welt. Doch kollidieren touristische, Erhaltungs-, Erholungs- und wissenschaftliche Interessen mit den Verwertungsinteressen der Rohstoffindustrie und gelegentlich den Interessen der Ureinwohner. Intakte Urwälder (old growth) existieren in Kanada auch nach drei Jahrhunderten des Raubbaus aufgrund der geringen Besiedlungsdichte noch auf enorm großen Flächen. Nach Global Forest Watch Canada sind noch 62 % der borealen Wälder und 30 % der gemäßigten Wälder intakt (natürliche Ökosysteme, die im Wesentlichen vom Menschen unbeeinflusst sind). Der Raubbau an der Grenze zu den besiedelten Gebieten ist jedoch immens und hat dort nur noch kleine Urwaldreste zurückgelassen. Ohne den Widerstand von Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace, die in Vancouver gegründet wurde, oder dem Western Canada Wilderness Committee sowie den lokalen Indianern würden auch diese Urwälder sicherlich nicht mehr existieren. Die Unternehmen der Holzindustrie sind so eng mit den politischen Eliten der Provinzen verbunden, dass erst internationaler Druck und häufig Zwang der Bundesregierung und der Gerichtshöfe die Bestände in einigen Fällen retten konnten (vgl. Clayoquot Sound). Dagegen haben sich Wissenschaftler und zahlreiche Umweltverbände zusammengeschlossen, und die lange unbedeutende Green Party of Canada konnte bei der Wahl von 2008 knapp sieben Prozent der Wähler gewinnen. Nach einer Studie der Simon Fraser University, die auf Betreiben der David Suzuki Foundation durchgeführt wurde, liegt Kanada bei dreißig untersuchten Staaten bei der Produktion von Atommüll und Kohlenstoffmonoxid auf dem hintersten Rang. Zudem nimmt es beim Wasserverbrauch den 29. Platz ein. Insgesamt rangieren Kanada, Belgien und die USA am unteren Ende der Staatengruppe. Im Oktober 2008 versuchten sich mehrere hundert Wissenschaftler gegen die Diskreditierung ihrer Arbeit durch die Regierung zur Wehr zu setzen. Gleichzeitig fanden in Victoria die größten Demonstrationen der letzten 15 Jahre gegen die Abholzung der letzten Urwälder auf Vancouver Island statt. Eine weitere Gefahr für die Urwälder, aber ebenso sehr für die riesigen nachgewachsenen Wälder stellte der in Kanada Mountain Pine Beetle genannte Bergkiefernkäfer dar. Er vernichtete mehrere Millionen Hektar Wald. Die über 250 Staudämme, die rund 58 % der in Kanada 2007 produzierten Strommenge von 612,6 Milliarden Kilowattstunden produzieren halfen (wovon Kanada über 2016 73 Milliarden Kilowattstunden exportierte), werden inzwischen ebenso kritisch mit Blick auf ihre Umweltbilanz betrachtet wie der Abbau der Bodenschätze. In beiden Fällen kam es nicht nur zu häufigen Zwangsumsiedlungen der Ureinwohner wie der Innu in Labrador, sondern auch zu erheblichen Umwelt- und Gesundheitsbelastungen wie beim Abbau der Athabasca-Ölsande in Alberta. Am 14. Oktober 2008 lehnten die Cree, denen die rechtlich privilegierte Rolle der Provinzen gegenüber der Bundesregierung in Fragen der Bodenschätze und der Stromgewinnung und gegenüber den indianischen Nationen bewusst ist, den „Grünen Plan“ der Quebecer Provinzregierung daher ab. Er hätte zudem Québec erneut die Verwaltung des riesigen James-Bay-Gebiets zurückgegeben, die die Cree nach langen Verhandlungen erst 2002 errungen hatten. Seit 2009 kämpfen drei lokale Cree-Gruppen mit internationaler Unterstützung um den Wald im Broadback-Tal, einen großen zusammenhängenden borealen Urwald am Rand der Holzeinschlagszone. Im Nordosten British Columbias kam es allein 2005 bis 2008 zu sieben von der Polizei als höchst gefährlich eingeschätzten Anschlägen auf Gasleitungen der Encana Corporation, in denen stark giftiger Schwefelwasserstoff transportiert wird. Am 29. April 1998 unterzeichnete die Regierung das Kyoto-Protokoll und verpflichtete sich, die Treibhausgas-Emissionen bis 2012 um sechs Prozent zu senken. Stattdessen stiegen die Emissionen von 1990 bis 2004 um mehr als ein Viertel. Beim Klimaschutz-Index 2008 lag Kanada auf Platz 53 von 56 untersuchten Staaten, womit das Land beim Kohlenstoffdioxid-Ausstoß nur noch vor Saudi-Arabien, den USA und Australien rangiert. Im Dezember 2011 erklärte der Staat kurz nach der UN-Klimakonferenz in Durban seinen Rückzug vom Kyoto-Protokoll. Damit sparte Kanada 14 Milliarden Dollar (10,5 Milliarden Euro) an Strafzahlungen für das Nichteinhalten der im Protokoll gesetzten Ziele. Unter anderem trägt die Ölsandindustrie erheblich zum steigenden Treibhausgasausstoß des Landes bei. Rechtlich liegt der Umweltpolitik vor allem der Canadian Environmental Protection Act von 1999 zugrunde. Das zuständige Ministerium ist das Department of the Environment unter Leitung von Jim Prentice (seit 2008). Ihm unterstehen neben anderen Organisationen Parks Canada und der Canadian Wildlife Service. Jede Provinz hat zudem ein eigenes Umweltministerium. Wirtschaft Kanada gehört zu den wohlhabendsten Ländern der Welt. Gemessen am nominalen Bruttoinlandsprodukt lag es 2020 mit umgerechnet 1,6 Billionen US-Dollar auf dem 9. Platz, bei der Kaufkraftparität mit 1,9 Billionen internationalen Dollar auf Platz 15. Beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf liegt der Staat 2020 mit 43.295 US-Dollar auf Platz 20, sowie kaufkraftbereinigt mit 48.759 US-Dollar auf Platz 25. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen schätzt Kanada aufgrund seines Index der menschlichen Entwicklung als Land mit „sehr hoher menschlicher Entwicklung“ ein. Der Staat gilt zugleich als soziale Marktwirtschaft. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfähigkeit eines Staates misst, belegt Kanada Platz 14 von 141 Staaten (Stand: 2019). Im Index für wirtschaftliche Freiheit belegt das Land 2022 den 15. Platz von 161 Ländern. Kanada war, laut einer Studie der Bank Credit Suisse aus dem Jahre 2017, der Staat mit dem achtgrößten nationalen Gesamtvermögen weltweit. Der Gesamtbesitz der Kanadier an Immobilien, Aktien und Bargeld belief sich auf insgesamt 7.407 Milliarden US-Dollar. Das Vermögen pro erwachsene Person beträgt 259.271 Dollar im Durchschnitt und 91.058 Dollar im Median (Deutschland: 203.946 bzw. 47.091 Dollar). Der Gini-Koeffizient bei der Vermögensverteilung lag 2016 bei 73,0 was auf eine mittlere Vermögensungleichheit hindeutet. Sowohl Einkommen als auch Vermögen sind in Kanada gleichmäßiger verteilt als in den benachbarten USA. Der Mindestlohn unterscheidet sich in jeder Provinz und wird von den einzelnen Provinzen selber festgelegt. Beschäftigte des Staates Kanada erhalten mindestens den Mindestlohn, der in der Provinz gilt, in der sie beschäftigt werden. 2017 lag er zwischen 10,72 (Saskatchewan) und 13,00 Dollar (Nunavut). Von diesem Mindestlohn kann in einigen Bundesstaaten für verschiedene Beschäftigungsgruppen (z. B. für Beschäftigte die Trinkgelder erhalten oder für Jugendliche) abgewichen werden. Ebenfalls haben einigen Bundesstaaten jährliche automatische Anpassungen (z. B. Anpassung an Teuerungsraten) eingeführt. Überdurchschnittlich hoch ist der Anteil der Urproduktion, also des primären Wirtschaftssektors, was auf den Reichtum an natürlichen Ressourcen zurückzuführen ist. Die in der Provinz Ontario abgebauten Mengen an Nickel decken etwa 20 % des Weltbedarfs, Kanada besitzt mit rund 28 Milliarden Tonnen die drittgrößten Erdölreserven nach Venezuela und Saudi-Arabien (Stand 2017), verfügt über zehn Prozent des weltweiten Waldbestands, dazu bedeutende Vorkommen von Schwefel, Asbest, Aluminium, Gold, Blei, Kohle, Kupfer, Eisenerz, Kaliumcarbonat, Tantal, Uran und Zink. Vor der Küste der Atlantischen Provinzen liegen umfangreiche Vorkommen an Erdgas, in Alberta die Athabasca-Ölsande. Wald und Wasserkraft bilden die Grundlage für die Zellstoff- und Papierindustrie. Zahlreiche Stauseen liefern Strom und bilden damit das Rückgrat der Energieproduktion. Allein 360.000 GWh stammten aus Wasserkraft, womit Kanada knapp hinter China der zweitwichtigste Stromproduzent auf diesem Sektor ist. In Kanada werden über elf Prozent des Weltstrombedarfs gedeckt, und es ist eines der wenigen Industrieländer, die Netto-Exporteure von Energie sind. Die Verbindung innerhalb Nordamerikas ist dabei inzwischen so eng, dass sich riesige, grenzüberschreitende Versorgungsverbünde entwickelt haben, wie die Western Interconnection, die bis nach Mexiko reicht. Weitere Energielieferanten sind Gas, Öl, Uran (18 produzierende Kernkraftwerke) und regenerative Energien. Kernkraftwerke lieferten 2010 genau 85.219,889 von insgesamt 565.519,793 GWh Strom, also rund 15 % des Stroms. Insgesamt waren in Kanada Ende 2020 Windkraftanlagen mit einer Leistung von 13,58 GW installiert (2017: 12,24 GW, 2018: 12,82 GW, 2019: 13,41 GW). Damit lag der Staat weltweit auf Rang 9. Der größte Windpark mit 364 MW befindet sich in der Provinz Québec im Gemeindeverband La Côte-de-Beaupré. Kanada ist aufgrund seiner hohen Überschüsse einer der größten Lieferanten von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, doch ist das Produktspektrum in den Prärieprovinzen sehr eng; im Mittelpunkt steht dabei ganz überwiegend Weizen, bei dessen Produktion Kanada 2003 mit 50,168 Millionen Tonnen an achter Stelle nach Frankreich stand. Hinzu kommt Viehwirtschaft, vor allem Rinderzucht, in den letzten Jahren auch wieder die kommerzielle Zucht von Bisons. An den Küsten wird Fischzucht betrieben, die jedoch mit dem Fang von Wildfischen in Konflikt steht. Dabei ist British Columbia der größte Exporteur von Lachs und Heilbutt. Die Zentren der Industrie liegen im Süden der Provinzen Ontario und Québec, vor allem in den Großräumen von Toronto und Montreal. Dabei spielen die Automobil- und die Luftfahrtindustrie eine bedeutende Rolle, hinzu kommen Metallindustrie, Nahrungsmittelverarbeitung sowie Holz- und Papierindustrie. Ebenfalls eine bedeutende Rolle spielen die chemische und die elektrotechnische Industrie, vor allem aber der Hightech-Bereich. Dies hängt mit dem Niedergang der großen Automobilkonzerne in den USA zusammen, der vor allem die Zulieferer und Dépendancen im Ballungsraum Toronto trifft. Alle Industrien, die sich dem Sektor der Gas- und Ölförderung anlagern, konzentrieren sich hingegen im Großraum Calgary, doch leidet diese prosperierende Industrie jüngst unter rapidem Preisverfall bei steigenden Explorationskosten. Dies hängt zum Teil mit geologisch bedingten Hemmnissen zusammen, mit dem inzwischen sehr hohen Lohnniveau und dem wachsenden Widerstand gegen die Zerstörungen der Umwelt. Dennoch entwickelte sich Kanada 2018 zum weltweit viertgrößten Förderer von Rohöl. Die Exporte betrugen 2007 36,7 % und die Importe 32,8 % des BIP. Bei weitem wichtigster Handelspartner waren dabei die USA mit 76,4 % der Exporte und 65,0 % der Importe. Kanada belegt nach der EU, den USA, Japan und der Volksrepublik China den fünften Platz in der Weltaußenhandelsstatistik. Der Außenhandel ist weitgehend frei, nur in wenigen Schlüsselbereichen sind ausländische Investitionen auf Minderheitsbeteiligungen beschränkt. Mit Abstand am meisten Bedeutung besitzt der Dienstleistungssektor mit 66 % (2008) Anteil am Bruttoinlandsprodukt, gefolgt von der Industrie mit 32 % und der Landwirtschaft mit knapp 2 %. Sieben der zehn größten kanadischen Unternehmen – wenn man den Umsatz zugrunde legt – sind allein im Banken- und Versicherungsbereich tätig. War die Wirtschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch weitgehend auf den Export nach Europa orientiert, vor allem in das Britische Empire, so wurden die Handelsbarrieren zum Nachbarstaat USA nach dem Zweiten Weltkrieg allmählich weitgehend abgebaut. Ein erster wichtiger Schritt war das 1965 vereinbarte Canada-United States Automotive Agreement (auch Auto Pact genannt), das die Grenzen für die Automobilindustrie vollständig öffnete. Das Kanadisch-Amerikanische Freihandelsabkommen von 1988 schaffte die Zölle zwischen beiden Ländern ab und führte zu einem deutlichen Anstieg des Handelsvolumens und der US-Investitionen in Kanada. Mit dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen wurde diese Freihandelszone 1994 auf Mexiko ausgedehnt. Weitere Freihandelsabkommen bestehen unter anderem mit der EFTA. Kanada ist Mitglied zahlreicher wirtschaftspolitischer Organisationen, wie der Welthandelsorganisation, der OECD, des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der G7. Als eine der größten Schwächen der kanadischen Wirtschaft hat die OECD die mangelnde Umsetzung von Erfindungen in verwertbare Patente eingeschätzt. Daher stieß die Regierung 2007 ein Programm namens Mobilizing Science and Technology to Canada’s Advantage an. Es soll die geringe Zahl der Patente erhöhen und zu mehr Investitionen im Forschungs- und Entwicklungsbereich anregen. Es soll zugleich die Zusammenarbeit von staatlichen Bildungseinrichtungen und industriellen Komplexen fördern. Zudem wurden Centres of Excellence in Commercialisation and Research eingerichtet sowie ein College and Community Innovation Program. Die größte Arbeitnehmervertretung bildet der Canadian Labour Congress (CLC) oder französisch der Congrès du travail du Canada (CTC) mit seinen rund hundert Einzelgewerkschaften in 136 Distrikten, die nach eigenen Angaben drei Millionen Mitglieder haben. Er ist 1956 aus dem Zusammenschluss von Trades and Labour Congress of Canada (TLC) und Canadian Congress of Labour (CCL) hervorgegangen. Während die TLC ähnlich wie in Europa nach Branchen organisiert war, war die CCL nach Orten organisiert und umfasste dort alle Gewerbe. Zudem hatte der TLC die Liberalen unterstützt, während bei der CCL Anhänger der sozialistischen Co-operative Commonwealth Federation vertreten waren. Zugleich integrierte sie die kommunistische Workers Unity League (WUL), als sie 1939 ein Bündnis gegen den Faschismus bildeten. Auch die in British Columbia ansässigen International Woodworkers of America galten als kommunistisch, wurden aber 1948 integriert. Wenig später wurden die Kommunisten ausgeschlossen. Die CLC spielte eine wichtige Rolle bei der 1962 erfolgten Gründung der New Democratic Party und bekämpfte gemeinsam mit ihr das Freihandelsabkommen mit den USA. Vorsitzender des CLC ist seit 1999 Kenneth V. Georgetti. Closed Shops sind rechtlich zulässig und in vielen Branchen üblich. Die Finanzkrise ab 2007 blieb nicht ohne Wirkungen auf die kanadische Wirtschaft. Betroffen waren zunächst die Finanzdienstleister, die sich in Toronto ballen, wo die Toronto Stock Exchange (TSX) die drittgrößte Börse Amerikas darstellt, aber auch die Immobilienindustrie, und mit der Insolvenz von Nortel im Januar 2009 auch die Ausrüster für Telekommunikationsunternehmen. Unter diesen Unternehmen ist BCE (Bell Canada Enterprises) das älteste und größte. Im 4. Quartal 2008 gingen die Exporte um 17,5 % zurück. Die Arbeitslosigkeit lag im August 2009 jeweils bei 8,7 % (September 2007 5,9 %). Im April 2022 lag sie bei 5,2 %. Kennzahlen Staatshaushalt Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben von umgerechnet 594,0 Mrd. US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 514,5 Mrd. US-Dollar gegenüber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Höhe von 2,4 % des BIP. Die Staatsverschuldung betrug 2016 1.406 Mrd. US-Dollar oder 92 % des BIP. Trotz der hohen Staatsverschuldung werden kanadische Staatsanleihen von der Ratingagentur Standard & Poor’s mit der Bestnote AAA bewertet (Stand 2018). Der Staatshaushalt finanziert das funktionierende System des kanadischen Finanzausgleichs. Medien Presse Die erste Zeitung auf dem Gebiet Kanadas war John Bushells Halifax Gazette, die 1752 erschien. In Neufrankreich existierten keine Zeitungen, doch gründeten William Brown und Thomas Gilmore aus Philadelphia die zweisprachige Quebec Gazette in Québec. 1785 entstand durch Fleury Mesplet, den die Briten wegen seiner Aufforderung zum Anschluss an die USA inhaftiert hatten, das heute älteste Blatt, die Montreal Gazette. 1793 folgte in Niagara-on-the-Lake die erste Zeitung in Ontario, die Upper Canada Gazette. Diese frühen Blätter hingen weitgehend von Zuwendungen der Regierung und von Anzeigenerträgen ab, kaum von Käufern und Abonnenten. Dies sollte sich in Kanada als Dauerzustand erweisen. In Québec entstanden 1805 und 1811 der City Mercury und in Montreal der Herald als Sprachrohre der dortigen Händlereliten, während Le Canadien (1806) und La Minerve (1826) die Frankophonen vertraten. Gegen diese Kolonial- und Händlereliten wandte sich in Ober-Kanada der Colonial Advocate, den William Lyon Mackenzie herausbrachte und der die Reform- und Farmergruppen vertrat. Ähnliches galt für Joseph Howes Novascotian (1824) in Halifax. Die meisten Zeitungen hingen von Parteien ab, insbesondere den Reformern (den heutigen Liberalen) und den Konservativen, und zwar meist als Organe bestimmter politischer Führer. So war der Toronto Globe (1844) die Stimme des Reformers George Brown, die Toronto Mail (1872) hingegen wurde bald zur Stimme von John Macdonald, dem ersten Premier Kanadas. Ähnlich organisierten 1899 Geschäftsleute den Toronto Star zugunsten von Wilfrid Laurier um. Dagegen kauften wiederum die dortigen Konservativen die Toronto News 1908 als Parteiorgan. Jede größere Stadt hatte folglich ein liberales und ein konservatives Blatt, das die jeweilige Klientel versorgte. Bis in die 1930er-Jahre hinein blieben die Quebecer Blätter dabei von der jeweiligen Regierung abhängig. Blätter, die nicht einer der Führungsgruppen angehörten, wie die kommunistische Presse, wurden immer wieder verboten. Der von streikenden Druckern 1892 gegründete Toronto Star ging – wie die meisten Arbeiterzeitungen – ein. In Québec erließ die Regierung Maurice Duplessis den Padlock Act, der ihre Zeitungen traf. Noch 1970 übte die Regierung eine Art Zensur aus, als es in der Oktoberkrise zu Entführungen kam. Der erste Versuch einer Tageszeitung, der Montreal Daily Advertiser, ging nach einem Jahr 1834 in den Konkurs. Doch 1873 gab es bereits 47 Tageszeitungen, 1913 gar 138. Im äußersten Westen erschien der British Colonist ab 1858, die Manitoba Free Press 1872, der Saskatchewan Herald 1878 und das Edmonton Bulletin 1880. Die Verbreitung des Radios ab den 30er-Jahren und des Fernsehens ab den 50er-Jahren kostete die Zeitungen viele Werbekunden, so dass 1953 nur noch 89 Tageszeitungen existierten. 1986 erholte sich die Zahl wieder auf 110, doch nur noch acht Städte hatten zwei oder mehr Tageszeitungen. Heute gehören die meisten Zeitungen zu großen Konglomeraten der Medienindustrie. Die Erlaubnis, in beiden Bereichen der Medien, Fernsehen und Printmedien, Unternehmen zu erwerben, war lange umstritten, doch seit Brian Mulroney gibt es darin keine Begrenzung mehr. Im englischen Sprachraum ist Postmedia Network führend, sie bieten in den meisten Provinzhauptstädten die führende Tageszeitung an. 90 % der frankophonen Zeitungen gehören drei Medienunternehmen: Pierre Karl Péladeaus Quebecor Inc., der allein die Hälfte der Gesamtauflage liefert, Paul Desmarais’ Gesca und Jacques Francœurs UniMédia. Schon 1950 beherrschten die vier größten Medienunternehmen 37,2 % des Gesamtmarktes, 1970 waren dies 52,9 %, 1986 gar 67 %. 80 % der Einnahmen stammen dabei aus Werbung, nur 20 % aus Verkaufserlösen. Radio Mit dem Radio experimentierte zunächst Guglielmo Marconi ab 1896, 1901 gelang ihm die erste drahtlose Signalübertragung über den Atlantik von Cornwall nach Neufundland. Weil die Radiotechnik zunächst eher der Kontaktaufnahme zu Schiffen diente, unterstand die Aufsicht über den Radiotelegraph Act von 1913 dem Minister für Marine und Fischerei. Die Überlebenden der Titanic verdankten ihre Rettung den von Marconi gesendeten Radiowellen. Er war auch der erste, der 1919 eine private Sendelizenz in Kanada erhielt. 1928 bestanden bereits 60 Radiostationen. Dennoch stellte eine Kommission unter Leitung von John Aird in diesem Jahr fest, dass viele Kanadier US-Stationen lauschten. Erst 1932 entschied das britische , dass der Staat die Oberaufsicht über die Radiokommunikation zu Recht beanspruche. 1936 begann die öffentliche Canadian Broadcasting Corporation (CBC) ihren Sendebetrieb, der seit 1932 von der Radio Commission begonnen worden war. Bis dahin hatte sich die Zahl der Radioempfänger binnen fünf Jahren auf eine Million verdoppelt. Die heutige Struktur der CBC ist ein Produkt der Weltwirtschaftskrise: Es entstanden nur fünf zentrale Sender, deren Sendungen von privaten Distributoren weitergeleitet wurden. So entstand ein gemischtes System staatlicher und privater Sender, in dem den privaten Sendern nur eine regionale Ausstrahlung gestattet wurde. Kanada wurde eines der Länder mit den meisten Radiostationen, und eines der ersten mit Satellitensendern. Dennoch ist die US-amerikanische Konkurrenz stark vertreten. Fernsehen Seit 1952 gibt es Fernsehen in Kanada, wobei die CBC die Regulierungsaufgaben wahrnahm und zugleich der bedeutendste Sender wurde. Auch hier dienten private Netzwerke als Distributoren für CBC-TV. Einer Kampagne der Privatsender gegen das CBC-Monopol folgte der Broadcasting Act von 1958 unter John Diefenbaker. Es entstand ein 15-köpfiger Board of Broadcast Governors (BBG), der die Anträge für neue Sender annahm und eher Privatsender förderte. Das TV expandierte schnell, und 1961 entstand ein zweites Netzwerk, CTV. Zwischen BBG und CBC kam es zu heftigen Streitigkeiten, so dass 1968 die Lizenzvergabe an die Canadian Radio-Television Commission (heute Canadian Radio-Television and Telecommunications Commission, CRTC) vergeben wurde, die auch das 1968 etablierte Kabel-TV an sich zog. Der Anspruch auf „Schutz, Bereicherung und Stärkung der kulturellen, politischen, sozialen und ökonomischen Struktur Kanadas“, wie es im Gesetz heißt, sollte dabei gewahrt werden. Dennoch führten Sparmaßnahmen in den letzten vier Jahrzehnten zu einer zunehmenden Abhängigkeit von Werbeetats und Einschaltquoten. Dabei sind US-Sender über Kabel praktisch überall zu empfangen. Folglich besetzen sie im englischsprachigen Kanada rund 75 % der besten Sendezeit, während dieser Anteil in Québec nur bei 40 % liegt. Hier spielt TVA die wichtigste Rolle. Inwiefern das Internet die entstandene Medienmacht relativieren kann, ist noch offen, zumal alle etablierten Medien in diesem neuen Markt zunehmend engagiert sind. Die Interessen der unabhängigen Medienunternehmen vertritt seit 1948 die Assoziation der kanadischen Film- und Fernsehproduktion. Verkehr Die Hauptverkehrsachse des Ostens verläuft entlang dem Sankt-Lorenz-Strom durch Ontario und Québec und verbindet Toronto, Montreal, Québec und Ottawa miteinander. Der gesamte Norden des Landes ist verkehrsmäßig wenig erschlossen, da hier, außer in den Gebieten der Rohstoffförderung, kaum Bedarf besteht. Die Ballungsräume des Westens sind, wie im Osten, hauptsächlich nahe der amerikanischen Grenze durch Verkehrssysteme verbunden, sieht man einmal von der Anbindung Edmontons ab. Dies ist vor allem dem politischen Willen der kanadischen Regierung zu verdanken, die allein durch drei transkontinentale Eisenbahnlinien und diverse Stichbahnen die weit auseinander liegenden Provinzen miteinander verbinden wollte. Davor war dies durch Kanäle geschehen, nach der Eisenbahnepoche folgten Straßenbauten, schließlich Fluglinien. Straßen Das Straßensystem Kanadas hatte 2011 eine Gesamtlänge von 1.042.300 km und ist damit das siebt-längste der Welt. Asphaltierte Straßen hatten eine Länge von 415.600 km, wovon 17.000 km Autobahnen waren. Nach China und den Vereinigten Staaten hatte Kanada damit das drittlängste Autobahnnetz. Das dichteste Straßennetz befindet sich im Bereich der höchsten Bevölkerungsdichten in den Atlantikprovinzen, in Süd-Ontario, in Québec entlang des St. Lorenz, in den südlichen Prärieprovinzen und im Bereich der Frasermündung um Vancouver. Als ein alle Provinzen verbindendes Element wurde von Victoria am Pazifik bis St. John’s am Atlantik der Trans-Canada-Highway gebaut, mit 8000 km eine der längsten Straßen der Welt. In den Ballungsräumen und als Verbindung zwischen größeren Zentren ist diese Straße als Autobahn ausgebaut. Durch Ontario führen zwei Routen dieser Straße, eine nördlichere und eine südlichere. Der Trans-Canada-Highway ist die einzige Bundesstraße Kanadas. Die übrigen Landstraßen, auch die Autobahnen, werden von den Provinzen gebaut und unterhalten. Die verkehrsreichste Autobahn Kanadas bildet das Rückgrat des Québec-Windsor-Korridors, in Ontario mit der Straßennummer „401“. Mit 16 Spuren durch den Ballungsraum Toronto gehört der 401 zu den breitesten Autobahnen der Welt. Nach Norden führen nur wenige Straßen, von denen die meisten wegen großer Baumaßnahmen (Staudämme, Bergbau etc.) gebaut wurden, oder aus militärischen Gründen entstanden (zum Beispiel der Alaska Highway). In Kanada von Bedeutung sind Überlandbusse. Jede Region verfügt über ein ausgedehntes Busnetz; die größte Busgesellschaft Greyhound Canada stellte jedoch im Mai 2021 im Nachgang zu den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise den nationalen Betrieb ein. Aufrechterhalten wird lediglich der grenzüberschreitende Verkehr in die U.S.A. In Kanada herrscht Rechtsverkehr und die Geschwindigkeiten sind in km/h angegeben. Das Nationalitätskennzeichen ist CDN (nicht CND für Canada) und steht für Canadian Dominion. Dieses wird auch als Abkürzung in Herkunftsangaben z. B. bei Spielfilmen verwendet. Der Straßenverkehr des Landes gilt als weitestgehend sicher. 2013 kamen in Kanada insgesamt 6,1 Verkehrstote auf 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland waren es im selben Jahr 4,3 Tote. Das Land hat eine im weltweiten Vergleich hohe Motorisierungsrate. 2016 kamen im Land 662 Kraftfahrzeuge auf 1000 Einwohner. Flugverkehr Zur Überwindung der großen Entfernungen ist der Inlandsflugverkehr von erheblicher Bedeutung. Etwa 75 Fluggesellschaften, darunter Air Canada, die mit 34 Millionen transportierten Passagieren größte Fluggesellschaft Kanadas, Westjet Airlines und Porter Airlines sorgen für regionale Flugverbindungen. In Westkanada fliegen Air BC, die inzwischen zu Jazz Aviation gehören und Horizon Air, in Ostkanada Air Alliance (Sitz in Québec) und Air Ontario (Ontario). Im Norden fliegen Gesellschaften wie Air Creebec (im Besitz der Cree), Air North (Whitehorse), Bearskin Airlines, Canadian North (Yellowknife) oder Air Inuit (Dorval) sowie First Air (Ottawa), die im Besitz von Inuit sind. Air Transat und Air Canada fliegen auf internationalen und innerkanadischen Strecken, wobei Air Canada 1937 aus einer Eisenbahngesellschaft hervorging. Flughäfen mit interkontinentalen Verbindungen befinden sich in Toronto, Montreal, Calgary, Ottawa, Edmonton, Vancouver, Québec, Halifax sowie Winnipeg. 1909 flog das erste kanadische Flugzeug 800 m weit (in Baddeck), 1915 entstand mit der Curtiss JN-3 das erste Serienflugzeug. Im Ersten Weltkrieg stellte Kanada bereits 22.000 Mitarbeiter bei den Luftstreitkräften, obwohl die Canadian Air Force erst 1920 entstand. In den 30er-Jahren erfolgte ein massiver Ausbau der Flughäfen, so dass mehr als die Hälfte der gesamten Luftfracht in Kanada bewegt wurde und das Land 1945 587 Flugplätze aufwies. 1937 wurde Trans-Canada Airlines gegründet, aus der 1964 Air Canada hervorging. 2009 wurde der 23. Februar zum National Aviation Day erklärt. Die Stadt Montreal ist Sitz der zwei weltweiten Zivilluftfahrtorganisationen, der IATA und der ICAO. Eisenbahn Die Eisenbahn ist im 19. Jahrhundert vom kanadischen Staat umfassend gefördert worden, um die Besiedlungspolitik zu unterstützen und die nationale Einheit zu sichern. Dazu sollten die Distanzen zwischen den Provinzmetropolen durch transkontinentale Eisenbahnlinien überwunden werden. Doch seit den 1930er-Jahren ging ihre Bedeutung zugunsten des Straßenverkehrs erheblich zurück und besitzt seither nur noch innerhalb des Québec-Windsor-Korridors große Bedeutung im Personen(nah)- und Güterverkehr. Außerhalb dieses Gebietes beschränkt sich die Bedeutung auf den Massengüterverkehr und den Tourismus, vergleichbar den Schienenkreuzfahrten in Europa. Der überregionale transkontinentale Güterverkehr wird von den beiden Bahngesellschaften Canadian Pacific Railway und Canadian National Railway durchgeführt. Betreiberin des öffentlichen Schienenpersonenverkehrs ist die VIA Rail Canada, der regionale Güterverkehr wird von vielen privaten Gesellschaften betrieben. Zu diesen Hauptlinien kommen zahlreiche Nebenlinien, die zum Teil in privater Initiative wiederbelebt worden sind, wie die Esquimalt and Nanaimo Railway auf Vancouver Island. Innerstädtischer Nahverkehr Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten verfügen kanadische Großstädte über eine Vielfalt sehr gut ausgebauter Nahverkehrssysteme. Während in den Metropolen Toronto und Montreal seit den 1950er-Jahren gebaute, klassische U-Bahnen das Rückgrat des innerstädtischen Nahverkehrs bilden, werden in kleineren Großstädten wie Calgary und Edmonton seit den 1980er-Jahren Stadtbahnsysteme (Light Rail) aufgebaut. In den übrigen Städten werden vornehmlich Diesel- und teilweise Oberleitungsbusse eingesetzt; in Ottawa gibt es ein Bus-Rapid-Transit-Netz. Die beiden größten Nahverkehrsnetze liegen in Toronto mit der Toronto Transit Commission und Montreal mit je vier Schnellbahnstrecken und je etwa 150 Buslinien. In Toronto ist außerdem noch ein größeres Straßenbahnnetz mit elf Linien in Betrieb. Der im Zuge der Weltausstellung Expo 86 eröffnete, vollautomatische SkyTrain in Vancouver war lange das längste automatische Transportsystem der Welt. Schifffahrt Wichtige Seehäfen befinden sich in den Städten am Sankt-Lorenz-Strom und in Vancouver. Zudem besteht auf den Großen Seen eine bedeutende Binnenschifffahrt. Wo keine natürlichen Wasserwege bestanden, baute man ab Anfang des 19. Jahrhunderts Kanäle. Für die wirtschaftliche Entwicklung Kanadas ab 1821 war der Lachine-Kanal von entscheidender Bedeutung. In Zentralkanada war das Kanu schon seit jeher das gegebene Transportmittel, und auch heute noch sind viele Seen mit Fährschiffen ausgestattet und der Warenverkehr folgt dem Wasser. Manche Orte sind nur über See zu erreichen, wie entlang der Westküste von Vancouver nach Port Hardy auf Vancouver Island oder Prince Rupert gegenüber von Haida Gwaii. Die frühe Erschließung des Landes erfolgte durch das Kanu und durch den Kanalbau, der einen weitläufigen Binnenverkehr ermöglichte. Bis in die 1950er-Jahre trugen Schiffe einen erheblichen Teil der Passagiere, vor allem in abgelegenen Gebieten, doch stellten die meisten Linien, ähnlich wie zahlreiche Eisenbahnstrecken, den Verkehr ein, als die großen Überlandstraßen wie der Alaska Highway entstanden. Telekommunikation Im Jahr 2020 nutzten 97 Prozent der Einwohner Kanadas das Internet. Die digitale Infrastruktur gilt insbesondere in den Städten als sehr leistungsstark und eine der besten der Welt. Kultur Das heutige Kanada wird überwiegend durch die europäischen Einflüsse der Pioniere, Forscher, Händler und Fischer aus Großbritannien, Frankreich und Irland, regional auch aus Deutschland und Osteuropa geprägt. In jüngerer Zeit wird das Bild in größeren Städten auch von Asiaten (zum Beispiel Vancouver, Toronto) und von Schwarzen aus der Karibik und aus Afrika ergänzt. Viele ihrer Traditionen bleiben weiterhin Teil von Kanada, etwa ihre Nahrung, Sprache, Erzählungen, Geschichte, Feiertage und Sport. Die kulturellen Feste dieser Einwanderer sind ein fester Bestandteil des kanadischen Lebens, zum Beispiel das chinesische Neujahrsfest in Vancouver oder der Caribana-Umzug in Toronto. Viele Kanadier können noch heute ihre Wurzeln zurück zu diesen Ländern verfolgen und sind stolz auf ihre Herkunft. Der in vielen Städten ursprünglich vorherrschende britische Geist wurde mit der zunehmenden Einwanderung aus anderen Ländern weitgehend verwischt. Am deutlichsten ist er noch in Victoria zu erkennen. Dies gilt auch für das frankophone Kanada, das ebenfalls starken Einflüssen durch die Einwanderung ausgesetzt ist. Kanada und Großbritannien teilen einen Abschnitt ihrer Geschichte und Kanada ist Mitglied des Commonwealth of Nations. Beide Länder sind in Personalunion verbunden. Großbritannien ist Kanadas drittgrößter Handelspartner, und von dort kommen nach den USA die meisten ausländischen Touristen. Die Verbindungen Kanadas zu anderen frankophonen Ländern sind in der Organisation internationale de la Francophonie institutionalisiert und es gibt einen regen kulturellen Austausch mit Frankreich. So ist Kanada beispielsweise am französischsprachigen Fernsehkanal TV5 Monde beteiligt. Deutsche Einflüsse sind vor allem in Südontario um die Stadt Kitchener (ehemals Berlin) präsent. In ganz Südontario, besonders im Gebiet von Kitchener sind Orte mit deutschen Namen verstreut. Kitchener wirbt damit, dass dort das größte Oktoberfest außerhalb Münchens gefeiert wird. Seit den 1970er-Jahren sind in Kanada viele Asiaten eingewandert, vorwiegend aus Hongkong, China und Korea. Insbesondere in Vancouver (spöttischer Name: Hongcouver) und Toronto bilden sie starke ethnische Minderheiten und die Chinatowns mit ihren chinesischen Straßen- und Werbeschildern gehören zu den Sehenswürdigkeiten. Die Schaffung und der Schutz einer eigenständigen kanadischen Kultur wird durch Programme, Gesetze und Einrichtungen der Bundesregierung, zum Beispiel der CBC/Radio-Canada, dem NFB (National Film Board of Canada/Office national du film du Canada) und der CRTC (Canadian Radio-Television and Telecommunications Commission/Conseil de la radiodiffusion et des télécommunications canadiennes) unterstützt. Indigene Kultur Die Kulturformen der weit über 600 First Nations, wie die Indianer sich ganz überwiegend selbst bezeichnen, sind nicht einheitlich. Innerhalb des Landes, zwischen Stadt und Land, zwischen den ethnischen Gruppen sind die Unterschiede denkbar groß. Die verschiedenen Gruppen entwickelten eigene Identitäten und kulturelle Strukturen. Dabei lassen sich große Kulturareale unterscheiden. An der Pazifikküste war die Kultur von Fischfang dominiert, vor allem vom Lachs, oder vom Walfang, wie bei den Nuu-chah-nulth auf Vancouver Island. Dort finden sich auch die gewaltigen Totempfähle, deren größter über 50 m hoch ist. Im Binnenland dominierten Jagd, Sammeln und Flussfischerei. In den großen Ebenen, den Plains, war die Bisonjagd von zentraler Bedeutung, in anderen der Elch. Durch die Verbreitung des Pferdes entwickelte sich nach 1700 ein Reiternomadismus. An den Großen Seen hingegen dominierte eine agrarische Kultur mit Großdörfern. Die nicht mit den Indianern verwandten Inuit im Norden des Landes, von denen man 2006 genau 50.485 zählte, entwickelten eine überwiegend von den arktischen Lebensumständen geprägte Kultur, die sich in vielerlei Hinsicht auf das ganze Kanada auswirkt. Ein Beispiel dafür stellt das Emblem der Olympischen Winterspiele 2010 in Vancouver dar, ein Inuksuk, das aus aufeinander gestapelten Steinen besteht und eine menschliche Gestalt symbolisiert. Die frühesten kommerziellen Erfolge feierten jedoch die bildenden Künste der Inuit schon seit den späten 1940er-Jahren. Serpentin- und Marmorskulpturen, Arbeiten in Knochen und Karibugeweih, aber auch Kunstgrafik, Wandbehänge und -teppiche, Schmuck, Keramiken und Puppen standen dabei im Mittelpunkt. Ihre Motive und Materialien gingen auf die natürlichen Umgebungen und vorhandene Traditionen zurück, wobei die erzwungene Sesshaftigkeit nun erheblich größere Werke zuließ. Zudem waren die rund 25 Gemeinden, deren Bewohner nicht mehr autark-nomadisch lebten, nun auf Geldeinnahmen angewiesen, zu denen ihnen der Kunsthandel verhalf. Zu den bekanntesten Inuit-Autoren zählen der ehemalige „Commissioner of Nunavut“ Peter Irniq, der Schriftsteller, Dichter, Cartoonist und Fotograf Alootook Ipellie (1951–2007) und Zebedee Nungak (geb. 1951). Aus der Verbindung von Inuit-Musik und amerikanisch-kanadischer Popmusik formten die Inuit eine eigene Musik. Daneben bestehen weiterhin einfache Gesangsformen und der Kehlgesang (Throat singing). Die in Kanada erfolgreichste Sängerin ist die 1967 in Churchill geborene Susan Aglukark. Die Erfolge der Inuit und die der US-amerikanischen Indianer inspirierten die indianischen Künstler Kanadas, eigenständig an eine außerindianische Öffentlichkeit zu treten. Früh bekannt waren dabei die Masken und Totempfähle der Pazifikküste, die noch heute eine wichtige Rolle im Selbstverständnis, aber auch auf dem Kunstmarkt spielen. Ähnlich wie die Literatur verfolgt die indianische Kunstszene aber nicht nur traditionelle Elemente, sondern verbindet sie mit euro-kanadischen Mitteln. Andere Indianerkünstler produzieren losgelöst von diesen Traditionen in deren Genres und mit deren Mitteln. Dabei sind dennoch Künstler mit einem spezifisch indianischen Weg, wie Norval Morrisseau, oder der Bildhauer und Schnitzkünstler Bill Reid, der das Werk Charles Edenshaws fortführte, erst seit den 60er-Jahren anerkannt worden. Meist stehen in der Literatur ökologische Probleme, Armut und Gewalt, entmenschte Technik oder Spiritualität im Vordergrund. Dabei lassen sich die meisten ungern als „Indianerkünstler“ etikettieren. Musik Seit der Kolonisierung ab dem frühen 17. Jahrhundert brachten die Einwanderer, je nach ethnischer Zusammensetzung, verschiedene europäische Musiktraditionen nach Kanada. Die Parallelentwicklung zur europäischen Musik ist vom Barock über die Klassik und Romantik bis hin zur Gegenwartsmusik nie abgerissen. Doch fehlten in der Neuen Welt lange die nötigen Ressourcen, um große Aufführungen wie Opern in nennenswertem Umfang durchführen zu können. Erst die Anpassung von Texten, aber auch der Austausch von Elementen zwischen den Einwanderergruppen brachte kanadische Eigenheiten hervor, zu denen Einflüsse aus den USA kamen. John Braham war einer der ersten Sänger, die im ganzen Land bekannt wurden (ab 1841), ähnlich Jenny Lind. Zudem bestanden zahlreiche Kirchenchöre und philharmonische Gesellschaften. Die ersten Gesellschaften dieser Art waren die New Union Singing Society aus Halifax (1809) und die Québec Harmonic Society (1820). Populär waren Balladen, Tanzmusik und patriotische Hymnen. Deutsche brachten erstmals den Klavierbau nach Kanada (Thomas Heintzman), ihm folgte der Orgelbau (Joseph Casavant). 1903 organisierte C. A. E. Harriss den Cycle of Musical Festivals of the Dominion of Canada, an dem sich landesweit über 4.000 Sänger und Musiker in 15 Städten beteiligten. Mit dem Ersten Weltkrieg und der danach anwachsenden Schallplattenindustrie war der Höhepunkt selbst gemachter Musik, aber auch der Operngesellschaften überschritten. Dennoch entstanden vor und nach der Weltwirtschaftskrise Symphonieorchester, insbesondere in den drei größten Städten Montreal, Toronto und Vancouver. Sir Ernest MacMillan war der erste und einzige kanadische Musiker, der zum Ritter geschlagen wurde, und weitere Sänger sangen auf den wichtigsten Bühnen. Erst Feldforscher wie Marius Barbeau, W. Roy Mackenzie, Helen Creighton und zahlreiche andere entdeckten die Volksmusik und die Musik der Indigenen. Wenn man von kanadischer Musik sprach, so war es nun die Gesamtheit der Folkmusik, die man im Land antraf. Doch blieb die Musikausbildung konservativ, d. h. stark angebunden an Großbritannien und Frankreich. Dennoch entstanden in den 1930er-Jahren Musikerverbände, die nach dem Krieg die Suche nach kanadischer Identität auch in der Musik stärkten. Auch wurde diese Musik vom Staat gefördert, Sammlungen traditioneller und indianischer Musik inspirierten die aufgeschlossenere Generation. Publikationen wie The Canadian Music Journal (1956–1962), Opera Canada (seit 1960) und The Canada Music Book (1970–1976) untermauerten diese Entwicklung. Die Abkopplung der kanadischen Musik von der ausländischen Avantgarde endete. Kanadische Musiker beeinflussten die westliche Musik, wie etwa Rock- und Popmusik, in erheblichem Ausmaß, wofür Namen wie Bryan Adams, Paul Anka, Michael Bublé, Leonard Cohen, Céline Dion, Nelly Furtado, Avril Lavigne, Joni Mitchell, Alanis Morissette, Shania Twain oder Justin Bieber stehen. Bekannte Vertreter der Rockmusik sind Rush, Alannah Myles, Billy Talent, die Crash Test Dummies, Nickelback, Saga, Steppenwolf und Neil Young. Zu den bedeutenden Jazzmusikern zählen Paul Bley, Maynard Ferguson, Diana Krall, Moe Koffman und Oscar Peterson. Avril Lavigne, Sarah McLachlan, Sloan und weitere Musiker haben sich der Initiative Canadian Music Creators Coalition (CMCC) angeschlossen und kündigten in einer Grundsatzerklärung an, künftig wieder für sich selbst sprechen zu wollen. Prozesse und das Digital Rights Management (DRM), vor allem aber die staatliche Förderung seien zu verbessern. Die CMCC forderte die Regierung auf, die Künstler gegen die Vermarktungspolitik meist ausländischer und auf einen ausländischen Markt gerichteter Musikkonzerne zu unterstützen. Immer noch von großer Bedeutung ist die Country-Musik, die auch von zahlreichen Indianern gespielt wird. Die Canadian Country Music Association ehrt jährlich die bedeutendsten Künstler mit der Aufnahme in die Canadian Country Music Hall of Fame. Wichtige Interpreten sind bzw. waren etwa Wilf Carter, Hank Snow und Gordon Lightfoot. Auf dem Gebiet der klassischen Musik ist der bekannteste Kanadier sicherlich Glenn Gould (1932–1982), der einer breiteren Öffentlichkeit als begnadeter Interpret vor allem der Werke Johann Sebastian Bachs bekannt ist. Berühmtheit erlangte der damals 22-Jährige im Jahr 1955 mit einer aufsehenerregenden Einspielung der Goldberg-Variationen. Seit 1987 vergibt eine nach dem Musiker benannte Stiftung den Glenn-Gould-Preis. Auch die Symphonieorchester in Montreal und Toronto haben Weltruf, die Kammermusik hat einen erstklassigen Rang: Tafelmusik und das St. Lawrence String Quartet haben verschiedene Preise gewonnen. Sänger wie Jon Vickers, Russell Braun und Michael Schade, der Flötist Robert Aitken sowie der Pianist Marc-André Hamelin und die Liedbegleiterin Céline Dutilly sind bekannte Interpreten. Auch Werke der Komponisten R. Murray Schafer und Claude Vivier werden regelmäßig aufgeführt. Film Als erster Filmemacher gilt James Freer (1855–1933), ein Farmer, der ab 1897 Dokumentationen vorführte. 1917 richtete die Provinz Ontario das Ontario Motion Picture Bureau ein, um Filme zu Unterrichtszwecken drehen zu lassen. Bereits im folgenden Jahr entstand das Canadian Government Motion Picture Bureau. Auf Anraten von John Grierson, der als Vater des britischen und kanadischen Dokumentarfilms gilt, wurde 1939 der National Film Act verabschiedet, ein Gesetz, das es gestattete, Propagandafilme für Kriegszwecke zu drehen. 1950 wurde das Aufgabenspektrum des dazu gegründeten National Film Board of Canada beauftragt, Kanada den Kanadiern zu erklären, aber auch Nichtkanadiern. Mit der Canadian Film Development Corporation, aus der später Telefilm Canada hervorging, förderte der Staat Filmproduktionen. Das für das Kulturerbe verantwortliche Department of Canadian Heritage stockte 2001 die Mittel für Telefilm Canada auf. Den gleichen Zielen dient die Auszeichnung mit dem Genie Award, die jedes Jahr für die besten kanadischen Filme erfolgt. Kanada ist auch als Hollywood des Nordens bekannt. Wichtigste Produktionsstätten kanadischer und US-amerikanischer Filme sind heute Vancouver, gefolgt von Montreal und Toronto. Dabei ist Alliance Films das einst größte Medienunternehmen, heute nur noch ein Rechtehändler. Der französische Film ist innerhalb von Kanada häufig erfolgreicher als der englische, weil der Quebecer Filmmarkt von US-Produktionen kaum direkt erreicht wird. Das kanadische Autorenkino gewinnt dank erfahrener Cineasten wie Atom Egoyan (der bei der Berlinale 2002 Präsident der Jury war), David Cronenberg, Denys Arcand und Léa Pool, aber auch durch junge Filmemacher wie Jean-François Pouliot, Denis Villeneuve, Don McKellar, Keith Behrman und Guy Maddin immer mehr an Bedeutung. Filmregisseure wie Jean-Claude Lauzon („Night Zoo“ (1987), Léolo (1992)) und Denys Arcand (unter anderem „Der Untergang des amerikanischen Imperiums“ (1986), „Jesus von Montreal“ (1989) und „Joyeux Calvaire“ (1996), „Die Invasion der Barbaren“ (2003)) haben dem kanadischen Film zu internationaler Geltung verholfen. Bekannte kanadische Schauspieler sind: Mary Pickford, Glenn Ford, Lorne Greene, Raymond Massey, Walter Huston, Jack Carson, Raymond Burr, Christopher Plummer, Donald Sutherland, Kiefer Sutherland, Geneviève Bujold, Keanu Reeves, Dan Aykroyd, Pamela Anderson, Hayden Christensen, Leslie Nielsen, John Candy, Jim Carrey, Michael J. Fox, Mike Myers, William Shatner, Bruce Greenwood, Ryan Gosling, Ryan Reynolds, Carrie-Anne Moss und Sandra Oh. Wie man durch diese Aufzählung erkennen kann, sind viele kanadische Schauspieler häufig in Hollywood-Produktionen tätig und genießen internationales Ansehen. Theater Das kanadische Theater, das aus einer starken mündlichen Tradition hervorgeht, hat nicht nur weltweit bekannte Regisseure wie Robert Lepage oder Denis Marleau hervorgebracht, sondern auch eine große Anzahl von Theaterautoren, die in verschiedene Sprachen – unter anderem auch ins Deutsche – übersetzt werden. So sind in jüngster Zeit zum Beispiel Texte von Michel Marc Bouchard, Daniel Danis, Michel Tremblay, George F. Walker, David Young und Colleen Wagner von deutschen Ensembles aufgeführt worden. Literatur Die kanadische Literatur ist anfangs dadurch gekennzeichnet, dass sie häufig von Autoren stammt, die entsprechend ihrer ethnischen Herkunft bestimmte Erwartungen an das Land herantrugen. Daher erscheint das Land oft als abweisend mit Blick auf seine Natur, als kulturelle Wüste, die von außen belebt wird, und als Rohstoff für Karriere und Investitionen. Dabei spielten auch Erwartungen und Stereotype des Publikums von der Wildnis, unvorstellbarer Weite, von der Einführung der Zivilisation vor allem durch Europäer eine große Rolle. Doch überwiegt inzwischen der Drang, die eigene Kultur, die sich entwickelt hat, in ihrem Reichtum zu erfassen, ohne die Wurzeln abzuschneiden. Historisch gesehen flossen vor allem französische, englische und irische Stile zusammen, die in ihren Heimatländern en vogue waren. Doch schon in den Reiseberichten entwickelte sich ein kanadisch geprägtes Genre, wie bei Samuel Hearne (1745–1792), Alexander MacKenzie, David Thompson, Catharine Parr Traill (1802–1899) oder Anna Jameson (1794–1860), wobei das Spektrum vom romantisierenden Abenteuerbericht (John R. Jewitt, 1783–1821) bis zur präzisen Analyse reicht (Susanna Moodie: Roughing It in The Bush, oder Forest Life in Canada, 1852). Mit der Konföderation (1867) stellte sich die Frage nach der nationalen Kultur. Ab Ende des 19. Jahrhunderts dominierten vier Figuren die literarische Szene: Duncan Campbell Scott (1862–1947), Charles G. D. Roberts (1860–1943), Archibald Lampman (1861–1899) und Bliss Carman (1861–1929), die auch als Confederation Poets (oder auch „Confederation Group“) bekannt waren. Während des 19. Jahrhunderts drangen indigene (igloo) und lokale Wortschöpfungen (moose) in die Literatur ein, aber auch französische (gopher) in die englische und umgekehrt. Dennoch wird die englische Sprache im ganzen Land verstanden und von übergreifenden Sprachstandards dominiert. In der französischen Literatur kommt als weiteres Element eine starke Anbindung an Frankreich und seinen Lebensstil hinzu, woraus sich eine Skepsis gegenüber dem als britisch aufgefassten Rest-Kanada partiell erklärt. Ein hervorstechendes Merkmal kanadischer Literatur ist der Humor, der allerdings eher untergründig, zuweilen schwarz, und oft als Understatement eingesetzt wird. Dabei spielen regionale Traditionen des Erzählens und des Anekdotischen eine wichtige Rolle, weniger die Themenwahl – es sei denn, es handelt sich um lokale Besonderheiten oder Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen. Zu den häufig anzutreffenden Motiven zählt die „garrison mentality“ (Bunkermentalität), die Entfremdung von der Heimat, in die man zurückkehrt, die Fremdheit im eigenen Land oder der spezifischen Kultur, aber auch das Zelebrieren der Wildnis, die für spirituelle Gesundung sorgt. Kanadier sind besonders ausgeprägt an der Geschichte ihrer Vorfahren interessiert, und so existiert eine große Zahl von biographischen Versuchen zu den historisch bedeutsamen Männern und Frauen. Doch auch dort sind Klischees fast unausweichlich. So gilt das katholische Québec als mysteriös, Ontario als zwischen moralischer Klarheit und Lavieren hin- und hergerissen, die Prärien als isolierend und besitzergreifend, die Westküste als Projektionsfläche für Hoffnungen und Erwartungen, die man selbst entlarven muss. Dabei steht das Landleben überproportional im Vordergrund, während die Städte lange beinahe ignoriert wurden. Dagegen waren Autoren wie Frances Brooke (1724–1789), Susanna Moodie (1803–1885), Sara Jeannette Duncan (1861–1922) und Nellie McClung (1873–1951) die Analytikerinnen des politischen Lebens, das sich in den Städten ballt. Ein Gegensatz besteht zwischen der Wahrnehmung Europas und der des Nachbarn USA. Europa gilt als Hort der Verfeinerung, aber auch der extremen Regionalisierung, der Nachbar als Land der sozialen Härte und der Fixierung auf ökonomischen Erfolg. Der Erste Weltkrieg brachte die Außenwelt wieder stärker in den Blick, und zugleich schärfte die Einwanderung die Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Kulturen, auch die der Indianer, die nun selbst begannen, sich auszudrücken. Die Malerin und Autorin Emily Carr (1871–1945) war hier für den Westen von größter Bedeutung, wenn sie auch in British Columbia lange auf Ablehnung stieß. Die Weltwirtschaftskrise brachte eine zunehmende Beschäftigung mit sozialen Problemen mit sich, der Zweite Weltkrieg wiederum zwang zur Beschäftigung mit Fragen der Macht, der Not, des Todes und wiederum der Heimkehr. Nach dem Krieg unterwarf Merrill Denison (1893–1975) den übertriebenen Nationalismus einer satirischen Betrachtung, und auch Autoren der Linken kritisierten den politischen und wirtschaftlichen Weg und die zunehmende Dominanz der USA. Zugleich machten sich in Québec antiklerikale Autoren deutlicher bemerkbar. Unter dem öffentlichen Optimismus der 1950er und 1960er Jahre entdeckten Malcolm Lowry (1909–1957) (Under the Volcano, 1947) und Ethel Wilson (1888–1980) (Swamp Angel, 1954) Alkoholprobleme und die Enge des Frauenlebens in dieser Zeit. Materielle Unterstützung und ein größeres Publikum sorgten in den 60er-Jahren für ein Anwachsen des literarischen Marktes, Zeitschriften wie Canadian Literature und Journal of Canadian Studies erschienen, dazu kamen Paperbackausgaben, die erschwinglicher waren. Nischenmärkte entstanden, deren Publikum dennoch Autoren ernähren konnte. Sowohl die einzelnen Kulturen, als auch Frauen meldeten sich verstärkt zu Wort, wie etwa Margaret Atwood. Seit den 70er-Jahren hat sich das Interesse an kanadischer Literatur verstetigt. So sind Autoren wie Leonard Cohen, Pierre Vallières, Margaret Atwood, Michel Tremblay und Michael Ondaatje auch außerhalb der Staatsgrenzen bekannt. Zugleich entstand ein riesiger Markt für populäre Literatur innerhalb des Landes, wie die von Joy Fielding oder Douglas Coupland (Generation X). Nach etwa 1985 wurden staatliche Mittel in einer konservativeren Phase zurückgefahren. Verlage wie Coach House Press, Deneau, Williams-Wallace mussten schließen. Zudem ließ Kanada stärkere ausländische Konkurrenz zu, vor allem aus den USA. Autoren wie Timothy Findley (1930–2002) versuchten sich gegen Restriktionen zu wehren, indianische Literatur fand Vertreter in Eden Robinson (Haisla, geb. 1968), Jeannette C. Armstrong (Okanagan), die das Schulsystem kritisierte, der Satiriker Thomas King (Cherokee) oder der Dramatiker Tomson Highway (Cree). Daneben traten eher poetische Autoren wie Rita Joe (Mi’kmaq), Marilyn Dumont (Métis) oder Alootook Ipellie (Inuit). 2013 erhielt Alice Munro den Nobelpreis für Literatur als „Virtuosin der zeitgenössischen Kurzgeschichte“. Bildende Kunst und Architektur Wie in den meisten Künsten, so ignorierten die ersten Zuwanderer aus Europa weitgehend die Kunst der Ureinwohner. Sie brachten schon in ihren ersten Wohngebäuden und befestigten Hofanlagen sowie naturgemäß im Festungsbau (zum Beispiel Louisbourg) und in Stadtanlagen europäische Traditionen mit. Auch die Dörfer des frankophonen Kanada lagern sich wie in Frankreich um die Kirche, wobei die Missionskirchen und die Kirchen von Québec meist als Vorbilder dienten. Als Material herrschten Stein und Holz vor, Ziegel sind selten. Ähnlich wie in der Bildhauerei kamen die in Frankreich und England vorherrschenden Stile jedoch, bedingt durch die Kommunikationsverhältnisse, mit deutlicher Verspätung an. Das galt auch für die Übernahme der Klassik, nachdem die Briten Kanada erobert hatten. Dennoch nahm die Malerei zwangsläufig die Ureinwohner auf, denn sie sollten für die Berichterstattung bei Hof dargestellt werden. Sie waren zum Teil von großer Genauigkeit, wie die Indianer- und Inuit-Porträts von John White (etwa 1540 bis etwa 1593), oder die Zeichnungen von Louis Nicolas (Codex canadiensis). Ende des 18. Jahrhunderts brachten Briten und die aus den USA geflohenen Loyalisten neue Einflüsse, die sich vor allem in den neuen Siedlungen, wie Toronto, dominierend bemerkbar machten. Es kam sogar zu einem Goldenen Zeitalter der Québecer Malerei, wobei der Stil europäisch blieb, doch die Motive wurden kanadischer. Der Schweizer Peter Rindisbacher dokumentierte etwa seine Reise durch die Hudson Bay in die Red-River-Kolonie, Paul Kane reiste durch den halben Kontinent. In der Architektur bevorzugte man neo-klassische und neo-gotische Motive, wie in Europa, doch erhielt der britische Einfluss immer mehr Übergewicht. Mit dem repräsentativen Ausbau Ottawas und jeder Provinzhauptstadt versuchte man eine spezifisch kanadische Tradition auszudrücken. Zwischen 1873 und 1914 herrschten historisierende Stile vor, wobei sich die mitgebrachten Stile anderer europäischer Völker, wie der Italiener bemerkbar machten. Mit der Industrialisierung drangen neue Bautypen, wie Stahlbrücken oder Bahnhöfe vor, neue Materialien, vor allem Metalle dominierten. Dazu kamen Glas und schließlich Beton. James Wilson Morrice gilt als Vater des Modernismus in der Malerei. In der Skulptur herrschten historische Monumente auf Plätzen vor, vor allem Kriegsdenkmäler nach dem Ersten Weltkrieg. Doch weiterhin herrschte hierin Europa vor, bis hin zum Art déco. Die Group of Seven versuchte eine kanadische Malerei zu entwickeln; sie bezog ihre Inspiration aus der Landschaft. Als eine der ersten nahm Emily Carr dabei nicht nur die spezifische Landschaft des Westens auf, sondern auch die grandiose Kunst der Indianer der Pazifikküste. John Lyman gründete 1939 die Contemporary Arts Society, und über Quebec kamen kubistische Einflüsse, dort entstand die Gruppe der Automatistes. Gegen sie und den Surrealismus entstanden die Plasticiens, allen voran Guido Molinari und Claude Tousignant, Struktur- und Farbfragen traten stärker in den Vordergrund. Ähnlich in Toronto, wo sich Jack Bush und Harold Town gegen den abstrakten Expressionismus wandten. Dabei versuchten diese Gruppen sich zugleich gegen den Einfluss der USA abzusetzen. Ähnliches galt für Bildhauer wie Robert Murray oder Armand Vaillancourt. Hingegen unterscheidet sich die Architektur kaum von der internationalen. Der Fotograf Yousuf Karsh gehörte zu den bedeutendsten Porträtfotografen des 20. Jahrhunderts. In der Bildenden Kunst hat sich Kanada in Europa durch innovative Künstler einen Namen gemacht. Jeff Wall, Rodney Graham, Ken Lum und Geneviève Cadieux haben fotografische Techniken auf neuartige Weise für sich genutzt. Jana Sterbak hat außergewöhnliche konzeptuelle Environments geschaffen. Speisen und Getränke Die Produktion von Nahrungsmitteln hängt stark von den natürlichen Bedingungen ab. Daher weisen die Regionalküchen, wie etwa die der Küstensäume und der Graslandschaften der Prärieprovinzen, entsprechende Schwerpunkte auf. Während etwa an der Atlantikküste der Fang von Hummern, genauer von Hummerartigen (Lobster) einen wichtigen Wirtschaftszweig darstellt, war es an der Westküste der von Wildlachs; letzter wurde allerdings von Lachszuchten fast vollständig verdrängt, so dass einige Lachsarten, die noch vor wenigen Jahren in riesigen Laichzügen zu bewundern waren, inzwischen zu den bedrohten Tierarten gerechnet werden müssen. Neben dem Umgang mit den natürlichen Ressourcen spielen aber auch kulturelle Unterschiede eine beträchtliche Rolle. Der französische Einfluss in Québec ist nicht zu übersehen, es gibt zahlreiche Restaurants mit der entsprechenden Küche. Die Prärieprovinzen sind hierin sehr stark vom mittleren Westen der USA beeinflusst, während sich im äußersten Westen ein starker britischer Einfluss bemerkbar macht, wo der englische Tee im Alltag immer noch seinen Platz hat. Im Süden Kanadas, vor allem auf der Niagara-Halbinsel und im Okanagan-Gebiet sowie im Südosten von Vancouver Island in British Columbia wird Wein angebaut. Der über 200 Jahre alte Weinanbau nahm einen neuen Aufschwung, da ab 1974 erstmals neue Weinbaulizenzen ausgegeben wurden, und weil die Weinbauverbände (Vintners Quality Alliance) auf höhere Qualitäten drängten. Kanadische Weine tragen etwa die Hälfte zum Gesamtkonsum des Landes bei, wobei bis 2006 Vincor International und Andres Wines dominierten. Vincor wurde allerdings vom US-Weinproduzenten Constellation Brands aufgekauft. Spirituosen können nur in besonderen Geschäften oder in Restaurants gekauft werden, die die Bezeichnung Licensed Premises tragen. Viele Restaurants gestatten ihren Gästen, eigenen Wein, Bier oder Ahornsirup mitzubringen. Das Mindestalter für den Alkoholkauf liegt zwischen 18 und 19 Jahren. Die vorherrschende Kaffee- und Fast-Food-Kette ist Tim Hortons, kurz Tim's oder Timmies. Das Unternehmen wurde 1964 in Hamilton, Ontario gegründet und 2014 von Burger King Worldwide Inc. übernommen und gehört damit mehrheitlich zur brasilianische Investmentgesellschaft 3G Capital. 2016 gab es über 3.800 Niederlassungen in Kanada. Der schärfste Konkurrent beim Fast Food ist McDonald’s, im Kaffeesektor das US-Unternehmen Starbucks. Sport Der Sport in Kanada ist vielfältig und umfasst zahlreiche Winter- und Sommersportarten. Als Nationalsportart seit 1859 offiziell anerkannt war bis 1994 nur das auf indianische Wurzeln zurückgehende Lacrosse. Es gilt seit 1994 als nationale Sommersportart. Seit 1994 ist Eishockey die nationale Wintersportart. Kanada gilt nicht nur als Mutterland des Eishockeys, sondern gehört auch zu den weltweit erfolgreichsten Ländern. Sieben kanadische Mannschaften sind in der NHL, der bedeutendsten Profiliga der Welt, vertreten. Auch im Lacrosse ist Kanada überaus erfolgreich und besiegte beim World Lacrosse Championship von 2006 in London die USA. Die bei Zuschauern beliebteste Sportart im Sommer ist neben Lacrosse Canadian Football, das große Ähnlichkeiten mit dem American Football aufweist. Das Meisterschaftsendspiel, der Grey Cup, weist bei im Fernsehen übertragenen Sportereignissen die höchste Einschaltquote auf. Ebenfalls auf Interesse stoßen Baseball, Basketball, Cricket, Curling, Fußball, Rugby Union und Softball. Die am häufigsten ausgeübten Einzelsportarten sind Eislaufen, Golf, Leichtathletik, Ringen, Schwimmen, Skateboarden, Skifahren, Snowboarden und Tennis. Da das Land überwiegend ein kühles Klima besitzt, sind die Erfolge bei Wintersportarten tendenziell zahlreicher als bei Sommersportarten. Kanada war Gastgeber zahlreicher internationaler Sportveranstaltungen, darunter die Olympischen Sommerspiele 1976 in Montreal und die Olympischen Winterspiele 1988 in Calgary. Die Olympischen Winterspiele 2010 wurden in Vancouver ausgerichtet. Zudem waren kanadische Städte Ausrichter von vier Commonwealth Games und zahlreichen Weltmeisterschaften. Special Olympics Kanada wurde 1969 gegründet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil. Der Verband hat seine Teilnahme an den Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin angekündigt. Die Delegation wird vor den Spielen im Rahmen des Host Town Programs von München betreut. Feiertage Darüber hinaus gibt es bewegliche Feiertage, wie z. B. den Tag der Familie oder den Louis Riel Day. Siehe auch Literatur Lori G. Beaman: Religion and Canadian Society. Traditions, Transitions, and Innovations. Canadian Scholars’ Press, Toronto 2006, ISBN 1-55130-306-X Heide, Markus und Claudia Kotte. Kanadischer Film: Geschichte, Themen, Tendenzen. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz, 2006. ISBN 3-89669-604-1. Ursula Lehmkuhl Hg.: Länderbericht Kanada. Schriftenreihe der BpB, 10200. Bundeszentrale für politische Bildung BpB, Bonn am Rhein 2018 (568 S.) Manuel Menrath: Unter dem Nordlicht: Indianer aus Kanada erzählen von ihrem Land, Berlin: Galiani, 2020, ISBN 3869712163 Weblinks Offizielle Website von Kanada (englisch und französisch) Topographie Kanadas – amtliche Pläne und Karten (Portal) (englisch und französisch) , im Juli 2018 6440 Titel zu Kanada, GIGA, Leibniz-Institut für globale und regionale Studien Suchmaske im OPAC der SUB Göttingen, deutschsprachige Schwerpunktbibliothek für Canadiana (Juli 2018: ca. 12.000 Titel) Statistiken zu Kanada (englisch und französisch) Länderprofil des Statistischen Bundesamtes Einzelnachweise Staat in Nordamerika Commonwealth Realm Gruppe der Acht Föderale Monarchie (Staat) Mitgliedstaat der Vereinten Nationen Mitgliedstaat der OECD Mitgliedstaat der NATO
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https://de.wikipedia.org/wiki/Mount%20Everest
Mount Everest
Der Mount Everest ist ein Berg im Himalaya und mit einer Höhe von über (genauer: siehe Höhenangaben) der höchste Berg der Erde. Er gehört zu den 14 Achttausendern und zu den Seven Summits. Der Mount Everest ist seit 1856 nach dem britischen Landvermesser George Everest benannt. Auf Nepali heißt der Berg Sagarmatha, auf Tibetisch Qomolangma (deutsche Aussprache „Tschomolangma“) und auf Chinesisch und Hochchinesisch . Der Mount Everest befindet sich im Mahalangur Himal in der Region Khumbu in Nepal an der Grenze zu Tibet in China; der westliche und südöstliche seiner drei Gipfelgrate bilden die Grenze. Auf nepalesischer Seite ist er Teil des Sagarmatha-Nationalparks, der zum UNESCO-Welterbe gehört. Auf der Nordseite gehört er zum Qomolangma National Nature Reserve, das mit dem von der UNESCO ausgewiesenen Qomolangma-Biosphärenreservat korrespondiert. Edmund Hillary und Tenzing Norgay gelang am 29. Mai 1953 die Erstbesteigung des „dritten Pols“. Am 8. Mai 1978 bestiegen Reinhold Messner und Peter Habeler den Gipfel erstmals ohne zusätzlichen Sauerstoff. Bis Ende 2018 wurde der Gipfel rund 8400 Mal von Bergsteigern erreicht. Über 300 Bergsteiger kamen auf dem Hin- oder Rückweg ums Leben. Während der Mount Everest die höchste Erhebung über dem Meeresspiegel ist, existieren noch zwei weitere Berge, die als „höchster Berg der Erde“ bezeichnet werden. Vom Fuß des Berges aus gemessen ist dies der Vulkan Mauna Kea auf Hawaii, vom Erdmittelpunkt aus gerechnet der Chimborazo in Ecuador. Namen des Mount Everest Auf Nepali heißt der Berg („Stirn des Himmels“) und auf Tibetisch oder Qomolangma („Mutter des Universums“). Der chinesische Name ist eine phonetische Wiedergabe der tibetischen Benennung. Deren Transkription Chomolungma im Englischen ist heute in Europa üblich. Das in deutschsprachigen, vor allem älteren, Texten verwendete Tschomolungma wird zugunsten von Chomolungma in neueren deutschsprachigen Quellen verdrängt. Sir George Everest war lange Jahre Leiter der Großen Trigonometrischen Vermessung Indiens und Surveyor General of India. Unter seinem Nachfolger Andrew Scott Waugh wurde der zunächst als „Peak b“ bezeichnete Gipfel 1848 erstmals von Indien aus vermessen; Nepal verweigerte damals den Zugang zu seinem Territorium. Nach weiteren Vermessungsarbeiten über Entfernungen bis zu 200 km folgten umfangreiche, komplexe Berechnungen durch Radhanath Sikdar in den Computing Offices in Dehradun; er kam 1852 zu dem Ergebnis, dass der inzwischen als „Peak XV“ („Gipfel 15“) bezeichnete Gipfel mit 29.002 Fuß (8840 m) höher als alle anderen bis dahin bekannten Berge sei. Da wegen der großen Entfernungen noch letzte Zweifel an der Genauigkeit der Vermessungen auszuräumen waren, wurde dieses Resultat erst 1856 von Andrew Waugh in einem Schreiben an die Royal Geographical Society bekannt gemacht. Dabei benannte er den Berg zu Ehren seines Vorgängers als Mount Everest. Die heutzutage gebräuchliche Aussprache von Mount Everest lautet , Sir George sprach seinen eigenen Nachnamen allerdings aus. Vor allem im deutschen Sprachraum war der Berg lange als Gauri Sankar bekannt. Dies beruhte auf einem Missverständnis des deutschen Himalaya-Pioniers Hermann von Schlagintweit. Dieser hatte 1855 versucht, den eben erst als höchsten Berg der Erde errechneten, aber unbekannten Peak XV zu erkunden. Aus der Nähe von Kathmandu betrachtete er die Westseite des Gebirges und sah einen Berg, der in Richtung des Everest lag und alle anderen Berge überragte. Dieser Berg war den Nepali als Gaurisankar bekannt, Schlagintweit hielt ihn jedoch für den mysteriösen Peak XV. Auf diesem Irrtum beruhend und aus Ablehnung des englischen Namens „Mount Everest“ zu Gunsten des „schönen alten Namen[s] Gaurisankar“ wurde in Deutschland diese Bezeichnung für den höchsten Berg der Welt in die Atlanten aufgenommen und in Schulen gelehrt. 1903 wurde festgestellt, dass es sich beim Gaurisankar um einen anderen, nämlich den 7145 m hohen Peak XX handelt; seine Entfernung zum Everest beträgt 58 km. Mythologische Bedeutung Wie im Grunde alle markanten Gipfel der Khumbu-Region ist auch der Mount Everest für die Sherpas ein heiliger Berg. Der Buddhismus ist bei diesem Volk mit ursprünglicheren Religionen, insbesondere Animismus und Bön, gepaart. Nach der Auffassung der Sherpas bewohnen Geister und Dämonen Quellen, Bäume und eben auch die Gipfel. Der Mount Everest ist nach Ansicht der Buddhisten der Sitz von Jomo Miyo Lang Sangma, einer der fünf „Schwestern des langen Lebens“, die auf den fünf höchsten Gipfeln des Himalaya wohnen. Jomo Miyo Lang Sangma gibt den Menschen Nahrungsmittel. Der große Heilige Padmasambhava, der den Buddhismus von Indien nach Tibet brachte, veranstaltete der Sage nach einen Wettlauf zum Gipfel des Mount Everest. Nachdem Padmasambhava einige Zeit auf dem Gipfel meditiert und mit den Dämonen gekämpft hatte, wurde er von einem Lama der Bön-Religion herausgefordert. Es ging um die Frage, wer von beiden mächtiger sei. Der Lama der Bön-Religion machte sich noch in der Nacht auf den Weg, getragen von seiner magischen Trommel, Padmasambhava erst bei Tagesanbruch. Er gewann trotzdem den Wettlauf, weil er, auf einem Stuhl sitzend, von einem Lichtstrahl direkt zum Gipfel gebracht wurde. Nachdem Padmasambhava einige Zeit oben gewartet hatte, ließ er seinen Stuhl zurück und begann mit dem Abstieg. Der Bön-Lama gab sich geschlagen und ließ seine Trommel zurück. Bis heute sagt man, dass die Geister die Trommel schlagen, wenn eine Lawine zu Tale donnert. Auf Grund dieser Bedeutung wird vor einer Besteigung von den Sherpas eine Opferzeremonie durchgeführt, eine sogenannte Puja. Die Sherpas sind davon überzeugt, dass eine Puja zwingend notwendig ist, um Unheil abzuwenden. Dieses Opferfest ist für ihren Seelenfrieden unabdingbar, und im Allgemeinen nehmen auch alle westlichen Expeditionsteilnehmer daran teil, da sonst, nach dem Glauben der Sherpas, die Berggötter zornig würden, und zwar nicht nur gegenüber den Ausländern, sondern besonders auch gegenüber den Sherpas, die solches zugelassen hätten. Religiöse Symbole wie Manisteine und ein Stupa mit Gebetsfahnen, die mit Mantras bedruckt sind, finden sich am Fuß des Mount Everest. Auf dem Weg zum Everest-Basislager (Mount Everest Trek), am Thokla-Pass zwischen Dingboche und Lobuche, wurde eine Gedenkstätte für die Opfer des Everest angelegt. Den Toten ist mit einem sogenannten Steinmann, einem Stapel aufgetürmter Steine, oder einer Stele die letzte Ehre erwiesen. Geologie Regionalgeologischer Rahmen Der Mount Everest ist, wie der gesamte Himalaya, ein Ergebnis der alpidischen Gebirgsbildung. Im südasiatischen Abschnitt des alpidischen Gebirgsgürtels führte die vor ca. 90 Millionen Jahren in der Oberkreide einsetzende Konvergenz der indischen Platte und der eurasischen Platte zur Schließung der östlichen Tethys und in Folge zur Kollision der Kontinentalblöcke Indien und Asien ab dem Eozän vor ca. 50 Millionen Jahren. Die wesentlich kleinere indische Platte schiebt sich nach wie vor mit einer Geschwindigkeit von etwa drei Zentimetern pro Jahr unter Eurasien. Der Mount Everest wächst aufgrund der mit der Kollision verbundenen Verdickung der kontinentalen Kruste noch immer, allerdings nur wenige Millimeter im Jahr. Die fortdauernde Hebung wird dabei durch isostatische Ausgleichsbewegungen verursacht, die aus dem Dichteunterschied zwischen der gestapelten Erdkruste im Bereich des Gebirges und dem dichteren Erdmantel folgt. Die in den Erdmantel hineinragende Gebirgswurzel erhält dabei einen Auftrieb, ähnlich wie ein Korken im Wasser. Die Hebung wird allerdings teilweise durch Erosion ausgeglichen, jenen Prozess, der letztlich auch für die Herausmodellierung des Berges aus dem Gebirgskörper verantwortlich war. Geologischer Bau und Gesteine Durch intensive tektonische Deformation („Faltung“) unter hohem Druck und hohen Temperaturen erfuhren die ursprünglichen Gesteine bei der Versenkung in die tieferen Niveaus der Erdkruste eine Umwandlung, wobei der Metamorphosegrad im Everest-Massiv generell von unten nach oben abnimmt. Die unterste Gesteinseinheit des Massivs (oberhalb ) besteht hauptsächlich aus hochmittelgradig metamorphen Gesteinen, vor allem dunklen, biotitreichen Sillimanit-Cordierit-Gneisen, deren Protolith-Alter auf das späte Neoproterozoikum geschätzt wird (mehr als 540 Millionen Jahre). Diese Gneise gehören der zentralen Kristallinzone des Himalaya (auch Greater Himalayan Sequence oder Higher Himalayan Crystalline Sequence genannt) an. Die Gneise im oberen „Stockwerk“ der Kristallinzone sind vielerorts von Plutonen und Gängen aus hellem Granit (Leukogranit) durchsetzt. Am Everest ist dies der sogenannte Everest-Nuptse-Granit (teils benannt nach dem Nachbarberg Nuptse). Er enthält neben den allgemein granittypischen Hauptgemengteilen Quarz, Feldspat (hier Mikroklin oder Orthoklas und Plagioklas) und Glimmer (hier Muskovit und Biotit) hauptsächlich Turmalin. Das Magma, aus dem dieser Granit hervorging, schmolz in den tieferen strukturellen Niveaus der Kristallinsequenz auf. Bildung des Magmas und Platznahme der Granitkörper erfolgten an der Oligozän-Miozän-Wende vor ca. 24 bis 21 Millionen Jahren und im Mittleren Miozän vor rund 16 Millionen Jahren. Der untere Teil der Gipfelpyramide, ab etwa Höhe, ist aus schwachmittel- bis niedriggradig metamorph überprägten Sedimentgesteinen des Kambriums aufgebaut, die unter dem Namen North Col Formation oder Everest Series zusammengefasst werden. Dabei handelt es sich vorwiegend um jeweils quarzführende Glimmerschiefer, Phyllite und Chloritschiefer. Sie sind von den Gneisen und Graniten des Zentralkristallins durch die sogenannte Lhotse-Scherzone getrennt, allerdings durchqueren einige Granitgänge die Scherzone und durchsetzen auch die basale Partie der North Col Formation. Bei rund wird die North Col Formation überlagert von einer ca. 170 m mächtigen Sequenz aus grobkristallinen Marmoren und Schiefern, die aufgrund ihrer auffälligen Verwitterungsfarbe als Gelbes Band bezeichnet wird. Der eigentliche Gipfelbereich besteht aus ordovizischem leicht dolomitisiertem, feinkörnigem Kalkstein – der Qomolangma Formation. Diese Kalksteine weisen meist deutliche Anzeichen für eine kräftige Durchbewegung auf (so ist ihr feinkörniges Gefüge wohl überwiegend auf dynamische Rekristallisation zurückzuführen; vgl. → Mylonit). Calcit-Porphyroklasten schwimmen in der feinkörnigen, foliierten Grundmasse bzw. werden von dieser in charakteristischer Art und Weise „umflossen“. Einige dieser „Calcit-Augen“ sind im Dünnschliff deutlich als Relikte von Fossilien (z. B. Crinoiden-Arm- oder Stielglieder) identifizierbar. Wenige Meter unterhalb des Gipfels sind Proben mit zahlreichen Fragmenten von Crinoiden, Trilobiten, Ostrakoden und Brachiopoden aufgesammelt worden, die anscheinend in deutlich geringerem Maße Deformation und Metamorphose erfahren haben. Die Qomolangma Formation ist gegen das Gelbe Band durch das flach nach Nordosten einfallende Qomolangma Detachment („Tschomolangma-Abscherfläche“) begrenzt, das im Gegensatz zur Lhotse-Scherzone als Verwerfung ausgebildet ist. Lhotse-Scherzone und Qomolangma Detachment sind Strukturelemente des sogenannten South Tibetan Detachment System („Südtibetisches Abscherflächensystem“), ein extensionales Störungssystem, das das Zentralkristallin von der nördlich angrenzenden, phanerozoischen, marin-sedimentären (typischerweise schwachmittelgradig bis unmetamorphen) Tethys-Himalaya-Sequenz, der auch die Qomolangma Formation zugerechnet wird, trennt. Erdbeben Die anhaltenden Plattenbewegungen verursachen teils sehr starke Erdbeben in weiten Teilen Süd- und Ostasiens, die sich auch auf den Mount Everest auswirken. Durch das schwere Beben vom 25. April 2015 wurde der Berg nach Messungen der chinesischen Behörde für Vermessung, Kartierung und Geoinformation (测绘地理信息管理) um drei Zentimeter in südwestlicher Richtung verschoben. Das Beben vom 12. Mai 2015 hatte hingegen keine Auswirkungen auf die Lage des Berges. In den zehn Jahren zuvor hatte sich der Everest mit einer mittleren Geschwindigkeit von vier Zentimetern pro Jahr in die Gegenrichtung, nach Nordosten, bewegt und wurde im Schnitt um 0,3 cm pro Jahr angehoben. Topographie Die Gipfelpyramide ist durch Erosion und gewaltige Gletscher modelliert. Die drei Hauptkämme – Westgrat, Nord-/Nordostgrat und Südostgrat – untergliedern den Gipfel in drei Hauptwände – Südwestwand, Nordwand und Ostwand (Kangshung-Flanke). Außerdem trennen die Grate die drei sich vom Mount Everest und seinen Nachbargipfeln ergießenden Gletscher: Khumbu-Gletscher, Rongpu-Gletscher (auch Rongbuk-Gletscher) und Kangshung-Gletscher. Südostgrat und Westgrat sowie deren Fortsetzungen bilden die weitere Grenze zwischen Tibet und Nepal. Der Südostgrat verbindet den Mount Everest mit dem hohen Lhotse, der niedrigste Punkt dieses Grats ist der hohe Südsattel (South Col). Im weiteren Verlauf setzt sich der Grat vom Lhotse in Richtung Lhotse Shar () und Peak 38 () fort. Der Westgrat läuft zunächst in einen Nebengipfel – die sogenannte Westschulter – aus, die zum Lho-La-Pass () abfällt und sich dann in die Bergkette aus Khumbutse (), Lingtren () und Pumori () fortsetzt. Der auf tibetischer Seite befindliche Nordostgrat zielt vom Gipfel über drei Felsstufen und drei Felsnadeln bis zum östlichen Rongpu-Gletscher hinunter. Von ihm zweigt unterhalb der Stufen und oberhalb der Nadeln der Nordgrat auf einer Höhe von ab und verbindet den Mount Everest über den niedrigsten Punkt am Nordsattel () mit dem hohen Changtse. Vom Lhotse zieht auf nepalesischer Seite in westliche Richtung der lange Bergkamm des Nuptse (), der vom Mount Everest durch das Tal des Schweigens und den Khumbu-Gletscher getrennt wird. Die Wände des Everest sind unterschiedlich gegliedert. Die Südwestwand zum Tal des Schweigens weist zwei markante Pfeiler aus. Sie ist im Ganzen steil (um 60–70 Grad). Die Nordwand ist im Wesentlichen gegliedert durch zwei hochgelegene Couloirs, das Norton-Couloir und das Hornbein-Couloir. Die Neigung der Nordwand variiert um 40–45 Grad. Die stark vergletscherte Ostwand oder Kangshung-Wand hat drei Hauptpfeiler. Sie ist im unteren Teil sehr steil (bis 80 Grad), und im oberen, schwächer geneigten Teil von Hängegletschern markiert. Klima Die klimatischen Bedingungen am Mount Everest sind extrem. Im Januar, dem kältesten Monat, beträgt die Durchschnittstemperatur auf dem Gipfel −36 °C und kann auf Werte bis zu −60 °C fallen. Auch im wärmsten Monat, dem Juli, steigen die Temperaturen nicht über die Frostgrenze, die Durchschnittstemperatur auf dem Gipfel beträgt dann −19 °C. Im Winter und Frühling herrschen Winde aus westlichen Richtungen vor. Die feuchtigkeitsbeladene Luft kondensiert zu einer weißen, nach Osten zeigenden Wolke (verfälschend häufig als „Schneefahne“ bezeichnet). Wegen dieser Wolkenfahnen hielt man den Himalaya ursprünglich für eine Vulkankette. Anhand der Wolkenfahne des Mount Everest schätzen Bergsteiger auch die Windgeschwindigkeit auf dem Gipfel ab: Bei etwa 80 km/h steht sie rechtwinklig zum Gipfel, bei höheren neigt sie sich nach unten und bei niedrigeren nach oben. Im Winter prallt der südwestliche Jetstream auf den Gipfel und kann Windgeschwindigkeiten von bis zu 285 km/h verursachen. Von Juni bis September gelangt der Berg unter den Einfluss des Indischen Monsuns. In dieser Zeit fallen die meisten Niederschläge, und heftige Schneestürme prägen das Wetter. Wie in allen Hochgebirgsregionen kann es zu raschen Wetterumschwüngen kommen. Dies gilt auch für die beiden Besteigungssaisonen im Mai und Oktober. Plötzlich einsetzende Temperaturstürze, Stürme und Schneefälle von bis zu drei Metern pro Tag sind nicht außergewöhnlich. Zumeist gibt es in der jeweiligen Saison nur wenige Tage mit stabilem Wetter – die sogenannten „Fenstertage“ –, an denen eine Besteigung am ehesten möglich ist. Verschiedene Studien kamen im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende zu dem Ergebnis, dass auf Grund des Klimawandels die Eismassen im Bereich des Mount Everest stark schmelzen. Dadurch bilden sich unter anderem auf dem Khumbu-Gletscher zunehmend mehr und größere Schmelzwasserseen, die eine Besteigung behindern und das Risiko vergrößern. Auch tauen durch die Eisschmelze als Folge des Klimawandels viele der etwa 200 dort liegenden Bergsteigerleichen aus Gletschern und Eisfeldern frei. Fauna und Flora Der Luftdruck auf dem Gipfel des Mount Everest beträgt gemäß der barometrischen Höhenformel 325,4 hPa und entspricht knapp einem Drittel des Normaldrucks auf Meeresspiegelniveau. Hierdurch verschiebt sich der Siedepunkt des Wassers von 100 °C bei Normalbedingungen auf nur 70 °C, und der Sauerstoff-Partialdruck der Luft beträgt nur noch ein Drittel im Vergleich zur Meereshöhe. Hinzu kommen extreme Temperaturschwankungen und starke Winde. An diese äußerst lebensfeindliche Umwelt konnten sich nur wenige Tiere anpassen, Blütenpflanzen sind im Bereich des ewigen Eises nicht mehr zu finden. Euophrys omnisuperstes, ein kleiner Vertreter der Springspinnen (Salticidae), wurde bereits 1924 von R.W.G. Hingston bis zu einer Höhe von beobachtet. Seine Nahrungsgrundlage blieb lange ein Rätsel. Erst 1954 entdeckte man, dass sie sich von Fliegen und Springschwänzen (Collembola) ernähren, die bis zu einer Höhe von anzutreffen sind. Letztere leben von Pilzen und Flechten, die herangewehtes organisches Material abbauen. Bei der 1924 durchgeführten Everestexpedition wurden Flechten zwischen 4600 und gesammelt. Darauf basierend konnte R. Paulson 1925 etwa 30 Arten nachweisen. Von den Wirbeltieren sind nur einige Vögel in der Lage, sich der extremen Höhe dauerhaft anzupassen. Die Streifengans (Anser indicus) hält sich bis in Höhen von auf. Alpenkrähen (Pyrrhocorax pyrrhocorax) wurden selbst am hohen Südsattel beobachtet, wo sie sich von Abfällen, aber auch von tödlich verunglückten Bergsteigern ernähren. Der Leichnam von George Mallory, den man auf ca. fand, wurde vermutlich ebenfalls von Vögeln angefressen. Höhenangaben und -messungen Die Höhe des Mount Everest wurde in vielen Messungen bestimmt. Dabei ergaben sich Höhenangaben zwischen 8844 und . Auf Grund der Höhe (Todeszone) und der Eisschicht auf dem Gipfel gestaltet sich die Messung schwierig. Die Eisschicht auf dem Gipfel wird nicht in die Höhe mit eingerechnet, da sie starken Schwankungen unterliegt. Die exakte Höhe muss sich folglich auf die Höhe des Felssockels darunter beziehen. Bei den ersten Messungen war dies noch nicht möglich. Ein weiteres Problem ist die Bezugsgröße Meeresspiegel. Chinesische Messungen gehen vom definierten Nullpunkt eines Pegels in Qingdao, nepalesische Messungen vom Nullpunkt eines Pegels in Karatschi aus. Die Distanz beider Orte beträgt mehr als 6000 Kilometer, und allein aus diesem unterschiedlichen Bezugssystem ergeben sich deutliche Differenzen. Darüber hinaus basieren GPS-Höhenangaben auf einem vereinfachten Modell der Erde, dem Referenzellipsoid des World Geodetic System 1984. Bei solchen Messungen muss also noch die Differenz zwischen Geoid und Referenzellipsoid berücksichtigt werden, wie beispielsweise bei der Messung im Mai 2004. Die Angabe für die Gipfelhöhe des Mount Everest ist seit der ersten Messung im Jahre 1848 mehrfach korrigiert worden. 1856 wurde aus Angaben von sechs verschiedenen Vermessungsstationen errechnet. Die Stationen befanden sich allerdings über 150 Kilometer vom Everestmassiv entfernt, da die Vermesser des britischen Indian Survey nicht nach Nepal einreisen durften. Bis dahin sah man den Dhaulagiri (), den ersten entdeckten Achttausender, und ab 1838 den Kangchendzönga () als höchsten Berg an. Die lange Zeit geltende Höhenangabe von war 1954 vom Survey of India aus den Messdaten von insgesamt zwölf Vermessungsstationen als Mittelwert errechnet worden. Diese Angabe wurde von einer chinesischen Expedition im Jahre 1975 bestätigt – sie stellte fest. Auch eine im September 1992 als erste mit modernen Mitteln angestellte Höhenvermessung eines chinesisch-italienischen Expeditionsteams direkt am Berg ergab mit nahezu den gleichen Wert. Die dabei verwendeten Daten stammten sowohl aus Messungen mit herkömmlichen Theodoliten als auch aus Lasermessungen und GPS-Signalen. Sehr genaue Messungen mit Hilfe mehrerer GPS-Empfänger am 5. Mai 1999 ergaben eine Höhe von . Jene Angabe basiert auf der Höhe des Felssockels. Die Stärke der Schicht aus Eis und Schnee am Gipfel schwankt je nach Jahreszeit und Niederschlagsmengen der Monsunzeit etwa im Bereich zwischen einem und drei Metern. Bei einer Messung im Mai 2004 wurden acht Radarreflektoren am Gipfel verankert und so die Höhe des Felssockels bestimmt. Im Anschluss wurde die jeweilige Höhe der Radarprofile ermittelt. Von dieser Höhe wurde dann die Dicke der Eisschicht abgezogen. Der Everest hatte nach dieser Messung eine Höhe von , mit einer Ungenauigkeit von ±0,23 Meter. Damit konnte die Höhe aus dem Jahr 1992 bestätigt werden. Eine weitere Messung stammt aus dem Mai 2005, durchgeführt wiederum von einer chinesischen Expedition. Sie ergab für den Berg eine Höhe von , bei einer Ungenauigkeit von ±0,21 Meter. Er ist damit etwa 3,7 Meter niedriger als seit der chinesischen Messung von 1975 angenommen. Allerdings bezieht sich die Angabe, wie auch schon die von 1999 und 2004, nur auf den reinen Felssockel. Diese Untersuchung wurde von Chinas Nordseite und nicht vom nepalesischen Süden aus unternommen und dauerte ein Jahr. Eingesetzt wurden Radardetektoren sowie Lasermessgeräte und Satellitenortungssysteme. 2020 vermaßen China und Nepal den Berg gemeinsam neu und stellten eine Höhe von fest. Besteigungsgeschichte Der Mount Everest ist als höchster Berg der Erde stets ein attraktives Ziel. Die ersten Besteigungsversuche wurden in den 1920er-Jahren unternommen, jedoch dauerte es bis zum 29. Mai 1953, als Edmund Hillary und Tenzing Norgay als Erste auf dem Gipfel standen. Seit den 1960er-Jahren wurden zahlreiche neue Routen eröffnet. Die Besteigung von der chinesischen Nordseite aus gelang 1960 einer chinesischen Expedition. Am 8. Mai 1978 erreichten Reinhold Messner und Peter Habeler den Gipfel erstmals ohne zusätzlichen Sauerstoff. Erste Besteigungsversuche Die britische Armee-Expedition von Francis Younghusband bahnte sich im Jahre 1904 gewaltsam ihren Weg durch Tibet, um das Land zur Öffnung seiner Grenzen und Gewährung von Handelsprivilegien zu zwingen. Dabei wurde von J. Claude White auch die erste detaillierte Fotografie der Ostflanke von Kampa Dzong aus (etwa 150 Kilometer Entfernung) angefertigt. 1920er-Jahre Die Erstbesteigung des Mount Everest durch einen Briten war im Vereinigten Königreich von hoher nationaler Bedeutung. Der britische Chemiker, Forscher zur Höhenmedizin und Bergsteiger Alexander Mitchell Kellas fasste das damals vorherrschende Meinungsbild am 22. Februar 1916 in einem Brief an Sandy Wollaston zusammen, der wie Kellas später zu den Mitgliedern der ersten britischen Expedition ins Mount Everest-Gebiet gehören sollte: Bei den Erkundungs- und Besteigungsexpeditionen wurde versucht, eine Genehmigung durch den Dalai Lama zu erhalten. Es dauerte bis in die 1920er-Jahre, ehe er der Royal Geographical Society diese Erlaubnis aussprach. Die erste britische Erkundungsexpedition wurde 1921 in das Gebiet entsendet. Hier ging es aber noch nicht primär um die Besteigung des Berges, sondern um geologische Vermessungen, die Kartierung des Gebietes und eine erste Erkundung möglicher Aufstiegsrouten. Teilnehmer der Expedition beendeten die Vermessung von 31.000 Quadratkilometern. Im Verlaufe dieser Expedition entdeckte George Mallory vom Lhakpa La aus eine gangbare Route zum Gipfel, die seitherige Standard-Nordroute durch das Tal des östlichen Rongpu-Gletschers auf den Nordsattel. Ein kurzfristig angegangener Besteigungsversuch scheiterte auf dem Nordsattel am einsetzenden Monsun. 1922 waren keine topographischen Untersuchungen mehr geplant und die Expedition in die Vormonsunzeit gelegt. Die Besteigungsversuche wurden in kleinen Gruppen unternommen. Den ersten Versuch machten Mallory, Somervell, Norton und Morshead ohne die Verwendung von zusätzlichem Sauerstoff. Sie errichteten auf 7600 m Höhe ein kleines Lager und setzten am folgenden Tag den Aufstieg fort. Morshead musste die Besteigung recht schnell abbrechen, die anderen Bergsteiger kamen an diesem Tag auf eine Höhe von 8225 m. Dies war ein neuer Höhenweltrekord für Bergsteiger. Der nächste Versuch wurde von George Ingle Finch, Geoffrey Bruce und dem Gurkha Tejbir mit Sauerstoffflaschen durchgeführt. Obwohl sie zunächst gut vorankamen, konnten sie aufgrund starker Winde das Lager nur auf 7460 m errichten. Den Aufstieg konnten sie erst zwei Tage später fortsetzen. Da Tejbir keine winddichte Kleidung besaß, begann er früh zu erlahmen. Auf 7925 m brach er zusammen. Finch und Bruce schickten ihn zurück zum Lager und setzten ihren Aufstieg fort. Sie kamen bis auf eine Höhe von 8326 m, ein erneuter Höhenrekord. Einen weiteren Besteigungsversuch führten Mallory, Somervell und Crawford durch. Mallory war beeindruckt von den Leistungen Finchs – dieser war höher als er selbst gekommen und auch horizontal näher am Gipfel gewesen – und wollte nun ebenfalls Sauerstoff mitnehmen. Beim Aufstieg von Lager III löste sich eine Lawine und riss sieben Träger mit sich, die nicht gerettet werden konnten. Die Expedition war damit beendet. 1924 kehrten die Briten zurück. Mallory und Andrew Irvine kehrten von ihrem letzten Aufstiegsversuch nicht mehr zurück. Bis heute gibt es Diskussionen um die Frage, ob sie auf dem Gipfel waren oder bereits vorher zu Tode kamen. Mallorys Leiche wurde 1999 ohne eindeutigen Beweis für das Erreichen des Gipfels gefunden, Irvine ist nach wie vor verschollen. 1930 bis 1949 1933 wagten andere Bergsteiger aus Großbritannien den Aufstieg zum Everest. Es waren Longland, Frank Smythe, Eric Shipton, Percy Wyn-Harris und Lawrence Rickard Wager. Lager VI wurde auf einer Höhe von 8320 m errichtet. Am 30. Mai startete die Gruppe den ersten Versuch. Wyn-Harris und Wager stiegen zunächst am Grat und dann in Richtung Norton-Couloir. Dabei verstiegen sie sich und kehrten um. Am 1. Juni wagten Shipton und Smythe den zweiten Versuch. Sie verbrachten zwei Nächte in der sogenannten Todeszone. Als sich das Wetter besserte, stiegen sie höher, mussten aber nach einer Traverse des Großen Couloirs aufgeben. Frank Smythe erreichte 8573 m, die gleiche Höhe wie Norton 1924. 1934 versuchte der britische Abenteurer Maurice Wilson, den Mount Everest zu besteigen. Sein Plan war es, mit einem Flugzeug von Großbritannien nach Tibet zu fliegen, in der Nähe des Everests eine Bruchlandung zu machen und von dort aufzusteigen. Bis dahin war er noch nie geflogen und hatte keinen Berg bestiegen. Nachdem er Flugunterricht genommen hatte, gelang es ihm, nach Indien zu fliegen. Nach einigen Komplikationen schaffte er es, ein Lager am Fuße des Nordsattels zu errichten. Von dort unternahm er mehrere Versuche, um auf den Nordsattel zu kommen. Am 31. Mai 1934 machte er eine letzte Eintragung in sein Tagebuch. Er schrieb, dass er erneut aufsteigen wolle. Seine Leiche wurde ein Jahr später gefunden. Wie er gestorben und wie hoch er gekommen ist, ist nicht bekannt. 1935 stand eine erneute britische Expedition zum Everest an. Erstmals als Träger war Tenzing Norgay dabei. Das Ziel dieser Expedition war nicht die Besteigung des Everest, da sie erst Anfang Juli und damit in der Monsunzeit stattfand. Die Ziele waren Erforschung, Landesaufnahme und Klettern in der gesamten Region. Es sollte ebenfalls erkundet werden, ob eine Nachmonsunexpedition Erfolg haben könnte. Man kletterte deshalb bis zum Lager III. 1936 sollte wieder die Besteigung angegangen werden. Als Bergsteiger dabei waren Smythe, Shipton, Wyn-Harris, Kempson, Warren, Wigram, Oliver und Gavin. Tenzing Norgay war erneut als Träger dabei. Da der Monsun bereits am 25. Mai einsetzte, scheiterte die Besteigung früh. 1938 bestand das britische Team aus Shipton, Smythe, Warren, Floyd, Oliver und Odell, der trotz seines fortgeschrittenen Alters mitgenommen wurde. Als Träger wieder dabei war Tenzing Norgay. Man war bereits am 6. April in Rongpu. Die Verhältnisse sahen zunächst gut aus, und drei Wochen später waren Bergsteiger im Lager III. Da viele Bergsteiger krank waren, stieg man zunächst wieder ab. Eine Woche später (am 5. Mai) brachte der Monsun schon Schnee. Trotzdem wurde ein Versuch unternommen, bei dem Lager VI auf 8290 m errichtet wurde. Der viele Schnee machte dann das letzte Stück aber unpassierbar. In den 1940er-Jahren gab es zwar Besteigungsversuche am Everest, doch kann man sie aus heutiger Sicht nicht ernst nehmen. Auf abenteuerlichen Wegen und ohne Genehmigung wurde der Berg von Einzelnen erfolglos angegangen. 1950 bis 1952 In den 1950er-Jahren gab es einen Wettlauf zweier Nationen um den Gipfel. Infolge der chinesischen Rückeroberung war Tibet für Ausländer nicht mehr zugänglich, jedoch hatte das Königreich Nepal, das zwischen 1815 und 1945 Ausländern die Einreise und damit die Erkundung des Himalaya verwehrt hatte, seine Blockadehaltung inzwischen aufgegeben und einzelne Expeditionen genehmigt. Die Südwestseite des Everest war kaum bekannt, Mallory konnte zwar 1921 vom Lho La aus einen Blick auf die Südseite und in das Western Cwm werfen, ob von dort aus aber der Berg besteigbar oder zumindest der Südsattel erreichbar sei, blieb unbekannt. 1951 erkundete eine britische Expedition Teile dieses Zugangsweges. 1952 wurden zwei Schweizer Expeditionen genehmigt. Da sie nicht über die Nordroute aus Tibet steigen durften, mussten sie den neuen Weg aus Richtung Süden zum Berg ausprobieren. Im Frühjahr waren die Bergsteiger Chevalley, Lambert, Dittert, Flory, Aubert, Roch, Asper, Hofstetter und erneut Tenzing Norgay (diesmal als Führer der Sherpas) am Berg. Lager 6 wurde am South Col errichtet, Lager 7 auf 8382 m am Südostgrat. Tenzing Norgay hatte sich in dieser Expedition auch als Bergsteiger hervorgetan und versuchte mit Lambert den Aufstieg zum Gipfel. Sie kamen nach einer Nacht ohne Schlafsäcke und Kocher bis kurz unter den Südgipfel. Dabei wurde ein neuer Höhenrekord aufgestellt: 8600 m. Die zweite Expedition stieg im Herbst erstmals über die heutige Standardroute südlich des Genfer Sporns durch die Lhotseflanke auf den Südsattel. Lambert und Tenzing wurden wegen extrem kalten Wetters auf 8100 m am Südgrat zur Umkehr gezwungen. Die bei dieser Expedition gewonnenen Erkenntnisse über die Route halfen der britischen Expedition im folgenden Jahr. Es gibt Berichte, dass eine sowjetische Expedition im gleichen Jahr ohne Genehmigung über die Nordroute eine Besteigung versuchte. Es wurden aber nie Artefakte dieser Expedition gefunden und sie wurde auch immer dementiert. 1953: Die erfolgreiche Erstbesteigung 1953 wurde die neunte britische Expedition zum Mount Everest, diesmal unter der Leitung von John Hunt ausgerichtet. Nachdem mehrere Hochlager errichtet worden waren, wurden zwei Seilschaften gebildet. Die erste Seilschaft sollte quasi einen Schnellschuss wagen, die zweite dann bei Misserfolg das letzte Hochlager weiter nach oben verlegen. So sollte der Erfolg sichergestellt werden. Die erste Seilschaft bestand aus Tom Bourdillon und Charles Evans. Sie erreichten am 26. Mai den Südgipfel, mussten aber aufgeben, weil die von Bourdillon und seinem Vater entwickelten geschlossenen Sauerstoffsysteme infolge Vereisung versagten. Dies kostete sie so viel Zeit, dass ein weiterer Aufstieg keine Chance für einen sicheren Abstieg gelassen hätte. Die zweite Seilschaft verwendete nun ein traditionelles, offenes Sauerstoffsystem. Zwei Tage später schafften es der Neuseeländer Edmund Hillary und die Sherpas Tenzing Norgay und Ang Nyima, das letzte Lager auf eine Höhe von zu verlegen. Ang Nyima stieg dann wieder ab, während Hillary und Norgay am 29. Mai um 6:30 Uhr Richtung Gipfel aufbrachen. Da sie weiter oben am Berg losstiegen, erreichten sie den Südgipfel bereits um 9:00 Uhr. Gegen 10:00 Uhr erreichten sie eine Felsstufe, die später Hillary Step genannt wurde und die das letzte bergsteigerische Hindernis darstellt. Gegen 11:30 Uhr standen sie auf dem Gipfel. Bei ihrer Besteigung fanden sie keine Spuren eines früheren Gipfelgangs. Hillarys erste Worte an seinen langjährigen Freund George Lowe nach seiner Rückkehr waren: (Sinngemäß: „George, wir haben den Mistkerl jetzt endlich erledigt.“) Die Meldung von der erfolgreichen Erstbesteigung erreichte London am Morgen des 2. Juni 1953. Das war Tag der Krönung von Elisabeth II. Am 16. Juli wurde Hillary der Order of the British Empire verliehen, der gleichzeitig seine Erhebung in den Adelsstand des britischen Königreichs bedeutete. Norgay wurde von Elisabeth II. durch die Verleihung der George Medal geehrt. Die Erstbesteigung löste ein großes internationales Echo aus und wurde als Eroberung des „dritten Pols“ (nach Nord- und Südpol) gefeiert. Wer von beiden zuerst auf dem Gipfel stand, war Gegenstand eines heftigen Disputs. Ein Gipfelfoto existiert nur von Tenzing Norgay, da dieser nicht in der Lage war, die Kamera zu bedienen und somit Hillary nicht ablichten konnte. Hillary sagte mal, dass der Gipfel des Everest kein geeigneter Ort sei, um dort jemandem das Fotografieren beizubringen. Tenzing Norgay wurde von asiatischer Seite als Erstbesteiger gefeiert und ihm sogar eine Unterschrift unter ein entsprechendes Dokument abgenötigt. Er gab aber 1955 zu, dass Hillary zuerst seinen Fuß auf den Gipfel setzte. Beide betonten jedoch, dass die Erstbesteigung das Werk eines Teams war, und blieben lebenslang befreundet. 1954 bis 1959 1956 war erneut eine Schweizer Expedition am Berg. Den Bergsteigern Ernst Schmied und Jürg Marmet am 23. Mai sowie einen Tag später Dölf Reist und Hansruedi von Gunten gelang die zweite beziehungsweise dritte Besteigung auf der Route der Erstbesteiger. Zuvor gelang Ernst Reiss und Fritz Luchsinger im Rahmen dieser Expedition am 18. Mai die Erstbesteigung des benachbarten Lhotse. Laut Hansruedi von Gunten dachten die Teilnehmer bei der Rückreise, auf den Everest wolle nach ihnen „niemand mehr hinauf“. 1960er-Jahre 1960 wurde der Mount Everest erstmals von tibetischer Seite aus (Nordostgrat) durch eine chinesische Expedition bestiegen. Die Bergsteiger Wang Fu-chou, Konbu und Qu Yinhua waren vermutlich die ersten, die den Second Step erklettern konnten. Das letzte Stück soll Chu Ying-hua sogar barfüßig von den Schultern eines Teamkollegen gemeistert haben. Diese Besteigung wurde jedoch vereinzelt angezweifelt, da es keine sichere Dokumentation für den Gipfelsieg gibt. Ein damals veröffentlichtes Foto zeigt aber den Berg oberhalb des Second Step. Mittlerweile wird diese Besteigung offiziell anerkannt. Besser dokumentiert und daher vereinzelt noch als Erstbesteigung dieser Route angesehen ist die einer ebenfalls chinesischen Expedition im Jahr 1975. Im Jahre 1962 wagte sich eine sehr improvisiert organisierte Expedition von drei Amerikanern und einem Schweizer ohne Bewilligung von der tibetischen Seite her an den Everest. Der Schweizer Hans-Peter Duttle hatte sich innerhalb eines Tages zu entscheiden und folgte den anderen ab Kathmandu mit nur zwei Trägern und einem Touristenvisum nach Khumbu. Zur Täuschung der Behörden besaßen die Amerikaner eine Bewilligung für den Gyachung Kang. Am Fuße des Übergangs Nup La wurden die letzten zwei Träger ausbezahlt und die vier Bergsteiger kämpften sich eine Woche lang zur Grenze hoch. Über tibetisches Gebiet gelangten sie zum Nordsattel des Everest. Dort, nach drei Wochen, stürzten der Leiter der Expedition, Woodrow Wilson Sayre, sowie Roger Hart bei einem Materialtransport ab. Duttle und der vierte Mann, Norman Hansen, hatten sie schon aufgegeben, aber die zwei konnten sich retten. Die völlig mangelhaft ausgerüstete Gruppe stieg in den nächsten Tagen ohne Sauerstoff weiter bis auf eine Höhe von 7700 Metern, wofür Robert Bösch sowohl Bewunderung als auch ungläubiges Kopfschütteln über so viel Leichtsinn zeigte. Dort stürzte Sayre noch einmal und die Gruppe kehrte um, als sich Absturzverletzungen lebensbedrohlich entzündeten. Mit kaum mehr Material schafften alle vier die Rückkehr in die Zivilisation. Die Expedition sorgte für politische Misshelligkeiten und gefährdete die Expedition von Norman Dyhrenfurth im Folgejahr. 1963 eröffnete die offiziell erste amerikanische Expedition unter der Leitung von Norman Dyhrenfurth eine neue Route über den Westgrat. Tom Hornbein und Willi Unsoeld stiegen vom Tal des Schweigens aus auf die Westschulter, folgten dem Westgrat, mussten dann aber wegen zu großer technischer Schwierigkeiten auf dem Grat in die Nordwand ausweichen. Sie stiegen in der seither „Hornbein-Couloir“ genannten Schlucht der Nordwand zum Gipfel und führten dann die erste Überschreitung des Mount Everest durch, indem sie ihren auf der Südroute angestiegenen Kameraden im Abstieg folgten. Diese Überschreitung war zugleich die erste Überschreitung eines Achttausenders überhaupt. Die vier biwakierten beim Abstieg auf 8600 Metern. 1970er-Jahre Der Versuch einer Erstbegehung der Südwestwand im Zuge der Ersten Europäischen Mount Expedition 1972 scheiterte etwa 500 Höhenmeter unter dem Gipfel. Die Vormonsunexpedition war von Karl Maria Herrligkoffer organisiert worden. Nachdem die Differenzen innerhalb der Gruppe, der Extrembergsteiger unterschiedlicher Nationen angehörten, zu einer Belastung geworden waren, wurde die Expedition nach einem Schlechtwettereinbruch abgebrochen. Im selben Jahr startete eine britische Nachmonsunexpedition, an der auch Hamish MacInnes und Doug Scott teilnahmen, die wenige Monate zuvor Mitglieder der Ersten Europäischen Mount Everest Expedition gewesen waren. Auch sie erreichten den Gipfel nicht. 1975 gelangten Doug Scott und Dougal Haston erstmals durch die Südwestwand zum Gipfel, allerdings wählten sie im oberen Teil eine andere Route. Am 16. Mai 1975 stand mit der Japanerin Junko Tabei die erste Frau auf dem Gipfel. Wenig später erreichte die Tibeterin Phanthog als Teilnehmerin der chinesischen Nordgrat-Expedition als zweite Frau den Gipfel. Im selben Jahr wurde die Südwestwand, die sich 2500 m aus dem Tal des Schweigens erhebt, von einer britischen Expedition unter Leitung von Chris Bonington durch Doug Scott und Dougal Haston zum ersten Mal bewältigt. An dieser Wand waren zuvor bereits sechs Expeditionen gescheitert. Die Schlüsselstelle in der Route ist die Überwindung eines gewaltigen Felsbandes oberhalb der schneegefüllten Rinne. Doug Scott und Dougal Haston biwakierten beim Abstieg eine Nacht in einer Schneehöhle am Südgipfel (). Am 3. Mai 1978 war mit Robert Schauer der erste Österreicher auf dem Gipfel. Schauer glückte 18 Jahre später eine zweite und 2004 eine dritte Besteigung. Nur fünf Tage später, am 8. Mai 1978, bestiegen Reinhold Messner und Peter Habeler den Gipfel erstmals ohne zusätzlichen Sauerstoff. Weitere drei Tage später erreichte Reinhard Karl aus derselben Expedition als erster Deutscher den Gipfel. Weitaus weniger bekannt ist, dass im Herbst desselben Jahres Hans Engl als erster Deutscher den Gipfel ebenfalls ohne zusätzlichen Sauerstoff erklomm. Dem Österreicher Franz Oppurg gelang am 14. Mai 1978 die erste Solobesteigung des Mount Everest. Die erste deutsche Frau stand 1979 auf dem Gipfel: Hannelore Schmatz kam aber beim Abstieg ums Leben. Die wohl schwierigste Grat-Route, der direkte Westgrat, wurde ebenfalls 1979 durch eine jugoslawische Expedition gemeistert. Andrej Štremfelj und Jernej Zaplotnik überwanden schwierigste Felspassagen. 1980er-Jahre In den 1980er Jahren gelangen die erste Winter- und die erste Alleinbegehung sowie neue, schwierige Routen auf den Gipfel. Die erste Winterbegehung der Südsattelroute praktizierte 1980 eine polnische Expedition. Am 17. Februar erreichten Leszek Cichy und Krzysztof Wielicki den Gipfel, wobei sie mit Temperaturen von bis zu −45 °C und Windgeschwindigkeiten von fast 200 km/h zu kämpfen hatten. Im selben Jahr gelang Reinhold Messner die erste Alleinbegehung des Berges im reinen Alpinstil. Zudem wurde die Nordwand von den Japanern Takashi Ozaki und Tsuneo Shigehiro erstmals vollständig durchstiegen. Jerzy Kukuczka war mit einer polnischen Expedition am Südpfeiler erfolgreich. 1982 eröffnete eine sowjetische Expedition eine neue Route über den Südwestpfeiler. Die Ostwand wurde 1983 durch die US-Amerikaner Louis Reichardt, Kim Momb und Carlos Buhler bezwungen. 1986 durchstiegen Erhard Loretan und Jean Troillet das Hornbein-Couloir. Als erster Frau gelang der Neuseeländerin Lydia Bradey die Besteigung ohne zusätzlichen Sauerstoff am 14. Oktober 1988. 1990er-Jahre 1990 bestieg Andrej Štremfelj den Mount Everest ein zweites Mal zusammen mit seiner Frau Marija. Beide waren das erste verheiratete Paar auf dem höchsten Gipfel der Erde. Am 5. Februar 1990 startete Tim Macartney-Snape aus Australien mit seiner Frau Ann Ward im Golf von Bengalen um jeden Höhenmeter selbst aufzusteigen. Er ging den gesamten Weg von der Insel Sagar im Gangesdelta an der Meeresküste Indiens und erreichte den Gipfel über die Normalroute ohne Unterstützung von Sherpas oder Sauerstoffflaschen. Der Film Everest Sea to Summit von Michael Dillon dokumentiert das Unternehmen. Macartney-Snape gründete danach mit Roland Tysen das Ausrüstungs- und Bekleidungsunternehmen Sea to Summit. Im Jahr 1995 wurde der lange Nordostgrat vollständig bis zum Gipfel begangen. Im gleichen Jahr schaffte es die Schottin Alison Hargreaves als erste Frau ohne zusätzlichen Sauerstoff über die Nordroute auf den Gipfel. 1996 wurde die Saison durch zwölf Todesfälle überschattet, die bis zu diesem Zeitpunkt tödlichste Saison am Mount Everest. In einem am Mittag aufziehenden Höhensturm kamen mehrere Bergsteiger aus der Gipfelzone nicht mehr zurück zu ihren Zelten, unter anderem sehr erfahrene Expeditionsleiter, die zuvor schon mehrfach oben gewesen waren. Einzelheiten dazu stellt der Artikel Unglück am Mount Everest (1996) dar. 1996 brauchte Hans Kammerlander nur 16 Stunden und 45 Minuten, um vom vorgeschobenen Basislager über die Nordroute auf den Gipfel zu steigen. Danach fuhr er teilweise auf Skiern hinab. Der Schwede Göran Kropp (1966–2002) fuhr ab Oktober 1995 mit dem Fahrrad und Anhänger von Stockholm 13.000 km zum Mount Everest und bestieg diesen am 23. Mai 1996. Im Zuge einer weiteren Besteigung 1999 mit seiner Partnerin Renata Chlumska – erste Schwedin und Tschechin am Gipfel – machten beide eine Säuberungsaktion am Berg. Der britische Abenteurer Bear Grylls bestieg 1998 als damals jüngster Brite mit 23 Jahren den Mount Everest. Ebenfalls 1998 war der Brite Tom Whittaker der erste Beinamputierte, der den Gipfel erreichte. Babu Chiri Sherpa verbrachte ein Jahr später 21 Stunden ohne zusätzlichen Sauerstoff auf dem Gipfel (Rekord des längsten Gipfelaufenthalts). Am 27. Mai 1999 schaffte Helga Hengge über die Nordroute als erste deutsche Frau die erfolgreiche Besteigung. 2000er-Jahre 2000 fuhr Davo Karničar den kompletten Berg mit Skiern hinab. Ein Jahr später erreichte mit Erik Weihenmayer der erste Blinde den Gipfel und Marco Siffredi fuhr das große Couloir mit dem Snowboard ab. Evelyne Binsack erreichte am 23. Mai 2001 als erste Schweizerin den Gipfel. 2004 eröffnete eine russische Expedition eine neue Route durch die Nordwand, die weitgehend eine Direttissima darstellt. Am 30. Mai erreichten Pawel Schabalin, Ilja Tukhvatullin und Andrej Mariew den Gipfel. Im Jahr 2006 stand mit Mark Inglis der erste doppelt Beinamputierte auf dem Gipfel, während der Skyrunner Christian Stangl vom vorgeschobenen Basislager nur 16 Stunden und 42 Minuten für die Besteigung über die Nordroute benötigte. Im Jahr 2007 ließ der Mobilfunkanbieter China Mobile drei Sendemasten auf 5200 m, 5800 m und 6500 m Höhe installieren. Dies sollte ermöglichen, auf der gesamten Aufstiegsroute bis zum Gipfel ein Mobiltelefon zu benutzen, und stand im Zusammenhang mit dem für das folgende Jahr geplanten olympischen Fackellauf. Anlässlich der Olympischen Spiele 2008 in Peking wurde die olympische Fackel während des Fackellaufes am 8. Mai 2008 von Bergsteigern von der tibetischen Seite auf den Gipfel gebracht. Um dies medial besser präsentieren zu können, wurde die Straße zum nördlichen Basislager im Rongpu-Tal befestigt. Das Training chinesischer Bergsteiger für diesen Fackellauf geschah in der Saison 2007 erstmals mit militärischen Absperrmaßnahmen, privilegiertem Zugang und Wachposten am chinesischen Basislager, ein für Bergsteiger ungewohnter und kritisch betrachteter Umstand, den es zuvor an keinem Berg gab. Im Frühjahr 2008 wurden zunächst alle Expeditionen über die Nordroute bis zum 10. Mai untersagt, später schloss sich auch Nepal an und untersagte das Bergsteigen am Mount Everest. Somit gab es im Frühjahr außer der Fackellauf-Expedition kaum Gipfelchancen für auswärtige Bergsteiger. Auch die Besteigung des Cho Oyu wurde bis zum 10. Mai untersagt. Zudem wurde den Bergsteigern die Benutzung von modernen Kommunikationsmitteln sowie das Fotografieren untersagt. Nach mehreren gescheiterten Versuchen beging Park Young-Seok im Jahr 2009 eine neue Route in der Süd-West-Wand. 2010er-Jahre Als erste Österreicherin erreichte Sylvia Studer gemeinsam mit ihrer Tochter Claudia und ihrem Mann Wilfried am 23. Mai 2010 den Gipfel. Als erste Österreicherin ohne Sauerstoffflaschen stand Gerlinde Kaltenbrunner am 24. Mai 2010 am Gipfel. Der Südkoreaner Kim Chang-ho begann seine Expedition „0 to 8,848 m“ ebenfalls an der Insel Sagar am Golf von Bengalen, paddelte jedoch die ersten 160 km gangesaufwärts bis Kalkutta, radelte die nächsten 1000 km über Dharan und Tumlingtar, wanderte noch 150 km zum Everest Base Camp und kletterte auf der Normalroute am 20. Mai 2013 zum Gipfel mit An Chi-Young, Oh Young-hoon und Seo Sung-ho, der beim Abstieg starb. Am 18. April 2014 kamen auf der nepalesischen Seite 16 Menschen (darunter drei Vermisste) durch eine Lawine im Khumbu-Eisbruch auf 5800 Meter Höhe ums Leben, das bis dahin folgenreichste Unglück in der Besteigungsgeschichte. Aufgrund des Erdbebens vom 25. April 2015 kam es zu Lawinen im Bereich des Basislagers. Dabei kamen mindestens 18 Personen ums Leben, was das bisher schwerste Unglück in der Besteigungsgeschichte darstellt. Zum Zeitpunkt des Unglücks am Samstag hielten sich nach offiziellen Angaben etwa 1000 Bergsteiger und Träger am Mount Everest auf. Nach dem Erdbeben verboten die chinesischen Behörden aufgrund möglicher Gefahren durch locker gewordenes Eis und Gestein die weitere Besteigung des Mount Everest über die Nordroute bis zum Vormonsun 2016. In Nepal wurde kein offizielles Besteigungsverbot erlassen. Da aber der Khumbu-Eisbruch nicht erneut versichert werden konnte, endeten auch auf der Südroute die Besteigungsversuche. Durch das Erdbeben wurde ein Teil des oberen Teils des Hillary Step zerstört. Der aus Bielefeld stammenden Anja Blacha gelang im Mai 2017 mit 26 Jahren als jüngster deutschen Frau die Gipfelbesteigung. In der gleichen Gruppe stieg der blinde österreichische Bergsteiger Andy Holzer auf und erklomm damit die Seven Summits. Sie stiegen unter Zuhilfenahme von Flaschensauerstoff über die Nordroute auf und standen am 21. Mai 2017 auf dem Gipfel. Am 14. Mai 2018 bezwang der 69-jährige Chinese Xia Boyu mit zwei Beinprothesen den Everest. Es war sein 5. Versuch; beim ersten Versuch 1975 erfroren ihm die Füße, sodass sie ihm abgenommen werden mussten. 1996 wurde er beidseits unterhalb der Knie amputiert. Die Regelung aus 2017, dass doppelt Beinamputierte den Everest nicht besteigen dürfen, war von einem Gericht als diskriminierend aufgehoben worden. Als einziger doppelt Beinamputierter hatte zuvor der Neuseeländer Mark Inglis im Jahr 2006 den Mount Everest erreicht. 2020er-Jahre Als Folge der COVID-19-Pandemie wurde der Berg 2020 von beiden Seiten gesperrt. Für die Zeit ab der Herbstsaison 2020 hat die nepalesische Regierung im Sommer beschlossen, den Berg wieder zu öffnen, jedoch müssen Bergsteiger 4 Meter Abstand zueinander halten. Zusätzlich fordert die chinesische Regierung eine Trennlinie auf dem Gipfel, um das Vermischen der Gruppen zu verhindern und so die Gefahr einer Ansteckung durch einen evtl. Infizierten zu verhindern. In der Saison 2023 bestiegen geschätzt 600 Bergsteiger den Mount Everest. 13 von ihnen starben und vier wurden oder werden vermisst. Hubschrauberflüge zu Lager II (6400 m hoch) und Lager III (7000 m hoch) haben das Sterberisiko für erkrankte oder verletzte Bergsteiger erheblich verringert. Kommerzielle Besteigungen Seit den 1980er-Jahren ist eine regelrechte Everest-Euphorie ausgebrochen, was zu einem deutlichen Anstieg der Zahl der Gipfelbesteigungen geführt hat. Während bis 1979 – also innerhalb von 27 Jahren seit der Erstbesteigung – nur 99 Menschen auf dem Gipfel waren (drei von ihnen zweimal), verdoppelte sich die Zahl der Gipfelbesteigungen zwischen 1980 und 1985 – innerhalb von nur sechs Jahren. 1993 erreichten erstmals mehr als 100 Menschen in einem Jahr den Gipfel. Im Jahr 2003 konnten mit 266 erstmals mehr als 200 Besteigungen gezählt werden. In der Rekordsaison 2007 wurde der höchste Punkt von 604 Bergsteigern erreicht. Da in diesem Jahr einige Bergsteiger mehrmals auf dem Gipfel standen, konnten sogar 630 Besteigungen gezählt werden. Das Spektrum der Gipfelaspiranten reicht von erfahrenen Alpinisten bis zu weniger geübten, die sich auf die von ihren Bergführern gelegten Fixseile verlassen müssen. Die Kosten hierfür betrugen zwischen 13.000 und 65.000 US-Dollar. Im Jahr 2013 stiegen von der nepalesischen Seite 32 Teams auf, mit denen 242 Bergsteiger (davon 34 weiblich) den Gipfel erreichten. Alleine die Gebühren für Genehmigungen für diese 32 Teams betrugen 2.525.000 US-Dollar. Das sind 80 Prozent aller vom Staat eingenommenen Besteigungsgebühren im Jahr 2013 (für einige Berge in Nepal werden die Genehmigungen nicht vom Staat, sondern von der „Nepal Mountaineering Association“ vergeben). Etwa ein Drittel aller Bergsteiger am Everest gehören zu einer kommerziellen Expedition. Nach wie vor sind Besteigungen ohne Flaschensauerstoff selten. Die Anziehungskraft des höchsten Berges der Erde lockt viele, die sich dieser Herausforderung nur stellen können, wenn sie sich umfangreich Hilfe kaufen; Träger, die sie vom Schleppen aller Lasten außer der minimalen persönlichen Ausrüstung entbinden, sogar die Zelte und die Schlafsäcke werden von Sherpas getragen, damit der teuer zahlende Kunde seine Kräfte für den Gipfel aufsparen kann. Von vielen renommierten Bergsteigern wird der Mount Everest wegen des großen Andrangs seit langem gemieden. Nives Meroi machte 2007 die Erfahrung: „Die großen kommerziellen Firmen bereiten alles für ihre Kunden vor, sichern die Routen, besetzen die Hochlager. Für uns als kleine Gruppe von vier Bergsteigern ist kein Platz mehr“. Bei zwei kommerziellen Besteigungen starben 1996 zwölf, weil sie hoch oben von plötzlichen Wetterumschwüngen überrascht wurden. Diese Ereignisse werden in dem IMAX-Film Everest – Gipfel ohne Gnade und in mehreren Büchern dargestellt, darunter der Bestseller In eisige Höhen von Jon Krakauer und Der Gipfel, eine Gegendarstellung von Anatoli Bukrejew. Die Routen auf den hohen Hängen des Mount Everest sind von den Leichen gestorbener Bergsteiger gesäumt: Über 300 Menschen starben beim Versuch der Besteigung oder beim Abstieg vom Gipfel. Die Versuchung, unbedingt auf dem höchsten festen Punkt der Erdoberfläche stehen zu wollen, ist groß für viele nicht ausreichend Erfahrene. Anstrengung und Sauerstoffmangel führen zu schlechteren Reaktionen und eingeschränktem Denkvermögen, das die Entscheidung zur Umkehr bei widrigen Verhältnissen erschwert. Höhenlungenödem und Höhenhirnödem sind lebensbedrohlich; wer beide Ödeme gleichzeitig erleidet stirbt mit hoher Wahrscheinlichkeit. An manchen der jeweils sehr wenigen „Fenstertage“ im Jahr (im Mai, vor dem Aufkommen des Monsuns) stauen sich an den klettertechnisch schwierigeren, mit Fixseilen gesicherten Stellen die Aufstiegswilligen teils mehrere Stunden lang: Die Zeit verrinnt, man kühlt beim Warten aus, und die Gefahr steigt, nicht mehr bei Tageslicht absteigen zu können. Wer hoch oben am Everest in die zweite Nacht gerät (der Endaufstieg muss in der Nacht davor vor Mitternacht beginnen), hat extrem schlechte Aussichten, ohne schwere körperliche Schäden (erfrorene Zehen, Füße, Finger, Nase) wieder vom Berg herabzukommen. Auch die Hilfsmöglichkeiten der Bergführer sind in der extremen Umgebung auf den letzten 2000 Höhenmetern sehr begrenzt. Hilfeleistung unterbleibt oft auch wegen des Risikos eigener gesundheitlicher Schäden oder wegen der Vereitelung der eigenen Gipfelchancen. Abfallproblematik Ein weiteres Problem dieser Art von „Tourismus“ ist, dass die Umweltverschmutzung der Lager durch Müll (Zelte, Sauerstoffflaschen, Speisereste, Dosen und Medikamente) rapide zugenommen hat. Der Südsattel wurde schon als „höchste Müllkippe der Erde“ tituliert. Mittlerweile wird von administrativer Seite verstärkt versucht, diese Begleiterscheinungen zu reduzieren. Jede Expedition muss ein Müllpfand hinterlegen, das nur zurückbezahlt wird, wenn die gesamte Ausrüstung und sogar die Fäkalien aus dem Basislager wieder abtransportiert werden. Zudem werden in regelmäßigen Abständen Expeditionen ausgerichtet, die Müll aus den Hochlagern vom Berg herunterholen. Seit dem Frühjahr 2014 sind Bergsteiger sogar verpflichtet, mindestens 8 Kilogramm Altmüll auf dem Abstieg einzusammeln und mitzubringen. Auch private Initiativen versuchen das Problem zu mildern. 1995 organisierte u. a. Scott Fischer eine Reinigungsexpedition, in der den Sherpas für jede heruntergebrachte Sauerstoffflasche eine Prämie bezahlt wurde. Der Japaner Ken Noguchi hat (Stand 2007) fünf Säuberungsexpeditionen ausgerichtet und dabei neun Tonnen Abfälle abtransportiert. Im Jahr 2010 startete eine Initiative von 20 Sherpas unter Leitung von Namgyal Sherpa, die das Ziel hatte, den Berg von mindestens 3000 kg Bergsteiger-Müll (alte Zelte, Seile, Sauerstoffflaschen, Nahrungsmittelverpackungen u. a.) zu säubern. Nebenbei sollten auch die Leichen von mehreren Bergsteigern (u. a. Gianni Goltz † 2008, Rob Hall † 1996) geborgen werden. 2018 konzentrierte sich die Abfallsammelkampagne auf recyclebare Materialien. In der Nähe des Everest sind hotelähnliche Lodges entstanden. Sie befinden sich nicht an den traditionellen Siedlungsschwerpunkten und bieten „Komforttrekkern“ einen gewissen Luxus. (Siehe auch Mount Everest Trek). Statistik der Besteigungen Anzahl der Besteigungen Seit der Entdeckung von 1852, dass der Everest der höchste Berg der Erde ist, vergingen 101 Jahre bis zu seiner Erstbesteigung. 15 Expeditionen versuchten dies vergeblich; dabei starben 21 Menschen. Bis Ende 2006 gab es über 14.000 Besteigungsversuche, 3057 davon gelangen. Nur etwa einer von fünf Aspiranten gelangte auf den Gipfel. Bis Ende 2010 wurden insgesamt 5104 Gipfelerfolge gezählt. Davon wurden nur 173 Besteigungen ohne Zusatzsauerstoff durchgeführt. Am 23. Mai 2010, dem bis dahin größten Ansturm, standen 169 Menschen auf dem Gipfel. Bis Ende 2018 erhöhte sich die Anzahl der Besteigungen auf 8400. Die meisten Besteigungen hat bisher Kami Rita Sherpa durchgeführt, der mittlerweile 26 Mal (Stand: Mai 2022) auf dem Gipfel stand. Zeitrekorde Die schnellste Besteigung gelang dem Sherpa Pemba Dorjee, der am 21. Mai 2004 den Aufstieg vom Basislager zum Gipfel in nur 8:10 Stunden schaffte. Auf der Nordroute hält Christian Stangl seit dem Jahr 2006 mit 16:42 den Rekord, wobei er allerdings am vorgeschobenen Basislager startete. Hans Kammerlander brauchte auf derselben Route zehn Jahre zuvor nur wenige Minuten länger. Bei diesen Schnellbesteigungen ist aber zu beachten, dass der genaue Startpunkt bei jeder Besteigung anders war und sie deshalb kaum miteinander verglichen werden können. Altersrekorde Der jüngste Besteiger war der US-Amerikaner Jordan Romero, der im Alter von 13 Jahren und 10 Monaten den Gipfel am 22. Mai 2010 erreichte. Die jüngste Bergsteigerin war die fast gleichalte Inderin Malavath Purna mit 13 Jahren und 11 Monaten, die den Gipfel am 25. Mai 2014 erklomm. Die bisher älteste Frau, die auf dem Everest war, ist die Japanerin Tamae Watanabe. Sie erreichte erstmals am 16. Mai 2002 als schon damals mit 63 Jahren älteste Besteigerin den Gipfel über die Südostroute von Nepal aus. Durch eine erneute Begehung des Gipfels am 19. Mai 2012 über die Nordroute von Tibet aus erhöhte sie ihren eigenen, bis dahin ungeschlagenen Altersrekord auf 73 Jahre. Mit einem Alter von 80 Jahren war der Japaner Yūichirō Miura am 23. Mai 2013 der älteste Mensch auf dem Gipfel. Er war damit auch der älteste Mensch überhaupt, der je auf einem Achttausender stand. Am 6. Mai 2017 starb der 85 Jahre alte Min Bahadur Sherchan vermutlich an einem Herzinfarkt im Basislager auf der Südseite des Berges, bevor er seinen abermaligen Versuch starten konnte, nach seinem Rekord 2008 einen neuen Altersrekord aufzustellen. Todesfälle Bis 2013 starben am Everest insgesamt 248 Menschen – 140 auf nepalesischer und 108 auf tibetischer Seite. Bis Ende 2018 erhöhte sich die Anzahl der tödlich verunglückten Bergsteiger auf über 300. Häufige Todesursachen sind Abstürze, Erfrierung, Erschöpfung, Höhenkrankheit und Lawinen. Die meisten Bergsteiger verunglücken oberhalb von während des Abstiegs. Besteigungen ohne Flaschensauerstoff sind durchschnittlich nur halb so oft erfolgreich und mit einem doppelt so großen Todesrisiko behaftet wie Besteigungen mit Flaschensauerstoff. Von den Toten wurden bisher etwa nur ein Drittel geborgen. Rund 200 Leichen liegen oft eingeschneit oder in den Gletschern und Eisfeldern eingefroren entlang der Aufstiegsrouten. Da es teuer, aufwändig und gefährlich ist, Leichen zu bergen, werden die Toten daher nur geborgen, wenn sie die häufig genutzten Aufstiegsrouten versperren oder dies von den Familien gefordert wird. Einige Tote dienen hingegen sogar als Wegzeichen, wie etwa (bis 2014) der indische Bergsteiger „Green Boots“: Seine hellgrünen Stiefel signalisierten den Bergsteigern, dass sie bald den Gipfel erreichen würden. Der Everest-Chronist Alan Arnette erstellt regelmäßig Todesfall-Statistiken. Im Jahr 2018 schlüsselte er die 288 Todesfälle bis 2017 zusätzlich danach auf, ob sie sich auf einer der beiden Normalrouten (Südroute und Nordroute) oder auf anderen, schwierigeren Routen ereignet haben. Südroute und Nordroute unterscheiden sich laut der Statistik kaum in ihrem Risiko; die Nordroute erscheint etwas weniger gefährlich. Die Begeher anderer als der Normalrouten sind am meisten gefährdet: Auf diesen schwierigeren Routen ereigneten sich 80 Todesfälle (28 % aller Todesfälle) – obwohl auf ihnen nur 265 Gipfelerfolge von insgesamt 8306 erfolgreichen Besteigungen errungen wurden. Hierbei muss man berücksichtigen, dass die Zahlen derer, die erfolglos versuchen, auf den Gipfel zu kommen, ca. fünf- bis sechsmal höher sind als die Erfolge und niemand diese für eine Statistik erfasst. Wohl weit über 30.000 Menschen versuchten, auf den Gipfel des Everest zu kommen. Es kommen auch Menschen zu Tode am Everest, die niemals oben waren. Routen Am Everest gibt es bis heute insgesamt 20 Routen. Die beiden Standardrouten sind die Südroute und die Nordroute. Die weiteren Routen sind technisch deutlich schwieriger und zum größten Teil nur einmal begangen worden. Endpunkt aller Routen ist ein nur etwa zwei Quadratmeter großes Gipfelplateau. Die tibetische Nordroute ist im Vergleich zur nepalesischen Südroute mit etwa 40.000 US$ (Stand 2005) für den zahlenden Kunden um ein Drittel „preiswerter“, wenn man sich einer der zahlreichen geführten Expeditionen anschließt. Der Grund dafür sind logistische Vorteile (niedrigere Gebühren für die staatliche Genehmigung einer Expedition, Zahl der notwendigen Yaks und Träger, Zahl der Sauerstoffflaschen und weiteres). Die prozentuale Erfolgsquote der Nordroute ist jedoch aufgrund der sehr weiten Wege geringer als auf der Südroute. In jedem Fall muss man sich der Gefahren des geringen Luftdrucks (Sauerstoffmangel), plötzlicher Wetterumschwünge und heftiger, äußerst kalter Winde auf den Graten bewusst sein. Der Aufenthalt in der sogenannten „Todeszone“ oberhalb ist auf der Nordroute um ein bis zwei Tage länger; dementsprechend ist das Risiko, wegen widrigen Wetters oben festzusitzen oder gar unterwegs in Nebel oder Schneesturm zu geraten, auf der Nordseite höher. Südroute Die Südroute gilt als Standardroute und wurde auch bei der Erstbesteigung gewählt. Vom Basislager auf der nepalesischen Südseite auf etwa führt sie zunächst durch den Khumbu-Eisbruch (Khumbu Icefall): eine steile Passage, in der das Gletschereis aus dem Tal des Schweigens 600 Meter abfällt und in große Blöcke – sogenannte Séracs – zerbricht, die den Aufstieg sehr erschweren. Da sie aufgrund der Eisbewegung jederzeit umstürzen können, ist es nur zu kühlen Tageszeiten ratsam, sie zu durchklettern. Der Khumbu-Eisbruch wird jeweils zu Saisonbeginn von einem Team aus Sherpas mit Leitern und Fixseilen gesichert. Diese gesicherte Route wird von allen Expeditionen gemeinsam genutzt. Der weitere Verlauf der Route führt durch das Tal des Schweigens (Western Cwm, „kuum“ gesprochen, aus dem Walisischen). Das Western Cwm ist ein von Mount Everest, Lhotse und Nuptse eingeschlossenes Kar mit etwa 3 Kilometer Länge und das höchstgelegene Kar der Erde. Nach Durchquerung dieses Talkessels setzt sich der Weg über die vergletscherte westliche Lhotse-Flanke fort. Sie ist etwa 60 Grad steil und umfasst 1000 Höhenmeter. Im oberen Teil der Wand führt die Route über den Genfer Sporn zum zwischen Lhotse und Everest gelegenen Südsattel (South Col) auf etwa Höhe, wo fast alle Expeditionen das Hochlager für die Gipfeletappe einrichten. Es wurden allerdings auch schon noch höher gelegene Lager eingerichtet. Vom Südsattel aus führt der Weg den Grat des Everest hinauf bis zum Südgipfel etwa 100 Höhenmeter unterhalb des eigentlichen Gipfels, dann über das bis 2015 letzte große Hindernis, eine etwa zwölf Meter hohe, fast senkrechte Felskante, den Hillary Step. Nordroute Die Alternative zur Südroute ist die Nordroute von der tibetischen Seite aus. Sie beginnt im Rongpu-Tal mit einem Basislager in etwa Höhe und führt in einem Zweitagestrek mit Yak-Transport in das Tal des östlichen Rongpu-Gletschers, wo sich am Fuß der Nordsattel-Wand das vorgeschobene Basislager (ABC, advanced base camp) befindet. Dann geht die Tour den Steilhang hinauf auf den Nordsattel (North Col) mit etwa Höhe, von wo aus die ausgesetzten Gipfelgrate (Nordgrat und Nordostgrat) den weiteren Aufstieg über geringer geneigte Grate (im Vergleich zur steileren Südroute) ermöglichen. Ernsthaftes kräftezehrendes und klettertechnisches Hindernis ist hinter dem letzten Lager in etwa Höhe hoch auf dem oberen Grat die mittlere der drei Felsstufen (Second Step) mit einer Fußhöhe auf etwa . Der Second Step weist eine Kletterhöhe von etwa 40 Metern auf, die letzten fünf Meter sind fast senkrecht. Hier wurde von einer chinesischen Expedition im Jahr 1975 eine Leiter befestigt. Von dort führt die zumeist auf dem Grat verlaufende Route noch recht weit und auch über das bis zu 50 Grad steile Gipfelschneefeld. Bei seiner Alleinbegehung des Mount Everest umging Reinhold Messner den Second Step und wählte einen Weg durch das Norton-Couloir. Direttissime Zwei der drei Hauptwände wurden bereits in etwa direkter Falllinie zum Gipfel (Direttissima) begangen: 1975 die Südwestwand und 2004 die Nordwand. An der Ostwand (Kangshung-Wand) gibt es zwei erstiegene Routen, die jedoch nicht als Direttissime gezählt werden können. Die Ostwand- oder Kangshung-Direttissima ist somit bislang unbewältigt. Unternähme man diese, so müsste man in einer der – vom Fuß zum Gipfel gerechnet – höchsten Wände der Erde, einen weit mehr als 3500 Meter hohen, steilen und lawinengefährdeten Felsen durchsteigen. Luftfahrzeuge am Everest Am 3. April 1933 wurde der Mount Everest erstmals von einem Flugzeug überflogen, einer Westland PV-3 (Kennzeichen: G-ACAZ) und einer sie begleitenden Westland PV-6 (G-ACBR), beide ausgerüstet mit einem Bristol-Pegasus-Motor. Unter der Leitung von Douglas Douglas-Hamilton, Lord Clydesdale und späterer 14. Duke of Hamilton, wurden während des Fluges mit offenen Doppeldeckern wichtige Erkenntnisse über Flüge in großer Höhe gesammelt, die zur weiteren Entwicklung der Druckkabine beitrugen. Am 26. September 1988 flog der französische Alpinist Jean Marc Boivin als erster Mensch mit dem Gleitschirm vom Mount Everest. Das Paragliding steckte damals noch in seinen Kinderschuhen. Der Franzose Didier Delsalle landete am 14. und am 15. Mai 2005 als erster Mensch auf dem Gipfel des Mount Everest: mit einem speziell präparierten Hubschrauber vom Typ Eurocopter AS 350 B-3, mit „Hover Landings“, das heißt bei fast voller Motorleistung, nur eben aufgesetzt, um bei Gefahren oder Böen unmittelbar wieder starten zu können. Er stieg am Gipfel nicht aus und konnte dort auch keine Lasten aufnehmen. 2007 überflog Bear Grylls den Mount Everest mit einem Motorschirm. Am 27. Mai 2022 wurde über einen ersten bewilligten Paragleiterflug aus 7960 m Höhe berichtet. Der Südafrikaner Pierre Carter landete nach 20 Minuten Flug in einem Dorf, 6 km vom Basislager entfernt. Dokumentationen und Spielfilme (Auswahl) Wings Over Everest – Oscarprämierter Kurzfilm mit Aufnahmen des ersten Überfluges. 1934 Dokumentarfilm „Mount Everest“ über die Schweizer Expedition im Jahr 1952 National Geographic Video – Rückkehr zum Mount Everest. 1984. Robert Markowitz: In eisige Höhen – Sterben am Mount Everest. 1997 Reinhold Messner, Peter Habeler: Mount Everest – Todeszone. 2002. National Geographic – Einzigartiger Everest. 2003. Barny Revill: Everest – Spiel mit dem Tod. Discovery Channel, 2006–2007 Graeme Campbell: Everest – Wettlauf in den Tod. 2007 Victor Grandits: Mount Everest – Der Friedhof meiner Freunde. SWR, 2007. Erster auf dem Everest – Universum. ORF, 2010. Sherpas: Die wahren Helden am Everest, SF Jennifer Peedom: Sherpa – Trouble on Everest. 2015 Baltasar Kormákur: Everest. 2015 Literatur Anatoli Boukreev, G. Weston DeWalt: Der Gipfel – Tragödie am Mount Everest. Wilhelm Heyne Verlag, München 1998, ISBN 3-453-15052-X. David Breashears, Audrey Salkeld: Mallorys Geheimnis. Was geschah am Mount Everest? Steiger, München 2000, ISBN 3-89652-220-5. Jochen Hemmleb, Larry A. Johnson, Eric R. Simonson: Die Geister des Mount Everest. Die Suche nach Mallory und Irvine; der Bericht der Expedition, die George Mallory fand. Frederking & Thaler, München 2001, ISBN 3-89405-108-6. Jochen Hemmleb: Everest. Göttinmutter der Erde. AS Verlag & Buchkonzept, Zürich 2002, ISBN 3-905111-82-9. Sir Edmund Hillary: Wer wagt, gewinnt. Frederking & Thaler, München 2004 (2. Auflage), ISBN 3-89405-122-1. Peter Meier-Hüsing: Wo die Schneelöwen tanzen – Maurice Wilsons vergessene Everest-Besteigung. Piper, 2003, ISBN 3-89029-249-6. Jon Krakauer: In eisige Höhen. Das Drama am Mount Everest. Piper, 2000, ISBN 3-492-22970-0 (auch als Hörbuch auf 9 CDs, ISBN 978-3-86974-064-5) Reinhold Messner: Everest – Expedition zum Endpunkt. National Geographic Taschenbuch (März 2008), ISBN 3-89405-857-9. Reinhold Messner: Überlebt – Alle 14 Achttausender. 8. Auflage. BLV Verlagsgesellschaft, ISBN 3-405-15788-9. Reinhold Messner: Mount Everest: Gipfelsturm ohne Maske. In: Geo-Magazin. Nr. 7/1978, S. 26–48 („Reinhold Messners und Peter Habelers spektakuläre Everest-Besteigung“). Laxman Prasad Bhattarai (Chefred.): Mountaineering in Nepal – Facts & Figures. Government of Nepal, Ministry of Tourism & Civil Aviation, Tourism Industry Division, Kathmandu 2010, (PDF; 8 MB) S. 5–83 (englisch). Judy und Tashi Tenzing: Im Schatten des Everest. Die Geschichte der Sherpa. Frederking & Thaler, München 2003, S. 5–83; ISBN 3-89405-601-0. Stephen Venables: Everest: Die Geschichte seiner Erkundung. Frederking & Thaler, München 2007, ISBN 978-3-89405-544-8. Göran Kropp, David Lagercrantz: Allein auf dem Everest. Goldmann, München 1998, ISBN 3-442-15019-1. Woodrow Wilson Sayre: Vier gegen den Everest: Die Geschichte der neuesten Kleinexpedition über die Nordflanke. Albert Müller Verlag, Zürich 1965 Friedrich Otten: Der Kampf um den Riesen (Jugendbuch über die Erforschung des Mount Everest). Berlin 1924 Weblinks deutschsprachige Infoseite mit Trekkingrouten und Diashows Informationsportal über den Mt. Everest (englisch) QVTR-Panorama (Fullscreen) vom Mt. Everest National Geographic (englisch) Mount Everest bei himalaya-info.org Über den Mount Everest Dokumentarfilm „Mount Everest“ von Condor Films, Herstellungsjahr: 1952 Everest 3D Mount Everest Webcam (italienisch) Hochaufgelöstes Panorama von David Breashears Claire O’Neill: A 3.8 Billion-Pixel Tour Of Mount Everest. (NPR). Offizielle Liste der Mount Everest Besteiger (engl. Full List of Mount Everest Climbers) Liste der Mount Everest Bergsteiger mit Anzahl ihrer Besteigungen (englisch) DLR-Animation: Virtueller Gipfelsturm – Der Mount Everest in 3D 13. Mai 2011 Einzelnachweise Berg im Himalaya Mahalangur Himal Sagarmatha-Nationalpark Wikipedia:Artikel mit Video
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Platon
Platon (, latinisiert Plato; * 428/427 v. Chr. in Athen oder Aigina; † 348/347 v. Chr. in Athen) war ein antiker griechischer Philosoph. Er war Schüler des Sokrates, dessen Denken und Methode er in vielen seiner Werke schilderte. Die Vielseitigkeit seiner Begabungen und die Originalität seiner wegweisenden Leistungen als Denker und Schriftsteller machten Platon zu einer der bekanntesten und einflussreichsten Persönlichkeiten der Geistesgeschichte. In der Metaphysik und Erkenntnistheorie, in der Ethik, Anthropologie, Staatstheorie, Kosmologie, Kunsttheorie und Sprachphilosophie setzte er Maßstäbe auch für diejenigen, die ihm – wie sein bedeutendster Schüler Aristoteles – in zentralen Fragen widersprachen. Im literarischen Dialog, der den Verlauf einer gemeinsamen Untersuchung nachvollziehen lässt, sah er die allein angemessene Form der schriftlichen Darbietung philosophischen Bemühens um Wahrheit. Aus dieser Überzeugung verhalf er der noch jungen Literaturgattung des Dialogs zum Durchbruch und schuf damit eine Alternative zur Lehrschrift und zur Rhetorik als bekannten Darstellungs- und Überzeugungsmitteln. Dabei bezog er dichterische und mythische Motive sowie handwerkliche Zusammenhänge ein, um seine Gedankengänge auf spielerische, anschauliche Weise zu vermitteln. Zugleich wich er mit dieser Art der Darbietung seiner Auffassungen dogmatischen Festlegungen aus und ließ viele Fragen, die sich daraus ergaben, offen bzw. überließ deren Klärung den Lesern, die er zu eigenen Anstrengungen anregen wollte. Ein Kernthema ist für Platon die Frage, wie unzweifelhaft gesichertes Wissen erlangt und von bloßen Meinungen unterschieden werden kann. In den frühen Dialogen geht es ihm vor allem darum, anhand der sokratischen Methode aufzuzeigen, warum herkömmliche und gängige Vorstellungen über das Erstrebenswerte und das richtige Handeln unzulänglich oder unbrauchbar seien, wobei dem Leser ermöglicht werden soll, den Schritt vom vermeintlichen Wissen zum eingestandenen Nichtwissen nachzuvollziehen. In den Schriften seiner mittleren Schaffensperiode versucht er, mit seiner Ideenlehre eine zuverlässige Basis für echtes Wissen zu schaffen. Solches Wissen kann sich nach seiner Überzeugung nicht auf die stets wandelbaren Objekte der Sinneserfahrung beziehen, sondern nur auf unkörperliche, unveränderliche und ewige Gegebenheiten einer rein geistigen, der Sinneswahrnehmung unzugänglichen Welt, die „Ideen“, in denen er die Ur- und Vorbilder der Sinnendinge sieht. Der Seele, deren Unsterblichkeit er plausibel machen will, schreibt er Teilhabe an der Ideenwelt und damit einen Zugang zur dort existierenden absoluten Wahrheit zu. Wer sich durch philosophische Bemühungen dieser Wahrheit zuwendet und ein darauf ausgerichtetes Bildungsprogramm absolviert, kann seine wahre Bestimmung erkennen und damit Orientierung in zentralen Lebensfragen finden. Die Aufgabe des Staates sieht Platon darin, den Bürgern dafür optimale Voraussetzungen zu schaffen und Gerechtigkeit umzusetzen. Daher setzt er sich intensiv mit der Frage auseinander, wie die Verfassung eines Idealstaates diesem Ziel am besten dienen kann. In späteren Werken tritt die Ideenlehre teils in den Hintergrund, teils werden Probleme, die sich aus ihr ergeben, kritisch beleuchtet; im Bereich der Naturphilosophie und Kosmologie jedoch, dem sich Platon im Alter zuwendet, weist er den Ideen bei seiner Erklärung des Kosmos eine maßgebliche Rolle zu. Platon gründete die Platonische Akademie, die älteste institutionelle Philosophenschule Griechenlands, von der aus sich der Platonismus über die antike Welt verbreitete. Das geistige Erbe Platons beeinflusste zahlreiche jüdische, christliche und islamische Philosophen auf vielfältige Weise. Die Lehre seines Schülers Aristoteles, der Aristotelismus, entstand aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem Platonismus. In Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit wurde der Aristotelismus zum Ausgangspunkt für Konzepte, die teils mit platonischen konkurrierten, teils mit ihnen verschmolzen wurden. In der Moderne verwerteten insbesondere Denker der „Marburger Schule“ des Neukantianismus (Hermann Cohen, Paul Natorp) platonisches Gedankengut. Karl Popper griff Platons politische Philosophie an; sein Vorwurf, es handle sich um eine Form von Totalitarismus, löste im 20. Jahrhundert eine lang anhaltende Kontroverse aus. Leben Da die Platoniker Platon überschwänglich verehrten, wurden über sein Leben zahlreiche teils phantastische Anekdoten und Legenden verbreitet, die oft seiner Verherrlichung dienten. Es wurde sogar behauptet, er sei ein Sohn des Gottes Apollon, sein leiblicher Vater sei nur sein Stiefvater gewesen. Daneben gab es aber auch Geschichten, die seine Verspottung und Diffamierung bezweckten. Daher ist die historische Wahrheit schwer zu ermitteln. Eine Hauptquelle ist Platons Siebter Brief, der heute überwiegend für echt gehalten wird und auch im Fall seiner Unechtheit als wertvolle zeitgenössische Quelle anzusehen wäre. Herkunft Platon stammte aus einer vornehmen, wohlhabenden Familie Athens. Sein Vater Ariston betrachtete sich als Nachkomme des Kodros, eines mythischen Königs von Athen; jedenfalls war ein Vorfahre Aristons, Aristokles, schon 605/604 v. Chr. Archon gewesen, hatte also das höchste Staatsamt bekleidet. Unter den Ahnen von Platons Mutter Periktione war ein Freund und Verwandter des legendären athenischen Gesetzgebers Solon. Der Philosoph hatte zwei ältere Brüder, Adeimantos und Glaukon, die in der Politeia als Dialogteilnehmer auftreten, und eine ältere Schwester, Potone, deren Sohn Speusippos später Platons Nachfolger als Leiter der Akademie (Scholarch) wurde. Ariston verstarb schon früh; Periktione heiratete um 423 v. Chr. ihren Onkel mütterlicherseits Pyrilampes, einen angesehenen Athener, der zu Perikles’ Zeit als Gesandter tätig gewesen war. Pyrilampes hatte aus einer früheren Ehe einen Sohn, Demos, der Platons Stiefbruder wurde. Aus der Ehe zwischen Periktione und Pyrilampes ging Antiphon, ein jüngerer Halbbruder Platons, hervor. Während Platons Stiefvater demokratisch gesinnt war, gehörten zur Familie seiner Mutter Periktione mehrere prominente Politiker mit oligarchischer Haltung: Ihr Onkel Kallaischros gehörte 411 v. Chr. dem durch Putsch kurzzeitig an die Macht gekommenen Rat der Vierhundert an, ihr Vetter Kritias war Mitglied des oligarchischen Rats der Dreißig („Dreißig Tyrannen“), der 404/403 v. Chr. Athen regierte. Unter dessen Herrschaft wurde auch ihr Bruder Charmides in ein oligarchisches Gremium berufen und fiel im Kampf gegen die Demokraten. Kindheit und Jugend Laut der Chronik des Apollodoros wurde Platon 428 oder 427 v. Chr. geboren, zur Zeit der Attischen Seuche, nach der antiken Tradition am 7. Tag des Monats Thargelion (Mai/Juni), dem mythischen Geburtstag des Gottes Apollon. An diesem Tag feierten später – noch im 3. Jahrhundert n. Chr. – die Platoniker sein Geburtstagsfest. Schon im 3. Jahrhundert v. Chr. war eine Legende verbreitet, wonach „Platon“ ursprünglich nur ein Beiname war, den er in Anlehnung an das griechische Wort ( „breit“) erhielt, womit angeblich auf die Breite seiner Stirn oder seiner Brust angespielt wurde. Diese Behauptung wird von der Forschung als unglaubwürdig betrachtet. Auch eine Überlieferung, wonach Platon ursprünglich den Namen seines Großvaters Aristokles trug, ist eine im Rahmen dieser Legendenbildung entstandene Erfindung. Seine Kindheit und Jugend verbrachte Platon in der Zeit des Peloponnesischen Krieges (431–404 v. Chr.), der mit der Kapitulation seiner Heimatstadt endete. Als Sohn aus vornehmer Familie genoss er eine sorgfältige Erziehung. Es wird berichtet, dass er Unterricht in Sport, Grammatik, Malerei, Musik und Dichtung erhielt, seine poetischen Jugendwerke jedoch später verbrannte; diese Behauptungen wurden allerdings möglicherweise nachträglich aus seinen Dialogen abgeleitet. In seiner Jugend nahm Platon an den Isthmischen Spielen teil und war ein preisgekrönter Ringer. In die Philosophie führte ihn Kratylos ein, ein Anhänger Heraklits, nach dem Platon später seinen Dialog Kratylos benannte. Als Zwanzigjähriger begegnete er Sokrates, dem er sich als Schüler anschloss. Bis zu Sokrates’ Tod rund ein Jahrzehnt später blieb er bei ihm. Als Lehrer und als Vorbild prägte Sokrates die geistige Entwicklung Platons. Abwendung von der Politik und erste Reisen Als nach dem Kriegsende 404 in Athen die von den siegreichen Spartanern gestützte Terrorherrschaft der dreißig Oligarchen begann, zu denen Verwandte Platons gehörten, wurde er zur Beteiligung am politischen Leben eingeladen, lehnte jedoch ab, da er dieses Regime als verbrecherisch betrachtete. Die politischen Verhältnisse nach der Wiederherstellung der Attischen Demokratie im Jahre 403 missfielen ihm aber auch. Ein Wendepunkt in Platons Leben war die Hinrichtung des Sokrates im Jahre 399, die ihn tief erschütterte. Das staatliche Vorgehen gegen seinen Lehrer wertete er als einen Ausdruck moralischer Verkommenheit und als Beweis für einen prinzipiellen Mangel im politischen System. Er sah nun in Athen keinerlei Möglichkeit einer philosophisch verantwortbaren Teilnahme am politischen Leben mehr, entwickelte sich zu einem scharfen Zeitkritiker und forderte einen von Philosophen regierten Staat. Nach dem Tod des Sokrates begab sich Platon mit anderen Sokratikern für kurze Zeit nach Megara zu Euklid von Megara, der ebenfalls ein Schüler des Sokrates war. In seinen Dialogen Phaidon und Theaitetos ließ er später diesen Euklid als Sokrates’ Gesprächspartner auftreten. In der Folgezeit soll er eine große Bildungsreise unternommen haben, die ihn laut verschiedenen Quellen, deren Angaben zur Route allerdings widersprüchlich sind, nach Kyrene zu dem Mathematiker Theodoros von Kyrene, nach Ägypten und nach Süditalien führte. Die Einzelheiten und die Datierung sind in der Forschung umstritten; insbesondere wird bezweifelt, dass Platon jemals in Ägypten war. Einiges spricht dafür, dass der Aufenthalt in Ägypten erfunden wurde, um Platon mit ägyptischer Weisheitstradition in Verbindung zu bringen. Unklar ist, ob die Bildungsreise mit der ersten Sizilienreise verbunden war oder schon einige Jahre vorher stattfand. Erste Sizilienreise Um 388 unternahm Platon seine erste Sizilienreise. Zunächst fuhr er nach Unteritalien, wo im 5. Jahrhundert die Philosophengemeinschaft der Pythagoreer großen Einfluss erlangt hatte, dann aber in blutigen Unruhen stark geschwächt worden war. In Tarent traf Platon den damals prominentesten und politisch erfolgreichsten Pythagoreer, den Staatsmann und Mathematiker Archytas von Tarent, der sein Gastfreund wurde. Von Archytas erhoffte er sich vor allem mathematische Erkenntnisse. Zu den Philosophen, denen er in Unteritalien begegnete, soll auch Timaios von Lokroi gehört haben, den er später zum Hauptgesprächspartner seines Dialogs Timaios machte; die Historizität dieser Gestalt wird allerdings angezweifelt. Danach reiste Platon nach Syrakus, wo damals der Tyrann Dionysios I. herrschte. Die Berichte über diesen ersten Aufenthalt in Syrakus sind großenteils legendenhaft und umstritten. Da die Konfrontation eines aufrechten Philosophen mit einem tyrannischen Herrscher in der Antike ein beliebtes literarisches Motiv war, betrachtet die Forschung die überlieferten Einzelheiten von Platons Begegnung mit dem Tyrannen und seinem Bruch mit ihm skeptisch. Jedenfalls hatte Platon mit Dionysios Kontakt, und der Ausgang war für den Philosophen ungünstig; der Freimut Platons soll den Herrscher erzürnt haben. Enge Freundschaft schloss Platon jedoch mit Dionysios’ Schwager und Schwiegersohn Dion, der ein eifriger Platoniker wurde. Das Luxusleben in der Magna Graecia, den griechischen Städten auf italischem Boden, missfiel Platon. Laut Quellenberichten geriet Platon am Ende der Sizilienreise in Gefangenschaft und wurde als Sklave verkauft, kam aber bald wieder frei und konnte nach Athen zurückkehren. Ein Spartaner namens Pollis soll ihn im Auftrag des Dionysios auf dem Sklavenmarkt von Aigina verkauft haben, worauf der Käufer, ein gewisser Annikeris aus Kyrene, dem Philosophen aus Großmut und Wertschätzung die Freiheit schenkte. Sehr wahrscheinlich war aber Dionysios an der Episode nicht beteiligt; vielmehr wurde das Schiff, auf dem der Philosoph von Sizilien heimkehrte, von den Spartanern oder den Ägineten gekapert, die damals mit Athen im Krieg lagen. Neue Lesungen in einem Papyrus, Philodems Index Academicorum, legen nahe, dass ein womöglich historischer Verkauf in die Sklaverei auf Ägina gegen Ende des Peloponnesischen Krieges (405/04) erst später auf Dioynsios I. und die erste Sizilienreise übertragen wurde. Schulgründung und Lehrtätigkeit Nach seiner Rückkehr kaufte Platon um 387 v. Chr. bei dem Akadḗmeia () genannten Hain des attischen Heros Akademos (Hekademos) im Nordwesten von Athen ein Grundstück, wo er philosophisch-wissenschaftlichen Unterricht zu erteilen begann und seine Schüler zu Forschungen anregte. Dabei wurde er von Gastphilosophen und Gastwissenschaftlern sowie fortgeschrittenen Schülern, die Lehraufgaben übernahmen, unterstützt. Da im Laufe der Zeit der Name von dem Hain auf die Schule übertragen wurde, begannen sich die Schulmitglieder Akademiker ( Akademaikoí) zu nennen. So entstand die Akademie, die erste Philosophenschule Griechenlands. Einen Anstoß dazu gab wohl das Vorbild der Pythagoreergemeinschaft in Italien. Es bestand eine Rivalität mit Isokrates, einem Lehrer der Rhetorik, der kurz zuvor – um 390 – eine Schule der Beredsamkeit gegründet hatte; Platons Haltung zu den Bestrebungen des Isokrates war kritisch. Auf dem Grundstück der Akademie lebte und lehrte Platon in den folgenden zwei Jahrzehnten. Zweite Sizilienreise Trotz der schlechten Erfahrungen auf der ersten Sizilienreise ließ sich Platon nach dem Tod des 367 gestorbenen Tyrannen Dionysios I. zu einer weiteren Reise nach Syrakus bewegen. Nachdem er zunächst starke Bedenken gehegt hatte, machte er sich 366 v. Chr. auf den Weg. Er folgte einer Einladung, die der Sohn und Nachfolger des Tyrannen, Dionysios II., auf Veranlassung von Platons Freund Dion an ihn gerichtet hatte. Dion erstrebte für sich eine maßgebliche Stellung am Hof. Platon hoffte, im Zusammenwirken mit Dion seine politischen Vorstellungen durch Einflussnahme auf den jungen Herrscher zur Geltung bringen und erproben zu können, günstigstenfalls ein Staatswesen nach dem Ideal der Philosophenherrschaft einzurichten. Dion war optimistischer als der von Anfang an eher skeptische Platon. Es zeigte sich jedoch, dass Dionysios II. zu einer umfassenden Staatsreform nicht willens oder nicht in der Lage war; sein Hauptaugenmerk galt der Sicherung seiner stets bedrohten Herrschaft. Am Hof konnte sich nur durchsetzen, wer in den dortigen Intrigen und Machtkämpfen die Oberhand behielt. In den Auseinandersetzungen griff Dion zu konspirativen Mitteln, was (wohl im Spätsommer 366) zu seiner Verbannung führte; er begab sich nach Griechenland. Nach diesem Fehlschlag reiste auch Platon im Jahre 365 ab. Es wurde aber mit Dionysios vereinbart, dass beide nach einer Beruhigung der Lage zurückkehren sollten. Zwischen Dion und Dionysios bestand eine Rivalität um die Freundschaft Platons, und Dionysios war darüber enttäuscht, dass Platon Dion den Vorzug gab. Dritte Sizilienreise 361 v. Chr. reiste Platon zum dritten Mal – wiederum widerwillig und gedrängt – nach Sizilien. Archytas hatte ihn darum gebeten, in der Hoffnung, dass Platon einen günstigen Einfluss auf den Tyrannen ausüben werde, und Dionysios II., der die Anwesenheit des Philosophen wünschte, hatte Druck ausgeübt, indem er das Eintreffen Platons zur Bedingung für eine Begnadigung Dions machte. So entschloss sich Platon, zusammen mit seinen Schülern Speusippos und Xenokrates auf einem von Dionysios geschickten Schiff die Reise anzutreten. Das entscheidende Gespräch mit Dionysios verlief für Platon enttäuschend. Nach Platons Darstellung bildete sich Dionysios zu Unrecht ein, die philosophischen Lehren bereits zu verstehen, und zeigte keine Bereitschaft, sich der Disziplin echter Schülerschaft zu unterwerfen und ein philosophisches Leben zu führen. Außerdem hielt er die Zusage einer Rehabilitierung Dions nicht ein und beschlagnahmte sogar dessen großes Vermögen. In den Kreisen der Platoniker und der Anhänger Dions hatte sich die Überzeugung verbreitet, dass nur ein Sturz des Tyrannen eine Besserung der Lage bewirken könne. Speusippos nutzte seinen Aufenthalt in Syrakus zur Betätigung in diesem Sinne, was dem Tyrannen wohl nicht verborgen blieb. Durch die Parteinahme seiner Freunde und Anhänger für die Opposition geriet Platon in Verdacht und Bedrängnis, insbesondere als er sich für einen des Hochverrats verdächtigten Parteigänger Dions einsetzte. Söldner des Dionysios, die Interesse am Fortbestand der bestehenden Machtverhältnisse hatten, bedrohten ihn. Aus dieser lebensgefährlichen Lage rettete ihn Archytas, der von Tarent aus intervenierte und ihm im Sommer 360 die Heimkehr nach Athen ermöglichte. Umsturz in Syrakus Nach dem Scheitern von Platons Bemühungen beschloss Dion, mit seinen Anhängern zur Gewalt zu greifen. Dabei ermutigten und unterstützten ihn Mitglieder der Akademie, der er auch selbst angehörte. Platon hielt sich davon fern, da er weiterhin in einem Verhältnis der Gastfreundschaft zum Tyrannen stand, doch widersetzte er sich diesen Aktivitäten seiner Schüler nicht. 357 wagte Dion den Feldzug mit einer kleinen Streitmacht von Söldnern. Es gelang ihm bald nach seiner Landung auf Sizilien, Dionysios mit Hilfe von dessen zahlreichen Feinden in Syrakus zu stürzen und in der Stadt die Macht zu übernehmen. Ob bzw. inwieweit er tatsächlich eine platonische Staatsordnung einführen wollte, wovon Platon selbst bis zuletzt überzeugt war, ist umstritten. Jedenfalls versuchte er, die Verfassung umzugestalten, stieß dabei aber auf heftigen Widerstand und wurde verdächtigt, eine neue Tyrannenherrschaft errichten zu wollen. Dies führte nach mancherlei Wirren und Kämpfen 354 zu seiner Ermordung. Als Platon von Dions Tod erfuhr, dichtete er ein Epigramm, mit dem er dem geliebten Freund ein literarisches Denkmal setzte. An Dions Verwandte und Parteigänger in Sizilien richtete er den siebten Brief, in dem er sein Verhalten begründete und erläuterte. Alter und Tod Seine letzten Lebensjahre verbrachte Platon lehrend und forschend. In hohem Alter wandte er sich mit einem öffentlichen Vortrag Über das Gute an ein breites, nichtphilosophisches Publikum, bei dem er jedoch auf Verständnislosigkeit stieß. Er starb 348/347 v. Chr. und wurde auf dem Gelände der Akademie oder in dessen Nähe bestattet, laut Philochoros im Garten neben dem Museion. Sein Testament ist erhalten. Da er unverheiratet und kinderlos war, fiel sein Erbe an einen Neffen oder Großneffen, den Knaben Adeimantos. Zu seinem Nachfolger als Leiter der Akademie (Scholarch) wurde sein Neffe Speusippos gewählt. Werke Die dreibändige Gesamtausgabe von Platons Werken, die der Drucker Henri Estienne (latinisiert Henricus Stephanus) im Jahr 1578 in Genf veröffentlichte, war bis ins frühe 19. Jahrhundert die maßgebliche Edition. Nach der Seitennummerierung dieser Ausgabe (Stephanus-Paginierung) werden Platons Werke noch heute zitiert. Überlieferung und Echtheit Alle Werke Platons, die in der Antike bekannt waren, sind erhalten geblieben, abgesehen vom Vortrag Über das Gute, von dem es eine Nachschrift des Aristoteles gab, die verloren ist. Hinzu kommen Werke, die unter Platons Namen verbreitet waren, aber möglicherweise oder sicher unecht sind; auch sie gehören größtenteils zum Corpus Platonicum (der Gesamtheit der traditionell Platon zugeschriebenen Werke), obwohl ihre Unechtheit teils schon in der Antike erkannt wurde. Insgesamt sind 47 Titel von Werken bekannt, die Platon verfasst hat oder für die er als Autor in Anspruch genommen worden ist. Das Corpus Platonicum besteht aus den Dialogen (darunter das unvollendete Spätwerk Kritias), der Apologie des Sokrates, einer Sammlung von 13 Briefen sowie einer Sammlung von Definitionen, den Horoi. Außerhalb des Corpus überliefert sind eine Sammlung von Dihairesen, zwei weitere Briefe, 32 Epigramme und ein Gedichtfragment (7 Hexameter); mit Ausnahme eines Teils der Gedichte stammen diese Werke sicher nicht von Platon. Seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. beschäftigten sich Philologen der Alexandrinischen Schule mit den Werken Platons. Einer von ihnen, Aristophanes von Byzanz (3./2. Jahrhundert v. Chr.), ordnete die Schriften in Trilogien. Die verbreitetste antike Gruppierung ist jedoch diejenige in neun Tetralogien (Vierergruppen), also 36 Werke, nämlich 34 Dialoge, die Apologie und die Briefsammlung. Die Tetralogienordnung, deren Entstehungszeit umstritten ist, wurde nach inhaltlichen Gesichtspunkten durchgeführt; dabei ging es den antiken Platonikern hauptsächlich um die didaktisch-pädagogische Frage, in welcher Reihenfolge ein Schüler die Schriften lesen sollte. Der heutige, von der Mehrheit der Gelehrten akzeptierte Forschungsstand in der Echtheitsfrage der 36 Werke, aus denen die Tetralogien bestehen, ist folgender: Neben der Apologie sind 24 Dialoge sicher echt: Charmides, Euthydemos, Euthyphron, Gorgias, Ion, Kratylos, Kritias, Kriton, Laches, Lysis, Menexenos, Menon, Nomoi („Die Gesetze“), Parmenides, Phaidon, Phaidros, Philebos, Politeia („Der Staat“), Politikos („Der Staatsmann“), Protagoras, Sophistes („Der Sophist“), Symposion („Das Gastmahl“), Theaitetos, Timaios 5 sind umstritten (Dubia): Alkibiades I, Hippias maior („Großer Hippias“), Hippias minor („Kleiner Hippias“), Kleitophon, Theages 5 sind sicher unecht (Spuria): Alkibiades II, Epinomis, Anterastai (lateinisch Amatores), Hipparchos, Minos Von den Briefen sind alle außer dem Dritten, Sechsten, Siebten und Achten sicher unecht; der Siebte Brief wird überwiegend als echt akzeptiert, die drei übrigen sind umstritten. Neben den 34 Dialogen der Tetralogien enthält das traditionelle Corpus Platonicum noch weitere, die heute jedoch als „Anhang“ zum Corpus (Appendix Platonica) ausgesondert sind, da sie sicher unecht sind. Alle unechten Dialoge gehen anscheinend auf Mitglieder der Älteren und der Jüngeren Akademie zurück. Sie sind im Zeitraum zwischen dem 4. und dem 2. Jahrhundert v. Chr. entstanden. Manche wurden wohl schon früh in die Tetralogienordnung aufgenommen und verblieben trotz bereits bestehender Zweifel in ihr, wobei der Wunsch, am Schema von neun Tetralogien festzuhalten, eine Rolle gespielt haben dürfte. Heute betrachtet die Forschung die unechten Dialoge nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Fälschung, sondern sieht in ihnen Beispiele für eine Platons Stil und Argumentationsweise nachahmende Auseinandersetzung mit von ihm aufgeworfenen Problemen. Außerdem wird in neueren Untersuchungen nicht mehr an einer strikten Trennung von echten und unechten Schriften festgehalten; vielmehr wird die Möglichkeit aufgezeigt, dass es sich bei manchen zweifelhaften und unechten Dialogen um Entwürfe Platons bzw. Ausarbeitungen solcher Entwürfe durch seine Schüler oder spätere Platoniker handelt. Auch bei den sicher authentischen Dialogen, besonders den späten, rechnet man mit Überarbeitung durch Mitglieder der Akademie. Es ist auch bezeugt, dass Platon selbst seine Werke beständig fortentwickelt hat. Die Textüberlieferung basiert in erster Linie auf den zahlreichen mittelalterlichen Handschriften, die sich letztlich auf zwei antike Abschriften zurückführen lassen. Der Vergleich der handschriftlichen Überlieferung mit den vielen teils umfangreichen Platonzitaten in antiker Literatur zeigt, dass der vorliegende Textbestand weitgehend einheitlich und zuverlässig ist. Die handschriftliche Überlieferung setzt im späten 9. Jahrhundert ein. Der Patriarch von Konstantinopel Photios I., ein führender Gelehrter des 9. Jahrhunderts, ließ eine Sammlung aller unter Platons Namen überlieferten Werke in zwei Codices anfertigen. Diese beiden Bände sind heute verloren, doch der Text des Patriarchen war die Basis späterer, teils prachtvoller Abschriften, die einen Großteil der heute vorliegenden Textüberlieferung ausmachen. Eine weitere Sammelhandschrift von Platons Schriften entstand im Auftrag von Arethas, einem Schüler des Photios. 1423 brachte der Humanist Giovanni Aurispa eine vollständige Sammlung von Platons Werken aus Konstantinopel nach Italien. Eine Ergänzung zu den mittelalterlichen Textzeugen bilden die vielen antiken Papyri, die allerdings nur Textfragmente enthalten. Der älteste Papyrus stammt aus dem späten 4. oder frühen 3. Jahrhundert v. Chr. Chronologie Eine absolute Datierung der einzelnen Werke ist sehr schwierig, da sie kaum Hinweise auf historische Ereignisse ihrer Abfassungszeit bieten und die Handlung der Dialoge in der Regel in die Lebenszeit des Sokrates gesetzt ist, also in die Zeit vor dem eigentlichen Beginn von Platons schriftstellerischer Tätigkeit. In manchen Fällen kann zumindest der Zeitraum der Entstehung eingegrenzt werden, etwa dank Anspielungen auf Datierbares oder auch durch das Einsetzen der Rezeption. Die relative Datierung der Schriften innerhalb des Gesamtwerks wird in der Forschung seit dem späten 18. Jahrhundert intensiv diskutiert, da die Ermittlung der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung Voraussetzung für alle Hypothesen über die Entwicklung von Platons Denken ist. Eindeutige interne Kriterien sind Querverweise in den Dialogen, die aber nur vereinzelt vorkommen. Externe (historische) Kriterien sind Hinweise auf datierbare Ereignisse, die sich aber teilweise nicht eindeutig zuordnen lassen. Die Argumentation basiert daher hauptsächlich auf philologischen Beobachtungen und auf Überlegungen zu einer stimmigen philosophischen Entwicklung. Dabei geht es unter anderem um Hypothesen, wonach ein Dialog auf einem anderen aufbaut und die Kenntnis der dort entwickelten Gedankengänge voraussetzt. Die wichtigsten Kriterien sind aber nicht inhaltlicher, sondern sprachlicher Art. Hierbei relevante sprachliche Merkmale ergeben sich zum einen aus einer allgemeinen Stilanalyse, die allerdings wegen ihres subjektiven Charakters und wegen Platons großer Variationsbreite in der Stilkunst kaum zwingende Folgerungen gestattet; zum anderen geht es um die Detailergebnisse der Anwendung sprachstatistischer Methoden, die bereits 1867 begann. Grundlage der Sprachstatistik ist die Beobachtung, dass das Vorkommen und die Häufigkeit der Verwendung einzelner Wörter oder auch Partikelkombinationen für einzelne Schaffensphasen eines Autors charakteristisch sein können. Anhaltspunkte solcher Art ergeben sich außerdem aus der Satzrhythmik und aus Hiaten. Die Kombination dieser Ansätze hat eine grobe Dreiteilung in frühe, mittlere und späte Werke ermöglicht, die sich – mit einigen Schwankungen – als herrschende Lehrmeinung etabliert hat. Allerdings wird diesem Schema hinsichtlich einzelner Werke immer wieder widersprochen und die Solidität seiner Basis bestritten. Eine Reihe von Grenzfällen ist weiterhin ungeklärt. Hinzu kommt, dass für diejenigen Platonforscher, die den Aspekt der wiederholten Überarbeitung mancher Dialoge betonen, die Ergebnisse der sprachstatistischen Untersuchungen kaum Gewicht haben. Außerdem bleibt die Reihenfolge innerhalb der drei Gruppen zu einem erheblichen Teil unsicher oder gänzlich unklar. Nach der heute vorherrschenden Auffassung ist aufgrund der stilistischen Analyse folgende Gruppierung relativ plausibel (mit alphabetischer Reihenfolge innerhalb der Gruppen): Bei der Betrachtung nach inhaltlichen Gesichtspunkten ergibt sich ein ähnliches Bild, doch scheinen dann Kratylos, Phaidon und Symposion eher der Mittelgruppe als den Frühwerken anzugehören, während Parmenides und Theaitetos, die stilistisch noch zur Mittelgruppe gerechnet werden, inhaltlich gesehen bereits zum Spätwerk gehören. Darin liegt kein Widerspruch zu den Ergebnissen der Stilanalyse, da die Phasen einer philosophischen Entwicklung nicht genau denen der stilistischen entsprechen müssen. Terminologisch kann aber aus den unterschiedlichen Kriterien der Periodisierung Verwirrung resultieren. Literarische Form Das Dialogprinzip Alle Werke Platons mit Ausnahme der Briefe und der Apologie sind nicht – wie damals das meiste philosophische Schrifttum – als Lehrgedichte oder Traktate, sondern in Dialogform geschrieben; auch die Apologie enthält vereinzelt dialogische Passagen. Dabei lässt Platon eine Hauptfigur, meist Sokrates, mit unterschiedlichen Gesprächspartnern philosophische Debatten führen, die von Einschüben wie indirekten Berichten, Exkursen oder mythologischen Partien abgelöst und ergänzt sowie mit ihnen verwoben werden; lange monologische Reden kommen darin ebenfalls vor. Auch andere Sokrates-Schüler wie Xenophon, Aischines, Antisthenes, Euklid von Megara und Phaidon von Elis verfassten Werke in der Form des sokratischen Dialogs ( ), doch Platon erlangte auf diesem Gebiet eine so überragende Bedeutung, dass die Antike ihn (wenn auch nicht einhellig) als Erfinder dieser damals noch jungen literarischen Gattung betrachtete. Er verhalf dem sokratischen Dialog zum Durchbruch und zugleich zur Vollendung. Die Dialogform unterscheidet sich von anderen Textformen deutlich: Sie spricht den Leser durch die künstlerische Ausführung an. Sie befreit von der Erwartung systematischer Vollständigkeit; Ungeklärtes darf offenbleiben. Sie bildet einen Prozess der Erkenntnisgewinnung ab, der auch zur Revision von Positionen führt, und regt damit stärker als eine Lehrschrift zum aktiven Mitdenken an. Der Autor nimmt nicht zu den vorgetragenen Thesen Stellung; er tritt hinter seine Figuren zurück und überlässt die Urteilsbildung dem Leser. Das Denken stellt sich der argumentativen Kontrolle durch die Gesprächspartner. Eine starre Terminologie, wie Platon sie generell scheut, kann vermieden werden. Ort und Zeit der Dialoge sind oft genau angegeben; so bilden etwa der Besuch beim inhaftierten Sokrates (Kriton), das Haus eines reichen Atheners (Politeia), ein Gastmahl (Symposion), ein Spaziergang außerhalb Athens (Phaidros) oder die Wanderung zu einem Heiligtum (Nomoi) das konkrete Umfeld. Die realitätsnahe Rahmengebung erweckt den Eindruck einer historischen Begebenheit und vermittelt Authentizität. Es handelt sich allerdings nicht um authentische Gesprächsprotokolle, sondern um literarische Fiktionen. Häufig werden auch Quellen der Überlieferungen, Berichte oder Mythen, welche in die Dialoge eingeflochten sind, präzise beschrieben und beglaubigt, beispielsweise beim Atlantis-Mythos im Timaios und im Kritias. Der aus Platons Perspektive gezeichnete Sokrates, in dessen Gestalt sich historische und idealisierte Züge mischen, steht im Zentrum der weitaus meisten Dialoge. Eine Abgrenzung zwischen Platons eigener Philosophie und der des historischen Sokrates, der sich nur mündlich geäußert hat, ist unter diesen Umständen schwierig; sie gehört seit langem zu den wichtigsten und umstrittensten Themen der Forschung. Oft werden die frühen aporetischen Dialoge als relativ wirklichkeitsgetreue Wiedergaben der Ansichten des historischen Sokrates angesehen und daher zur Gewinnung eines Bildes von der originären sokratischen Philosophie genutzt. Am besten eignet sich zu diesem Zweck wohl die Apologie. Spätestens in den mittleren Dialogen, in denen die Ideenlehre in den Vordergrund tritt, gewinnt Platons eigenes Denken an Gewicht. Manche Forscher setzten in der angenommenen Entwicklung vom sokratischen zum originär platonischen Philosophieren eine Übergangsphase an, der sie unter anderem Euthydemos, Hippias maior, Lysis, Menexenos und Menon zurechnen. Platon selbst bleibt in seinen Werken stets im Hintergrund; lediglich in der Apologie und im Phaidon fällt sein Name am Rande. Der platonische Sokrates dominiert den Dialog. Er bestimmt den Gesprächsverlauf, indem er ihm die entscheidenden Impulse gibt, und er verhilft seinen Partnern auf maieutische Weise zu Einsichten und Erkenntnissen. Er widerlegt die Meinungen anderer; damit kontrastiert der Umstand, dass seine eigenen Äußerungen sich stets als unangreifbar erweisen. Meist sind sich die Gesprächspartner zunächst ihrer Sache sicher, werden dann aber von Sokrates auf Mängel in ihren Gedankengängen oder in ihren ungeprüften Vorannahmen aufmerksam gemacht, bis sie die Fehlerhaftigkeit ihrer bisherigen Meinungen einsehen. Großenteils handelt es sich bei den Dialogpartnern um individuell gezeichnete Figuren, für die historische Vorlagen nachweisbar sind. In den frühen Dialogen sind es meist Personen, die eine direkte oder indirekte Verbindung zum jeweiligen Thema erkennen lassen, beispielsweise Priester, Dichter, Staatsmänner, militärische Kommandeure, Erzieher oder Redner, denen der Leser aufgrund ihres Berufes Kompetenz auf dem betreffenden Gebiet zutraut. Erst in den Spätwerken weisen die Dialogteilnehmer oftmals einen spezifisch philosophischen Hintergrund auf, wie ihre einschlägigen Vorkenntnisse zeigen. Die Dialogform ermöglicht es Platon, die sprachliche Gestaltung der freien Rede gelegentlich bestimmten bekannten Eigentümlichkeiten seiner Protagonisten anzugleichen. Die Zahl der Diskutierenden schwankt zwischen zwei und vier. Sokrates entwickelt seinen Gedankengang in der Auseinandersetzung mit seinen bewusst gewählten Gesprächspartnern, wobei er sich ihnen immer nur nacheinander zuwendet. Mit einem Wechsel des Gesprächspartners geht häufig eine abrupte Veränderung des Niveaus der Debatte einher. Solche Wechsel treten auch ein, wenn der dominierende Gesprächspartner auf nicht anwesende Personen ausweicht, indem er vom Verlauf eines früheren Dialogs mit anderen Personen berichtet, wie etwa im Fall der Rede der Diotima über den Eros im Symposion. Ziel des Dialogs ist die Übereinstimmung ( ) der Gesprächspartner im Ergebnis der Erörterung. Je nach Art des Themas und Kompetenz der Teilnehmer führt der Dialog zu einer für alle zufriedenstellenden Lösung oder auch in eine ausweglose Argumentationssituation (Aporie, „Ratlosigkeit“). Wenn etwas geklärt werden müsste, aber in der aktuellen Gesprächskonstellation eine Überforderung wäre, überträgt Platon diese Aufgabe bewusst der Auseinandersetzung mit einem anderen Gesprächspartner. Die Dialoge stellen äußerst unterschiedliche Anforderungen an die intellektuellen Fähigkeiten der Leser. Daher ist nicht klar, welches Zielpublikum Platon gewöhnlich im Auge hatte. Wahrscheinlich ist, dass sich seine Dialoge teils primär als werbende (protreptische) Schriften an eine breitere Leserschaft wandten, während anspruchsvolle Werke wie der Timaios in erster Linie für philosophisch Vorgebildete und Schüler der Akademie bestimmt waren. Jedenfalls wollte Platon auf die gebildete Öffentlichkeit einwirken, um Außenstehende für die Philosophie zu gewinnen und auch um seine politischen Überzeugungen zu verbreiten. Allerdings sah er auch die Gefahr von Missverständnissen, wenn seine Schriften in die Hände von Lesern gelangten, die unfähig waren, sie ohne weitere Hilfen zu erschließen. Es ist davon auszugehen, dass es sich beim zeitgenössischen Publikum sowohl um Leser als auch um Hörer handelte, und dass dem Vorlesen und Diskutieren ein hoher Stellenwert zukam. Die Dialoge, die auch Parallelen zum griechischen Drama zeigen und stellenweise Tragödienzitate aufweisen, wurden in der Antike bisweilen wie Dramen aufgeführt oder rezitiert. Merkmale der Dialoggruppen Frühwerke Platons frühe Werke stellen in plastischer Anschaulichkeit und dramatischer Lebendigkeit Personen und deren Meinungen dar. In einer Reihe von Dialogen dieser Phase geht es um die Suche nach Antworten auf die für Sokrates wichtigsten und drängendsten Fragen; gefragt wird etwa nach dem Wesen der Frömmigkeit (Euthyphron), der Tapferkeit (Laches), der Besonnenheit (Charmides), der Tugend (Hippias minor) sowie der Freundschaft und Liebe (Lysis). Vor allem von vermeintlichen Experten erwartet Sokrates diesbezüglich stichhaltige Antworten, doch zeigt sich bei eingehender Befragung, dass sie keine befriedigenden Auskünfte zu bieten haben. In einigen Dialogen bleibt die anfangs gestellte Aufgabe ungelöst; sie werden als aporetische Definitionsdialoge bezeichnet. Die Aporie bedeutet aber nicht, dass Platon von der Unlösbarkeit des Problems überzeugt war, sondern kann auch darauf zurückzuführen sein, dass der Dialogpartner für die Erarbeitung einer Lösung unzureichend qualifiziert war. Als Debattierer treten oft unerfahrene, aber wissbegierige Jünglinge auf. Eine Dialoggruppe dieser Phase hat die scharfe Auseinandersetzung mit bekannten Sophisten wie Gorgias von Leontinoi oder Protagoras zum Thema, deren Haltung zur Ethik und zur Pädagogik der platonische Sokrates energisch entgegentritt. Unter dem bei ihm abwertend gemeinten Begriff „Sophisten“ fasst Platon unterschiedliche Denker zusammen, die als Lehrer umherzogen und gegen Entgelt unterrichteten, ansonsten aber wenig gemeinsam hatten. Bei ihm erscheint der typische Sophist als Inbegriff eines Vermittlers von wertlosem Scheinwissen. Platons polemische Darstellung bietet kein zuverlässiges Bild der Persönlichkeiten und Lehren der historischen Sophisten. Eine andere Gruppe von Dialogen spielt szenisch und zeitlich im Umfeld der Verurteilung des Sokrates. Die Grundmethode, die Sokrates in diesen Dialogen anwendet, ist die Widerlegung ( „Untersuchung“, „Prüfung“) der ursprünglichen Ansichten seiner Gesprächspartner, die sich als naiv und unreflektiert erweisen. Durch solche Befreiung von Scheinwissen tritt der Mangel an echtem Wissen zutage. Dabei legt Sokrates didaktisch Wert darauf, dass der Gesprächspartner durch eigene Anstrengungen im Verlauf der geistigen Auseinandersetzung Wissen erwirbt. Diese Kunst der Gesprächsführung vergleicht Sokrates selbst mit der „Hebammenkunst“ seiner Mutter ( , daher Maieutik). Gemeinsam wird eine Definition der Begriffe gewonnen. Dem folgt die Suche nach Gründen für die Wahrheit bestimmter Überzeugungen. Sokrates prägt durch seine Persönlichkeit und seine Ironie die ganze Diskussion. Durch seine Fragestellungen lenkt er den Gesprächspartner in die gewünschte Richtung. Das Ziel der philosophischen Bemühungen ist es, sich der Wahrheit zu nähern und damit Orientierung für das Leben zu gewinnen, indem man erkennt, worin die rechte Lebensweise besteht und wie sie begründet ist. Bei dieser Wahrheitssuche grenzt sich Platon von „sophistischer“ und „rhetorischer“ Streitkunst ab, die er vehement ablehnt, da sie nicht auf Erkenntnis ausgerichtet sei, sondern sich damit begnüge, Kniffe zur Verfügung zu stellen, um einer Auffassung unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt zum Sieg zu verhelfen. Mittlere und späte Werke Die Dialoge, die nach inhaltlichen Kriterien zur Mittelgruppe zusammengefasst werden, unterscheiden sich deutlich von den Frühwerken. Sie gelten als Platons literarische Meisterwerke. Zwar stehen auch in dieser Phase oftmals Definitionsfragen im Zentrum der Erörterung, doch führt die Untersuchung nicht mehr in aporetische Situationen. Stattdessen wird die nun eingeführte Ideenlehre zumeist als bekannte, einsichtige und daher keiner ausführlichen Begründung mehr bedürftige Grundlage des Gespräches vorausgesetzt. Während in den Frühwerken vorwiegend ethische Fragen debattiert wurden, geht es im mittleren Werk um ein breiteres Spektrum philosophischer Probleme, darunter Themen wie Tod und Unsterblichkeit der Seele (Phaidon), der ideale Staat (Politeia), Liebe (Phaidros) und erotische Anziehung (Symposion), Sprachphilosophie (Kratylos) und das Schöne (Hippias maior). Auch in späten Werken wird die Ideenlehre erprobt, so etwa in der Auseinandersetzung mit den Fragen nach dem Sein (Parmenides und Sophistes) und dem Wissen (Theaitetos) und Problemen der Naturphilosophie (Timaios). Die Ideenlehre bildet aber nicht wie in den mittleren Dialogen die Grundlage der Argumentation. Ein anderer Themenschwerpunkt der Spätwerke ist die politische Philosophie (Politikos und Nomoi). Häufig greifen die Spätwerke auf bereits erarbeitete Einsichten zurück oder modifizieren die Thesen früherer Werke erheblich. Auch in der literarischen Gestaltung ist eine Entwicklung von der mittleren zur späten Periode hin feststellbar. Schon in einigen mittleren und dann besonders in den späten Dialogen tritt die Figur des bisher dominierenden Protagonisten Sokrates etwas zurück, und umfangreiche Monologe, die auch von anderen Personen gehalten werden (wie etwa im Timaios), nehmen zu. Das mythische Element In die Dialoge sind eine Reihe von Mythen eingebaut, darunter der Atlantis-Mythos im Timaios und Kritias, die Mythen von den Kugelmenschen und der Geburt des Eros im Symposion, die Mythen von Gyges, Er und den Autochthonen in der Politeia, die Mythen vom Seelengespann und von Theuth im Phaidros, der Mythos vom Goldenen Zeitalter im Politikos, der Welterschaffungsmythos im Timaios und mehrere Jenseitsmythen. Platon bietet seine Mythen in erzählerisch gestalteten Monologen dar, welche meist zu Beginn oder am Ende eines Gespräches eingeflochten sind. Typisch für diese Mythen ist, dass sie nicht nachprüfbare Behauptungen aufstellen. Manchmal kommen göttliche Figuren als Akteure ins Spiel, oder es ist von ferner Vergangenheit die Rede. In manchen Passagen verwendet Platon Metaphern und bildhafte Gleichnisse. Stets geht es darum, den Gehalt theoretischer Aussagen anschaulich zu machen, ihn allegorisch auf eine konkret wirkende Ebene zu übertragen und ihm zusätzliche Überzeugungskraft zu verschaffen. So sollen Platons Mythen etwa den Zustand der Welt (Politikos), ihre Entstehung (Timaios), menschliche Fähigkeiten (Theuth-Mythos), das Wesen der Seele (Phaidros) oder ihr Fortleben im Jenseits (Phaidon) illustrieren. Mit seinen mythologischen Exkursen greift Platon in vielen Fällen auf bestehende Traditionen sowie religiöse und philosophische Vorstellungen zurück, die in der Sophistik, der Orphik oder dem Pythagoreismus gängig waren und die er abwandelt, um sie in den Dienst seiner Absichten zu stellen und seinen Überzeugungen anzupassen. Generell lassen sich Mythen, die Platon Sokrates vortragen lässt, von solchen unterscheiden, die andere Dialogteilnehmer erzählen. Unter den Mythen, die nicht Sokrates in den Mund gelegt werden, finden sich neben Berichten, die bestimmten Quellen zugeschrieben werden, auch solche, die ohne Hinweis auf eine Quelle Glauben beanspruchen, und aitiologische Sagen, die erklären sollen, wie etwas zustande gekommen ist. So trägt der Sophist Protagoras im gleichnamigen Dialog den Mythos des Prometheus über die Entstehung der Kultur vor, um seine Behauptung zu untermauern, dass Tugend (aretḗ) nach der Art der Sophisten gelehrt werden könne. Ähnlich will der Komödiendichter Aristophanes im Symposion mit dem Mythos der Kugelmenschen veranschaulichen, dass Erotik als Streben nach Wiederherstellung einer ursprünglichen Einheit und Ganzheit zu deuten sei. Der bekannteste und umstrittenste platonische Mythos ist der von Atlantis, den Platon Kritias mit Berufung auf eine Tradition von Zeugen und angeblichen schriftlichen Belegen im nach ihm benannten Dialog und im Timaios erzählen lässt. In diesen Dialogen schildert Platon die mächtige Seemacht Atlantis, die einst im Krieg der mit idealen Zügen ausgestatteten Landmacht Ur-Athen unterlag und schließlich im Meer versank. Dieser Mythos wird meist als Illustration der behaupteten Überlegenheit des platonischen Idealstaates der Politeia aufgefasst. Religiös-erbaulichen Zwecken dienen Platons Jenseitsmythen, in denen er Sokrates das Schicksal der unsterblichen Seele nach dem Tod beschreiben lässt. Die Bedeutung des Wortes Mythos variiert bei Platon erheblich. Oft scheint es einen Gegensatz zum Begriff Logos auszudrücken, der in der Philosophie eine auf Begründungen gestützte Aussage bezeichnet. Mythos und Logos können aber auch miteinander verwoben sein, und häufig gibt Platon einen Mythos als Logos und damit als in der Realität fundiert aus; vielfach betont er den Wahrheitsgehalt des Erzählten. Es kommen Mythen vor, bei denen sich die Erzähler auf Quellen berufen, für die sie einen Glaubwürdigkeitsanspruch erheben, wie etwa der Mythos des Er in der Politeia. Anderenorts schreibt Platon von einer Mischung aus Wahrem und Falschem im Mythos und bezeichnet Mythen als Geschichten für Kinder. In den Dialogen grenzt er mancherorts den Mythos vom Logos scharf ab, doch an anderer Stelle überlässt sein Sokrates die Entscheidung, ob eine Erzählung als Mythos oder Logos einzuschätzen ist, dem Urteil der Gesprächspartner. In der Platonforschung sind daher unterschiedliche Interpretationen der Stellung des Mythos zum Logos vorgeschlagen worden. Manche Gelehrte sehen im Mythos eine dem Logos untergeordnete Form. Andere nehmen an, dass Mythos und Logos als gleichermaßen legitime Zugänge zur Wahrheit präsentiert werden. Demnach fasst Platon den Mythos nicht im Sinne eines Gegensatzes zum Logos auf; vielmehr handelt es sich um zwei komplementäre Annäherungen an die Wirklichkeit, zwei verschiedenartige Wege zum Verständnis der Welt, von denen der eine mit Vernunftgründen abgesichert ist, während der andere Aspekte vor Augen stellt, die auf rationalem Weg schwer begreiflich zu machen sind. Je nach dem Verständnis ihres Sinnes und Zwecks sind die Mythen seit der Antike hinsichtlich ihres literarischen und philosophischen Werts sehr unterschiedlich beurteilt worden. Philosophie Ideenlehre Die Einführung der Ideenlehre wird häufig als die Trennlinie zwischen sokratischer und platonischer Philosophie gesehen. In den frühen aporetischen Definitionsdialogen beschäftigt sich der Sokrates Platons primär mit ethischen Themen. Er fragt danach, welche Eigenschaften eine bestimmte Tugend wie Gerechtigkeit oder Tapferkeit ausmachen oder durch welche Merkmale das Gute gekennzeichnet ist. Jedoch bleiben die dort erwogenen Definitionen für ihn ungenügend, weil sie entweder zu eng oder zu allgemein gefasst sind und daher keine präzise Bestimmung des Inhalts des jeweils zu definierenden Begriffs ermöglichen. Dagegen befasst sich Platon in den mittleren Dialogen mit dem Wesen einer Tugend oder eines beliebigen Objekts, ohne sich auf die Suche nach Definitionsmerkmalen zu beschränken. Ein Mensch mag zwar als gerecht bezeichnet werden, jedoch ist er nicht an und für sich gerecht; ein Gegenstand kann schön genannt werden, aber er ist niemals der Inbegriff des rein Schönen. Alle Dinge, denen aufgrund von Urteilen, die in Sinneserfahrungen gründen, eine bestimmte Eigenschaft – etwa „schön“ – zugeschrieben wird, haben in höherem oder geringerem Maß Anteil an deren an sich gedachtem Prinzip, an einer Idee ( ), etwa dem „Schönen an sich“. Ideen als transzendente Objekte Die platonische Idee ist – im Unterschied zum modernen Begriff „Idee“ – kein mentales Erzeugnis, kein Einfall oder Gedanke. Platon geht davon aus, dass die Welt, wie sie vom Menschen sinnlich wahrgenommen wird, einem der sinnlichen Wahrnehmung entzogenen, jedoch realen und eigenständig existierenden Reich der Ideen nachgeordnet ist, welches nur auf geistigem Weg erkannt werden kann. Die Idee ist für Platon das wahre Seiende, ihr Sein ist das Sein im eigentlichen Sinne. Den sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen hingegen kommt nur ein bedingtes und damit unvollkommenes Sein zu. Zur Idee gelangt, wer von den unwesentlichen Besonderheiten des einzelnen Phänomens abstrahiert und seine Aufmerksamkeit auf das Allgemeine richtet, das den Einzeldingen zugrunde liegt und gemeinsam ist. So beschreibt er im Symposion, wie man von der sinnlichen Wahrnehmung eines schönen Körpers zur Schönheit der Seele, der Sitten und der intellektuellen Erkenntnisse und schließlich zu dem „seiner Natur nach Schönen“, also der Idee des Schönen gelangen kann. Hierbei handelt es sich um den Inbegriff dessen, was schön ist, denn nur die Idee des Schönen ist unbeeinträchtigt durch unschöne Anteile. Ebenso ist die Idee der Gerechtigkeit frei von den ungerechten Aspekten, die jeder ihrer Manifestationen in der physischen Welt anhaften. Eigenschaften und Bedeutung der Ideen Die Ideen als eigentliche Wirklichkeit sind absolute, zeitunabhängig bestehende Urbilder. Da sie nicht dem Entstehen, dem Wandel und dem Vergehen unterliegen, sind sie von göttlicher Qualität. Einem Einzelding kommt Schönheit immer nur in begrenztem Grade zu, so dass schöne Dinge hinsichtlich des Ausmaßes ihrer Schönheit vergleichbar sind. Die Idee des Schönen hingegen ist solchem Mehr oder Weniger entzogen, denn das Schöne als Idee ist absolut (ohne Abstufung oder Einschränkung) schön. Da Ideen in höherem Maße wirklich sind als die sinnlich wahrnehmbaren Einzelgegenstände, kommt ihnen ontologisch (in der Lehre von der Hierarchie der seienden Dinge) ein höherer Rang zu als den Sinnesobjekten. Die Ideen machen das eigentliche Wesen der Eigenschaften aus und verleihen den Dingen deren Form. Als nicht wandelbare Entität sind sie der Gegenstand, auf den sich Denken und Erkenntnis richten, denn allein von Unveränderlichem kann es Wissen geben, von stets mangelhaften und in Veränderung begriffenen Sinnesdingen nicht. Die Objekte, die der Mensch wahrnimmt, verdanken ihr Sein dem objektiven Sein der jeweiligen Idee und ihre jeweilige besondere Beschaffenheit den verschiedenen Ideen, an denen sie Anteil haben. Der seinsmäßigen (ontologischen) Höherrangigkeit der Ideen entspricht eine erkenntnismäßige (epistemische). Alles Wissen über sinnlich Erfahrbares setzt ein richtiges Verständnis der jeweils zugrunde liegenden Idee voraus. Diese platonische Vorstellung ist somit der Auffassung entgegengesetzt, dass die Einzeldinge die gesamte Wirklichkeit ausmachen und hinter den Allgemeinbegriffen nichts steht als ein menschliches Bedürfnis, zur Klassifizierung der Phänomene Ordnungskategorien zu konstruieren. Platon greift das ursprünglich von Parmenides entwickelte Konzept eines einzigen Seins hinter den Dingen auf und wendet diesen Gedanken auf zahlreiche philosophische Fragen an. So weist er in der Politeia darauf hin, dass die Mathematiker ihre axiomatischen Voraussetzungen nicht klären, sondern sie als evident betrachten. Ihr Interesse gelte nicht den geometrischen Figuren, die sie mehr oder weniger unvollkommen in der Natur finden oder selbst zeichnen. Es gehe ihnen in der Geometrie nicht um empirische, sondern um ideale Gegenstände. Dabei werde vorausgesetzt, dass ein nichtempirisches Objekt – etwa das Viereck und seine Diagonale – das Ziel der Bestrebungen ist und nicht dessen in der Natur vorgefundene Abbilder. Von dieser Auffassung des Verhältnisses zwischen Idee und Abbild ausgehend bestimmt Platon beispielsweise das Schöne an sich, das Gute an sich, das Gerechte an sich oder das Fromme an sich. Jedes Phänomen der physischen Welt hat demnach Anteil an der Idee, deren Abbild ( , ) es ist. Die Art dieser Teilhabe ( méthexis) bestimmt im Einzelfall, in welchem Ausmaß dem Objekt die Eigenschaft zukommt, die es von der Idee empfängt. Die Idee ist die Ursache dafür, dass etwas so ist, wie es ist. So legt das Schöne, das Gerechte oder das Gleiche fest, dass die Einzeldinge, die als schön, gerecht oder gleich wahrgenommen werden, diese Eigenschaften in bestimmtem Ausmaß aufweisen. Ein Mensch kann daher nur als schön bezeichnet werden, weil und insofern er an der Idee des Schönen teilhat. Die Idee ist zugleich in dem jeweiligen Objekt anwesend ( „Anwesenheit“). Die Problematik des Begriffs „Ideenlehre“ und offene Fragen Platon bereitet seine Äußerungen zu den Ideen nicht systematisch auf, er präsentiert nirgends ein kohärentes Lehrgebäude. Daher kann ein Verständnis des von ihm Gemeinten nur aus einzelnen Angaben in zahlreichen Schriften gewonnen werden, wobei nur ein skizzenhaftes Bild entsteht. Der gängige Begriff „Ideenlehre“, der nicht von Platon selbst stammt, entspricht daher dem, was überliefert ist, nicht genau. Auch verwendet Platon für den Begriff „Idee“ verschiedene weitgehend synonyme Ausdrücke und variiert unablässig in der Wortwahl. In den späten Dialogen kommt die Ideenlehre teilweise nicht vor, wird in Grundzügen abgewandelt oder im Timaios auf neue Bereiche wie die Kosmogonie übertragen. Aufgrund des unsystematischen, uneinheitlichen und unfertigen Charakters von Platons schriftlich überlieferten Gedanken zu diesem Thema, die sich zudem im Lauf seiner philosophischen Entwicklung änderten, bleiben zahlreiche fundamentale Fragen offen, die seit der Antike kontrovers diskutiert werden. Unklar ist etwa, welchen sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen nach Platons Ansicht spezifische Ideen zugeordnet sind und welchen nicht. Im Politikos scheint die Bestimmung eines Begriffs und damit die Existenz der betreffenden Idee von einem rein formalen Kriterium abzuhängen und die Frage nach Wert oder Rang dabei belanglos zu sein. Im Parmenides hingegen ist davon die Rede, dass Sokrates an der Existenz von Ideen einzelner Phänomene wie Feuer oder Wasser zweifelte und die Vorstellung anstößig fand, dass geringfügigen oder verächtlichen Dingen wie Kot oder Schmutz eigene Ideen zugeordnet seien. Anderenorts geht Platon davon aus, dass es nicht nur von Naturdingen Ideen gibt, sondern auch von Dingen wie Tischen, die in der physischen Welt nur als Produkte menschlichen Erfindungsgeistes existieren. Offen bleiben die Fragen, ob von Mängeln, von Unvollkommenem und Schlechtem Ideen anzunehmen sind und wie genau die Beziehung zwischen den Sinnesobjekten und ihren Ideen zu verstehen ist. Seelenlehre Eigenschaften und Teile der Seele In Platons Philosophie ist die Seele ( ) als immaterielles Prinzip des Lebens individuell unsterblich. Ihr Dasein ist von dem des Körpers gänzlich unabhängig; sie existiert vor seiner Entstehung und besteht nach seiner Zerstörung unversehrt fort (Prä- und Postexistenz). Daraus ergibt sich die Rangordnung der beiden: Der Leib, der mancherlei Beeinträchtigungen und letztlich der Vernichtung unterliegt, ist der unsterblichen, unzerstörbaren Seele untergeordnet. Es steht ihr zu, über ihn zu herrschen. Der Körper ist das „Gefäß“, die „Wohnstatt“ der Seele, aber auch negativ ausgedrückt ihr „Grab“ oder „Gefängnis“ – eine berühmt gewordene Formulierung Platons. Im Tod löst sich die Seele vom Körper, das ewig Lebendige trennt und befreit sich von der nur durch seine Einwirkung belebten Materie. Vom Leib entbunden kann die Seele auf ungetrübte Weise erkennen, weshalb der wahre Philosoph den Tod als sinnvoll anstrebt. Solange sie sich jedoch im Körper befindet, nimmt die Seele eine vermittelnde Stellung zwischen der Ideenwelt und der Sinnenwelt ein. Zusammen mit den körperlichen Faktoren und durch sich selbst erzeugt sie Wahrnehmungen, Erkenntnisse, Meinungen, Affekte, Gefühlsregungen und Triebe und bewirkt physische Effekte wie Wachstum, äußere Eigenschaften und Auflösung der Körpermaterie. Bedeutsam ist ihre Verbindung mit einem Körper nur für die Dauer eines Lebens, in dessen Verlauf sie ihre Fähigkeiten wie Erkenntnis-, Denk- und Strebevermögen und Eigenschaften (Tugenden und Untugenden) zur Geltung bringt und Erfahrungen von Lust und Schmerz macht. Alle geistigen Funktionen eines Individuums sind die ihrigen, so dass sie mit der Person identisch ist. Ihre ethischen Entscheidungen bestimmen ihr Schicksal nach dem Tod. Deshalb zielen für Platon alle philosophischen Bestrebungen nur auf die Seele; daher mahnt sein Sokrates, „für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, dass sie sich aufs beste befinde“, zu sorgen. Die Seele zeigt sich aus Platons Sicht nicht als einheitliches, sondern als komplexes Phänomen. Sie setzt sich aus einem begehrenden ( ), einem muthaften ( ) und einem vernünftigen ( ) Teil zusammen. Die drei Teile treten miteinander in Konflikt. Erstrebt wird aus philosophischer Sicht ihre Harmonie unter der Vorherrschaft des Vernünftigen. In einem Mythos vergleicht Platon die Seelenteile mit einem Pferdewagen. Die Vernunft muss als Wagenlenker die beiden sehr verschiedenartigen Pferde Willen und Begierde lenken und die Begierde bändigen, um als herrschende Kraft die Seele zur Erkenntnis zu führen. Das Begehrende ist dabei auf Sinneswahrnehmung ausgerichtet, es befriedigt körperliche Lüste wie Essen, Trinken und Fortpflanzung oder erstrebt Mittel zur Befriedigung derartiger Lüste. Der Wille als der muthafte Seelenteil hingegen bringt Meinungen hervor, erkennt Schönes und Gutes (jedoch nicht das Schöne und Gute an sich) und fällt wertende Urteile über die eigene Person und andere. Beide sind dem Vernünftigen unterzuordnen – das Begehrende, um seine triebhafte Unersättlichkeit zu zähmen, das Muthafte, um seine positiven Qualitäten wie besonnener Eifer, Milde, Sanftmut, Respekt und Menschenliebe gegenüber den negativen wie falscher Eifer, Misstrauen und Neid zur Entfaltung zu bringen. Das Vernünftige zeigt sich in der Lust am Lernen und Erkennen des Wahren, im wissenschaftlichen Streben. Auf dem Gebiet der Ethik kennzeichnet den vernünftigen Seelenteil die Fähigkeit zu erkennen, was gut und zuträglich ist, und durch Zügelung der niederen Teile die Selbstbeherrschung des Menschen zu ermöglichen. Die Seelenteile bilden in Platons ursprünglicher Seelenlehre eine unsterbliche Einheit; im Spätwerk Timaios hingegen betrachtet er die niederen Seelenteile und die damit verbundenen Affekte, Triebe und negativen Gefühlsregungen als sterbliche Beimischungen zur unvergänglichen Vernunftseele. Beseeltheit nichtmenschlicher Wesen und Dinge Da für Platon eigenständige Bewegung ein Definitionsmerkmal der Seele ist, fasst er auch Tiere und Gestirne als beseelt auf, im Timaios auch Pflanzen. Der Kosmos selbst verfügt über Vernunft, die ihren Sitz in der Weltseele ( psychḗ tou pantós) hat. Ein Schöpfergott, der Demiurg, bildete die Weltseele, verlieh ihr Teilhabe an den Ideen und pflanzte sie in die Welt, um die Vernunft in das Weltganze zu bringen und es dadurch vollkommener zu machen. Die Weltseele ist die Kraft, die sich selbst und alles andere bewegt. Sie ist der Welt immanent, überall in ihr verbreitet und umgibt sie zugleich. Da sie durch ihre unterschiedlichen Bestandteile an allem Anteil hat, vermag sie alles wahrzunehmen und zu erkennen. Ihr Wesen ist demjenigen der menschlichen Vernunft gleich; daher besteht Übereinstimmung zwischen der Seele des Menschen und der des Kosmos. Argumente für die Unsterblichkeit der Seele Das Bemühen, die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, gehört zu den vorrangigen Anliegen Platons. Im Phaidon lässt er Sokrates argumentieren, dass Gegensätze wie Wachzustand und Schlaf zyklisch auseinander entstehen. Auch für den Schritt vom Leben zum Tod ist demnach eine gegenläufige Bewegung zurück zum Leben anzunehmen; anderenfalls würde alle Bewegung des Lebens auf den Tod zielen und mit ihm definitiv enden, so dass es kein Leben mehr gäbe. In einem weiteren Argument führt Platons Sokrates jeden Lernprozess darauf zurück, dass die Seele Kenntnisse wiedererlangt, die ihr nicht neu sein können; daher muss sie dieses potentielle Wissen aus ihrem Dasein vor der Entstehung des Körpers mitbringen. Weil sie vor ihrem Eintritt in einen Körper die Ideen an einem „überhimmlischen Ort“ ( tópos hyperouránios) geschaut und daher Wissen in reinster Form besessen hat, kann sie innerhalb ihres menschlichen Daseins lernen, indem sie sich schrittweise und in zunächst verfälschter, unreiner Weise an das einst Wahrgenommene erinnert (Anamnesis-Lehre). Aus der Existenz der Ideen und dem Zugang des Menschen zum von ihnen ermöglichten Wissen folgert Platon, dass die Seele nicht zum Bereich des zeitlich Begrenzten gehört. Ein anderes Argument geht von der Überlegung aus, dass das Sichtbare zusammengesetzt und daher auflösbar ist, das unsichtbare Geistige hingegen einfach, unauflösbar und unvergänglich. Das spricht dafür, dass die Seele dem Bereich des Unvergänglichen angehört, dessen Beschaffenheit der ihrigen gleicht. Ein weiteres Argument im Phaidon lautet, dass Gegensätze nicht zugleich anwesend sein können; so ist Schnee mit Wärme unvereinbar. Daher kann die als belebendes Prinzip schlechthin verstandene Seele den Tod nicht in sich aufnehmen. Somit betrifft der Tod allein den belebten Leib, nicht das diesen belebende Prinzip. Zudem stellt Platon in der Politeia die These auf, dass jedem zerstörbaren Ding ein Übel zugeordnet ist, von dem es verdorben und zerstört wird. Die Übel, welche die Seele betreffen, nämlich Ungerechtigkeit und Laster, machen sie schlecht, doch lässt sich nicht beobachten, dass sie ihre Zerstörung bewirken. Eine andere Überlegung Platons besagt, dass die Seele die Quelle aller Bewegung ist. Als Träger der Fähigkeit, immer von sich aus bewegt zu sein und anderes zu bewegen, muss die Seele ungeworden und daher unsterblich sein. Die Seele nach dem Tod Zum Schicksal der Seele im Jenseits und zum „Wieder-Werden“ ( pálin gígnesthai), der Seelenwanderung, äußert sich Platon meist in mythischer Form. Er verwendet zwar keine Ausdrücke, die den Begriffen „Seelenwanderung“ (im späteren Griechisch metempsýchōsis, palingenesía) und „Jenseits“ entsprechen, meint aber, wie aus seinen Ausführungen ersichtlich ist, deren Inhalte. Dabei knüpft er an ältere Konzepte an, wonach die Daseinsbedingungen nach dem Tod vom Verhalten im irdischen Leben abhängen, wie schon Pythagoras, Empedokles und Pindar meinten. Im Phaidon beschreibt er die Erde und das in einen oberen und einen unteren Bereich gegliederte Jenseits. Im oberen Bereich ist die „gleichsam wahre Erde“ lokalisiert. Dort führen die vom Körper befreiten Seelen in reiner und wunderbarer Umgebung ein glückliches Leben in Gegenwart der Götter, bis sie sich erneut inkarnieren. Im unteren Bereich erfahren fünf Gruppen von Seelen Strafe und Reinigung, je nach der Schwere ihrer im Leben begangenen Verfehlungen. So versinken die „unheilbaren“ Seelen im Tartaros, während jene, die schon im Leben Reue empfanden und sich „heilbare“ Sünden zuschulden kommen ließen, jährlich in die Nähe des Acheronsees gespült werden, wo sie ihre einstigen Opfer um Verzeihung bitten. Einzig die durch die Philosophie wahrhaft gereinigten Seelen werden von der „wahren Erde“ in ein rein geistiges, nicht näher beschreibbares Jenseits aufgenommen. Im Dialog Gorgias führt Platon den Gedanken eines Totengerichtes ein, der hier erstmals in der griechischen Kulturgeschichte näher ausgeführt wird, in Anknüpfung an ältere Vorstellungen einer richtenden Funktion von Göttern. Platons Totengericht besteht aus Minos, Rhadamanthys und Aiakos. Die nackten Seelen werden dort anhand ihrer „Narben“ und „Schwielen“ geprüft, welche durch ein ungerechtes Leben entstanden sind, und in den Tartaros oder das Elysion verwiesen. Ähnlich beschreibt Platon in der Politeia (Mythos des Er), wie die Seelen nach ihrer jeweiligen Lebensweise in die Unterwelt verbannt und gereinigt oder an einen himmlischen Ort versetzt werden. Nach tausend Jahren werden sie zur „Spindel der Ananke“ (Notwendigkeit) geführt, welche die Gestirne in Bewegung hält. Von den Moiren beaufsichtigt, wählen sie dort aus verschiedenen Lebensmodellen dasjenige, das sie künftig verwirklichen wollen, und begeben sich erneut in die Inkarnation. Im Spätwerk Timaios behauptet Platon, dass die Seele im Körper einer Frau wiedergeboren wird, wenn sie entsprechend ungünstige Voraussetzungen mitbringt, und dass die Wiedergeburt bei besonderer Unverständigkeit in einem Tierkörper erfolgen kann, wobei wiederum die Tierart vom jeweiligen Ausmaß der Torheit der Seele im vorherigen Leben abhängt. Auf der untersten Stufe, noch unter den Kriechtieren, stehen für Platon die Wassertiere. Erkenntnistheorie und Definitionslehre Definition und Merkmale von Erkenntnis und Wissen Vor dem philosophiehistorischen Hintergrund der Auseinandersetzung mit den Sophisten, die sich gewerbsmäßig mit Wissensvermittlung befassten, wirft Sokrates – für Platon das Sinnbild des denkenden Menschen – im Theaitetos die Frage auf, was Erkenntnis und Wissen ( ) seien. Zunächst widerlegt er die Behauptungen „Wissen ist Wahrnehmung“ und „Wissen ist richtige Meinung“. Er bringt vor, eine richtige Meinung könne nicht Wissen genannt werden, wenn sie zufällig wahr sei. Aber auch die traditionelle, in der Philosophiegeschichte klassische Bestimmung des Wissens als „wahre Meinung mit Begründung“ verwirft der platonische Sokrates im Theaitetos. Im früher entstandenen Menon hatte Platon diese Definition noch von Sokrates vortragen lassen; ihr zufolge entsteht dadurch, dass eine zutreffende Ansicht begründet werden kann, Erkenntnis und in weiterer Folge bleibendes Wissen. Im Theaitetos wendet er sich davon ab, wobei er argumentiert, die Begründung einer Meinung müsse wiederum begründet werden und ebenso die Begründung der Begründung, was zu einem infiniten Regress führen würde. Die Begründung einer Meinung besteht aus einer Verknüpfung von Elementen (Aussagen), die sich nur dem Verständnis erschließt, wenn ihre Bestandteile bereits bekannt sind, so wie man eine Silbe nicht erkennen kann, wenn man nicht zuvor ihre einzelnen Buchstaben erlernt hat. Daher muss sich die Begründung auf bereits vorhandenes Wissen stützen, um einer wahrheitsgemäßen Meinung den Charakter von Wissen zu verleihen. Die sich daraus ergebende Aussage „Wissen ist durch Wissen begründete wahre Meinung“ ist jedoch als Definition unbrauchbar, da der zu bestimmende Begriff in der Definition enthalten ist und dies zu einem Zirkelschluss führen würde. Der Dialog endet aporetisch. In seiner Erkenntnistheorie unterscheidet Platon streng zwischen Meinung ( ) oder Glauben ohne Wissen einerseits und wahrem Wissen andererseits. Sinneswahrnehmungen reichen nicht zum Erlangen der Wahrheit aus, sondern erzeugen lediglich Meinungen. Auch wenn eine Meinung zutrifft, ist sie von prinzipiell anderer Beschaffenheit und anderen Ursprungs als Einsicht. Ein Zugang zur Wahrheit und damit Wissen erschließt sich der Seele nur im Denken, das sich möglichst von der Sinneswahrnehmung emanzipiert hat. Dementsprechend trennt Platon zwei Seinsbereiche: die sinnlich wahrnehmbare Beschaffenheit und das nicht sinnlich wahrnehmbare Wesenhafte. Bei deren Erkundung vollzieht der Mensch mehrere Erkenntnisschritte, wie Platon im Siebten Brief am Beispiel des Kreises demonstriert: Auf der niedersten Stufe des Verständnisses geht es um die Bezeichnung eines Objekts, welche lediglich auf sprachlicher Konvention beruht, also die Verwendung des Wortes „Kreis“. Darauf folgt die Definition des mit dem Wort Bezeichneten, etwa „Ein Kreis ist das von seinem Mittelpunkt überall gleich weit Entfernte“. Der sprachlichen Bestimmung übergeordnet ist das sinnlich wahrnehmbare Objekt, in diesem Fall ein von einem Zeichner gefertigter Kreis, der jedoch stets unvollkommen ist. Die begriffliche Erkenntnis, also die kognitive Vorstellung eines Kreises, bildet den vorletzten Erkenntnisschritt. Auf der höchsten Stufe steht die reine Vernunfterkenntnis, welche die Idee des Kreises erfasst. Diese Unterscheidung findet sich auch im Liniengleichnis wieder. Dabei betrachtet Platon voneinander getrennte Seinsbereiche als Abschnitte auf einer Linie. Die Linie zerfällt zunächst in die Hauptabschnitte des Sichtbaren, also des sinnlich Wahrnehmbaren, und des Denkbaren, des sich der Vernunft Erschließenden. Damit sind zugleich die Bereiche von Meinung und Erkenntnis abgegrenzt. Der Abschnitt des sinnlich Wahrnehmbaren gliedert sich wiederum in den Unterabschnitt der Abbilder (wie Schatten und Spiegelbilder) und den der Körper (der Sinnesobjekte selbst), die sich hinsichtlich der Deutlichkeit unterscheiden. Der Bereich des Denkbaren ist geteilt in ideale geometrische Objekte und die Ideen. Diesen hierarchisch geordneten Bereichen entsprechen, in ihrer Wertigkeit aufsteigend, vier Erkenntnisstufen, nämlich bloße Vermutung, bloße Überzeugung, Verstandeserkenntnis ( ) und Vernunfterkenntnis ( ). Die Verstandeserkenntnis, realisiert in der Mathematik, ist dadurch charakterisiert, dass sie auf nicht hinterfragten Grundlagen basiert. Sie arbeitet mit wahren Meinungen, die ihrerseits durch evident wahre Meinungen begründet sind. Deren Voraussetzung liegt aber außerhalb des Bereichs dieser Meinungen und wird daher nicht in den Blick genommen. Zu ihr kann lediglich die qualitativ höherrangige Vernunfterkenntnis aufsteigen. Jede Erkenntnis, jedes Lernen vollzieht sich nach Platons Ansicht als Wiedererinnerung (Anamnesis, ) an Ideen, welche die Seele vor ihrem Eintritt in den Körper an einem „überhimmlischen“ Ort geschaut hat und an die sie sich daher im Prozess der Erkenntnis erinnert. Erkenntnis und Wissen verweisen daher auf das Reich der Ideen. Was der Mensch durch die Einkörperung vergessen hat, kann er mit Hilfe von Sinneswahrnehmungen und Gesprächen und durch die Anleitung eines Lehrers wiedererlangen. So führt Sokrates im Menon einen mathematisch nicht vorgebildeten Sklaven gezielt zur Lösung eines geometrischen Problems, um zu zeigen, dass die Einsicht auf vorgeburtliche Kenntnisse zurückgreift. Zu diesen richtigen Vorstellungen von dem, was er nicht weiß, findet der Nichtwissende Zugang, wenn er entsprechend angeregt wird, denn sie sind auf traumhafte Weise in ihm präsent. Die Dialektik als Methode der Erkenntnisgewinnung Der Begriff Dialektik ist adjektivisch und als Substantiv erstmals bei Platon nachweisbar, entgegen seiner sonstigen Zurückhaltung bei der Einführung und systematischen Verwendung von Fachbegriffen. Der griechische Ausdruck () leitet sich vom Verb „sprechen, sich unterhalten“ ( ) ab und bedeutet daher im engeren Sinne „(die Kunst der) Gesprächsführung“. Wahrscheinlich führte Platon diesen Ausdruck ein, um die dialogische Methode, die der platonische Sokrates vor allem in den frühen Dialogen anwendet, begrifflich abzugrenzen. Der durch die sokratische Dialektik erreichbare Erkenntnisgewinn besteht zunächst darin, dass untaugliche Definitionen als unzulänglich entlarvt werden. Der Dialektiker zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, das Wesen der zu definierenden Gegenstände abgrenzend zu bestimmen und dabei Gegenargumente erfolgreich zu entkräften. Von dieser Entlarvung des Scheinwissens ausgehend gelangt Platon in den mittleren Dialogen zu einer Dialektik, die sich als diskursive Methode mit der Erkenntnis an sich befasst. Mit der Unzulänglichkeit sowohl der sinnlichen Wahrnehmung als auch einer wahren Meinung begründet er die Notwendigkeit einer Dialektik, die allein auf reinem Denken basiert. Diese stellt er der Mathematik entgegen, die auf Axiome angewiesen sei und als Geometrie gezeichneter Figuren bedürfe. Die Auffassung der Mathematiker von ihrem Gegenstand vergleicht Platon mit Träumen, weil sie gerade und ungerade Zahlen, Winkelarten und sinnlich wahrnehmbare Konstruktionen benützen, die sie jedoch als Hilfsannahmen für Axiome und Idealfiguren betrachten, welche sie nur im Denken finden. Über ihre Axiome meinen sie weder sich selbst noch anderen Rechenschaft zu schulden, als seien diese Annahmen für jeden evident. Mit Hilfe der Dialektik hingegen soll vorbedingungsfreies und somit echtes Wissen erlangt werden, das nicht auf derartigen ungeprüften Voraussetzungen fußt. Der Dialektiker muss daher alle unhinterfragten Vorannahmen vermeiden. Er befasst sich mit Hypothesen, die er offen als solche bezeichnet und überprüft. Damit gelangt er zu begründeten Annahmen, die Platon als „Stufen und Ansätze“ auffasst, die zum „Voraussetzungslosen, zum Anfang von Allem“ ( ), nämlich der „Idee des Guten“ führen. Von dort schreitet der dialektisch denkende Philosoph darauf wieder zu den von dieser Idee abhängigen niederen Ideen. So durchmisst er, ohne sich der Sinneswahrnehmung zu bedienen, seinen Erkenntnisweg und gelangt dabei bis zum wahren Anfang und obersten Prinzip, das nicht auf eine übergeordnete Ursache zurückführbar ist. Der Dialektik weist Platon in der Politeia, dem Dialog über den idealen Staat, eine zentrale Rolle für die Ausbildung der philosophischen Herrscher zu. Nach verschiedenen Disziplinen wie Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Harmonik bildet sie den Abschluss ihres Bildungsganges, dessen Ziel der Aufstieg zur Idee des Guten als dem größten Lehrgegenstand ist. Definitionsfindung Man kann innerhalb der platonischen Dialektik drei wesentliche Methoden unterscheiden, die zu Erkenntnis führen: erstens die nach Sokrates benannte Methode der sokratischen Widerlegung in den frühen Dialogen, die zur Einsicht in das eigene Nichtwissen führt, zweitens die Methode der hypothesis in den mittleren Dialogen, die aufgestellte Hypothesen prüft, und drittens die Methode der Dihairesis in den späten Dialogen. In den frühen Dialogen, in denen Sokrates der Hauptakteur ist, wird meistens die Definition eines Begriffs gesucht, mit der das Wesen des Bezeichneten eindeutig und vollständig erfasst werden soll (beispielsweise Was ist das Fromme?). Die Methode der Dihairesis ist in den späten Dialogen ein Mittel, ähnliche Definitionsfragen zu beantworten. Mit ihr gelangt man von der Frage Was ist die Angelfischerei? zur Definition Die Angelfischerei ist die Kunst einer verwundenden Jagd auf Fische mit einem Haken bei Tage zum Zweck des Erwerbs. Eros und Ästhetik auf dem Erkenntnisweg In Platons Symposion („Gastmahl“) beschreiben und preisen mehrere Redner Eros, den Daimon (Geist) der auf „das Schöne“ gerichteten Liebe. So betont Phaidros die ethische Dimension des Schönen. Er weist darauf hin, dass die Liebe beim Verliebten das Streben nach einem tugendhaften Leben fördert, da niemand in den Augen seines Geliebten ethisch hässlich erscheinen will, sondern die Liebenden um ihrer Geliebten willen schöne Taten vollbringen. Platon verwendet den Begriff des Schönen nicht nur im engeren Sinne für ästhetisch ansprechende Formen, Farben oder Melodien. Vielmehr bezeichnet er als „schön“ auch Erfreuliches, Bewundernswertes und Entzückendes im menschlichen Charakter und Verhalten, in Staat und Gesellschaft und darüber hinaus rein geistige Objekte philosophischen Bemühens. All dies ist für ihn eigentlich gleichartig, insoweit es Empfindungen derselben Art auslöst, und fällt daher in dieser Hinsicht unter den gemeinsamen Begriff des Schönen. Allerdings ist nicht alles, was gefällt, schön; es gibt auch eine scheinbare Schönheit, die nur flüchtige Annehmlichkeit erzeugt. Teils widerlegt der platonische Sokrates im Symposion seine Vorredner, teils überhöht er ihre Aussagen. Das Wirken des Eros lässt er weit über den Bereich zwischenmenschlicher Leidenschaft hinausreichen, denn Liebe ist für Platon die Triebfeder des menschlichen Strebens nach dem Schönen und Guten. Diese beiden Bereiche sind eng miteinander verknüpfte Aspekte derselben Wirklichkeit, deren höchste Ausformung geistige, ethische und körperliche Vollkommenheit ist (Kalokagathia). Als höchstes Ziel menschlichen Strebens fällt das Schöne mit dem Guten zusammen, es ist das Gute unter dem Aspekt von dessen ästhetischer Anziehungskraft. Als Sohn der Penia, der Personifikation der Armut, und des Poros (Fülle) treibt Eros den Menschen an, sich in der Erkenntnis des Guten zu vollenden und dadurch glückselig zu werden. Ziel der Liebe ist „Erzeugung und Geburt im Schönen“. Eine äußere Bedingung für die Betätigung des Eros ist die Gegenwart des Schönen ( ). Außerdem muss die Seele, um für Schönheit empfänglich zu sein, bestimmte Voraussetzungen mitbringen. Begegnet ein Mensch dem Schönen in einer Form, in der es in der Sinneswelt vorkommt, so erinnert sich die Seele an das wahre Schöne, das sie vor der Geburt geschaut hat und von dem sie seit dem Beginn ihres irdischen Daseins getrennt ist. Wenn dies geschieht, beflügelt die Wirkung des Schönen die Seele und erlaubt ihr, sich stufenweise zum übersinnlich Schönen, der Idee des Schönen, zu erheben. Zugleich nimmt sie den „Ausfluss der Schönheit“ in sich auf und erschaudert angesichts dessen. So richtet sich Eros aufsteigend zunächst auf die anwesende schöne Gestalt, dann allgemein auf alle schönen Körper, dann auf die schöne Seele, das Schöne in der Gemeinschaft und der Wissenschaft, schließlich auf die Idee des Schönen. Auf diesem Weg stellt das Fortpflanzungsstreben, das von der Schönheit eines Körpers angeregt wird, die niedrigste Stufe dar. Ihm übergeordnet ist der aus dem Eros entspringende Wunsch, moralische und politische Tugenden zu erwerben, die zur Schönheit der Seele beitragen. Zu ihrer Vollendung gelangt die Erkenntnis des Schönen erst in der Schau der Idee des Schönen, nachdem der Betrachtende sich von aller Bindung an sinnliche Wahrnehmung befreit hat. Zugleich fasst Platon Eros als maßgebliche Triebkraft des philosophischen Erkenntnisstrebens auf, denn die Liebe des Philosophierenden gilt der Weisheit, die zum Schönsten gehört. Der Eros begeistert den Philosophierenden für die Erkenntnis des wahrhaft Erstrebenswerten und veranlasst ihn damit zu der geistigen Betätigung, die sich in der Schau der Ideen vollendet. Der Weisheitsliebende ( ) strebt nach Erkenntnis, weil er das, wonach er liebend sucht, noch nicht besitzt, das heißt noch nicht weise ist. Wer hingegen entweder bereits wie die Götter weise ist oder den Wert der Weisheit nicht erkannt hat, philosophiert nicht. Ethik Gerechtigkeit als Grundtugend In mehreren Dialogen ist die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit ( ) ein zentrales Thema. In der Politeia definiert Platon Gerechtigkeit als die Bereitschaft eines Staatsbürgers, sich nur den Aufgaben zu widmen, für die er von Natur aus geeignet ist und die daher seinen Beruf ausmachen und seinem festgelegten Stand entsprechen, und sich nicht in andere Belange einzumischen. Ungerechtigkeit entsteht somit dann, wenn die Grenzen der staatlich vorgegebenen Zuständigkeitsbereiche missachtet werden. Analog dazu herrscht Gerechtigkeit innerhalb eines Individuums dann, wenn seine Seelenteile (das Begehrende, das Muthafte und das Vernünftige) im richtigen Verhältnis zueinander stehen. Der platonische Sokrates verwirft in der Politeia mehrere andere Bestimmungen des Gerechten, darunter die traditionellen, von den Sophisten aufgegriffenen Gerechtigkeitstheorien, wonach es gerecht ist, „Freunden Gutes zu tun und Feinden Böses“ oder „jedem das ihm Gebührende zukommen zu lassen“. Gegen die erstgenannte Ansicht wendet Sokrates ein, dass es keinesfalls gerecht sein könne, jemandem zu schaden, vielmehr sei solches Verhalten stets ungerecht. Den sophistischen Gesprächspartner Thrasymachos lässt Platon Gerechtigkeit als ein Mittel der Machthaber und allgemein als das den Überlegenen Zuträgliche charakterisieren. Durch die Gesetzgebung der Starken werde in jedem Staat festgelegt, was gerecht ist. Ein anderer im Dialog auftretender Sophist fasst Gerechtigkeit als gesellschaftliche Konvention auf, durch welche die Bürger auf die Chance, Unrecht zu tun, notgedrungen verzichten, um sich gegen die Gefahr abzusichern, selbst zum Opfer von Unrecht zu werden. Diese sophistischen Definitionen sind aus Platons Sicht untauglich, da sie Gerechtigkeit als Verpflichtung und Verhalten gegenüber anderen, nicht als Qualität der Seele erklären. Im Gegensatz zu Aristoteles, der betont, dass die Tugend der Gerechtigkeit nur auf andere bezogen verwirklicht werden könne, hält Platon Gerechtigkeit für einen inneren Zustand des Individuums, nicht für eine Absichtshaltung oder ein Verhalten gegenüber anderen. Gerechtigkeit ist damit eine Funktion der Seele. So wie ein Mensch groß oder klein ist, weil er an der Idee der Größe bzw. der Kleinheit in einem bestimmten Maß Anteil hat, ist in der platonischen Vorstellung ein Mensch gerecht aufgrund seiner Teilhabe an der Idee der Gerechtigkeit. Die Menschen meinen, dass jeder an dieser Idee teilhat, um einer Gemeinschaft angehören zu können, denn in der Gemeinschaft muss jeder zumindest behaupten, gerecht zu sein. Gerechtigkeit führt für Platon zur Eudaimonie („Glückseligkeit“); das Leben eines Übeltäters hingegen ist notwendigerweise elend. Somit gehört Gerechtigkeit „zu dem Schönsten, nämlich zu dem, was sowohl um seiner selbst willen wie wegen der daraus entspringenden Folgen von jedem geliebt werden muss, der glücklich werden will“. Zugleich ist Gerechtigkeit eine „Bestform“ der Seele, die höchste Tugend ( ), welche die drei anderen, den drei Seelenteilen zugeordneten Grundtugenden Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit in sich vereint und ordnet. Im Dialog Kriton überliefert Platon, Sokrates habe im Gefängnis nach seiner Verurteilung zum Tode eine mögliche Flucht abgelehnt mit der Begründung, dass ein Gesetzesbruch ungerecht wäre. Das Gute Über die Frage nach dem Wesen einzelner Tugenden und dem Tugendhaften an sich weist Platon hinaus, indem er die Idee des Guten einführt, die alle Tugenden umfasst und ihnen somit übergeordnet ist. Zwar berührt Platon das Thema des Guten in zahlreichen seiner Dialoge, doch entfaltet er seine Gedanken über die Idee des Guten, also das Gute an und für sich, lediglich an einer Stelle der Politeia. Dort stellt er das Gute als eine Idee dar, welche die anderen Ideen an Würde und an Kraft überragt und nicht wie diese zum wahrhaft Seienden gehört, sondern sich jenseits des Seins befindet. Die Ideen sind untereinander durch Teilhabe verbunden, weil sie auf die Idee des Guten als oberstes Prinzip zurückgeführt werden können. Das nur knapp dargestellte Konzept der Idee des Guten ist Gegenstand zahlreicher Interpretationen. Die meisten Gelehrten meinen, dass die Idee des Guten für Platon den Bereich des Seins transzendiert. Diese Auffassung ist allerdings nicht unumstritten. Einer Bestimmung der Idee des Guten nähert sich Platons Sokrates in der Politeia in drei Gleichnissen an (Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis). Im Sonnengleichnis vergleicht er das Gute mit der Sonne als seinem „Sprössling“. So wie das Sonnenlicht es ermöglicht, dass Dinge wahrgenommen werden, wogegen im Dunkeln die Sehkraft eingeschränkt ist, so lassen sich erst im Lichte der Idee des Guten andere Ideen erkennen. Die Idee des Guten verleiht den Dingen ihre Erkennbarkeit, dem Erkennenden seine Erkenntnisfähigkeit, allem Seienden sein Sein und allem – auch der Gerechtigkeit – seinen Nutzen, da sie selbst Ziel und Sinn von allem ist. Daher ist ihre Erkenntnis das höchste Ziel des Philosophen und in der Politeia Voraussetzung dafür, Philosophenherrscher zu werden. Wer einmal die Einsicht in das Gute gewonnen hat, kann nicht mehr wider dieses bessere Wissen handeln; das Problem der Akrasia (Willensschwäche, mangelnde Selbstbeherrschung) besteht für ihn nicht. Das Gute wird damit zu einem absoluten Orientierungspunkt für das praktische Handeln. Eudaimonie und Lust Platon unterscheidet scharf zwischen der Eudaimonie – dem einer gelungenen Lebensführung entsprechenden erfreulichen, ausgeglichenen Gemütszustand – und der körperlichen und seelischen Lust (hēdonḗ). Der Ausdruck Eudaimonie wird im Deutschen gewöhnlich ungenau mit „Glück“ oder „Glückseligkeit“ übersetzt. Platon hält die Eudaimonie für unbedingt erstrebenswert; die Lust lehnt er zwar nicht ab, doch stuft er legitime seelische Lust als niedriges Gut ein, und den Lustempfindungen, die aus der Befriedigung leiblicher Bedürfnisse resultieren, billigt er keinen Wert zu. Wenn die Vernunft innerhalb der Seele die Leitung innehat, was bei einer philosophischen Lebensführung der Fall ist, kann Lust auf unbedenkliche Weise erlebt werden. Angleichung an die Gottheit Das Wesen der philosophischen Lebensweise bestimmt Platon als Angleichung oder „Anähnlichung“ an die Gottheit, „soweit dies möglich ist“ (homoíōsis theṓ katá to dynatón). Die Voraussetzung dafür ist die von Natur aus bestehende Verwandtschaft der unsterblichen Seele mit dem Göttlichen. Die Gottheit, in der alles Erstrebenswerte auf optimale Weise vereint ist, bietet das Vorbild, das der philosophisch Lebende nachahmt, indem er nach einem möglichst vollkommenen Besitz der göttlichen Merkmale Tugend und Wissen trachtet. Jeder Mensch ahmt das nach, womit er sich gern und beständig beschäftigt, und nimmt dadurch dessen gute oder schlechte Beschaffenheit an. Da das unveränderliche Sein des Ideenkosmos von göttlicher Qualität ist, wird der Betrachter, der sich ihm nachahmend zuwendet, selbst vergöttlicht. Das geistige Erfassen der Ideen und das von solcher Erkenntnis gelenkte Handeln führen den Menschen zur Gottähnlichkeit, soweit die Bedingungen des Lebens in der Sinnenwelt dies zulassen. Diesem Ziel nähert sich der Philosoph vor allem durch seine zunehmende Vertrautheit mit den Ideen der Gerechtigkeit und der Maßhaftigkeit, in denen das Göttliche in erster Linie hervortritt. Ein stets wachsendes Verständnis der kosmischen Ordnung, die auf diesen Ideen beruht, ist der Weg der Angleichung, auf dem der Wahrnehmende und Erkennende eine analoge Ordnung in seine eigene Seele bringt. Überdies bewegt ihn die Angleichung an die Gottheit dazu, für den guten Zustand der Sinnenwelt Verantwortung zu übernehmen. Staatsphilosophie Politeia, der Idealstaat der Philosophenherrscher Die Frage nach der Gerechtigkeit ist der Ausgangspunkt der Politeia (Der Staat), welche in der Tetralogienordnung daher den Untertitel Über das Gerechte ( ) erhielt. Der platonische Sokrates setzt darin der attischen Demokratie einen utopischen, vom Gerechtigkeitsprinzip geleiteten Idealstaat entgegen. Mit dieser Übertragung auf die Ebene des Staates soll die ursprünglich auf das Individuum bezogene Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit eine umfassendere Antwort finden. Der ideale Staat hat den Zweck, die Idee des Guten auf der physischen Ebene zu verwirklichen; mit der Umsetzung der Gerechtigkeit soll eine Voraussetzung für das gute Leben jedes Bürgers geschaffen werden. So wie im Kosmos und in der Seele soll auch im Idealstaat eine harmonische Ganzheit verwirklicht werden. Zwischen dem Individuum und dem Staat besteht für Platon eine Analogie, denn so wie sich Gerechtigkeit im Einzelnen als bestimmter innerer Ordnungszustand entfaltet, so macht eine bestimmte Ordnung der Polis diese zu einem gerechten Gemeinwesen. Daher hat jeder Stand und jeder Bürger die Aufgabe, zum gemeinsamen Wohl beizutragen, indem er sich auf angemessene Weise harmonisch in das Ganze einfügt und ihm dient. Platon zeichnet in der Politeia den Werdegang eines Staates hin zu seinem Idealmodell. Ein auf die menschlichen Grundbedürfnisse ausgerichteter erster, primitiver Staat, als „Schweinepolis“ bezeichnet ( ), bildet sich, da niemand für sich autark sein kann. Bei fortschreitender Entwicklung gilt der Grundsatz der Arbeitsteilung aufgrund unterschiedlicher Voraussetzungen und Begabungen der Bürger. Der Staat besteht jedoch um eines höheren Ziels willen, nämlich der Gerechtigkeit, die sich in der gerechten Verteilung der Aufgaben auf die Stände zeigt. Jeder soll im Staatsgefüge eine seinen Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit ausüben. Daher kann bereits ein einfacher Staat der Forderung nach einer gerechten Struktur nachkommen, indem er durch das Prinzip gegenseitiger Hilfe die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse ermöglicht. Aus dem primitiven Staat entwickelt sich stufenweise ein „üppiger“ und „angeschwollener“ Staat ( ), in dem sich ein kulturelles Leben herausbildet und Luxusgüter zur Verfügung stehen. Ein derart „angeschwollener“ Stadtstaat ist jedoch von verhängnisvollen Entwicklungen wie Machtkämpfen, Kriegen und aufkommenden Zivilisationsschäden bedroht. Als Alternative dazu entwirft Platon die Utopie eines „gesäuberten“ Idealstaates. Dessen Bürgerschaft gliedert er in den Handwerker- und Bauernstand ( ), den Stand der Wächter ( ) und den der Philosophenherrscher ( ). Zur Erfüllung seiner standesspezifischen Aufgaben benötigt jeder Bürger eine der Kardinaltugenden Besonnenheit ( ), Tapferkeit ( ) und Weisheit ( ). Damit sind die drei Tugenden ebenso wie den drei Seelenteilen (dem Begehrenden, dem Muthaften und dem Vernünftigen) auch den drei Teilen der Bürgerschaft zugeordnet. Gerechtigkeit ergibt sich daraus, dass jeder im Auftrag der Gemeinschaft das tut, was seinem Wesen und seinen Begabungen entspricht ( ; Idiopragie-Forderung). Mit der Begründung, das Schicksal habe den Menschen vor ihrer Geburt unterschiedliche Fähigkeiten zugeteilt, sieht Platon für die Einordnung der Bürger in die drei Stände ein Aussiebungsverfahren vor. Die Standeszugehörigkeit ist im platonischen Staat nicht erblich, sondern wird gemäß der persönlichen Leistung im Bildungsprozess zugewiesen. Zu diesem Zweck wird das neugeborene Kind den Eltern entzogen und Erziehern anvertraut, wobei zwischen Jungen und Mädchen kein Unterschied gemacht werden soll. Dadurch soll eine große Gemeinschaft entstehen, in der die Kinder keine Bindungen zu ihren leiblichen Verwandten entwickeln. Der Staat plant und lenkt die Fortpflanzung, schreibt sie vor oder untersagt sie, sowohl zum Zweck der Eugenik als auch um die Bevölkerungszahl konstant zu halten. Die Erziehung der Nachkommenschaft obliegt ausschließlich staatlichen Behörden; behinderte und aus unerwünschten Verbindungen hervorgehende Neugeborene sollen wie in Sparta nicht aufgezogen, sondern „verborgen“, das heißt ausgesetzt werden. Bei der Aussetzung oder Tötung von Säuglingen mit angeborenen Defekten handelt es sich um eine in der Antike verbreitete Sitte. Besonderen Wert legt Platon auf körperliche Ertüchtigung und musische Ausbildung. Wer wegen unzureichender Leistungsfähigkeit frühzeitig aus dem Bildungssystem ausscheidet, wird Bauer oder Handwerker. Für diesen Stand bleiben Privateigentum und Familie bestehen. Eine strenge Zensur verbietet unter anderem die als verderblich betrachtete Lektüre von Homer sowie manche traditionelle Mythen. Insbesondere jene Stellen in Epen, Tragödien sowie Komödien sind zu tilgen, welche Furcht vor dem Tod einflößen, zu Übermut anregen oder gegen sittliche Vorstellungen verstoßen. Durch Begabung wird der Aufstieg in die beiden oberen Stände möglich. In diesen ist eine Güter- und Familiengemeinschaft vorgeschrieben; daher wird in der Moderne vom „platonischen Kommunismus“ gesprochen. Die Ausbildung der Wächter zielt auf ihre besonderen Aufgaben: als Krieger sind sie für die Landesverteidigung zuständig, außerdem fungieren sie im Inneren als Exekutivorgan. Nur die Tüchtigsten werden in den Stand der Herrscher eingereiht. Zur Regierung des Staates gelangen sie, nachdem sie in Musik und Gymnastik, dann in der Mathematik und anderen Wissenschaften, schließlich in der Dialektik Unterweisung erhalten haben sowie zur „Schau der Ideen“ und des Guten selbst gelangt sind und verschiedene Ämter bekleidet haben. Von den Herrschenden fordert Platon Liebe zur Weisheit. Sie sollen die Philosophenherrschaft umsetzen, die im platonischen Staat die Voraussetzung für ein vollendetes Gemeinwesen darstellt: „Solange in den Staaten nicht entweder die Philosophen Könige werden oder die, welche jetzt Könige und Herrscher heißen, echte und gründliche Philosophen werden, solange nicht die Macht im Staate und die Philosophie verschmolzen sind, solange nicht den derzeitigen Charakteren, die sich meist einem von beiden ausschließlich zuwenden, der Zugang mit Gewalt verschlossen wird, solange gibt es, mein lieber Glaukon, keine Erlösung vom Übel für die Staaten, ich glaube aber auch nicht für die Menschheit, noch auch wird diese Verfassung, wie wir sie eben dargestellt haben, vorher zur Möglichkeit werden und das Sonnenlicht erblicken.“ Für die griechische Gesellschaft seiner Zeit ungewöhnlich war Platons Meinung, dass die Rolle der Frauen nicht auf geschlechtsspezifische Tätigkeiten zu beschränken war, sondern Frauen soweit irgend möglich dieselben Aufgaben übernehmen sollten wie Männer. Sie sollten sogar, soweit es ihre naturgegebenen Fähigkeiten erlaubten, als Wächterinnen ausgebildet werden und als solche mit den Männern in den Krieg ziehen. Nomoi, der zweitbeste Staat In seinem Alterswerk Nomoi (Die Gesetze) wandelt Platon sein erstes Staatskonzept, das er nun als allzu utopisch betrachtet, stark ab und entwirft ein realistischeres Modell. Dabei gibt er insbesondere die Gütergemeinschaft auf, obwohl er den auf Kollektiveigentum der Führungsschicht ausgerichteten Staat weiterhin für den bestmöglichen hält. An den Zielen der Politeia soll sich der „zweitbeste“ Staat orientieren, dabei aber die im älteren Konzept sehr hohen Anforderungen an die Bürger reduzieren. In den Nomoi gibt es keine Philosophenherrschaft, vielmehr räumt Platon allen Staatsbürgern die Möglichkeit zur Mitbestimmung ein, da unbeschränkte Macht jeden korrumpiere. Damit diese Versuchung nicht überhandnimmt, müssen die Gesetze im Staat herrschen und ihn stützen. Neben sehr detaillierten Ausführungen zu Erziehung, Gymnastik und der richtigen Lebensform finden sich in den Nomoi daher auch konkrete Erläuterungen der nötigen Gesetzgebung. Kunstverständnis Als Verfasser von Prosa und gelegentlich auch Dichtung war Platon ein hochbegabter Künstler, als gebildeter Ästhet dem Schönen zugewandt. Unter philosophischem Gesichtspunkt war jedoch sein Verhältnis zur Kunst – sowohl zur bildenden als auch zur darstellenden Kunst, zur Musik und Literatur – zwiespältig, großenteils sogar ablehnend. Seine Kritik an der Kunst, die er im Zusammenhang mit seiner Staatsphilosophie entwickelte, erregte seit der Antike Aufsehen. Wegen der außerordentlich starken Wirkung der Kunst auf empfindsame Gemüter vertrat er in der Politeia die Überzeugung, der Staat müsse die Kunst reglementieren, um verhängnisvollen Auswirkungen schädlicher Kunstformen auf die Gemeinschaft vorzubeugen. Daher ließ er in seinem Idealstaat nur bestimmte Tonarten und Musikinstrumente zu. Dichter, die unerwünschte Werke schufen, wollte er dort nicht dulden. Nur Traditionelles, Bewährtes und Einfaches fand seine Zustimmung; von Neuerungen wollte er nichts wissen, da sie den einmal erreichten harmonischen, stabilen Idealzustand der Gesellschaft beeinträchtigen könnten. Die Schönheit geometrischer Formen zog Platon derjenigen von Lebewesen oder Kunstwerken vor, da diese nur relativ schön seien, während bestimmten regelmäßigen geometrischen Figuren eine absolute Schönheit zukomme. Ordnung, Maß (Angemessenheit) und harmonische Proportionen ( symmetría) waren für ihn entscheidende Kriterien für Schönheit, da sie den Dingen Einheit verliehen; aus willkürlicher Abweichung von dieser Norm und Maßlosigkeit musste Hässlichkeit resultieren. Platons Missbilligung der bildenden Künste beruhte auf seiner Überzeugung, dass in der hierarchischen Seinsordnung stets das relativ Niedere lediglich ein Abbild des relativ Höheren und als solches im Vergleich mit diesem in bestimmtem Maß unvollkommener sei. Somit konnte wahres menschliches Verbesserungsstreben nur eine Abwendung von Abbildern und Hinwendung zu Urbildern bedeuten. Da jedoch sowohl Malerei als auch Plastik für Platon nichts als Nachahmungen der Natur waren (Mimesis-Konzept) und die Natur ihrerseits ein Abbild der Ideenwelt war, sah er in der Beschäftigung mit solchen Künsten nur einen Weg vom Urbild zum Abbild und damit einen Abstieg und eine Verirrung. Solche Kunstwerke waren aus seiner Sicht bestenfalls getreue Kopien und damit unnötige Verdoppelungen von Originalen, welche sie niemals übertreffen konnten. Außerdem sah Platon in solchem Kunstschaffen eine Spielerei und einen Zeitvertreib, eine Ablenkung von wichtigen Aufgaben. Besonders scharf verurteilte er Werke der bildenden Kunst, mit denen der Künstler nicht einmal möglichst getreue Nachahmung von Naturdingen anstrebt, sondern Illusionen erzeugen oder Subjektives ausdrücken will. Dies verurteilte er als schuldhafte Irreführung. Unter Ästhetik verstand er eine objektive Gegebenheit, in der es kein subjektives Element geben dürfe. Sein abwertendes Urteil betraf nicht die Architektur, die er nicht zu den nachahmenden (mimetischen), sondern zu den „erschaffenden“ (poietischen) Künsten zählte, welche wirkliche Dinge hervorbringen, statt sie nur abzubilden. Seine Kritik an bestimmten Musikformen und an der Dichtung setzte hauptsächlich an einem anderen Punkt an, nämlich an der demoralisierenden Wirkung, die er ihnen zuschrieb. Mit diesem Argument wandte er sich gegen die lydische Tonart, gegen Flötenmusik und gegen Dichtungen wie diejenigen Homers und Hesiods. Er ging davon aus, dass schlechte Musik niedere Affekte verstärke, die Herrschaft der Vernunft über das Gefühlsleben bedrohe und so den Charakter verderbe, während schlechte Dichtung Lügen verbreite. Andere Tonarten, religiöse Hymnendichtung und Lobgedichte auf gute Menschen hingegen bewertete er positiv und schrieb ihnen einen günstigen Einfluss auf die Charakterbildung zu. Was er in der Dichtung für gut befand, das hielt er nicht für eigene Leistungen der Dichter, sondern er führte es auf göttliche Inspiration zurück. Zur Beschreibung der bei solchem Schaffen entstehenden Begeisterung verwendete er den ambivalenten, hier positiv gemeinten Begriff Raserei ( manía); im inspirierten Dichter sah er einen Mittler zwischen Göttern und Menschen. Bei den dichterischen Formen unterschied er nach dem Ausmaß des mimetischen Anteils in ihnen. Das Drama als szenisch darstellende und daher rein mimetische Form und unmittelbare Wiedergabe verwarf er gänzlich, zumal darin auch charakterlich fragwürdige oder schlechte Personen auftreten, deren Nachahmung durch Schauspieler er für charakterschädigend hielt. Die erzählenden und nur mittelbar wiedergebenden Dichtungsformen mit geringem Mimesis-Anteil (Dithyrambos, Epos) hielt er für akzeptabel, sofern die Inhalte moralisch nicht zu beanstanden waren. Naturphilosophie Im Phaidon berichtet der platonische Sokrates anschaulich, wie er in seiner Jugend gehofft habe, in der Naturkunde die Ursache aller Dinge zu finden, und wie er dabei enttäuscht worden sei. Selbst der Naturphilosoph Anaxagoras habe sich nur mit dem sinnlich Wahrnehmbaren beschäftigt und sei die Antwort auf das eigentliche „Warum“ schuldig geblieben. Hier wird Platons Distanz zur Naturwissenschaft deutlich; sein wahres Interesse gilt dem Geistigen und – zwecks Hinführung zu diesem – der Mathematik. Der Gegenstand der Naturwissenschaft hingegen ist die empirische Welt der Erscheinungen ( „Natur“), also aus Platons Sicht ein bloßes Abbild der reinen Ideen, dem er nur ein defizitäres Sein zubilligt. Dem Timaios zufolge hat der mythische Demiurg (Schöpfer, wörtlich „Handwerksmeister“, „Fachmann“) die dingliche Welt aus der Ur-Materie gestaltet. Diese Aussage ist nach der Überzeugung antiker Platoniker und auch nach dem heute in der Forschung vorherrschenden Verständnis nicht wörtlich im Sinne einer Weltentstehung in der Zeit, sondern metaphorisch zu verstehen; die Schöpfung ist kein einmaliges Ereignis, sondern ein beständiger Prozess. Der Zustand der Welt ergibt sich aus dem Zusammentreffen zweier gegensätzlicher Faktoren, nämlich der vernünftigen Einwirkung des Demiurgen, der sich an der Ideenwelt orientiert und das Bestmögliche erreichen will, und dem chaotischen, regellosen Charakter der Ur-Materie, welcher der erschaffenden und ordnenden Tätigkeit des Demiurgen Widerstand entgegensetzt. Die Materie ist nicht vom Demiurgen geschaffen, sondern bildet eine eigenständige Grundlage für sein Wirken. Er ist kein allmächtiger Schöpfergott, sondern gleichsam ein göttlicher Baumeister, der auf vorhandenes mangelhaftes Material angewiesen ist, aus dem er im Rahmen des Möglichen etwas herstellt. Daher vergleicht Platon die Ur-Materie ( chóra) mit Rohmaterial, wie es Handwerkern zur Verfügung steht ( hylē). Sie ist ihrer eigenen ursprünglichen Natur nach amorph, aber form- und gestaltbar. Die Ur-Materie weist eine räumliche Qualität auf, was aber nicht im Sinne eines leeren Raums zu verstehen ist; eher kann man sie als ein Feld betrachten, das nach Platons Angaben bereits Spuren der (empedokleischen) Elemente aufweist. Sie ist der gebärfreudige „Schoß des Werdens“, aus dem die Körper entstehen, das rein Empfangende, das – selbst formlos – alle Formen aufnimmt. Feuer, Luft, Wasser und Erde sind die vier Grundformen der vom Demiurgen gestalteten Materie, die sich mit Ausnahme der Erde ineinander umwandeln können. Diese vier Elemente bestehen aus vier Arten von regelmäßigen Polyedern, die sich ihrerseits aus zwei Arten von kleinen rechtwinklig-gleichschenkligen Dreiecken – einer Art geometrischer Atome – zusammensetzen. Die Elementardreiecke sind als einfachste geometrische Figuren die Grundbausteine, aus deren unterschiedlichen Kombinationen sich die Vielfalt der materiellen Objekte ergibt, etwa die Aggregatzustände des Wassers oder die Abstufungen des Festen von Erde zu Stein. Mit dieser Kosmologie gehört Platon zusammen mit Demokrit zu den Schöpfern der Vorstellung einer atomaren Struktur der Materie und der Elemente und ist der Begründer eines mathematischen Atomismus. Ein Hauptmerkmal des platonischen Kosmos besteht darin, dass er nicht tot ist, sondern beseelt, lebendig und mit Vernunft ausgestattet, ein ewiges, vollkommenes Wesen. Dies verdankt er der Weltseele, die ihn durchdringt und umhüllt. Die Weltseele ist das Prinzip der Weltbewegung und des Lebens. Nur gelegentlich äußert sich Platon unter pythagoreischem Einfluss konkret zu naturwissenschaftlichen Fragen, wobei er gern die mythische Form der Darbietung wählt. So findet sich im Schlussmythos der Politeia ein Modell für die Planetenbewegungen. In den Bereich der Naturlehre begibt sich Platon auch mit seinem im Timaios unternommenen Versuch, die Seelenteile anatomisch zu verorten. Er lokalisiert den erkennenden Seelenteil an einer Stelle im Kopf, den mutigen Seelenteil an einer Stelle zwischen Hals und Zwerchfell in der Nähe des Herzens und den begehrenden Seelenteil unter der Herrschaft der Leber zwischen Zwerchfell und Nabel. Ungeschriebene Lehre Die Dialoge stellen nicht die gesamte Philosophie Platons dar, sondern nur deren zur schriftlichen Verbreitung bestimmten Teil. Dies zeigt insbesondere die gut bezeugte Existenz seines öffentlichen Vortrags Über das Gute, der ein zentrales Thema behandelte, aber niemals schriftlich an die Öffentlichkeit gebracht wurde. Von „ungeschriebenen Lehren“ Platons ( ágrapha dógmata) berichtet bereits sein Schüler Aristoteles. Es handelte sich um Lehrstoff, der nur mündlich in der Akademie fortgeschrittenen Schülern vermittelt wurde. Platon hegte eine generelle Skepsis gegenüber der Zweckmäßigkeit eines schriftlichen Diskurses und war der Überzeugung, bestimmte Erkenntnisse über sehr anspruchsvolle Themen seien grundsätzlich nicht zur schriftlichen Darstellung und Verbreitung geeignet, da ein Verständnis dieser Themen eine besondere Qualifikation des Lernenden voraussetze und nur in einer Gesprächssituation erlangt werden könne. Das ist aber nicht im Sinne einer Geheimhaltungsvorschrift oder eines Verbots schriftlicher Aufzeichnung zu verstehen; vielmehr fertigten Schüler in der Akademie Aufzeichnungen an, deren Existenz aus einer Reihe von Angaben antiker Quellen hervorgeht. Forschungsdiskussionen Ein beträchtlicher Teil der heutigen Forschung ist der Auffassung, dass der Gehalt der Lehren, die mündlicher Mitteilung vorbehalten blieben, wesentlich über das in den Dialogen Dargelegte hinausging. Strittig ist, ob Platon den Anspruch erhoben hat, mit seiner ungeschriebenen Lehre im Besitz gesicherter Wahrheit zu sein, ob er also „Dogmatiker“ und erkenntnistheoretischer Optimist war oder nur seinen Schülern Hypothesen zur Diskussion stellte. Jedenfalls ist die ungeschriebene Lehre nicht als starres, doktrinär fixiertes und autoritär verkündetes System zu verstehen. Vielmehr stand sie einer kritischen Prüfung offen. Sehr unterschiedlicher Meinung sind die Philosophiehistoriker über die Frage, ob es sich überhaupt um ein ausgearbeitetes System oder nur um einen Denkansatz handelte. Kontrovers diskutiert wird auch, ob die ungeschriebene Lehre mit Platons sonstiger Philosophie vereinbar ist und ob sie mit ihr zu einem konsistenten Welterklärungsmodell zusammengefügt wurde. Eine andauernde lebhafte Debatte in der Forschung dreht sich um die Frage, ob bzw. inwieweit die ungeschriebene Lehre rekonstruierbar ist und den Kern der platonischen Philosophie bildet. Die Gelehrten der sogenannten „Tübinger Schule“, zu der Hans Joachim Krämer, Konrad Gaiser und Thomas A. Szlezák zählen, bejahen diese Annahmen mit großer Zuversicht, und auch andere Forscher wie Jens Halfwassen haben eingehend dargelegt, warum sie die ungeschriebene Lehre für den wichtigsten Bestandteil von Platons Unterricht halten und sein Gesamtwerk im Licht dieser Einschätzung deuten. Zu den zahlreichen Gelehrten, bei denen das Tübinger Platonbild Zustimmung gefunden hat – wenn auch teilweise mit Abstrichen und Vorbehalten –, zählen Michael Erler, Vittorio Hösle, Detlef Thiel, Rafael Ferber, Herwig Görgemanns, Karl Albert, Heinz Happ, Klaus Oehler, John Niemeyer Findlay, Willy Theiler, Hans-Georg Gadamer und Christina Schefer. Da sich auch der Mailänder Philosophiehistoriker Giovanni Reale nachdrücklich für diese Auffassung ausgesprochen hat und Forscher aus seinem Umfeld dem zustimmten, spricht man heute auch von einer „Tübinger und Mailänder Schule“. Die Gegenposition der Skeptiker, welche die Existenz oder zumindest die philosophische Relevanz und die Rekonstruierbarkeit einer ungeschriebenen Lehre Platons bezweifeln, hat besonders im englischsprachigen Raum Anhänger gefunden. In den USA haben sich Harold Cherniss und Gregory Vlastos als besonders entschiedene Vertreter dieser Richtung profiliert. In der deutschsprachigen Platon-Forschung lehnen unter anderen Theodor Ebert, Dorothea Frede, Andreas Graeser, Ernst Heitsch, Franz von Kutschera, Günther Patzig und Wolfgang Wieland die Positionen der „Tübinger Schule“ ab. Die Urprinzipien In der rekonstruierten ungeschriebenen Lehre geht es um die Rolle des höchsten Prinzips, des absolut transzendenten Einen, das mit der Idee des Guten gleichgesetzt wird, und um die Frage nach seiner Erkennbarkeit und Mitteilbarkeit. Durch die Identifikation des Einen mit dem Guten kommt es zu einer Verbindung von Ontologie und Ethik. Letztlich zielt das Konzept auf eine vereinheitlichte Theorie von allem. Das Eine gilt als die Ursache der gesamten Hierarchie des Seienden, der es selbst nicht angehört, der es vielmehr übergeordnet ist. Da das Eine als oberstes Prinzip von nichts anderem hergeleitet werden kann, ist sein Wesen nur negativ bestimmbar. So wie die Ideenlehre den Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren auf die Ideenwelt zurückführt, führt die ungeschriebene Lehre die Vielfalt der Ideen auf zwei einfache Urprinzipien zurück, welche die Existenz der Ideen und damit auch diejenige der Sinnesobjekte erklären sollen. In diesem Modell beruht die ganze Mannigfaltigkeit der erkennbaren Phänomene auf dem Gegensatzverhältnis der beiden Urprinzipien. Daher wird die ungeschriebene Lehre auch Prinzipienlehre oder „Protologie“ (Lehre vom Ersten) genannt. Das erste Prinzip ist das Eine, die Grundvoraussetzung jeder Einheitlichkeit. Es hat seine Entsprechung ontologisch im Sein, formal-logisch in der Identität, Absolutheit und Unteilbarkeit, werthaft in der Tugend und Ordnung, kosmologisch in der Ruhe, Beständigkeit und Unvergänglichkeit, seelisch in der Hinwendung zu den Ideen. Das zweite Prinzip wird als unbestimmte Zweiheit bezeichnet. Es hat seine Entsprechung ontologisch im Nichtsein, formal-logisch in der Verschiedenheit, Relativität und Teilbarkeit, werthaft in der Schlechtigkeit und Unordnung, kosmologisch in der Bewegung, Veränderung und Vergänglichkeit, seelisch in den triebhaften, körpergebundenen Affekten. Das erste Prinzip ermöglicht Begrenzung und damit Bestimmtheit und Geformtheit, das zweite steht für grenzenlose Ausdehnung, Unbestimmtheit und Ungeformtheit. Das Zusammenwirken der beiden Prinzipien ermöglicht die Existenz aller seienden Dinge. Je niedriger etwas ontologisch steht, desto stärker tritt darin die Präsenz des zweiten Prinzips hervor. Wie man sich das Verhältnis der beiden Urprinzipien vorzustellen hat, geht aus den Quellen nicht klar hervor. Sicher ist immerhin, dass dem Einen ein höherer Rang zugewiesen wird als der unbestimmten Zweiheit. Wegen der einzigartigen Rolle des Einen, das als einziges Prinzip absolut transzendent ist, kann die Prinzipienlehre als letztlich monistisches Modell bezeichnet werden. Allerdings hat sie auch einen dualistischen Aspekt, denn auch die unbestimmte Zweiheit wird als unentbehrliches Urprinzip aufgefasst. Aus der fundamentalen Bedeutung beider Urprinzipien ergibt sich eine „bipolare Struktur des Wirklichen“, wobei aber stets zu beachten ist, dass die beiden Pole nicht gleichgewichtig sind. Der erkenntnistheoretische Aspekt Ob Platon einen intuitiven, unmittelbaren Zugang zum höchsten Prinzip für möglich gehalten und für sich selbst in Anspruch genommen hat, ist umstritten, ebenso wie die Frage, ob er überhaupt eine gegenüber der dialektischen Kunst eigenständige Intuition angenommen hat und in welchem Verhältnis die intuitive Erkenntnis gegebenenfalls zum diskursiven Prozess steht. Gegen die Annahme intuitiver Erfassung der Idee des Guten plädieren Forscher wie Peter Stemmer, der eine Beschränkung auf die Dialektik als einzigen Erkenntnisweg annimmt und daher Platon eine tiefe Skepsis hinsichtlich der Möglichkeit, die Idee des Guten mit Wissen zu bestimmen, unterstellt. Ein konsequenter Vertreter der Gegenposition ist Jens Halfwassen. Er führt die neuplatonische Lehre von der intuitiven Betrachtung des Einen und Guten, die eine Selbstaufhebung des dialektischen Denkens voraussetzt, auf Platon selbst zurück und rehabilitiert damit das neuplatonische Platonverständnis. Noch weiter in diese Richtung geht Christina Schefer. Sie trägt Indizien für ihre Ansicht vor, wonach im Zentrum von Platons Denken weder die geschriebene Ideenlehre noch die ungeschriebene Lehre stand, sondern eine „unsagbare“ religiöse Erfahrung, die Theophanie des Gottes Apollon. In dieser Platon-Deutung erhält somit auch die ungeschriebene Lehre den Charakter von etwas Vorläufigem. Rezeption Platon beeinflusste mit seinem vielseitigen Werk die gesamte Geschichte der Philosophie bis heute auf mannigfaltige Weise. Vor allem prägte er mit seiner Annahme einer eigenständig existierenden geistigen Wirklichkeit die Entwicklung der Disziplin, die später Metaphysik genannt wurde. Seine tiefe Wirkung auf die Nachwelt war und ist zu einem erheblichen Teil auch seinen stilistischen Fähigkeiten zu verdanken. Der „sokratische Dialog“ als literarische Form ist seine Schöpfung. Antike In der Antike galt Platon als Meister des Dialogs. Seine Dialoge wurden mehr geschätzt als die Werke anderer Sokratiker und die für eine breitere Leserschaft bestimmten Schriften seines bekanntesten Schülers Aristoteles, die im Unterschied zu dessen fachwissenschaftlichen Lehrschriften nicht erhalten geblieben sind. Aristoteles Aristoteles hielt auch nach seinem Ausscheiden aus Platons Schule an wesentlichen Teilen des platonischen Gedankenguts fest. Er verwarf aber einige Kernbestandteile des Platonismus, darunter die Annahme eigenständig existierender Ideen, welche zu einer unnötigen Verdopplung der Dinge führe, die Unsterblichkeit der individuellen Seele und den Grundsatz, dass der Mensch nur aus Unwissenheit gegen das Gute handelt (Problem der Akrasia). Nachdrücklich wandte er sich gegen Platons Staatslehre, besonders gegen die in der Politeia vorgetragene Forderung der Gütergemeinschaft. Seine eigene Philosophie entwickelte er in kritischer Auseinandersetzung mit dem Platonismus. Die zum Teil schroffe Kritik des Aristoteles an Auffassungen Platons, seine betonte Distanzierung von manchen Überzeugungen seines Lehrers akzentuiert die Unterschiede zwischen ihnen und lässt die ebenfalls vorhandenen gewichtigen Übereinstimmungen in den Hintergrund treten. Der Gegensatz zwischen Platonismus und Aristotelismus zieht sich durch die Philosophiegeschichte, wobei teils Vermittlungsversuche unternommen wurden, teils Platoniker und Aristoteliker auf klare, mitunter scharfe und polemische Abgrenzung ihrer Positionen Wert legten. Akademie Der institutionelle Träger der Philosophie Platons war zunächst die Platonische Akademie, die mit ihren Nachfolgegründungen in Athen fast ein Jahrtausend lang bestand, allerdings mit langen Unterbrechungen. In der römischen Kaiserzeit waren Alexandria und Rom neben Athen die wichtigsten Zentren des Platonismus; die Schulen außerhalb Athens trugen aber nie die Bezeichnung „Akademie“. Ob die Ausarbeitung der Gedanken Platons zu einem abgeschlossenen System der philosophischen Welterklärung bereits von ihm selbst in der sogenannten ungeschriebenen Lehre vorangetrieben wurde oder erst nach seinem Tod einsetzte, wird kontrovers diskutiert. Die Tübinger Schule und die an sie anknüpfende Forschung geht davon aus, dass die Systembildung bereits von Platon selbst vorgegeben war. Die Gegenposition vertraten besonders Gregory Vlastos sowie im deutschsprachigen Raum Kurt von Fritz, Peter Stemmer und Jürgen Mittelstraß. Ihrer Ansicht zufolge entwickelten erst Platons Nachfolger in der „Alten Akademie“, die bis 268/264 v. Chr. bestand, eine systematische Lehre. In der anschließend von Arkesilaos von Pitane begründeten „Jüngeren Akademie“ (auch „Mittlere Akademie“ genannt) kam es zu einem Kurswechsel. Unter Berufung auf die Sokratische Aporetik folgte man einer skeptischen Grundrichtung in der Erkenntnistheorie und bestritt die Erreichbarkeit sicheren Wissens. Die Wirren des Ersten Mithridatischen Krieges, in dem die Römer 86 v. Chr. Athen eroberten, setzten dem Unterricht in der Akademie ein Ende. Mittelplatonismus Antiochos von Askalon unternahm einen Neuanfang mit betonter Abkehr von der skeptischen Haltung, die er für unplatonisch hielt. Er gründete eine neue Schule, die er im Sinne einer Rückkehr zum ursprünglichen Konzept Platons „Alte Akademie“ nannte. Zu seinen Schülern gehörte Cicero, der sich 79 v. Chr. in Athen aufhielt. Damit begann die Zeit des Mittelplatonismus, dessen Vertreter sich insbesondere mit theologischen und kosmologischen Fragen auseinandersetzten. Die Mittelplatoniker griffen zum Teil stoische und aristotelische Ideen auf, die nach ihrer Ansicht mit der Lehre Platons übereinstimmten. Daneben gab es aber auch eine von Numenios vertretene Richtung, die zur ursprünglichen Lehre Platons zurückkehren und den Platonismus von stoischen und aristotelischen „Irrlehren“ reinigen wollte. Neuplatonismus Um die Mitte des 3. Jahrhunderts entstand der Neuplatonismus. Dieser moderne, erst im 19. Jahrhundert geprägte Begriff bezeichnet eine Richtung, die besonders die metaphysischen und religiösen Aspekte der platonischen Tradition betonte und detaillierte Modelle einer hierarchisch gestuften Weltordnung entwarf. Diese Strömung spielte in der Philosophie der Spätantike eine dominierende Rolle. Als Begründer des Neuplatonismus gilt – zusammen mit seinem Lehrer Ammonios Sakkas – Plotin, der in Rom eine Schule gründete. Plotin betrachtete sich aber nicht als Neuerer, sondern wollte nur ein getreuer Ausleger der Lehre Platons sein. Sein prominentester Schüler war Porphyrios, der in einer Kampfschrift den religiösen Platonismus gegen das erstarkende Christentum verteidigte. Ein Schüler des Porphyrios, Iamblichos von Chalkis, verfeinerte das System, wobei er manche Ansichten Plotins und Porphyrios' verwarf. Er übte einen bestimmenden Einfluss auf die um 410 gegründete neuplatonische Schule von Athen aus, die nach langer Unterbrechung die dortige Tradition der Akademie erneuerte. Daneben war auch Alexandria, wo Plotin studiert hatte, ein bedeutendes Zentrum des spätantiken Neuplatonismus. Diese letzte Blüte des Neuplatonismus dauerte bis ins frühe 6. Jahrhundert. Unter den späten Neuplatonikern hatte Proklos die stärkste Nachwirkung; prominente Philosophen aus der Schule von Athen waren ferner Damaskios und Simplikios. Die Platoniker in den Philosophenschulen von Rom, Athen und Alexandria waren fast alle scharfe Gegner des Christentums, das sie für unvereinbar mit der Lehre Platons hielten. In der letzten Phase ihrer Existenz war die neuplatonische Schule von Athen der wichtigste Hort des geistigen Widerstands gegen das Christentum; daher ordnete Kaiser Justinian I. im Jahre 529 ihre Schließung an. Kirchenväter Konzepte Platons und seiner Schule flossen in der Epoche der spätantiken Patristik über die Kirchenväter in die christliche Philosophie ein, meistens ohne Hinweis auf ihre Herkunft. Prominente griechischsprachige Kirchenschriftsteller wie Clemens von Alexandria, Origenes, Basilius der Große und Gregor von Nyssa griffen in ihren theologischen Werken auf die platonische Gedankenwelt und Terminologie zurück. Bei den lateinischsprachigen Kirchenvätern, die meist über keine unmittelbare Kenntnis der Dialoge verfügten, dominierte eine negative Grundhaltung, die von einer tiefen Verachtung aller nichtchristlichen Philosophie gespeist war. Im Osten wie im Westen des Reichs war die Meinung verbreitet, dass Platon zwar der beste unter den vorchristlichen Philosophen sei, aber alle heidnischen Bemühungen um Wissen und Weisheit irregeleitet und verderblich seien oder bestenfalls eine mangelhafte, überholte Vorstufe wahrer christlicher Erkenntnis darstellten. Eine Sonderstellung nahm allerdings Augustinus von Hippo, der langfristig einflussreichste Kirchenvater des Westens, hinsichtlich der Platon-Rezeption ein. Er setzte sich intensiv mit Platon und neuplatonischer Philosophie auseinander, erhielt dabei wesentliche Anregungen und drückte seine Wertschätzung für einzelne platonische Lehren aus. Eingehend beschrieb er aber auch die gewichtigen Unterschiede zwischen seiner christlichen Position und derjenigen Platons. Mittelalter Im Frühmittelalter und bis um die Mitte des 12. Jahrhunderts war in der lateinischsprachigen Gelehrtenwelt West- und Mitteleuropas von den Werken Platons ausschließlich der Timaios in den unvollständigen lateinischen Übersetzungen von Calcidius und Marcus Tullius Cicero bekannt; er war nur in wenigen Handschriften verbreitet. Dennoch wirkten platonische Einflüsse auf indirektem Weg stark auf das Geistesleben ein, da neben Augustinus auch weitere damals populäre antike Schriftsteller wie Macrobius Ambrosius Theodosius, Martianus Capella und vor allem Boethius platonisches Gedankengut vermittelten. Als angeblicher Schüler des Apostels Paulus stand Pseudo-Dionysius Areopagita, ein sehr stark neuplatonisch beeinflusster Kirchenschriftsteller des frühen 6. Jahrhunderts, in hohem Ansehen. Er trug maßgeblich zur platonischen Prägung der mittelalterlichen Theologie bei. Besonders tief von den Werken des Pseudo-Dionysios geprägt war die Philosophie des irischen Denkers Johannes Scottus Eriugena, der im 9. Jahrhundert lebte und einen so konsequenten Neuplatonismus vertrat, dass sein Werk deswegen kirchlich verurteilt wurde. Einen markanten Aufschwung erlebte der vom Timaios ausgehende mittelalterliche Platonismus im 12. Jahrhundert durch die „Schule von Chartres“. Dabei handelte es sich um einen Kreis von mehr oder weniger stark platonischem Denken verpflichteten Philosophen und Theologen in Chartres, den der dort lehrende berühmte Philosoph Bernhard von Chartres († nach 1124) ins Leben gerufen hatte. Bernhard galt als der bedeutendste Platoniker seiner Epoche. Zu seinen Schülern gehörten Wilhelm von Conches und Gilbert von Poitiers. Weitere prominente Vertreter dieser Richtung waren Thierry von Chartres und Bernardus Silvestris. Die Platoniker in Chartres setzten sich eingehend mit den Übereinstimmungen und Unterschieden zwischen der Kosmologie des Timaios und der christlichen Schöpfungslehre auseinander und bemühten sich um eine Harmonisierung. Ein anderes Schwerpunktthema war der platonische Schönheitsbegriff. Als mit der Übersetzungsbewegung des 12. und 13. Jahrhunderts die Werke des Aristoteles zunehmend in lateinischer Übersetzung Verbreitung fanden und zur Grundlage der scholastischen Wissenschaft wurden, führte dies zu einem Siegeszug des Aristotelismus und zur Zurückdrängung des Platonismus, der jedoch weiterhin – vor allem in neuplatonischer Gestalt – präsent blieb. Schon im Hochmittelalter und vor allem im Spätmittelalter lebte der antike Gegensatz zwischen Platonismus und Aristotelismus erneut auf. Er lag der Problemstellung des mittelalterlichen Universalienstreits zugrunde. Verwirrung schuf dabei der Umstand, dass die sehr einflussreiche neuplatonische Schrift Liber de causis („Buch der Ursachen“) irrtümlich als Werk des Aristoteles galt. Im späten 13. und im 14. Jahrhundert dominierte an den Universitäten weiterhin der Aristotelismus, doch traten außerhalb des Universitätsbetriebs unter den Ordensgelehrten auch neuplatonisch gesinnte Denker wie Dietrich von Freiberg, Meister Eckhart und Berthold von Moosburg hervor. Zu dieser neuplatonischen Strömung gehörte im 15. Jahrhundert auch Nikolaus von Kues. Im Byzantinischen Reich hielt der Gelehrte Stephanos von Alexandria im 7. Jahrhundert in Konstantinopel Vorlesungen über Themen der platonischen Philosophie; ansonsten fand aber zwischen der Schließung der Akademie im 6. Jahrhundert und der Mitte des 11. Jahrhunderts keine vertiefte Auseinandersetzung mit Platon statt. Allerdings machte sich neuplatonischer Einfluss über die Lehren des Pseudo-Dionysius Areopagita geltend, beispielsweise im Bilderstreit, in dem sich die letztlich siegreichen Anhänger der Bilderverehrung eine neuplatonische Argumentationsweise zunutze machten. Eine Wiederbelebung der Platonstudien verdankte Byzanz dem bedeutenden Gelehrten und Staatsmann Michael Psellos († nach 1077), der wegen seiner Vorliebe für den Platonismus sogar in den Verdacht mangelnder Rechtgläubigkeit geriet. Auch in der arabischsprachigen Welt des Mittelalters wurde Platon rezipiert. Im 9. Jahrhundert wurden in der Übersetzerschule des Nestorianers Hunain ibn Ishāq in Bagdad mehrere Dialoge ins Arabische übersetzt (Politeia, Nomoi, Timaios, Sophistes). Muslimische Philosophen wie al-Fārābī im 10. Jahrhundert und Avicenna im 11. Jahrhundert setzten sich mit dem Neuplatonismus auseinander. Die Werke des Universalgelehrten Avicenna wirkten in lateinischer Übersetzung auf die abendländische Philosophie ein, die damit indirekt einem zusätzlichen platonischen Einfluss ausgesetzt war. Frühe Neuzeit Die „Wiedergeburt“ der antiken Bildung und die „Rückkehr zu den Quellen“ im Renaissance-Humanismus wirkte sich auch auf die Platon-Rezeption aus. Im 15. Jahrhundert wurden die bisher größtenteils im Westen unbekannten Dialoge Platons und Werke von Neuplatonikern in griechischen Handschriften entdeckt, ins Lateinische übersetzt und kommentiert. Aus dem untergehenden Byzantinischen Reich gelangten zahlreiche kostbare Klassiker-Handschriften nach Italien. Die Kenntnis der Originalwerke Platons führte aber nicht zu einer Distanzierung vom Neuplatonismus, vielmehr orientierte sich die Platon-Interpretation der Humanisten an der immer noch lebendigen neuplatonischen christlichen Tradition, zumal deren Vertreter sich auf die Autorität der neuplatonisch geprägten Kirchenväter berufen konnten. Der Gegensatz zwischen Platon und Aristoteles bildete weiterhin ein Problem, das in der Streitfrage nach dem Vorrang des einen oder des anderen artikuliert wurde. Teils ergriffen die Humanisten für Platon oder für Aristoteles Partei, teils nahmen sie vermittelnde Positionen ein. Platons Werke waren weit besser als diejenigen des Aristoteles geeignet, den ausgeprägten Sinn der Humanisten für literarische Ästhetik anzusprechen; zudem war die von den Humanisten verachtete scholastische Wissenschaft aristotelisch. Der wohl konsequenteste Platoniker unter den Humanisten war der byzantinische Gelehrte Georgios Gemistos Plethon, der sich zeitweilig in Italien aufhielt und die dortigen Humanisten beeindruckte. Er folgte der platonischen Lehre so radikal, dass er sogar in religiöser Hinsicht die Konsequenz zog, sich vom Christentum loszusagen und zur Religion der antiken Platoniker zu bekennen. In der 1439 in Florenz verfassten Abhandlung Über die Unterschiede zwischen Aristoteles und Platon, einer Kampfschrift, verteidigte er die Lehren Platons gegen die Kritik des Aristoteles. Der berühmte Florentiner Humanist und Platon-Übersetzer Marsilio Ficino bemühte sich um eine Erneuerung des Platonismus auf neuplatonischer Grundlage, wobei er besonders von Plotin ausging. Allerdings gab es, wie neuere Forschung gezeigt hat, in Florenz keine „Platonische Akademie“ als feste Einrichtung, sondern nur einen lockeren Kreis von mehr oder weniger platonisch gesinnten Humanisten ohne institutionellen Rahmen. Im 17. Jahrhundert bildete sich in Cambridge der Kreis der „Cambridger Platoniker“, zu dem Ralph Cudworth und Henry More gehörten. Diese Philosophen erstrebten eine Harmonisierung von Religion und Naturwissenschaft, wofür ihnen der Neuplatonismus eine geeignete Grundlage zu bieten schien. Im Zeitalter der Aufklärung dominierte die Auffassung, Platons Philosophie sei überholt, ein Irrweg und nur noch von historischem Interesse. Vor allem seiner Metaphysik wurde in weiten Kreisen ein Realitätsbezug abgesprochen. Besonders entschieden wandte sich Voltaire gegen die platonische Ontologie, gegen die Ideenlehre und gegen die im Timaios dargelegte kosmologische Denkweise. In der kurzen satirischen Erzählung Songe de Platon verspottete er Platons Vorstellung von der Weltschöpfung und charakterisierte ihn als Träumer. Anklang fanden im 18. Jahrhundert allerdings Platons Ästhetik und sein Liebesbegriff (beispielsweise bei Frans Hemsterhuis und Johann Joachim Winckelmann), was sich in einer Bevorzugung der einschlägigen Dialoge (Symposion, Phaidros) zeigte. Moderne Die Aspekte, die in der Moderne in den Vordergrund traten, waren zum einen die Suche nach dem historischen Platon in der klassischen Altertumswissenschaft, zum anderen die Frage nach der Möglichkeit einer fortdauernden Aktualität seines Denkens unter den Bedingungen modernen Philosophierens. Altertumswissenschaftliche Forschung Im englischen Sprachraum trug der einflussreiche Gelehrte Thomas Taylor (1758–1835) durch seine Platon-Übersetzungen, die lange nachwirkten, maßgeblich zur Verbreitung eines stark von der traditionellen neuplatonischen Perspektive geprägten Platon-Bildes bei. Er knüpfte auch persönlich an die religiösen Auffassungen der antiken Neuplatoniker an. Zur selben Zeit setzte in der deutschen Altertumsforschung eine entgegengesetzte Entwicklung ein; man bemühte sich um die Herausarbeitung der historischen Gestalt Platons und um eine genaue Abgrenzung seines authentischen Denkens von allen späteren Deutungen und Systematisierungsbestrebungen der Platonischen Akademie und der Neuplatoniker. Friedrich August Wolf (1759–1824) edierte einzelne Dialoge, sein Schüler Immanuel Bekker (1785–1871) veröffentlichte 1816–1823 eine kritische Gesamtausgabe der Werke – die erste seit 1602. Eine außerordentlich große und nachhaltige Wirkung erzielten die deutschen Übersetzungen der meisten Werke Platons, die der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher ab 1804 publizierte. Schleiermacher war der Überzeugung, Platon habe seine Schriften nach einem vorgefassten Plan in einer festgelegten Reihenfolge ausgearbeitet, jeder Dialog baue auf dem vorhergehenden auf und sie stellten ein zusammenhängendes Ganzes dar. Es gebe keine ungeschriebene Lehre, die über die schriftlich fixierte Philosophie Platons hinausreiche. Schleiermacher gehörte mit seinem Freund, dem Frühromantiker Friedrich Schlegel, zu den führenden Vertretern der damals starken Strömung, welche die Bestrebungen, ein hinter den Dialogen stehendes philosophisches System Platons zu erschließen, kritisierte und die Auslegung dem Leser überließ. Statt der Frage nach einem Lehrgebäude nachzugehen, betonte man den dialogischen Charakter des platonischen Philosophierens. Für Schleiermacher sind Dialogform und Inhalt unzertrennlich, die Form ergibt sich aus Platons Überzeugung, dass das Erfassen eines fremden Gedankens eine Eigenleistung der Seele sei; daher müsse man die Dialoge als dazu konzipiert verstehen, den Leser zu dieser Tätigkeit zu bewegen. In seiner Dialogtheorie ging Schleiermacher von einer didaktischen Absicht Platons aus, die der Anordnung des Dialogwerks zugrunde liege. Ihm ging es nicht um eine Spiegelung von Platons eigener Entwicklung in der chronologischen Aufeinanderfolge seiner Werke. Erst Karl Friedrich Hermann trug 1839 in Auseinandersetzung mit Schleiermacher den Entwicklungsgedanken vor. Er gliederte die philosophische Entwicklung Platons in Phasen, denen er die Dialoge zuordnete. 1919 veröffentlichte der klassische Philologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff seine umfangreiche Platon-Biographie, in der er den Lebensgang herausarbeitete und die Werke aus philologischer Sicht würdigte. Dort befasste er sich auch mit der Frage nach der von manchen Gelehrten bezweifelten Echtheit eines Teils der Platon zugeschriebenen Schriften, die bereits im 19. Jahrhundert lebhaft diskutiert worden war. Im 20. Jahrhundert gelang es den Forschern, hinsichtlich der meisten Werke Konsens zu erzielen und die ausufernde Authentizitätsdebatte auf einige wenige Dialoge und Briefe zu begrenzen. In der zweiten Jahrhunderthälfte gewann die Beschäftigung mit der ungeschriebenen Prinzipienlehre, der man zuvor meist mit großer Skepsis begegnet war, stark an Bedeutung. Fragen nach ihrer Relevanz und Rekonstruierbarkeit gehörten zu den intensiv und kontrovers diskutierten Themen der Platonforschung, ein Konsens ist nicht erreicht worden. Rezeption Platons als Philosoph und Schriftsteller Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel standen die späten Dialoge (Parmenides, Sophistes, Philebos) im Vordergrund. Sie interessierten ihn unter dem Gesichtspunkt der Dialektik, denn er betrachtete die Dialektik Platons als Vorläufer seines eigenen Systems. Stärker von Platon und vom Neuplatonismus beeinflusst war Schelling. Er griff auf Begriffe wie den der Weltseele zurück, wobei er deren Bedeutung abwandelte. Die im 19. und frühen 20. Jahrhundert weit verbreitete Verehrung Platons bezog sich auch auf seinen Stil. Man las die Dialoge als literarische Kunstwerke und pries die Übereinstimmung von literarischer Form und philosophischem Inhalt. Neben der Schönheits- fand die Liebesthematik, die schon in der Platon-Rezeption Friedrich Hölderlins eine wichtige Rolle spielte, besondere Beachtung. Zu den Platonikern zählte auch der Dichter Percy Bysshe Shelley. Doch nicht nur Dichter und Romantiker, sondern auch Philologen begeisterten sich für den Schriftsteller Platon. So meinte Wilamowitz-Moellendorff, dass Platons gelungenste Dialoge „[…] an echtem Kunstwerte die vollkommenste Prosadichtung heute noch sind, also wohl bis zum jüngsten Tage bleiben werden. Ihr Stil war gewissermaßen gar kein Stil, denn er war immer wieder anders. Es ließ sich alles in ihm sagen, was ein Hirn denken und ein Herz fühlen kann, und es ließ sich in jeder Tonart sagen, tragisch und komisch, pathetisch und ironisch.“ Wilamowitz bewunderte sowohl die schriftstellerische als auch die philosophische Leistung Platons. Sein Zeitgenosse und Gegner Friedrich Nietzsche hingegen übte vernichtende Kritik an beidem: „Plato wirft, wie mir scheint, alle Formen des Stils durcheinander, er ist damit ein erster décadent des Stils: er hat etwas Ähnliches auf dem Gewissen, wie die Cyniker, die die satura Menippea erfanden. Dass der Platonische Dialog, diese entsetzlich selbstgefällige und kindliche Art Dialektik, als Reiz wirken könne, dazu muss man nie gute Franzosen gelesen haben, – Fontenelle zum Beispiel. Plato ist langweilig. – Zuletzt geht mein Misstrauen bei Plato in die Tiefe: ich finde ihn so abgeirrt von allen Grundinstinkten der Hellenen, so vermoralisirt, so präexistent-christlich – er hat bereits den Begriff „gut“ als obersten Begriff –, dass ich von dem ganzen Phänomen Plato eher das harte Wort „höherer Schwindel“ oder, wenn man's lieber hört, Idealismus – als irgend ein andres gebrauchen möchte.“ Der platonische Sokrates ist für Nietzsche ein Vertreter der „Sklaven- und Herdenmoral“ und als solcher ein Verneiner des „Lebensprinzips“, der sich dem Willen zur Macht widersetzt. Während Platon das überlegene Individuum in den Dienst des Staates stellt, tritt Nietzsche für eine umgekehrte Rangordnung ein. Nietzsche verurteilt Platons Abwendung von der Welt der Sinne, die er als Flucht in das Reich der Ideen deutet. Aus seiner Sicht entspringen die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen keiner höheren geistigen Sphäre, sondern sind lediglich Werkzeuge des blinden Willens, der sie verwendet, um sich die Welt anzueignen. Daher benutzt er Platons Terminologie ironisch, um die hierarchische Wertordnung des Platonismus umzukehren: „Meine Philosophie umgedrehter Platonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.“ Während bei Platon die Philosophie über der Kunst steht, weil sie sich unmittelbar mit den Ideen beschäftige, steht für Nietzsche die Kunst über der Philosophie, weil sich nur im künstlerischen Zugang zur Welt der alles antreibende Wille erschließe. Nur im „künstlerischen Schein“ lasse sich der Wille einfangen. Wollte Nietzsche sich durch diese radikale Umwertung vom Platonismus befreien, so bleibt er für Martin Heidegger dennoch im Denkhorizont einer platonischen, die Welt in Sinnliches und Geistiges spaltenden Tradition, die zu überwinden sei. In Platons metaphysischer Annahme, dass Sinnliches und Geistiges getrennten Seinsbereichen angehören und zwischen ihnen eine hierarchische Ordnung besteht, sieht Heidegger den Anfang eines Verfallsprozesses der abendländischen Philosophiegeschichte, der mit Nietzsche einen letzten Höhepunkt erreicht habe. Wie Platon versuche auch Nietzsche alles Seiende auf ein einziges wahrhaft Seiendes zurückzuführen, nämlich den blinden Willen zur Macht. Heidegger resümiert: „[…] demzufolge bezeichnet Nietzsche seine eigene Philosophie als umgekehrten Platonismus. Weil Platonismus, ist auch Nietzsches Philosophie Metaphysik.“ In der „Marburger Schule“ des Neukantianismus wurde eine Neuinterpretation der Ideenlehre unternommen, deren Hauptvertreter Paul Natorp war. Natorp versuchte die platonische Philosophie mit der kantischen in Einklang zu bringen. Nach seiner Deutung sind die platonischen Ideen als Regeln, Gesetze, Hypothesen oder Methoden des Denkens zu verstehen. Eine radikale Gegenposition zur betonten Abwendung vieler moderner Denker vom Platonismus vertrat der russische Religionsphilosoph Wladimir Sergejewitsch Solowjow († 1900), der Platon studierte und ins Russische übersetzte. Er war stark von platonischer Metaphysik beeinflusst. Besonders beeindruckte ihn Platons Idee eines sich der Gottheit nähernden, vergöttlichten Menschen. Auch sonst fand Platons Gedankengut bei einzelnen osteuropäischen Philosophen Anklang. Zu ihnen gehörte vor allem Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937), der Gründer der Tschechoslowakei. Da praktisch alle Themen, die in der Philosophiegeschichte eine Rolle spielen, bereits bei Platon zu finden sind, bemerkte der britische Philosoph und Mathematiker Alfred North Whitehead 1929 pointiert, die europäische philosophische Tradition bestehe aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon. Während des Zweiten Weltkriegs verfasste Karl Popper, der Begründer des Kritischen Rationalismus, unter dem Eindruck der damaligen politischen Verhältnisse eine fundamentale Kritik an Platons Staatstheorie. Er sah den platonischen Idealstaat als Gegenmodell zu einer demokratischen, offenen Gesellschaft, deren Vorkämpfer Perikles gewesen sei, und behauptete, Platon habe die Lehren des Sokrates pervertiert und ins Gegenteil verkehrt. Platon habe die Suche nach einer überlegenen Staatsordnung auf die Machtfrage reduziert, statt nach Institutionen zu fragen, die Herrschaft begrenzen und dem Machtmissbrauch vorbeugen können. Mit seinem Konzept eines kleinen, statischen, abgeschlossenen Ständestaats sei er ein Vorläufer des modernen Totalitarismus und Feind des Individualismus und der Humanität. Außerdem wandte sich Popper gegen den unwandelbaren Charakter der platonischen Idee des Guten. Seine Streitschrift löste eine lebhafte Debatte aus. In vielen modernen Kontexten wird der Begriff „Platonismus“ für einen wie auch immer gearteten metaphysischen Realismus von Begriffen bzw. Universalien verwendet, da diese „realistischen“ Positionen („Universalienrealismus“) eine mehr oder weniger entfernte Ähnlichkeit mit Platons Ideenlehre aufweisen, die als ein Hauptbestandteil seiner Philosophie bekannt ist. Gesamtausgaben und Übersetzungen Die Werke Platons werden noch heute nach den Seiten- und Abschnittzahlen der dreibändigen Ausgabe von Henricus Stephanus (Genf 1578), der sogenannten Stephanus-Paginierung, zitiert (für einen eindeutigen Nachweis ist der Werktitel erforderlich, da die Bände der Stephanus-Ausgabe eine je eigene, also keine durchlaufende Seitenzählung aufweisen). Gesamtausgaben ohne Übersetzung John Burnet (Hrsg.): Platonis opera. 5 Bände, Oxford University Press, Oxford 1900–1907 (kritische Ausgabe; mehrfach nachgedruckt). Platonis opera. Oxford University Press, Oxford 1995 ff. (maßgebliche kritische Edition; ersetzt die Ausgabe von Burnet, aber bisher nur Band 1 erschienen) Band 1, hrsg. von Elizabeth A. Duke u. a., 1995, ISBN 0-19-814569-1. Übersetzungen (deutsch) Friedrich Schleiermachers Übersetzung, die zwischen 1804 und 1828 (3. Auflage 1855) in Berlin erschien, ist auch heute noch im deutschsprachigen Raum verbreitet und wird – teilweise in etwas umgestalteter Form – nachgedruckt. Otto Apelt (Hrsg.): Platon: Sämtliche Dialoge. 7 Bände, Meiner, Hamburg 2004, ISBN 3-7873-1156-4 (ohne griechische Texte; Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1922–1923). Gunther Eigler (Hrsg.): Platon: Werke in acht Bänden. 6., unveränderte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010 (1. Auflage 1970–1983), ISBN 978-3-534-24059-3 (kritische Ausgabe der griechischen Texte; leicht bearbeitete Übersetzungen von Schleiermacher). Platon: Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke, eingeleitet von Olof Gigon, übertragen von Rudolf Rufener, 8 Bände, Artemis, Zürich/München 1974, ISBN 3-7608-3640-2 (ohne griechische Texte). Ernst Heitsch, Carl Werner Müller, Kurt Sier (Hrsg.): Platon: Werke. Übersetzung und Kommentar. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen ab 1993 (ohne griechische Texte; verschiedene Übersetzer). Helmut von den Steinen: Platonica I. Kleitophon, Theages. Eine Einführung bei Sokrates. Herausgegeben von Torsten Israel. Queich-Verlag, Germersheim 2012, ISBN 978-3-939207-12-2. Übersetzungen (lateinisch, mittelalterlich) Plato Latinus, hrsg. Raymond Klibansky, 4 Bände, London 1940–1962 (Band 1: Meno, interprete Henrico Aristippo; Band 2: Phaedo, interprete Henrico Aristippo; Band 3: Parmenides … nec non Procli commentarium in Parmenidem, interprete Guillelmo de Moerbeka; Band 4: Timaeus a Calcidio translatus commentarioque instructus). Literatur Handbücher Luc Brisson u. a.: Platon. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 5, Teil 1, CNRS Éditions, Paris 2012, ISBN 978-2-271-07335-8, S. 630–863 (Forschungsübersicht). Michael Erler: Platon (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Band 2/2). Schwabe, Basel 2007, ISBN 978-3-7965-2237-6 (umfassende Darstellung mit umfangreicher Bibliographie). Michael Erler: Platon. In: Bernhard Zimmermann, Antonios Rengakos: Die Literatur der klassischen und hellenistischen Zeit (= Handbuch der griechischen Literatur der Antike, Band 2 = Handbuch der Altertumswissenschaft, Abteilung 7, Band 2). Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-61818-5, S. 311–347. Christoph Horn, Jörn Müller, Joachim Söder (Hrsg.): Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-476-02193-9. Biographisches und Historisches Debra Nails: The people of Plato. A prosopography of Plato and other Socratics. Hackett, Indianapolis 2002, ISBN 0-87220-564-9. Alice Swift Riginos: Platonica. The Anecdotes concerning the Life and Writings of Plato. Brill, Leiden 1976, ISBN 90-04-04565-1. Kai Trampedach: Platon, die Akademie und die zeitgenössische Politik (= Hermes Einzelschriften. Heft 66). Franz Steiner, Stuttgart 1994, ISBN 3-515-06453-2. Kilian Fleischer: Philodem, Geschichte der Akademie. Einführung, Ausgabe, Kommentar. Brill, Leiden/Boston 2023, ISBN 978-90-04-54653-0. Robin Waterfield: Plato of Athens. A life in Philosophy. Oxford University Press, Oxford 2023, ISBN 978-01-97-56475-2. Einführungen und Allgemeines Gernot Böhme: Platons theoretische Philosophie. Metzler, Stuttgart 2000, ISBN 3-476-01765-6 (systematische Darstellung der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung wissenschaftsgeschichtlicher Aspekte; Grundkenntnisse werden vorausgesetzt). Michael Bordt: Platon. Herder, Freiburg im Breisgau 1999, ISBN 3-451-04761-6 (Einführung, auch für Leser ohne Vorkenntnisse geeignet). Karl Bormann: Platon. 4. Auflage. Alber, Freiburg im Breisgau 2003, ISBN 3-495-48094-3 (Einführung in die Ideenlehre, Seelenlehre und Staatslehre). Michael Erler: Platon. Beck, München 2006, ISBN 3-406-54110-0 (auch für fachfremde Leser geeignete Einführung). Herwig Görgemanns: Platon. Winter, Heidelberg 1994, ISBN 3-8253-0203-2 (Einleitung mit besonderer Berücksichtigung philologischer Aspekte). Franz von Kutschera: Platons Philosophie. 3 Bände, Mentis, Paderborn 2002, ISBN 3-89785-277-2 (Gesamtdarstellung aus philosophischer Perspektive; Kenntnis von Platons Werken wird vorausgesetzt). Uwe Neumann: Platon. Rowohlt, Reinbek 2001, ISBN 3-499-50533-9 (Einführung für Leser ohne Vorkenntnisse). Georg Römpp: Platon. Böhlau, Köln u. a. 2008, ISBN 978-3-8252-3007-4 (Überblick über einige zentrale Themen). Thomas Alexander Szlezák: Platon lesen. Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, ISBN 3-7728-1577-4 (Anleitung zum Umgang mit Werken Platons; keine systematische Darstellung der Philosophie). Thomas Alexander Szlezák: Platon: Meisterdenker der Antike. C.H. Beck, München 2021, ISBN 978-3-406-76526-1. Barbara Zehnpfennig: Platon zur Einführung. 4., ergänzte Auflage. Junius, Hamburg 2011, ISBN 978-3-88506-348-3 (Überblick über das Gesamtwerk für Leser ohne Vorkenntnisse). Schriftlichkeit, ungeschriebene Lehre Konrad Gaiser: Platons ungeschriebene Lehre. 3. Auflage. 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Mann Kosmologe der Antike
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https://de.wikipedia.org/wiki/Tower%20of%20London
Tower of London
His Majesty’s Royal Palace and Fortress of the Tower of London (auf deutsch: Königlicher Palast Seiner Majestät und Festung des Tower of London, kurz: der Londoner Tower) ist ein befestigter Gebäudekomplex am Nordufer der Themse am südöstlichen Ende der City of London und damit zugleich im Zentrum der englischen Region Greater London (London). Die Ringburg mit zwei Festungsringen diente den englischen und britischen Königen unter anderem als Residenz, Waffenkammer, Werkstatt, Lager, Zoo, Garnison, Museum, Münzprägestätte, Gefängnis, Archiv und Hinrichtungsstätte. Seit 600 Jahren wird der Tower von Touristen besucht. Im Jahr 2011 war er mit mehr als 2,5 Millionen Besuchern die meistbesuchte kostenpflichtige Attraktion im Vereinigten Königreich. Ursprünglich wurde der Tower im 11. Jahrhundert als Festung Wilhelms des Eroberers gegen die potentiell feindseligen Bürger der Stadt London errichtet. Bis zu Jakob I. nutzten alle englischen Könige den Tower zeitweilig zum Aufenthalt. Als Stützpunkt der britischen Monarchie im historischen Zentrum Londons ist der Tower eng mit der britischen Geschichte verbunden. Die Außenmauern und Türme des Towers wurden im Wesentlichen im Mittelalter errichtet. In den folgenden Jahrhunderten wurden zahlreiche An- und Umbauten innerhalb der Mauern durchgeführt. Im 19. Jahrhundert erfolgte eine Neugestaltung: Mauern und Türme wurden im Zuge des Gothic Revival im historistischen Stil neu errichtet. Dabei wurden auch Gebäude innerhalb der Mauern abgerissen. Heute werden im Tower Ausstellungen über das Gebäude selbst und seine Geschichte, Teile der Sammlung der Royal Armouries, die britischen Kronjuwelen gezeigt. Hier befinden sich das Hauptquartier und das Museum des Royal Regiment of Fusiliers, Wohnräume für die Yeoman Warders sowie Verwaltungs- und Büroräume. Aus dem Tower gingen das Board of Ordnance, die Royal Mint, der Ordnance Survey, das Royal Observatory, das Public Record Office und der London Zoo hervor. Der Tower ist auch Handlungsort zahlreicher Dramen und Romane von Shakespeare bis Edgar Wallace. Insbesondere Schriften und Historiengemälde des 19. Jahrhunderts betonen die Rolle als Gefängnis und trugen maßgeblich zur Rezeption des Towers als düsterem Kerker bei. Die UNESCO erklärte den Tower 1988 zum Weltkulturerbe. Der Tower gehört der britischen Krone und wird von den Historic Royal Palaces verwaltet. Baugeschichte Gründung und Ausbau im Mittelalter Nach der Eroberung Englands 1066 errichteten die Normannen unter Wilhelm dem Eroberer eine Reihe von Festungen, um ihre Macht im Land zu sichern. Nachdem es anlässlich der Krönung Wilhelms zum englischen König in der Westminster Abbey an Weihnachten 1066 zu Unruhen in der Stadt gekommen war, ordnete Wilhelm den Bau einer Burg auf einem an der Themse gelegenen Hügel am östlichen Rand der City of London an. Die etwa 200 Fuß mal 400 Fuß (etwa 70 Meter × 140 Meter) große Festung lag in der südöstlichen Ecke der römischen Stadtmauer Londiniums und wurde im Süden und Osten von der erhaltenen römischen Mauer, im Westen und Norden von einem Graben mit Erdwällen und hölzernen Palisaden geschützt. Diese erste Festung wurde ab 1077/78 durch einen massiven Steinbau, den späteren White Tower, ersetzt. Während Richard I. auf Kreuzzüge zog, begann Wilhelm von Longchamp, der Lordkanzler von England, Ende des 12. Jahrhunderts mit dem Ausbau des Towers zur Festung mit mehreren Gebäuden. Er verstärkte die weiteren Mauern um den White Tower herum, baute die Mauern nach Westen aus und versah sie erstmals mit kleineren Wachtürmen. Longchamp versuchte als Erster, einen Wassergraben um den Tower zu errichten. Er scheiterte aber noch an den Strömungsverhältnissen in der Themse. Prägend für die heutige Gestalt des Towers war Heinrich III., der die Festung von 1220 bis 1238 zum Festland hin und von 1238 bis 1272 zum Fluss hin erweiterte. In dieser Zeit erhielt auch die gesamte Festung den Namen Tower of London. Sowohl die Arbeiten an der großen Halle als auch andere haushaltsbezogene Konstruktionen deuten darauf hin, dass Heinrich den Tower als Wohngebäude aufwerten wollte, und ihn auf eine Ebene mit Windsor Castle oder den Residenzen in Winchester und Clarendon stellen wollte. Heinrich ließ die Gemächer von König und Königin neu herrichten und die Wände weiß kalken. Außerdem ließ er fünf Tonnen Marmor aus Dorset heranschaffen, um die Innenräume auszubauen. Nachdem Heinrich sich 1238 im Zuge der Verwerfungen um die Hochzeit seiner Schwester Eleanor von England mit Simon de Montfort, 6. Earl of Leicester vor aufgebrachten Adligen einen Monat lang im Tower verschanzen musste, begann er mit dem Ausbau des Towers als Festung auf dem damals aktuellen Stand der Festungstechnik. Er ließ einen neuen Festungsring, insgesamt acht Türme und einen permanent gefüllten Wassergraben errichten. Eduard I., der umfangreiche Erfahrungen mit der Kriegsführung auf den britischen Inseln und dem Kontinent besaß, setzte das ehrgeizige Bauprogramm seines Vorgängers fort. Er baute die innere Mauer aus, so dass eine echte Ringburg entstand, ließ einen neuen Graben ausheben und neue Außenmauern bauen, so dass insgesamt drei Verteidigungsringe entstanden. Die Architektur folgte dabei dem in Wales entwickelten Modell britischer Ringburgen. Die Festungsringe wurden von außen nach innen höher, so dass Verteidiger auf den inneren Ringen über ihre Mitkämpfer auf den äußeren Ringen hinwegschießen konnten. Sollten die äußeren Festungsringe fallen, hätten die Verteidiger immer noch einen Höhenvorteil. Eduard ersetzte den großen Torbau seines Vorgängers durch zwei neue Tore, eines zum Wasser und ein landseitiges auf der West- (Stadt-)seite der Festung. Seit 1275 entstand der nach Thomas Beckett benannte St Thomas’s Tower. Damit hatte der Tower seine heutige Flächenausdehnung erreicht. In den Zeiten nach Eduard I. folgten An- und Umbauten eher sporadisch, und oftmals ad hoc. Eduard II. und Eduard III. ließen im 14. Jahrhundert die äußere Mauer auf die heute noch vorhandene Höhe aufmauern. Mehrfacher Umbau seit der Frühen Neuzeit Ab dem 16. Jahrhundert erlahmten die Arbeiten an den eigentlichen Verteidigungsanlagen des Towers. Zahlreiche Regierungsstellen und Organisationen von der königlichen Waffenschmiede über die Münzprägestätte bis zum Archiv waren mittlerweile im Tower heimisch geworden. Diese sorgten zwar für regelmäßigen Neubau und eine Erweiterung der inneren Gebäude, verhinderten aber den Ausbau der Verteidigungsanlagen. Heinrich VIII. ließ die Festungskirche St Peter ad Vincula komplett neu bauen, das Queen’s House, das größte Gebäude der Tudor-Zeit, errichten und die ersten Verteidigungsanlagen mit Schießscharten für Handfeuerwaffen versehen. Bedeutsam im 17. Jahrhundert war das Grand Storehouse, das später einem Feuer zum Opfer fiel. Darüber hinaus entstanden dutzende kleinere Gebäude, Wohnhäuser und andere Bauten. Unter anderem bestanden zwei Pubs an der Außenmauer des Towers, die ebenfalls im 19. Jahrhundert abgerissen wurden. Die verbliebenen mittelalterlichen Palastanlagen außerhalb des White Towers fielen zwei großen Feuern in den Jahren 1774 und 1788 zum Opfer. Der letzte große Neubau erfolgte im Jahr 1840, als die Chartisten Großbritannien in Aufruhr versetzten und das britische Königshaus den Tower wieder auf den damaligen Stand der Verteidigungstechnik bringen ließ. Prägend war hierbei der Bau der Waterloo Barracks, die an die Stelle des alten Grand Storehouse traten und heute neben dem White Tower das größte Gebäude der Festung sind. Im 19. Jahrhundert gab es wiederum eine tiefgreifende Änderung der Nutzung. Bis 1850 hatten die Royal Mint, die Menagerie und das Archiv den Tower verlassen und waren in Gebäude weiter außerhalb der Londoner Innenstadt gezogen. Tourismus und Besichtigungen nahmen an Bedeutung zu. Im 19. Jahrhundert folgten darauf größere Umbauten im Inneren. Nicht mehr benötigte Gebäude aus den vorherigen Jahrhunderten wurden abgerissen, andere errichtet. Der Mode der damaligen Zeit folgend, versuchten die Bauherren im Tower wieder einen möglichst mittelalterlichen Zustand herzustellen. Anstatt wie in den Jahrhunderten zuvor in Backstein mit Reminiszenzen an klassische Architektur zu bauen, forderte Anthony Salvin die Verwendung von Naturstein, der möglichst originalgetreu mittelalterlich aussehen sollte. Sowohl aus militärischen als auch aus ästhetischen Gründen ließen die Baumeister des 19. Jahrhunderts zahlreiche Gebäude auf dem Festungsgelände entfernen. John Taylors Arbeiten sorgten für einen heftigen Disput mit der neu gegründeten Society for the Protection of Ancient Buildings, was zu einer der ersten Grundsatzdiskussionen zum modernen Denkmalschutz im 19. Jahrhundert führte. Seit etwa 1900 ist die Anordnung der Gebäude im Tower im Wesentlichen gleich geblieben. Ab den 1960er Jahren folgte eine weitere Rückbesinnung auf die Geschichte des Gebäudes. Umfangreiche archäologische Ausgrabungen begannen, und an mehreren Stellen bemühten sich Restauratoren, den mittelalterlichen Zustand wiederherzustellen. So wurde beispielsweise das erste Mal nach 300 Jahren wieder eine Holztreppe errichtet, die den ursprünglichen Eingang zum White Tower zugänglich machte. Ebenfalls in den 1960er Jahren begannen Reinigungsarbeiten an Gebäuden, die dies seit Jahrhunderten nicht mehr erlebt hatten. Architektur Die Ringburg des Towers bestand ursprünglich aus drei Festungsringen, von denen zwei noch deutlich zu erkennen sind. Der Tower nimmt eine Fläche von 7,3 Hektar ein. Der innerste Ring – innermost ward oder coldharbour – besteht aus dem White Tower und dem ihn umgebenden Hof. Es handelt sich um den ältesten Teil der Festung. Der innere Ring – inner ward – umfasst den Rest des inneren Bereichs mit den Waterloo Barracks, der Kirche St Peter ad Vincula, der Freifläche des Tower Green und weiteren Wohn-, Lager- und Verwaltungsgebäuden. Er ist von Mauern mit 13 weiteren Türmen umgeben. Der äußere Ring – outer ward – umschließt die innere Mauer mit einer zweiten Mauer. Diese hat sechs Türme, die sich dem Wasser zuwenden, sowie zwei halbkreisförmige Bastionen an der Nordwest- und der Nordost-Ecke der Festung. Außerhalb der Mauern liegen ein Graben, ehemals mit Wasser gefüllt, und einige externe Strukturen. Im Südwestbereich der Festung führt eine Brücke über den Graben vom Middle Tower auf der Stadtseite zum Haupteingang Byward Tower auf der Festungsseite. Umgebung Der Tower liegt direkt an der Themse am östlichen Rand der City of London und bildet damit den östlichen Eintrittspunkt in die Londoner Innenstadt. Dominierte der Tower optisch über viele Jahrhunderte die Stadt um ihn herum, begann sich dies nach dem Großen Brand von London 1666 zu ändern. Die von Christopher Wren erbaute St Paul’s Cathedral hatte ein ähnlich eindrucksvolles Format. Neue größere Gebäude ersetzten die mittelalterlichen Bauten, die bis dahin das Stadtbild geprägt hatten. Die großen Kaianlagen des 19. Jahrhunderts waren in ähnlichem Maßstab gebaut wie der Tower, die Tower Bridge von 1894 überragte diesen. Seit dem 20. Jahrhundert begann die City zahlreiche Bürohochhäuser in der Nähe des Towers zu erlauben, die sukzessive durch größere Gebäude ersetzt wurden. Im Südosten der Festung liegt die Tower Bridge. Im Osten führt deren stark befahrene Auffahrt – Teil des inneren Stadtrings von London – direkt am Tower vorbei; eine weitere Hauptstraße, die Byward Street (eine Verlängerung der Lower Thames Street) liegt im Norden des Towers. An diese viel befahrenen Straßen grenzen enge Gehwege, von deren Benutzung Fußgängern abgeraten wird. Die Freiflächen des Tower Hills im Westen und das Ufer der Themse im Süden erlauben jedoch noch einen Eindruck von der Festung, der nicht von tosendem Verkehr bestimmt ist. Die Lage im Stadtgebiet ist Ergebnis diverser Masterpläne im 20. Jahrhundert, die sich auf den Tower selbst konzentrierten. Die Umgebung der Festung bezogen sie nur insoweit in ihre Planungen ein, wie sie benötigt wurde, um Besucher zum Tower zu schleusen. Dies änderte sich zur Jahrhundertwende. Unter dem Titel Tower Environs Scheme wurden zwischen 1995 und 2004 die Hauptzugänge zum Tower umgestaltet und der Autoverkehr aus dem Westen und Süden des Towers verbannt. Der Tower ist durch die Station Tower Hill der London Underground erreichbar, den etwa die Hälfte der Tower-Besucher nutzen. Andere Besucher kommen über den Bahnhof Fenchurch Street und die Station Tower Gateway der Docklands Light Railway, legen mit einem Schiff am Tower Millennium Pier an oder lassen sich von einem Bus im Parkhaus unter dem Tower Place absetzen. Graben, Außenmauer und äußerer Festungsring Der Graben ist 36 Meter breit und sechs Meter tief. Die Backsteineinfassungen stammen aus den Jahren 1670 bis 1686. An der Flussseite ist der Graben baubedingt schmaler, an der Ostseite liegt die Anfahrt zur Tower Bridge teilweise auf dem ehemaligen Grabengelände und hat diesen Volumen gekostet. An der Südseite liegt mit der Tower Wharf ein Kai aus Stein, der in seiner heutigen Form aus dem späten 14. Jahrhundert stammt. Zur Landseite befinden sich im Norden zwei Bastionen: Brass Mount im Nordosten und Legge’s Mount im Nordwesten. Die größere Brass Mount scheint etwas älter als der sie einschließende Wall. Sie ist eines der ältesten Backsteingebäude der britischen Inseln. Die kleinere Legge’s Mount wurde zusammen mit dem äußeren Mauerring gebaut. Sie wurde zwischen 1682 und 1686 erhöht. Zur Wasserseite im Süden ist der Tower durch mehrere Türme geschützt. Auffallendster Bau ist der St Thomas’s Tower an dem noch die Reste eines Wassertors mit Bootseinfahrt zur Themse erkennbar sind. Das Tor, das den Landzugang zum Tower vom Süden her erlaubt, stammt aus dem 19. Jahrhundert. Spätere Verfüllungen des Grabens lassen die äußere Mauer niedriger erscheinen als sie ursprünglich war. Vom einst elaborierten Zugang zum Tower vom Westen her sind nur noch Teile erhalten. Vom Lion Tower südwestlich des Wassergrabens sind nur noch Reste des Fundaments und der Brückenanlage erhalten, die im Graben sichtbar sind. Heute verläuft der Zugang zum Tower über das Tor im Middle Tower, dann über eine Brücke über den Graben und schließlich durch das Tor im Byward Tower. Direkt hinter dem Byward Tower befindet sich der Bell Tower als Rest einer Befestigungsanlage, die den Eingang zum Tower schützte. Von Byward Tower und Bell Tower aus verlaufen zwei Straßen durch den Festungsring. Die öffentlich nicht zugängliche Mint Lane führt nach Norden zur Legge’s Mount. An ihr befinden sich Kasematten und diverse Werkstätten aus dem 18. Jahrhundert. Der Weg nach Osten, die Water Lane, verläuft parallel zur Themse und führt zum Bloody Tower. Er wird seitlich durch den Wakefield Tower geschützt. Durch diesen gelangen Besucher in den inneren Festungsring. Die innere Mauer von Bell Tower bis Bloody Tower stammt noch aus dem Jahr 1190, wurde aber seitdem durch Backsteinaufbauten erhöht und mit zahlreichen Fenstern durchbrochen. Die wasserseitige Mauer aus dem späten 13. Jahrhundert wurde in den 1330er Jahren erhöht und nach ihrer Verwitterung über die Jahrhunderte in den Jahren 1679 bis 1680 umfassend wiederaufgebaut. Ein zweiter Zugang zum Fluss besteht durch den Cradle Tower, der östlich des St Thomas’s Tower liegt und ebenfalls aus dem 14. Jahrhundert stammt. Das Tor in diesem Turm ist deutlich kleiner als das Traitors’ Gate. Dieser Turm wurde 1777 in den oberen Bereichen abgetragen, um Platz für eine Geschützbatterie zu machen. Während der neugotischen Restaurierung des Towers unter John Taylor im 19. Jahrhundert erhielt er wieder eine mittelalterlich aussehende Spitze. Das eigentliche Tor stammt noch aus dem 14. Jahrhundert. Innerer Ring, Innerster Ring und White Tower Das Tor vom äußeren in den inneren Festungsring verläuft durch den Bloody Tower. Mit dem Bau des äußeren Festungsrings wurde der Bloody Tower diversen Umbauarbeiten unterzogen: Während die unteren Teile aus dem 13. und 14. Jahrhundert stammen, ließ der Konstabler des Tower den Turm im 17. Jahrhundert erhöhen, um den Gefangenen Walter Raleigh aufzunehmen. Die obersten Bauten stammen aus dem 19. Jahrhundert. An der südöstlichen Ecke des inneren Ringes liegt der Salt Tower, vermutlich im Jahr 1238 erbaut. Der Dreiviertel-Zylinder hat noch Reste einer ehemaligen Verbindung zur äußeren Mauer. Die Spitze des Salt Towers stammt aus dem 19. Jahrhundert. Ein auffallender Turm in der inneren Mauer ist der Beauchamp Tower im Westen, dem die ehemalige Funktion als Tor anzusehen ist. Im Norden stehen kleinere Türme aus verschiedenen Jahrhunderten, die der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind. Ähnliche Türme stehen im Osten, über sie verläuft das Mauerwerk. Lanthorn Tower und die Mauer zwischen Bloody Tower und Lanthorn Tower sind komplette Neubauten des 19. Jahrhunderts. Der nackte und gerade Mauerteil westlich des Lanthorn Towers zeigt klar seine Herkunft aus dem industrialisierten 19. Jahrhundert, er erinnert nur wenig an die mittelalterlichen Mauern in anderen Teilen des Towers. In der Nähe dieses Mauerstücks allerdings befinden sich in der Erde Reste der römischen Mauern zur Themse hin, die etwa aus dem 4. Jahrhundert stammen. Diese wurden 1976–1977 archäologisch ergraben und untersucht. Im Inneren Ring liegen die großen Einzelbauten des Towers. Neben den Waterloo Barracks ist das die Kirche St Peter ad Vincula, die New Armouries, das ehemalige Krankenhaus, das ehemalige Offiziersgebäude zu den Waterloo Barracks, das mit der inneren Mauer verwachsene Queen’s House, ein ehemaliges Maschinenhaus und weitere Wohngebäude. Der Innerste Ring ist heute auf den ersten Blick kaum mehr erkennbar. Die meisten der Mauern, die diesen begrenzten, wurden in den letzten Jahrhunderten abgerissen oder sind nur noch in Fragmenten vorhanden. Die Mauer im Westen des Innersten Festungsrings stammte aus dem 11. Jahrhundert. Im Osten bildete die ehemalige römische Stadtmauer die Grenze, im Norden begrenzte der White Tower das Gebiet. Ursprünglich befand sich hier der geschützte Bereich für die königlichen Räume innerhalb des inneren Rings. An älteren Festungsanlagen sind noch Reste des Wardrobe Towers aus dem 12. Jahrhundert sowie das Fundament des Coldharbour Gates aus dem 13. Jahrhundert erhalten. In der Mitte des Geländes steht der als White Tower bezeichnete Keep. Auf einer fast quadratischen Grundfläche von etwa 30 mal 30 Metern ragt der Turm über fast 30 Meter in die Höhe. In der südöstlichen Ecke hat er einen halbkreisförmigen Vorsprung, in dem die Kapelle liegt. Der White Tower ist im Norman Style gehalten. Er besteht aus Kalkstein, der in Kent gewonnen wurde, und Mergelstein aus der näheren Umgebung, auch enthalten sind wiederverwertete Steine römischer Befestigungsanlagen. Die Fassade wurde beim Bau mit Steinen aus Caen geschmückt, in der Frühen Neuzeit wurde dieser fast durchgehend durch Portland Stone ersetzt. Die Wände sind im unteren Teil des Turms 4,6 Meter dick, im oberen immer noch 3,4 Meter. Der White Tower prägte den Namen der Festung bereits seit dem Mittelalter. Obwohl die Festung aus zahlreichen Mauern, Türmen, Toren, Häusern, Kasernen und Gräben besteht, wurde sie in England fast über die gesamte Zeit ihrer Existenz als Tower (dt. Turm) bezeichnet, da der White Tower das optisch prägende Bauwerk war. Nutzungsgeschichte Das Umfeld des Towers wurde über viele Jahrhunderte durch den Konflikt zwischen Krone und Stadt geprägt, der sich aus der Stellung des Towers als Festung gegen London ergab. Bis in das späte 19. Jahrhundert hinein war der Tower von der Stadt administrativ getrennt, hatte eigene Steuern, Polizei, Gerichtsbarkeit und Gefängnis. Seit 1686 umfassten die Tower Liberties nicht nur Tower und Tower Hill, sondern auch drei weitere Flächen im Stadtgebiet. Seit dem frühen 19. Jahrhundert schränkten diverse Polizeigesetze die Rechte der Liberties ein und übertrugen die Befugnisse an die Stadt London. Ab 1855 gehörten Tower und Liberties zum Whitechapel District, seit 1900 zum Metropolitan Borough of Stepney, seit 1965 zum London Borough of Tower Hamlets. Residenz (1078 bis 1533) Ursprünglich diente der zuerst fertiggestellte White Tower als Wohnung der englischen Könige im Tower. Aber bereits 1171/1172 lassen sich schriftliche Zeugnisse für andere Wohnräume auf dem Festungsgelände finden. Diese machen keine Aussage über Art und Größe der Gebäude. In der Regierungszeit von Heinrich III. ab 1216 begann endgültig die Verlagerung der Wohnräume des Königs auf das Festungsgelände außerhalb des White Towers. Bereits Heinrich III., der maßgeblich für die heutige Gestalt der Festung verantwortlich ist, war nur noch elfmal im Tower, und hielt sich insgesamt 32 Wochen dort auf. Sieben der elf Besuche fanden im Jahr 1261 statt, als politische Krisen ihn mehrfach veranlassten, im Tower Zuflucht zu suchen. Der andere große Tower-Baumeister, Eduard I. kam ähnlich selten. Er hielt sich nur insgesamt sechsmal im Tower auf. Wie Heinrich vor ihm bevorzugte er das weitläufigere Westminster und hielt sich vor allem im Tower auf, wenn er ein Zeichen der Machtausübung setzen wollte. Andere Könige, wie Johann Ohneland nutzten den Tower wesentlich öfter als Wohnraum, auch wenn sie wenig zu dessen Ausbau beitrugen. Eduard I. begründete die Tradition, dass der König die Nacht vor seiner Krönung im Tower verbrachte. Diese Tradition hielten die englischen Monarchen 300 Jahre lang aufrecht. Während der an Krisen reichen Herrschaft von Eduard II. nutzte dieser den Tower wiederholt als Zufluchtsort. Sein Sohn Eduard III. hielt dies jedoch nicht mehr für nötig und in den folgenden Jahrhunderten wurde er kaum mehr als königliche Wohnung genutzt. Die Form und Gestalt des Towers verhinderte Um- oder Anbauten, die in den folgenden Jahrhunderten den steigenden königlichen Ansprüchen an Wohnraum hätten gerecht werden können. Um den Tower den Moden der Zeit anzupassen, hätten größere Teile des Gebäudes abgerissen werden müssen. Es erwies sich als deutlich einfacher, andere Paläste an anderer Stelle zu bauen. Der letzte englische König, der freiwillig im Tower of London übernachtete, war Heinrich VIII., als er sich hier anlässlich der Krönung seiner Frau Anne Boleyn aufhielt. Er wohnte in der letzten im Tower errichteten Wohnung, die sein Vater Heinrich VII. hatte bauen lassen. Alle nachfolgenden Könige und Königinnen, die sich hier aufhielten, taten dies nicht mehr freiwillig. Anne Boleyn fand sich wenig später ebenso unfreiwillig im Tower wieder wie die spätere Elisabeth I. Lady Jane Grey wartete hier nach nur neun Tagen Regierungszeit auf ihre Hinrichtung. Militärische Anlage (seit 1078) Festung und Kaserne (seit 1078) Der Tower diente als Festung, die dazu gedacht war, London zu beschützen und zu kontrollieren. Die zentrale Lage an der Themse erlaubte es, Angreifer auf London abzuwehren. Es war aber auch ein sicherer Rückzugsort, von dem aus die Truppen des Königs London und dessen potentiell unruhige Bevölkerung kontrollieren konnten. Der Tower war selten Objekt einer Belagerung. Während der Rosenkriege belagerten 1460 Verbündete von Richard Plantagenet, 3. Duke of York den Tower und beschädigten seine Außenmauern mit Artillerie. Es gelang ihnen aber nicht, die Festung einzunehmen. Bei den Gelegenheiten, zu denen es Angreifern gelang, in das Innere der Festung zu gelangen, lag dies an der Passivität der Festungsbesatzung. Während des Bauernaufstands von 1381 mit Wat Tyler gelang es Rebellen ohne Gegenwehr 1381 in den Tower einzudringen. Eine Menschenmenge von etwa 20.000 Leuten hatte bereits in der Nähe des Towers übernachtet und gedroht die Festung zu stürmen, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Richard II., der im Tower war, beschloss zum Schein auf Forderungen einzugehen und schlug dafür Verhandlungen in Mile End vor. Als sich die Tore öffneten, um den König und seine Entourage herauszulassen, stürmten etwa 400 Menschen mit Wat Tyler, Jack Straw und John Ball in die Festung. Sie suchten und fanden Simon Sudbury, den Erzbischof von Canterbury, den Schatzkanzler Robert Hales und seine Begleitung. Es gelang den Rebellen, sie aus dem Tower zu holen und auf dem Tower Hill zu köpfen. Die Angreifer plünderten bei dieser Gelegenheit die königliche Waffenkammer. Sie zerstörten Archivmaterialien und offizielle Dokumente, die im Tower aufbewahrt wurden. Da die überlieferten Dokumente kurz danach die Auswechslung des beschädigten Schlosses an der Schatzkammer aufzeichnen, ist davon auszugehen, dass die Aufständischen auch in die Schatzkammer eindrangen. Kurz nachdem das englische Königreich nach dem englischen Bürgerkrieg 1661 sein erstes stehendes Heer eingeführt hatte, begann es, dauerhaft Truppen im Tower zu stationieren. Aus dem Jahr 1661 sind 300 Soldaten im Tower überliefert, die dort dauerhaft stationiert waren, die später aber nicht mehr in den Quellen auftauchen. Größtenteils waren Truppen nur zeitweise im Tower stationiert und hatten Hauptquartier und Kasernen woanders. Der Aufstand durch James Scott, 1. Duke of Monmouth provozierte neue Truppenaushebungen, durch die auch 1685 das 7th Foot The Royal Regiment of Fusiliers entstand. Dieses hatte seinen Sitz im Tower und ursprünglich die Aufgabe, die Geschütze im Tower zu bewachen. Durch die Jahrhunderte veränderte es mehrfach seine Struktur und ging 1968 im Royal Regiment of Fusiliers auf. Dieses hat sein Hauptquartier und Regimentsmuseum weiterhin im Tower. Im frühen 19. Jahrhundert wurden die Truppen im Tower verstärkt. Die französische Armee unter Napoleon Bonaparte bedrohte die englische Monarchie vom Festland her. Die British Army forderte in ihrem Dauerkonflikt um Platz im Tower mit Board of Ordnance, Royal Mint und Archiv endlich entscheidende Änderungen und forderte im Jahr 1811 insgesamt 929 im Tower stationierte Soldaten, die im Notfall auf 1.700 Mann aufgestockt werden konnten. Dafür hätte das Board of Ordnance mehrere Gebäude räumen und alle Stallungen in die Hand der Army geben müssen. Die Unterbringung der Soldaten wäre im Standard schlechter gewesen als in den regulären Kasernen. Dem Platzmangel für die Armee half erst der Bau der Waterloo Barracks Mitte des 19. Jahrhunderts ab. Hier waren bis 1947 mehrere Hundert Soldaten stationiert. Obwohl der Tower bereits seit Jahrhunderten nicht mehr angegriffen worden war, provozierte der Bau der Tower Bridge im Jahr 1893 wütende Reaktionen der Armee, die um die Verteidigungsfähigkeit des Towers fürchtete. Die Krise ließ sich erst beilegen, nachdem der Armee das Recht eingeräumt worden war, im Rahmen ihrer Pflichterfüllung die Tower Bridge besetzen zu dürfen. Bis in das 20. Jahrhundert hinein diente der Tower vor allem zum Zwecke der Aufstandsbekämpfung. Eine ständige Garnison entstand im Tower in der Zeit des Commonwealth of England, als der damalige Gouverneur des Towers sechs bis acht Kompanien im Tower stationierte. Diese Soldaten rückten in den folgenden Jahrhunderten regelmäßig aus, wenn es zu Demonstrationen oder anderen aufstandsartigen Situationen in London kam. Unter der konfliktbeladenen Herrschaft von Jakob II. ließ der König Mörser auf den beiden Bastionen im Norden des Towers stationieren, deren offensichtliches Schussfeld die Londoner City gewesen wäre. Während die Chartisten im 19. Jahrhundert entgegen den Erwartungen des Konstablers den Tower nicht stürmten, rückte die dort ansässige Garnison noch einmal zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus. Mitglieder der Tower-Garnison nahmen an der Belagerung der Sidney Street im Londoner Stadtteil Stepney teil. Arsenal, Waffenlager und Waffenwerkstatt (1078 bis 2000) Vom späten Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert hinein diente der Tower als Arsenal und Lager für Rüstungen und andere Waffen. Es entwickelte sich aus dem Wardrobe des Königs – dem Teil des königlichen Haushalts, der für seine persönlichen Besitztümer inklusive der Waffen zuständig war. Dieser saß seit den Zeiten der normannischen Könige im Tower. Im Laufe der Jahrhunderte entwickelte sich aus dem Wardrobe das Board of Ordnance, das für die gesamten Waffen und die Ausrüstung der englischen Streitkräfte zuständig war. Es hatte bis zu seiner Auflösung 1855 sein Hauptquartier im Tower of London. Im Hundertjährigen Krieg wurden Vorräte aus ganz England im Tower gesammelt und von dort an die kämpfenden Truppen verteilt. Der überragende Erfolg der englischen Langbogenschützen in den Schlachten des Krieges lag unter anderem an den Vorräten an Pfeilen und Bogensehnen, die im Tower gelagert wurden und über die Themse schnell verfügbar waren. Von den verschiedenen Nutzern des Towers beanspruchte das königliche Waffenlager bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein den meisten Platz. In den Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts war der Tower das wichtigste Waffen- und Munitionslager des Königs. Erst mit dem Aufstieg Großbritanniens zur Weltmacht begann sich diese Rolle des Towers zu ändern. Waren die Mittel- und Lagerräume des Towers ausreichend, um das wichtigste Lager eines Bürgerkriegs zu sein, so reichten sie keineswegs aus, um eine weltweit agierende imperiale Flotte auszurüsten. Die Umrüstung auf Feuerwaffen und Explosivstoffe machte die Lage des Towers zum Problem: Bürgermeister und Rat Londons beschwerten sich mehrmals beim König darüber, dass größere Mengen Sprengstoff direkt am Rande der City of London gelagert wurden. Während das königliche Waffenlager weiterhin die dominierende Rolle im Tower spielte, begann die Rolle der Festung gegenüber anderen großen Lagern und Waffenfabriken zu schwinden. In den folgenden Jahrhunderten diente der Tower weiterhin als Waffenlager und -fabrik, oft jedoch für Gegenstände und Waffen, für die gerade keine langfristige Lagermöglichkeit existierte und die deswegen im einfach verfügbaren Tower untergebracht wurden. Die Nutzung als provisorisches Waffenlager zog sich bis in das 20. Jahrhundert. Im Zweiten Weltkrieg diente der Tower vor allem dazu, Lehrgänge abzuhalten und Offiziere zu trainieren. Noch 1914 allerdings ließ das britische Kriegsministerium die Erdverfüllung in der Brass-Mount-Bastion entfernen, um dort 41.000 Gewehre lagern zu können. Die Brass Mount diente insgesamt bis in die 1990er hinein als Waffenlager. Kartenwerkstatt (1683 bis 1841) Der Drawing Room im Tower existierte vermutlich seit 1683 als Lagerraum für Karten. Als eigene Kartenwerkstatt, die Army und Navy mit neuen militärischen Karten versorgte, existierte der Drawing Room im Tower seit 1717 mit den beiden Kartenzeichnern George Michelson und Thomas James. Während Michelson Karten zeichnete, war James vor allem damit beschäftigt, maßstabsgetreue Modelle gegnerischer Festungen zu erstellen. Nach Michselsons Tod 1740 wechselte das Amt des Modellmachers in das Royal Arsenal in Woolwich und der Tower konzentrierte sich auf das Kartenzeichnen. 1733 zog die Werkstatt in größere Räume im White Tower um, da vermutlich die Zahl der Mitarbeiter angestiegen war. 1752 führte der britische Generalleutnant für die bis dahin eher informell geführte Werkstatt einen Organisationsplan für 15 Mitarbeiter mit klar geregelten Hierarchien, Arbeitszeiten und Bezügen ein. In den diversen kriegerischen Auseinandersetzungen, in die die Krone im 18. Jahrhundert verwickelt war, sank die Zahl der Mitarbeiter nur selten unter 30. Ab 1790 reisten zahlreiche Zeichner durch das Land, um bis 1801 den Survey of Kent fertigzustellen. Endgültig den Tower verließen die Kartenzeichner im Jahr 1841, als sie nach Southampton zogen. Für eine kurze Zeit im 17. Jahrhundert konnte John Flamsteed sein Teleskop in der nordöstlichen Tourelle des White Towers aufbauen, der damit das erste Royal Observatory beherbergte. Gefängnis und Hinrichtungsort Gefängnis (1101 bis 1941) Der Tower diente von 1101 bis 1941 als Gefängnis. Bis in das 14. Jahrhundert hinein diente der Tower dabei als gewöhnliches Kriminalgefängnis für London und umliegende Regionen. Die direkte Verbindung zu den englischen Königen, die Lage am Wasser, die starken Festungsmauern gegenüber der möglicherweise aufständischen Londoner Bevölkerung und die Sicherung durch militärische Truppen erwiesen sich als Vorteile für die inhaftierenden Könige. Vermutlich bestand zu dieser Zeit ein eigener Gefängnisbau auf dem Festungsgelände, der später abgerissen wurde. Das 1188 neu gebaute Newgate-Gefängnis ersetzte den Tower langsam in dieser Rolle. Dazu trug vermutlich auch ein Gefangenenausbruch bei, bei dem bewaffnete Gefangene zur benachbarten Kirche All Hallows-by-the-Tower laufen konnten, die Kirchglocken läuteten, und eine aufgebrachte Menge Teile aus Toren und Wänden der Festung herausbrach. Nach dem 13. Jahrhundert war die Rolle des Towers als reguläres Gefängnis zu Ende. Danach diente er vor allem dazu, um höhergestellte Gefangene festzuhalten, die einerseits sicher verwahrt waren, andererseits standesgemäß untergebracht wurden. Im täglichen Leben des Towers, und bei den Anforderungen an die Bauten, stellte die Gefängnisfunktion eine Nebensächlichkeit dar, die kaum Ressourcen band. Im Tower befanden sich diverse englische Könige oder Ex-Könige wie Richard II., Heinrich VI., Eduard V. – einer der beiden Prinzen im Tower – sowie die „Neuntagekönigin“ Jane Grey. Im Tower ließ Heinrich VIII. zwei seiner Frauen, Anne Boleyn und Catherine Howard, hinrichten. Hinzu kamen hochgestellte Kriegsgefangene, die oft gegen Lösegeld freigekauft wurden: Die schottischen Könige John Balliol, David II. und Jakob I. wurden im Tower festgehalten, ebenso wie der französische König Johann II. Darüber hinaus diente der Tower immer wieder dazu, Kriegsgefangene festzuhalten, bis die Krone diese auf andere Gefängnisse verteilte. Das begann mit hunderten Franzosen, die im Hundertjährigen Krieg gefangen saßen, und endete erst mit dem Zweiten Weltkrieg, als deutsche Spione und aufgebrachte U-Boot-Besatzungen durch den Tower geschleust wurden. Einer der letzten Gefangenen war Rudolf Heß, der bis zum 20. Mai 1941 im Tower inhaftiert war. Durch die jahrhundertelange Nutzung als Gefängnis finden sich in den Gebäuden des Towers etwa 300 Schnitzereien, Graffiti und andere Hinterlassenschaften der Gefangenen. Die meisten dieser Inschriften beschränken sich auf den Namen und die Initialen der Gefangenen – teilweise ergänzt um ein Datum –, oft aber finden sich ausführlichere und elaboriertere Werke an den Wänden. So finden sich Graffiti, die den Namen des Gefangenen graphisch darstellen, wie von Thomas Abbell, der seinen Namen als A in einer Glocke (englisch bell) zeichnete. Die nächsthäufige Gruppe sind Sinnsprüche oder kleine Weisheiten. Diese finden sich insbesondere bei Gefangenen, die im Rahmen der religiösen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Tower landeten. Diese referenzieren oft Bibelstellen oder andere bekannte Weisheiten des Christentums. Die kunstvollste und aufwendigste Arbeit im Tower wurde im 16. Jahrhundert vom katholischen Geistlichen Hugh Draper geschaffen. Dieser arbeitete eine astronomische Uhr in eine der Wände des Towers, die bis heute erhalten ist. Hinrichtungsstätte (1483 bis 1941) Im Allgemeinen wurden die Gefangenen, die im Tower auf ihre Hinrichtung warteten, vor den Toren der Festung auf dem Tower Hill hingerichtet. Im Tower fanden in den Jahren 1483 bis 1603 insgesamt sieben Hinrichtungen statt. Erstes Opfer war William Hastings, 1. Baron Hastings, der zwischen Richard, Duke of Gloucester und dem englischen Thron stand. Hastings wurde bei einem Treffen im White Tower überraschend des Hochverrats bezichtigt, auf das Tower Green gezerrt, und dort nach wenigen Minuten hingerichtet. Wenige Wochen später war Richard König. Heinrich VIII. nutzte den Tower, um seine Ex-Frauen und ihre Vertrauten abseits der großen Öffentlichkeit in Privatheit hinrichten zu lassen. Heinrichs Tochter Maria I. ließ ihre Thronkonkurrentin Jane Grey auf dem Tower Green enthaupten, Heinrichs andere Tochter Elisabeth ihren ehemaligen Favoriten Robert Devereux, 2. Earl of Essex. Zur größten öffentlichen Hinrichtung auf dem Gelände des Towers kam es 1743. Insgesamt 107 Soldaten aus dem schottischen 43rd Regiment of Foot (die Black Watch) waren wegen Meuterei angeklagt und wurden von einem Gericht aus Offizieren zum Tode verurteilt. Von diesen wurden 104 begnadigt und ins Mittelmeergebiet oder nach Amerika geschickt. Drei, Samuel Macpherson, Malcolm Macpherson und Farquhar Shaw, wurden unter den Augen ihrer Kameraden am 19. Juli vor der Kirche St. Peter ad Vincula erschossen. Die Schützen stammten aus dem gerade diensthabenden Wachregiment, das zufällig aus den Scots Guards bestand. Nachdem bereits 150 Jahre keine weiteren Hinrichtungen mehr im Tower oder auf dem Tower Hill stattgefunden hatten, sorgten Erster und Zweiter Weltkrieg für ein kurzes Wiederaufleben von Exekutionen auf dem Tower-Gelände. Zwischen 1914 und 1916 wurden elf deutsche Spione erschossen. 1941 kam der wiederum von den Scots Guards hingerichtete Josef Jakobs hinzu, ebenfalls ein deutscher Spion und das letzte Todesopfer im Tower. Alle Spione wurden weit weniger zeremoniell umgebracht als die Opfer des 15. bis 17. Jahrhunderts. Die Erschießungen fanden in einem Schießstand zwischen Martin Tower und Constable Tower statt. Dieser wurde 1969 entfernt. Ausstellungsgebäude Menagerie (1235 bis 1835) Vom Jahre 1235 bis zum Oktober 1835 beherbergte der Tower of London eine Menagerie von Wildtieren. Dabei handelte es sich überwiegend um Großkatzen und Bären; zu den dort gehaltenen Tieren zählten aber auch beispielsweise Elefanten, Affen, Nashörner und Adler. Die Tradition der Tierhaltung im Tower geht auf Heinrich III. zurück, der anlässlich der Verheiratung seiner Schwester Isabella mit Kaiser Friedrich II. von seinem Schwager drei Löwen zum Geschenk erhielt. Die drei Großkatzen, die im von Henry III. gerade erweiterten Tower untergebracht wurden, überlebten nicht lange. 1252 beherbergte der Tower einen Bären von heller Fellfarbe, diesmal ein Geschenk des norwegischen Königs an Henry III. Die Nachfolger von Henry III. setzten die Tradition der Tierhaltung im Tower fort. Traditioneller Bestandteil der Menagerie waren Löwen. Ab 1420 konnten die Tiere der Menagerie im Tower gegen Zahlung eines Eintrittsgeldes besichtigt werden. Das zunehmende Interesse an Naturwissenschaften ab dem 18. Jahrhundert wirkte sich auf die Tierhaltung aus: Die Käfige wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts modernisiert. Sie konnten jetzt beheizt werden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ging das Interesse des Publikums an den Tieren in der Towermenagerie allmählich zurück. Die Anzahl der in der Menagerie gehaltenen Tiere und Tierarten nahm stetig ab, bis die Krone 1822 als ersten erfahrenen Tierwärter Alfred Cops einstellte. Er fand nur noch einen Elefanten, einige wenige Vögel sowie den ersten in Großbritannien gezeigten Grizzly als Bestandteil der königlichen Menagerie vor. Mit Unterstützung Georg IV. begann er die Menagerie umzubauen und um eine große Anzahl neuer Tierarten zu erweitern. 1829 waren neben den obligatorischen Löwen, Tiger und Bären unter anderem ein Ozelot, Gepard, Karakal, verschiedene Hyänen, Zebras, Lamas, Papageien, eine Anakonda und Klapperschlangen zu sehen. Die erneute Blüte der Towermenagerie währte jedoch nur sehr kurz. Nachdem der London Zoo eröffnet worden war, wurden die Tiere dem Zoo übereignet. Touristenziel (seit dem 16. Jahrhundert) Seit dem 16. Jahrhundert war es möglich, nach vorheriger Anmeldung Teile des Towers zu besichtigen. Die ersten Berichte von Reisenden bezogen sich vor allem auf die Tower-Menagerie und die „Line of Kings“ – eine Ausstellung der Figuren englischer Könige auf Pferdefiguren mit echten Rüstungen und Waffen. Die Ausstellung der britischen Kronjuwelen begann mit deren Umzug in den Martin Tower im Jahr 1669. Für die breite Öffentlichkeit war er jedoch erst seit den sozialen Reformen des 19. Jahrhunderts zugänglich. Kartenverkauf vor dem Tower gibt es seit dem 19. Jahrhundert. Der erste öffentliche schriftliche Führer für das Gebäude wurde 1841 veröffentlicht, und sollte diverse privat geschriebene Führer ersetzen, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kursierten. 1851 kam die erste öffentliche Verkaufsstelle für Eintrittskarten am Tower hinzu. Bis 1900 betrug die Zahl der Besucher bereits eine halbe Million jährlich. Große Attraktionen waren die Armouries, die Kronjuwelen, und die Menagerie. Eng mit dem Tourismus sind die Tower-Raben verbunden. Diese gehen der Legende nach viele Hundert Jahre zurück, lassen sich historisch jedoch erst nachweisen, als der Massentourismus im Tower begann. Die ersten gesicherten Quellen ihrer Existenz tauchen Ende des 19. Jahrhunderts auf. Seit 1944 lässt sich eine Legende nachweisen, nach der die Existenz der Raben seit Jahrhunderten mit dem Wohlergehen des britischen Königreichs zusammenhängt. Museum (seit etwa 1600) Die Armouries, die Waffenkammern, waren seit seinem Bestehen Teil des Towers. Seit dem späten Mittelalter wurden die dort enthaltenen Stücke gelegentlich wichtigen Besuchern informell gezeigt, um sie zu beeindrucken. Zur organisierten, einer breiten Öffentlichkeit zugänglichen Ausstellung entwickelten sich die Royal Armouries nach der Stuart-Restauration. Die neuen Könige erkannten den propagandistischen Glanz, den eine neue Ausstellung nationaler Größe auf sie selber werfen würde. Das Museum der Royal Armouries entwickelte sich aus drei Ausstellungen. Die Line of Kings zeigte historische britische Könige in ihrer Uniform auf einem Pferd. Diese Sammlung war ein Publikumsmagnet, aber historisch wenig authentisch. Bei einer Überarbeitung im 19. Jahrhundert wurden die größten Übertreibungen getilgt, das Publikumsinteresse ließ daraufhin schlagartig nach. Im Grand Storehouse waren aktuelle Waffen in einer spektakulären Ausstellung präsentiert, bis das Gebäude 1841 abbrannte. Die Ausstellung Spanish Armouries schließlich sollte Kriegsbeute aus dem Sieg über die Spanische Armada zeigen. Der größte Teil der präsentierten Objekte war jedoch älter und stammte aus den eigenen Beständen des Towers. Später kamen weitere eigene Bestände, Geschenke und andere Kriegsbeute hinzu. Die Royal Armouries waren über die Jahrhunderte eine der Hauptattraktionen des Towers. Zu den besonders eindrucksvollen Prunkstücken zählen diverse Rüstungen von Heinrich VIII. Noch in den 1980ern nahmen die Royal Armouries den White Tower, die New Armouries und einen Teil der Waterloo Barracks ein. Seit den 1990ern befindet sich der Großteil der Sammlungen der Royal Armouries in einem Museumszweckbau im nordenglischen Leeds. Die Ausstellungsstücke in London füllen aber weiterhin die unteren zwei Stockwerke im White Tower. Seit dem 20. Jahrhundert hat das Royal Regiment of Fusiliers nicht nur sein Hauptquartier im Tower, sondern auch ein eigenes Museum, das Fusilier Museum London. Es entstand aus einer 1949 von Angehörigen dieses Infanterieverbandes begonnenen privaten Sammlung von für seine Geschichte wichtigen Gegenständen, die das Regiment 1962 öffentlich machte. Das Museum befindet sich ebenso wie das Hauptquartier im ehemaligen Offiziersgebäude der Waterloo Barracks. Das Highlight der Sammlung sind zwölf Victoria-Kreuze, die Angehörige des Regiments verliehen bekamen. Kurzfristig befand sich von 1981 bis in die 1990er Jahre das Heralds’ Museum in den Waterloo Barracks im Tower. Dieses Museum der britischen Heraldik zeigte insbesondere Bestände des College of Arms. Nachdem der Tower von einer unabhängigen Organisation, Historic Royal Palaces, verwaltet wird, findet sich kein Platz mehr in der Festung für dieses Museum. Mittlerweile nimmt das Jewel House das gesamte Erdgeschoss der Waterloo Barracks ein. Münzprägestätte (1279 bis 1812) Die Royal Mint hat ihre Ursprünge im Tower. Eine Münzprägestätte befand sich seit dem 9. Jahrhundert in London. Dabei ist der genaue Ort dieser Stätte unbekannt. Die ersten Erwähnungen eines konkreten Orts beziehen sich auf den Tower. Seitdem Eduard I. im äußeren Festungsring des Towers Münzen prägen ließ, entwickelte sich daraus die Royal Mint. Eine Münzprägestätte befand sich mindestens seit 1279 im Tower. Obwohl es seit dem frühen Mittelalter Versuche gab, die englische Münzprägung zu zentralisieren, erlangte die Royal Mint erst im 16. Jahrhundert das faktische Monopol auf die Münzherstellung im Königreich. Im frühen 19. Jahrhundert nahm die Royal Mint etwa ein Drittel des gesamten Towergeländes ein. Dabei fanden sich sowohl die Werkstätten im Tower als auch die Wohnräume der an der Münzherstellung beteiligten Handwerker und Offiziere. Auch in der kurzen Zeit der englischen Republik wurde in der Münzstätte London geprägt. Der Lordprotektor Oliver Cromwell ließ die nach seinem Tod besonders bekannt gewordenen englischen Silberkronen mit der Bezeichnung Cromwelltaler in London unter dem Münzmeister Pierre Blondeau prägen, die mit seiner postumen Hinrichtung in Verbindung gebracht wurden. Wo sich die Mint in den ersten Jahrhunderten ihrer Existenz im Tower befand, ist nicht bekannt. Allerdings ist es wahrscheinlich, dass sie von Anfang bis Ende ihrer Zeit im Tower Werkstätten und Wohnräume im Westen des äußeren Festungsrings einnahm. Die frühesten archäologischen Funde zur Mint lassen sich auf das späte 15. Jahrhundert datieren. Im 16. Jahrhundert wurde der gesamte äußere Ring als The Mint bezeichnet. Im Gegensatz zum Board of Ordnance, das sich den Tower aneignete, versuchte die Royal Mint immer eine personelle und organisatorische Unabhängigkeit vom Rest des Towers zu wahren. Das Gebiet der Mint im Tower war ein separater Bereich. Mitarbeiter der Mint hielten sich meistens dort auf, die anderen Tower-Bewohner waren innerhalb der Mint nicht gerne gesehen. Im Laufe der Jahrhunderte vergrößerte sich der Anspruch an neues Geld, und die zu prägende Geldmenge stieg. Die Münze im Tower reichte in den folgenden Jahren für den Alltagsbetrieb, der gestiegene Platzbedarf für kompliziertere Verfahren zur Schaffung größerer Münzmengen wurde jedoch offenkundig. Aus Platzgründen zog die Royal Mint im Jahr 1812 aus dem Tower in die Nachbarschaft, und 1978 zog sie ganz nach Wales. Von der Mint sind noch diverse Gebäude in der Mint Lane im Westen des äußeren Verteidigungsringes erhalten. Von der eigentlichen Münzprägung finden sich nur noch sehr vereinzelt archäologische Beweise. Sicheres Lager Archiv (13. Jahrhundert bis 1858) Seit dem späten 13. Jahrhundert war der Tower eines der wichtigsten nationalen Archive Englands und des Vereinigten Königreichs. Aus dem Jahr 1312 sind Dokumente bekannt, die sich mit einem schon existierenden Archiv beschäftigen. Eduard II. gab Anweisungen die vorhandenen Dokumente zu ordnen und zu sortieren. Im Jahr 1325 war diese Aufgabe vollendet. Die Dokumente befanden sich dabei über die Jahrhunderte in verschiedenen Gebäuden, wichtige Sammlungen waren im White Tower und im Wakefield Tower. Die Dokumente befanden sich ebenfalls lange Zeit in eigens für sie errichteten Archivgebäuden. Aus dem Mittelalter sind die Namen verschiedener Keeper of the Records bekannt. Ebenso existieren Dokumente die belegen, dass der Tower Dokumente an König und Parlament übergab. Dies sind starke Indizien für die Existenz eines organisierten Archivs im Tower, über das aus dem Mittelalter aber wenig bekannt ist. Die ersten systematischen Versuche, das Archiv zu ordnen sind aus den Zeiten von Elisabeth I. überliefert. Zu dieser Zeit befanden sich die Dokumente im Wakefield Tower. Der Keeper of the Records William Bowyer produzierte eine mehrbändige Übersicht der im Tower gelagerten Dokumente, die sie der Königin übergaben. Als nach dem Mittelalter der Schriftverkehr der englischen Verwaltung immer weiter anstieg, breitete sich das Archiv über das gesamte Towergelände aus. Es belegte seit dem 16. Jahrhundert zahlreiche Gebäude, die vorher dem König als Aufenthaltsraum oder für militärische Zwecke gedient hatten. Ein Großteil der Dokumente befand sich in der gesamten Frühen Neuzeit im Wakefield Tower, der auch das Zentrum der Archivtätigkeiten war. Dieser war allerdings nur für die Archivare und Forscher zugänglich. Besuchern, die „das Archiv“ sehen wollten, wurde im Normalfall die Kapelle im White Tower vorgeführt, die seit dem 17. Jahrhundert von einer Kapelle zu einem Archivgebäude umgenutzt wurde. Das Archiv wäre fast zerstört worden, als 1788 das Ordonance Office abbrannte. Dessen Gebäude befand sich direkt neben dem Wakefield Tower. Der Turm und sein Inhalt überlebten das Feuer nur, weil der Wind das Feuer vom Wakefield Tower wegtrieb. Im 19. Jahrhundert versuchte das englische Parlament die verschiedenen Archive, die im Vereinigten Königreich existierten, zusammenzulegen und zu modernisieren. Dafür vereinigte es die diversen Archive des Vereinigten Königreichs 1858 im Public Record Office. Für dieses wurde ein Gebäude außerhalb des Towers gebaut. Auch der Brand des Grand Storehouse im Jahr 1841 hatte noch einmal die Gefahr gezeigt, in der sich die Dokumente befanden. Diese wurde verstärkt, da sich im White Tower zu dieser Zeit noch große Mengen Schießpulver befanden, die ebenfalls eine Gefahr für das Archiv bilden. Das neue Public Record Office befand sich im 19. Jahrhundert in der Chancery Lane westlich der City und ist mittlerweile in den National Archives im Londoner Stadtteil Kew aufgegangen. Aufbewahrungsort der Kronjuwelen (seit 1303) Die Kronjuwelen werden seit 1303, nachdem sie aus der Westminster Abbey gestohlen worden waren, im Tower aufbewahrt. Der genaue Aufbewahrungsort im Tower wechselte dabei mehrfach über die Jahrhunderte. Ursprünglich stellte der Keeper of the Jewels diese Schmuckstücke nicht öffentlich aus. Sie waren hinter dicken Mauern möglichst weit von der Öffentlichkeit weggeschlossen und verwahrt. Mittlerweile sind die Kronjuwelen die bestbesuchte Touristenattraktion innerhalb des Towers. Die Rückkehr der Stuarts nach dem englischen Bürgerkrieg ließ einen wiedergewonnenen Monarchismus erwachen. Die öffentliche Krönung von Karl II. wurde von Teilen der Londoner Bevölkerung enthusiastisch aufgenommen. Da das Parlament im Bürgerkrieg die alten Kronjuwelen zerstört hatte, mussten für diese Krönung neue Juwelen hergestellt werden. Da das alte Jewel House im White Tower nicht mehr vorhanden war, musste anlässlich der Restauration ein neuer Platz für die Kronjuwelen gefunden werden. Diese landeten im Martin Tower. Die Juwelen befanden sich im Erdgeschoss, während die Wohnung des Keepers im Ersten Stockwerk lag. Der Zugang zum Martin Tower erfolgte über das erste Stockwerk. Die Ausstellung der Kronjuwelen begann in dieser Zeit. Der Ausstellungsbesuch war kostenpflichtig und eine wichtige Einkommensquelle des Masters of the Jewel House. Zu Beginn waren die Vorführungen informell. Gäste wurden in den Raum mit den Juwelen gelassen. Dann schloss der Master of the Jewel House die Tür und holte die Juwelen aus dem Schrank, in dem sie aufbewahrt wurden. Dies führte nach einigen Jahren beinahe zum Diebstahl von Krone, Zepter und Reichsapfel durch Thomas Blood und eine Komplizin. Nach Bloods versuchtem Diebstahl systematisierte die Monarchie die Ausstellung. Sie ließ eine Liste der Ausstellungsstücke anlegen, baute Bänke in den Martin Tower und einen Käfig, in dem die Juwelen aufbewahrt wurden. Besucher aus dieser Zeit beschreiben den Martin Tower als dunkle, enge Höhle, in der die Juwelen wie eingesperrt wirken. Trotzdem wuchs über die Jahre die Nachfrage nach der Besucherattraktion. Als 1841 das Grand Storehouse in unmittelbarer Nachbarschaft des Martin Towers abbrannte, gerieten die Kronjuwelen und der Martin Tower kurzzeitig in Gefahr. Ein neu gebautes Jewel House neben dem Martin Tower erwies sich bereits nach kurzer Zeit als unpraktisch und unsicher gegen Diebstahl oder Brand. Trotzdem blieb das Jewel House noch 20 Jahre in Benutzung, da keine der möglichen Stellen bereit war, schon wieder in ein neues Gebäude zu investieren. Erst im Zuge der großen Umbauarbeiten unter Anthony Salvin zogen die Kronjuwelen 1869 in den Wakefield Tower. Seit 1967 befindet sich das Jewel House in den Waterloo Barracks. Das größere Gebäude kann besser mit den Besucherströmen umgehen. Bis in die 1990er hinein wurden sie unterirdisch in den Waterloo Barracks aufbewahrt. Seit 1995 nimmt die Ausstellung das gesamte Erdgeschoss der ehemaligen Kasernen ein. Ein Fahrsteig transportiert die Touristen an den Schmuckstücken vorbei. Friedhof (seit 1535) Gefangene, die auf dem Tower Hill außerhalb des Towers oder auf dem Tower Green hingerichtet wurden, wurden oft auf dem Gelände des Towers selbst bestattet. Wichtige Gefangene mit hohem sozialen Status wurden in oft feierlichen Beerdigungszeremonien in Westminster Abbey oder St Paul’s Cathedral bestattet. Gefangene, die diesen Status nicht hatten, wurden meist ohne jede Zeremonie in der Kirche St Peter ad Vincula im inneren Ring des Towers bestattet. Dies erfolgte meist, ohne dass das Grab gekennzeichnet wurde. Im 19. Jahrhundert beschrieb der Historiker Lord Macaulay die Kirche als traurigsten Ort auf Erden. Queen Victoria, auf deren Geheiß der Tower im 19. Jahrhundert größeren Umbauarbeiten unterlag, beschwerte sich auch über den Zustand von St. Peter ad Vincula. Sie ordnete an, dass sämtliche Gräber auf dem Gelände identifiziert und wiederhergestellt werden sollten. Dabei fand die Tower-Verwaltung die Gräber von Anne Boleyn († 1536), Catherine Howard († 1542), Jane Boleyn († 1542), Allen Apsley († 1630), Margaret Pole († 1541), Edward Seymour, 1. Duke of Somerset († 1551), John Dudley, 1. Duke of Northumberland († 1553). Der Altar in der Kapelle wurde mit den Wappen der dort Liegenden versehen. Außerdem liegen in der Kapelle die Gräber von Thomas Morus († 1535), John Fisher († 1535) und William Howard, 1. Viscount Stafford († 1680). An Morus erinnert seit 1970 ein Schrein, an dem Gläubige beten können. Besucherzahlen 2019 wurde der Tower of London von rund 2,98 Millionen Personen besucht. 2022 betrug die Besucherzahl etwa 2,02 Millionen Menschen. Bewohner und Rituale Über die Jahrhunderte wohnten zahlreiche und verschiedene Gruppen von Menschen im Tower, die in einem Verhältnis zur englischen oder britischen Monarchie standen. 2007 bewohnten etwa 140 Personen das Gelände. Dies sind der Konstabler des Towers, der Resident Governor, die Offiziere des Towers, die Yeoman Warders und ihre Familien, die Wachen der Kronjuwelen sowie ein ansässiger Geistlicher und ein Arzt. Konstabler, Lieutenant und Resident Governor Der Konstabler des Towers vertritt den König als Befehlshaber im Tower bei dessen Abwesenheit. Der Posten lässt sich fast lückenlos bis in das Jahr 1066 zurückverfolgen. Die Stellung des Konstablers war über viele Jahrhunderte eine wichtige militärische und administrative Stellung, die die Kontrolle über den Pool of London erlaubte und Herrschaft über die Tower Division östlich Londons einbezog. Der Konstabler erhielt Zoll für alle Luxusgüter, die über die Themse nach London kamen. Ihm gehörten die Schwäne im London Pool, alles Treibgut, das sich dort befand und alle Gespanne und Tiere, die von einer der Londoner Brücken gefallen waren. Wenn der Konstabler nicht selbst im Tower residierte, vertrat ihn der Lieutenant of the Tower und nahm die Privilegien des Konstablers wahr. Etwa seit der Regierungszeit von Elisabeth I. war diese Aufteilung der Regelfall. Nachdem seit dem 18. Jahrhundert auch der Lieutenant meist nicht mehr im Tower residierte, übernahmen der Deputy Lieutenant und ein Major dessen Aufgaben. Oft entstammten die Konstabler dem Hochadel oder waren hohe geistige Würdenträger. Auch mehrere Erzbischöfe von Canterbury übten das Amt aus. Seit dem 18. Jahrhundert besetzen hohe Offiziere, meist Generäle, die aus dem aktiven Dienst ausgeschieden waren, diesen Posten. Seit dem 20. Jahrhundert sind die Positionen des Konstablers und des Lieutenants vor allem zeremonielle Posten, die an hohe Offiziere nach ihrem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst vergeben werden. Seit 1933 wird das Amt des Konstablers auf fünf Jahre vergeben. Das Hauptprivileg des Konstablers, das sich bis ins 21. Jahrhundert gehalten hat, ist der direkte Zugang zun englischen Monarchen. Derzeitiger Konstabler ist General a. D. Nicholas Houghton. Die eigentliche Verwaltung vor Ort obliegt seit dem späten 19. Jahrhundert dem Resident Governor des Tower. Dieser ist ein aktiver Offizier der britischen Armee und Hauptbefehlshaber des Tower. Seine Amtszeit ist auf fünf Jahre begrenzt. Seit 1968 ist das Amt des Resident Governor mit dem des Keeper of the Jewel House verbunden. Yeoman Warders und Wachen Die Yeoman Warders unter dem Chief Yeoman Warder sind die Polizei- und Ordnungstruppe im Tower. Die Gruppe ist etwa 30 bis 40 Mann stark und zuständig für die Bewachung der Tore und die Ordnung im Tower und auf der Tower Wharf. Yeoman Warders waren für lange Zeit die einzig autorisierten Führer im Tower und sind heute vor allem als Touristenführer bekannt. Bei ihnen handelt es sich um ehemalige Offiziere und Unteroffiziere. Seit 1952 sind sie Angestellte des Öffentlichen Dienstes und gehen mit 65 Jahren in den Ruhestand. Sie und ihre Familien müssen auf dem Gelände des Towers leben. Die erste Erwähnung von Yeoman Warders geht auf das 16. Jahrhundert in die Regierungszeit von Heinrich VII. zurück. Die Gefängniswärter im Tower erhielten das Recht königliche Farben zu tragen und sich zu den Yeomen of the Guard zu zählen. Die Posten waren teilweise bezahlt. Vor allem aber lebten die Warders von Gebühren, die sie von Gefangenen und Touristen kassierten. Die Uniformen sollen mittelalterliche Uniformen imitieren, gehen aber auf das 19. Jahrhundert zurück. Seit 2007 gehört erstmals in der Geschichte eine Frau dem Wachpersonal des Towers an. Neben den Yeoman Warders bewachen auch noch Wachen der Metropolitan Police und Einheiten der regulären Armee die Kronjuwelen. Letztere werden dabei stets von dem der fünf Regimenter der Guards Division gestellt, das auch die anderen Londoner Paläste bewacht. Die Abordnung im Tower besteht im Normalfall aus einem Offizier, fünf Unteroffizieren, einem Trommler und 15 Soldaten. Die Wachen der Armee Zeremonien im Tower Die verschiedenen Zeremonien im Tower gehen in ihrer heutigen Ausgestaltung auf das 19. Jahrhundert zurück. Ebenso wie in dieser Zeit die Architektur der Festung wieder vermittelalterlicht wurde, wurden auch die Zeremonien stärker formalisiert und zuschauerfreundlicher gemacht. So gehen die Uniformen der Bediensteten im Tower ebenso auf das 19. Jahrhundert zurück wie der genaue Ablauf der Schlüsselzeremonie oder diverser anderer Abläufe. Neben den öffentlichen Zeremonien zelebriert der Tower die Einführung neuer Yeoman Warders oder eines neuen Konstabler des Tower. Bei der Zeremonie der Lilien und Rosen, die seit 1923 im Wakefield Tower stattfindet, gedenken Eton-College und King’s College aus Cambridge ihres Gründers Heinrich VI., der vermutlich im Tower ermordet wurde. Tower als Teil der Krönungsfeierlichkeiten Der Tower ist eng mit der britischen Geschichte und insbesondere der Krone verbunden. Er gilt als eines der Symbole des Vereinigten Königreichs und seiner Geschichte seit dem Mittelalter. Im Mittelalter und zu Zeiten der Tudors begann die britische Krönungszeremonie im Tower. Neu zu schlagende Knights of the Bath verbrachten nach einer rituellen Reinigung die Nacht in der Kapelle im White Tower. Am nächsten Morgen schlug sie der zu krönende König zum Ritter, woraufhin sie die Krönungsprozession vom Tower zur Westminster Abbey begleiteten. Salut vom Tower Seit der Krönung von Anne Boleyn im Jahr 1533 sind Salutschüsse vom Tower aus verbürgt, die noch regelmäßig stattfinden. Von den althergebrachten Traditionen des Towers ist diese die einzige, die sich lückenlos bis in die Gegenwart nachverfolgen lässt. Auch heute gibt es Salutschüsse zu wichtigen Anlässen der Monarchie, wie dem Geburtstag des Königs, der Parlamentseröffnung oder Staatsbesuchen. Dabei feuern seit dem frühen 20. Jahrhundert insgesamt 62 Kanonen bei Anlässen der Monarchie und 41 bei Staatsbesuchen. Historisch wurden mit Salutschüssen vom Tower Siege in Schlachten gefeiert. Der letzte so überlieferte Salut stammte aus dem Jahr 1855, als die Briten im Krimkrieg die Stadt Sewastopol eroberten. 1800 schoss der Tower einen Salut anlässlich der Vereinigung von Großbritannien und Irland und 1894 aus Anlass der Eröffnung der Tower Bridge. Ursprünglich von der kleinen Artillerieeinheit abgefeuert, die sich im Tower befand, hat sich nach deren Auflösung 1924 die Honourable Artillery Company dieser Aufgabe angenommen. Diese existiert unter mehreren Namen bereits seit 1537 und stellte bereits die verbleibende Artillerie im Tower während des Ersten Weltkriegs. Schlüsselzeremonie Die bei Touristen beliebteste Zeremonie ist die täglich stattfindende Schlüsselzeremonie. Bei dem in dieser Form seit 1914 stattfindenden Ritual geht der Chief Warder zwischen 21:53 Uhr und 22:00 Uhr in Begleitung regulärer Soldaten die Tore und Wachposten des Towers ab und schließt die Tore. Die Grundform der Zeremonie stammt vermutlich aus der Tudor-Zeit, als sich Gefangene im Tower aufhielten, die sich oft auf den offenen Flächen wie dem Tower Green aufhalten durften. Die genaue Ausgestaltung in der heutigen Form fand im 19. Jahrhundert statt. Die Uhrzeit 22 Uhr, zu der die Zeremonie stattfindet, ist seit 1914 festgelegt. Einzig zu der Zeit des Zweiten Weltkriegs fanden seitdem Abweichungen statt. Der London Blitz sorgte mehrfach für Verschiebungen. Zeitweise waren keine regulären Truppen im Tower, so dass die Zeremonie ohne diese ablief. Heute können Touristen bei der Schlüsselzeremonie zuschauen, sofern sie sich vorher anmelden. Beating the Bounds Das beating of the bounds, das Abschreiten der Grenzen des Towers, geht auf die Zeit zurück, als der Tower und seine Umgebung direkt dem Königshaus unterstellt war und administrativ nicht zur Stadt London gehörte. Bei der Zeremonie des Schlagens der Grenzsteine sollte sichergestellt werden, dass die Grenzsteine in der Zwischenzeit nicht verrückt worden waren. Die Zeremonie war in ihren Grundzügen in größeren Teilen Englands verbreitet, wird aber nur noch selten durchgeführt. Nachdem die Zeremonie seit dem 17. Jahrhundert jedes Jahr zu Christi Himmelfahrt durchgeführt wurde, wird sie seit dem 20. Jahrhundert nur noch jedes dritte Jahr abgehalten. Dazu läuft eine Gruppe aus Chief Yeoman Warder, dem Vikar des Towers, Kinder von Tower-Bewohnern und Chorknaben vom Tower Millennium Pier aus über den Tower Hill und Trinity Square bis zum ehemaligen Iron Gate an der heutigen Tower Bridge. Bei jedem Grenzstein schlagen die Kinder mit Stöcken auf den jeweiligen Grenzstein ein. Zum Abschluss singt die Gruppe auf dem Tower Green die britische Nationalhymne. Die Zeremonie folgt noch weitgehend der Form, die aus dem 17. Jahrhundert überliefert ist. Rezeption und Forschung Bis zum 19. Jahrhundert Der Tower als scheinbar übermächtiges und furchteinflößendes Bauwerk inspirierte Traditionen und Legenden, die dem Tower eine längere Vergangenheit zuschreiben. Geoffrey von Monmouth, der nur etwa 50 Jahre nach Baubeginn lebte, und zahlreiche Autoren nach ihm, datierten den Tower bereits in die Zeiten des legendären englischen Königs Belinus, der weit vor der Ankunft der Römer gelebt haben soll. Die Zeitlosigkeit und Gegenwart der Festung zeigte sich in der Tudor-Zeit, als die Menschen den White Tower als römische Festung betrachteten, und ihn Caesar’s Tower nannten. Als Festung der englischen Könige gegenüber der Stadt London, war der Tower immer Symbol für die Herrschaft der englischen Könige. Die Bevölkerung Londons und die Bewohner des Towers befanden sich lange Zeit in einem Konflikt. Als beispielsweise 1240 beim Ausbau der Festung Grundmauern zusammenbrachen, freute sich die Londoner Bevölkerung offensichtlich, sie dankte dem Londoner Stadtheiligen Thomas Beckett dafür, dass er sie vor einer nicht gerechtfertigten Ausübung königlicher Macht bewahrt habe. Rebellionen gegen den amtierenden Monarchen suchten sich oft den Tower als Ziel, viele Besuche des Königs im Tower dienten vor allem der Machtdemonstration. In den Rebellionen von Simon de Montfort ebenso wie bei der Rebellion von Roger Mortimer und Isabelle spielten die City of London und der Tower entscheidende Rollen. Bei beiden stellte sich die Bevölkerung und der Rat der City of London deutlich auf die Seite der Aufständischen. In der Zeit von Elisabeth I. und Jakob I. spielten insgesamt 24 größere Dramen im Tower. Obwohl der Tower ein Zentrum königlicher Machtausübung ist, stellt er in den Dramen der Zeit oft ein ambivalentes Symbol dar, das ebenso oft Machtverlust oder angezweifelte Macht der Könige zeigt. In William Shakespeares Heinrich VI. verliert der König die Kontrolle des Towers. Im Stück The Life of Sir John Oldcastle von Anthony Munday ist der Tower Basis für Verräter. Dasselbe Stück zeigt auch eine erfolgreiche Flucht aus der Festung. William Shakespeare benutzte den Tower als Hintergrund in einigen seiner Königsdramen zu den Rosenkriegen. Besonders prominent taucht er als Cesar’s Tower im Stück Richard II. auf, eine handlungstragende Rolle spielt der Tower darüber hinaus in Shakespeares Stück Richard III., das die Geschichte der Prinzen im Tower popularisierte. In Richard III. ist zwar die Macht des Königs im Tower unangetastet; der Monarch aber nutzt die Festung für Aktivitäten zweifelhaften moralischen Werts. In das kulturelle Gedächtnis ging insbesondere die Funktion des Towers als Gefängnis ein. Obwohl die Haftbedingungen dort meist besser waren als in den anderen Haftanstalten Londons, ist der Tower besonders mit oft grausigen Geschichten aus der Haft verbunden. Insbesondere die von Shakespeare auf die Bühne gebrachten Prinzen im Tower sind dabei in das kulturelle Gedächtnis eingegangen. Verstärkt wurde der Ruf durch zahlreiche protestantische und katholische Geistliche, die in den Zeiten der Religionskriege im 16. Jahrhundert im Tower einsaßen. Seit dem 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert verstärkte sich der Trend, den Tower als Ort von Grusel und Gefängnis, Heimtücke und Hinrichtung zu sehen. John Everett Millais’ Gemälde The Princes in the Tower erwies sich dabei ebenso als einflussreich wie Paul Delaroches Gemälde Die Hinrichtung der Lady Jane Grey. Ende des 19. Jahrhunderts war W. Harrison Ainsworths Schauerroman The Tower ein einflussreicher Bestseller. Selbst die 1888 erschienene Oper The Yeomen of the Guard von Gilbert und Sullivan ist für das Autorenduo ungewöhnlich ernst und düster. Der englische Schriftsteller Edgar Wallace machte in seinem später verfilmten Kriminalroman „Das Verrätertor“ (Traitors’ Gate) die Schlüsselzeremonie zu einem zentralen Punkt bei einem Versuch, die Kronjuwelen zu stehlen. Im 19. Jahrhundert begann die Öffentlichkeit ein reges Interesse an der Geschichte des Towers zu zeigen. 1821 erschien John Bayleys The History and Antiquaries of the Tower of London und 1830 Brayleys und Brittons Memoirs of the Tower of London. Beide stützten sich vor allem auf die Überlieferung und schriftliche Dokumente. Eine planmäßige archäologische Erforschung des Gebäudes begann jedoch erst im 20. Jahrhundert. Die erste planmäßige Ausgrabung fand 1904 auf Veranlassung der Society of Antiquaries of London statt, die südlich des Wardrobe Towers nach der ehemaligen römischen Stadtmauer Londons suchte. In den folgenden Jahren fanden solche Arbeiten vor allem im Zuge von Umbauten am Tower statt: 1914 im nordöstlichen Bereich bei der Brass Mount, zwischen 1934 und 1938 beim Byward Tower. Im Zuge der Neugestaltung des Eingangsbereichs entdeckten die Forscher größere Überreste des Lion Towers und vom ehemaligen Burggraben aus den Zeiten von Eduard I. Der Tower als Symbol englischer Macht und der englischen Monarchie war mehrfach Ziel politischer Anschläge, seitdem er öffentlich zugänglich ist. Bereits 1885 zündeten Gegner der englischen Besatzung Irlands eine Bombe im White Tower. 1974 explodierte eine Bombe der IRA in der Sammlung der Royal Armouries im White Tower. Denkmalschutz und Gefährdung Der Tower gehört zum Welterbe der UNESCO und ist ein Scheduled monument im Vereinigten Königreich. Nahezu jedes einzelne Gebäude auf dem Festungsgelände besitzt eigenen Denkmalschutz als Listed Building. Die UNESCO nahm den Tower auf die Welterbeliste, da er zwei Kriterien erfüllte. Nach Kriterium (ii) war er Vorbild für zahlreiche weitere Burganlagen mit Keeps aus Stein wie in Colchester Castle, Rochester Castle, Hedingham Castle, Norwich Castle und Carisbrooke Castle. Zum anderen ist er nach Kriterium (iv) ein Beispiel par excellence für eine Burg normannischen Baustils und ein maßgeblicher Referenzpunkt für militärische Architektur des Mittelalters. Abbildungen des Towers im Londoner Stadtbild sind seit der Zeit der Tudors populär. Das einst dominierende Gebäude bildet den Hintergrund zahlreicher London-Bilder. Über die Jahrhunderte erwies sich dabei insbesondere der Blick von der anderen Flussseite gegenüber vom Traitors’ Gate als besonders wichtig. Dieser erlaubt den Anblick von Traitors’ Gate, der West- und Südfassaden des White Towers bis hin zum Waterloo Block. Neubauten im Hintergrund werden aus dieser Perspektive komplett durch White Tower geschützt. Dieser Blick, und der freie Himmel im Hintergrund des Towers, ist mittlerweile durch das London View Management Framework geschützt. Historic Royal Palaces, als Verwalter des Towers, muss über jedes Bauprojekt im Umkreis von 800 Metern informiert werden sowie über weiter entfernt gelegene Bauprojekte, die den Anblick des Towers signifikant verändern könnten. Dabei wertet die Organisation insbesondere den Blick von der Londoner City Hall am gegenüberliegenden Ufer der Themse als besonders wichtig. Trotzdem liegen das Vereinigte Königreich und die UNESCO im Streit um den Zustand des Towers, da die neu aufgetürmte Skyline zahlreicher Wolkenkratzer im Londoner Osten den Tower aus vielen Blickrichtungen in seiner Wirkung erheblich einschränkt. Die UNESCO bemängelte in einem Bericht von 2006, dass mehrere Bauprojekte in der Nähe des Towers dessen Welterbestatus gefährden könnten. Darunter befanden sich das mittlerweile aufgegebene Minerva Building in der Londoner City und das 2012 noch im Bau befindliche 20 Fenchurch Street in der Londoner City. Seit 2006 fordert die UNESCO entsprechende Studien der Welterbeparteien ein, die einen besseren Schutz des Towers gewährleisten. Literatur Übersichtsliteratur John Whitcomb Bayley: The History and Antiquities of the Tower of London. London 1821 (Digitalisat). Simon Bradley, Nikolaus Pevsner: London 1, The City of London. Penguin, London 1997, ISBN 978-0-300-09624-8, S. 354–371. John Britton und Edward Wedlake Brayley: Memoirs of the Tower of London. London 1830 (Digitalisat). John Charlton (Hrsg.): The Tower of London. Its Buildings and Institutions. Her Majesty’s Stationery Office, London 1978, ISBN 0-11-670347-4. Howard Montagu Colvin (Hrsg.): The History of the King’s Works. Band 2: The Middle Ages. Her Majesty’s Stationery Office, London, 1963, S. 706–729. Howard Montagu Colvin (Hrsg.): The History of the King’s Works. Band 3: 1485–1660 (part 1). Her Majesty’s Stationery Office, London, 1975, S. 262–277. Brett Dolman, Susan Holmes, Edward Impey, Adrian Budge, Bridget Clifford, Jane Spooner: Erleben Sie den Tower of London, London 2013, ISBN 978-1-873993-01-9 Geoffrey Parnell: English Heritage Book of the Tower of London. Batsford, London 1993, ISBN 0-7134-6864-5. Geoffrey Parnell, Ivan Lapper: The Tower of London: A 2000 Year History. Osprey Publishing, Oxford 2001, ISBN 1-84176-170-2. Weiterführendes zu Einzelaspekten Christoper Edgar Challis: A New History of the Royal Mint. Cambridge University Press, Cambridge 1992, ISBN 0-521-24026-3. Daniel Hahn: The Tower Menagerie. Simon & Schuster UK, London 2003, ISBN 0-7432-2081-1. Brian A. Harrison: The Tower of London Prisoner Book: A Complete Chronology of the Persons Known to have been Detained at Their Majesties Pleasure, 1100–1941. Trustees of the Royal Armouries, London 2004, ISBN 0-948092-56-4. Edward Impey (Hrsg.): The White Tower. Yale University Press, London 2008, ISBN 978-0-300-11293-1. Simon Thurley: The Royal Lodgings at the Tower of London 1240–1320. In: Architectural History. Vol. 38, 1995, S. 36–57. Weblinks Website bei Historic Royal Palaces (englisch) Bibliographie zum Tower (englisch) Auflistung aller Baudenkmäler im und am Tower (englisch) Einzelnachweise Palast in London Welterbestätte im Vereinigten Königreich Weltkulturerbestätte Welterbestätte in Europa Normannisches Bauwerk in England Museum in London Ehemaliges Gefängnis (London) Burg in England Umgenutztes Bauwerk in London Bauwerk im London Borough of Tower Hamlets Scheduled Monument in Greater London Grade-I-Bauwerk in Greater London Grade-II*-Bauwerk in London Grade-II-Bauwerk in London Gefängnisbau Burg in Europa
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https://de.wikipedia.org/wiki/Urin
Urin
Der Urin (, altgriechisch οὖρον oúron), auch Harn genannt, ist ein flüssiges bis pastöses Ausscheidungsprodukt der Wirbeltiere. Er entsteht in den Nieren und wird über die ableitenden Harnwege nach außen geleitet. Die Ausscheidung des Urins dient der Regulation des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts sowie der Beseitigung von Stoffwechselabbauprodukten (Metaboliten), insbesondere der beim Abbau von Proteinen und Nukleotiden entstehenden Stickstoffverbindungen. Die Gesamtheit der im Urin nachweisbaren Metaboliten wird als Urin-Metabolom bezeichnet. Menschlicher Urin ist eine zumeist gelbe Flüssigkeit. Zahlreiche Krankheiten wirken sich auf seine genaue Zusammensetzung aus, über die eine Urinuntersuchung Aufschluss gibt. Die natürliche Harnentleerung wird in der Medizin Miktion genannt. In der Allgemeinsprache existieren neben „Urinieren“ und „Wasserlassen“ viele weitere Synonyme. Etymologie Das Wort Urin geht auf zurück. Mit der Bedeutung ‚Harn‘ ging das lateinische Wort, nachdem die Medizinschule von Salerno im Hochmittelalter die Harnuntersuchung als diagnostische Methode entwickelt hatte, aus der Sprache der Ärzte in viele europäische Sprachen über. Altfranzösisch ist bereits im 12. Jahrhundert belegt, urine im Englischen erst um 1325 ( in der Bedeutung ‚Gefäß für Harnuntersuchungen‘ hier jedoch schon um 1275). Im Deutschen fand der Begriff erstmals im 15. Jahrhundert, also im Frühneuhochdeutschen, Verwendung. Seither hat das Wort die älteren deutschen Bezeichnungen zunehmend verdrängt. Das ältere deutsche Wort Harn ist seit dem Althochdeutschen bezeugt und unverändert in Gebrauch, allerdings nur im Hochdeutschen. Andere regionale Bezeichnungen sind häufig tabuisiert oder gelten gemeinsprachlich oft als anstößig. Dazu zählen die oberdeutschen Ausdrücke Brunz (vgl. auch Brunnen als Euphemismus im 16. Jahrhundert für Harn) und Seich, das ursprünglich niederdeutsche Wort Pisse oder kindersprachlich Pipi, ebenso Schiffe und österreichisch kindersprachlich Lulu (auf der zweiten Silbe betont). Geschichte Theorien der Harnbereitung Die Theorien der Harnbereitung („Erklärung der Harnabsonderung“ und damit die Erklärungsversuche für Anurie, Oligurie und Polyurie) haben eine lange Geschichte. Leonhart Fuchs (1501–1566) erkannte die paarige Niere als Sieb oder Filter. Andreas Vesalius (1514–1564) veröffentlichte 1543 in Basel in seinen sieben Büchern De humani corporis fabrica libri septem auf Seite 515 im fünften Buch eine offenbar symbolische Abbildung des Filters in der Niere („membrana cribri modo“ = „Membran wie ein Durchschlag“, horizontal über die gesamte Nierenbreite mit etwa 50 Löchern). John Blackall (1771–1860) hielt die Nieren für Drüsen mit einer elektiven Kraft, „die in der Lage ist, was immer dem Blute schädlich ist, davon abzutrennen.“ Der österreichische Anatom Josef Hyrtl (1810–1894) bezeichnete eine Niere analog als Seihe („seyhe“, Seiher) oder Sieb. William Bowman (1816–1892) behauptete noch 1842 irrtümlich, die glomerulären Kapillargefäße scheiden Wasser aus, welches die von den Tubuli sezernierten festen Stoffe wegspüle. August Pütter stellte 1926 seine „Dreidrüsentheorie der Harnbereitung“ vor; er postulierte die Existenz von Stickstoffdrüsen, Salzdrüsen und Wasserdrüsen ohne Übereinstimmung mit der glomerulären Filtration, der tubulären Sekretion und der tubulären Rückresorption. Vielmehr findet nach August Pütter der Stoffaustausch in der Niere durch Invasion, Resorption, Evasion und Exkretion oder Sekretion statt. Nach der Lehre des Moskauer Mediziners K. Buinewitsch werden Wasser und Kochsalz durch die Tubuli und die übrigen Harnbestandteile durch die Glomeruli ausgeschieden. Alte Bezeichnungen Früher unterschied man: Recrementa vesicae = Retrimenta vesicae = Blasenurin, Urina diabetica = der Harnruhrharn, Urina pericardii = Liquor pericardii = Aqua pericardii = das Herzbeutelwasser, Urina jumentosa = Urina jumentaria = gelblicher Lasttierharn und Urina spastica = Polyurie zum Beispiel bei Migräne, Epilepsie, Gemütserregungen, Angina pectoris, Nierenkolik, Gallenkolik, paroxysmaler Tachykardie, beim Phäochromozytom, bei hysterischen Anfällen sowie nach Commotio cerebri und Infektionskrankheiten. Die Bezeichnung „Urina jumentosa (zu lateinisch iumentum = Zugtier, Lasttier) für einen trüben pferdeharnähnlichen Urin bei verschiedenen Krankheiten“ findet sich noch im aktuellen Medizin-Duden. Statt von einer Urina spastica sprach man früher auch vom Nierenasthma und meinte damit eine „funktionelle Neurose bei vegetativer Stigmatisation mit anfallsweisen spastischen Kontraktionen der Nierengefäße beziehungsweise mit einer Adynamie des Nierenbeckens und des Harnleiters, die zuerst zu einer schmerzhaften Oligurie und danach zu einer starken reaktiven Diurese“ führe. Harnzeitvolumen Für jede einzelne Niere ist der Urinfluss gleich der Differenz der Blutflüsse in Nierenarterie (Arteria renalis als Vas afferens) und Nierenvene (Vena renalis als Vas efferens). Die Urinproduktion von Mensch und Säugetier ist also die Summe beider Differenzen aus renalem Blutzufluss und renalem Blutabfluss. Außerdem ist die Urinproduktion gleich der Differenz zwischen glomerulärer Filtration und tubulärer Rückresorption. Diese beiden Erklärungen sind seit mehr als einhundert Jahren bekannt, werden aber kaum publiziert. Allgemein wurde dieses Urinzeitvolumen (auch Harnzeitvolumen genannt) als die Menge an Urin definiert, die in einem bestimmten Zeitintervall – in der Regel in 24 Stunden oder pro Minute – produziert oder ausgeschieden wird. Carl Ludwig (1816–1895) schrieb 1856: „Die Grenzen, innerhalb der bei gesunden Erwachsenen das tägliche Harnwasser variirt, liegen zwischen 500 und 25.000 Gramm. Nach Becquerel [1814–1862] und Vogel [1814–1880] liegt bei jungen Männern das Tagesmittel zwischen 1200 bis 1600 Gramm.“ „Ein erwachsener, gutgenährter, nicht mehr als nöthig trinkender Mann entleert täglich 2–3 Liter.“ Das schrieb der Brockhaus noch 1866. Normalerweise scheidet heutzutage ein gesunder erwachsener Mensch zirka 1,5 bis zwei Liter Urin am Tag aus, etwa 200 bis 400 Milliliter (ml) pro Blasenentleerung. „Allgemeine Richtlinien zur Steinverhütung“ der Urologen empfehlen Erwachsenen eine „Harnverdünnung [mit] Steigerung der täglichen Flüssigkeitszufuhr, so dass eine Urinausscheidung von mindestens anderthalb Litern in 24 Stunden erreicht wird.“ Eine andere Definition des Harnzeitvolumens bezieht sich auf den maximalen Harnfluss in der Mitte der Miktion bei der Uroflowmetrie ebenfalls mit der Dimension Volumen pro Zeitintervall. Bei der Uroflowmetrie werden heutzutage bei jedem Miktionsvorgang unterschieden das Miktionsvolumen mit der Einheit ml als Integral der Harnflussrate (Fläche unter der Kurve), die Harnflussrate als erste Ableitung des Miktionsvolumens nach der Zeit mit der Einheit ml/s und die Miktionsbeschleunigung als zweite Ableitung des Miktionsvolumens nach der Zeit (beziehungsweise als erste Ableitung der Harnflussrate nach der Zeit) mit der Einheit ml/s². Das Harnzeitvolumen nach neuer Definition ist das Maximum der Harnflussrate am Ende der Flussanstiegszeit mit der Einheit ml/s; es entspricht dem Nullpunkt der Miktionsbeschleunigungskurve mit der Einheit ml/s². Glomerulum und Tubulus Die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) ist eine lineare Funktion des Herzzeitvolumens (HZV) ohne direkten Einfluss auf den Volumenhaushalt. Die tubuläre Rückresorptionsrate (TRR) reguliert den Salz- und Wasserhaushalt im Rahmen eines vielschichtigen kybernetischen Regelkreises. Diese Regulation oder Modulation erfolgt im RAAS-System (RAS) mittels des antidiuretischen Hormons (ADH, Vasopressin als Gegenspieler von „Vasodilatin“) und des juxtaglomerulären Apparats. Ebenso beeinflussen die Hormone ANP und BNP die Tubulusfunktion im Sinne einer Vergrößerung des Harnzeitvolumens. Der BNP-Plasmaspiegel gilt darüber hinaus als ein objektives Maß für die Schwere einer Herzinsuffizienz. Auch andere Hormone besonders der Nebenniere (Nebennierenrindenhormone) beeinflussen die Urinproduktion über Veränderungen der tubulären Rückresorption. Glomeruli und Tubuli arbeiten unabhängig voneinander. Trotzdem hatten schon Homer William Smith (1895–1962) und andere Nephrologen im 20. Jahrhundert die Existenz eines tubuloglomerulären Feedbacks postuliert. Filtrations-Rückresorptions-Theorie Schon Hippokrates von Kos beschrieb die Niere als Filter mit Kanälen, „durch welche das Getrunkene vermittels der Adern nach den Nieren gezogen wird. Alsdann wird das Wasser wie durchgeseiht durch die Nieren. Dort wird der Urin vom Blute geschieden, weshalb derselbe eben rötlich aussieht.“ Noch deutlicher wurde dann Aristoteles mit seiner Überzeugung, „daß die Niere eine Art Sieb oder Filter darstellen müßte, in der [gemeint: dem] das durch die Blutgefäße herangetragene Blut von dem sogenannten ‚Serum‘ geschieden würde.“ Auch Galen setzte sich (im 2. oder 3. Jahrhundert) ausführlich mit der Frage auseinander, auf welche Weise der Harn durch die Nieren ausgeschieden wird. Er diskutierte die verschiedenen zeitgenössischen Lehrmeinungen, zu denen auch die Filtrationstheorie gehört, und verwirft alle, weil sie nicht zu seiner Vier-Säfte-Lehre (Humoralpathologie nach Hippokrates) passten. Von allen damals bekannten Trennverfahren hätte er (auch wegen einer von ihm postulierten „Kochung“ der vier Säfte) eine thermische statt einer mechanischen Trennung bevorzugen müssen. Denn die „beispielsweise von Klemperer und Walter Federn und von Schadewaldt vertretene Auffassung, daß Galens Lehre eine Filtrationstheorie gewesen sei, steht in eindeutigem Widerspruch zu der in De usu partium gegebenen Darstellung.“ Denn durch bloße Beobachtung konnte man auch damals erkennen, dass der Harnfluss die Differenz aus renalarteriellem Zufluss und renalvenösem Abfluss ist. So auch der Nierenphysiologe Lorenzo Bellini (1643–1704), wenn er eine Aufspaltung des renalarteriellen Blutes in „zwei Klassen von Gefäßen, die der Nierenvenen und die der Nierenkanäle“ postuliert. Aufbauend auf diesem Wissen beschrieb Carl Ludwig 1842 in seiner Habilitationsschrift, dass Harn primär über die treibende Kraft des Blutdrucks als Filtrat der Glomeruli entstehe und seine endgültige Zusammensetzung durch Resorptionsvorgänge entlang der Nierentubuli erhalte. Arthur Robertson Cushny bekräftigte 1917 ausführlich diesen „filtration-reabsorption view“ der Harnproduktion. Analog unterschied Ludwig Aschoff 1923 die vier funktionell verschiedenen Abschnitte Nierenfilter, Sekretion, Resorption und Exkretion. Diese Filtrations-Rückresorptions-Theorie von Ludwig und Cushny war im 20. Jahrhundert allgemein bekannt. So schrieb Hans Julius Wolf einhundert Jahre nach Carl Ludwigs Habilitation 1942 in seinem Lehrbuch, „daß in den Glomerulis ein eiweißfreies Ultrafiltrat des Blutplasmas abgepreßt wird, aus dem in den Tubuli Wasser und gelöste Stoffe selektiv zurückresorbiert werden. Wahrscheinlich findet in den Tubuli auch eine Exkretion bestimmter Stoffe in den Urin statt.“ Derselbe Autor Hans Julius Wolf wurde 15 Jahre später noch deutlicher: „Bei der Zubereitung des endgültig auszuscheidenden Harnes wirken also zusammen: Glomeruläre Filtration, tubuläre Rückresorption und tubuläre Exkretion.“ Auch der Heidelberger Physiologe August Pütter (1879–1929) hatte die „Filtrations-Rückresorptionshypothese“ 1929 erklärt, aber abgelehnt, weil sie einige seiner Befunde nicht erklären konnte. Die Nephrologen Wilhelm Nonnenbruch und Franz Volhard als dessen Vorgänger und Nachfolger an der Universitätsklinik in Frankfurt am Main haben die „Filtrations-Rückresorptions-Theorie von Ludwig und Cushny“ ebenfalls ausführlich beschrieben und mehrfach abgelehnt. Trotzdem beschrieb Volhard Nonnenbruchs „extrarenale Nierensyndrome“ zutreffend als „extrarenale Ursachen“ der Niereninsuffizienz (eine „Herzinsuffizienz mit Ödembereitschaft“ führt zur „Nephritis ohne Nierenerscheinungen“ oder analog zur „Kriegsnephritis ohne Nephritis“ und zur „Feldnephritis unter rein extrarenalen Verlaufsformen“). Wilhelm Nonnenbruch hat das Hepatorenalsyndrom als eines der Extrarenalsyndrome (neben dem Kardiorenalsyndrom und dem Pulmorenalsyndrom) schon 1937 beschrieben. Leberfunktionsstörungen können „zur sekundären Schädigung der Nierenfunktion führen, ohne daß sich dabei spezifische anatomische Nierenveränderungen nachweisen lassen (sogenanntes extrarenales Nierensyndrom).“ Das Kardiorenalsyndrom beschrieb er schon vor dem Ersten Weltkrieg mit den Worten: „Das Verhalten der Stauungsniere in bezug auf die Wasserausscheidung kann daher dem einer Niere mit schwerer Glomerulusschädigung bei erhaltener Funktion der Kanälchenepithelien ähnlich sein.“ Wer die Filtrations-Rückresorptions-Theorie ablehnt, kann nicht erkennen, dass der Harnfluss (bei Vernachlässigung der tubulären Sekretion) gleich der Differenz aus glomerulärer Filtrationsrate GFR und tubulärer Rückresorptionsrate TRR ist. Jede Messung der GFR erlaubt bei Kenntnis des Harnflusses durch Subtraktion das Errechnen der Tubulusfunktion. Tubuläre Rückresorption Die „Wasserrückresorption und die Harnkonzentrierung“ erfolgen in den Nierentubuli. Diesbezüglich formulierten 1942 Werner Kuhn das Haarnadelgegenstromprinzip und Frank Henry Netter 1976 eine Kombination aus Gegenstrommultiplikationssystem und Gegenstromaustauschsystem mit Gegenstromdiffusionen als Erklärung. „Die Hypothese erwies sich als richtig. Entscheidend war der mikrokryoskopisch erbrachte Nachweis der Hypertonizität der Nierenpapille.“ Die Glomeruli filtrieren passiv, die Tubuli resorbieren aktiv. Die Tubuli entscheiden damit über die Harnpflicht der im Primärharn vorhandenen Stoffe und bilden so den eigentlichen Sekundärharn. Die Anurie ist also im Zweifel ein Zeichen einer guten Tubulusfunktion und kein Zeichen einer schlechten Glomerulusfunktion. Insofern ist die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) bei der Oligoanurie kein Maß für die filtrative Nierenleistung. Darüber hinaus kann die GFR bei jeder kompensatorisch gesteigerten tubulären Rückresorption valide nur mittels der Serumkonzentration von Cystatin C bestimmt werden. Dafür gibt es zahlreiche GFR-Schätzformeln; die einfachste lautet GFR = 80/Cys. Blutgefäße im Nierenparenchym Sowohl die Resorption vom Tubulus in die Nierenvene als auch die Sekretion von der Nierenvene in den Tubulus können nur bei parallelen Verläufen von Tubuli und Nierenvenen erfolgen. Je geringer der Abstand dieser beiden Leitungsbahnen ist, desto leichter kann der wechselseitige Austausch von Wasser und Elektrolyten erfolgen. Eine entsprechende schematische Zeichnung stammt von Frank Henry Netter. Beiderseits der Henleschen Schleifen finden sich Arteriolae rectae verae und Venulae rectae. Den entstehenden Gefäßkomplex nennt man Rete mirabile. Die kleinsten parallel zum Tubulus verlaufenden arteriellen und venösen Gefäße heißen Vasa recta. Das Gegenstück zum arteriellen Vas afferens ist das venöse Vas efferens. Netter kommt jedoch zu folgendem Ergebnis: „Der juxtamedulläre Kreislauf der Niere ist von funktionellem Interesse, wenn auch seine Bedeutung beim Menschen ungenügend geklärt ist.“ Andeutungsweise kommt die Parallelität von Vene und Tubulus auch in der nachfolgenden schematischen Darstellung zum Ausdruck. Mensch und andere Säugetiere Entstehung Urin entsteht in den Nieren zunächst als Ultrafiltrat des Blutplasmas. Blut fließt dabei durch die Nierenkörperchen (Corpuscula renalia). Wasser und gelöste Stoffe mit einem Durchmesser von weniger als 4,4 Nanometern (unter anderem Ionen und kleine ungeladene Proteine) werden dabei wie in einem Sieb filtriert und gelangen in das sich anschließende Röhrchensystem (Nierentubuli) des Nephrons, der funktionellen Untereinheit der Nieren. Die größeren Teilchen verbleiben im Blutkreislauf. Die so entstandene Flüssigkeit wird als Primärharn bezeichnet und enthält neben den zur Ausscheidung bestimmten Stoffen auch solche, die für den Körper wichtig sind, wie Glucose (Traubenzucker), Aminosäuren und Elektrolyte. Ein Erwachsener produziert täglich zwischen 180 und 200 Liter Primärharn. In den darauffolgenden Tubuli und Sammelrohren werden aus dem Primärharn die wieder verwendbaren Inhaltsstoffe sowie etwa 99 Prozent des Wassers zurückgewonnen. Der übriggebliebene Endharn (=Urin), von dem ein gesunder Mensch täglich etwa 0,8 bis 2 Liter produziert oder 0,5 bis 1,5 ml pro kg Körpergewicht pro Stunde, fließt schließlich über das Nierenbecken und durch die Harnleiter in die Harnblase. Dort wird der Endharn gesammelt und anschließend durch die Harnröhre ausgeschieden. Der Prozess der Harnproduktion und -ausscheidung durch die Nieren wird als Diurese bezeichnet. Mit verschiedenen medizinischen Maßnahmen kann darauf Einfluss genommen werden. Diuretika werden eingesetzt, um bei Nieren- und Herzerkrankungen das Harnvolumen zu erhöhen und damit sekundär das Blutvolumen zu senken, da dies wiederum eine verminderte Herzbelastung (Blutkreislauf, Vorlast der Herzkammern) zur Folge hat. Eine forcierte Diurese wird z. B. eingesetzt, um giftige wasserlösliche Stoffe aus dem Organismus durch eine vermehrte Ausscheidung zu entfernen. Einige Stoffe, wie Koffein oder Ethanol (Trinkalkohol), haben ebenfalls eine harntreibende Wirkung, da sie die Bildung des antidiuretischen Hormons (ADH) hemmen, das sonst in den Nierentubuli die Rückresorption von Wasser aus dem Primärharn bewirkt. Ausscheidung Beim Menschen wird eine Urinproduktion von > 2,5 l/Tag als Polyurie bezeichnet, eine geringe (< 100 ml/Tag) oder ganz fehlende Urinausscheidung als Anurie. Bei einer Menge von < 400–500 ml/Tag spricht man von einer Oligurie. Der Terminus Pollakisurie meint die überdurchschnittlich häufige Blasenentleerung mit jeweils nur geringen Harnmengen. Als Diabetes werden verschiedene Krankheiten unterschiedlicher Ursache bezeichnet, die wiederum einen erhöhten Harnfluss zur Folge haben. Bezüglich der Harngewinnung für eine medizinische Untersuchung werden verschiedene Begriffe voneinander abgegrenzt. Neben dem durch eine Katheterisierung oder suprapubische Blasenpunktion gewonnenen Urin sind dies verschiedene Formen eines mittels einfacher Blasenentleerung gewonnenen Harns. Zeitlich festgelegt werden dabei: erster Morgenurin, zweiter Morgenurin, postprandialer Urin (meist zwei Stunden nach einer Mahlzeit), Sammelurin (meist als 24-Stunden-Harn). Eine tageszeitlich nicht festgelegte Blasenentleerung wird als Spontanharn bezeichnet. Eigenschaften Urin dient zur Regelung des Flüssigkeitshaushalts sowie zur Entsorgung von Harnstoff, Harnsäure und anderen Stoffwechsel-Endprodukten. Ein gesunder erwachsener Mensch scheidet täglich etwa 20 Gramm Harnstoff aus. Urin enthält ferner geringe Mengen an Zucker (Traubenzucker, Glucose). Ein erhöhter Glucosegehalt im Urin deutet auf Diabetes mellitus hin. Die Konzentration von Proteinen beträgt im Normalfall weniger als 2 bis 8 mg je 100 ml, die maximale Ausscheidung täglich 100 bis 150 mg, im Durchschnitt jedoch 40 bis 80 mg. Eine erhöhte Proteinausscheidung wird Proteinurie genannt. Die Proteine sind auch für die Bildung von Schaum auf dem Urin verantwortlich. Eine ungewöhnlich starke Schaumbildung ist somit auch ein Indiz für eine Nephropathie. Viele weitere Substanzen wie Hormone oder Duftstoffe kommen in geringen Mengen im Urin vor. Die Geruchskomponenten lassen sich zuverlässig durch die GC-MS-Kopplung nachweisen. Der pH-Wert des Urins liegt bei normaler Ernährung zwischen 4,6 und 7,5, also eher im sauren Bereich. Eine einzelne pH-Wert-Messung des Urins hat aber nur eine bedingte Aussagekraft, da der pH-Wert täglichen starken Schwankungen unterworfen ist. Eiweißreiche Ernährung verschiebt den pH-Wert in Richtung sauer, während Gemüse eine Verschiebung ins basische Milieu verursacht. Die Dichte beträgt zwischen 1015 und 1025 g/l. Unter extremen Bedingungen (wie beispielsweise extrem hoher Flüssigkeitszufuhr oder andererseits Dehydration) kann sie zwischen 1001 und 1040 g/l schwanken. Gelöste Proteine oder Glucose können die Dichte des Urins erhöhen. Die Osmolarität von Urin liegt typischerweise zwischen 600 und 900 mosmol/l. Urin ist dann hyperosmotisch bezogen auf Blutplasma (290–300 mosmol/l), das heißt, die Konzentration der gelösten Stoffe ist höher als im Blutplasma. Die Osmolarität kann aber in Abhängigkeit vor allem von Flüssigkeitszufuhr und Flüssigkeitsverlusten zwischen 50 und 1200 mosmol/l variieren (d. h., Urin kann hypo-, iso- oder hyperosmotisch bezogen auf Blutplasma sein). Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, dass Urin beim gesunden Menschen in der Blase keimfrei sei, enthält er schon dort eine Vielzahl verschiedener Bakterien. Da die untere Harnröhre nicht keimfrei ist, enthält Urin beim Austritt bis zu 10.000 Keime pro Milliliter. Frischer Urin riecht nach Brühe, während abgestandener Urin aufgrund bakterieller Umwandlungsprozesse den stechenden Geruch von Ammoniak annimmt. Dabei wird der Harnstoff enzymatisch (Urease) in Ammoniak und Kohlendioxid umgewandelt und der ursprünglich eher neutral bis saure Urin wird basisch (pH-Wert ca. 9–9,2). Bei einer schweren Stoffwechselentgleisung im Rahmen eines Diabetes mellitus kann der Urin nach Aceton riechen, dies wird durch Ketoazidose (Ketokörper im Blut) verursacht. Auch bei akuten Krankheiten (Infektionen, Fieber) und nach dem Genuss bestimmter Nahrungsmittel kann der Urin einen atypischen Geruch aufweisen. So tritt bei knapp der Hälfte der Menschen nach dem Verzehr von Spargel ein charakteristischer Geruch des Urins auf. Er ist auf den Abbau bestimmter Inhaltsstoffe des Spargels wie Asparagusinsäure zu S-Methyl-thioacrylat, zu dessen Methanthiol-Additionsprodukt S-Methyl-3-(methylthio)thiopropionat und anderem zurückzuführen. Die Fähigkeit zu diesem Abbau wird dominant vererbt. Der Urin von Schwangeren enthält humanes Choriongonadotropin (hCG), ein in der Plazenta gebildetes Hormon, das für die Erhaltung der Schwangerschaft verantwortlich ist. Diesen Umstand macht man sich beim Schwangerschaftstest zu Nutze, der bei vorhandenem hCG eine Farbänderung zeigt. Färbung Die gelbe Farbe des Urins entsteht durch sogenannte Urochrome wie die Bilirubin-Abbauprodukte Sterkobilin und Urobilin, die aus dem Abbau des Hämoglobins oder Blutfarbstoffs entstehen. Die Farbintensität hängt von der Konzentration der Urochrome im Urin ab. Hypertonischer (erhöhte Konzentration der gelösten Stoffe) Urin ist gelb oder – bei höherer Konzentration, beispielsweise als Folge von Dehydratation – gelb-orange, während geringer konzentrierter (hypotonischer Urin) hellgelb bis farblos ist. Blutbeimengungen im Urin werden als Hämaturie bezeichnet und können den Urin rot färben. Ebenso tritt bei Porphyrie eine Rotfärbung auf. Außerdem kann es bei manchen Menschen zu einer kurzzeitigen Rotfärbung des Urins kommen, ohne dass durch eine Wunde oder Entzündung Blut in den Harn gelangt, wenn die Person vermehrt Carotine oder Betanin (in Roter Bete) aufgenommen hat. Ob dies genetisch vererbt wird, ist unbekannt. Zu einer rötlichen Urinverfärbung kann es zudem durch Anthracycline, Rifampicin, hochdosiertes Methotrexat und viele andere Medikamente kommen. Ist der Harn gesättigt, so kommt es bei Abkühlung zu einer Ausfällung von Uraten und damit zu ziegelroter oder dunkel gelber Färbung. Bei Erwärmung verschwindet sie wieder. Dunkel orange oder braun gefärbter Urin kann ein Hinweis auf eine Bilirubinurie und damit auf eine Gelbsucht (Ikterus) oder einen Morbus Meulengracht sein. Als Melanurie wird eine schwarze Färbung des Harns bezeichnet. Dieser enthält Melanogen, das an der Luft zu Melanin oxidiert. Melanurie kann beim Vorhandensein von Melanomen auftreten. Ebenfalls schwarzer oder dunkler Urin findet sich bei Alkaptonurie. Hier wird Homogentisat aufgrund eines Defekts oder Mangels des Enzyms Homogentisat-Dioxygenase mit dem Urin ausgeschieden. Dieser verdunkelt sich nach Kontakt mit der Luft. Auch einige Medikamente können eine Verfärbung des Urins bewirken. Bräunlicher Urin tritt bei Myoglobinurie auf, zum Beispiel verursacht durch Rhabdomyolyse, oder auch bei Porphyrie. Eine Grünfärbung des Urin kann durch Propofol ausgelöst werden. Propofol wird primär in der Leber abgebaut. Man nimmt an, dass phenolische Metaboliten den Urin grün färben können. Diese Metaboliten sind nicht nephrotoxisch. Auch Indomethacin, Amitriptylin, Cimetidin und Methylenblau können eine Grünfärbung des Urins auslösen. Ferner ein Verschlussikterus oder eine Pseudomonas-Infektion. Übrige Tiere Einfache, den Nieren entsprechende Ausscheidungsorgane finden sich bereits bei den Wirbellosen. Die Ausscheidungsprodukte der Proto- und Metanephridien sowie der Malpighischen Gefäße werden zumeist ebenfalls als Harn bezeichnet. Amphibien Auch Amphibien besitzen eine Opisthonephros ohne Henle-Schleifen und können daher keinen hyperosmolaren Harn produzieren. Die Stickstoffausscheidung erfolgt bei Kaulquappen über Ammoniak. Nach der Metamorphose erfolgt sie über Harnstoff, bei wüstenbewohnenden Amphibien und Makifröschen über Harnsäure (Uricotelie). Die Abgabe des Urins erfolgt in die Kloake, die über einen kurzen Verbindungsgang mit der Harnblase in Verbindung steht. Der dort gespeicherte Urin dient bei Amphibien vor allem als Wasserreservoir. Der ständige Wasserverlust über die Haut kann durch Rückresorption von Wasser aus dem Urin in gewissen Grenzen ausgeglichen werden. Fische Das Ausscheidungsorgan der Fische ist eine modifizierte Urniere, Opisthonephros genannt. Die Urniere tritt bei Säugetieren nur vorübergehend beim Embryo auf. Das Nephron der Fische besitzt keine Henle-Schleife, die zur Konzentration des Urins benötigt wird. Deshalb können sie keinen hyperosmolaren Harn (größere Konzentration an gelösten Stoffen als im Blutplasma) produzieren. Bei einigen Fischarten (beispielsweise Seenadeln, Seeteufel, Antarktisdorsche) sind nicht einmal Nierenkörperchen ausgebildet (aglomeruläre Niere), bei ihnen entsteht der Harn nicht durch Ultrafiltration, sondern durch Sekretions- und Diffusionsvorgänge in den Nierenkanälchen. Die Funktion und Zusammensetzung des Urins ist abhängig vom Lebensraum. Bei Süßwasserfischen wird viel Urin gebildet und dient vor allem der Eliminierung von überschüssigem Wasser. Elektrolyte kommen bei Süßwasserfischen nie im Überschuss vor, im Gegenteil, hier erfolgt eine aktive Aufnahme von einwertigen Ionen über das Epithel der Kiemen. Bei Meeresfischen sind dagegen die Verhältnisse umgekehrt. Bei ihnen wird nur wenig und im Vergleich zum Blut isoosmotischer Urin gebildet. Durch das Leben im Salzwasser sind Elektrolyte bei ihnen stets im Überschuss vorhanden, ihre Eliminierung erfolgt aber nicht über den Urin, sondern über die Rektaldrüsen (Knorpelfische) oder das Epithel der Kiemen (Knochenfische). Der Harn dient bei Meeresfischen also nicht der Osmoregulation, sondern nur der Ausscheidung zweiwertiger Ionen (wie Mg2+) und von überschüssigem Stickstoff. Interessant sind die Verhältnisse bei Wanderfischen (anadrome und katadrome Fische), die einen Teil des Lebens in Süß-, den anderen in Salzwasser verbringen. Hier kann über Hormone die Richtung des Elektrolytaustauschs in den Kiemen umgeschaltet werden: Durch Kortisol wird zur Anpassung an Salzwasser die Abgabe einwertiger Ionen, über Prolaktin deren Aufnahme zur Anpassung an Süßwasser ausgelöst. Die Stickstoffverbindungen werden bei Knochenfischen zumeist als Ammoniak (Ammoniotelie) direkt über die Kiemen, bei einigen anderen Fischen, insbesondere bei den Knorpelfischen, auch als Harnstoff (Ureotelie) ausgeschieden. Zum Teil wird Stickstoff auch als Guanin in die Schuppen eingelagert, welches ihnen den metallischen Glanz verleiht. Eine Harnblase und Harnröhre fehlt bei manchen Fischen, die Harnleiter münden in den Enddarm, die Harnröhre mit eigenem Porus, oder (selten) in eine Kloake usw. Reptilien Reptilien besitzen wie alle Amnioten eine Nachniere (Metanephros). Im Gegensatz zu Vögeln und Säugetieren besitzen die Nephrone keine Henle-Schleife und können daher in der Niere keinen konzentrierten Harn produzieren. Die produzierte Harnmenge ist bei Reptilien gering (0,2 bis 5,7 ml pro kg Körpermasse und Stunde). Die Harnleiter münden wie bei Amphibien in die Kloake. Von der Kloake führt bei Echsen und Schildkröten ein kurzer Gang in die Harnblase (Harnbeutel), in der der Harn gespeichert werden kann. Schlangen besitzen keine Harnblase. Der Urin ist bei Schildkröten flüssig. Bei den übrigen Reptilien wird er im Enddarm durch Wasserrückresorption eingedickt und ist daher breiartig bis pastös. Überschüssiger Stickstoff wird in Form von Harnsäure oder Guanin ausgeschieden. Für die Ausscheidung überschüssiger Elektrolyte ist der Urin der Reptilien von untergeordneter Bedeutung, ein Salzüberschuss wird über verschiedene Kopfdrüsen ausgeglichen: Orbitaldrüse (Meeresschildkröten, am Auge), Sublingual- oder Prämaxillardrüse (Schlangen), Zungendrüsen (Krokodile), Nasendrüse (Echsen). Vögel Die Nachniere der Vögel steht zwischen der von Reptilien und Säugetieren, da neben Nephronen vom Reptilientyp (ohne Henle-Schleife) auch Nephrone vom Säugetiertyp auftreten, so dass Vögel zur Bildung eines hyperosmolaren Harns befähigt sind. Der Urin wird über den linken und rechten Harnleiter in den Mittelabschnitt (Urodeum) der Kloake abgegeben, eine Harnblase fehlt allen Vögeln. Überflüssiger Stickstoff wird wie bei Reptilien in Form von Harnsäure oder Guanin ausgeschieden. Über eine negative Peristaltik gelangt der Urin in den Enddarm, wo ihm Wasser entzogen wird. Der Urin ist daher bei Vögeln pastös (hell) und es kommt zur Ausfällung von Harnsäurekristallen, die zusammen mit dem Kot (dunkler) ausgeschieden werden. Der stickstoffreiche Kot von Vögeln (Guano) wird auch als Düngemittel genutzt. Bei Vögeln mit entwickelten Blinddärmen (beispielsweise Hühnervögel) kann der konzentrierte Urin auch bis in die Blinddärme zurücktransportiert werden und dient der dort angesiedelten Darmflora als Stickstoffquelle. Überschüssige Elektrolyte (Kochsalz) werden bei Vögeln nicht nur über den Urin, sondern (wie bei Echsen) auch über die Nasendrüse ausgeschieden, ein Mechanismus, der für die Aufrechterhaltung der Osmolarität vor allem bei Meeresvögeln von Bedeutung ist. Urinuntersuchung Die Urinuntersuchung, auch Uroskopie oder Harnschau (mittels Harnglas), ist eine der ältesten medizinischen Untersuchungen. Sie erlaubt Rückschlüsse auf den Zustand und die Funktionsfähigkeit von Niere und Blase, beispielsweise bei Niereninsuffizienz und Blaseninfektion. Während früher die Untersuchung mittels Beschreibung der Beobachtungen (Farbe, Trübungen, Ablagerungen durch den Blasenablass usw.), des Geruches und des Geschmackes (daher stammt auch die Diagnose Diabetes mellitus, da mellitus im Lateinischen „honigsüß“ bedeutet) erfolgte, so wird heutzutage die Erstuntersuchung in erster Linie mit Hilfe von Urin-Teststreifen durchgeführt. Damit kann man gleichzeitig und innerhalb von wenigen Minuten mehrere wichtige Befunde erheben. Durch einen Farbumschlag können näherungsweise der Gehalt an Proteinen, Glucose, Ketonen, Bilirubin, Urobilinogen, Urobilin sowie der pH-Wert bestimmt werden, auch wird der Urin auf Vorhandensein von Blut und Entzündungszellen getestet. Die Zusammenstellung dieser Ergebnisse wird als Urinstatus bezeichnet. Mit Hilfe des Urinstatus können Frühsymptome dreier großer Krankheitsgruppen erkannt werden: Erkrankungen der Nieren und ableitenden Harnwege (Nierensteine, Nierentumoren, Entzündungen, …) Kohlenhydratstoffwechselstörungen (Diabetes mellitus) Leber- und hämolytische Erkrankungen. Eine qualitative Harnuntersuchung weist nach, ob eine Substanz im Harn vorhanden ist oder nicht, während eine quantitative Untersuchung die genaue Menge des untersuchten Stoffes angibt. Eine semiquantitative Untersuchung gibt in etwa an, wie viel von einer Substanz im Harn vorhanden ist. Der Urin eines gesunden Menschen sollte weder Proteine, Nitrit, Ketone noch Blutbestandteile wie Hämoglobin enthalten. Werden dort Substanzen, die normalerweise nicht im Urin vorkommen, nachgewiesen oder finden sich veränderte Konzentrationen, kann dies auf Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes hinweisen. Wird frischer Morgenurin zentrifugiert und dann unter dem Mikroskop betrachtet (Untersuchung des Urinsediments), sind verschiedene feste Bestandteile sichtbar. Dazu gehören beispielsweise Kristalle aus Harnsäure, Calciumsulfat und Calciumoxalat. Kristallisiertes Tyrosin oder Bilirubin sind hingegen Zeichen für Erkrankungen. Unter dem Mikroskop können neben den kristallisierten Substanzen auch zelluläre Bestandteile gefunden werden. Diese können Hinweise auf Tumoren von Nieren und ableitenden Harnwegen darstellen. Durch spezielle Nachweistests kann die Einnahme von Medikamenten, Giften, Drogen oder Dopingsubstanzen im Urin nachgewiesen werden. Jedoch können diese Untersuchungen, die beispielsweise in der Suchttherapie eingesetzt werden, durch diverse Zusätze – wie Bleichmittel, Seife oder Kochsalz – verfälscht werden. Beim Schwangerschaftstest wird humanes Choriongonadotropin (hCG) nachgewiesen. Bei Verdacht auf verschiedene Erkrankungen können hierfür spezifische Substanzen im Urin bestimmt werden. Hierfür wird meistens der 24-Stunden-Sammelharn verwendet. Beim Phäochromozytom weist man Katecholamine und deren Abbauprodukte nach. Der früher durchgeführte Test auf Vanillinmandelsäure ist aufgrund zu geringer Spezifität veraltet. Die Menge des ausgeschiedenen Urins ist ein entscheidender Wert bei der Flüssigkeitsbilanzierung, bei der die Aufnahme von Flüssigkeiten mit der Ausscheidung (Urin, Schweiß, Perspiratio invisibilis) verglichen werden. Mittelstrahlurin Für Untersuchungen wird bevorzugt der Mittelstrahlharn des Morgenurins benutzt, da dieser die enthaltenen Stoffe in größerer Konzentration enthält als tagsüber gewonnener. Nach einer anfänglichen Säuberung und eventuellen Desinfektion der Eichel beim Mann oder des Genitalbereichs bei der Frau wird der erste Strahl des Harns verworfen. Erst die folgenden Anteile werden aufgefangen und für die Untersuchung verwendet. Damit werden Beimengungen aus Verunreinigungen der äußeren Abschnitte der Harnröhre vermindert, die das Ergebnis verfälschen können. Bei weiblichen Probanden wird das Gewinnen von unverfälschtem Mittelstrahlurin durch die Anatomie der Vulva und die Sekrete des Genitals deutlich erschwert. Dreigläserprobe Eine ähnliche Methode ist die Dreigläserprobe. Dabei werden der erste Strahl sowie der Mittelstrahl in separaten Gefäßen aufgefangen. Das dritte Glas wird nach leichter Prostata-Massage mit Urin – vermengt mit Prostata-Sekret – gefüllt. So lässt sich eine grobe Lokalisation beispielsweise von Blutungsquellen vornehmen. Der Inhalt des ersten Glases repräsentiert die Harnröhre, das zweite Glas die Harnblase und das dritte die Prostata. Weitere Sammelarten Für spezielle Fragestellungen kann der Urin auch über einen Katheter oder durch direkte Punktion der Blase durch die Bauchdecke (suprapubische Blasenpunktion) gewonnen werden. Dieser ist normalerweise frei von Keimen der Umgebung oder der Harnröhre. Für einige Untersuchungen ist das Sammeln des Urins über 24 Stunden notwendig. Dies ist in der Regel der Fall bei der Analytik von Hormonen und deren Abbauprodukten, wie z. B. der Vanillinmandelsäure, Homovanillinsäure oder 5-Hydroxyindolessigsäure zur Diagnostik des Phäochromozytoms, Neuroblastoms oder Karzinoidsyndroms. Harnsteine Wenn im Urin gelöste Mineralsalze (beispielsweise Calciumcarbonat, Calciumphosphat oder Calciumoxalat) ausgefällt werden, können sich zunächst kleine Kristalle bilden, die sich allmählich zu größeren Gebilden zusammenfügen. Diese als Harn- oder Nierensteine bezeichneten Gebilde können sich entweder in den Nieren, im Harnleiter oder in der Harnblase ansammeln und starke Schmerzen (Kolik) verursachen. In den meisten Fällen (etwa 80 %) gehen sie nach Gabe von entkrampfenden oder schmerzstillenden Mitteln mit Hilfe von erhöhter Trinkmenge und körperlicher Bewegung von selbst ab. Seltener ist ein (manchmal auch nur endoskopischer) Eingriff notwendig und nur in extremen Fällen ist eine Behandlung durch Stoßwellen-Zertrümmerung (Extrakorporale Stoßwellen-Lithotripsie) nötig. Verwendung von Urin Als Reinigungsmittel Urin, insbesondere „gefaulter“, wurde über Jahrtausende als Reinigungsmittel eingesetzt. So wurden in Rom an belebten Straßen amphorenartige Urinale aufgestellt, um den von den Wäschern benötigten Urin einzusammeln. Kaiser Vespasian erhob darauf eine spezielle Urinsteuer. Als sein Sohn Titus ihm daraufhin Vorwürfe machte, aus derartig stinkender Angelegenheit monetären Nutzen zu ziehen, soll er diesem eine Münze vor die Nase gehalten und „Pecunia non olet“ („Geld stinkt nicht“) geantwortet haben. Gefaulter Urin wurde noch bis ins 20. Jahrhundert zum Entfernen des Wollfetts (Entschweißen) frisch geschorener Schafwolle und zum Walken von Wolltuchen eingesetzt, des Weiteren im Gerberhandwerk sowie für das Beizen von kupfergedeckten Dächern (Patina). Als Färbungsmittel Große Bedeutung hat und hatte Urin auch für das Färberhandwerk. Aus dem Urin indischer Kühe, die ausschließlich mit Mangoblättern gefüttert wurden, wurde durch Verdampfen das Indischgelb (Magnesiumeuxanthat, ein Magnesiumsalz der Euxanthinsäure, Summenformel C19H16O11Mg · 5 H2O) gewonnen. Seine Herstellung ist in Indien bereits seit dem 15. Jahrhundert bekannt. Im 18. Jahrhundert gelangte der Farbstoff dann auch nach Europa. Seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hat diese Herstellungsmethode jedoch aufgrund von Tierschutzbedenken an Bedeutung verloren. Außerdem diente menschlicher Urin zur Gewinnung von Indigoblau. Dazu wurden die Blätter des Färberwaids in Kübeln mit Urin vergoren. Die Färbung von Textilien mit Urin und Indigo nennt man Küpenfärbung. Dabei macht man sich die reduzierende Wirkung des Urins zu Nutze, um Indigo löslich zu machen und den Farbstoff so in die Faser zu bringen. Als Pflanzennährstoff Durch den Gehalt an Stickstoffverbindungen (bei Säugetieren einschließlich der Menschen vor allem Harnstoff, Harnsäure und Kreatinin), Phosphaten sowie Kalium- und Calciumsalzen u. a. m. kann Urin als Lieferant von Pflanzennährstoffen dienen. Dieser Gehalt ist i. d. R. so hoch, dass Pflanzen durch Begießen mit unverdünntem Urin geschädigt oder sogar zum Absterben gebracht werden können, sie „verbrennen“. Verdünnt, z. B. mit der acht- bis zehnfachen Menge Wasser, stellt Urin hingegen einen stark wachstumsfördernden Dünger dar. In Gebieten mit sehr geringen Niederschlägen kann der – je nach Ernährung unterschiedlich hohe – Kochsalzgehalt des Urins allerdings zu einer Versalzung des Bodens führen. Da Urin aufgrund des hohen Pflanzennährstoffanteils auch zur Überdüngung von Gewässern beiträgt, gibt es inzwischen weltweit Projekte, diesen Nährstoffgehalt durch entsprechende technische Maßnahmen nutzbar zu machen. Trinkwassergewinnung Urin kann durch Destillation zu Trinkwasser verarbeitet werden, um einer Dehydratation entgegenzuwirken. Das wird zum Beispiel auf der Internationalen Raumstation (ISS) getan, um die Astronauten im Weltraum mit genügend Trinkwasser versorgen zu können und zusätzliche Versorgungsflüge zu sparen. Auch kann das Destillieren von Urin in wasserarmen Regionen eine wichtige Überlebensstrategie im Sinne des Bushcrafting sein, sofern es keine andere Wasserquellen gibt. Nicht oder falsch destillierter Urin eignet sich nicht als Trinkwasserersatz, schadet den Nieren und steigert den Durst. Zum Destillieren eignen sich auch Solardestillen. Aktivkohlefilter können den Harnstoff nur wenig adsorbieren. Urin wie auch andere Flüssigkeiten in einer Abwasserleitung können durch eine Kläranlage gereinigt und als Uferfiltrat teilweise wieder zu Trinkwasser werden. Medizinische Verwendung In der Medizin wurden Urin und aus Urin gewonnene Substanzen vielfältig eingesetzt. So wurde in Kriegs- und Katastrophenfällen Urin als wirkungsvolles Wunddesinfektionsmittel verwendet. Um 1500 empfahl der ostschwäbische Wundarzt Jörg zu Pforzen ein aus Salz und dem Sediment von Knabenurin hergestelltes Pulver zur Behandlung des Pannus (Überwachsung der Augenhornhaut). Heute können aus dem Urin von postmenopausalen Frauen Gonadotropine gewonnen werden, die zur Therapie von Fruchtbarkeitsstörungen eingesetzt werden können. Im alternativmedizinischen Bereich wird die „Eigenurintherapie“ angewandt. Hierbei werden dem eigenen (Morgen-)Urin Fähigkeiten zur Heilung verschiedener Krankheiten zugeschrieben. Durch Trinken, äußerliche Anwendung oder Injektion sollen Krankheiten wie Asthma, Neurodermitis oder Cellulite und andere geheilt oder zumindest gelindert werden. In Deutschland hat unter anderem Carmen Thomas in ihrem Buch Ein ganz besonderer Saft – Urin dafür plädiert, Eigenurin zu trinken. Nachweise für einen positiven Effekt der Eigenurintherapie gibt es nicht. Die arabische Tradition kennt die Verwendung von Kamelurin als Heilmittel. Das geht auf eine Hadith des Propheten Mohammed zurück. In jüngerer Zeit wurde von Forschern in Arabien eine krebsmindernde Wirkung von Kamelurin behauptet. Im Juli 2015 warnte die WHO vor dem Trinken von Kamelurin, weil dadurch die Gefahr einer Ansteckung mit MERS besteht. Da pathogene Prionen – falsch gefaltete Eiweiße, welche Krankheiten wie BSE oder Scrapie auslösen können – im Urin gefunden wurden, unterliegt die Gewinnung von Arzneien aus menschlichem Urin strengen Vorschriften. Menotropin aus humanem Urin muss wegen möglicher CJK-Ansteckungsgefahr mit einem Warnhinweis versehen werden; es sind aber noch keine Ansteckungen via menschlichem Urin bekannt. Nach Ergebnissen des Schweizer Prionenforschers Adriano Aguzzi sind im Urin enthaltene Prionen die derzeit aktuelle Erklärung dafür, weshalb Prionenkrankheiten bei Schafen, Elchen und Hirschen relativ hohe Ansteckungsraten besitzen – schließlich ernähren sich diese Wildtiere nicht von Tiermehl. Allerdings fand man die Prionen im Urin nur, wenn eine Nierenentzündung vorlag. Kommunikation und Markierung im Tierreich Tiere verwenden Urin auch zur Kommunikation (Chemokommunikation). Am bekanntesten dürfte dabei der Hund sein, der, wie viele andere Tiere, sein Revier durch die Abgabe einer kleinen Urinmenge an markanten Stellen abgrenzt. Bei einigen Katzen wie Leopard oder Gepard und den meisten Huftieren erkennt das Männchen am Geruch des Urins, ob das Weibchen paarungsbereit ist. Beim Abbau des enthaltenen Harnstoffs in der Umwelt entsteht durch Hydrolyse das stechend riechende Gas Ammoniak. Sexuelle Vorliebe Die sexuelle Vorliebe zu Urin wird auch als Urophilie oder Undinismus bezeichnet. Dabei wird der Prozess des Urinierens oder der Urin selbst als erotisch und sexuell stimulierend erlebt. Auch Urophagie, der Lustgewinn durch orale Aufnahme von Urin (sogenanntem „Natursekt“), kann damit verbunden sein. In der entsprechenden Szene sind auch die Bezeichnungen Natursekt (oftmals auch mit „ns“ abgekürzt), Watersports, Pissing, Peeing, Golden Shower, Golden-Waterfalls und Wet-Games verbreitet. Da diese sexuelle Vorliebe deutlich von der empirischen Norm abweicht, wird auch von einer Paraphilie gesprochen. Psychische und soziale Aspekte des Urinierens Zu psychischen und sozialen Aspekten des Urinierens siehe Harnlassen. Siehe auch Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie Harninkontinenz Paruresis Literatur Uwe Gille: Harn- und Geschlechtssystem, Apparatus urogenitalis. In: Franz-Viktor Salomon, Hans Geyer, Uwe Gille (Hrsg.): Anatomie für die Tiermedizin. Enke-Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 3-8304-1007-7. Huldrych M. Koelbing: Der Urin im medizinischen Denken. Geigy, 1967. Robert Franz Schmidt, Florian Lang, Gerhard Thews: Physiologie des Menschen. 29. Auflage. Springer-Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-540-21882-3. Weblinks G. Eknoyan: Looking at the Urine: The Renaissance of an Unbroken Tradition. In: American Journal of Kidney Diseases. 2007 06 (Vol. 49, Issue 6). Historische Übersicht (englisch). Einzelnachweise Körperflüssigkeit Niere
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https://de.wikipedia.org/wiki/Zirkon
Zirkon
Zirkon ist ein Mineral aus der Mineralklasse der „Silikate und Germanate“ mit der chemischen Zusammensetzung Zr[SiO4] und damit chemisch gesehen ein Zirconium-Silikat, das strukturell zu den Inselsilikaten zählt. Sehr typisch sind zum Teil hohe Gehalte an Hafnium, Uran, Thorium, Yttrium, Cer und anderen Metallen der Seltenen Erden (Rare Earth Elements, REE). Zirkon bildet eine lückenlose Mischkristallreihe mit seinem wesentlich selteneren hafniumdominanten Analogon Hafnon. Reidit ist eine Hochdruckmodifikation von Zirkon. Das Mineral kristallisiert im tetragonalen Kristallsystem und entwickelt meist kurzprismatische Kristalle mit quadratischem Querschnitt und pyramidalen Kristallenden sowie Kristalle mit dipyramidalem Habitus. Die meist eingewachsenen, nur selten aufgewachsenen Kristalle können bis zu 30 cm Größe erreichen. Zirkon findet sich ferner in radialstrahligen Aggregaten, unregelmäßigen Körnern, massiv sowie in Form von abgerollten, stark verrundeten Kristallen. In reiner Form ist Zirkon farblos und durchsichtig. Durch vielfache Lichtbrechung aufgrund von Gitterfehlern oder polykristalliner Ausbildung kann er aber auch weiß erscheinen, wobei farblose bis weiße Zirkone nur selten zu finden sind. Meist nimmt das Mineral durch verschiedene Fremdbeimengungen eine graue, braune bis rotbraune und seltener auch gelbe, grüne oder blaue Farbe an. Exemplare, die aufgrund ihrer Größe und Reinheit Edelsteinqualität zeigen, sind aufgrund ihres diamantähnlichen Glanzes ein beliebter Ersatz für Diamanten. Zirkon ist nicht zu verwechseln mit dem synthetisch hergestellten Zirkonia (Formel: ZrO2, Zirconium(IV)-oxid), der ebenfalls als Schmuckstein und Diamantimitation dient. Etymologie und Geschichte Der Name Zirkon stammt entweder vom arabischen zarqun für „Zinnober“ oder vom persischen زرگون zargun für „goldfarben“. Verändert finden sich diese Bezeichnungen im Namen Jargon wieder, womit helle Zirkone benannt worden sind. Der seit der Antike verwendete Name Hyacinth (Hyazinth) bezog sich ursprünglich auf ein blaues oder violettes Mineral. Er stammt vom griechischen Wort Υάκινθος hyakinthos für „Jüngling“ – in der griechischen Mythologie war Hyakinthos eine Blume, die aus dem Blut des gleichnamigen Jünglings entstand. Schon im Jahre 300 vor Christi Geburt war das Mineral von Theophrastos von Eresos nach dem griechischen Wort λυγκύριον lyncurion als Lyncurion bezeichnet worden. Ein mit dem heutigen Zirkon wahrscheinlich identisches Mineral nannte Plinius der Ältere in seiner um 77 n. Chr. entstandenen Naturgeschichte (Naturalis historia) Chrysolithos. Von Georgius Agricola 1546 als Hyacinthus und von Barthélemy Faujas de Saint-Fond 1772 als Hyacinthe bezeichnet. Jean-Baptiste Romé de L’Isle bildete als Erster die charakteristische Kristallform des Zirkons mit Prisma und Pyramide ab und unterschied säulig-gestreckte und pseudorhombendodekaedrische Varietäten. Martin Heinrich Klaproth wies darauf hin, dass Romé als Erster des Jargon de Ceylan „als einer besondern Steinart … gedacht“ hatte. Erstmals als Zirkon (Silex Circonius) bezeichnet wurde das Mineral 1783 durch Abraham Gottlob Werner, dessen Schüler Christian August Siegfried Hoffmann den Zirkon in das von ihm nach den Vorträgen von Werner verfasste „Handbuch der Mineralogie“ aufnahm. Martin Heinrich Klaproth analysierte im Jahre 1789 gelbgrüne und rötliche Zirkone von Ceylon (heute Sri Lanka) und entdeckte darin „eine bisher unbekannte, selbständige, einfache Erde“, der er den Namen „Zirkonerde“ (Terra circonia) gab. Dieselbe Erde fand Klaproth in einem Hyazinth von Ceylon, wodurch sich Zirkon einerseits und Hyazinth andererseits „als zwei Arten oder Gattungen eines eigenthümlichen Steingeschlechts“ erwiesen; die neue Erde könnte eventuell auch „Hyacintherde“ genannt werden. Erst René-Just Haüy vereinigte Hyazinth und Zirkon bei exakter Bestimmung der Kristallformen zu einem einzigen Mineral. Das chemische Element Zirconium isolierte erstmals der schwedische Mediziner und Chemiker Jöns Jakob Berzelius. Eine Typlokalität (Fundort des Materials der Erstbeschreibung) für den Zirkon ist nicht bekannt, daher gibt es auch keine entsprechend definierten Mineralproben (Typmaterial). Klassifikation Bereits in der veralteten, aber noch gebräuchlichen 8. Auflage der Mineralsystematik nach Strunz gehörte der Zirkon zur Mineralklasse der „Silikate und Germanate“ und dort zur Abteilung der „Inselsilikate (Nesosilikate)“, wo er als Namensgeber die „Zirkongruppe“ mit der System-Nr. VIII/A.09 und den weiteren Mitgliedern Coffinit, Hafnon, Reidit, Thorit und Thorogummit bildete. Die seit 2001 gültige und von der International Mineralogical Association (IMA) verwendete 9. Auflage der Strunz’schen Mineralsystematik ordnet den Zirkon ebenfalls in die Abteilung der „Inselsilikate (Nesosilikate)“ ein. Diese ist allerdings weiter unterteilt nach der möglichen Anwesenheit weiterer Anionen und der Koordination der Kationen, so dass das Mineral entsprechend seiner Zusammensetzung in der Unterabteilung der „Inselsilikate ohne weitere Anionen mit Kationen in oktaedrischer [6] und gewöhnlich größerer Koordination“ zu finden ist, wo es zusammen mit Coffinit, Hafnon, Stetindit, Thorit und Thorogummit die „Zirkongruppe“ mit der System-Nr. 9.AD.30 bildet. Auch die vorwiegend im englischen Sprachraum gebräuchliche Systematik der Minerale nach Dana ordnet den Zirkon in die Klasse der „Silikate und Germanate“ und dort in die Abteilung der „Inselsilikatminerale“ ein. Hier ist er als Namensgeber der „Zirkongruppe“ mit der System-Nr. 51.05.02 und den weiteren Mitgliedern Hafnon, Thorit, Coffinit, Thorogummit und Stetindit innerhalb der Unterabteilung der „Inselsilikate: SiO4-Gruppen nur mit Kationen in >[6]-Koordination“ zu finden. Chemismus Die Formel des reinen Zirkons mit Endgliedzusammensetzung Zr[SiO4] erfordert Gehalte von 67,1 Gew.-% (Gewichtsprozent) ZrO2 und 32,9 Gew.-% SiO2. Natürliche Zirkone enthalten häufig ein breites Spektrum formelfremder Begleitelemente und Einschlüsse verschiedener anderer Minerale, wozu Entmischungen, Einlagerungen und zonierte Verwachsungen zählen. Die wichtigsten Begleitelemente sind Hafnium, Thorium, Uran, Yttrium, Cer und andere Metalle der Seltenen Erden sowie Phosphor, Niob, Tantal, Aluminium, Eisen und Calcium. Dabei ist die Isotypie von Zirkon (Zr[SiO4]) und Xenotim-(Y) (Y[PO4]) die Ursache für die gekoppelte (heterovalente) Substitution Zr4+ und Si4+ durch Y3+ und P5+. Der größere Teil der teilweise sehr hohen Y-Gehalte ist aber nicht auf einen diadochen Einbau von Yttrium für Zirkon zurückzuführen, sondern auf zonierte, zum Teil sogar epitaktische Verwachsungen mit dem diskreten Fremdmineral Xenotim (vergleiche das nebenstehende REM-Bild und unter Varietäten). Hafnium wurde erstmals in Zirkonen aus Norwegen röntgenspektroskopisch durch die Physiker Dirk Coster und George de Hevesy 1923 in Kopenhagen nachgewiesen. Es wurde auch sehr schnell klar, dass Hafnium in zirconiumhaltigen Mineralien – und damit in allen Zirkonen – immer enthalten ist, da Hf4+-Ionen aufgrund der Lanthanoidenkontraktion einen zum leichteren Homologen Zr4+ vergleichbaren Ionenradius aufweisen und damit perfekt in die Kristallstrukturen der Zirconium-Verbindungen passen. Mit seinem hafniumdominanten Analogon Hafnon (Hf[SiO4]) bildet Zirkon somit eine lückenlose Mischkristallreihe. Gehalte von 45,30 Gew.-% Hafniumdioxid (HfO2) und von 27,69 Gew.-% Zirconiumdioxid (ZrO2) charakterisieren den Mittelpunkt der Mischkristallreihe mit der Formel (Zr0,50Hf0,50)Σ=1,00SiO4. Bei Kristallen mit Hafniumdioxidgehalten > 45,30 Gew.-% handelt es sich danach um Hafnone, ist der Wert kleiner als 45,30 Gew.-%, liegt ein Zirkon vor. Normalerweise beträgt der HfO2-Gehalt der Zirkone etwa 1 bis 1,5 Gew.-%, das Hf/Zr-Verhältnis 0,02–0,04. In Extremfällen kann Zirkon ferner bis zu 12 Gew.-% Thoriumdioxid (ThO2) oder 1,5 Gew.-% Uran(V,VI)-oxid (U3O8) enthalten. Eine yttriumhaltige Zirkonvarietät wurde Ribeirit genannt und enthält 7,45 Gew.-% Y2O3 („Yttererden“). In einem graugrünen bis graubraunen Zirkon aus Hayamadake, Präfektur Fukushima, Japan, wurden 10,14 Gew.-% Y2O3 festgestellt. Die zum Teil beträchtlichen Gehalte an Uran und Thorium machen den Zirkon zum Hauptträger der Radioaktivität in den Gesteinen. Allerdings ist auch formelreiner Zirkon schwach radioaktiv, da er zu 2,8 % aus dem Isotop 96Zr besteht, das mit der extrem langen Halbwertszeit von 24·1018 Jahren unter doppeltem Betazerfall zu 96Mo zerfällt. Kristallstruktur Zirkon kristallisiert tetragonal in der mit den Gitterparametern a = 6,61 Å und c = 5,98 Å sowie vier Formeleinheiten pro Elementarzelle. Die Struktur des Zirkons enthält inselartig [SiO4]4−-Tetraeder in einer innenzentrierten Elementarzelle aus Zr4+-Ionen, wobei jedes Zr4+-Ion von acht O2−-Ionen umgeben ist. Die [SiO4]4−-Tetraeder sind spiegelsymmetrisch und nach vierzähligen Schraubenachsen angeordnet. Letztere weisen gegenläufigen Drehsinn parallel [001] durch die Mitte der vier Viertelzellen auf. Das prinzipielle Strukturelement im Zirkon sind Zickzack-Ketten aus alternierenden, kantenverknüpften ZrO8-Dodekaedern parallel [100], die durch gemeinsame Ecken und Kanten mit den [SiO4]4−-Tetraedern zu einem dreidimensionalen Gerüst verbunden sind. Zirkon ist isotyp zu Xenotim-(Y), Béhierit (Ta[BO4]), Chernovit-(Y), Hafnon, Thorit und Wakefieldit-(Y) sowie einer Reihe künstlicher Verbindungen, d. h. er kristallisiert mit der gleichen Struktur wie diese Minerale und Phasen. In manchen Zirkonen ist der Gitterbau durch die Wirkung hochenergetischer radiogener Teilchen (aus dem radioaktiven Zerfall der im Zirkon enthaltenen Elemente Uran und Thorium) teilweise zerstört (metamiktisiert) – solche Kristalle weisen meist dunklere, braune Farben auf. Durch die Metamiktisierung kann Wasser ins Kristallgitter eingelagert werden. Die Folge ist eine merkliche Verringerung von Brechungsindex, Dichte und Härte. Eine Doppelbrechung ist überhaupt nicht mehr vorhanden. Insofern unterscheidet man Zirkone von ihren Stadien her in die bezüglich ihrer Eigenschaften zwischen den beiden ersten Gruppen liegen. Durch Erhitzen auf über 1000 °C können die Tiefzirkone wieder zu Hochzirkonen rekristallisieren. Eigenschaften Morphologie Zirkon bildet fast immer ringsum ausgebildete, aber eingewachsene und nur selten aufgewachsene, im Querschnitt oft quadratische Kristalle, deren durchschnittliche Größe, z. B. in granitoiden Gesteinen, zwischen 100 und 300 µm liegt. Gelegentlich erreichen sie aber auch Größen von mehreren Zentimetern, vor allem in Pegmatiten oder Schwermineralseifen. Der bisher größte bekannte Zirkon weltweit maß 10 cm × 10 cm × 30 cm, wog über 7 kg und wurde bei Brudenell in der kanadischen Provinz Ontario gefunden. Zirkonkristalle sind in den meisten Fällen an beiden Enden terminiert. Ihre die Kristallisationsgeschwindigkeit reflektierenden Längen-/Breitenverhältnisse variieren zwischen 1 und 5. Tatsächlich finden sich nadelige Kristalle häufig in schnell auskristallisierten, porphyrischen, subvulkanischen Intrusionen sowie oberflächennah intrudierten Graniten und Gabbros. Zirkone treten im Wesentlichen in drei verschiedenen Grundtypen mit den Hauptflächenformen {100}, {110}, {101} und {301} auf (siehe dazu auch die zugehörigen Grafiken). Zu diesen drei morphologischen Grundtypen des Zirkons gehören ein pyramidaler Habitus mit {101} und/oder {211}, ein prismatischer Habitus mit {100} und/oder {110} und ein gestreckter Habitus mit prismatischen und pyramidalen Flächenformen. Zum pyramidalen Habitus zählen die typisch dipyramidalen Kristalle, die die Pyramide {101} allein oder mit schmalen Flächen des Prismas II. Stellung {100} zeigen. Wesentlich häufiger sind die Kristalle mit prismatischem Habitus. Hier treten zu den trachtbestimmenden Prismen II. Stellung {100} und/oder I. Stellung {110} die tetragonalen Pyramiden II. Stellung {101} und {301}, die tetragonale Pyramide I. Stellung {112} sowie die tetragonale Dipyramide {211}. Sehr charakteristisch sind kurzprismatische Kristalle mit {110} und {101}, die einen pseudorhombendodekaedrischen Habitus (sogenannter Hyazinth-Habitus) aufweisen und an entsprechende Granatkristalle („Granatoeder“) erinnern (vergleiche die Kristallzeichnung Nr. 3). Bei Vergleichen mit historischen Kristallzeichnungen muss beachtet werden, dass die Aufstellung der Kristalle in modernen Zeichnungen gegenüber der früheren morphologischen Orientierung um 45° gedreht ist. So wird die früher als {111} indizierte Pyramide heute als {101} aufgestellt. Im Gegensatz zu den formähnlichen Mineralen Kassiterit und Rutil bildet Zirkon nur selten knieförmige Zwillinge mit (112) als Zwillingsebene aus. Solche Zwillinge sind aus der „Meredeth Freeman Zircon Mine“ im Henderson County in North Carolina beschrieben worden, daneben auch kreuzförmige Zwillinge nach (101) und visiergraupenähnliche Zwillinge nach (111). Die Gesetzmäßigkeit der kreuzförmigen Zwillinge hat jedoch Georges Friedel schon 1904 bezweifelt. Große Zwillinge nach (112), aber nicht kreuzförmig, sondern als Kniezwillinge, sind vor allem von Brudenell Township, Renfrew County, Ontario in Kanada, bekannt. Zirkon kommt außerdem in traubigen, nierigen und radialstrahligen Aggregaten sowie unregelmäßigen Körnern vor. Aufgrund seiner Verwitterungsbeständigkeit findet sich der Zirkon in Lockersedimenten und Seifen in Form von losen, abgerollten Kristallen, in Schlacken und mit basaltischen Gesteinen verknüpften Xenolithen, in skelett- und bäumchenförmigen Aggregaten. Charakteristisch sind Verwachsungen mit anderen Mineralen wie z. B. Xenotim-(Y), darunter auch perfekt orientierte (epitaktische) Verwachsungen (siehe die nebenstehende Kristallzeichnung). Verwachsungen mit Baddeleyit werden „Zirkon-Favas“ oder „Caldasit“ genannt. Da Thorit und Zirkon komplett analoge Strukturen aufweisen, sind auch epitaktische Verwachsungen von Zirkon mit Thorit möglich. Solche kennt man unter anderem von Bassano Romano, Provinz Viterbo, Latium, aus dem Steinbruch San Vito bei San Vito unweit Ercolano, Monte Somma, Somma-Vesuv-Komplex, Metropolitanstadt Neapel, Kampanien, beide in Italien, sowie aus den Auswürflingen des Laacher-See-Vulkans in der Vulkaneifel. Physikalische und chemische Eigenschaften In reiner Form ist Zirkon farblos und wasserklar-durchsichtig. Durch vielfache Lichtbrechung aufgrund von Gitterbaufehlern oder polykristalliner Ausbildung kann er aber auch durchscheinend weiß sein und durch Fremdbeimengungen eine braune und braunrote, seltener auch gelbe, grüne oder blaue Farbe annehmen. Die Strichfarbe des Zirkons ist hingegen immer weiß. Die Oberflächen der durchsichtigen bis opaken Kristalle weisen auf allen Flächen einen starken glas- bis diamantähnlichen Glanz, auf Bruchflächen sowie im metamikten Zustand hingegen Fettglanz auf. Manche Zirkone zeigen auch Chatoyance (Katzenaugeneffekt). Zirkon besitzt eine sehr unvollkommene Spaltbarkeit nach {100}, bricht aufgrund seiner Sprödigkeit aber ähnlich wie Quarz, wobei die Bruchflächen muschelig ausgebildet sind. Mit einer Mohshärte von 7,5 gehört Zirkon zu den harten Mineralen, und steht damit zwischen den Referenzmineralen Quarz (Härte 7) und Topas (Härte 8). Die gemessene Dichte für Zirkon beträgt je nach Autor 4,6 bis 4,7 g/cm³, die berechnete Dichte liegt bei 4,714 g/cm³. Bei der Metamiktisierung (Isotropisierung) sinkt die Dichte des Minerals auf Werte von 3,9 bis 4,2 g/cm³ („low density zircons“). Bei Normaldruck ist Zirkon bis zu einer Temperatur von 1676 °C stabil. Darüber zersetzt er sich in tetragonales Zirconiumdioxid (ZrO2) und Siliciumdioxid (SiO2) in der Modifikation β-Cristobalit (Hochcristobalit), besitzt also keinen kongruenten Schmelzpunkt. Ab 1689 °C bildet sich SiO2- reiche Schmelze (~95 mol-% SiO2), die mit weiter steigenden Temperaturen zunehmend reicher an ZrO2 wird. Im Dünnschliff ist Zirkon farblos bis blassbraun und weist in stark gefärbten Körnern einen deutlichen Pleochroismus auf. So wurde an bräunlich-perlgrauen Körnern ein Pleochroismus von ω = nelkenbraun nach ε = spargelgrün, an blass nelkenbraunen Körnern ein Pleochroismus von ω = grauviolettblau nach ε = grauolivgrün und an gelblichweißen Körnern ein Pleochroismus von ω = blassblau nach ε = blassgelb beobachtet. Charakteristisch für das Mineral ist eine hohe Lichtbrechung (starkes Relief mit dunkler Umrandung) und eine hohe Doppelbrechung (δ = 0,044 bis 0,055) mit lebhaften roten, blauen und grünen Interferenzfarben der II. und III. Ordnung. Metamikte Zirkone können anomal zweiachsig sein und dann Achsenwinkel von 2V = 10° zeigen, während ihre Doppelbrechung auf Werte von δ = 0,000 zurückgeht. Weitere Charakteristika sind der oft vorhandene Zonarbau und die pleochroitischen Höfe, die am besten zu erkennen sind, wenn der Zirkon als Einschluss in farbigen Mineralen wie Biotit und Turmalin auftritt. Im Zirkon selbst sind Einschlüsse von Apatit, Monazit, Xenotim-(Y), Rutil, Hämatit, Ilmenit, Magnetit, Biotit, Kassiterit, Quarz, Turmalin und Glas beobachtet worden, die immer eine gewisse Trübung (Graufärbung) verursachen. Vor dem Lötrohr, auch im warmen Luftstrom, ist der Zirkon unschmelzbar. Mit Sauerstoff wird er weiß, ohne zu schmelzen. Nur mit erwärmtem Sauerstoff entsteht oberflächlich ein weißes Email; letzteres auch, wenn der Zirkon beim Erhitzen im Knallgas-Strom zu schmelzen anfängt. Zirkon wird durch Phosphorsalz nicht wahrnehmbar angegriffen. Wird das Pulver mit Ätzkali – oder mit Soda am Platindraht – zusammengeschmolzen und dann mit Salzsäure gekocht, so wird Kurkuma-Papier von der verdünnten sauren Flüssigkeit orange gefärbt (Reaktion auf Zirconium). Wird die salzsaure Lösung bis zur Kristallisation konzentriert und dann mit gesättigter Kaliumsulfat-Lösung gekocht, so bildet sich ein weißer Niederschlag von Zirconium(IV)-oxid. In Säuren ist er unlöslich. Von konzentrierter Schwefelsäure (H2SO4) wird Zirkon nur in feinstem Pulver angegriffen, in heißer, konzentrierter Fluorwasserstoffsäure (HF) ist er schwach löslich. Zirkon ist aufschließbar durch Schmelzen mit Alkalicarbonaten und Kaliumdisulfat sowie anderen Bisulfaten, besonders aber mit Kaliumfluorid und Fluorwasserstoff-Kaliumfluorid. Durch Glühen – je nach Behandlung in der Oxidations- bzw. Reduktionsflamme – entsteht zum Teil eine dunklere Färbung, zum Teil werden die Kristalle entfärbt. Einige Zirkonkristalle zeigen beim Glühen Thermolumineszenz; insbesondere bei helleren durchsichtigen Kristallen erzeugt bereits eine „sehr gelinde Erwärmung“ ein hell- bis intensiv grünes Licht, wobei die Phosphoreszenz zwei bis drei Minuten anhält. Zirkon kann ferner auch Kathodolumineszenz sowie gelbe, orangegelbe bis grünorangefarbene Fluoreszenz im kurzwelligen UV-Licht (254 nm) aufweisen. Hervorgerufen wird dies durch strahlungsinduzierte Kristalldefekte sowie den Einbau von (UO2)2+ (Uranyl-Ion) als Verunreinigung, oder Dy3+, Er3+, Nd3+, Yb3+. Durch Bestrahlung hervorgerufene Gitterdefekte können beim Erhitzen, manchmal reicht Sonnenlicht, ausheilen, was mit einem Verlust der durch diesen Defekt verursachten Färbung einhergeht. In der Folge ändert sich die Farbe – es bleibt nur die Färbung durch stabile Defekte wie Fremdionen übrig – oder verschwindet vollständig. Modifikationen und Varietäten In der Vergangenheit wurden verschiedenen Zirkone, die reich an Metallen der Seltenen Erden (Rare Earth Elements, REE) waren, unter eigenen Bezeichnungen beschrieben. Dazu zählen Alvit, Hagatalith, Naëgit, Nogizawalith, Oyamalith und Yamaguchilith. Die zumeist stark metamikten Minerale stammen hauptsächlich aus Graniten und Granitpegmatiten in Japan. Ihre Gehalte an REE2O3 und P2O5 können, z. B. im Nogizawalith, 26 Gew.-% und 9,8 Gew.-% erreichen. Schon vor Jahrzehnten ist gezeigt worden, dass es sich bei diesen Zirkon-„Varietäten“ tatsächlich um (zonierte) Verwachsungen von Zirkon und Xenotim-(Y) handelt, gelegentlich sogar in perfekter epitaktischer Orientierung. Sehr wahrscheinlich entstanden sie durch Einwirkung hydrothermaler, an Yttrium, Phosphor, und den Metallen der Seltenen Erden angereicherten Lösungen auf metamikte Zirkone. Im Alvit sind die Verwachsungen mit Xenotim-(Y)-Kristallen bis zu 0,1 mm Größe relativ grob. Im Hagatalith und Yamaguchilith sind die Xenotim-Domänen kleiner und seltener, wohingegen im Oyamalith und Naëgit überhaupt keine diskreten Phasengrenzen erkennbar sind. Als Alvit wurde ein Zirkon von Kragerø in Norwegen mit bis zu 16 % HfO2 sowie Th und REE benannt. Später wurde dieser Name für metamikte, Hf-reiche Zirkone aus Granitpegmatiten verwendet. Anderbergit ist ein von Christian Wilhelm Blomstrand nach dem Apotheker und hervorragenden Mineralkenner C. W. Anderberg benannter, pseudododekaedrische Kristalle bildender und alterierter Zirkon von Ytterby in Schweden. Beschrieben wurde diese Zirkon-Varietät von Adolf Erik Nordenskiöld. Anderbergit fand sich mit Fergusonit und Xenotim auf schwarzen Glimmerplatten aufgewachsen und erwies sich als cyrtolithähnliches wasserhaltiges Zirconiumsilikat mit Calcium und REE. Auerbachit wurde nach dem russischen Wissenschaftler Dr. Auerbach in Moskau benannt. Hans Rudolph Hermann beschrieb die in Kieselschiefer eingewachsenen Kristalle aus der Umgebung des Dorfes Anatolia beim „Hutor Masurenki“ unweit Mariupol in der Ukraine. Als Azorit wurde ein im Sanidinit von São Miguel auf den Azoren sitzender Zirkon mit extrem dipyramidalem Habitus bezeichnet. Caldasit ist die Bezeichnung für eine ursprünglich als sogenannte Zirkon-Favas („Zirkonbohnen“) bekannte Mixtur aus Baddeleyit und Zirkon. Diese stammen aus dem Massiv von Poços de Caldas, die aufgrund der durchschnittlichen Gehalte von > 60 % ZrO2 und 0,3 % U3O8 als uranhaltiges Zirconiumerz gelten. Calyptolith (auch Caliptolith oder Kalyptolith) ist der von Charles Upham Shepard gewählte Name für einen winzige Kristalle bildenden Zirkon von der Chrysoberyll-Lokalität Haddam in Connecticut, USA. Cyrtolith (auch Kyrtolith) von griechisch κυρτός für „krumm“ wegen der gekrümmt erscheinenden Pyramidenflächen ist die Bezeichnung von William J. Knowlton für einen Zirkon aus dem Granit von Rockport in Massachusetts, USA. Engelhardit sind farblose bis gelblichweiße, durchsichtige und diamantglänzende Kristalle bis 12 mm Größe aus den Goldfeldern bei Tomsk, welche die trachtbestimmende Form {101} zeigen. Als Hyazinth (auch Jacinth(us)) bezeichnet man auch heute noch gelbe und gelbrote bis rotbraune Zirkonvarietäten. Jargon ist eine strohgelbe bis nahezu farblose Zirkonvarietät. Malakon von griechisch μαλακός [malakos] für „weich“ ist der von Theodor Scheerer vergebene Name für einen zuerst von der Insel Hidra (früher Hitterø) in Norwegen beschriebenen, undurchsichtigen und isotropisierten Zirkon. Naëgit ist eine vollständig metamiktisierte, Y-Th-U-reiche Zirkon-Varietät aus dem Pegmatit-Distrikt von Naëgi, Japan. Ähnlich ist die Nb, Ta, Th und REE enthaltende Varietät Hagatalith, die im Unterschied zum Naëgit aber reicher an REE und ärmer an Zirconium ist. Nogizawalith benannte Teikichi Kawai eine Mixtur aus Xenotim und Zirkon. Oerstedtit ist ein meist auf Augitkristallen sitzender, metamikter Zirkon von Arendal, Aust-Agder, Norwegen. Johann Georg Forchhammer benannte die Varietät nach Hans Christian Ørsted. Ostranit wurde von August Breithaupt nach der germanischen Frühlingsgöttin Ostra benannt und ist ein alterierter Zirkon, der wahrscheinlich aus Arendal, Aust-Agder, Norwegen stammt. Polykrasilith von griechisch πολύς für „viel“ und κρᾶσις für „Mischung“ hergeleitet, ist die von Eduard Linnemann gewählte Bezeichnung für Zirkone aus North Carolina, USA aufgrund der Vielzahl der in ihnen spektroskopisch nachgewiesenen Elemente (Sn, Pb, Cu, Bi, Zr, Al, Fe, Co, Mn, Zn, Mg, Ur, Er, Ca, Ka, Na und Li). Ribeirit ist ein extrem yttriumreicher Zirkon aus Macarani, Bahia, Brasilien, der nach dem Professor für Mineralogie Joaquim Costa Ribeiro benannt wurde. Als Tachyaphaltit wurden von Nils Johan Berlin dunkelrötlichbraune Kristalle in „granitischen Ausscheidungen im Gneis bei Kragerö“ benannt. Der Name wurde nach den griechischen Worten ταχύ für „schnell“ und ἄφαλτος für „herabspringend“ gewählt, weil die Kristalle beim Zerschlagen des Gesteins leicht herausspringen. Yamaguchilith (auch Yamazuchilith oder Yamagulith) ist ein REE-haltiger bzw. REE- und P-reicher Zirkon mit 4–5 Gew.-% P2O5 aus Yamaguchi bei Kiso, Japan. Bildung und Fundorte Bildungsbedingungen Zirkon gehört zu den frühesten Mineralbildungen der Erde und des Mondes (siehe auch Altersbestimmung). Die ältesten bekannten Zirkonkristalle haben ein Alter von bis zu 4,4 Milliarden Jahren. Als mikroskopisch kleiner, akzessorischer Gemengteil ist er in verschiedenen magmatischen Gesteinen praktisch weltweit vorhanden. Er ist als primäres Kristallisationsprodukt Bestandteil von Magmatiten wie Graniten, Syeniten und Alkalisyeniten sowie insbesondere in deren Pegmatiten, daneben auch in Vulkaniten (Rhyolithen und Trachyten). Große Einkristalle sind vor allem in pegmatitischen Nephelinsyeniten enthalten. In metamorphen Gesteinen (kristallinen Schiefern) tritt Zirkon als Nebengemengteil in Form von aus den Edukten vererbten Kristallen und Körnern auf. Sehr große Kristalle und Zwillinge sind von Brudenell Township im Renfrew County, Ontario in Kanada, bekannt. Infolge seiner Resistenz gegenüber chemischer und mechanischer Verwitterung findet man Zirkon auch in Sedimentgesteinen sowie in detritischer Form, worunter man durch Erosion aus dem Gesteinsverband freigelegte, transportierte und abgelagerte Zirkone versteht. Solchermaßen angereicherte Zirkone finden sich auch in Seifen, die zum Teil lagerstättenrelevante Größenordnungen erreichen. Darüber hinaus ist Zirkon auch auf alpinotypen Klüften und in vulkanischen Sanidin-Auswürflingen zu finden. Analysen der Form und Kristallflächenausbildung von Zirkonen ermöglichen Rückschlüsse auf die Bildungsbedingungen und die weitere Entwicklung von Zirkonen. Bereits in den 1950er Jahren wurde davon ausgegangen, dass die Morphologie des Zirkons als Frühkristallisat die physikochemischen Bedingungen zur Zeit seiner Kristallisation widerspiegelt. Zu diesen physikochemischen Faktoren zählen die chemische Zusammensetzung und Viskosität des Magmas sowie die Oberflächenspannung der Kristalle gegenüber der Schmelze und die Unterkühlungsrate der Schmelze. Daraus entwickelte Jean-Pierre Pupin die Theorie, dass in granitischen Schmelzen die relative Größenbeziehung der beiden häufigsten Prismen des Zirkons – {100} und {110} – zueinander durch die Temperatur kontrolliert wird und die Ausbildung dieser beiden Prismen folglich als Geothermometer für die Bildungstemperatur des jeweiligen granitischen Gesteins verwendet werden kann. Andererseits wird bestritten, dass die Ausbildung der Prismenflächen von der Temperatur des Magmas gesteuert wird und damit die Morphologie von Zirkonkristallen als Geothermometer angesehen werden kann. So soll die Ausbildung der Flächenformen {100} und {110} der Zirkonkristalle vielmehr hauptsächlich durch chemische Bedingungen beeinflusst werden. Ein erhöhter Uran- und/oder Thoriumgehalt in einer granitischen Schmelze beeinträchtigt oder verhindert beispielsweise das Wachstum von {100} zugunsten von {110}, wodurch sich Kristalle mit durch das Prisma {110} dominierten Morphologien entwickeln. Typische Begleitminerale des Zirkons sind – in Abhängigkeit vom Muttergestein (hier im Sinne von Gestein, das nutzbare Minerale beziehungsweise Edelsteine enthält) – die Feldspäte (Albit und Mikroklin), Amphibole, Glimmer (Muskovit, Biotit, Phlogopit und Vermiculit) sowie Quarz. In Seifen wird das Mineral häufig mit anderen stabilen Schwermineralen wie Turmalin, Topas, Kassiterit, Kyanit, Sillimanit, Korund, Granat, Spinell und gelegentlich auch Gold angetroffen. Zirkonreiche Seifenlagerstätten werden in Indien, den USA, Australien, Sri Lanka und Südafrika abgebaut. Als häufige Mineralbildung konnte Zirkon bisher (Stand 2017) von ca. 5100 Fundorten beschrieben werden. Eine Typlokalität ist für das Mineral jedoch nicht definiert. Angesichts der sehr großen Anzahl an Fundorten für Zirkon können hier nur einige wenige, vor allem größere Kristalle liefernde Lokalitäten erwähnt werden. Fundorte Europa Die am besten ausgebildeten Zirkone Deutschlands stammen aus Auswürflingen und Xenolithen der Vulkaneifel, Rheinland-Pfalz. Aus erstarrten Laven bei Niedermendig konnten rote Kristalle mit bis zu 3 cm Länge erhalten werden. Vulkanische Sanidin-Auswürflinge, z. B. aus dem Laacher-See-Gebiet, liefern Zirkone, die frisch rosafarben sind, aber meist zu farblosen bis grauweißen Tönen verblassen. Ein deutliches Skelettwachstum mit pinsel- bis bäumchenförmiger Ausbildung weisen Zirkone vom „Ettringer Bellerberg“ (Steinbruch Caspar) bei Ettringen unweit Mayen auf. Im 15 km südöstlich von Sebnitz liegenden „Seufzergründel“ bei Hinterhermsdorf in der Sächsischen Schweiz sind seit mindestens 1546 bis zu 10 mm große Zirkonkristalle aus Seifen in einem schwermineralführenden Bach gewaschen worden. Georgius Agricola schreibt dazu: Seifenfunde in der Göltzsch im Sächsischen Vogtland und einigen ihrer Zuflüsse führten ab 1994 zu den qualitativ besten und größten Edelsteinzirkonen Europas. Diese stammen aus einem rund 1 km Durchmesser aufweisenden Diatrem bei Ebersbrunn südwestlich Zwickau. Facettierte, lupenreine Zirkone aus diesen Seifen erreichen Größen von bis zu 1,7 cm und wiegen bis zu 11 ct. Der größte facettierte Zirkon aus diesem Gebiet wurde aus einem braunroten Rohstein von 2 cm × 1,6 cm Größe und einem Gewicht von 10,2 g geschliffen. Der größte „Göltzsch-Zirkon“ maß 4,4 cm × 3,6 cm × 3,8 cm und wog 120 g – er wurde allerdings nicht verschliffen. Von derartigen Zirkonen nimmt man an, dass sie vor dem Beginn des fluviatilen Transportes Kantenlängen von bis zu 5 cm aufgewiesen haben. In der Schweiz wurden seit 1997 in Nephelinpegmatiten am Bergmassiv Gridone oberhalb des Centovalli in den Tessiner Alpen bis zu 9 cm große, braunrosa bis rotbraun gefärbte Zirkone geborgen, die teils in grobspätigem Albit oder apatitführendem Biotit, teils am Kontakt von Albit zu Nephelin sitzen. Der einzige Zirkon aus einer alpinen Kluft in der Schweiz ist ein 3,5 mm × 2 mm großer Kristall, der aus der Rimpfischwäng bei Zermatt im Wallis geborgen wurde. Daneben kennt man Zirkon aus dem Granit der Grimsel, Kanton Bern und Kanton Wallis, sowie aus dem Gneis des Piz Blas und Piz Rondadura im Val Nalps bei Sedrun im Kanton Graubünden in bis zu 1 mm großen Kristallen. Aus Österreich, insbesondere aus Klüften im Amphibolit und Biotitschiefer des Totenkopfes oberhalb des Stubachtals im Salzburger Land kennt man Kristalle bis zu 2,5 mm Größe; weiterhin von der „Aigner Alp“ bei Schellgaden im Murwinkel, Lungau, der „Dorfer Alpe“ im Dorferbachtal bei Prägraten, Virgental, Osttirol und vom „Prickler Halt“, einem Kamm zwischen Ladinger Spitz und Speikkogel auf der Saualpe in Kärnten. In Italien fand man Zirkone in der „Burgumer Alpe“ im Pfitscher Tal, Südtirol und in der autonomen Region Trentino-Südtirol mit bis zu 1 cm großen Kristallen. Des Weiteren wurde das Mineral in „Le Prese“, Sondalo im Veltlin, Provinz Sondrio in der Region Lombardei, und aus dem Steinbruch „Cave dell’Acqua“ westlich von Figline di Prato bei Monte Ferrato, Provinz Prato, Toskana gefunden. Im französischen Zentralmassiv trat es in maximal 5 mm großen, hyazinth- oder ziegelroten, farblosen oder gelben Kristallen in Basalttuffen und Sanden des Riou Pezzouliou beim Dorf Espaly bei Le Puy-en-Velay, Département Haute-Loire, Region Auvergne-Rhône-Alpes sowie in Trachyt-Lavadomen des Puy-de-Dôme bei Clermont-Ferrand, Département Puy-de-Dôme, Region Auvergne-Rhône-Alpes auf. In Norwegen fand man Zirkon vor allem im „Store Kufjord“ (eigentlich die Bezeichnung eines tief in die Insel schneidenden Fjordes) und anderen Pegmatiten auf der ca. 50 km nördlich von Alta liegenden Insel Seiland, Finnmark. Der zirkonreichste Nephelinsyenit-Pegmatit, 1,5 km lang und bis 10 m mächtig, befindet sich am Ostufer des Store Kufjord und lieferte bis 15 cm große Kristalle, die durch die Ausbildung der zum Teil sogar trachtbestimmenden steilen Pyramide {301} ein verrundetes Aussehen aufweisen (vergleiche die Kristallzeichnung Nr. 7). Weitere norwegischen Fundstellen für Zirkon sind Syenitpegmatite im Gebiet des plutonischen Larvik-Komplexes im Bereich des Langesundsfjordes in den Provinzen Vestfold und Telemark. Berühmte Fundstellen sind hier die Insel Stokkøya, die Steinbrüche „Tuften“, „Granit“ und „Almenningen“ im Tvedalen, der Steinbruch „Saga I“ bei Mørje, die Svenner-Inseln bei Stavern sowie das Husefjell auf Vesterøya bei Sandefjord. Bis zu 10 cm große Zirkonkristalle stammen aus den Steinbrüchen Hàkestad und Stàlaker bei Tjølling. Zirkon, auch in epitaktischen Verwachsungen mit Xenotim-(Y), stammt aus dem Feldspatbruch „Igletjødn“ (Igletjern) beim Hof Hæstad und anderen Granitpegmatiten auf der südsüdwestlich von Flekkefjord liegenden Insel Hidra (Hitterø), Vest-Agder. Insbesondere für die Zirkonvarietät Alvit bekannt sind der ehemals im Lindvikskollen-Kalstadgangen-Pegmatit bauende Steinbruch „Lindvikskollen“ und die Feldspatgrube „Tangen“, beide bei Kragerø unweit Fredrikstad, Telemark. An den Ufern des Ilmen-Sees im Ilmengebirge bei Miass im mittleren Ural, Oblast Tscheljabinsk, Russland, wurden bereits 1826 Kristalle mit teils säuligem, teils pyramidalem Habitus gefunden. Die bis zu 17 cm langen und 10 cm dicken Kristalle stammen aus Nephelinsyeniten (Miaskiten), miaskitischen Pegmatiten in Granitgneisen, Pegmatiten in Pyroxensyeniten sowie Granitpegmatiten. Eine der bekanntesten Fundstellen ist der Schurf „Bljumovskaja kop“. Die ca. 120 km nordnordöstlich von Miass gelegenen Višnevye-Berge (Višnevogorsk) gehören wie das Ilmengebirge geologisch zum Syserts-Ilmenogorsk-Antiklinorium. Sie enthalten metasomatische Albitite, die sich aus alkalischen Gesteine miaskitischer Zusammensetzung ableiten. Diese Albitite, z. B. der an der Lokalität „Kurochkin Log“, liefern bis zu 10 cm große Zirkonkristalle. Bis Mitte der 1990er Jahre wurden diese Albitite als Zirkon-Pyrochlor-Erz abgebaut. Auf der Halbinsel Kola in der Oblast Murmansk besitzen vor allem zwei Fundstellen Weltgeltung: Der „Peak Marchenko“ des Berges Kukisvumchorr im Chibinen-Massiv und der „Pegmatit Nr. 24“ am Berg Vavnbed (deutsch: „Nackter Hintern“) im Lowosero-Massiv. Die erstere Fundstelle lieferte braune Kristalle bis zu 5 cm Größe, vom letzteren, in Albitpegmatiten liegenden Fundort kamen dipyramidale Zirkonkristalle (vergleiche die Kristallzeichnung Nr. 1) bis zu 9 cm Größe. Afrika In Afrika werden Zirkone hauptsächlich in den Edelsteinpegmatiten und -seifen in Madagaskar, vor allem in der Provinz Fianarantsoa, gefunden. Bekannte Fundorte sind die „Sakavalana Mine“ (gleichzeitig Typlokalität für Pezzottait) bei Ambatovita unweit Mandrosonoro, Distrikt Ambatofinandrahana, Region Amoron’i Mania, und die Phlogopitlagerstätte „Sakasoa“ im District Iakora, Region Ihorombe, wobei „Sakasoa“ auch Zirkon-Kniezwillinge geliefert hat. Weitere bekannte Fundstellen befinden sich in der Region Anosy. Dazu zählen Itrongay bei Mahasoa East, Distrikt Betroka, sowie die Gemeinde Tranomaro im Distrikt Amboasary. Zirkone stammen auch aus den Pegmatiten von Ampanobe im gleichnamigen Pegmatitfeld bei Ankazobe im Distrikt gleichen Namens, Region Analamanga. Eine weitere weltbekannte Zirkonfundstelle sind die Alkalipegmatite um den Mount Malosa bei Zomba auf dem gleichnamigen Plateau und im gleichnamigen Distrikt in Malawi. Sie gehören geologisch zur Alkaligesteinsprovinz Chilwa und sind für ihre großen Aegirin-, Feldspat- und Arfvedsonit-Kristalle sowie seltene Berylliumminerale und Minerale mit Metallen der Seltenen Erden berühmt. Etwa seit dem Jahre 2000 werden auch bei Imilchil im Hohen Atlas, Provinz Errachidia, Region Drâa-Tafilalet in Marokko, Zirkone gefunden. Zu den Fundpunkten zählen der ca. 18 km südöstlich von Imilchil liegende Gebirgspass Tizi-n'-Inouzane (Tizi-n-Ouazane) mit knapp zentimetergroßen Kristallen auf Feldspat sowie der Berg „Jebel Ewargizen“ bei Tirrhist. Neben Granat, Apatit und Magnetit findet sich hier in Pegmatiten in Episyeniten auch Zirkon. Eine Reihe von Fundstellen für Zirkon existiert auch in Mosambik. Dazu zählen der Monte Salambidua bei Tete in der gleichnamigen Provinz sowie der 140 km nordöstlich von Lichinga bei der Ansiedlung Navago in der Provinz Niassa liegende Carbonatit von Luicuisse. Viel häufiger ist Zirkon aber in den Pegmatiten und Tantallagerstätten des „Alto-Ligonha-Distrikt“ sensu lato in der Provinz Zambezia. Zu den Fundpunkten gehören der Pegmatit von Muiâne (Emdal Mines) und die benachbarten Pegmatite Naipa, Maridge, Nanro, Nacuissupa und Nihire, die Isabela Mine und die Niesse Mine, die Pegmatitgruppe Muhano-Majamala-Cochiline, die Pegmatitgruppe Mocachaia-Alata-Intotcha-Nahora, die Pegmatitgruppe Namacotcha-Conco-Napire-Nassupe-Munhamola-Moneia, die Pegmatitgruppe Namivo-Tomeia-Nampoça und der Marropino-Pegmatit sowie die Pegmatite von Boa Esperança, Namecuna, Namirrapo und Nuaparra. Von Namecuna wurden Kristalle bis zu 6,5 cm × 3,5 cm × 3,5 cm beschrieben. In den genannten Lokalitäten findet sich der Zirkon in den inneren Zonen der Pegmatite in Begleitung von Quarz, Bismutit und verschiedenen Vertretern der Columbitreihe – in einigen Pegmatiten auch in Verwachsungen mit Xenotim-(Y) oder Mikrolith. Die yttrium-, niob-tantal-, thorium- und uranreiche Zirkonvarietät Naëgit wurde im Nuaparra-Pegmatit beobachtet und dort von Quarz, Bismutit, Thorit, Rhabdophan und Metatorbernit begleitet. Die REE-, uran- und thoriumreiche Varietät Cyrtolith fand sich in Morrua, während alterierte, bräunliche Zirkone der Varietät Malakon im Gebiet von Ribaue identifiziert worden sind. Einige Zirkone aus dem Alto-Ligonha-Distrikt, insbesondere die von Namacotcha, weisen hohe Gehalte an HfO2 bis zu 32 Gew.-% auf. Asien In Asien wird Zirkon seit altersher aus den Edelsteinseifen auf Ceylon, heute Sri Lanka, „in erheblicher Menge“ gewonnen. Die Fundorte befinden sich vor allem in einem vergleichsweise großen Gebiet um die Stadt Ratnapura (Sinhala: „Stadt der Juwelen“) im Distrikt Ratnapura in der Provinz Sabaragamuwa. Ebenfalls im Distrikt Ratnapura befinden sich zwei Fundstellen, die bis zu 10 cm große Zirkonkristalle geliefert haben. Dies sind der „Giant Crystal Quarry“ bei Embilipitiya und Calcitgänge in hochmetamorphen Biotitgneisen in den Katukubura Hills bei Kolonne. In Afghanistan sind Zirkone vor allem aus dem Pegmatitfeld von Dara-i-Pech (Pech-Tal) im Distrikt von Chapa Dara, Provinz Kunar, bekannt. Die Be-Nb-Ta-Li-reichen Pegmatite liefern rote scharfkantige Kristalle von bis zu 8 cm Größe und meist dipyramidalem Habitus. Ebenfalls im Tal von Pech befindet sich das Fundgebiet von Manogay (Managi). Muttergestein der Zirkonkristalle sind hier aber nicht Pegmatite, sondern proterozoische Marmore. Zahlreiche Fundorte für ausgezeichnet ausgebildete Zirkone befinden sich in Pakistan. Hierzu gehören das 15 km nordnordwestlich von Astore im Tal des Astor liegende Dorf Harchu, Distrikt Astore; miarolithische Granitpegmatite im Stak-Tal bei Stak Nala, Rakaposhi-Haramosh-Berge, Distrikt Skardu, Baltistan; Alchuri im Shigar-Tal, Distrikt Skardu, Baltistan; die Granitpegmatite von Chilas, Distrikt Diamir, alle in Gilgit-Baltistan (ehemals Northern Areas), sowie der 40 km nordnordwestlich von Peschawar bei Hameed Abad Kafoor Dheri liegende Zagi Mountain (Shinwaro), Khyber Pakhtunkhwa (ehemals North-West Frontier Province). Bei dem letztgenannten Fundort handelt es sich um ein 3 km × 5 km großes Gebiet mit zahlreichen alpinotypen Klüften. Meist um Einzelkristalle – gelegentlich idiomorph, häufiger mehr oder weniger stark abgerollt – handelt es sich bei Funden von Zirkonkristallen in Myanmar. Dazu zählen das Edelsteinschürfgebiet „Thabeikkyin“ östlich der gleichnamigen Stadt (Thabeikkyin oder Tha Pate Kyin Township) im Bereich der unteren Abhänge des Shan-Plateaus in Richtung Mogok, sowie „Baw-lon-gyi West“ (Bon-lon West) bei der Stadt Kyatpyin unweit Mogok, beide im Distrikt Pyin U Lwin in der Mandalay-Region in Myanmar. Im Bereich der letzteren Fundstelle werden aus kiesigen Alluvionen neben Zirkonen auch Spinelle, Rubine und blaue Saphire sowie Painit gewonnen. Nordamerika In den Vereinigten Staaten kennt man zahlreiche interessante Fundstellen für Zirkon, darunter vor allem Granitpegmatite in North Carolina. Zu den bekanntesten zählt zweifellos die 1869 von General Clingman entdeckte „Freeman Mine“ bzw. „Meredeth Freeman Zircon Mine“ bei Tuxedo im „Zirconia Pegmatite District“ innerhalb des Henderson County. Von den hier zu findenden graubraunen Zirkonkristallen beutete Clingman „in wenigen Wochen 1000 Pfund“ aus – auch Zwillinge nach mehreren Gesetzen. Ein ehemals auf Vermiculit abgebauter Pegmatit im „Tigerville Prospect“, Greenville County, South Carolina, lieferte bis zu 3 cm große Zirkone. Aus einem unbenannten Pegmatit bei Mellen im Ashland County, Wisconsin, wurden bis zu 20 cm lange, feinnadelige Kristalle („crystals of zircon up to 7 1/4 inches long and 1/16 to 1/8 inch in diameter“) beschrieben. In Graniten bei Haddam, Connecticut wurden ebenfalls Zirkone gefunden, darunter auch als „Calyptolith“ bekannte von der Chrysoberyll-Lokalität Haddam, Middlesex County. Nach George Frederick Kunz wurden Zirkone als „schöne schwarze Kristalle“ nahe Franklin, Sussex County, New Jersey gefunden. Im Bundesstaat New York sind seit langem verschiedene Fundstellen bekannt, die größere Kristalle geliefert haben. Am Ausgang der „Two Ponds“ im Orange County fand man Kristalle bis 2 cm Länge zusammen mit Skapolith, Pyroxen und Titanit; am „Deer Hill“ südöstlich von Canterbury dunkelbräunlichrote bis schwarze Kristalle von bis zu 3 cm Länge und bei Amity, Town of Warwick, weiße, rötlich- und nelkenbraune sowie schwarze Kristalle. Bei „Diana“, Diana Township, Lewis County, traten bis zu 4 cm lange Kristalle zusammen mit Titanit und Skapolith; im St. Lawrence County mit Apatit in körnigen Kalksteinen bei „Robinson’s“ und bei Long’s Mills (Harder Farm?) im Gebiet von Hammond bis 3 cm lange Kristalle sowie bei Rossie, bei Fine („Fred Scott Farm Pegmatites“) und bei Pitcairn auf. Aus der „Crystal King Zircon Mine“ („Ashton Location“) im Wichita Mountains Wildlife Refuge bei Indiahoma, Comanche County, Oklahoma wurden scharfkantige, glänzende, bräunlichrote Kristalle bis zu 2 cm Größe geborgen. In den 1950er und 1960er Jahren wurde Zirkon im nahegelegenen, im kambrischen Quanah-Granit sitzenden „Hale Spring Pegmatite“ abgebaut. In Colorado vom „Mount Cheyenne“, richtiger wohl aus dem Gebiet „North Cheyenne Cañon – Helen Hunt Falls Area“ bei Colorado Springs, El Paso Co. fand man glänzende rötlichbraune, fleischrote oder grüne, pyramidale Zirkonkristalle. Vom „St. Peters Dome“ im Cheyenne bzw. St. Peters Dome District, El Paso County stammen scharfkantige, pyramidale, braunrosa Zirkonkristalle bis zu 2 cm Größe. Schließlich sind von der „Pacoima Canyon Pegmatite Locality“ (REE-U-Th) im Allanitpegmatit des Pacoima-Canyon, San Gabriel Mountains, Los Angeles County, Kalifornien, prismatische Zirkonkristalle bis zu 5 cm Länge bekannt. Aus Syenitpegmatiten und Linsen in Syenitgneisen der 23 km südwestlich von Eganville liegenden Lokalität „Kuehl Lake“ bei Brudenell Township, Renfrew County, Ontario in Kanada, kamen sehr große, bräunlich- bis hyazinthrote, opake Kristalle bis zu 30 cm Länge und 10 cm Breite, die zusammen mit Apatit, Titanit, Hornblende und Calcit gefunden worden sind. Die Fundstelle ist seit den frühen 1880er Jahren bekannt. Die gleichfalls im Renfrew County liegende „Turner’s Island Mine“ befindet sich am Nordende von Turners Island im Lake Clear, ca. 5 km östlich des Westendes des Sees und 12 km südwestlich von Eganville bei Sebastopol Township. Sie ist ebenfalls seit dem 19. Jahrhundert bekannt und gehört aufgrund der hier vorkommenden Riesenkristalle zu den legendären Fundstellen der Welt. Aus den Gängen, die hier durch Hornblendegneise setzen, kennt man neben einem Zirkonkristall von einem Fuß (ca. 30 cm) Länge, einen 700 Pfund (ca. 315 kg) schweren Apatit, einen gleichfalls einen Fuß langen Titanitkristall sowie Titanitkristalle bis zu 18 kg Gewicht. Von hier stammen auch mehrere Zentimeter große, verzwillingte Zirkonkristalle, ferner auch aus der für ihre „Betafit“-Kristalle berühmten „Silver Crater Mine“ (Basin Property), Faraday Township, Hastings County. An diesem wahrscheinlich eine Carbonatit-Intrusion in Biotitamphibolite und syenitisierte Gneise darstellenden Fundort ist der Zirkon häufig mit Betafit vergesellschaftet. In der Regionalen Grafschaftsgemeinde Témiscamingue in der Region Abitibi-Témiscamingue in Québec ist entlang der Ostseite und der Hügel des Lake Sheffield der regionalmetamorph überprägte Alkaligesteinskomplex von Kipawa aufgeschlossen, der in mafischen Gneisen Pegmatit-Linsen aus grobkörnigem Eudialyt, Feldspat, Nephelin, Agrellit und unterschiedlichen Vertretern der Wöhleritgruppe sowie Alkali-Amphibolite und nichtagpaitische Nephelinsyenite enthält. Hier finden sich beige-rötliche bis rötlichbraune, zentimetergroße Zirkonkristalle, die zum Teil mit Magnesiokatophorit und/oder Mosandrit vergesellschaftet sind. Schließlich wurden im „Poudrette Quarry“ am Mont Saint-Hilaire, Regionale Grafschaftsgemeinde La Vallée-du-Richelieu, Montérégie, Québec, winzige, aber perfekt ausgebildete dipyramidale Kristalle von gelber Farbe gefunden, die als „Jargon“ bezeichnet worden sind. Südamerika In Brasilien kommen braune bis nahezu weiße, opake Zirkonkristalle von bis zu mehreren Zentimetern Größe sowie Megakristalle von mehr als 50 kg Gewicht aus Nephelinsyeniten im Alkaligesteinskomplex von Peixe, Bundesstaat Tocantins vor. Ein häufig genannter Fundstellenname ist „Alminhas“. Der Alkaligesteinskomplex von Poços de Caldas in Minas Gerais lieferte unter anderem grünliche dipyramidale Kristalle, die in Hohlräumen in Baddeleyit sitzen oder massige Aggregate aus „Caldasit“ bilden – einer nur hier vorkommenden Mixtur aus Zirkon und Baddeleyit. Metamikter Zirkon in Kristallgruppen bis über 6 cm Größe trat im Pegmatit „Alto Assis Moraes“ in Santa Luzia, Paraíba, auf. Aus der Region „Naque“ in Minas Gerais wurden kastanienbraune Zirkon-Hafnon-Mischkristalle von mehreren Zentimetern Länge gemeldet. Australien und Ozeanien Zu den Fundstellen mit den weltweit größten Zirkonkristallen zählt „Mud Tank“ bei Alcoota Station, Strangways Range, Central Desert Region, Northern Territory, Australien. Mud Tank ist eine in Carbonatiten sitzende Vermiculit-Zirkon-Lagerstätte, die im Tagebau abgebaut wird. Das Sammelgebiet von Mud Tank befindet sich in 6 km Entfernung vom Plenty Highway. Die hier gefundenen Zirkonkristalle können Größen bis zu 2,5 cm erreichen, sind honig- bis zimtbraun, wachsglänzend und weisen häufig durchscheinende Bereiche auf. In meist abgerollter Form auf Seifenlagerstätten wird Zirkon – neben Fundstellen in Myanmar, Sri Lanka, Australien, Brasilien, Madagaskar und Mosambik – auch in Kambodscha, Thailand, Korea, Nigeria und Tansania gefördert. Auch in einigen Mineralproben vom Meeresboden im Gebiet des Mittelatlantischen Rückens und des Südwestindischen Rückens sowie aus Tiefbohrungen vor der Küste von New Jersey wurde Zirkon gefunden, ebenso in einigen vom Mond stammenden Gesteinsproben. Verwendung Altersbestimmung in der Geologie Seit der Entwicklung der radiometrischen Altersbestimmung kommt Zirkonen besonders in der Geochronologie Bedeutung zu, da sie Spuren der radioaktiven Nuklide 235U, 238U und 232Th (von 10 ppm bis zu 5 Gew.-%) enthalten. Alle diese Isotope zerfallen über Zerfallsreihen zu verschiedenen Bleiisotopen. Durch Messen der entsprechenden Uran-Blei- bzw. Thorium-Blei-Verhältnisse kann das Kristallisationsalter eines Zirkons bestimmt werden. Verhältnisse stabiler Isotope geben Auskunft über die Umgebung, in der die Kristalle entstanden sind. Zirkone bewahren diese Information, da sie gegenüber geologischen Einflüssen wie Verwitterung und selbst hochgradiger Gesteinsmetamorphose äußerst resistent sind. So deuten Zirkone vom Mount Narryer und aus den Jack Hills im Narryer-Gneis-Terran, Yilgarn-Kraton, Westaustralien, die mit einem Alter von 4,404 Milliarden Jahren die ältesten bisher auf der Erde gefundenen Minerale darstellen, auf eine überraschend frühe Existenz kontinentaler Kruste und auf einen flüssigen Ozean hin. Die Jack Hills liegen südlich vom Murchison River an der Grenze zwischen dem Shire of Murchison und dem Shire of Meekatharra, etwa 800 km nördlich von Perth. Als ältestes datiertes Mineral Europas gilt ein 3,69 Milliarden Jahre alter Zirkonkristall aus Gneisen, die im Øvre-Pasvik-Nationalpark im Norden Norwegens, unweit der Stadt Kirkenes im Pasviktal in der Gemeinde Sør-Varanger, anstehen. Zirkone in einer Mondgesteinsprobe (Brekzie 72215) wurden auf 4,417 Milliarden Jahre datiert und zeigen damit einen sich länger hinziehenden Erstarrungsprozess der Mondkruste nach Entstehung des Mondes an. Provenienzanalyse in der Sedimentpetrologie Eine wichtige Rolle spielt der Zirkon bei der Analyse des Schwermineralspektrums von Sedimentgesteinen. Durch Bestimmung von Kristalltracht und Kristallhabitus (dazu zählt auch das Längen-/Breitenverhältnis und der Abrollgrad) der Zirkone sowie der Ermittlung ihres Spurenelementgehaltes können die Liefergebiete der Sedimente mit ihren diskreten Gesteinstypen eingegrenzt oder sogar zugeordnet sowie die Aufarbeitung, mechanische Abrasion und Sortierungseffekte umfassenden Transportprozesse bis zum Ablagerungsraum der Sedimente im Idealfall auch quantifiziert werden. Schmuckstein Aufgrund seiner hohen BG-Dispersion von 0,038 (im Vergleich dazu: Diamant: 0,044, Zirkonia: 0,066 und Quarz: 0,013) sind größere Exemplare geschätzte Schmucksteine. Farblose Zirkone erhalten meist Brillantschliff, farbige Steine auch Treppenschliff. Durch Wärmebehandlung kann die Farbe von braunen oder braunroten bzw. trüben Zirkonen verändert werden. Gefärbte Zirkone werden durch Glühen unter oxidierenden Bedingungen (850–900 °C) farblos oder gelb bis rotgelb. Bei Wärmezufuhr unter reduzierenden Bedingungen (900–1000 °C) entstehen blaue Kristalle. Für Laien ist eine Unterscheidung des farblosen Zirkons von Diamant nur schwer möglich, da beide Minerale vergleichbare Brillanz und Dispersion („Feuer“) aufweisen. Diese Eigenschaften führten zu der Bezeichnung Matara-Diamant. Solche farblosen, in Sri Lanka vorkommenden Zirkone hielt man im 19. Jahrhundert für minderwertige Diamanten. Ebenso ist für Laien eine Verwechslung des blauen Zirkons mit Spinell möglich. Für farbige Zirkone existieren diverse Handelsnamen. Als Ratanakiri, abgeleitet von „Ratanakiri“ (kambodschanisch für „Edelsteinberg“), werden blaue Zirkone aus der Provinz Preah Vihear in Kambodscha bezeichnet. Auch mit dem Terminus Starlit wurde eine Zirkonvarietät benannt, die durch Brennen anderer Zirkone bei hohen Temperaturen einen blauen Farbton erhält. Kaduna-Zirkone stammen aus Nigeria und zeichnen sich durch eine honiggelbe Färbung aus. Die durch Brennen erhaltenen Farben sind jedoch nicht immer beständig – ultraviolette Strahlung und/oder das direkte Sonnenlicht können Veränderungen der Färbung bewirken. Einer der größten bekannten geschliffenen Zirkone wird in der Smithsonian Institution aufbewahrt. Er ist von brauner Farbe und hat ein Gewicht von 105,80 Karat. Weitere Zirkon ist das wichtigste Erz sowohl für Zirconium als auch Hafnium. Zirconium findet Verwendung als Legierungsmetall (Ferrozirkon) und – in Form der korrosionsfesten Legierung Zirkalloy (mit kleinen Mengen von Eisen, Chrom und Zinn) – als Reaktormaterial. Hier wird es wegen seines geringen Neutroneneinfangquerschnitts als Hüllmaterial für Brennstoffstäbe verwendet. Zirconium-Niob-Legierungen weisen supraleitende Eigenschaften auf, auch enthalten die meisten Superlegierungen auf Nickel- und Cobalt-Basis zwischen 0,03 und 2,2 % Zirconium. Gläser aus Zirconiumfluoriden weisen eine extrem große Infarotdurchlässigkeit auf und werden daher in der Glasfasertechnik verwendet. Zirkonglas dient der Ummantelung von radioaktiven Abfällen (z. B. Plutonium) zur Endlagerung, wobei die Behälter nach aktuellen Forschungen etwa 2000 Jahre der Strahlung standhalten. Wissenschaftler um Ian Farnan vom britischen Cambridge Nuclear Energy Centre an der University of Cambridge haben allerdings in Experimenten herausgefunden, dass die erwartete Haltbarkeit des Zirkonglases gegen das Plutoniumisotop 239Pu nur etwa 210 Jahre beträgt. Bei dem aus Zirconium hergestellten Zirkonia handelt es sich um künstlich hergestellte Einkristalle aus Zirconium(IV)-oxid, die in der kubischen Hochtemperaturphase stabilisiert wurden und häufig als preiswerte Diamantimitation für Schmuck verwendet werden. Zirkonia lässt sich optisch nur schwer von Diamanten unterscheiden – hierfür wird die unterschiedliche Wärmeleitfähigkeit beider Substanzen verwendet. Während Diamanten besonders gut wärmeleitend sind, leiten Zirkonia Wärme besonders schlecht. Weitere relativ einfache und durch zerstörungsfreie Messverfahren zu ermittelnde Unterschiede zum Diamanten sind die unterschiedliche Lichtbrechung (Brechungsindex Zirkonia 2,18, Diamant 2,42), Dispersion (Zirkonia 0,066, Diamant 0,044) und Dichte (Zirkonia 5,8 g/cm³, Diamant 3,5 g/cm³). Stabilisiertes Zirkoniumoxid wird in verschiedenen Formen und Dimensionen hergestellt. Da die Verbindung ZrO2 einen extrem hohen Schmelzpunkt aufweist, werden schlickergegossene Ziegelsteine aus polykristallinem Zirkon oder Tiegelmaterial aus Zirkonia zur Herstellung mechanisch widerstandsfähiger, säurebeständiger und hochfeuerfester Werkstoffe verwendet. Solche hochfeuerfesten Oxidkeramiken weisen nur geringe Wärmeleitung und thermische Ausdehnung auf. In der chemischen Industrie findet Zirconium Anwendung bei der Herstellung von Spinndüsen, Rohren, Rührern, Ventilen und Wärmetauschern. Zusammen mit Aluminiumoxid bzw. Korund findet Zirkon als Formsand in Gießereien, in der Glasindustrie und als Schleifmittel Verwendung. Poröse, ZrO2-basierte Keramiken sind ausgezeichnete Wärmeisolatoren – so können in Behältern aus Zirkonia Hochtemperaturgläser und Metalle mit hohem Schmelzpunkt geschmolzen werden. Zirkonia wird auch zur Herstellung von Schmelztiegeln und abrasionsfesten Werkstoffen wie beispielsweise Zahnimplantataufbauten und Zahnkronen/-brückengerüsten verwendet. Anwendung findet Zirkonia schließlich auch in Form von polykristallinen Fasern zur Verstärkung in Verbundwerkstoffen () und allgemein für Höchsttemperatur-Isoliermaterialien. Die Hauptanwendungsgebiete der ZrO2-Fasern sind Hochtemperaturöfen sowie Hitzebarrieren in Raketen, Raumfähren und Abschussrampen. Mit solchen Fasern isolierte Hochtemperatur-Laboröfen lassen sich sehr schnell aufheizen und anschließend auch sehr schnell wieder abkühlen. Für die Herstellung von glasfaserverstärktem Zement entwickelte „Cemfil“-Glasfasern enthalten einen hohen Anteil an Zirkon und sind dadurch besonders alkalibeständig. Diese Fasern erreichen zwar nicht dieselben Verstärkungseffekte wie Asbest, stellen aber wegen ihrer Unschädlichkeit gute Ersatzmaterialien für Asbestfasern dar. Andere Zirconium-Verbindungen werden für Glasuren in der keramischen und in der Glasindustrie verwendet. Zu solchen mit Zirkon hergestellten Spezialkeramikprodukten zählen Zirkonporzellan, Zirkonsteatit, Zirkonglasuren und Zirkonemails. Die bei der Verbrennung von Zirconium entstehende Flamme weist eine Temperatur von 4660 °C auf und gibt ein reinweißes, sonnenartiges Licht ab. Daher wird Zirconium in Blitzlampen sowie in Feuerwerk und Leuchtspurmunition benutzt. Airbag-Gasgeneratoren und pyrotechnische Sicherheitsgurtstraffer enthalten ebenfalls Zirconium. „Zirkon“ in der Medizin In der populärwissenschaftlichen Literatur wird Zirkon mitunter fälschlich als moderner Hochleistungswerkstoff in der Wiederherstellungsmedizin, vor allem der Zahnmedizin, genannt. Dabei ist jedoch regelmäßig nicht das über seine chemische Formel ZrSiO4 definierte Silikat Zirkon gemeint, sondern Zirkoniumdioxid ZrO2 mit geringen Beimengungen von Yttriumoxid zur Optimierung der Materialeigenschaften. Das Silikat Zirkon hingegen wird in der Wiederherstellungsmedizin nicht eingesetzt. In den Natur- und heilkundlichen Schriften der mittelalterlichen Nonne und Universalgelehrten Hildegard von Bingen ist unter anderem die Verwendung von Hyazinth als Heilstein überliefert. Je nach Durchführung vorgeschriebener Anwendungsregeln soll er in der Lage sein, Sehschwäche, trübe Augen und Augenschmerzen, Fieber, Herzbeschwerden und durch teuflische Zauber ausgelösten Wahnsinn zu heilen. Zudem könne er durch seine innere Wärme bei Männern und Frauen das „Feuer des Blutes“ (Libido) auslöschen. Der von Hildegard von Bingen beschriebene Hyazinth entspricht jedoch nicht der heute unter diesem Begriff bekannten gelbroten bis braunen Zirkonvarietät, auch wenn dies in vielen aktuellen esoterischen Publikationen fälschlich behauptet wird. Im griechischen Wortursprung ist ὐάκινθος ‚Hyacinthus‘ die Bezeichnung für einen blauen Farbton und die gleichnamige Blumengattung. Bei dem historischen Hyazinth handelte es sich demnach um einen blauen Stein und damit um einen Aquamarin, Saphir oder Türkis. Dennoch wird der Zirkon auch von heutigen Esoterikern als bedeutender Heilstein angesehen, der angeblich Krampfadern und Wasserblasen an Beinen und Füßen beseitigen sowie Hodenerkrankungen heilen können soll. Daneben wird er nach Uyldert (1983) in der Varietät Hyazinth als Planetenstein dem Jupiter und nach Richardson und Huett (1989) als Zirkon dem Pluto zugeordnet. Als Amulettstein ist der Zirkon dem Tierkreiszeichen Jungfrau und als Monatsstein dem Dezember zugeordnet. Trivia Ein Roter Zirkon spielt bei dem 2015 von Bert Saurbier veröffentlichten, gleichnamigen Eifel-Thriller die zentrale Rolle. In einem geheimen Forschungszentrum auf Burg Vogelsang mitten im Nationalpark Eifel arbeitet ein internationales Expertenteam daran, das Geheimnis um einen etwa zwei Meter langen, feuerroten Zirkonkristall zu lüften. Dieser steckte in einem Milliarden Jahre alten australischen Meteoriten und erzeugt ein Kraftfeld, das Objekte in seiner Nähe deutlich an Gewicht verlieren lässt. Siehe auch Systematik der Minerale Liste der Minerale Liste mineralischer Schmuck- und Edelsteine Blei-Zirkonat-Titanat (PZT) Zirkonsilikate Literatur Weblinks Mineralienatlas:Zirkon (Wiki) Mindat – Zirkon (englisch) Webmineral – Zircon (englisch) Database-of-Raman-spectroscopy – Zirkon American-Mineralogist-Crystal-Structure-Database – Zircon Zirkon von Gunnar Ries Zirkonzahn-Lexikon: Zirkon Einzelnachweise Schmuckstein Mineral Inselsilikate (Strunz) Zirconiummineral Siliciummineral Tetragonales Kristallsystem
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https://de.wikipedia.org/wiki/Buch%20Ester
Buch Ester
Das Buch Ester bzw. Esther, , ist ein Buch der Bibel, das von den Gefährdungen, aber auch Möglichkeiten des Lebens in der antiken jüdischen Diaspora erzählt. Der loyale Hofbeamte Mordechai und die schöne und mutige Königin Ester vereiteln den vom Großwesir Haman geplanten Genozid an den Juden im Perserreich. Am Ende der Erzählung sind alle Feinde tot, die Juden sind geachtet und glücklich, viele Proselyten schließen sich ihrer Religion an, und das Purimfest wird als jährliches Freudenfest gefeiert, das an Esters Tat erinnert. Das Esterbuch ist in drei verschiedenen Fassungen überliefert: einer hebräischen und zwei davon abweichenden griechischen Versionen. Das hebräische Esterbuch ist von hoher literarischer Qualität, aber wenig (und jedenfalls nicht explizit) religiös. Dies haben die griechischen Versionen durch eingefügte Gebete von Ester und Mordechai und weitere Hinweise auf ihre Frömmigkeit korrigiert. Im jüdischen Kanon gehört das hebräische Esterbuch zum dritten Hauptteil des Tanach, den Ketuvim (Schriften). Es wird als Festrolle (Megilla) beim Purimfest gelesen. Im christlichen Kanon der Septuaginta wird das griechische Esterbuch zu den Geschichtsbüchern gerechnet. Diese Einordnung übernehmen moderne katholische wie evangelische christliche Bibelübersetzungen mit Ausnahme der Bibel in gerechter Sprache, die dem jüdischen Kanon folgt. Es wird aber ein unterschiedlicher Text geboten. Evangelischen Bibelübersetzungen (Lutherbibel, Zürcher Bibel, Elberfelder Bibel und weitere) liegt der hebräische Text zugrunde, während die römisch-katholische Einheitsübersetzung einen Mischtext bietet: Sie „verbindet die Erweiterungen aus der griechischen Fassung mit dem hebräischen Kerntext.“ Hebräisches Esterbuch Inhalt Das Esterbuch spielt am persischen Hof in Susa und versetzt den Leser in eine märchenhafte Welt luxuriöser Festbankette und höfischer Intrigen. Der König Ahasveros verstößt die Königin Waschti (), weil sie sich geweigert hat, bei einem Bankett vor den Gästen zu erscheinen. Daraufhin werden Jungfrauen aus dem ganzen Reich an den Königshof gebracht, aus denen der König eine neue Gemahlin auswählen soll. Darunter ist Hadassa, die auch Ester heißt und aus einer jüdischen Familie stammt, was am Hof zunächst nicht bekannt ist. Sie ist nach dem Tod ihrer Eltern bei ihrem Cousin aufgewachsen, dem Hofbeamten Mordechai. Mordechai empfiehlt ihr, über die Herkunft Stillschweigen zu bewahren. Nach einer Vorbereitungszeit von zwölf Monaten, während der Ester von Hegai, dem Eunuch des Königs und Vorsteher des Jungfrauenhauses, protegiert wird, wird Ester vor den König gebracht. Sie entgeht dem Schicksal, nach der ersten Nacht unbeachtet im Harem zu verbleiben, sondern erlangt das Wohlwollen des Königs. Ihre Erhebung zur Königin und die Heirat mit Ahasveros ist eine quasi private Szene, bei der alle höfische Prachtentfaltung fehlt (). Erst im Anschluss folgt ein Festbankett. Mordechai bringt eine Verschwörung gegen den König zur Anzeige. Als Mordechai sich einige Zeit später weigert, den Großwesir Haman durch Proskynese zu ehren, hat das weitreichende Folgen. Motive für sein Handeln werden nicht genannt; der Leser kann aber vermuten: Mordechai handelt so als religiöser Jude; dass die Proskynese nur Gott zusteht, ist ein im Tanach vertrauter Gedanke. Aber der in seiner Ehre gekränkte Haman plant daraufhin die Ermordung aller Juden im Reich; der Tag dafür wird von ihm ausgelost. Es ist der 13. Adar (Ende Februar / Anfang März). Der König, der als Marionette Hamans erscheint, billigt diesen Genozid, und die Eilläufer der persischen Post tragen den Aufruf zum Pogrom in alle Provinzen des Reichs. Während Ahasveros und Haman ihre Tat mit einem Gelage feiern, sind die Einwohner der Residenz Susa entsetzt. Mordechai tritt als öffentlicher Büßer vor dem Palast auf, ein Verhalten, von dem Ester ihn zuerst abzubringen versucht. Er informiert Ester über das geplante Pogrom und fordert sie auf, sich für ihr Volk einzusetzen. Ihre Intervention beim König ist ein Wagnis, auf das sie sich, gemeinsam mit allen Juden in Susa, durch dreitägiges Fasten vorbereitet. Dann tritt sie allein vor den König. Ahasveros fragt gnädig, was ihr Anliegen sei. Ester lädt den König und Haman zu einem Bankett ein. In seiner Hochstimmung ob dieser Einladung bereitet Haman die Vernichtung Mordechais vor, die seinen Triumph komplettieren soll: Er lässt für ihn einen überdimensionierten Galgen errichten (). Unterdessen erfährt Ahasveros davon, dass Mordechai die Verschwörung gegen ihn aufgedeckt hat, und ordnet an, dass er dafür besonders geehrt werden soll – womit Haman beauftragt wird, was dessen Erbitterung gegen Mordechai steigert, aber auch schon Hamans Entmachtung einleitet. Bei dem von ihr ausgerichteten Bankett bittet Ester den König in einer kunstvollen Rede um ihr Leben und das Leben ihres Volkes. Ahasveros greift nur einen Aspekt auf: wer wagt es, seine Gemahlin zu bedrohen? () Ester weist auf Haman als Urheber des geplanten Pogroms. Erregt steht der König von der Tafel auf und geht in den Palastgarten. Haman versucht sich zu retten, indem er Ester um Vergebung bittet (ihre Reaktion wird nicht erzählt). Ahasveros tritt wieder in den Raum und sieht Haman über Esters Polster hingestreckt. Er missversteht diese Annäherung als Vergewaltigungsversuch; damit ist der Untergang Hamans besiegelt. Er wird abgeführt und an dem Galgen gehenkt, den er für Mordechai errichten ließ. Die Bevölkerung in Susa jubelt Mordechai zu, viele Menschen konvertieren zum Judentum. Ahasveros hebt mit einem neuen Edikt das Pogromedikt auf und gewährt seinen jüdischen Untertanen zwei Privilegien: Versammlungsfreiheit und Verteidigungsfreiheit (). Nach dem Grundsatz, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, erhalten sie die Erlaubnis, die Angreifer mit Frauen und Kindern zu töten, so wie diese es mit ihnen tun wollten. Erst dadurch ist die Gefahr wirklich überwunden. Vom 13. bis zum 15. Adar töten sie über 75.000 Judenfeinde im gesamten persischen Reich. Der 14. Adar wird zum landesweiten Festtag erklärt, der 15. Adar dagegen zum Festtag in der Stadt Susa. Aufbau der Erzählung Der kunstvolle Aufbau der Erzählung lässt sich auf verschiedene Weise analysieren. So zählt Arndt Meinhold acht Bankettszenen, die sich zu vier Festgelagepaaren gruppieren. Das erste Festgelagepaar dient der Selbstinszenierung des persischen Königs. In dem letzten Festgelagepaar, das damit kontrastiert, feiern die Juden ihre Befreiung und konstituieren sich als Gemeinschaft. Mehrfach wurde ein „Spiegelprinzip“ bzw. eine Umkehrstruktur (reversal structure) im Esterbuch aufgezeigt, die z. B. nach Jon B. Levenson schematisch so dargestellt werden kann: Hauptpersonen Im Esterbuch treten vier Hauptpersonen auf, literarische Typen, die vor allem durch ihr Handeln gekennzeichnet werden: König Ahasveros – persönlich integer, politisch unbekümmert, folgt er spontanen Aufwallungen von Zorn oder Zuneigung. Königin Ester – diplomatisch klug, dabei nach anfänglichem Zögern konsequent, findet die Heldin des Buchs stets das Wohlwollen ihrer Umgebung. Mordechai – sowohl seinem Gott als auch dem persischen König treu, steht er zu seiner ethnischen und religiösen Herkunft. Haman – der intrigante, aber auch eitle und dumme Höfling versucht, die Unerfahrenheit des Königs zum eigenen Vorteil zu nutzen. Ort und Zeit der Handlung Der Erzähler hat sehr genaue Vorstellungen von der Palastanlage der Perserkönige. In Susa unterscheidet er die Zitadelle von der Stadtsiedlung; innerhalb der Zitadelle befindet sich der eigentliche Palast. Der Zutritt zum Palast erfolgt durch das „Tor des Königs“, wo mehrere Szenen des Esterbuchs lokalisiert sind. Im Palast gibt es den königlichen Wohntrakt und, davon getrennt, das Frauenhaus. Ferner unterscheidet der Erzähler einen allgemein zugänglichen äußeren Palasthof und einen inneren Hof, der nur auf königliche Einladung hin betreten werden darf. Weiterhin gibt es im Palastbereich ein Gebäude für die Bankette des Königs und einen Garten. Möglicherweise kannte der Verfasser den Palast in Susa aus eigener Anschauung; da Susa bei der Eroberung durch Alexander den Großen 330 v. Chr. nicht zerstört wurde, steht eine solche Ortskenntnis nicht notwendig im Widerspruch zu einer späten Abfassung des Buches. Nachdem Waschti im 3. Regierungsjahr des Ahasveros verstoßen wurde, gelangt Ester in dessen 7. Regierungsjahr an den Hof. Die weiteren Ereignisse spielen in seinem 12. Regierungsjahr. Das Pogromedikt wird im ersten Monat (Nisan) erlassen, das durch Los ermittelte Datum des Pogroms ist aber erst im zwölften Monat (Adar). Es bleibt also fast ein Jahr für Mordechai und Ester, um die tödliche Gefahr von den jüdischen Einwohnern des Perserreichs abzuwenden. Persisches Kolorit Die Erzählung hat ein persisches Gepräge. Zahlreiche Nebenpersonen werden mit ihrem iranischen Namen eingeführt; allerdings sind nur wenige dieser Personennamen im iranischen Onomastikon bezeugt, die meisten sind Kunstnamen. Im Esterbuch werden Details aus dem Hofprotokoll mit den zugehörigen Höflichkeitsformeln erwähnt, ebenso wie persische Trinksitten, das Postwesen und die königliche Gerichtsbarkeit. Bei Herodot, Xenophon und Diodor liest man Vergleichbares. Die Zahl persischer Lehnwörter ist im Esterbuch höher als in jeder anderen biblischen Schrift. Hinzu kommen exotische Lehnwörter, die quasi die ganze Ausdehnung des persischen Reiches von Äthiopien bis Indien in die Erzählung einbringen. Die Namen von Edelsteinen und Gewebearten tragen zur Atmosphäre von höfischem Luxus bei. Aramäische und aramaisierende Formen sprechen zusammen mit syntaktischen Beobachtungen für ein spätes Stadium des biblischen Hebräisch. Das durch den Wortschatz und durch eine gewisse Kenntnis des höfischen Lebens und der Administration entstehende „persische Kolorit“ kann allerdings nach Meinung vieler Exegeten nicht für die historische Zuverlässigkeit der erzählten Ereignisse in Anschlag gebracht werden. Historizität Der Name des Königs im Esterbuch, Ahasveros (), kann plausibel als Transkription des Namens Ḥšayārša (= Xerxes) erklärt werden. Xerxes I. regierte von 486 bis 465/464 v. Chr.; demnach wäre Ester im Jahr 483, oder 482 v. Chr. in das Haus der Jungfrauen aufgenommen worden. Wenn Mordechai selbst zu den 598/597 deportierten Benjaminitern gehört hätte (), wäre er zu diesem Zeitpunkt hochbetagt gewesen und Ester als dessen Cousine auch viel zu alt, um für den königlichen Harem in Betracht zu kommen. In seinen Historien beschreibt Herodot die Brautwahl von Dareios I. und begründet sie mit einer Verabredung unter jenen, die mit ihm zusammen eine Palastrevolte durchgeführt hatten. Aus den hierbei gebrauchten Formulierungen wird üblicherweise darauf geschlossen, dass auch für Xerxes I. eine Ehe mit einer Frau, die nicht persischem Adel entstammt, eher unwahrscheinlich ist. Als Gattin von Xerxes wird von Herodot nur Amestris () bezeugt. Sie ist Tochter von Otanes, der ebenfalls an der Palastrevolte beteiligt war, also von persischem Adel. Bei unterschiedlicher Abstammung von Ester und Amestris und Gleichsetzung von Ahasveros und Xerxes kann Ester höchstens eine Konkubine des Königs gewesen sein. Herodot gibt eine Begebenheit wieder, bei der Parallelen zur Waschti-Geschichte gesehen werden. Parallelen zur Waschti-Geschichte bestehen allerdings auch in einer gänzlich anderen Begebenheit, in die Sadyattes I. verwickelt gewesen sein soll. Die im Esterbuch erzählten königlichen Erlasse vereinen mehrere historische Probleme auf sich. Es ist unwahrscheinlich, dass sie nicht in Reichsaramäisch, sondern in allen Sprachen des Reichs ergingen (; ; ). Ein Erlass des Inhalts, dass alle Männer Herr in ihrem Haus sein sollten (), klingt absurd; dass der persische König in seinem Reich einen Bürgerkrieg genehmigt hätte (), ist nach Erich Zenger „völlig undenkbar“. Die Todesstrafe wegen verweigerter Ehrbezeugung ist dagegen aus dem Perserreich bezeugt; außerdem warf Cicero Mithridates von Pontos vor, er habe an einem einzigen Tag 80.000 bis 150.000 Römer ermorden lassen. „Allerdings ist eine kollektive Vernichtung einer ethnisch-religiösen Gemeinschaft wegen einer unterlassenen Huldigung eines Einzelnen eine dichterische Stilisierung,“ so Harald Martin Wahl. Ein Pogrom gegen die jüdischen Untertanen des Perserkönigs ist in außerbiblischen Quellen auch nicht bezeugt. Historisch-kritische Exegeten kommen aufgrund der genannten Inkongruenzen mehrheitlich zu folgendem Ergebnis: „Das idealisierte Milieu und die märchenhaften Züge sowie die kunstvolle dichterische Komposition zeigen, dass es sich um eine literarische Fiktion handelt. Einzelne Erzählzüge können auf historischen Motiven beruhen …, insgesamt aber überwiegt die Typisierung.“ Entstehungszeit und -ort Erich Zenger vertritt eine Datierung des Buches Ester in das 3. Jahrhundert v. Chr. Dafür spreche außerdem, dass das Thema Judenverfolgungen in der Zeit der Diadochenkämpfe nach dem Tod Alexanders des Großen aktuell war. Ähnlich urteilt Markus Witte, der das Buch in die ausgehende Perserzeit oder beginnende hellenistische Zeit datiert. Dass griechische Spracheinflüsse im hebräischen Esterbuch nicht erkennbar sind, weise nicht auf eine frühe Entstehungszeit hin, sondern auf den Entstehungsort, nämlich die östliche jüdische Diaspora bzw. das Kerngebiet des persischen Reichs. Beate Ego sieht die Stadt Susa als Ort einer persisch-griechischen Kultursymbiose und verweist darauf, dass es in hellenistischer Zeit, im politischen Rahmen des Seleukidenreichs, eine Rückbesinnung auf die eigene, achämenidische Kultur gab, eine „Re-Persianisierung“. (Un)-Sichtbarkeit jüdischen Glaubens in der Diaspora Während die späte biblisch-hebräische Prosa reich ist an Träumen, Visionen, liturgischen Texten und privaten Gebeten, fehlt all das im hebräischen Buch Ester. Die beiden Protagonisten Mordechai und Ester sind sehr weitgehend assimiliert. Von einer öffentlich oder auch privat gelebten Religiosität ist bei beiden nicht die Rede. „Anders als in den Büchern Esra, Nehemia und Daniel wird die jüdische Identität nicht in der strikten Beachtung von Reinheitsvorschriften gesichert, sondern im kämpferischen und listigen Einsatz für das Leben des jüdischen Volkes,“ so Markus Witte. Das Bußritual Mordechais, mit dem er auf das Pogromedikt reagiert, versteht Harald Martin Wahl als spontane religiöse Handlung. Andere Exegeten sehen den Bußritus eher profan: Mordechai protestiere damit öffentlich gegen Unrecht oder zeige seine Betroffenheit, durch die Provokation Hamans sein Volk in Gefahr gebracht zu haben. Auf der Ebene der Erzählung entsteht ein Kontrast zwischen dem büßenden Mordechai und dem beim König tafelnden Haman. Der Gottesname JHWH kommt im ganzen Buch nicht vor, auch keine andere Bezeichnung für Gott. Mit diesem „Gottesschweigen“ solle dem Leser aber gerade „urbiblische Gottesgewissheit“ vermittelt werden, vermutet Erich Zenger: Die Leser sollen selbst schlussfolgern, dass die vordergründig durch Ester und Mordechai bewirkte Rettung der Juden auf Gott zurückzuführen sei. Intertextuelle Bezüge Als relativ junge Schrift der Hebräischen Bibel nimmt das Esterbuch Bezug auf andere Texte dieses Kanons. In der Exegese wird das vor allem für folgende Motive diskutiert: Josef ist von herausragender Schönheit () und macht Karriere an einem fremden Königshof. Auch die Josefsnovelle bringt Gottes rettendes Handeln nur indirekt zur Sprache. Saul, der Sohn des Kisch, aus dem Stamm Benjamin, verspielt sein Königtum, indem er den Amalekiterkönig Agag verschont (). Wenn Mordechai als Nachkomme eines Kisch und Benjaminit eingeführt wird (Est 2,5), Haman dagegen als „Agagiter“ (), so gleicht Mordechai gewissermaßen das Versagen Sauls aus. Schließlich ist Purim ein Fest der Rettung und darin dem Pessachfest vergleichbar. Im Gegensatz zum Auszug aus Ägypten wird Israel aber nicht aus der Fremde, sondern in ihr gerettet. Griechische Versionen Verhältnis zwischen Masoretischem Text, Septuaginta und Alpha-Text Überliefert sind zwei griechische Texttypen: die Langfassung der Septuaginta (zehn Kapitel) und der kürzere, von vier Minuskelhandschriften aus dem 10. bis 13. Jahrhundert bezeugte sogenannte Alpha-Text, der nur acht Kapitel hat. Daneben existierte offenbar eine weitere griechische Textversion, die jedoch nur indirekt durch die altlateinische Überlieferung bezeugt ist. Das Verhältnis zwischen der hebräischen Version (dem sogenannten Masoretischen Text), dem Septuaginta-Text und dem Alpha-Text wird kontrovers diskutiert; die Forschung tendiert aber dahin, den Alpha-Text in der vorliegenden Form als sekundär gegenüber der Septuagintaversion zu sehen. Marie-Theres Wacker schlägt vor, von einem narrative pool auszugehen, d. h. von einem in antiken jüdischen Diasporagemeinden beliebten Stoff, der unterschiedlich erzählt wurde – nicht nur in den Details der Handlung, sondern auch in der Gesamttendenz. Der Masoretische Text ist die älteste erreichbare Textgestalt. Andererseits setzt die materiale textliche Bezeugung des Septuaginta-Esterbuchs Jahrhunderte früher ein als die des Masoretischen Textes, nämlich mit den großen spätantiken Bibelcodices Alexandrinus, Sinaiticus, Vaticanus, Venetus sowie dem Chester-Beatty-Papyrus 967 aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. Die Septuaginta-Fassung unterscheidet sich vom Masoretischen Text durch zahlreiche kleine Varianten und sechs längere Zusätze, insgesamt 105 zusätzliche Verse. Diese Stücke zum Buch Ester werden in der heutigen Fachliteratur, der Göttinger Septuaginta-Edition folgend, mit den Großbuchstaben A bis F gekennzeichnet. Hier eine Übersicht der Bezeichnungen für diese Texte in verschiedenen Bibelausgaben: Diese Zusätze scheinen eine unterschiedliche Vorgeschichte zu haben. Das nur in der Septuaginta-Version vorhandene Kolophon (F 11) datiert die griechische Übersetzung ins Jahr 78/77 v. Chr., das 4. Regierungsjahr Ptolemaios’ XII. Wegen ihrer Nähe zum hellenistischen Briefstil gelten auch die beiden Edikte B 1–7 und E 1–24 als „genuin griechische Produkte“, die erzähltechnisch die Figur des Artaxerxes aufwerten. Für die übrigen Zusätze kann vermutet werden, dass sie aus dem Aramäischen oder Hebräischen ins Griechische übersetzt wurden. Da der Septuaginta-Übersetzer jedenfalls Hebräisch passiv und Griechisch aktiv beherrschte, kann er durchaus in einem einzigen Arbeitsprozess diese unterschiedlichen Texte in sein Werk integriert bzw. für seine griechische Erzählung neu geschaffen haben. Inhalt Septuaginta-Version Auch das Esterbuch der Septuaginta (LXX) spielt am persischen Hof in Susa, allerdings zur Zeit des Königs „Artaxerxes des Großen“. Der jüdische Höfling Mordechai hat einen Traum, der eine große Gefahr für das „Volk der Gerechten“ ankündigt. Damit ist das, was im hebräischen Esterbuch als heitere Hoferzählung begann, von Anfang an eine bedrohliche, düstere Geschichte, in deren Mittelpunkt Mordechai steht. Er deckt eine erste Verschwörung gegen den Perserkönig auf, und schon damit macht er sich Haman zum Feind, der für die hingerichteten Verschwörer Rache nehmen will. Haman wird als Makedonier bezeichnet (Est E10LXX; Est 9,24LXX), was ihn zum politischen Gegner des Perserkönigs macht. Es folgt das königliche Festbankett, und der König gibt seinen Eunuchen den Auftrag, sie sollten Waschti „zu ihm hineinführen, um sie zur Königin zu machen und ihr das Diadem aufzusetzen und sie den Obersten zu zeigen und den Völkern ihre Schönheit, denn sie war schön.“ (Est 1,11LXX) Waschti weigert sich jedoch, sich krönen zu lassen, und wird daraufhin vom König nicht mehr beachtet. Die folgende Brautschau bringt Ester an den Hof. Sie ist nicht nur Mordechais Pflegekind: „beim Tod ihrer Eltern … hatte er sie für sich zur Frau erzogen.“ (Est 2,7bLXX) Artaxerxes verliebt sich in Ester, erhebt sie zur Königin und veranstaltet ein Hochzeitsbankett. Ester behält als Königin ihre jüdische Lebensweise bei. Später erfährt der Leser, dass Ester sich in einer „Zwangslage“ befindet: sie hasst das Hofleben und verabscheut „das Bett eines Unbeschnittenen und gänzlich Andersartigen“ (Est C26fLXX). Mordechais Karriere am Hof erregt den Neid zweier Eunuchen, die deshalb einen Anschlag auf den König planen. Mordechai deckt diese zweite Verschwörung gegen den König auf. Aber nicht er, sondern Haman wird vom König „an die Spitze aller seiner Freunde“ gestellt (Est 3,1LXX). Mordechai verweigert ihm die Ehrung durch Proskynese. Auch das wird nachträglich erläutert: Mordechai wollte nicht einen Menschen höher ehren als Gott; aber er hätte dem Haman gern sogar die Fußsohlen geküsst, „wenn es nur der Rettung Israels gedient hätte“ (Est C6LXX). Haman beginnt nun seine Vorbereitungen für das Pogrom, dem Mordechai und sein ganzes Volk zum Opfer fallen soll. Der König stimmt zu. Das in der Septuaginta im Wortlaut enthaltene Pogromedikt zeigt, dass Artaxerxes sich als milder Herrscher versteht, der das Wohl seiner Untertanen will und von der Integrität des Haman überzeugt ist (der Leser weiß freilich, dass Haman auf Seiten der Verschwörer gegen Artaxerxes steht). Haman habe ihn darauf hingewiesen, „dass sich ein bestimmtes übel gesinntes Volk unter alle Stämme der Welt gemischt habe“ (Est B4LXX), das durch Befolgung seiner eigenen Gesetze die gute Verwaltung des Reichs unterlaufe. Es müsse ausgerottet werden, damit Artaxerxes’ Regierungsmaßnahmen in Zukunft ihre wohltätige Wirkung entfalten könnten. Hier sind antijüdische Stereotypen der hellenistischen Zeit aufgenommen. Sowie Mordechai von dem Pogromedikt erfährt, läuft er in Sack und Asche durch die Hauptstraße von Susa und erhebt ein Geschrei: „Beseitigt wird ein Volk, das keinerlei Unrecht begangen hat!“ (Est 4,1LXX) Nachdem Mordechai die Königin von der Gefahr in Kenntnis gesetzt hat und sie von der Notwendigkeit, selbst aktiv zu werden, überzeugt hat, beten beide und suchen so explizit die Hilfe Gottes. Der Höhe- und Wendepunkt der Septuagintaversion ist der Auftritt der Königin vor Artaxerxes: dieser sitzt auf seinem Thron, überaus furchterregend und mit feuerrot grimmigem Gesicht, so dass Ester einen Schwächeanfall erleidet. „Da veränderte Gott den Geist des Königs, sodass er sanft gestimmt wurde.“ (Est D8LXX) Er springt vom Thron auf, nimmt die Königin in die Arme und redet ihr zu: „Was ist, Esther? Ich (bin) dein Bruder. Sei getrost!“ (Est D9LXX) Noch einmal greift Gott direkt ein, indem er „dem König den Schlaf raubt, ihn auf die Wohltaten Mordechais stößt und somit die Wende in der Erzählung vorbereitet.“ Ester richtet ihr Festmahl aus, zu dem sie den König und Haman eingeladen hat. Sie überführt Haman, und der König veröffentlicht ein (wieder im Wortlaut mitgeteiltes) Gegenedikt. Dieses Edikt mindert bereits als solches das Ausmaß der Judenfeindschaft, so dass der Umfang der Kämpfe und die Zahl der getöteten Angreifer erheblich geringer ist als in der hebräischen Version. Alpha-Text Diese Version der Geschichte stellt Mordechai als (einzige) Hauptperson dar. Nachdem der „Großkönig Assveros“ die Königin Waschti verstoßen hat, wird für ihn nicht eine neue Frau gesucht, sondern ein „kleines Mädchen“ (Est 2,4A-Text). Dementsprechend ist Ester in dieser Version ein Kind. Die vom Masoretischen Text und der Septuaginta ausgemalte Schönheitspflege lässt der Alpha-Text aus, betont dafür aber, dass die Eheschließung öffentlich stattfindet (Est 2,18A-Text). Im weiteren Verlauf steht der Konflikt zwischen dem Makedonier Haman (Est A17A-Text) und Mordechai im Mittelpunkt; die Ehrung Mordechais durch Haman (Kapitel 6) ist ausführlich beschrieben. Die kindliche Ester bringt erst beim dritten Bankett, zu dem sie einlädt, ihr Anliegen beim König vor, und auch das nur mit besonderer göttlicher Hilfe (Est 7,2A-Text). Andererseits ist es ihr ausdrücklicher Wunsch, dass ihre Feinde getötet werden, vor allem die zehn Söhne Hamans (Est 7,18f.A-Text). Mordechai erscheint am Ende der Geschichte als Stifter des Purimfestes. Die Szene, in der er die Deutung seines Traums vorträgt, ist wie ein Gottesdienst gestaltet. Die Gemeinde antwortet auf Mordechais Rede mit einem liturgischen Ruf: „Gepriesen bist du, Herr, der seiner Bundesschlüsse mit unseren Vätern gedacht hat. Amen!“ (Est 7,58A-Text). Stellung im Kanon Hebräische Bibel Im Kanon des Tanach gehört das Buch Ester zum dritten Kanonteil, den Ketuvim. Die Reihenfolge der Bücher war in der Zeit der handschriftlichen Vervielfältigung sehr variabel. Die älteste jüdische Kanonliste ist eine Baraita, die sich im Talmud-Traktat Bava Batra findet: An dieser Stelle des Talmud werden auch einige Angaben zu Verfassern biblischer Bücher gemacht. Die „Männer der großen Synagoge“ schrieben demnach das Buch Ester. Bemerkenswert an dieser Baraita ist, dass die fünf Megillot noch nicht zu einer Untergruppe der Ketuvim zusammengefasst sind. Die hier gebotene Reihenfolge ist vorbildhaft für alle jüdischen Bibelhandschriften, die die Gruppe der Megillot noch nicht kennen, teilweise auch für spätere Bibelhandschriften, die zwar die Megillot zusammenstellen, im Übrigen aber der Reihenfolge von Bava Batra 14b folgen. Julius Steinberg schlägt für diese Liste folgende Erklärung vor: Das an den Anfang gestellte Buch Rut dient als Einführung in die Ketuvim und entfaltet das Thema Exil und Heimkehr. Die umfangreichen Bücher Psalmen und Chronik haben den Charakter von Kompendien und rahmen die übrigen Ketuvim. Eine Untergruppe umfasst die weisheitlichen Bücher Ijob, Sprüche, Kohelet und Hoheslied. Sie behandeln den Lebensweg des einzelnen Menschen zwischen den Polen Trauer und Freude. Die zweite Untergruppe umfasst die historischen Bücher Klagelieder, Daniel, Ester, Esra/Nehemia. Sie behandeln den Weg des Volkes Israel vom Exil zur Rückkehr ins Land, also ebenfalls von der Trauer zur Freude. Eine zweite frühe Anordnung der Ketuvim findet sich im Codex Leningradensis: Chronik, Psalmen, Ijob, Sprüche, Rut, Hoheslied, Kohelet, Klagelieder, Ester, Daniel, Esra/Nehemia. Man nimmt an, dass diese Anordnung auch im Codex von Aleppo und im Codex Cairensis schon befolgt wurde und mithin bis ins 9. Jahrhundert zurückreicht. Unter 114 mittelalterlichen hebräischen Manuskripten findet sich 42-mal die obige Reihenfolge Rut, Hoheslied, Kohelet, Klagelieder, Ester und 37-mal die liturgische Reihenfolge Hoheslied, Rut, Klagelieder, Kohelet, Ester. Mitgerechnet sind in der letzteren Gruppe neun Manuskripte, die die gleiche Reihenfolge der Festrollen aufweisen, aber mit Ester beginnen, was wohl auf Einfluss des christlichen Kalenders zurückzuführen ist. Die „rabbinische“ Anordnung der Ketuvim kam im 12./13. Jahrhundert auf; sie verbindet orientalische und westliche Traditionen. Innerhalb der Megillot gilt die liturgische Reihenfolge Hoheslied, Rut, Klagelieder, Kohelet, Ester. Der frühe hebräische Bibeldruck (Soncino 1488, Neapel 1491, Brescia 1494) führte als Neuerung ein, die Megillot direkt hinter die fünf Bücher der in einem einjährigen Zyklus gelesenen Tora zu platzieren; ihre Zuordnung zu einem Fest steht hierbei im Vordergrund. Darauf aufbauend, ordnete die Rabbinerbibel Warschau 1885 jedem Buch der Tora als Anhang die Megilla zu, die in zeitlicher Nähe als Festlesung verwendet wird; das Buch Ester wird auf diese Weise zum Anhang von Exodus. Griechische, lateinische und syrische Bibel In den spätantiken Codices Alexandrinus (griechisch, 5. Jahrhundert) und Amiatinus (lateinisch, um 700) wurde das Buch Ester mit Tobit und Judit zu einer kleinen Gruppe verbunden, wobei Ester im Codex Alexandrinus an erster, im Codex Amiatinus an zweiter Stelle steht. Vor dieser Dreiergruppe stehen im Codex Alexandrinus die Danielschriften (Daniel, Susanna im Bade, Bel und der Drache), es folgen die Esdrasschriften (1. und 2. Buch Esdras). Im lateinischen Codex Amiatinus schieben sich das Zwölfprophetenbuch und das Buch Ijob zwischen die Danielschriften und die Dreiergruppe Tobit–Ester–Judit; auch hier folgen der Dreiergruppe die Esdrasschriften. Der zur syrischen Tradition gehörige Codex Ambrosianus (6./7. Jahrhundert) kennt eine Vierergruppe biblischer Schriften, Rut–Susanna–Ester–Judit, die als „Buch der Frauen“ bezeichnet wird. Sie findet sich nach Daniel und vor Jesus Sirach. Rezeptionsgeschichte Jüdische Leser Qumran Das Buch Ester ist das einzige Buch der Hebräischen Bibel, von dem keine Fragmente unter den Schriftrollen vom Toten Meer gefunden wurden. Dabei könnte es sich aber auch um einen Zufall der Überlieferungsgeschichte handeln; Emmanuel Tov verweist darauf, dass von dem umfangreichen Buch der Chronik nur ein einziges Textfragment (4QChr) erhalten blieb. Der Ester-Stoff scheint in Qumran durchaus bekannt gewesen zu sein. Michael G. Wechsler erwägt, dass es sich bei 4Q550a-c um das Fragment einer Vorgeschichte (Prequel) zum biblischen Esterbuch handelt, also um parabiblische Literatur. Flavius Josephus Der jüdisch-hellenistische Historiker Flavius Josephus erzählte das Esterbuch im Rahmen seines 93/94 n. Chr. fertiggestellten Geschichtswerks Jüdische Altertümer nach (Buch 11, 184–296). Er legte die Septuaginta-Version zugrunde (mit den Zusätzen B bis E, also ohne den Traum Mordechais und seine Deutung). Er kannte anscheinend eine dem Alpha-Text ähnliche Version der Geschichte, die er gelegentlich gegenüber der Septuaginta bevorzugte. Die Bearbeitung des Josephus diente dem Zweck, den Stoff für die römische Leserschaft attraktiver zu machen, indem er die Ester-Geschichte einem hellenistischen Roman annäherte: mehr Erotik, mehr Spannung (Esters Petition beim König) und mehr Ironie (Hamans Entlarvung und Sturz). Außerdem war Josephus bestrebt, Einzelzüge auszulassen, die ein nichtjüdisches Publikum missbilligen könnte. Artaxerxes wirkt bei Josephus recht sympathisch und wird auch als Herrscher aufgewertet. Rabbinische Literatur Seit wann das Esterbuch im antiken Judentum als Heilige Schrift betrachtet wurde, ist in der Forschung umstritten. Die Feier des karnevalartigen Purimfestes war wohl schon in der Zeit des Zweiten Tempels vor 70 n. Chr. in jüdischen Gemeinden weit verbreitet. Die Gelehrten der Mischna betrachteten Purim als Selbstverständlichkeit, ihr Anliegen war, die Verlesung der Esterrolle zum zentralen Festinhalt zu machen. Damit befasst sich der Mischna-Traktat Megilla. Erst im Babylonischen Talmud wird eine Diskussion über den kanonischen Status von Ester überliefert, wo dem negativen Votum eines Rabbi Samuel zahlreiche positive Stimmen gegenübergestellt werden (bMeg 7a). Für die späteren Rabbinen war Ester nicht nur inspiriert; Ester war neben der Tora der einzige heilige Text, dessen liturgische Verlesung ein verpflichtendes Gebot darstellte. Damit hängt vermutlich zusammen, dass für das Esterbuch, nächst der Tora, besonders viele Midraschim erstellt wurden. Da das hebräische Esterbuch dem Literalsinn nach nicht sehr religiös ist, war dabei eine erhebliche Neuinterpretation notwendig. Ein Problem war, dass Ester einen Nichtjuden geheiratet hatte und am Hof sicherlich weder den Sabbat noch die Speisegebote beachten konnte. Dem Midrasch zufolge fand Ester Mittel und Wege, um das jüdische Religionsgesetz doch zu befolgen. Blieb das Problem des sexuellen Kontakts zwischen dem Perser Ahasveros und der Jüdin Ester; hier wurde Ester dadurch entlastet, dass die Rabbinen ihr Eheleben einer Vergewaltigung gleichstellten. Mittelalterliche und neuzeitliche Kommentatoren Jüdische Gemeinden befanden sich im christlichen Europa während des Mittelalters meist in einer prekären Situation, in der das Esterbuch Stoff zur Identifikation bot und als Rettungsgeschichte Mut machte. Die Kommentatoren konnten auch Themen der Diasporaexistenz anhand des Esterbuchs abhandeln, wie die Beziehung zu nichtjüdischen Herrschern, die Situation von Hofjuden oder allgemein die Beziehung zur christlichen Mehrheitsgesellschaft. Rabbi Judah Löw von Prag entwickelte anhand des Esterbuchs eine politische Theorie der Habsburgermonarchie als Staatsform, die ethnische und religiöse Toleranz gewährleistete und damit der jüdischen Gemeinde ein sicheres Umfeld bot. Das „Gottesschweigen“ des Esterbuchs wurde verschieden erklärt. Eine kabbalistisch inspirierte Deutung besagte, dass die Ester-Geschichte in einer Zeit spielte, in der sich Gott verbarg (hester panim); eine mehr messianische, esoterische Auslegung sah in Esters und Mordechais Handeln ein Paradigma für die künftige Erlösung. Die Rolle Esters als Gemahlin des Perserkönigs wurde auch von mittelalterlichen Kommentatoren als problematisch empfunden. Hätte Mordechai sie nicht schützen können, und hätte Ester nicht besser Selbstmord verüben sollen, als sich in den Harem aufnehmen zu lassen? Eine Lösung bot die Kabbala: Abraham Saba (15./16. Jahrhundert) identifizierte Ester mit der Schechina. Dass Mordechai Ester bei sich aufzieht, ist demnach ein theurgischer Akt, der in der göttlichen Sphäre positive Veränderungen auslöst. Den Rabbinen war auch die Tradition bekannt, wonach Ester und Mordechai ein Paar waren (ähnlich der antiken Septuaginta-Version, wonach Mordechai seine Cousine heiraten wollte), was weitere Probleme aufwarf. Auch hier bot die Kabbala die Möglichkeit, diese Konstellation esoterisch zu deuten. Esters Ehe mit Ahasveros wurde zwar als schwere Schuld klassifiziert (nämlich als sexuelles Vergehen, neben Götzendienst und Mord eines von drei Verboten, bei denen man in einer Zwangslage (Pikuach Nefesch) eher sterben soll als diese Tat zu begehen); die Rabbiner differenzierten aber zwischen einer aktiven und einer passiven Übertretung dieser drei Verbote, und Esters Rolle ist rein passiv. Mit ihrer Petition beim König, die in der Auslegung auch sexuell konnotiert ist, tritt Ester allerdings aus dieser Passivität heraus. Der 1793 verstorbene Rabbiner Jecheskel Landau erklärte, dass Esters Aktion eine Ausnahme von dem genannten strikten Verbot darstelle, da sie damit das gesamte jüdische Volk rette. Trotzdem erscheint Ester hier als tragische Gestalt: sie opfert sich für Israels Rettung. Dass Ester ihre jüdische Identität am Hof zunächst verbirgt und den jüdischen Glauben im Verborgenen praktiziert, machte sie zur Identifikationsfigur für Conversos in Spanien. Diese begingen ein dreitägiges Ester-Fasten, das im rabbinischen Judentum unbekannt war. Modernes Judentum Einige Autoren des Reformjudentums äußerten sich kritisch über das Buch Ester. Ähnlich wie der 1874 verstorbene Abraham Geiger bezweifelte auch Claude Montefiore Ende des 19. Jahrhunderts den historischen und moralischen Wert des Esterbuchs. Der Religionsphilosoph Schalom Ben-Chorin veröffentlichte 1938 in Jerusalem als erste Schrift nach seiner Alija eine „Kritik des Estherbuches“, in der er vorschlug, das Purimfest aus dem jüdischen Kalender zu streichen „und das Buch Esther aus dem Kanon der heiligen Schriften auszuschließen, … stellen sie [Esterbuch und Purimfest] doch eine Verherrlichung der Assimilation, des Muckertums, der hemmungslosen Erfolgsanbeterei dar.“ Die Reaktionen auf diese Streitschrift waren kontrovers; Zustimmung erhielt der Autor von Samuel Hugo Bergmann. Indes gelangte der Ester-Stoff auch in liberalen jüdischen Gemeinden durch die NS-Diktatur zu neuer Aktualität. „Öffentliche … Purim-Feiern gewannen eine ungeahnte Bedeutung und lockten mehr Juden an, als Sitzplätze finden konnten. Wenn der Kantor den Namen Haman aus der Schriftrolle Esther vortrug, hörte jeder „Hitler“, und der Lärm war ohrenbetäubend.“ In amerikanischen jüdischen Gemeinden gehörten Ester-Schönheitswettbewerbe zu den häufigen Purim-Festivitäten. Vor diesem Hintergrund forderte Mary Gendler 1973 die „Rehabilitierung Waschtis.“ Die Dichterin Alicia Ostriker schrieb 1996 rückblickend, dass die Gestalt der Ester, „diese verzogene Schönheitskönigin“, sie als Brandeis-Studentin in den 1950er Jahren nicht angesprochen hätte: „Die stolze Waschti war mir lieber.“ In einigen liberalen jüdischen Gemeinden finden anstelle der traditionellen Purimfeier Studientage statt, bei denen Themen wie Sexismus und Antisemitismus anhand des Esterbuchs besprochen werden. Christliche Leser Neues Testament und Alte Kirche Im Neuen Testament wird das Esterbuch nicht zitiert, und seine Hauptpersonen werden nicht erwähnt. Ein frühes Beispiel für christliche Rezeption des Buchs ist Clemens von Alexandria (um 200 n. Chr.): Athanasius lobte Ester (wohlgemerkt: die Ester der Septuagintaversion) zwar im 4. Osterfestbrief als fromme Asketin und empfahl sie den Christen als Vorbild für die Fastendisziplin in der Passionszeit. Im 39. Osterfestbrief zählte er aber das Esterbuch zu den Schriften, die man lesen sollte, die aber nicht zum Kanon des Alten Testaments gehörten. Hieronymus übersetzte das hebräische Esterbuch und fügte die Zusätze der Septuagintaversion als Kapitel 11 bis 16 am Ende an: eine Zweiteilung, die dann in der Reformationszeit aufgegriffen wurde. Im Vorwort zu seiner Übersetzung erläuterte er, er habe das Esterbuch „aus den Archiven der Hebräer hervorgeholt“, nachdem der Text von den griechischen Übersetzern zerdehnt und verdorben worden sei. Die Septuaginta (und ihr folgend die Vetus Latina) habe nämlich, dem Zeitgeschmack folgend, an vielen Stellen hinzuerfunden, „was nach Art der Umstände noch hätte gesagt und gehört werden können.“ In diesen Vorbehalten wird Hieronymus’ Verständnis der Hebraica Veritas deutlich. Mittelalter und Reformationszeit Eine marianische Interpretation Esters ist bereits im ersten christlichen Kommentar zum Esterbuch, durch Hrabanus Maurus, angelegt, und begründet dann auch die Darstellung Esters in Kirchen, etwa als Skulptur in der Kathedrale von Chartres oder auf einem Glasfenster der Sainte-Chapelle. Esters Fürbitte vor König Ahasveros zugunsten Israels wird als Präfiguration der Fürbitte Mariens vor Gott zugunsten der Menschheit gedeutet, so etwa bei Antonius von Padua und in Gabriel Biels Erklärung des Messkanons, den auch Martin Luther in seiner Klosterzeit studierte. Ester als königliche Asketin war ein Rollenmodell, das von mittelalterlichen Theologen mehrfach zeitgenössischen Herrscherinnen empfohlen wurde. Den Anfang machte Hrabanus Maurus, der sich im 9. Jahrhundert in diesem Sinn an Kaiserin Judith, die zweite Ehefrau Ludwigs des Frommen, wandte. Papst Johannes VIII. bat Richildis, die Gemahlin Karls II., sich für die Kirche so einzusetzen wie Ester für das jüdische Volk. Bischof Hinkmar von Reims verfasste die Liturgie für die Trauung von Karls II. Tochter Judith mit Æthelwulf von Wessex (856), worin auch auf Ester als königliche Fürbitterin Bezug genommen wurde. Das Krönungsritual der Königinnen von Frankreich betonte das Vorbild der biblischen Ester, erstmals, wenn die Braut die Kirche betrat, und dann nochmals im Moment der Krönung. Christine de Pizan beschrieb in Le Livre de la Cité des Dames (vor 1404) gleichfalls Ester als Inbegriff einer Königin, die ihr Volk rettete. Nach Isaac Kalimi lassen sich bei Martin Luther positive Bezugnahmen auf die biblischen Gestalten Ester und Mordechai von negativen Urteilen über das Esterbuch unterscheiden. Das entspreche seinem selektiven, christlich-theologischen Umgang mit der Hebräischen Bibel insgesamt. Bekannt ist Luthers Votum aus den Tischreden, er sei dem 2. Buch der Makkabäer und dem Esterbuch „so feind, daß ich wollte sie wären gar nicht vorhanden, denn sie judenzen zu sehr und haben viel heidnische Unart.“ Gewichtiger ist aber, dass er sich in einer seiner Hauptschriften, nämlich De servo arbitrio (1525), ähnlich äußerte. Luther missfiel, wie aus der oben zitierten Tischrede hervorgeht, dass seine jüdischen Zeitgenossen die Bücher Jesaja und Daniel aus seiner Sicht nicht richtig (d. h. nicht christlich) verstanden und das Esterbuch überaus schätzten. Modernes Christentum Besonders im Protestantismus überwiegen im 19. und 20. Jahrhundert negative Urteile zum Buch Ester. Heinrich Ewald verglich das Esterbuch zu dessen Nachteil mit älteren Schriften der Hebräischen Bibel: Ähnlich äußerten sich beispielsweise Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Friedrich Bleek, Otto Eißfeldt, H. Wheeler Robinson und Paul Heinisch. In neuerer Zeit sind stark abwertende Urteile über das Esterbuch selten, aber das Buch bereitet christlichen Exegeten weiterhin erhebliche Probleme, wie die Ausführungen in einem Standardwerk der 1990er Jahre zeigen: Erich Zenger verweist darauf, dass das Christentum in der Geschichte oft selbst die Rolle des Haman gespielt habe, deshalb könne die Lektüre des Esterbuchs zur Selbstkritik anleiten. „Andererseits kann das Christentum aus dem Esterbuch lernen, dass der Gott Israels auch als der Verborgene seinem Volk die Treue hält, weil er ein Gott der Rettung ist.“ Beate Ego räumt ein, dass das Esterbuch „von einem engen christlichen Rahmen aus“ trotz seiner literarischen Qualitäten „eher sperrig und verschlossen“ bleibe, jedoch thematisiere das Buch erstmals die Möglichkeit einer Totalvernichtung des Judentums wie auch die Koexistenz verschiedener Völker und kulturell oder religiös begründete, gewaltsame Konflikte zwischen ihnen. Die Aktualität dieser Themen begründe eine intensive Beschäftigung mit dem Esterbuch. Ester in Kunst, Literatur, Musik und Film Bildende Kunst Da der Gottesname im hebräischen Esterbuch nicht vorkommt, ist die Esterrolle (Megillat Ester) nicht von Beschränkungen betroffen, die sonst für Illustrationen biblischer Texte im Judentum gelten. Bereits eine um 1300 entstandene Esterrolle (Spertus Museum, Chicago) weist ovale Bildfelder mit Szenen der Geschichte auf. Einige Esterrollen des 16. bis 18. Jahrhunderts bieten Illustrationen oberhalb und unterhalb des Textes, mit dem sie durch florale Motive verbunden sind. Mehrere Künstler der italienischen Renaissance malten die Königin Ester; ein Beispiel ist Filippino Lippi: in einer eindrucksvollen Palastarchitektur stellt sich eine Reihe junger Frauen dem thronenden König Ahasveros vor, der die kniende Ester erwählt (um 1480, Musée Condé, Chantilly). Zudem war der Themenkreis um Ester und König Xerxes in der Bildwirkerei des 16. Jahrhunderts sehr beliebt. Ein Beispiel für eine solche Darstellung ist der Estherteppich aus Pommern, der um 1560 anlässlich einer bürgerlichen Hochzeit entstand. Im späten 16. Jahrhundert war es oft die Pracht der Festbankette, die eine interessante Aufgabe bei der Darstellung der Ester-Geschichte stellte. Jacopo Tintoretto zeigt, wie Ester einen Schwächeanfall erleidet, als sie ihre Bitte vor dem König vortragen will. Erbleichend sinkt sie, von Dienerinnen gehalten, zu Boden, während der König von seinem Thron aufgesprungen ist und sich Ester freundlich zuwendet (1547/48, Royal Collection, Windsor Castle). Dagegen bevorzugen die niederländischen Maler des 17. Jahrhunderts private, schwach beleuchtete Szenen. Von Rembrandt existieren zahlreiche Zeichnungen, Radierungen und Gemälde zur Ester-Geschichte; wie man annimmt, erstellte er diese Bilder auch für jüdische Auftraggeber. Die Provenienz des Gemäldes „Ester und Ahasveros“ im Puschkin-Museum (etwa 1660) ist vergleichsweise gut bezeugt, da ein Gedicht von Jan Vos das Werk „Haman bei Ester und Ahasveros, gemalt durch Rembrandt“ 1662 in der Sammlung des Jan Jacobsz. Hinloopen erwähnt. Die drei Personen haben auf Kissen sitzend an einem Tisch Platz genommen. Man sieht Ester rechts im Profil, überaus reich gekleidet, was Rembrandt Gelegenheit gibt, Texturen und Lichtreflexe darzustellen. König Ahasveros, mit großem Turban, Krone und Zepter, sitzt in der Bildmitte und hat den Blick auf den links sitzenden Haman gerichtet, der von dem königlichen Paar durch einen im Hintergrund sichtbaren Vorhang getrennt ist. Das Licht fällt von oben links ein, so dass Haman im Schatten sitzt. In der Rembrandt-Werkstatt scheint dieses Werk des Meisters Modell für Kopien und Variationen gewesen zu sein. Im 19. Jahrhundert reizt der Ester-Stoff zur Darstellung orientalistischer Interieurs und Haremsszenen. Théodore Chassériau stellte Ester nach dem Vorbild der Venus mit entblößtem Oberkörper dar. Die Arme sind erhoben, da Ester gerade ihre Haare aufsteckt. Eine orientalische Dienerin und ein afrikanischer Sklave assistieren der blonden, europäisch wirkenden Schönheit (1841, Louvre). Edwin Long platziert eine hellhäutige Ester in einem persischen Palast, wie er durch archäologische Grabungen bekannt geworden war, und umgibt sie mit dunkelhäutigen Dienerinnen (1878, National Gallery of Victoria, Melbourne). Literatur Es gibt sowohl eine jüdische als auch eine christliche Tradition, die Handlung des Esterbuchs dramatisch darzustellen. Im aschkenasischen Judentum wurden (oft sehr lebhafte) Purimspiele in jiddischer Sprache aufgeführt; das älteste bekannte dieser Spiele entstand 1555 in Venedig. Üblicherweise war Haman ein christlicher Kleriker mit Halskreuz, was Mordechai ein klares Motiv gab, vor diesem Haman (und damit vor dem Kreuz) den Kniefall zu verweigern. In dem karnevalesken und daher relativ geschützten Rahmen des Purimspiels gab es für Juden in der frühen Neuzeit eine seltene Gelegenheit, über das Christentum zu spotten – während antijüdischer Spott von christlicher Seite Alltag war. Ein jüngeres Beispiel des Genres ist die Komödie des Fürther Kupferstechers Josef Herz Esther oder die belohnte Tugend (1828), ihr Titel ist eine Anspielung auf den Erfolgsroman Pamela oder die belohnte Tugend von Samuel Richardson. Der Deutsche Orden hatte gelehrte Brüder, die im Mittelalter eine poetische Ester-Paraphrase mit über zweitausend gereimten Versen verfassten. Davon sind zwei Handschriften überliefert, von denen die erste auf das 14. Jahrhundert und die zweite auf den Anfang des 15. Jahrhunderts datiert wird, außerdem gibt es noch eine Überlieferung in Prosaform. Der als Nürnberger Meistersinger bekannte Hans Sachs behandelte den Ester-Stoff in zwei Dramen aus den Jahren 1534 und 1559. Die erste Fassung hatte drei Akte und die zweite sieben. Die pädagogische Lehre wurde in der Neufassung mit dem Typus der vorbildhaften Ester und dem Antitypus der hochmütigen Königin Vasti stärker herausgearbeitet. Lope de Vega verfasste die Tragikomödie La hermosa Ester („Die schöne Ester“), welche 1611 in Madrid und Sevilla aufgeführt wurde. Er blieb relativ eng am Text der Vulgata. Die Schlussszene ist der Lobpreis der geretteten Hebräer (Lope de Vegas Ersatzwort für Juden), die Tötung der Söhne Hamans unterbleibt ebenso wie der Kampf gegen die Judenfeinde. Elaine Canning vermutet, dass Lope de Vega dem massiv antijüdischen Klima der spanischen Gesellschaft seiner Zeit ein sympathisches Bild des Judentums entgegensetzen wollte. Indem er Ester in traditioneller Weise als Präfiguration Mariens darstellte, habe er sich vor der Inquisition geschützt. „La hermosa Ester demonstriert, wie der Underdog, in diesem Fall Frau und Jude, in einem Klima der Verfolgung nicht nur überleben, sondern erfolgreich sein kann.“ Jean Racine schrieb das Drama Esther für Schülerinnen im Mädchenpensionat Saint-Cyr (Uraufführung: 26. Januar 1689). Die pädagogische Zielsetzung war damit klar. Einerseits nahm Racine Elemente der griechischen Tragödie auf – ein Chor unterbricht kommentierend die Handlung. Andererseits erreichte er mit einer Änderung bzw. Interpretation des Stoffes eine stärkere christliche Profilierung: er identifizierte König Ahasveros mit Dareios I. und bestimmte die letzten Jahre das Babylonischen Exils als Zeit der Handlung. Dementsprechend singt der Chor von der Rückkehr nach Zion, und Ester blickt voraus auf den Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels. Im Gegensatz zu jüdischer Diasporaexistenz war das Babylonische Exil eine im Christentum vertraute Metapher. Aus pädagogischen Gründen tritt die in der Bibel gerühmte Schönheit Esters zugunsten ihrer Tugendhaftigkeit in den Hintergrund. Ester ist ein Modell selbstloser christlicher Hingabe. Von Franz Grillparzer stammt ein unvollendetes Ester-Stück aus dem Jahr 1848, das 20 Jahre später in Wien uraufgeführt wurde. Rainer Maria Rilkes Gedicht Esther (1908) beschreibt, wie Ester 1917 erschien Else Lasker-Schülers Gedicht Esther, das sich weit weniger direkt auf das biblische Esterbuch bezieht als Rilkes Esther. Neben Esters Begegnung mit dem König thematisiert das Gedicht, wie Ester im Judentum erinnert wird. Eingangs wird Ester mit den „Feiertagen, die in Juda fallen“ in Beziehung gesetzt, und am Ende steht der Leser möglicherweise im Vorraum der Synagoge: Musik Vertonungen der Ester-Geschichte haben eine lange Tradition. In jüdischen Gemeinden zogen Musikanten mit Ester-Geschichten und Liedern von Haushalt zu Haushalt. Die Rabbinen, die dem Theater ablehnend gegenüberstanden, gestatteten diese Form der Unterhaltung. Sie wird als Keimzelle des Purimspiels betrachtet. Die Kantillation der Esterrolle im Gottesdienst von Purim hat einige Besonderheiten, durch die musikalisch an die Klagelieder und damit an die Situation des Exils angespielt wird. Der Ester-Stoff wurde vor allem in Italien und England im 17. und 18. Jahrhundert in Oratorien aufgeführt, unter denen Georg Friedrich Händels Esther (1714) am bekanntesten ist. Die Königin wird hier als leidensbereit und damit Christus ähnlich dargestellt. Ihre Tugendhaftigkeit führt sie ans Ziel: Virtue, truth and innocence Shall ever be her sure defence […] She is Heaven’s peculiar care Propitious Heaven will hear her prayer. Der venezianische Rabbiner Jacob Raphael Saraval (1707–1782) übersetzte das Libretto in der Version von 1732 ins Hebräische. Daniel Klaebe und Markus Heusser komponierten 2013 das Musical Esther – die Königin. Ester in Oratorien und Opern (Auswahl): Esther (Die liebreiche, durch Tugend und Schönheit erhöhte Esther). Oper von Nicolaus Adam Strungk, Hamburg 1680 Esther. Erstes englisches Oratorium von Georg Friedrich Händel, 1714. Esther. Oratorium in hebräischer Sprache von Christian Joseph Lidarti, 1774. La regina Ester. Oratorium von Giacomo Giuseppe Saratelli, 18. Jh. Ester, ossia la liberatrice del popolo giudaico. Oratorium von Carl Ditters von Dittersdorf, Wien 1773. Esther. Oper von Jan Meyerowitz, Tanglewood 1960. The Book of Esther. Oratorium von Mario Castelnuovo-Tedesco, 1962. Esther. Oper von Robert Hanell, Berlin 1966. Esther. Oper von Hugo Weisgall, New York 1993. Film Ester ist ein in der Filmgeschichte beliebter Stoff. In der Frühzeit des Films bot er die Möglichkeit, Harems- oder Kampfszenen zu zeigen, ohne dass dies vom Zensor beanstandet wurde. In der Ära des Stummfilms entstanden folgende Produktionen: Esther (Regie: Louis Feuillade, 1910), Esther: A Biblical Episode (Regie: Theo Frenkel, 1911), Esther (Regie: Henri Andréani, 1913), Esther (Regie: Maurice Elvey, 1916) und Das Buch Esther (Regie: Uwe Jens Krafft / Ernst Reicher, 1919). Im Gegensatz zu diesen Bibelfilmen modernisiert Esther of the People (Frank Thorne, 1916) die Handlung, die in der Hutfabrik eines James King spielt und vom Konflikt zwischen den Vorarbeitern Hammond und Morden handelt. Esther, Mordens Nichte, rettet die Belegschaft der Fabrik und heiratet King. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden folgende Ester-Verfilmungen (in chronologischer Folge): Queen Esther. Regie: John T. Coyle, 1948. Das Schwert von Persien (Esther and the King). Regie: Raoul Walsh, 1960. Mit Joan Collins als Ester. Esther. Regie: Amos Gitai, 1986. Die Bibel – Esther. Regie: Raffaele Mertes, 1999. Mit Louise Lombard als Ester, Thomas Kretschmann als Xerxes. VeggieTales’ Esther: The Girl who Became Queen. Regie: Mike Nawrocki, 2000. Eine Nacht mit dem König. Regie: Michael Sajbel, 2006. Mit Tiffany Dupont als Ester, Luke Goss als Xerxes. Der Film des israelischen Regisseurs Amos Gitai ist die kreativste moderne filmische Interpretation des biblischen Stoffs. Gedreht wurde in den Ruinen des arabischen Viertels von Haifa. Der aktuelle israelisch-palästinensische Konflikt wird zum biblischen Esterbuch in Beziehung gesetzt. Literatur Textausgaben Hebräisch Biblia Hebraica Stuttgartensia. Deutsche Bibelgesellschaft, 5. Auflage Stuttgart 1997, ISBN 3-438-05219-9. Esther אסתר, bearbeitet von Magne Sæbø. In: Megilloth Hrsg. von Adrian Schenker et al. (= Biblia Hebraica Quinta. Faszikel 18). Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2004. ISBN 978-3-438-05278-0. The Jerusalem Bible Edition of The Koren Tanakh. Hebräisch / Englisch. Koren Publishers, 3. Auflage Jerusalem 2015. ISBN 978-965-301-723-8. (Standardausgabe der Hebräischen Bibel in Israel, englische Übersetzung (von Harold Fisch) genehmigt durch die Rabbiner Moshe Feinstein und Joseph B. Soloveitchik.) Griechisch Alfred Rahlfs, Robert Hanhart: Septuaginta: Id Est Vetus Testamentum Graece Iuxta LXX Interpretes. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2006. ISBN 978-3-438-05119-6. Robert Hanhart: Esther. (= Septuaginta: Vetus Testamentum Graecum. Band 8/3). 2. durchgesehene Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1983, ISBN 3-525-53402-7. Wolfgang Kraus, Martin Karrer (Hrsg.): Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung. Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2009. ISBN 978-3-438-05122-6. (Wissenschaftliche Übersetzung des Esterbuchs durch Kristin De Troyer und Marie-Theres Wacker. Die beiden griechischen Versionen, der A-Text und die Septuaginta, sind parallel gedruckt.) Darüber hinaus bieten die Gute Nachricht Bibel und die Bibel in gerechter Sprache neben der Übersetzung des hebräischen Esterbuchs auch die Übersetzung der vollständigen Septuaginta-Version. Überblicksdarstellungen Hanna Liss: Das Buch Ester. In: Tanach. Lehrbuch der jüdischen Bibel (= Schriften der Hochschule für Jüdische Studien. Band 8). Universitätsverlag C. Winter, 4., völlig neu überarbeitete Auflage Heidelberg 2019, ISBN 978-3-8253-6850-0, S. 453–455. Shaul Shaked: Art. Esther, Book of. In: Encyclopaedia Iranica, Band 8/6. Routledge, London / New York 1998, S. 655–657. (Online) (abgerufen über De Gruyter Online) Markus Witte: Das Esterbuch. In: Jan Christian Gertz (Hrsg.): Grundinformation Altes Testament. 6., überarbeitete und erweiterte Auflage. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019, ISBN 978-3-8252-5086-7, S. 481–493. Erich Zenger: Das Buch Ester. In: Einleitung in das Alte Testament (= Kohlhammer Studienbücher Theologie. Band 1,1). Kohlhammer, 9. aktualisierte Auflage, hrsg. von Christian Frevel, Stuttgart 2016, S. 378–388. ISBN 978-3-17-030351-5. Forschungsberichte Harald Martin Wahl: Esther-Forschung. In: Theologische Rundschau 66 (2001), S. 103–130. Leonard Greenspoon, Sidnie White Crawford: The Book of Esther in Modern Research. T & T Clark International, London / New York 2003. ISBN 0-8264-6663-X. Kommentare Dagmar Börner-Klein: Jalkut Schimoni zu Ester. Übersetzt von Beat Zuber. De Gruyter, Berlin/Boston 2019, ISBN 978-3-11-065104-1. Beate Ego: Ester (= Biblischer Kommentar Altes Testament, Neubearbeitung. Band 21). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2017. ISBN 978-3-7887-2966-0. Jean-Daniel Macchi: Esther (= International Exegetical Commentary on the Old Testament). Kohlhammer, Stuttgart 2018. ISBN 978-3-17-020753-0. Harald Martin Wahl: Das Buch Esther. Walter de Gruyter, Berlin / New York 2009. ISBN 978-3-11-020504-6. Einzelthemen Simon Bellmann: Politische Theologie im frühen Judentum. 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Walter de Gruyter, Berlin/Boston 2014, ISBN 978-3-11-031605-6, S. 55–92. (PDF) Marie-Theres Wacker: "Three faces of a story". Septuagintagriechisches und pseudolukianisches Estherbuch als Refigurationen der Esther-Erzählung. In: Wolfgang Kraus, Oliver Munnich (Hrsg.): La Septante en Allemagne et en France: Textes de la Septante à traduction double ou à traduction très littérale (= Orbis Biblicus et Orientalis. Band 238). Academic Press Fribourg / Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 2009, S. 64–89. ISBN 978-3-7278-1651-2. (PDF) Harald Martin Wahl: „Jahwe, wo bist du?“ Gott, Glaube und Gemeinde in Esther. In: Journal for the Study of Judaism in the Persian, Hellenistic, and Roman Period 31/1 (2000), S. 1–22. Benjamin Ziemer: Masoretischer Text und Septuaginta im Estherbuch. In: Ders.: Kritik des Wachstumsmodells: die Grenzen alttestamentlicher Redaktionsgeschichte im Lichte empirischer Evidenz (= Vetus Testamentum, Supplements. Band 182). Brill, Leiden 2020, S. 423–445. 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Migräne
Die Migräne (wie über mittellateinisch hemigrania, einseitiger Kopfschmerz, von , dieses von sowie ) ist eine neurologische Erkrankung, unter der rund 10 % der Bevölkerung leiden. Sie tritt bei Frauen etwa dreimal so häufig auf wie bei Männern, ist vor der Pubertät aber zwischen den Geschlechtern gleich verteilt und hat ein vielgestaltiges Krankheitsbild. Es ist bei Erwachsenen typischerweise gekennzeichnet durch einen periodisch wiederkehrenden, anfallartigen, pulsierenden und halbseitigen Kopfschmerz, der von zusätzlichen Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen, Lichtempfindlichkeit (Photophobie) oder Geräuschempfindlichkeit (Phonophobie) begleitet sein kann. Bei manchen Patienten geht einem Migräneanfall eine Migräneaura voraus, während der insbesondere optische oder sensible Wahrnehmungsstörungen auftreten. Es sind aber auch motorische Störungen möglich. Die Diagnose wird nach Ausschluss anderer Erkrankungen als Ursachen üblicherweise mit Hilfe einer Anamnese gestellt. Epidemiologie In Deutschland leiden etwa acht Millionen Menschen an einer Migräne. In anderen westlichen Staaten, wie beispielsweise anderen europäischen Staaten und den USA, wird von einer vergleichbaren Migränehäufigkeit berichtet, während in Südamerika, Asien und Afrika geringfügig weniger Menschen unter Migräne leiden. Statistisch gesehen sind Frauen (Prävalenz 18 %) häufiger als Männer (Prävalenz 6 %) betroffen. Eine Migräne wird vor allem bei Personen im Alter zwischen 25 und 45 Jahren festgestellt. Die Einjahres-Prävalenz ist in der Altersgruppe zwischen 35 und 39 Jahren am höchsten und bei 75 % aller Betroffenen liegt der Krankheitsbeginn vor 35 Jahren. Im Alter nimmt die Prävalenz ab. Bei erstmals auftretenden Migränesymptomen bei über 50-Jährigen besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit für eine andere Grunderkrankung. Die Krankheit kann schon im Kindesalter beginnen. Neue Studien bringen die Migräne mit der kindlichen Kolik im Säuglingsalter in Verbindung, die auch eine Art der Migräne darstellen könnte. Im letzten Grundschuljahr klagen bis zu 80 % aller Kinder über Kopfschmerzen. Davon berichten etwa 12 % über Beschwerden, die mit der Diagnose einer Migräne vereinbar sind. Bis zur Pubertät erhöht sich der Anteil auf 20 %. Vor der Geschlechtsreife besteht statistisch gesehen kein Unterschied zwischen den Geschlechtern in Bezug auf das Erkrankungsrisiko. Erst mit der Pubertät und synchron zur Entwicklung der Sexualfunktion steigt die Prävalenz beim weiblichen Geschlecht an. Allerdings wird insbesondere bei Männern, die häufiger an nichtklassischen Migräneformen leiden, eine höhere Dunkelziffer angenommen. Auf Grund ihrer Häufigkeit besitzt die Migräne eine volkswirtschaftliche Bedeutung. Jährlich werden in Deutschland etwa 500 Mio. Euro als direkte Kosten von Patienten und Krankenversicherungen für die ärztliche und medikamentöse Behandlung der Migräne ausgegeben. Die durch Arbeitsausfall und Produktivitätseinschränkungen zusätzlich entstehenden indirekten Kosten werden auf über das Zehnfache dieser Summe geschätzt. Symptome Während eines Migräneanfalls können verschiedene Phasen mit unterschiedlichen charakteristischen Symptomen durchlaufen werden. Oft kündigt sich ein Anfall durch eine Vorboten- oder Prodromalphase mit Vorbotensymptomen an. Ihr kann eine Phase mit Wahrnehmungsstörungen, die sogenannte Migräneaura, folgen, die insbesondere das Sehen betreffen. In der Kopfschmerzphase bestehen neben den Kopfschmerzen unterschiedliche weitere Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Licht-, Lärm- und Geruchsempfindlichkeit. Bei manchen Patienten überdauert der Migräneanfall das Abklingen der Kopfschmerzen. Diese Phase wird als Rückbildungsphase bezeichnet. Vorbotenphase Bei mindestens 30 % der Migränepatienten kündigt sich eine Migräneattacke bereits frühzeitig in Form von Vorbotensymptomen an. Die Vorbotenphase kann wenige Stunden bis zwei Tage einer Migräneattacke vorausgehen und dauert bei den meisten Patienten ein bis zwei Stunden an. Während der Vorbotenphase treten insbesondere psychische, neurologische und vegetative Symptome auf, die sich von denen der Auraphase unterscheiden. Am häufigsten sind Müdigkeit, Geräuschempfindlichkeit und häufiges Gähnen. Vielfach zeigen sich auch Störungen im Magen-Darm-Trakt, die Verstopfungen einschließen können. Charakteristisch ist bei vielen Patienten ein Heißhunger auf bestimmte Nahrungsmittel, der meist als Migräneauslöser fehlinterpretiert wird. Viele Patienten erkennen keinen Zusammenhang zwischen diesen Symptomen und einer deutlich später folgenden Migräneattacke. Daher wird die Häufigkeit dieser Symptome als Vorboten einer Migräneattacke möglicherweise deutlich unterschätzt. Auraphase Migräne geht in ca. 15 % bis 20 % der Fälle mit einer Aura einher. Es werden in der Auraphase meist visuelle Störungen wie Skotome, Fortifikationen, Verlust des räumlichen Sehens und Unschärfe oder Sensibilitätsstörungen, wie der Verlust der Berührungsempfindung oder Kribbeln in den Armen, Beinen und im Gesicht empfunden. Diese setzen langsam ein und klingen wieder vollständig ab. Zusätzlich können Störungen des Geruchsempfindens, Gleichgewichtsstörungen, Sprachstörungen oder andere neurologische Ausfälle auftreten. Die Aura wird von Patient zu Patient anders wahrgenommen und beschrieben. Auren mit stark visueller Ausprägung, wie sie im Rahmen einer Migräne auftreten können, werden auch als Alice-im-Wunderland-Syndrom bezeichnet. Einige berühmte Migränepatienten ließen sich von visuellen Erscheinungen während der Auraphase für ihr künstlerisches Werk inspirieren. Charakteristisch für Migräneauren ist die Dynamik des Prozesses, beispielsweise das „Wandern“ des Flimmerskotoms im Gesichtsfeld oder Wandern des Kribbelgefühls im Arm oder durch die einzelnen Finger. Auch eine Verschiebung der Aurasymptome, beispielsweise von Seh- über Sensibilitäts- bis hin zu Sprachstörungen und Lähmungserscheinungen, kann beobachtet werden. Diese Dynamik zeigt sich bei Messungen im Gehirn in Form einer wandernden Störungsfront (Streudepolarisierung). Die Dynamik der Symptome, sowie deren langsames Einsetzen und Abklingen sind ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zu anderen neurologischen Erkrankungen, insbesondere gegenüber dem Schlaganfall. Die Aura hat keinerlei schädigende Auswirkungen auf das Hirngewebe, ihre Anzeichen sind lediglich vorübergehend und dauern in der Regel bis zu 60 Minuten an. Auren können in Einzelfällen auch ohne eine nachfolgende Kopfschmerzphase auftreten. Kopfschmerzphase Der Kopfschmerz tritt in der Kopfschmerzphase meistens halbseitig (etwa 70 % der Fälle) insbesondere im Bereich von Stirn, Schläfe und Auge auf. Er ist meist pulsierend und nimmt bei körperlicher Betätigung an Intensität zu, während Ruhe und Dunkelheit zur Linderung der Kopfschmerzen beitragen. Die Kopfschmerzen des Migräneanfalls werden oft von zusätzlichen Symptomen wie Appetitlosigkeit (> 80 %), Übelkeit (80 %), Erbrechen (40 % bis 50 %), sowie Photophobie (60 %), Phonophobie (50 %) und seltener Osmophobie (Geruchsempfindlichkeit, <10 % bis 30 %) begleitet. Der Kranke ist blass und erträgt äußere Einflüsse wie Licht und Lärm schlecht, da diese seine Beschwerden noch verstärken. Die Dauer der Kopfschmerzphase variiert zwischen 60 Minuten und bis zu drei Tagen, abhängig von Patient und Migräneform. Dauert der Anfall länger, wird dies als Status migraenosus bezeichnet. Kinder haben kürzere Migräneattacken mit eher beidseitiger Lokalisation in der Stirn-Schläfenregion. Als Begleitsymptom treten bei Kindern und Jugendlichen häufiger Geruchsempfindlichkeit, Schwindel und Gleichgewichtsstörungen auf. Einige Sonderformen der Migräne können ohne Kopfschmerz auftreten. Rückbildungsphase In der Rückbildungsphase nehmen der Migränekopfschmerz und die Begleitsymptome bis zur vollständigen Erholung langsam ab. Der Patient fühlt sich müde und angespannt. Diese Phase kann bis zu 24 Stunden dauern. Auslösende Faktoren Da die Prävalenz der Migräne in den Industrieländern in den letzten 40 Jahren um den Faktor zwei bis drei zugenommen hat, kann angenommen werden, dass Umweltfaktoren und Lebensstil eine wesentliche Rolle bei der Entstehung der Migräne spielen. Migräne kann bei empfindlichen Personen durch spezielle Situationen oder Substanzen, sogenannte Trigger (Schlüsselreize), ausgelöst werden. Dazu zählen insbesondere hormonelle Faktoren, Schlaf, Stress, Lebensmittel und Umweltfaktoren. Diese Auslösefaktoren sind jedoch individuell sehr unterschiedlich und können mit Hilfe eines Kopfschmerztagebuchs in Erfahrung gebracht werden. Zu den häufigsten Auslösern einer Migräne zählen Stress, unregelmäßiger Biorhythmus mit Schlafmangel oder zu viel Schlaf und Umweltfaktoren. Bei einigen Migränepatienten folgt ein Migräneanfall erst in der Poststress-Entspannungsphase („Wochenendmigräne“). Neben Geruchsreizen werden oft Wetterschwankungen als äußere Faktoren genannt, die eine Migräneattacke auslösen können. Dabei ist weniger der Thermometerwert relevant als die gefühlte Temperatur. Diese setzt sich aus Luftfeuchte, Lufttemperatur, Strahlungswärme, Wärmereflexion und Wind zusammen. Einer der wichtigsten Triggerfaktoren bei Frauen sind hormonelle Schwankungen. Über die Hälfte aller weiblichen Migränepatienten gibt den Menstruationszyklus als Auslöser einer Migräne an. Ein Migräneanfall kann insbesondere während der späten lutealen Phase des Zyklus oder während der einnahmefreien Zeit bei der Empfängnisverhütung mit oralen Kontrazeptiva auftreten. Etwa zwei Drittel aller Migränepatienten sehen einen Zusammenhang zwischen dem Konsum bestimmter Lebens- und Genussmittel und dem Auslösen eines Migräneanfalls. Als wichtigster Migränetrigger dieser Gruppe gilt Alkohol. Darüber hinaus werden insbesondere glutamat-, tyramin-, histamin- und serotoninhaltige Lebens- und Genussmittel wie Rotwein, Schokolade und Käse als Auslösefaktoren genannt. Auch Kaffee wird häufig als ein Auslösefaktor empfunden. Von vielen Patienten wird jedoch ein gesteigerter Appetit auf bestimmte Lebensmittel, der ein bekannter Vorbote einer bereits sich anbahnenden Migräneattacke ist, als Auslösefaktor fehlinterpretiert. Somit werden viele der ernährungsbedingten Faktoren als Ursache überbewertet. Wichtiger erscheint eine regelmäßige Ernährung ohne das Auslassen von Mahlzeiten. Auch einige Arzneimittel, insbesondere Stickstoffmonoxid freisetzende, gefäßerweiternde Substanzen (Vasodilatatoren), können einen Migräneanfall induzieren. Andererseits besteht durch die retrospektive Suche nach Triggern die Möglichkeit einer kognitiven Verzerrung, vor allem kommt es oft zu einem Recall Bias und einem Attributionsfehler. Falsche Zuordnungen von vermeintlichen Triggern sind häufig. In einer Studie wurde bei 27 Probanden nur bei dreien durch eine Exposition mit dem vermeintlichen Trigger tatsächlich eine Migräneattacke ausgelöst. Einteilung und Klassifikation Die Migräne ist wie der Spannungskopfschmerz und der Cluster-Kopfschmerz eine primäre Kopfschmerzerkrankung. Das heißt, sie ist nicht die offensichtliche Folge anderer Erkrankungen, wie Hirntumoren, Hirntraumata, Hirnblutungen oder Entzündungen. Bereits Galen von Pergamon unterschied mindestens 4 verschiedene Kopfschmerzarten. Eine davon bezeichnete er als „Hemikrania“ (pulsierend, einseitig, paroxysmal), aus dem sich der Begriff Migräne ableitet. Jason Pratensis (1486–1558) unterschied in seinem Buch „De cerebri morbis“ 9 unterschiedliche Kopfschmerzen, u. a. auch die Hemikrania. Thomas Willis (1621–1675) unterschied die Kopfschmerzen nach Lokalisation und Zeitmuster. 1962 wurde von einem ad-hoc Komitee des NINDS auf Betreiben von Harold Wolff (1898–1962) in den USA die erste systematische Klassifikation, mit 15 Kopfschmerzformen, herausgegeben. Seit 1988 erfolgt die Klassifikation der Migräne und migräneartiger Erkrankungen rein phänomenologisch, gemäß den Richtlinien der International Headache Society (IHS), primär anhand des Auftretens oder der Abwesenheit einer Migräneaura. Edition 1 der ICHD erschien 1988; Edition 2 in 2004, Edition 3 in 2018. e Migräne ohne Aura (Gewöhnliche Migräne) Die Migräne ohne Aura ist mit etwa 80 % bis 85 % der Migräneanfälle die häufigste Form der Migräne. Von einer Migräne ohne Aura kann gesprochen werden, wenn in der Krankengeschichte mindestens fünf Migräneattacken auftraten, bei denen mindestens zwei der vier Hauptkriterien erfüllt sind und der Kopfschmerzphase keine Aura vorausging: Hemikranie (einseitiger Kopfschmerz), Seitenwechsel ist möglich mittlere bis starke Schmerzintensität pulsierender oder pochender Schmerzcharakter Verstärkung durch körperliche Aktivität Zusätzlich muss mindestens ein vegetatives Symptom, also Übelkeit und optional Erbrechen oder Phono- und Photophobie, vorhanden sein. Wenngleich eine Auraphase fehlt, können Vorboten wie Unruhe, Erregungszustände und Stimmungsveränderungen auftreten. Diese zeigen sich einige Stunden bis zwei Tage vor der eigentlichen Attacke. Der Kopfschmerz ist in 2/3 der Fälle halbseitig und pulsierend, verstärkt sich bei körperlicher Aktivität und kann unbehandelt zwischen 4 Stunden und 3 Tagen andauern. Begleitsymptome wie Übelkeit oder Erbrechen (80 %), Lichtempfindlichkeit (60 %), Geräuschempfindlichkeit (50 %) und Geruchsempfindlichkeit (< 30 %) können auftreten. Bei Kindern kann die Migränedauer verkürzt sein. Dafür ist bei ihnen der Kopfschmerz meist beidseitig lokalisiert. Bei Frauen weist die Migräne ohne Aura oft eine strenge Beziehung zur Menstruation auf. Leitlinien seit 2000 unterscheiden daher zwischen einer nicht-menstruellen, einer menstruationsassoziierten und einer rein menstruellen Migräne ohne Aura. Migräne mit Aura (Klassische Migräne) Eine Migräne mit Aura ist geprägt durch reversible neurologische Symptome, die Sehstörungen mit Skotomen (Gesichtsfeldausfällen), Lichtblitzen oder Wahrnehmen von bunten, schillernden, gezackten Linien oder Flimmern, Gefühlsstörungen mit Kribbeln oder Taubheitsgefühl und Sprachstörungen einschließen. Gelegentlich (6 %) kommt es auch zu motorischen Störungen, bis hin zu Lähmungserscheinungen. Diese Aurasymptome halten im Durchschnitt 20 bis 30 Minuten, selten länger als eine Stunde an. Während der Aura bis spätestens 60 Minuten danach tritt zumeist eine Kopfschmerzphase ein, die der Migräne ohne Aura entspricht und von Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen, Lichtempfindlichkeit und Geräuschempfindlichkeit, begleitet sein kann. Diese Kopfschmerzphase kann wie im Falle der typischen Aura ohne Kopfschmerz vollständig fehlen. Nach den Kriterien der IHS wird von einer Migräne mit Aura gesprochen, wenn die folgenden Kriterien erfüllt sind: vollständig reversible Sehstörungen, Gefühlsstörungen oder Sprachstörungen sich langsam entwickelnde oder ablösende Aurasymptome mit einer Dauer von 5 bis 60 Minuten Typische Aura mit Migränekopfschmerz Die typische Aura mit Migränekopfschmerz ist die häufigste Form der Migräne mit Aura. Daneben folgt bei vielen Patienten der Aura ein Kopfschmerz, der nicht den Kriterien eines Migränekopfschmerzes entspricht. Die Kopfschmerzen sind dann nicht pulsierend, halbseitig und begleitet von zusätzlichen Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit. Typische Aura ohne Kopfschmerz Während den meisten Migräneauren ein Kopfschmerz folgt, tritt bei einer Minderheit von Patienten eine Aura, die oben genannten Kriterien entspricht, ohne Kopfschmerz auf. Dieser Migränetyp ist besonders bei Männern verbreitet. Darüber hinaus kann bei Migränepatienten mit zunehmendem Alter eine typische Aura mit Migränekopfschmerz in eine typische Aura ohne Migränekopfschmerz übergehen. Familiäre hemiplegische Migräne Neben den oben genannten typischen Symptomen einer Migräne mit Aura sind bei der seltenen, aber familiär gehäuft auftretenden familiären hemiplegischen Migräne oft motorische Störungen zu beobachten. Auch können Symptome, die charakteristisch für eine Migräne vom Basilaristyp sind, sowie Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma, Fieber und Verwirrtheitszuständen, auftreten. Das wichtigste Kriterium für die Diagnose ist, dass wenigstens ein Verwandter ersten oder zweiten Grades ebenfalls Migräneattacken mit den Symptomen einer familiären hemiplegischen Migräne hat. Als eine Ursache für die familiäre hemiplegische Migräne konnten bisher drei Gendefekte mit Lokalisation auf den Chromosomen 1, 2 und 19 gefunden werden. Anhand der Lage der Gendefekte kann zwischen den Typen I (FMH1), II (FMH2) und III (FMH3) der familiären hemiplegischen Migräne unterschieden werden. Sporadische hemiplegische Migräne Die sporadische hemiplegische Migräne gleicht in ihren Symptomen der familiären hemiplegischen Migräne. Das wichtigste Unterscheidungskriterium gegenüber der familiären hemiplegischen Migräne ist das Fehlen von vergleichbaren Fällen in der Verwandtschaft ersten und zweiten Grades. Auch können der sporadischen hemiplegische Migräne keine Gendefekte als Ursache zugeordnet werden. Von einer sporadischen hemiplegischen Migräne sind insbesondere Männer betroffen. Ihre Häufigkeit ist mit der der familiären hemiplegischen Migräne vergleichbar. Migräne vom Basilaristyp Die Migräne vom Basilaristyp, auch Basilarismigräne genannt, tritt gehäuft bei jungen Erwachsenen auf. Die neurologischen Symptome einer Migräne vom Basilaristyp können von den zuvor genannten Aurasymptomen abweichen. Charakteristische Symptome sind Sprachstörungen, Schwindel, Tinnitus, Hörminderung, Doppelbilder, Sehstörungen, gleichzeitig sowohl im temporalen als auch im nasalen Gesichtsfeld beider Augen, Ataxie, Bewusstseinsstörung oder gleichzeitige beidseitige Parästhesien. In Einzelfällen kommt es zu einem locked-in-Syndrom: vollständige Bewegungslosigkeit bei wachem Bewusstsein für die Dauer von 2 bis 30 Minuten, gelegentlich sind noch vertikale Augenbewegungen möglich (Bickerstaff-Syndrom). Weiterhin zählt das Alice-im-Wunderland-Syndrom zu den möglichen Symptomen. Sowohl die Aurasymptome als auch der Migränekopfschmerz werden meist beidseitig wahrgenommen. Eine Beteiligung der namensgebenden Arteria basilaris wird zwar vermutet, ist aber nicht gesichert. Retinale Migräne Charakteristisch für eine retinale Migräne sind obligatorisch einseitige, auraähnliche, visuelle Phänomene wie Skotome, Flimmern oder Blindheit, die sich auf die Zeit der Migräneattacke beschränken. Während dieser Sehstörungen, oder bis zu 60 Minuten danach, setzt die Migränekopfschmerzphase ein. Wahrscheinliche Migräne Von einer wahrscheinlichen Migräne wird gemäß IHS gesprochen, wenn mit Ausnahme eines Kriteriums alle Kriterien für die Diagnose einer Migräne ohne Aura oder einer Migräne mit Aura erfüllt sind. Eine Einstufung als eine wahrscheinliche Migräne sollte auch erfolgen, wenn die zuvor genannten Kriterien einer Migräne mit oder ohne Aura erfüllt wurden, aber auch akut Medikamente in einer Menge eingenommen wurden, die einen medikamenteninduzierten Kopfschmerz nicht ausschließen. Migränekomplikationen Chronische Migräne Leidet ein Patient an mehr als 15 Tagen im Monat über mehrere Monate (≥3) hinweg unter einer Migräne, spricht man von einer chronischen Migräne. Die chronische Migräne ist oft eine Komplikation der Migräne ohne Aura und wird in zunehmenden Fällen beobachtet. Von einer chronischen Migräne abzugrenzen ist der ebenfalls chronische Kopfschmerz bei Medikamenteneinnahme, der beispielsweise durch einen Übergebrauch von Analgetika induziert wird. Status migraenosus Bei einem Status migraenosus geht ein Migräneanfall unmittelbar in den nächsten über oder die Migränesymptome nehmen nach 72 Stunden nicht ab. Dem Patienten bleibt kaum Erholungszeit und der Leidensdruck ist dementsprechend hoch. Migränöser Infarkt Der migränöse Infarkt ist ein Hirninfarkt im Ablauf einer typischen Migräneattacke mit Aura. Charakteristischerweise treten ein oder mehrere Aurasymptome auf, die länger als 60 Minuten andauern. Mit Hilfe bildgebender Verfahren ist ein ischämischer Schlaganfall in relevanten Gehirnteilen nachweisbar. Abzugrenzen von einem migränösen Infarkt sind Hirninfarkte aus anderen Gründen bei gleichzeitig bestehender Migräne und Hirninfarkte aus anderen Gründen mit migräneähnlichen Symptomen. Betroffen von einem migränösen Infarkt sind vor allem Frauen unter 45 Jahren. Persistierende Aura ohne Infarkt Die seltene persistierende Aura ohne Infarkt ist gekennzeichnet durch Aurasymptome, die länger als eine Woche anhalten, ohne dass ein Hirninfarkt radiologisch nachgewiesen werden kann. Die Aurasymptome werden meist beidseitig wahrgenommen. Im Gegensatz zum migränösen Infarkt wird das Gehirn nicht dauerhaft geschädigt. Migralepsie Unter Migralepsie werden zerebrale Krampfanfälle verstanden, die durch eine Migräne getriggert werden. Sie ist eine Komplikation einer Migräne mit Aura, bei der die komplexen Verbindungen zwischen Migräne und Epilepsie deutlich werden. Ein epileptischer Anfall wird während oder innerhalb von 60 Minuten nach einer Auraphase ausgelöst. Visual Snow Visual Snow ist ein Beschwerdekomplex, welcher epidemiologisch assoziiert zur Migräne mit Aura scheint. Das Krankheitsbild geht mit einem anhaltenden Bildrauschen im gesamten Gesichtsfeld, ähnlich einer persistierenden Migräneaura, einher, weshalb es häufig als solche fehlinterpretiert wird. Diagnose Die Migräne ist eine Erkrankung, die auf Basis der Beschwerden diagnostiziert wird. Die Diagnose einer Migräne erfolgt durch eine Befragung des Patienten mit Erhebung der Krankengeschichte (Anamnese). Zu diesem Zweck können auch ein Kopfschmerztagebuch geführt und der Grad der Beeinträchtigung (Migraine Disability Assessment Score) dokumentiert werden. Eine allgemeine körperliche Untersuchung trägt über den Ausschluss anderer Erkrankungen als Kopfschmerzursache ebenfalls der Diagnosefindung bei und spielt eine wichtige Rolle bei der Auswahl der Medikation. Laboruntersuchungen und apparative Untersuchungsmethoden tragen in der Praxis nicht zur direkten Migränediagnose bei, sondern sind nur dann erforderlich, wenn eine andere Erkrankung zweifelsfrei ausgeschlossen werden soll. In erster Linie muss zwischen der Diagnose eines sekundären Kopfschmerzes und einer primären Kopfschmerzerkrankung unterschieden werden. Ein sekundärer Kopfschmerz, der Folge anderer Erkrankungen ist und häufig im Zusammenhang mit Tumoren, Traumata, Blutungen und Entzündungen beobachtet werden kann, muss auf jeden Fall dann in Betracht gezogen werden, wenn Alarmzeichen auftreten. Dazu zählen beispielsweise erstmaliges und plötzliches Auftreten, insbesondere bei kleinen Kindern oder bei Patienten im fortgeschrittenen Alter, kontinuierliche Zunahme der Beschwerden oder Fieber, Hypertonie oder Krampfanfälle als Begleitsymptome. Zu diesem Zweck können neben allgemeinen körperlichen Untersuchungen auch Laboruntersuchungen und apparative Untersuchungen durchgeführt werden. Ist eine sekundäre Ursache ausgeschlossen, kann im Anschluss mit Hilfe der Anamnese zwischen einer Migräne und anderen primären Kopfschmerzformen, wie Spannungskopfschmerz und Cluster-Kopfschmerz unterschieden werden. Beispielsweise ist eine Verstärkung der Symptome durch körperliche Aktivität ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zwischen einer Migräne und einem Cluster-Kopfschmerz. Pathophysiologie Migräneanfall Der Pathomechanismus des Migräneanfalls ist nicht aufgeklärt. Mit Hilfe von verschiedenen, sich ergänzenden, Hypothesen wird versucht, die Entstehung einer Migräne zu beschreiben. Die Neurotransmitter Serotonin (5-HT) und Glutamat, das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) und Stickstoffmonoxid (NO) nehmen in diesen Theorien eine wichtige Rolle ein. Vaskuläre Hypothese Die vaskuläre Hypothese beruht auf der klassischen Beobachtung, dass Blutgefäße des Kopfes während eines Migräneanfalls erweitert sind. Die beobachtete Erweiterung der Blutgefäße wird als ein Bestandteil eines Reflexes angesehen (trigeminovaskulärer Reflex). In den Wänden dieser Blutgefäße befinden sich Schmerz- und Dehnungsrezeptoren (freie Nervenendigungen) des Nervus trigeminus, die im Falle eines Migräneanfalles aktiviert werden. Eine Projektion der Reizung des Nervus trigeminus über Dehnungsrezeptoren oder Chemorezeptoren der Blutgefäße im unteren Abschnitt des Nucleus spinalis nervi trigemini und darüber hinaus in die Großhirnrinde wird für das Schmerzempfinden verantwortlich gemacht. Für die beobachteten Begleitsymptome der Migräne wird eine Projektion in den Hypothalamus (Photophobie, Phonophobie) und in die Chemorezeptoren-Triggerzone (Übelkeit, Erbrechen) diskutiert. Der pulsierende Charakter des Migränekopfschmerzes lässt sich am besten mit der vaskulären Hypothese erklären. Gestützt wird sie auch durch die Beobachtung, dass sich je nach Prädisposition durch Blutgefäße erweiternde Substanzen (Vasodilatatoren) wie Nitroglycerin eine Migräne oder ein migräneartiger Kopfschmerz auslösen lassen. Eine mechanische Kompression der Blutgefäße hingegen führt zu einer Reduktion der Migränesymptome. Auch die Migränewirksamkeit aller spezifischen Migränetherapeutika, einschließlich der Mutterkornalkaloide, Triptane und CGRP-Rezeptorantagonisten, wird zumindest zum Teil mit einer Konstriktion der Blutgefäße des Kopfes erklärt. Mutterkornalkaloide und Triptane führen über eine Aktivierung von Serotonin-Rezeptoren des Typs 5-HT1B an der Oberfläche der Blutgefäße direkt zu einer Gefäßkonstriktion. CGRP-Antagonisten hemmen über eine Kompetition an CGRP-Rezeptoren die blutgefäßerweiternden Eigenschaften des Calcitonin Gene-Related Peptides. Da die Aurasymptome und die Begleitsymptome der Migräne durch die vaskuläre Hypothese nicht oder nur unzureichend erklärt werden können, wird die Migräne heute nicht mehr als eine ursächlich vaskuläre Erkrankung angesehen. Übererregbarkeitshypothese Die Beobachtung, dass Patienten, die regelmäßig an Migräne leiden, eine erhöhte Erregbarkeit der Hirnrinde des Hinterhauptslappens (occipitaler Cortex) zeigen, führte zur Postulierung einer weiteren Hypothese (Übererregbarkeitshypothese). Diese Übererregbarkeit ist an eine Freisetzung von Kaliumionen in den Extrazellularraum gekoppelt. Kaliumionen führen zu einer Depolarisation, die sich über einen Bereich der Hirnrinde ausbreitet (Streudepolarisierung oder Cortical spreading depression). Eine Ausbreitung dieser Depolarisation in das Sehzentrum wird mit der Entstehung einer visuellen Migräneaura in Verbindung gebracht. Der Migränekopfschmerz wird nach dieser Hypothese, im einfachsten Fall mit einer Projektion, in bestimmte Anteile des sogenannten sensorischen Trigeminuskerns erklärt. Alternativ dazu können hohe Konzentrationen freigesetzter Kaliumionen, sowie Glutamat und Stickstoffmonoxid, direkt einen Migränekopfschmerz auslösen. Die auffälligen Parallelen zwischen der Entstehung und Ausbreitung einer Migräne und der Pathophysiologie eines epileptischen Anfalls werden am besten durch die Übererregbarkeitshypothese beschrieben. Hypothese der neurogenen Entzündung Die Hypothese der neurogenen Entzündung beruht auf der während eines Migräneanfalls nachgewiesenen Freisetzung von entzündungsvermittelnden Botenstoffen (Entzündungsmediatoren), wie Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP), Substanz P und Neurokinin A, aus Nervenendigungen des fünften Hirnnerves (Nervus trigeminus). Insbesondere das CGRP, das während einer Migräneattacke vermehrt im Blutplasma nachgewiesen werden kann, spielt eine zentrale Rolle und bewirkt eine sogenannte „sterile neurogene Entzündung“ mit einer Aktivierung von Mastzellen. Als Folge können eine Erweiterung der Blutgefäße (Vasodilatation), eine Rekrutierung von Leukozyten und eine Gefäßpermeabilitätserhöhung mit Ödembildung beobachtet werden. Eine Aktivierung von Matrixmetalloproteasen kann zusätzlich die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke für Proteine und Peptide steigern. Sowohl die Vasodilatation als auch die Permeabilitätserhöhung mit Ödembildung werden als Ursachen des Migränekopfschmerzes diskutiert. Trigemino-vaskuläres System Bei der Genese von Migräne-Attacken sind mehrere Signalmoleküle beteiligt. Diese sind erstens starke Vasodilatatoren, die die Gefäße erweitern und zweitens im trigemino-vaskulären System weitverbreitet sind: CGRP (Calcitonin gene-related peptide) PACAP-38 (Pituitary adenylate cyclase-activating peptide 38) Stickstoffmonoxid (NO, nitric oxide) In Expositionsversuchen konnte mit diesen drei Vasodilatatoren bei Migräne-Patienten sehr häufig eine Migräneattacke bei intravenöser Gabe ausgelöst werden, während Probanden ohne Migräne keine oder höchstens leichte Kopfschmerzen beklagten. Nitroglycerin als NO-Träger löste in 80 %, CGRP in 57 % und PACAP-38 in 58 % eine Migräne bei Migränepatienten aus. Diese Signalmoleküle aktivieren intrazellulär Signalwege über Cyclisches Adenosinmonophosphat (cAMP) für Stickstoffmonoxid und Cyclisches Guanosinmonophosphat (cGMP) für CGRP und PACAP-38 als Second Messenger. Darüber hinaus konnten Medikamente, die den Abbau der Second Messenger cAMP und cGMP blockierten, in über 80 % eine Migräne-Attacke bei Migräne-Patienten auslösen. Möglicherweise sind Aktivierungen dieser cAMP- und cGMP-Signalwege im trigemino-vaskulären System der gemeinsame neurochemische Mechanismus einer Migräne-Attacke. Beide Botenstoffe führen zu einer vermehrten Öffnung ATP-sensitiver Kaliumkanäle. Dies führte zu der Hypothese, dass die Modulation nozizeptiver Übertragung durch Ionenkanäle, vor allem durch Kaliumkanäle, die gemeinsame Endstrecke der Auslösung einer Migräne-Attacke darstellen könnte. So löst die intravenöse Gabe des Kaliumkanalöffners Levcromakalim bei allen Migräne-Patienten eine Migräne-Attacke aus. Demnach wäre es plausibel, dass durch Trigger ATP-sensitive Kaliumkanäle auf den Zellen der glatten Gefäßmuskulatur der intrakraniellen Arterien geöffnet werden. Jenes löst eine Vasodilatation aus, weshalb die perivaskulären trigeminalen Afferenzen aktiviert werden und nozizeptive Impulse übermitteln. Diese könnten durch weitere sekundäre und tertiäre trigeminale Afferenzen in kortikalen und subkortikalen Hirnbereichen dann die Schmerzwahrnehmung der Migräne-Attacke auslösen. Dies würde auch die Beobachtung einer Erhöhung der extrazelluläre Konzentration positiv geladener Ionen nicht nur von Kaliumionen, die die trigeminalen Rezeptoren aktivierten, erklären. Dass Ionenkanäle an der Modulation phasenweiser Schmerzsyndrome beteiligt sind, ist bereits bei anderen episodischer Schmerzsyndrome, so beim familiären episodischen Schmerzsyndrom (familial episodic pain syndrome), gezeigt worden. Bei einer Aura kommt es zu einer wellenförmigen Ausbreitung einer Depolarisationsbewegung (Übererregbarkeitshypothese), die mit einer Öffnung neuronaler Pannexin-1-Kanäle verbunden ist. Dies wiederum führt zur Freisetzung von Entzündungsmediatoren, wie Stickstoffmonoxid und Prostanoide, die die intrakraniellen Gefäße dilatieren (weiten) und dadurch wiederum Kaliumkanäle öffnen könnten (Hypothese der neurogenen Entzündung). Genetische Ursachen Eine familiäre Häufung besteht oft und Schätzungen führen 42 % auf ein erbliches Risiko zurück. Es gibt seltene monogenetische familiäre Migräne-Syndrome, vor allem die familiäre hemiplegische Migräne. In der Regel liegt aber ein polygenetisches Risikoprofil vor, wodurch also mehrere Genvarianten involviert sind. Genomweite Assoziationsstudien haben 38 Suszeptibilitätsgene identifiziert, die mit einem erhöhten Migränerisiko einhergehen. Vor allem waren Gene involviert, die die Glatte Muskulatur an Gefäßen und Eingeweiden („viszeral“) steuern. In einer weiteren Arbeit zeigte sich eine Anreicherung der genetischen Marker in Nervengeweben. Für ein gehäuftes Auftreten der Migräne mit Aura bei Patienten mit einem persistierenden Foramen ovale werden ebenfalls genetische Defekte als Ursachen beider Krankheiten diskutiert. Gendefekte werden auch als Ursachen für eine Komorbidität von Migräne und Depression vermutet. Familiäre hemiplegische Migräne Dies ist eine seltene monogenetische Erbkrankheit, die mit Migränesymptomen einhergeht. Es wurden mindestens drei verschiedene Gendefekte als mögliche Ursachen identifiziert. Beim Typ I der familiären hemiplegischen Migräne (FHM1) finden sich Mutationen im CACNA1A Gen auf dem Chromosom 19. Dieses Gen codiert eine Untereinheit des spannungsabhängigen L-Typ-Calciumkanals. Mutationen im ATP1A2 Gen auf dem Chromosom 1, welches eine Untereinheit der Natrium-Kalium-ATPase, eine Ionenpumpe, codiert, sind die genetische Ursache für den Typ II (FHM2). Die Ursache für den Typ III der familiären hemiplegischen Migräne (FHM3) ist ein durch Mutationen im SCN1A-Gen auf dem Chromosom 2 verursachter Defekt eines spannungsabhängigen Natriumkanals. Alle drei beschriebenen Gendefekte werden auch mit dem Auftreten einer Epilepsie assoziiert. Behandlung und Vorbeugung Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) und die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) haben im Mai 2018 neue Empfehlungen für die Migräne-Therapie und Prophylaxe vorgelegt. Die S1-Leitlinie Therapie der Migräneattacke und Prophylaxe der Migräne ist online aufrufbar. Die Migräne ist eine Erkrankung, die derzeit durch medizinische Maßnahmen nicht heilbar ist. Die Intensität der Migräneanfälle und die Anfallshäufigkeit kann durch geeignete Maßnahmen reduziert werden. Akuttherapie Nach Empfehlung der Deutschen Migräne- und Kopfschmerz-Gesellschaft (DMKG) können zur Akutbehandlung des Migränekopfschmerzes einerseits unspezifisch Schmerz- und Entzündungsprozesse hemmende Schmerzmittel aus der Gruppe der Nichtopioid-Analgetika (zum Beispiel Acetylsalicylsäure, Paracetamol und Ibuprofen) und andererseits spezifische Migränetherapeutika aus den Gruppen der Triptane (zum Beispiel Sumatriptan, Naratriptan und Zolmitriptan) als Mittel der ersten Wahl eingesetzt werden. Nichtopioid-Analgetika Die Nichtopioid-Analgetika Acetylsalicylsäure, Ibuprofen, Naproxen, Diclofenac und Paracetamol sind insbesondere bei einem leichten bis mittelschweren Migräneanfall indiziert. Auch eine Kombination aus Acetylsalicylsäure, Paracetamol und Coffein, die wirksamer ist als die Einzelsubstanzen, oder Ibuprofen, wird von der DMKG empfohlen. Bei mittleren bis schweren Anfällen zeigen Triptane eine hohe Wirksamkeit. Die Migränewirksamkeit von Phenazon und Metamizol gilt hingegen als weniger gut dokumentiert. In klinischen Studien haben sich darüber hinaus die COX-2-Hemmer Valdecoxib und das auf Grund seiner Herz-Kreislauf-Nebenwirkungen vom Markt genommene Rofecoxib als effektiv zur Behandlung akuter Migräneattacken erwiesen. Eine arzneimittelrechtliche Zulassung für die Verwendung als Migränetherapeutika besteht jedoch nicht. Generell besteht bei länger andauernder oder gar dauerhafter Anwendung von Nichtopioid-Analgetika die Gefahr eines medikamenteninduzierten Kopfschmerzes. Um schnell zu wirken und die ohnehin bei Migräne oft bestehende Übelkeit nicht zusätzlich zu verstärken, werden viele Nichtopioid-Analgetika in einer schnell verfügbaren und als magenfreundlich geltenden Darreichungsform angeboten. Dazu zählen beispielsweise gepufferte Brausetabletten. Ist eine orale Anwendung eines Nichtopioid-Analgetikums nicht möglich, so steht beispielsweise Paracetamol als Zäpfchen (Suppositorium) zur rektalen Anwendung zur Verfügung. Metamizol, Acetylsalicylsäure sowie Paracetamol sind darüber hinaus auch als intravenöse Infusion erhältlich. Triptane Seit den 1990er Jahren stehen 5-HT1B/1D-Rezeptoragonisten aus der Gruppe der Triptane zum Kupieren von Migräneanfällen zur Verfügung. Deren Vertreter unterscheiden sich voneinander in ihrer Pharmakokinetik, insbesondere in ihrer Bioverfügbarkeit, ihrer ZNS-Gängigkeit und ihrer Halbwertzeit. Darüber hinaus werden Triptane in unterschiedlichen Darreichungsformen, wie beispielsweise als Schmelztabletten, Suppositorien, Nasensprays und Injektionen, zur subkutanen Anwendung angeboten. Triptane sollten rechtzeitig während eines Migräneanfalls eingenommen (und gegebenenfalls nachdosiert) werden, da sich sonst ihre Wirksamkeit verringert. Bei Daueranwendung hingegen besteht die Gefahr der Entwicklung eines arzneimittelinduzierten Kopfschmerzes. Bei Nichtansprechen auf ein Triptan kann ein anderer Vertreter dieser Gruppe dennoch wirksam sein. Triptane (auf dem deutschen Markt derzeit: Sumatriptan, Rizatriptan, Zolmitriptan, Almotriptan, Naratriptan, Eletriptan) sind Serotoninagonisten, die durch Stimulation von 5-HT1B/1D-Rezeptoren zu einer Vasokonstriktion führen. Triptane sind im Allgemeinen sehr gut verträglich. Es bestehen jedoch folgende Kontraindikationen, die teilweise in ihrer gefäßverengenden Wirkung begründet sind: Koronare Herzkrankheit Herzinfarkt, Schlaganfall oder andere Gefäßerkrankungen Hypertonie verschiedenen Ausmaßes Leberinsuffizienz, Niereninsuffizienz gleichzeitige Anwendung von Ergotamin oder anderen Triptanen Ditane Während die Triptane agonistisch am 5-HT1B/1D-Rezeptor wirken, binden Ditane hoch selektiv an die 5-HT1F-Rezeptoren. Als Vertreter ist bislang einzig Lasmiditan (Reyvow) seit 2019 in den USA zugelassen. Es gibt Hinweise darauf, dass der Wirkungsmechanismus darauf beruht, dass Lasmiditan die Freisetzung von Neuropeptiden verringert und dadurch die Schmerzleitung hemmt, auch derjenigen im Trigeminusnerv und in den Ganglien. Ditane können für Patienten, bei denen Triptane nicht ausreichend wirksam oder kontraindiziert, eine therapeutische Alternative darstellen. Niedermolekulare CGRP-Rezeptorantagonisten Niedermolekulare Calcitonin-Gene-Related-Peptide-Rezeptorantagonisten (Gepante) blockieren antagonistisch die Rezeptoren für CGRP (Calcitonin-Gene-Related-Peptide-Rezeptor, CGRP-Rezeptor). Anders als die monoklonalen Antikörper können sie oral gegeben werden und werden für die Akuttherapie der Migräne entwickelt. Die zunächst erprobten Gepante Olcegepant und Telcacepant zeigten zwar gute Migränewirksamkeit, scheiterten aber in der weiteren klinischen Entwicklung aufgrund mangelnder Bioverfügbarkeit bzw. lebertoxischer Nebenwirkungen. Die Wirkstoffe der zweiten Generation, Ubrogepant und Rimegepant, sind seit 2019 bzw. 2020 in den USA zugelassen. 2021 folgte die Zulassung von Atogepant in den USA zur vorbeugenden Behandlung der episodischen Migräne. In der klinischen Prüfung ist ferner das nasal angewendete Zavegepant (Biohaven Pharmaceuticals), das sich in Zwischenergebnissen gegenüber Placebo überlegen zeigte. Mutterkornalkaloide Mutterkornalkaloide wie Ergotamin, die mit der Einführung der Triptane ihre frühere Bedeutung verloren haben, können ebenfalls in der Akuttherapie der Migräne eingesetzt werden. Die Migränewirkung der Mutterkornalkaloide wird wie im Falle der Triptane über einen Agonismus am 5-HT1B/1D-Rezeptor erklärt. Ihre Migränewirksamkeit ist zwar seit über einem Jahrhundert dokumentiert, jedoch lässt sie sich auf Grund eines weitgehenden Mangels moderner prospektiver klinischer Studien schlecht einschätzen. Im Vergleich zu Triptanen sind Mutterkornalkaloide weniger wirksam. Darüber hinaus besitzen sie ein deutlich breiteres Nebenwirkungsspektrum, das insbesondere vaskuläre Ereignisse wie Durchblutungsstörungen, aber auch Muskelkrämpfe und arzneimittelinduzierten Kopfschmerz umfasst. Daher gelten Mutterkornalkaloide als Mittel der zweiten Wahl, deren Anwendung bei länger andauernden Migräneattacken und bei bereits erfolgreicher Anwendung von Mutterkornalkaloiden in der Krankengeschichte angezeigt sein kann. Antiemetika Eine Kombination von Analgetika oder spezifischen Migränetherapeutika mit einem Antiemetikum oder Prokinetikum wie Metoclopramid oder Domperidon kann sinnvoll sein, da durch diese nicht nur die gastrointestinalen Begleitsymptome der Migräne (Übelkeit, Erbrechen) beseitigt werden, sondern auch die Aufnahme des Analgetikums gefördert wird. Die Wirksamkeit von Metoclopramid ist in diesem Zusammenhang besser belegt als die von Domperidon. Sonstige Therapeutika Erfolgreiche Therapieversuche und Hinweise auf eine Wirksamkeit in kleineren klinischen Studien wurden auch für andere Therapeutika dokumentiert. Eine Wirksamkeit bei akuten Migräneattacken konnte auch für das Antiepileptikum Valproinsäure gezeigt werden. Eine arzneimittelrechtliche Zulassung von Valproinsäure zur Akutbehandlung der Migräne besteht jedoch nicht. Berichte über eine erfolgreiche Akutbehandlung einer ansonsten therapieresistenten Migräne schließen Kortikoide wie Dexamethason ein. Wenngleich kein gesicherter Hinweis auf eine direkte Wirkung von Kortikoiden auf den Migräneschmerz besteht, sollen diese die Wirksamkeit von Triptanen erhöhen und können zudem die Rekurrenzrate von Migräneattacken reduzieren. Die in der Schmerztherapie etablierten Opioide gelten bei der Behandlung der Migräne als nur beschränkt wirksam. Eine Kombination aus Tramadol und Paracetamol zeigte sich in einer klinischen Studie als wirksam zur Behandlung des Migränekopfschmerzes, der Phonophobie und der Photophobie. Dennoch gilt auf Grund des Übelkeit und Erbrechen einschließenden Nebenwirkungsspektrums, das die Symptomatik der Migräne noch verstärkt, und der verstärkten Gefahr eines medikamenteninduzierten Kopfschmerzes, die Anwendung als nicht empfehlenswert. Eine Studie von 2017 wies darauf hin, dass Cannabisextrakte (bestehend aus den Hauptwirkstoffen THC und CBD) bei akuten Anfällen die Schmerzintensität um etwa die Hälfte senken könnten. Nichtmedikamentöse Methoden Als nichtmedikamentöse Methoden gelten Reizabschirmung durch Ruhe in einem geräuscharmen, abgedunkelten Raum, Aromatherapie, Pfefferminzöleinreibungen auf die Stirn, Akupressurmatten, autogenes Training und Psychophonie. Diese Verfahren sind jedoch nicht ausreichend evaluiert. Prophylaxe Das Ziel der Migräneprophylaxe ist, die Häufigkeit oder die Schwere von Migräneattacken bereits vor ihrer Entstehung zu senken. Diese ist insbesondere dann angezeigt, wenn der Patient einen starken Leidensdruck oder starke Einschränkungen der Lebensqualität durch die Migräne erfährt. Eine Nutzen-Risiko-Abwägung sollte durchgeführt werden. Ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis kann insbesondere dann vorliegen, wenn der Patient besonders häufig unter Migräne leidet (mehr als drei Attacken pro Monat), Migräneattacken regelmäßig länger andauern (drei Tage oder länger), die Migräne nicht zufriedenstellend mit Standardtherapeutika behandelt werden kann oder schwer zu behandelnde Sonderformen und Komplikationen der Migräne vorliegen. Zur Migräneprophylaxe stehen insbesondere Arzneistoffe zur Verfügung, die nicht gezielt als Migräneprophylaktika, sondern für verschiedene andere Anwendungsgebiete wie beispielsweise die Behandlung des Bluthochdrucks oder der Epilepsie entwickelt wurden. Für diese Arzneistoffe konnte nachträglich eine migräneprophylaktische Wirkung belegt werden. Betablocker Leitlinienübergreifend gelten Betablocker als Mittel der ersten Wahl für die Migräneprophylaxe. Am besten ist die prophylaktische Wirkung für Metoprolol und Propranolol belegt. Diese Wirksamkeit wird direkt auf eine Hemmung von β-Adrenozeptoren des Zentralnervensystems zurückgeführt und nicht, wie ursprünglich angenommen, auf eine von einigen Betablockern vermittelte zusätzliche Hemmung von Serotonin-Rezeptoren. Somit kann eine Wirksamkeit auch für andere Betablocker angenommen werden. In kleineren oder älteren klinischen Studien haben sich beispielsweise auch Bisoprolol, Atenolol oder Timolol als wirksame Migräneprophylaktika erwiesen. Betablocker sind insbesondere dann angezeigt, wenn der Patient zusätzlich unter Bluthochdruck, einem primären Anwendungsgebiet der Betablocker, leidet. Calciumantagonisten Eine migräneprophylaktische Wirkung des nicht selektiven Calciumantagonisten Flunarizin gilt ebenfalls als sehr gut belegt. Daher wird auch dieser Arzneistoff von internationalen Gremien als Mittel der ersten Wahl eingestuft. Für andere Calciumkanalblocker wie Verapamil oder Cyclandelat liegen keine konsistenten Daten über eine migräneprophylaktische Wirksamkeit vor. Ein Klasseneffekt kann daher nicht angenommen werden. Antiepileptika Viele Antiepileptika sind nicht nur in der Lage die Häufigkeit epileptischer Anfälle zu reduzieren, sondern führen zusätzlich zu einem Rückgang der Frequenz von Migräneanfällen. Am besten von diesen Substanzen ist die migräneprophylaktische Wirkung für Valproinsäure und Topiramat dokumentiert. Unter Berücksichtigung des Nebenwirkungsspektrums gelten diese Substanzen ebenfalls als Mittel der ersten Wahl, wenn keine Betablocker eingesetzt werden können. Die Anwendung von Valproinsäure in der Migräneprophylaxe entspricht in Deutschland, nicht aber in vielen anderen Staaten, einem Off-Label-Use, da kein valproinsäurehaltiges Präparat für diese Indikation zugelassen ist. Basierend auf Daten aus einer einzelnen klinischen Studie mit Gabapentin, in der eine leichte Reduktion der Migränehäufigkeit beobachtet wurde, gilt dieser Arzneistoff als Mittel der dritten Wahl. Für das Antiepileptikum Lamotrigin hingegen konnte keine migräneprophylaktische Wirkung, jedoch eine Reduktion des Auftretens einer Aura beobachtet werden. Für andere Antiepileptika liegen keine ausreichenden Daten über ihre migräneprophylaktische Wirksamkeit vor oder sie haben sich, wie im Fall von Oxcarbazepin, als unwirksam erwiesen. Monoklonale Antikörper im CGRP-Signalweg CGRP ist als wichtiger Faktor in der Entstehung von Migräne gut charakterisiert. Eine periphere Freisetzung ruft im Körper eine starke Vasodilatation hervor. Außerdem gilt das Peptid als Entzündungsmediator. Im Zentralnervensystem ist CGRP an der Regulation der Körpertemperatur beteiligt und moduliert die Schmerzübertragung. Im Mai 2018 erteilte die US-amerikanische Zulassungsbehörde (FDA) die Zulassung für einen monoklonalen Antikörper (Erenumab, Aimovig) als erstem Medikament, das den Calcitonin Gene-Related-Peptide-Rezeptor (CGRP-R) blockiert. Im Juli des gleichen Jahres folgte die Zulassung in der EU. In der Folge wurden drei weitere monoklonale Antikörper zur Migräneprophylaxe zugelassen, die, anders als Erenumab, nicht den CGRP-Rezeptor hemmen, sondern sich direkt gegen das Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) richten: Galcanezumab (Emgality, 2018 USA, 2018 EU) Fremanezumab (Ajovy, 2018 USA, 2019 EU); Eptinezumab (Vyepti, Lundbeck), wurde 2020 in den USA zugelassen und im November 2021 in der EU zur Zulassung empfohlen. Erenumab, Fremanezumab und Galcanezumab werden subkutan, Eptinezumab intravenös verabreicht. Sonstige Therapeutika Für das Antidepressivum Amitriptylin konnte in einer Vielzahl klinischer Studien eine migräneprophylaktische Wirkung gezeigt werden. Daher wird Amitriptylin in der Migräneprophylaxe als Mittel der ersten oder zweiten Wahl eingestuft. Die für Amitriptylin beobachtete prophylaktische Migränewirksamkeit lässt sich jedoch nicht auf andere Antidepressiva übertragen. Eine Studie belegt, dass sich die Anzahl der Anfälle mit der regelmäßigen Einnahme von Cannabisextrakt (THC und CBD) ähnlich wirkungsvoll reduzieren lassen wie mit Amitriptylin. Eine migräneprophylaktische Wirkung konnte auch für das langwirksame Nichtopioid-Analgetikum Naproxen gezeigt werden. Demgegenüber liegen für andere Nichtopioid-Analgetika keine konsistenten Daten über eine Migräne vorbeugende Wirkung vor. Hinzu kommt die bei Daueranwendung bestehende Gefahr der Entwicklung eines medikamenteninduzierten Kopfschmerzes. Nichtopioid-Analgetika gelten daher in der Migräneprophylaxe als Mittel der zweiten oder dritten Wahl. Als Mittel der dritten Wahl gelten die Antihypertensiva Lisinopril und Candesartan, die sich in Pilotstudien als wirksam erwiesen. Gleichfalls kann möglicherweise eine prophylaktische Anwendung mit Botulinumtoxin die Häufigkeit von Migräneattacken reduzieren. Der Wert von Mutterkornalkaloiden wie beispielsweise Dihydroergotamin ist trotz einer arzneimittelrechtlichen Zulassung zur Migräneprophylaxe strittig. Als unwirksam hat sich der für diese Indikation entwickelte Neurokininrezeptor-Antagonist Lanepitant erwiesen. Die über eine Hemmung von Serotoninrezeptoren wirkenden Arzneistoffe Methysergid und Pizotifen sind hingegen migräneprophylaktisch wirksam. Auf Grund ihrer schweren Nebenwirkungen haben sie jedoch keine therapeutische Relevanz mehr. Die migräneprophylaktische Wirksamkeit des traditionell angewendeten Phytopharmakons Pestwurz konnte mit Hilfe klinischer Studien belegt werden und wird als Mittel der zweiten Wahl eingestuft. Eine marginale Wirksamkeit konnte ebenfalls für einen CO2-Extrakt aus Mutterkraut belegt werden. Inwieweit diese Wirksamkeit auf andere Extrakte übertragen werden kann, ist fraglich. Schlechter belegt ist eine mögliche Wirksamkeit von Coenzym Q10, hochdosiertem Magnesium (580 mg) und hochdosiertem Riboflavin (400 mg). Homöopathische Migräneprophylaxen zeigen keine über einen Placeboeffekt hinausgehende Wirkungen. Akupunktur Die Wirksamkeit der Akupunktur zur Behandlung der Migräne wurde in zahlreichen Studien untersucht. Sie ist bei der Migräneprophylaxe mit weniger Nebenwirkungen mindestens so wirksam wie konventionelle medikamentöse Prophylaxe. Daher wird die Akupunktur oft als zusätzliche Therapiemöglichkeit empfohlen. Ob die Platzierung der Akupunkturnadeln eine Rolle spielt, ist unklar. Gemäß der German Acupuncture Trials von 2006 gibt es keinen belegbaren Unterschied zwischen konventionellen Akupunkturpunkten und (zufälligen) Scheinpunkten. Eine Cochrane-Studie von 2016 belegte dagegen einen (wenn auch schwach ausgeprägten) signifikanten Vorteil gegenüber Scheinpunkten. Sonstige nichtmedikamentöse Prophylaxe Die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson und das Biofeedback können ebenso eine wirksame Möglichkeit der Migräneprophylaxe sein. Daneben stehen verschiedene andere Methoden wie zum Beispiel Ernährungsmaßnahmen, Entspannungstechniken, Yoga, autogenes Training und leichter Ausdauersport als Alternativen zur Verfügung. Ihre migräneprophylaktische Wirksamkeit ist jedoch nicht ausreichend evaluiert. Eine randomisierte klinische Studie zeigte eine Senkung der monatlichen Kopfschmerzattacken durch supraorbitale transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS). Diese führt wahrscheinlich indirekt durch wiederholte elektrische Reizung von Hautnerven im Zentralnervensystem zur Bildung von Endorphinen, welche Schmerzen lindern. Dies ist jedoch nicht belegt, weswegen die TENS zu den „Naturheilverfahren“ zählt, welche von den Krankenkassen in der Regel nicht übernommen werden. Ob Migräne mit einer Biofeedback-Therapie seltener auftritt oder weniger stark ausfällt, hat der IGeL-Monitor des MDS (Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen) untersucht. Dabei werden Vorgänge im Körper zum Beispiel mit Licht- oder Geräuschsignalen wahrnehmbar gemacht, um diese Körpervorgänge bewusst steuern zu können. Nach einer systematischen Literaturrecherche bewertet der IGeL-Monitor die Biofeedback-Therapie als „unklar“. Denn den gefundenen Studien zufolge sei es zwar besser, Migräne mit Biofeedback zu behandeln als nichts zu tun. Dabei sei jedoch ein Placebo-Effekt nicht auszuschließen. Beim Vergleich gegen eine Scheinbehandlung zeige sich Biofeedback nicht überlegen. Es gebe somit keine belastbaren Hinweise auf einen Nutzen – allerdings auch keine Hinweise auf mögliche Schäden. Therapie und Prophylaxe in der Schwangerschaft Die Entscheidung für einen Einsatz von migränewirksamen Arzneimitteln in der Schwangerschaft ist eine Nutzen-Risiko-Abwägung, bei der auch eine mögliche Schädigung durch mütterliche Migräneattacken auf das ungeborene Kind zu berücksichtigen ist. Paracetamol gilt in allen Phasen der Schwangerschaft als verträglich. Im zweiten Trimenon können zusätzlich andere Nichtopioid-Analgetika wie beispielsweise Acetylsalicylsäure, Ibuprofen und Naproxen eingesetzt werden. Triptane sind nicht für den Einsatz in der Schwangerschaft zugelassen, retrospektive Analysen lassen jedoch nicht auf eine schädigende Wirkung von Sumatriptan, Naratriptan und Rizatriptan schließen. Mutterkornalkaloide sind wegen ihrer teratogenen Wirkung kontraindiziert. Ist eine migräneprophylaktische Behandlung während der Schwangerschaft nötig, gilt abgesehen von nichtmedikamentösen Verfahren wie Entspannungsübungen, Biofeedback und Akupunktur nur der Beta-Blocker Metoprolol als vertretbar. Therapie und Prophylaxe im Kindesalter Für die Behandlung akuter Migräneattacken bei Kindern gelten die Nichtopioid-Analgetika Ibuprofen und Paracetamol, gegebenenfalls ergänzt durch die Anwendung des Prokinetikums Domperidon, als Mittel der ersten Wahl. Die Wirksamkeit von Triptanen ist hingegen nicht gesichert. Neuere Studien mit Sumatriptan, Zolmitriptan und Rizatriptan deuten jedoch auf eine migränehemmende Wirkung bei Kindern. Triptane sind nicht für Kinder unter einem Alter von 12 Jahren zu Migränetherapie zugelassen. Alternativ können bei Kindern Allgemeinmaßnahmen in Form von Reizabschirmung mit Entspannen im abgedunkelten Raum, Kühlen des Kopfes und Pfefferminzöleinreibungen auf die Stirn unternommen werden. Für eine migräneprophylaktische Daueranwendung ist die Wirksamkeit für Flunarizin am besten belegt. Widersprüchliche Daten existieren für das bei Erwachsenen als Standardprophylaktikum eingesetzte Propranolol. Für alle anderen in der Migräneprophylaxe eingesetzten Arzneistoffe liegen keine ausreichenden Erkenntnisse über die Wirksamkeit bei Kindern vor. Auch Entspannungsübungen, verhaltenstherapeutische Maßnahmen und Biofeedback zeigen eine mögliche Wirksamkeit, während diätische Maßnahmen in kontrollierten klinischen Studien ohne Erfolg waren. Therapie und Prophylaxe der Aura Eine spezifische Behandlung der Migräneaura ist in der Regel nicht erforderlich. Zudem stehen keine ausreichend wirksamen Arzneistoffe zur Akuttherapie der Migräneaura zur Verfügung. Bei einem entsprechenden Leidensdruck kann eine Migräneprophylaxe erwogen werden. Eine spezifische Prophylaxe der migränösen Aura, jedoch nicht der Kopfschmerzen, ist für das Antiepileptikum Lamotrigin beschrieben worden. Komorbidität Menschen mit Migräne haben ein höheres Risiko für kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Erkrankungen. Bei einer Metaanalyse, die 394.942 Patienten mit Migräne und 757.465 Vergleichspersonen ohne Migräne umfasste, fand man erhöhte Risiken für Schlaganfälle (Hazard Ratio 1,42) und Herzinfarkte (HR 1,23). Die Steigerung betraf sowohl ischämische (durch Gefäßverschluss) als auch hämorrhagische (durch Hirnblutung) Schlaganfälle. Bei Migräne mit Aura war das Schlaganfallrisiko höher als ohne Aura (HR 1,56 gegen 1,11). Auch das Gesamtsterberisiko war mit Aura höher (1,2) als ohne Aura (0,96). Geschichte der Migränetherapie Erste Versuche der Behandlung migräneartiger Kopfschmerzen lassen sich spekulativ bis in die Mittelsteinzeit (ca. 8500–7000 v. Chr.) zurückverfolgen. In dieser Zeit wurden vielleicht Dämonen und böse Geister im Kopf der Patienten als Ursache der Migräne und anderer neurologischer Erkrankungen angesehen. Funde aus dem Neolithikum belegen, dass bereits zu dieser Zeit Trepanationen (chirurgische Eröffnungen der Schädeldecke) mit Hilfe von Steinwerkzeugen durchgeführt wurden. Wenngleich kontrovers diskutiert wird, ob diese Behandlungen vorrangig aus mystischen, kultischen oder medizinischen Gründen erfolgten, sollen sie angewendet worden sein, um Dämonen aus dem Schädel entweichen zu lassen. Auch wenn die Erfolgsquote der Trepanation undokumentiert blieb, konnten zumindest archäologische Funde belegen, dass über 50 % der Patienten diese Maßnahme überlebten. Dieses Verfahren wurde bis in das 17. Jahrhundert angewendet. Auch aus dem Alten Ägypten während der Pharaonenzeit sind Behandlungsmethoden von Kopfschmerzen dokumentiert. So nennt der auf ca. 1550 v. Chr. datierte Papyrus Ebers verschiedene Heilmethoden für Kopfschmerzen, vielleicht auch Migränekopfschmerzen, einschließlich der Verwendung der Asche des Skeletts eines Welses als Einreibung. Typische Migränekopfschmerzen finden sich erstmals in einem Text einer mittelbabylonischen Keilschrifttafel aus der Bibliothek von Tukulti-apil-Ešarra I. (1115–1077 v. Chr.) beschrieben. Der berühmte griechische Arzt Hippokrates erkannte ca. 400 v. Chr. erstmals die Aura als einen möglichen Vorboten eines Kopfschmerzes. Er sah als Ursache „Dämpfe, die vom Magen in den Kopf aufsteigen“. Die erste umfassende Beschreibung der Symptome einer Migräne mit einem halbseitigen Kopfschmerz sowie Schwitzen, Übelkeit und Erbrechen wurde im zweiten Jahrhundert von Aretaios unter der Bezeichnung heterocrania dokumentiert. Er grenzte somit gleichzeitig die Migräne von anderen Kopfschmerzformen ab. Auf der Suche nach Krankheitsursachen wurden die Theorien von Hippokrates durch Galenos aufgegriffen, der auch dessen Humoralpathologie weiterentwickelte. Für die Entstehung einer hemicrania machte er eine „übermäßige, aggressive gelbe Galle“ verantwortlich. Der von ihm verwendete Begriff hemicrania (in alten Texten auch emigranea geschrieben) gilt als Vorläufer der heutigen Bezeichnung „Migräne“. Eine zentralnervöse Ursache der Migräne unter Beteiligung einer Dilatation zerebraler Arterien wurde erstmals 1664 von Thomas Willis erwähnt. Zu dieser Zeit wurden Kaliumcyanid, Brechnuss, Tollkirsche, Fingerhut und Quecksilberverbindungen zur Therapie der Migräne eingesetzt. Die moderne Migränetherapie begründete 1884 William H. Thompson, der einen Extrakt aus dem Mutterkorn als migränewirksam erkannte. Arthur Stoll gelang 1920 daraus die Isolierung des Wirkstoffs Ergotamin, der bis heute in der Migränetherapie eingesetzt wird. Die Entdeckung des Wirkmechanismus des Ergotamins, der Stimulation der Serotoninrezeptoren 5-HT1B/1D, führte schließlich seit den 1980er Jahren zur Entwicklung moderner Migränetherapeutika, der Gruppe der Triptane. Literatur Hartmut Göbel: Erfolgreich gegen Kopfschmerzen und Migräne. 7. Auflage. Springer, Berlin 2014, ISBN 978-3-642-54725-6. Stefan Evers: Fakten. Migräne. Thieme, Stuttgart 2006, ISBN 3-13-143631-X. Julia Holzhammer, Christian Wöber: Alimentäre Triggerfaktoren bei Migräne und Kopfschmerz vom Spannungstyp. In: Der Schmerz. 20, 2006, , S. 151–159. Julia Holzhammer, Christian Wöber: Nichtalimentäre Triggerfaktoren bei Migräne und Kopfschmerz vom Spannungstyp. In: Der Schmerz. 20, 2006, , S. 226–237. P. J. Goadsby: Recent advances in the diagnosis and management of migraine. In: BMJ. 332(7532), 7. Jan 2006, S. 25–29. Review. PMID 16399733 (Text ist frei zugänglich). Dietrich von Engelhardt: Migräne in Medizin- und Kulturgeschichte. In: Pharmazie in unserer Zeit. 31, 5, 2002, , S. 444–451. Katrin Janhsen, Wolfgang Hoffmann: Pharmazeutische Betreuung von Kopfschmerzpatienten. In: Pharmazie in unserer Zeit. 31, 5, 2002, , S. 480–485. Günter Neubauer, Raphael Ujlaky: Migräne – eine Volkskrankheit und ihre Kosten. In: Pharmazie in unserer Zeit. 31, 5, 2002, , S. 494–497. Jan Brand: Migräne – Krankheit oder Ausrede. Die verschwiegene Krankheit. Arcis, München 2000, ISBN 3-89075-145-8. Oliver Sacks: Migräne. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1998, ISBN 3-499-19963-7. Manfred Wenzel: Migräne. Insel-Verlag, Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-458-33389-4. Weblinks Schmerzklinik Kiel: Migränewissen Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) Informationen der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft IHS über Migräne Migräne im Open Directory Project Einzelnachweise Kopf- und Gesichtsschmerz Zerebrovaskuläre Störung Erbkrankheiten Erbkrankheit
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https://de.wikipedia.org/wiki/Integrated%20Services%20Digital%20Network
Integrated Services Digital Network
Integrated Services Digital Network bzw. Integriertes Sprach- und Datennetz (ISDN) ist ein internationaler Standard für ein digitales Telekommunikationsnetz. Der deutschsprachige Begriff Integriertes Sprach- und Datennetz war der ursprüngliche Begriff; er stand gleichberechtigt (teilweise sogar bevorzugt) neben dem englischsprachigen Begriff, der auch im deutschen Sprachraum eingeführt wurde, um der Internationalität des Systems Rechnung zu tragen. Der internationale Begriff lässt sich alternativ auch deutsch als dienstintegrierendes digitales Netz übersetzen. Über dieses Netz werden verschiedene Dienste wie Fernschreiben (Telex), Teletex, Datex-L (leitungsvermittelte Datenübertragung), Datex-P (paketvermittelte Datenübertragung) und Telefonie übertragen und vermittelt. Vor der Einführung von ISDN gab es für die genannten Dienste jeweils eigene Netze, zwischen denen es Übergänge (Gateways) gab, zum Beispiel zwischen Fernschreibnetz und Teletex oder vom Telefonnetz zu den Datex-Netzen. Da das Telefonnetz das bekannteste der genannten Netze war und auch heute der Dienst Telefonie der meistgenutzte ist, wird die Bezeichnung ISDN oft mit Telefon gleichgesetzt. Durch Ablösung der analogen Vermittlungsstellen durch Digitaltechnik konnte die Leistungsfähigkeit der Teilnehmeranschlussleitung verdoppelt werden (gleichzeitig zwei Gespräche bzw. Verbindungen); dabei blieb die Bedienung der Endgeräte für den Benutzer weitgehend gleich. Die Datenfernübertragung (z. B. auch die Einwahl ins Internet) ist mit ISDN schneller und komfortabler als mit einem Telefonmodem. Inzwischen gibt es weitere Techniken zum Telefonieren, etwa GSM, UMTS und LTE beim Mobilfunk, sowie IP-Telefonie (VoIP). Lange Zeit bildete ISDN die Basis für alle anderen Telefonnetze. Netztechnisch wurden alle Vermittlungsstellen in Deutschland auf ISDN umgestellt, wobei aber die Teilnehmeranschlüsse nicht digitalisiert werden mussten. Die Kanäle von analog aufgeschalteten Teilnehmern werden von den Vermittlungsstellen in ein digitales Signal gewandelt und weitervermittelt. Neue Anschlüsse werden in Deutschland aber meist per Next Generation Network (NGN) realisiert. Seit Anfang der 2000er Jahre besaß jedes Mitgliedsland der Europäischen Union ISDN-Telekommunikationsstrukturen. In Deutschland war ISDN flächendeckend verfügbar. Geschichtliche Entwicklung Weltweit In den 1970er Jahren erreichte die Digitaltechnik das Telefonnetz und sollte die mechanischen Vermittlungsstellen ersetzen. Damit sollte eine bessere Auslastung der Leitungen und mehr Komfort für die Benutzer erreicht werden. Die zuständige Organisation, das Comité Consultatif International Téléphonique et Télégraphique (CCITT, heute ITU Telecommunication Standardization Sector (ITU-T), ein beratender technischer Ausschuss der Internationalen Fernmeldeunion (ITU)), erarbeitete dazu technische Spezifikationen (Recommendations) für ein digitales Telefonnetz, die unter dem Namen ISDN 1980 erstmals verabschiedet wurden. Europa Mitte der 1980er Jahre befürchteten zahlreiche Strategen in der europäischen Elektroindustrie und der damaligen EG-Kommission, dass Europa auf dem Gebiet der Telekommunikation gegenüber den USA und Japan deutlich ins Hintertreffen geriete, wenn es nicht gelänge, die staatsmonopolistischen Anachronismen abzuschaffen und den Wettbewerb nationaler Sonderlösungen zu beenden. Um dieses Szenario zu verhindern, sollten einheitliche Normen und gemeinsame Märkte geschaffen werden. 1988 wurde dazu von der EG-Kommission das Europäische Institut für Telekommunikationsnormen (ETSI) gegründet, das Standards für ein gemeinsames digitales Telefonnetz erarbeiten sollte. Am 6. April 1989 wurde unter seiner Leitung von 26 Netzbetreibern aus 20 europäischen Ländern der DSS1-Standard (auch Euro-ISDN genannt) ins Leben gerufen, der die nationalen ISDN-Systeme vereinheitlichen sollte und einige technische Verbesserungen brachte. Im Dezember 1993 erfolgte die Einführung von Euro-ISDN auf der Basis des Memorandum of Understanding on the Implementation of a European ISDN. Deutschland In der Bundesrepublik Deutschland entschied die Deutsche Bundespost 1979, alle Ortsvermittlungsstellen zu digitalisieren. Bei Feldversuchen in Berlin (unter dem Namen DIGON = „DIGitales OrtsNetz“) hatte sich gezeigt, dass durch den Einsatz digitaler Technik zwei unabhängige Duplex-Kanäle simultan übertragen werden konnten. 1982 fiel die Entscheidung für die ISDN-Technik und die Pläne wurden konkretisiert. Darauf folgte der Bau einer Teststrecke in West-Berlin, sowie schließlich 1987 zwei Pilotprojekte in Mannheim und Stuttgart. 1989 begann der offizielle Betrieb des nationalen ISDN nach dem 1TR6-Standard (damals durch die Deutsche Bundespost einfach als ISDN, heute zur besseren Unterscheidbarkeit als nationales ISDN bezeichnet). Die Deutsche Bundespost war damit der Vorreiter für ISDN in Europa. Die Digitalisierung des seit 100 Jahren analogen Telefonnetzes galt als gigantisches Investitionsprojekt, mit dem die Bundesrepublik und ihre Telekommunikationskonzerne an die Spitze im zukunftsträchtigen Telekommunikationsmarkt katapultiert werden sollten. Bei diesem ersten großen Digitalisierungsprojekt stand schon von Beginn an die Trennung des Digitalen Transportwegs von den darauf beruhenden Diensten (als zusätzlicher Kommunikationsdienst) im Vordergrund. Da das Internet noch nicht verbreitet war, dachte man zunächst vorwiegend an Bildübertragung bzw. Bildtelefonie. Da viele Verbraucher den Sinn der Digitalisierung noch nicht verstanden, wurde die Abkürzung „ISDN“ spöttisch zum Backronym „Ist sowas denn nötig?“ glossiert. Gleichzeitig wurde vor Risiken von ISDN gewarnt. Beispielsweise argumentierten einige Datenschutzexperten, dass ISDN ein „qualitativer Sprung“ bei der totalen Erfassung sei, da es die Erfassung und Speicherung sämtlicher Verbindungsdaten ermögliche (vgl. Vorratsdatenspeicherung). Nachdem bis zum Mai 1994 notwendige Softwareänderungen in den Vermittlungsstellen abgeschlossen waren, war Euro-ISDN in Deutschland kommerziell verfügbar. Seit September 1995 war das Telefonnetz so weit digitalisiert, dass ISDN flächendeckend verfügbar war (bei noch nicht digitalen Vermittlungsstellen durch Fremdanschaltung; die vollständige Digitalisierung wurde Ende 1997 erreicht). Bis Mitte 1996 wurde die Umstellung auf ISDN-Technik durch die Deutsche Telekom mit einer großen Fördermaßnahme unterstützt – für einen neuen Anschluss wurden bis zu 300 DM und bei Anschaffung einer Telefonanlage bis zu 700 DM gutgeschrieben. In der Geschäftsstrategie der Deutschen Telekom hatte die Vermarktung von ISDN lange außerordentliches strategisches Gewicht. Daher entschied man sich als weltweit einziger etablierter Netzbetreiber bei der Einführung der ADSL-Technik flächendeckend für das mit Reichweiten- und Bandbreitennachteilen behaftete ADSL-over-ISDN (Annex B). Kunden mit analogem T-Net-Anschluss sollten keine DSL-Verfügbarkeits- bzw. Bandbreitenvorteile gegenüber T-ISDN-Kunden haben. Mit der Umstellung auf NGN wird seitens der Deutschen Telekom ISDN nicht mehr vermarktet und es wurden anbieterseitige Kündigungen der ISDN-Anschlüsse ausgesprochen, um die Umstellung auf IP-basierte Anschlüsse in der Fläche zu erproben. Von der Deutschen Telekom wird bei den IP-basierten Anschlüssen für splitterloses DSL („DSL ohne Splitter“) Annex J verwendet. Das bedeutet nach Planung das Ende für Telefonanschlüsse des ISDN (und damit für ADSL-over-ISDN, „Annex B“) im Netz der Deutschen Telekom. Ende 2006 existierten 12,65 Mio. ISDN-Basisanschlüsse (genau ein Drittel der Telefonanschlüsse insgesamt) und 113.000 ISDN-Primärmultiplexanschlüsse. 2016 gab es 8,23 Mio. Analog-, 4,57 Mio. Basis- und 85.000 Primärmultiplexanschlüsse sowie 26.000 öffentliche Telefonstellen, Tendenz weiter fallend. Im Jahr 2009 waren in der Bundesrepublik bei 32,1 % aller Haushalte ISDN-Anschlüsse geschaltet. Von 2007 bis 2013 sank die Anzahl der ISDN-Basis-Anschlüsse in Deutschland von 12,86 Millionen auf 9,02 Millionen. Die Telekom hat ursprünglich angekündigt, die Migration aller Privatkunden mit ISDN-Anschlüssen auf andere Produkte bis 2018 abgeschlossen zu haben. Dieser Termin wurde mehrfach verschoben, zuletzt auf Ende 2020. Ende 2022 wird ISDN komplett abgeschaltet. Österreich In Österreich begann die Digitalisierung 1978 mit der Einführung des OES (Oesterreichisches Elektronisches System) durch die Post- und Telegraphenverwaltung (PTV). Ab 1986 wurde die OES-Technik flächendeckend eingesetzt. Im Februar 1992 wurde im Bereich der Wiener Ortsvermittlungsstelle „Dreihufeisengasse“ ein ISDN-Pilotversuch gestartet, an dem bis zum Jahresende bereits 200 Basisanschlüsse angeschlossen wurden. Bis 1999 wurde das gesamte österreichische Telefonnetz digitalisiert, in diesem Jahr gab es insgesamt 247.000 ISDN-Anschlüsse. 2002 stieg die Zahl auf insgesamt 438.000. Die österreichische Implementierung von ISDN unterscheidet sich von anderen u. a. dadurch, dass es eine „Globalnummer“ gibt, die keinem Gerät per MSN zugeordnet werden kann. Manche ISDN-Geräte (zum Beispiel Telefonanlagen) müssen dieses Spezifikum berücksichtigen, um problemlos zu funktionieren. Mit dem Telekom Austria Produkt AON-Complete – der ersten Österreichischen Internetflatrate – kam es am 15. November 1999 zu einem Boom an ISDN-Neuanmeldungen, während ein ISDN B-Kanal der Internet Flatrate diente, war über den zweiten B-Kanal zugleich Telefonie möglich. Der ISDN-Complete-Tarif wurde aufgrund von massiven Protesten der Mitbewerber bereits Ende Februar 2000 für Neukunden wieder eingestellt. Schweiz In der Schweiz wurde 1988 mit Swissnet 1 das erste ISDN in Betrieb genommen. Bis 1996 konnten insgesamt 250.000 Kunden gewonnen werden, im Jahr 2004 gab es über 900.000 Anschlüsse. Im Jahre 2008 ist der Anteil von ISDN-Anschlüssen jedoch wieder geschrumpft. Da zu dieser Zeit ein VDSL-Modem über eine Analogleitung Datenübertragungsraten von 20.000 kbit/s in Empfangsrichtung erreicht, hat sich die Bedeutung von ISDN und die Beschränkung von ADSL-over-ISDN verringert. Zudem setzen dem Provider Swisscom (der als Einziger in dem sich öffnenden Markt ISDN anbietet) andere Lösungen entgegen: Sunrise Communications sowie Salt Mobile mit reinen Drahtloslösungen, sowie verschiedene Kabelnetzbetreiber (wie UPC Schweiz, Quickline, NetPlus, ImporWare – insgesamt weit über 1 Million Kunden) mit einem Angebot für Daten, Telefon, Fax und Fernsehsignal für über 200 Kanäle, darunter viel in HDTV Qualität auf Breitbandnetzen. Swisscom startete 2017 den großflächigen Wechsel von ISDN auf IP. Bis Ende September 2019 wurden alle Anschlüsse umgestellt. USA In den USA wurde 1992 unter dem Namen NI-1 (US National ISDN Phase 1) das System 5ESS eingeführt, das sich von DSS1 stark unterschied. Später wurde als NI-2 eine verbesserte Version dieses Systems eingeführt. Aufgrund der fehlenden Förderung und der preislichen Gestaltung ist dieses System in den USA nur ein Nischenprodukt geblieben. Parallel bietet AT&T unter dem Namen „5ESS“ ein eigenes nur endkundenseitig NI-1-kompatibles System an. Der auf Very Compact Digital Exchange (VCDX) basierende Datenstandard 5ESS-2000 stellt NI-1-Merkmale für digitale Endgeräte an einer analogen Vermittlungsstelle zur Verfügung und ist damit eine Brückentechnologie zwischen analoger und digitaler Telefonie für einen verhältnismäßig kleinen Kundenkreis. Internationale Verbreitung Sehr unterschiedlich entwickelte sich die Verbreitung von ISDN weltweit. Unterschiede zum analogen Anschluss Der Hauptunterschied zum analogen Festnetzanschluss besteht in der digitalen Übertragung bis zum Endgerät. Dadurch ist es möglich, über einen Anschluss mehrere Kanäle gleichzeitig zu übertragen. Beim ISDN-Basisanschluss stehen zwei Kanäle zur Verfügung, die völlig unabhängig voneinander für Telefongespräche, Fax oder Datenübertragungen genutzt werden können; man kann also zum Beispiel während eines Telefongesprächs ein Fax absenden oder gleichzeitig telefonieren und (ohne ADSL) im Internet surfen. Für einen ISDN-Mehrgeräteanschluss können in Deutschland bis zu 10 Rufnummern (genannt Multiple Subscriber Number, MSN) vergeben werden, die beliebig auf die ISDN-Endgeräte verteilt werden können. Durch die Dienstkennungen unterschieden, kann eine MSN für verschiedene Anwendungen (Dienste), zum Beispiel für Telefonie und ISDN-Datenübertragung, genutzt werden, ohne dass diese sich gegenseitig stören – in der Theorie. In der Praxis kommt es zu Konflikten, wenn beispielsweise ein Fax von einem Analoganschluss (also ohne Dienstkennung) eine MSN anruft, die nur per Dienstkennung zwischen Fax und Telefon unterscheidet. In der Praxis verließ man sich deshalb meist nicht auf diese Funktion, sondern vergab für jedes Gerät eine der zehn MSNs. Zusätzlich stellt ISDN zahlreiche vermittlungstechnische Leistungsmerkmale bereit, deren Steuerinformationen – wie auch die Signalisierung zum Aufbau und Abbau der Verbindungen – über einen separaten Datenkanal (D-Kanal) übertragen werden. Die digitale Übertragung ermöglicht gegenüber der analogen Technik zahlreiche Qualitätsverbesserungen: Die Signale können bei durchgehend digitaler Übertragung verlustfrei übertragen werden. Bei der analogen Übertragung wird das Signal nur verstärkt, nicht regeneriert. Dabei wird nicht nur das Nutzsignal verstärkt, sondern auch Rauschen und Fremdspannungen. Je länger die Verbindungsstrecke ist, desto kleiner wird bei analoger Übertragung das Signal-Rausch-Verhältnis, somit verschlechtert sich die Qualität der Übertragung. Die Sprachqualität digitaler Übertragungen ist deshalb deutlich besser. Außerdem sind Datenübertragungen schneller, da kein Modem zwischengeschaltet werden muss, sondern die Daten direkt über das Netz übermittelt werden. Prinzipiell kann die Übertragung über eine Anschlussleitung bei Verwendung effektiver Codierungs- und Modulationsverfahren viel schneller als die ISDN-Geschwindigkeit von 2 × 64 kbit/s sein (etwa bei DSL), die Begrenzung auf den für Sprache typischen Frequenzbereich von 300 Hz bis 3400 Hz in den Übertragungs- und Vermittlungssystemen schränkt die Geschwindigkeit jedoch ein. Um analoge Endgeräte wie Telefon, Fax, Anrufbeantworter oder Modem an einen ISDN-Anschluss anzuschließen, benötigt man einen a/b-Wandler, der auch als Terminaladapter (abgekürzt TA) bezeichnet wird, oder eine ISDN-Telefonanlage mit analogen Nebenstellenanschlüssen. Nachteil der ISDN-Technik gegenüber analogen Anschlüssen ist, dass ein Betrieb eines einfachen schnurgebundenen Telefons ohne eigenständige Stromversorgung im Regelbetrieb nicht vorgesehen ist – zumindest entweder NTBA oder das ISDN-Telefon müssen laut ISDN-Spezifikation im Regelbetrieb extern mit Strom versorgt werden. Ausnahme davon ist der Notbetrieb, bei dem, falls der NTBA nicht mit Netzspannung versorgt wird, die Versorgungsspannung auf dem S0-Bus umgekehrt wird und dadurch dem (dann einzigen zulässigen) Endgerät signalisiert wird, dass es seinen Verbrauch einschränken muss. Öffentlich verfügbare Anschlusstypen Ein ISDN-Anschluss ist in zwei Varianten verfügbar: Als Basisanschluss (an einer Uk0-Schnittstelle) oder als Primärmultiplexanschluss (an einer Uk2- oder UG2-Schnittstelle). Basisanschluss (Basic Rate Interface (BRI)) Ein Basisanschluss hat zwei Nutzkanäle (B-Kanäle) und einen Kanal für Steuerinformationen (D-Kanal). Jeder der beiden Nutzkanäle bietet eine Datenübertragungsrate von 64 kbit/s (USA und einige andere Länder 56 kbit/s), der Steuerkanal (D-Kanal) von 16 kbit/s. Für die Rahmenkennung (Synchronisation) und für Servicezwecke werden weitere 16 kbit/s belegt, sodass die Bruttobitrate am Basisanschluss 160 kbit/s beträgt. Basisanschlüsse sind verfügbar als Mehrgeräteanschluss (Point-to-Multipoint) zum Anschluss von bis zu acht ISDN-Endgeräten Anlagenanschluss mit Basisnummer (Point-to-Point) zum Anschluss einer einzigen Telekommunikationseinrichtung, zum Beispiel einer Telefonanlage Primärmultiplexanschluss (Primary Rate Interface (PRI)) Ein Primärmultiplexanschluss hat 30 Nutzkanäle mit je 64 kbit/s (USA und einige andere Länder 56 kbit/s) und einen Steuerkanal mit 64 kbit/s sowie einen weiteren Kanal für Synchronisation und Wartung mit weiteren 64 kbit/s. Er ist nur als Anlagenanschluss verfügbar und wird zum Anschluss von Telefonanlagen oder für 2-Mbit/s-Festverbindungen genutzt. Anbieter in Deutschland In Deutschland können seit dem Inkrafttreten der dritten Stufe der Postreform 1998 neben der Deutschen Telekom auch andere Netzbetreiber Telefonanschlüsse anbieten, wobei die alternativen Netzbetreiber üblicherweise die sogenannte Letzte Meile, also die Anschlussleitung von der Ortsvermittlungsstelle bis in die Wohnung des Teilnehmers, von der Deutschen Telekom mieten und zur Anbindung des Teilnehmers an die eigene Vermittlungstechnik nutzen. Weiterhin können Verbindungsnetzbetreiber und Internetprovider ISDN-Verbindungsleistungen auf der Basis von Call-by-Call/Internet-by-Call und Preselection über bestehende T-ISDN-Anschlüsse der Telekom anbieten. Im Jahr 2022 stellte mit Vodafone auch der letzte Betreiber eines ISDN-Netzes auf IP-Telefonie um; neu ist ein ISDN-Anschluss nicht mehr erhältlich. In neuer Zeit tritt verstärkt das Phänomen des sog. „unechten“ ISDN-Anschlusses auf. Dabei stellt ein Anbieter dem Kunden über ein IAD eine S0-Schnittstelle zur Verfügung, ohne allerdings alle ISDN-Funktionen zu unterstützen. Es handelt sich dann meist um Anschlüsse auf der Basis von NGN. Eine klassische Übertragung per Uk0 im Basisband liegt dann nicht mehr vor. Diese Technik wird z. B. von Kabelnetzbetreibern mit einer Fritz!Box vom Hersteller AVM angeboten, da über das Kabelfernsehnetz nur Voice over Cable möglich ist. Physische Spezifikationen Verkabelung beim Mehrgeräteanschluss (Point-to-Multipoint) Bei einem Mehrgeräteanschluss erfolgt die Verbindung zur Ortsvermittlungsstelle ebenso wie bei einem analogen Anschluss über eine Kupfer-Doppelader. Die alte TAE-Dose ist eigentlich überflüssig geworden, bleibt meist jedoch aus Kostengründen (zum Anschluss eines NTBA durch den Kunden; NTBA mit Selbstmontage) bestehen. In der Regel wird der NTBA mit einem mitgelieferten Spezialkabel an die TAE-Dose angeschlossen. Der NTBA setzt das digitale Signal von der ankommenden zweiadrigen UK0- auf die vieradrige S0-Schnittstelle um. Alternativ sind in nebenstehendem Anschlussplan bei Verwendung von UAE-Dosen auch folgende Klemmenbezeichnungen möglich: 1a = 4; 1b = 5; 2a = 3; 2b = 6 Reichen die am NTBA vorhandenen Steckmöglichkeiten nicht aus oder sollen die Endgeräte räumlich getrennt aufgestellt werden, kann bei Bedarf ein bis zu 150 m langer passiver S0-Bus angeklemmt werden. Dafür sollten Leitungen mit mindestens 0,6 mm Aderndurchmesser verwendet werden, eine spezielle Abschirmung ist in der Regel nicht erforderlich; Leitungen der Kategorie 3 reichen aus. An maximal zwölf IAE- oder UAE-Dosen können gleichzeitig insgesamt bis zu acht Endgeräte angeschlossen werden, maximal vier Geräte können dabei über den NTBA mit Strom versorgt werden (12:8:4-Regel). Das Ende des S0-Busses sollte über zwei 100-Ω-Abschlusswiderstände terminiert werden. Diese Abschlusswiderstände verhindern eine Reflexion des Signals am offenen Ende des Bussystems. Ausschließlich bei einer theoretisch unendlich langen Leitung könnte die Terminierung vernachlässigt werden. Eine Installation mit dem NTBA in der Busmitte verlangt an beiden Bus-Enden Abschlusswiderstände, die Widerstände im NTBA sind in diesem Fall abzuschalten. Der NTBA ist kein Endgerät, sondern eine Netzkomponente: Den Übergang vom öffentlichen Telefonnetz in das teilnehmereigene Hausnetz (mit allen Rechten und Pflichten) bildet nicht wie beim analogen Anschluss die sogenannte 1. TAE, sondern der NTBA. Sind im Haus (schaltungstechnisch) vor dem NTBA noch analoge Zusatzgeräte (zum Beispiel Zusatzwecker oder Wechselschalter) vorhanden, müssen diese vor Inbetriebnahme des ISDN-Anschlusses abgebaut werden. Verkabelung beim Anlagenanschluss (Point-to-Point) Bei einem Anlagenanschluss wird an den NTBA beziehungsweise NTPM nur ein ISDN-Gerät angeschlossen. Das ist in der Regel eine Telefonanlage. Bei einem Basisanschluss ist die Verkabelung prinzipiell wie unter Mehrgeräteanschluss beschrieben, mit dem Unterschied, dass maximal eine Dose verwendet wird. Der Anschluss des NTBA an die Hausstromversorgung ist dabei nicht erforderlich (siehe Stromversorgung bei S0). Bei einem Primärmultiplexanschluss erfolgt die Verkabelung meist sechsadrig; zwei Doppeladern für die S2M-Schnittstelle und eine Doppelader für die Stromversorgung des NTPM, da dieser in der Regel durch die Telefonanlage mit Strom versorgt wird. Die Kabellänge zwischen dem NTBA und der Telefonanlage, als einzigem angeschlossenem Gerät, kann je nach verwendetem Kabeltyp maximal 500 bis 1000 m betragen. Neben speziellen ISDN-Kabeln (Westernstecker, zwei Aderpaare verwendet) können auch Netzwerkkabel zur Verbindung der Geräte verwendet werden. Stromversorgung Regelstromversorgung Um angeschlossene Geräte mit Strom versorgen zu können, erzeugt der an die Hausstromversorgung angeschlossene NTBA eine Speisespannung von 40 V. Diese wird über den S0-Bus zu den Endgeräten geleitet und darf mit maximal 4,5 W belastet werden. Die Speisung erfolgt dabei durch das Einkoppeln in die Signaladern. Um die Sende- und Empfangselektronik nicht zu behindern, wird die Spannung zwischen den Adernpaaren für die Sende- und Empfangsrichtung aufgebaut. Innerhalb eines Adernpaares ist also keine Spannung messbar. Dieses Konzept wird auch als Fernspeisung bezeichnet. Bei Regelstromversorgung liegt der Pluspol der Speisung an den Pins 3 und 6 des NTBA, der Minuspol an den Pins 4 und 5. Der Anschluss des NTBA an die 230-V-Versorgung ist nur dann notwendig, wenn direkt am NTBA oder an einem angeschlossenen S0-Bus Endgeräte ohne eigene Stromversorgung (z. B. ein ISDN-Telefon) angeschlossen werden sollen. Haben alle angeschlossenen Geräte eine eigene Stromversorgung, muss der NTBA nicht an die 230-V-Versorgung angeschlossen werden; die Energie für seinen eigenen Betrieb erhält der NTBA immer von der Vermittlungsstelle über die Teilnehmeranschlussleitung. Letztere Installationsform spart Energie und kann sich positiv auf die Lebensdauer des NTBA auswirken, da das integrierte Netzteil dann nicht in Betrieb ist und somit weniger Wärme erzeugt wird. Notstromversorgung Damit auch bei einem teilnehmerseitigen Stromausfall telefoniert werden kann, können geeignete ISDN-Telefone von der Ortsvermittlungsstelle mit Energie versorgt werden (Notstrombetrieb). Die Leistung, die der NTBA bei Stromausfall liefern kann, ist jedoch auf 380 mW begrenzt. Bei Notstrombetrieb kann nur ein einziges (notspeisefähiges und -berechtigtes) ISDN-Telefon versorgt werden, obwohl mehrere notspeisefähige Geräte am S0-Bus angeschlossen sein können, die jedoch keine Notspeiseberechtigung haben (dürfen), da das die Notspeisung überlasten würde bzw. eine Schutzabschaltung eintritt. Diese Option, den Notbetrieb bei einem Telefon zu aktivieren, ist in der Regel als mechanischer Schalter ausgeführt. Dadurch kann diese Einstellung auch im Fall eines bereits vorliegenden Notbetriebs noch geändert werden, da hier oft nur Grundfunktionen des ISDN-Telefons zur Verfügung stehen: Telefoniert werden kann ganz normal, aber apparateseitige Komfortmerkmale mit hohem Stromverbrauch (z. B. Freisprechen, Lauthören, Displaybetrieb) funktionieren im Notstrombetrieb meist nicht. Im Unterschied zur normalen Speisung wird die Notspeisespannung mit umgekehrter Polarität an die Leitungen des Busses angelegt. Dadurch erkennen ISDN-Endgeräte den Notstrombetrieb. Nicht alle Telefontypen sind notspeisefähig. So brauchen beispielsweise die Basisstationen von Schnurlostelefonen auf jeden Fall eine lokale Spannungsversorgung, die bei Netzausfall z. B. aus einer USV erfolgen kann. Logische Spezifikationen Implementierungen In Deutschland wurde ursprünglich ISDN nach dem nationalen Standard 1TR6 angeboten, seit 1991 existiert jedoch ein europaweit einheitlicher ISDN-Standard (DSS1); ISDN mit DSS1-Protokoll wird auch als Euro-ISDN bezeichnet. Außerhalb Europas und in Telefonanlagen kommen auch andere Implementierungen zum Einsatz. Die letzten ISDN-Anschlüsse, die noch das nationale 1TR6-Protokoll unterstützten, wurden im Dezember 2006 endgültig auf das DSS1-Protokoll umgestellt. In den USA gibt es ISDN unter dem Namen NI-1 (US National ISDN Phase 1) und NI-2. Die Datenübertragungsrate der Nutzkanäle (B-Kanäle) beträgt wegen der in Nordamerika verwendeten PCM-Kodierung und Sprachkompression (μ-law) dabei nur 56 kbit/s. In Japan und Hongkong gibt es ISDN-Systeme mit dem Namen INS-Net 64, in Australien TPH 1962. Sprachübertragung Die Sprachsignale werden für die Übertragung im Euro-ISDN mit einer Abtastrate von 8 kHz digitalisiert (Puls-Code-Modulation, PCM) und mit Hilfe einer logarithmischen Kennlinie, die die Besonderheiten der menschlichen Wahrnehmung berücksichtigt (ITU-T-Standard G.711, A-law-Verfahren), zu 8 Bit pro Abtastwert codiert. Damit ergibt sich die für ISDN typische Übertragungsgeschwindigkeit von 64 kbit/s (8000-mal pro Sekunde 8 Bit). Übertragen wird der Frequenzbereich von 300 bis 3400 Hz. Es ist jedoch auch möglich, den Codec G.722 über ISDN zu übertragen (siehe HD-Telefonie), da dieser auch 64 kbit/s Bandbreite benötigt. Dieser überträgt die Frequenzen von 50 Hz bis 7000 Hz. Beide Gegenstellen müssen dabei HD-fähig sein. Datenübertragung Die B-Kanäle sind bittransparent und synchron, sodass beliebige Leitungscodes verwendet werden können. Um eine Verdoppelung der Datenübertragungsrate zu erreichen, können die beiden B-Kanäle eines Basisanschlusses auch gebündelt werden. Um diese Möglichkeit zu nutzen, sind Endgeräte erforderlich, die in der Lage sind, die beiden B-Kanäle zu synchronisieren (beispielsweise ISDN-PC-Karten oder Videokonferenzsysteme). Mit Hilfe geeigneter Router können mehrere oder alle Nutzkanäle eines Primärmultiplexanschlusses gebündelt werden. Dadurch können Datenübertragungsraten bis zu 1920 kbit/s (netto) erzielt werden. Diese Möglichkeit wird insbesondere für die Vernetzung von entfernten Standorten innerhalb eines Firmennetzwerks oder für Standleitungen ins Internet genutzt. V.110 V.110 ist ein Protokoll der ITU-T zur Nutzung von Endgeräten mit Schnittstellen der V-Serie (zum Beispiel V.24-Schnittstelle) an diensteintegrierenden Netzen. V.110 realisiert eine Bitratenadaption zur Anpassung der Datenübertragungsrate von langsamen Endgeräten, z. B. Modems, an ISDN. Die Datenübertragungsraten sind bis 19,2 kbit/s standardisiert; bei den meisten V.110-kompatiblen Terminaladaptern sind jedoch Datenübertragungsraten bis 38,4 kbit/s verfügbar. Jedes Bit der V-Schnittstelle wird in ein Bit des 64 kbit/s-Stromes des B-Kanals abgebildet, die Restkapazität wird mit Füllbits gefüllt. Bei einigen Implementierungen können niedrigere Geschwindigkeiten im Multiplexverfahren genutzt werden. Die in V.110 beschriebene Bitratenadaption wird oft auch außerhalb von ISDN verwendet. V.120 V.120 ist eine Weiterentwicklung des Protokolls V.110. Die standardisierte Datenübertragungsrate beträgt hier bis zu 56 kbit/s. V.120 sieht Möglichkeiten für statistisches Multiplexen vor. Signalisierung Die Signalisierung erfolgt bei ISDN Out-of-Band – sie wird auf einem eigenen Kanal übertragen, und nicht wie im analogen Netz beispielsweise mit Hilfe des Mehrfrequenzwahlverfahrens im Sprachkanal. Dadurch funktionieren der Verbindungsaufbau und die Steuerung der vermittlungstechnischen Leistungsmerkmale sicherer und schneller. Technisch wird für die Signalisierung der D-Kanal genutzt, der bei Basisanschlüssen eine Datenrate von 16 kbit/s und bei Primärmultiplexanschlüssen von 64 kbit/s hat. Im Kernnetz wird für die Signalisierung zwischen den Vermittlungsstellen auf den sogenannten Zentralen Zeichengabekanälen das Protokoll Signalling System No 7 verwendet. Referenzpunkte und Schnittstellen Ein ISDN-Anschluss besteht aus zwei Teilen: aus der Teilnehmeranschlussleitung (beim Basisanschluss die UK0-Schnittstelle; beim Primärmultiplexanschluss die UK2-Schnittstelle) und der hausinternen Verkabelung (beim Basisanschluss der S0-Bus; beim Primärmultiplexanschluss die S2M-Schnittstelle). Die Teilnehmeranschlussleitung wird durch einen Netzabschluss abgeschlossen (beim Basisanschluss NTBA; beim Primärmultiplexanschluss NTPM). Funktionseinheiten: ET: Exchange Termination (Vermittlungsabschluss) (Ortsvermittlungsstelle) Vermittlungsstelle (Schichten 1 bis 3) LT: Line Termination (Leitungsabschluss) (Ortsvermittlungsstelle) Leitungsübertragungseinrichtung Umsetzung zwischen relativ niedrigratigem Teilnehmeranschluss und hochratigem Multiplexanschluss auf der Vermittlungsseite NT1: Network Termination 1 (NTBA) Schicht 1 NT2: Network Termination 2 Schicht 1 bis 3 optional, erfüllt (wenn vorhanden) vermittelnde oder konzentrierende Aufgaben (z. B. eine Telefonanlage) TA: Terminal Adaptor (Terminaladapter, a/b-Wandler) passt TE2 an die Anforderungen von NT1 bzw. NT2 an TE1: Terminal Equipment Type 1 (ISDN-Endgerät) Gerät, das allen ISDN-Interface-Empfehlungen genügt TE2: Terminal Equipment Type 2 (nicht ISDN-fähiges Endgerät) Gerät, das die ISDN-Interface-Empfehlungen nicht erfüllt Die Schnittstelle zu Software wird meist durch die CAPI hergestellt. Unter Linux wurden früher auch die Hisax-Treiber verwendet. Adressierung bei ISDN ISDN-Adressen sind nach der ITU-T-Richtlinie E.164 festgelegt. Die ISDN-Adresse besteht aus der ISDN-Rufnummer und -Subadresse. Die ISDN-Rufnummer adressiert zum Beispiel einen Teilnehmer an einem Basisanschluss. Die Subadresse ist maximal 32 Zeichen lang und dient zum Beispiel zur Adressierung eines Hosts in einem LAN (dieses muss dazu über ein geeignetes Gateway am ISDN angeschlossen sein). Die Subadresse ist für ISDN transparent und nur den nutzenden Teilnehmern bekannt. ISDN-Emulation über NGN Seit der zunehmenden Migration der leitungsvermittelten Festnetze hin zur NGN-Netztopologie bieten einige Anbieter mittels IP-Telefonie „ISDN“ über vorhandene DSL-Anschlüsse als sogenannte ISDN-NGN-Anschlüsse an. Das erfolgt dort, wo der Anbieter keine eigenen Ortsvermittlungsstellen unterhält bzw. diese nicht mehr weiter ausbaut und seine Telekommunikationsdienstleistung stattdessen exklusiv mittels Datenanschluss-Vorleistung (Bitstromzugang, T-DSL-Resale) oder eigenen DSLAMs anbietet. Anstatt durch den NTBA erfolgt der Netzabschluss mit dem für ISDN-Endgeräte bereitgestellten ISDN-S0-Bus durch ein Integrated Access Device und die Kommunikation läuft IP-basiert über ein SIP-Gateway. Dabei werden ISDN-typische Merkmale nachgebildet bzw. emuliert; es handelt sich aber um keinen vollwertigen DSS1-ISDN-Anschluss. Aufgrund eines fehlenden Datenkanals werden meist nur Sprachdienste unterstützt – zahlreiche ISDN-Dienstmerkmale stehen somit nicht zur Verfügung (z. B. Gruppe-4-Telefax, B-Kanalbündelung, Datex-P, Parken/Entparken). Meist fehlt auch die Notspeisefähigkeit. Bei einem Ausfall der regulären Energieversorgung ist der Teilnehmer eines solchen emulierten ISDN-Anschlusses bei fehlender USV nicht erreichbar und kann nicht telefonieren – anders als bei einem Anschluss mit Notspeisung. Selbst bei vorhandener USV muss allerdings beachtet werden, dass ein evtl. zwischengeschalteter Outdoor-DSLAM nicht notstromversorgt ist und somit die Kommunikation trotzdem ausfällt – im Gegensatz zu ISDN. Hier wurde die Vermittlungsstelle meist über Stützbatterien und Notstromaggregate notversorgt; außerhalb der Vermittlungsstellen war im Normalfall nur passive Technik (Kabelverzweiger) eingesetzt. Mit ISDN over IP existiert ein proprietäres Protokoll, das ISDN mit allen Leistungsmerkmalen auch über Voice-over-IP-Verbindungen ermöglicht, aber wegen des kostengünstiger realisierbaren SIP kaum Anwendung findet. Literatur Peter Kahl: ISDN – Das neue Fernmeldenetz der Deutschen Bundespost Telekom. R. v. Decker, Heidelberg 1992, ISBN 3-7685-0592-8. Andreas Kanbach, Andreas Körber: ISDN – Die Technik. Hüthig, Heidelberg 1999, ISBN 3-7785-2288-4. Torsten Schulz: ISDN am Computer. Springer, Berlin / Heidelberg 1998, ISBN 3-540-62783-9. Wolf-Dieter Haaß: Handbuch der Kommunikationsnetze. Einführung in die Grundlagen und Methoden der Kommunikationsnetze. Springer, Berlin Heidelberg 1997, ISBN 3-540-61837-6. Peter Bocker: ISDN – Digitale Netze für Sprach-, Text-, Daten-, Video- und Multimediakommunikation. Springer, Berlin / Heidelberg 1997, ISBN 3-540-57431-X. Horst Frey: ISDN selbst anschließen und einrichten. Franzis, Poing 2003, ISBN 3-7723-4237-X. Weblinks Liste der Standards zu ISDN Beschreibung des ISDN-Protokolls BITCOM/ZVEI Forum 10: Installation von Endeinrichtungen der Telekommunikation (u. a. Erläuterung von sternförmigem S0-Bus) (PDF; 2,2 MB) Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kunststoff
Kunststoff
Als Kunststoffe (auch Plaste, selten Technopolymere, umgangssprachlich Plastik) werden Werkstoffe bezeichnet, die hauptsächlich aus Makromolekülen bestehen. Wichtige Merkmale von Kunststoffen sind ihre technischen Eigenschaften, wie Formbarkeit, Härte, Elastizität, Bruchfestigkeit, Temperatur-, Wärmeformbeständigkeit und chemische Beständigkeit, die sich durch die Wahl der Makromoleküle, Herstellungsverfahren und in der Regel durch Beimischung von Additiven in weiten Grenzen variieren lassen. Kunststoffe werden bezüglich ihrer physikalischen Eigenschaften in drei großen Gruppen unterteilt: Thermoplaste, Duroplaste und Elastomere. Die ISO 1043 legt für eine große Anzahl von Kunststoffen Kurzzeichen fest. Kunststoffe werden zu Formteilen, Halbzeugen, Fasern oder Folien weiterverarbeitet. Sie dienen als Verpackungsmaterialien, Textilfasern, Wärmedämmung, Rohre, Bodenbeläge, Bestandteile von Lacken, Klebstoffen und Kosmetika, in der Elektrotechnik als Material für Isolierungen, Leiterplatten, Gehäuse, im Fahrzeugbau als Material für Reifen, Polsterungen, Armaturenbretter, Benzintanks und vieles mehr. Die jeweiligen Makromoleküle eines Kunststoffes sind Polymere und daher aus wiederholenden Grundeinheiten aufgebaut. Die Größe der Makromoleküle eines Polymers variiert zwischen einigen tausend bis über eine Million Grundeinheiten. Beispielsweise besteht das Polymer Polypropylen (Kurzzeichen PP) aus sich vielfach wiederholenden Propyleneinheiten. Die Polymere können unverzweigte, verzweigte oder vernetzte Moleküle sein. Die Polymere können aus Naturstoffen gewonnen oder rein synthetisch sein. Synthetische Polymere werden durch Kettenpolymerisation, Polyaddition oder Polykondensation aus Monomeren oder Prepolymeren erzeugt. Halbsynthetische Kunststoffe entstehen durch die Modifikation natürlicher Polymere (vorwiegend Zellulose zu Zelluloid), während andere bio-basierte Kunststoffe wie Polymilchsäure oder Polyhydroxybuttersäure durch die Fermentation von Zucker oder Stärke hergestellt werden. Zwischen 1950 und 2015 wurden weltweit rund 8,3 Mrd. Tonnen Kunststoff hergestellt – das ergibt etwa eine Tonne pro Kopf der Weltbevölkerung. Die Hälfte der Produktion stammt aus den letzten 13 Jahren. Von dieser Menge wurden ca. 6,3 Mrd. Tonnen zu Abfall, der zu 9 % recycelt, zu 12 % verbrannt und zu 79 % auf Müllhalden deponiert wurde bzw. sich in der Umwelt anreichert. Kunststoffe im Allgemeinen stehen wegen der Abfallproblematik und möglicher Gesundheitsgefahren in der Kritik. Entwicklungsgeschichte der Kunststoffe Vorstufe Biopolymere und natürlich vorkommende Polymere werden von Menschen schon seit Urzeiten verwendet. Alle Tiere und Pflanzen enthalten in ihren Zellen Polymere. Holz diente dem Menschen zunächst als Brennholz und Werkzeug, etwa als Wurfholz, Speer und als Baumaterial. Der Zellverband Tierhaut oder Fell wurde durch Gerben stabilisiert, damit vor dem raschen Verwesen geschützt und so zu haltbarem Leder. Aus Wolle, abgeschnittenen Tierhaaren, wurden durch Verspinnen und Weben oder durch Filzen Bekleidung und Decken hergestellt. Birken lieferten den ersten Kunststoff der Menschheitsgeschichte, das aus Birkenrinde durch Trockendestillation gewonnene Birkenpech, das sowohl Neandertalern als auch dem steinzeitlichen Homo sapiens als Klebstoff bei der Herstellung von Werkzeugen diente. In Mesopotamien wurden Wasserbecken und Kanäle mit natürlichem Asphalt abgedichtet. Ebenso wurden dort bestimmte Baumharze als Gummi Arabicum eingesetzt und nach Europa exportiert. Aus Europa ist Bernstein als fossiles Harz für die Verwendung bei Pfeilspitzen und Schmuckgegenständen bekannt. Im Mittelalter wurde Tierhorn durch bestimmte Verfahrensschritte in einen plastisch verformbaren Stoff verwandelt. Bereits um 1530 wurde im Hause der Fugger nach einem Rezept des bayerischen Benediktinermönches Wolfgang Seidel transparentes Kunsthorn aus Ziegenkäse gefertigt und vertrieben. Industriegeschichte Frühe Entwicklungen Im 17. und 18. Jahrhundert brachten Naturforscher aus milchigen Baumsäften gewonnene, elastische Massen (Kautschuk) aus Malaysia und Brasilien mit. Für diese wurde in Deutschland der Begriff Gummi eingeführt. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine rasch wachsende Gummiindustrie. Der Erfinder Charles Goodyear stellte 1839 fest, dass sich Kautschuk bei Hitzeeinwirkung durch Zusatz von Schwefel in Gummi umwandelt. Dieser Prozess wird Vulkanisation genannt. Charles Goodyear fertigte aus dem neuen Material zunächst Gummihandschuhe. Um 1850 entdeckte er außerdem Hartgummi, ein durch Erhitzen in Gegenwart von Schwefel erhärteter Naturkautschuk, der anfangs als Ebonit vermarktet wurde. Daraus wurden zum Beispiel Schmuckstücke, Füllfederhalter, Klaviertasten, Tabakpfeifen und Teile von Telefonen hergestellt. Dieser erste Duroplast startete die Entwicklung der Kunststoffe als Werkstoff im Umfeld des Menschen. Die Entwicklung des Zelluloids ist mehreren Chemikern zu verdanken. Christian Friedrich Schönbein entwickelte 1846 die Schießbaumwolle, indem er Baumwolle mit Salpetersäure versetzte. Der Engländer Maynard löste Schießbaumwolle in einem Ethanol-Äther-Gemisch und erhielt nach Verdampfung elastische Häutchen (Kollodium). Der Engländer Cuttin verknetete das Kollodium mit alkoholischer Campherlösung zu Zelluloid. Im Jahr 1869 nutzte John Wesley Hyatt das Zelluloid als Kunststoff und entwickelte drei Jahre später die erste Spritzgussmaschine. Später wurde in England das Zellulosenitrat zur Imprägnierung von Textilien entwickelt. Max Fremery und Johann Urban lösten mit einer ammoniakalischen Kupferhydroxidlösung Zellulose auf. Mit dieser Lösung (Cupro) konnten leicht Kupfer-Reyon-Fäden als erste Viskosefaser hergestellt werden. Adolf von Baeyer beschrieb 1872 die Polykondensation von Phenol und Formaldehyd. Der belgische Chemiker Leo Hendrik Baekeland untersuchte die Wirkung von Säure und Alkali bei dieser Reaktion und entwickelte 1907 ein Verfahren (seit 1909 in der technischen Produktion) zur Herstellung und Weiterverarbeitung eines Phenolharzes. Dieser von ihm Bakelit getaufte Kunststoff war der erste in großen Mengen industriell hergestellte, synthetische Duroplast. Dank seiner Eignung als elektrischer Isolator wurde er unter anderem in der aufstrebenden Elektroindustrie eingesetzt. Wilhelm Krische und Adolf Spittler entwickelten 1885 das Galalith (Kunsthorn). Der Kunststoff ähnelt stark dem tierischen Horn oder Elfenbein. Das Kunsthorn wird aus Kasein und Formaldehydlösung hergestellt. Daraus wurden zum Beispiel Knöpfe, Anstecknadeln, Gehäuse für Radios, Zigarettendosen, Spielzeuge, Griffe für Regenschirme in den verschiedensten Farben gefertigt. Der deutsche Chemiker Fritz Hofmann meldete 1909 ein Patent auf den synthetischen Kautschuk Methylkautschuk an. Die ersten vollsynthetischen Reifen aus Isoprenkautschuk wurden 1912 hergestellt. Der Berliner Apotheker Eduard Simon beschrieb im Jahr 1839 das Polystyrol. Das Styrol verwandelte sich zunächst in eine gallertartige Masse. Im Jahr 1909 untersuchte Hans Stobbe die Polymerisationsreaktion von Styrol detailliert. Erst zwanzig Jahre später wurde diese Entdeckung genutzt. Im Jahr 1835 entdeckte Victor Regnault das Vinylchlorid, aus dem sich Polyvinylchlorid (PVC) herstellen ließ. Die erste Patentierung von PVC und von Polymeren aus Vinylacetat geht auf Fritz Klatte im Jahr 1912 zurück. Als weltweiter Pionier der Kunststoffverarbeitung gilt aber Coroplast, das sich als eines der ersten Unternehmen mit der Verarbeitung des PVC beschäftigte. Erst 1950 wurde dieses Verfahren durch Verbesserungen von Dow Chemical abgelöst. Schon 1901 befasste sich Otto Röhm mit der Herstellung von Acrylsäure und Acrylsäureestern, aber erst 1928 fand er die für die Polymerisation besser geeigneten Methacrylsäuremethylester (MMA). Das 1933 erteilte Patent für Polymethylmethacrylat (PMMA, Markenname Plexiglas) startete eine neue Ära. Entwicklung der Polymerchemie Bis Ende des 19. Jahrhunderts war wenig über die genauen Strukturen polymerer Materialien bekannt. Aus Dampfdruck- und Osmosemessungen war bekannt, dass es sich um sehr große Moleküle mit hoher Molmasse handeln müsste. Fälschlicherweise bestand die Meinung, dass man es mit kolloidalen Strukturen zu tun habe. Als Vater der Polymerchemie gilt der deutsche Chemiker Hermann Staudinger. Bereits 1917 äußerte er vor der Schweizerischen Chemischen Gesellschaft, dass „hochmolekulare Verbindungen“ aus kovalent gebundenen, langkettigen Molekülen bestehen. 1920 veröffentlichte er in den Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft einen Artikel, der als Begründung der modernen Polymerwissenschaften gilt. Vor allem in den Jahren von 1924 bis 1928 folgten weitere wichtige Theorien über den Aufbau von Kunststoffen, die die Grundlage für das heutige Verständnis dieser Werkstoffklasse bilden. Für diese Arbeiten erhielt Staudinger 1953 den Nobelpreis. Die Arbeiten Staudingers ermöglichten der chemischen Industrie nun, basierend auf gesicherten naturwissenschaftlichen Grundlagen, eine rasante Entwicklung auf dem Gebiet der Polymerchemie. Der Münchner Chemiker Ernst Richard Escales gab 1910 der Werkstoffgruppe den Namen „Kunststoffe“. Die von ihm gegründete gleichnamige Zeitschrift erschien erstmals 1911. Bei dem Unternehmen Imperial Chemical Industries (ICI) in Großbritannien wurde unter hohem Druck (200 bar) und bei hohen Temperaturen im Jahre 1933 erstmals Polyethylen hergestellt. Erst zwanzig Jahre später entwickelte Karl Ziegler ein Verfahren, das mit Katalysatoren aus Aluminiumalkylen und Titantetrachlorid die Polymerisation von Ethen zu Polyethylen schon bei Raumtemperatur erlaubt. Das Niederdruck-Polyethylen erwies sich als wärmestabiler und mechanisch belastbarer. Kurz darauf fanden Ziegler und Giulio Natta einen Katalysator zur Polymerisation von Propen zu Polypropylen. 1955–1957 liefen die großtechnischen Synthesen von Polyethylen und Polypropylen an. Heute sind die so hergestellten Polyethylene (PE) und Polypropylen (PP) neben Polystyrol (PS) die am häufigsten als Verpackungsmaterialien von Lebensmitteln, Kosmetika etc. verwendeten Kunststoffe. Ziegler und Natta erhielten im Jahre 1963 für ihre Arbeiten den Nobelpreis für Chemie. Kunststoffe aus Polyestern wurden schon sehr früh angedacht (Berzelius, 1847). 1901 gab es Glyptalharze (aus Glycerin und Phthalsäure). Fritz Hofmann, Wallace Hume Carothers und Paul Schlack suchten erfolglos nach synthetischen Fasern auf Basis von Polyestern. Erst den Briten Whinfield und Dickson gelang bei Calico Printers im Jahre 1941 die Herstellung von brauchbaren Polyesterfasern (Polyethylenterephthalat, PET). Wichtige Polyesterfasern wurden Dacron (DuPont), Diolen (ENKA-Glanzstoff), Terylen (ICI), Trevira (Hoechst). In Ludwigshafen begann 1934 die Herstellung von Epoxidharzen nach einem Verfahren von Paul Schlack. 1935 wurde gleichzeitig von Henkel (Mainkur) und Ciba (Schweiz) die Entwicklung von Melaminharz beschrieben. Im Jahr 1931 meldete der US-Chemiker Wallace Hume Carothers bei DuPont ein Patent für ein Polyamid aus Hexamethylendiamin und Adipinsäure an. Erst sieben Jahre später war die neue Kunstfaser Nylon (1938) verkaufsfähig. Das von Paul Schlack 1937 hergestellte Polyamid 6 auf Basis von Caprolactam wurde Perlon getauft. Die großtechnische Herstellung begann 1939 bei den IG-Farben. Das Herstellungsverfahren von Perlon in Deutschland war preiswerter als die Nylonproduktion in den USA. Etwa zeitgleich begannen die Buna-Werke der I.G. Farben mit der Fertigung von Buna (Buna S und Buna N) als synthetischem Gummi-Ersatz. 1939 entwickelte Otto Bayer das Polyurethan (PU) in Leverkusen. Bei DuPont wurde 1938 von R.J. Plunkett der Kunststoff Polytetrafluorethylen (Teflon) entwickelt, der eine hohe Temperaturbeständigkeit und eine außergewöhnliche chemische Beständigkeit aufwies. Die Verarbeitung bereitete jedoch Probleme. Erst 1946 ging Teflon in die Großproduktion. Silikon hatte im Jahr 1901 bereits Frederic Stanley Kipping aus Silanonen hergestellt. Erst durch die Synthese von Organosiliciumhalogeniden mit Alkylhalogeniden gelang es 1944 in den USA und Deutschland, Silikon günstig herzustellen (Eugene G. Rochow, Richard Müller). Seit Anfang der 1930er Jahre war die Polymerisation von Acrylnitril bekannt. Es war als Kunststoff jedoch so nicht brauchbar. Der Chemiker Rein konnte Polyacrylnitril in Dimethylformamid lösen und so für die Kunststoffproduktion brauchbar machen. 1942 wurde bei den IG Farben ein Polymerisationsverfahren zu Polyacrylnitril entwickelt. 1942 entdeckte Harry Coover (USA) bei Eastman Kodak den „Sekundenkleber“ Methylcyanacrylat. Einteilung Je nach Blickwinkel des Betrachters und Anforderung können Kunststoffe verschiedenartig eingeteilt werden. Gängig sind Einteilungen nach mechanisch-thermischem Verhalten (häufigste Einteilung), Ursprung (natürlich oder synthetisch), Verwendung oder Entstehungsreaktion. Eine strenge Abgrenzung einzelner Kunststoffe ist oft nicht möglich, diese Einteilungen bieten allerdings eine gute Übersicht. Einteilung nach mechanisch-thermischem Verhalten Die Einteilung nach mechanisch-thermischem Verhalten erfolgt in Thermoplaste, Duroplaste und Elastomere. Außerdem existieren mit deutlich untergeordneter Bedeutung thermoplastische Elastomere und reversible Duroplaste. Diese Einteilung ist anwendungstechnischer Herkunft. Die unterschiedlichen Polymerklassen unterscheiden sich in ihren mechanischen Eigenschaften aufgrund der unterschiedlichen Vernetzung und ihrer Hitzebeständigkeit (Schmelzpunkt). {| class="wikitable" style="text-align:left; font-size:90%; width:70%;" |- class="hintergrundfarbe2" style="vertical-align:top" | Duroplaste bestehen aus engmaschig vernetzten Polymeren. Vernetzungen sind in der Abbildung als rote Punkte dargestellt. | Elastomere bestehen aus weitmaschig vernetzten Polymeren. Die Weitmaschigkeit erlaubt unter Zugbelastung eine Streckung des Materials. | Thermoplaste bestehen aus unvernetzten Polymeren, oft mit einer teilkristallinen Struktur (rot dargestellt). Sie haben eine Glastemperatur und sind schmelzbar. |} Thermoplaste Thermoplaste sind Kunststoffe, die aus langen linearen Molekülen bestehen. Durch Energiezufuhr werden diese Materialien beliebig oft weich und formbar (plastisch) und schmelzen schließlich. Sie können durch verschiedene Ur- und Umformverfahren in die gewünschte Form gebracht werden. Nachdem das Werkstück abgekühlt ist, behält es seine Form bei. Dieser Prozess ist somit reversibel (lat. umkehrbar). Ursache für dieses Verhalten sind fadenförmige, lineare Makromoleküle. Die meisten der heute verwendeten Kunststoffe fallen unter diese Gruppe (Polyethylen, Polypropylen, Polystyrol, Polyester). Für einfache Konsumwaren, Verpackungen etc. werden sie ebenso häufig eingesetzt wie für technische Teile in der Automobil- und Elektroindustrie oder in der Bauindustrie, insbesondere für Dachbahnen, Fensterprofile und Rohre. Um neue, bisher noch nicht vorhandene Eigenschaften zu erzeugen, können zwei oder mehrere (miteinander verträgliche) Thermoplaste vermischt werden (Polymerblend). Teilkristalline Thermoplaste (Beispiele): POM – Polyoxymethylen, PE – Polyethylen, PP – Polypropylen, PA – Polyamid, PET – Polyethylenterephthalat, PBT – Polybutylenterephthalat. Amorphe Thermoplaste (Beispiele): ABS – Acrylnitril-Butadien-Styrol, PMMA – Polymethylmethacrylat, PS – Polystyrol, PVC – Polyvinylchlorid, PC – Polycarbonat, SAN – Styrol-Acrylnitril-Copolymer, PPE – Polyphenylenether. Duroplaste Duroplaste (Duromere) sind Polymere, die in einem Härtungsprozess aus einer Schmelze oder Lösung der Komponenten durch eine Vernetzungsreaktion hervorgehen. Diese irreversible Reaktion wird meist durch Erhitzen bewirkt (daher der englische Fachterminus thermosets), kann aber auch durch Oxidationsmittel, energiereiche Strahlung oder Einsatz von Katalysatoren initiiert und beschleunigt werden. Eine Erwärmung von Duroplasten führt nicht zu einer plastischen Verformbarkeit, sondern lediglich zu deren Zersetzung. Ausgehärtete Duroplaste sind meist hart und spröde sowie im weitergehenden Fertigungsprozess nur noch mechanisch bearbeitbar. Ursache für dieses Verhalten sind die raumvernetzten Makromoleküle. Wegen ihrer mechanischen und chemischen Beständigkeit auch bei erhöhten Temperaturen werden sie häufig für Elektroinstallationen verwendet. Der verbreitetste und älteste Kunststofftyp dieser Klasse sind die Phenoplaste. In diese Gruppe fallen auch Polyesterharze, Polyurethanharze für Lacke und Oberflächenbeschichtungen und praktisch alle Kunstharze wie beispielsweise Epoxidharze. Elastomere Durch Druck oder Dehnung können Elastomere ihre Form kurzzeitig verändern, nach Beendigung von Druck oder Dehnung nimmt das Elastomer schnell wieder seine ursprüngliche Form an. Die Elastomere sind weitmaschig vernetzt und daher flexibel. Sie werden beim Erwärmen nicht weich und sind in den meisten Lösemitteln nicht löslich. Zu den Elastomeren gehören alle Arten von vernetztem Kautschuk. Die Vernetzung erfolgt beispielsweise durch Vulkanisation mit Schwefel, mittels Peroxiden, Metalloxiden oder Bestrahlung. Elastomere werden zu 60 % für Reifen verwendet. Der Rest verteilt sich auf sonstige Gummiartikel, zum Beispiel Chemikalienhandschuhe und Hygieneartikel. Elastomere sind Naturkautschuk (NR), Acrylnitril-Butadien-Kautschuk (NBR), Styrol-Butadien-Kautschuk (SBR), Chloropren-Kautschuk (CR), Butadien-Kautschuk (BR) und Ethylen-Propylen-Dien-Kautschuk (EPDM). Einteilung nach Ursprung Unter chemischen Gesichtspunkten können Kunststoffe als makromolekulare Stoffe mit anderen makromolekularen Stoffen verglichen werden. Die verschiedenen makromolekularen Stoffe können dann nach Ursprung eingeteilt werden in: Natürliche makromolekulare Stoffe, wie Kohlenwasserstoffe (Kautschuk, Balata), Polysaccharide (Cellulose, Stärke, Pektin, Chitin, Baumwolle) und Proteine (Kollagen, Wolle, Seide) Derivate von natürlichen makromolekularen Stoffen, wie Cellulosenitrat, Leder oder Gelatine Synthetische makromolekulare Stoffe Derivate von synthetischen Polymeren (Modifikation beispielsweise durch Verseifung, Einführung von reaktiven Gruppen oder nachträgliche Vernetzung) Nur ein Teil der aufgeführten makromolekularen Stoffe sind Kunststoffe im engeren Sinn, da Kunststoffe als Stoffe definiert sind, die auf Polymeren basieren und außerdem als Werkstoffe bei der Verarbeitung „plastische“ Zustande durchlaufen. Trotzdem kann diese Einordnung zum Verständnis beitragen. Einteilung nach Anwendung Je nach Preis, Produktionsvolumen und Verwendungsmöglichkeit können Thermoplaste in die vier Anwendungsklassen eingeteilt werden: Standardkunststoffe, technische Kunststoffe, Funktionskunststoffe und Hochleistungskunststoffe. Standardkunststoffe (auch: Massenkunststoffe) sind sehr vielseitig einsetzbar und werden in großen Mengen hergestellt. Standardkunststoffe werden häufig als Verpackungsmaterial verwendet, zu ihnen gehören beispielsweise Polyethen oder Polyvinylchlorid. Technische Kunststoffe verfügen über bessere mechanische Eigenschaften als Standardkunststoffe und behalten diese noch oberhalb von 100 °C und unterhalb von 0 °C. Technische Kunststoffe werden häufig für technische Konstruktionen verwendet, zu ihnen zählen beispielsweise Polyethylenterephthalat und einige aliphatische Polyamide. Funktionskunststoffe dienen nur einer einzigen Funktion, wie beispielsweise als Barriere für Aromen und Gase in Kunststoffverpackungen. Duroplaste können nicht nach diesem Schema eingeordnet werden, sondern bilden eine eigene Klasse. Hochleistungskunststoffe zeichnen sich gegenüber Standard-, technischen und Spezialkunststoffen durch ihre Wärmeformbeständigkeit und z. T. auch gute mechanische Eigenschaften aus. Während die Wärmeformbeständigkeit von Standardkunststoffen meist nur etwa 100 °C beträgt und die von technischen Kunststoffen bis zu 150 °C erreicht, können Hochleistungsthermoplaste Temperaturen von bis zu 300 °C standhalten. Hochleistungskunststoffe sind mit etwa 20 € pro kg recht teuer; ihr Marktanteil beträgt nur etwa 1 %. Der Vergleich von Standardkunststoffen, technischen Kunststoffen und Hochleistungskunststoffen wird durch die folgende Abbildung veranschaulicht: Einteilung nach Entstehungsreaktion Kunststoffe werden durch verschiedene Polyreaktionen erzeugt: Polymerisation, Polykondensation und Polyaddition. Entsprechend wird das Produkt entweder als Polymerisat, als Polykondensat oder als Polyaddukt bezeichnet. Internationales Kurzzeichensystem Einzelne Kunststoffe werden nach einem weltweit standardisierten Kurzzeichen-System bezeichnet, das für Deutschland in der DIN EN ISO 1043 Teil 1:2016-09: Basis-Polymere und ihre besonderen Eigenschaften, der DIN ISO 1629:2015-03: Kautschuk und Latices – Nomenklatur (ISO 1629:2013) sowie DIN EN ISO 18064:2015-03: Thermoplastische Elastomere – Nomenklatur und Kurzzeichen (ISO 18064:2014; Deutsche Fassung EN ISO 18064:2014) geregelt ist. Eigenschaften Kunststoffe zeichnen sich, verglichen mit keramischen oder metallischen Werkstoffen, durch eine Reihe von ungewöhnlichen Eigenschaften aus: Dichte und Festigkeit Die Dichte der meisten Kunststoffe liegt zwischen 0,8 und 2,2 g·cm−3. Sie ist damit geringer als die metallischer (von Mg 1.8 bis Cu 8.5 g·cm−3) oder keramischer Werkstoffe (von ca. 2.2 bis 6 g·cm−3). In Bezug auf die mechanischen Eigenschaften sind Kunststoffe anderen Werkstoffklassen häufig unterlegen. Ihre Festigkeit und Steifigkeit erreicht meist nicht die von Metallen oder Keramiken. Wegen der geringen Dichte kann das jedoch teilweise mit konstruktiven Mitteln (höhere Wandstärken) oder dem Einsatz von faserverstärkten Kunststoffen kompensiert werden. Obwohl die Festigkeiten vergleichsweise niedrig sind, brechen Kunststoffteile durch ihre meist gute Zähigkeit weniger leicht als beispielsweise Keramik oder Glas. Deshalb werden Gebrauchsgegenstände für Kinder und Spielzeug vielfach aus Kunststoff gefertigt. Chemische Beständigkeit Die chemische Beständigkeit von Kunststoffen weist ein großes Spektrum auf. Während sich Teflon weitgehend inert gegenüber dem meisten Chemikalien verhält, reagieren etwa Naturkautschuk, EPM/EPDM und Silikonkautschuk sowie teilweise auch Polyethylen, Polypropylen, Butylkautschuk, Hypalon, Neopren und Weich-PVC bereits auf Pflanzenöle und tierische Fette empfindlich. ABS, Polystyrol, SAN und SB sind bei Kontakt mit Pflanzenöl spannungsrissgefährdet. Im Gegensatz zu Metallen sind viele Kunststoffe aufgrund ihrer organischen Natur beständig gegenüber anorganischen Medien. Das schließt Mineralsäuren, Laugen, sowie wässrige Salzlösungen ein. Aus diesem Grund fanden Kunststoffe weite Verbreitung zur Herstellung von pflegeleichten Haus- und Elektrogeräten, Fahrzeugausstattungen, Spielzeugen usw. Im Gegensatz zu Metallen reagieren die meisten Kunststoffe empfindlich auf organische Lösungsmittel, wie Alkohole, Aceton oder Benzin. Auch hier gibt es Ausnahmen wie Polyethylen, das aufgrund seiner Beständigkeit gegenüber Benzin sowie gegenüber Umwelteinflüssen zur Fertigung von Kraftstofftanks in modernen Personenkraftwagen eingesetzt wird. Degradation bei Kunststoffen Degradation bezeichnet bei Kunststoffen die „Alterung“ durch Abbau oder Zerfall. Zu den Folgen gehören Quellung, Versprödung, Rissbildung und Festigkeits­verlust. Die Degradation ist ein üblicherweise unerwünschter Vorgang und erfolgt entweder chemisch, physikalisch oder durch eine Kombination beider Abbauarten. Niedrige Verarbeitungstemperaturen Die gängigen Verarbeitungstemperaturen für Kunststoffe liegen im Bereich von 250 bis 300 °C. Während Metalle bei deutlich höheren Temperaturen gegossen werden müssen und hitze- und verschleißfeste Gussformen erfordern, lassen sich aus Thermoplasten kompliziertere Formteile mit vergleichsweise geringem Aufwand fertigen (siehe Extrusion und Spritzguss). Im gleichen Verarbeitungsschritt können Additive, wie Farbpigmente oder Fasern, in das Material eingearbeitet werden, die den hohen Temperaturen des Metallgießens oder des Sinterns von Keramik in der Regel nicht standhalten würden. Niedrige Leitfähigkeiten Die Wärmeleitfähigkeit von Kunststoffen ist nur einen Bruchteil so groß wie die von Metallen. Da aus diesem Grund bei einer Berührung vergleichsweise wenig Wärmeenergie von der Hand übertragen wird (Kunststoffe sich also bei niedrigen Temperaturen dennoch warm anfühlen), werden Griffe an Werkzeugen oder Geländern gerne aus Kunststoff hergestellt oder damit überzogen. Werkstoffe wie Schäume, Vliese und Flocken isolieren vor allem durch den Gehalt an (räumlich fixierter) Luft. Kunststoffe als Matrixmaterial fördern die Isolierwirkung; wie etwa in Dämmstoffplatten, Textilien oder Matratzen. Die leichte Brennbarkeit ist hingegen ein klarer Nachteil gegenüber mineralischer Glas- oder Steinwolle, Schaf- und Baumwolle, Kork, aber auch Massivholz. Die elektrische Leitfähigkeit von Kunststoffen ist um 15 Größenordnungen kleiner als die von Metallen. Daher werden Kunststoffe zur Isolation eingesetzt. Metallisiert werden Kunststofffolien als Dielektrikum eingesetzt und zu Kondensatoren zusammengerollt. Den hohen Oberflächenwiderstand, der mit Reibung über Kontaktelektrizität zu elektrostatischer Aufladung führt, bricht man mit Füllstoffen (so in Schuhsohlen) oder Antistatika etwa in Möbelpolitur oder Textilwaschmittel. Herstellung Kunststoffe werden generell durch schrittweises Aneinanderfügen von Monomeren zu langen Ketten – den Polymeren – hergestellt, wobei grundsätzlich zwischen Kettenpolymerisation und Stufenpolymerisation unterschieden wird. Laut einer Untersuchung der ETH Zürich entsteht der größte Teil des CO2-Fußabdrucks von Plastik bei der Produktion der Kunststoffe, zumeist aus Erdöl oder Erdgas, teils aber auch aus Kohle. Der globale CO2-Fußabdruck von Kunststoffen hat sich der Studie zufolge vom Jahr 1995 bis ins Jahr 2015 verdoppelt und betrug im Jahr 2015 zwei Milliarden Tonnen CO2-Äquivalent (CO2e), was rund 4,5 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen entspricht. Kettenpolymerisationen Bei einer Kettenpolymerisation beginnt das Wachstum mit einem speziellen Molekül, an das schrittweise Monomere addiert werden. Das die Polymerisation startende Molekül heißt Initiator. Die Zahl der Monomere, aus denen das Polymer letztendlich besteht, ist der Polymerisationsgrad. Der Polymerisationsgrad kann durch das Verhältnis von Monomer zu Initiator eingestellt werden. Mathematisch wird er durch die Mayo-Gleichung abgeschätzt. Radikalische Polymerisation Bei der radikalischen Polymerisation werden die Wachstumsreaktionen durch Radikale initiiert und fortgepflanzt. Sie ist verglichen mit anderen Kettenreaktionen unempfindlich, leicht zu kontrollieren und liefert schon bei recht kleinen Umsätzen hohe Polymerisationsgrade. Sie wird daher vor allem bei der Herstellung von billigen Kunststoffen, wie LD-PE, PS oder PVC, eingesetzt. Eine Gefahr bei diesem Verfahren stellt die freiwerdende Polymerisationswärme dar. Die radikalische Polymerisation ist exotherm, das heißt bei der Reaktion wird die Reaktionsenthalpie freigesetzt und zum größten Teil in thermische Energie umgewandelt. Diese erzeugt, wenn sie nicht abgeführt wird, weitere Radikale, so dass sich die Reaktion selbst beschleunigen kann. Im Extremfall kann eine solche „Selbstbeschleunigung“ zur Überlastung des Reaktormaterials und damit zu einer thermischen Explosion führen. Ionische Polymerisation Bei ionischen Polymerisationen werden die Wachstumsreaktionen durch ionische Spezies initiiert und fortgepflanzt. Die wachsenden Ketten sind langlebiger (mehrere Stunden bis Tage) als ihre radikalischen Analoga (Lebensdauer etwa 10−3 s). So wird in diesem Zusammenhang auch von lebenden Polymeren gesprochen. Daher kann nach Abschluss einer Polymerisation auf die noch lebenden, also zur Polymerisation befähigten Ketten, ein weiteres Monomer aufgegeben und ein erneutes Wachstum angeregt werden. Polymere, deren Ketten aus zwei oder mehr unterschiedlichen Monomertypen bestehen, heißen Copolymere. Sind in einem Copolymer lange Blöcke des einen Monomers vorhanden, gefolgt von Blöcken des anderen, spricht man von Blockcopolymeren. Für solche speziellen Anwendungen wird die ionische Polymerisation angewandt. Ein Beispiel sind die synthetischen Gummis Acrylnitril-Butadien-Kautschuk (NBR) und Styrol-Butadien-Kautschuk (SBR), die bei der Herstellung von Autoreifen Verwendung finden. Nachteil dieses Verfahrens ist seine hohe Empfindlichkeit gegenüber Verunreinigungen, Wasser und Sauerstoff. Ionische Polymerisationen sind daher aufwendiger und kostenintensiver als die radikalische Polymerisation. Metallorganische Katalysatoren Diese Polymerisationen finden in Gegenwart von Katalysatoren statt. Beim Katalysator handelt es sich um einen Metallkomplex (Verbindung aus Metallatomen, umgeben von weiteren Spezies), der in der Lage ist, die wachsende Kette zu binden. Die Addition weiterer Monomere geschieht durch Einschub (Insertion) des Monomers zwischen wachsende Kette und Katalysatorspezies. Resultat ist ein höherer Ordnungsgrad der entstehenden Polymere sowie ein geringerer Verzweigungsgrad. Aufgrund dieser reguläreren Struktur erfolgt die Packung der einzelnen Ketten im Festkörper effizienter, der Kunststoff wird dichter. Die zurzeit industriell wichtigste Katalysatorklasse ist die der Ziegler-Natta-Katalysatoren. Eine Rolle spielen sie zum Beispiel bei der Herstellung von Polyethylen. Beim Low-Density-Polyethylen (LD-PE) handelt es sich um in der Gasphase polymerisiertes Ethen mit geringem Ordnungsgrad, vielen Seitenverzweigungen und geringer Dichte. Dieser Kunststoff ist als transparente oder gefärbte Verpackungsfolie von Getränkeflaschen, Büchern, CDs eingesetzt. High-Density-Polyethylen wird mit einem metallorganischen Katalysator im Ziegler-Natta-Verfahren hergestellt. Es resultiert ein Polymer mit hohem Ordnungsgrad, wenigen Verzweigungen und hoher Dichte. Dieser Kunststoff findet beispielsweise Verwendung als Material für Autotanks, Benzinkanister etc. Stufenpolymerisationen Im Gegensatz zur Kettenpolymerisationen erfolgt in Stufenpolymerisationen die Bildung der Polymere nicht durch Initiation einer wachsenden Kette, die weiter sukzessive Monomere addiert, sondern durch direkte Reaktion der Monomere untereinander. Diese Reaktion kann unter Freisetzung eines Nebenprodukts wie Wasser als Polykondensation oder durch einfache Addition der Monomere zu einer neuen Verbindung durch Polyaddition erfolgen. Polykondensation Bei Polykondensationen erfolgt die Bildung der linearen Kette durch intermolekulare Reaktion bifunktioneller Polymere unter Abspaltung einer kleineren Spezies, wie beispielsweise Wasser oder Alkohole. Eine wesentliche Bedeutung besitzt die Polykondensation für die Polyamide. Bildung eines Amids (schematische Darstellung) Carbonsäuren reagieren mit Aminen zu Amiden. Werden Moleküle eingesetzt, die zwei Carbonsäuregruppen tragen, kann eines dieser Moleküle mit zwei Aminen reagieren. Es entsteht so ein Polymer aus drei Monomeren (eine Carbonsäureeinheit, zwei Amine). Tragen die eingesetzten Amine auch wieder zwei Amingruppen, kann die zuvor entstandene Spezies wiederum mit zwei Carbonsäuremolekülen reagieren. Die so entstehenden Polymere können sich noch weiter untereinander verbinden, so dass der Polymerisationsgrad entscheidend von der Reaktionsdauer abhängt. Der Vorgang wird durch die Carothers-Gleichung beschrieben. Durch Reaktion von Dicarbonsäuren mit Diolen (Dialkohol) werden so Polyester hergestellt. Unter den wichtigsten durch Polykondensation hergestellten Kunststoffen sind Polyester, wie Polyethylenterephthalat (PET), Polyamide und Phenoplaste. Maleinsäure- und Phthalsäurepolyester werden industriell ausgehend von deren Anhydriden hergestellt. Polyaddition Bei Polyadditionen erfolgt die Bildung des Polymers durch Addition der einzelnen Monomere untereinander, ohne die Bildung von Nebenprodukten. Eine große Gruppe von Polyaddukten bilden die Polyurethane. Polyaddition von 1,6-Hexandiisocyanats mit 1,4-Butandiol (n ≈ 40) Isocyanate reagieren mit Alkoholen in einer Additionsreaktion zu sogenannten Urethanen. Auch hier gilt: bifunktionelle Monomere bilden lange lineare Ketten. Auf diese Weise hergestelltes Polyurethan wird für Armaturenbretter, Lacke, Klebstoffe usw. verwendet. Wird der Polymerisationsmischung Wasser zugesetzt, reagiert dieses mit den Isocyanaten zu Harnstoffen und Kohlenstoffdioxid. Das in der Mischung freiwerdende CO2 wird in Form von Bläschen in den Kunststoff eingeschlossen und ein Schaumstoff entsteht. Polyurethanschaumstoff wird für Matratzen, Sitzmöbel, Schwämme usw. verwendet. Additive Kunststoffen werden im Verlauf des Herstellungsprozesses sogenannte Additive zugesetzt (Compoundierung), von welchen es mehrere Tausend unterschiedliche gibt. Sie dienen der genauen Einstellung der Materialeigenschaften auf die Bedürfnisse der jeweiligen Anwendung und der Verbesserung der chemischen, elektrischen und mechanischen Eigenschaften. Solche mit Zuschlagsstoffen versehene Formmassen werden nach DIN EN ISO 1043 (Thermoplaste) und nach DIN EN ISO 18064 (thermoplastische Elastomere) gekennzeichnet. Für duroplastische Formmassen gibt es ebenfalls entsprechende Normen, z. B. DIN EN ISO 15252-1 für Epoxide sowie DIN EN ISO 14526-1…14530-1 für Phenoplast- und Aminoplast-Formmassen. Weichmacher Etwa zwei Drittel der weltweit hergestellten Additive werden für die Produktion von Polyvinylchlorid aufgewendet, fast drei Fünftel der hergestellten Additive sind Weichmacher. Sie verringern Sprödigkeit, Härte und Glastemperatur eines Kunststoffes und machen ihn so besser form- und verarbeitbar. Es handelt sich um Stoffe, die in der Lage sind, auf molekularer Ebene in den Kunststoff einzudringen und so die Beweglichkeit der Ketten gegeneinander zu erhöhen. Qualitativ können sie als „molekulares Schmiermittel“ dienen. Bis vor wenigen Jahren war Diethylhexylphthalat (DEHP) (synonym: Dioctylphthalat DOP) der am häufigsten verwendete Weichmacher. Dieser stellte sich jedoch als umwelt- und gesundheitsschädlich heraus, weshalb die europäische Industrie inzwischen weitgehend auf seinen Einsatz verzichten will. Als Ersatz für DEHP kommt oftmals das im Jahre 2002 eingeführte 1,2-Cyclohexandicarbonsäurediisononylester (DINCH) zum Einsatz. Weitere neue Weichmacher sind die analogen Adipinsäureester wie Diethylhexyladipat. Extender verbessern ebenfalls die Verarbeitbarkeit und heißen deshalb auch sekundäre Weichmacher. Wichtige Extender sind epoxidierte Öle, hochsiedende Mineralöle und Paraffine. Stabilisatoren Stabilisatoren dienen der Verbesserung der chemischen Eigenschaften. Sie erhöhen die Lebensdauer des Kunststoffes und schützen ihn vor schädigenden Einflüssen (Oxidation, (UV)-Strahlung und Wärme etwa durch Feuer) in seinem Einsatzgebiet. Durch Reaktion mit Luftsauerstoff kann sich der Kunststoff verfärben, und die Polymerketten können sich zersetzen oder neu vernetzen. Das wird durch Zugabe von Antioxidantien verhindert, die die bei der Reaktion entstehenden freien Radikale abfangen (Radikalkettenabbrecher) oder gleich die Bildung der Radikale verhindern (Desaktivatoren). Als Abbrecher sind beispielsweise Phenole oder Amine geeignet, als Desaktivatoren dienen Phosphane und wiederum Amine. Lichtschutzmittel schützen gegen eine Schädigung durch ultraviolettes Licht. Doppelbindungen zwischen Kohlenstoffatomen sind in der Lage, Licht dieser Wellenlänge zu absorbieren, daher sind durch UV-Licht vor allem Kunststoffe gefährdet, die dieses Strukturelement aufweisen (beispielsweise Polyisopren). Allerdings können aufgrund von Katalysatorrückständen, Strukturfehlern und Nebenreaktionen bei der Verarbeitung praktisch alle Polymere ein Absorptionsvermögen für UV-Strahlung zeigen. Diese induziert die Bildung von freien Radikalen im Material, die Nebenreaktionen, wie Zerfall der Kette und Vernetzungen einleiten. Grundsätzlich existieren drei Wege, eine Schädigung zu verhindern: Reflexion des Lichts, Zusatz von lichtabsorbierenden Stoffen und Zusatz von Radikalfängern. Wichtige Lichtschutzmittel sind Ruß, der die Strahlung absorbiert, σ-Hydroxybenzophenon, das die Energie in Infrarotstrahlung umwandelt und Dialkyldithiocarbamate, die UV-Licht absorbieren und als Radikalfänger fungieren. Kunststoffe sind empfindlich gegenüber Wärmeeinwirkung. Oberhalb einer für das Material charakteristischen Temperatur (Zersetzungstemperatur) setzt der Zerfall der molekularen Struktur ein. Wärmestabilisatoren sollen das verhindern. Unerlässlich sind diese für Polyvinylchlorid, das sonst, unter Bildung von Chlorwasserstoff und u. U. gesundheitsschädlicher Zerfallprodukte, seine mechanische Stabilität einbüßen würde. Der Zerfallmechanismus verläuft über die Bildung von Doppelbindungen. Organische Barium-, Zink-, Zinn- und Cadmiumverbindungen und anorganische Bleisalze komplexieren diese und unterbrechen so den Zerfallmechanismus. Vor allem die Bleiverbindungen stellen hinsichtlich der Entsorgung des Kunststoffs ein nicht unerhebliches Umweltproblem dar. Derzeit sind 80 % der Wärmestabilisatoren auf der Basis von Blei. Die chemische Industrie ist zurzeit allerdings bemüht, diese zu ersetzen. So wurde bei Cognis speziell für Fensterprofile ein Stabilisator auf der Basis von Calcium und Zink entwickelt. Bei Bränden kann von Kunststoffen eine Gefahr ausgehen, da viele Kunststoffe einem Brand Nahrung bieten und manche bei Verbrennung giftige oder ätzende Gase freisetzen (wie Blausäure, Kohlenstoffmonoxid, Chlorwasserstoff oder Dioxine). Flammschutzmittel verhindern entweder den Sauerstoffzutritt zum Brand oder stören die chemischen Reaktionen (Radikalkettenmechanismen) der Verbrennung. Wichtige Flammschutzmittel sind: Tetrabrombisphenol A: setzen Radikale frei, welche die Zwischenprodukte des Brennvorgangs abfangen. Aluminiumhydroxid (Al(OH)3), auch (ATH): setzt Wassermoleküle frei. Phosphorhaltige Verbindungen: bilden Phosphorsäuren, die eine Wasserabspaltung katalysieren. Farbmittel Die meisten Polymere sind in reiner Form farblos, farbig werden sie erst durch Zusatz von Farbmitteln. Zu unterscheiden ist zwischen Farbstoffen (lösen sich auf molekularer Ebene im Polymer oder adsorbieren an der Oberfläche) und Pigmenten (unlösliche, meist organische / anorganische Aggregate). Textilien werden praktisch ausschließlich mit Farbstoffen eingefärbt. Der weit überwiegende Teil der Kunststoffe wird allerdings mit Pigmenten gefärbt, da diese lichtechter und meist auch billiger sind. Wichtige Pigmente in diesem Bereich sind Rutil (weiß), Ruß (schwarz), Cobalt- oder Ultramarinblau, sowie Chromoxidgrün. Inzwischen ist der Einsatz von Effektpigmenten möglich, so zeigen mit seltenen Erden dotierte Strontium-Aluminate ein intensives Nachtleuchten. Einsatzgebiete für derartig gefärbte Kunststoffe sind bei Dunkelheit leichter auffindbare Sicherheitsmarkierungen, Lichtschalter oder Taschenlampen. Um Metallglanz zu erreichen, werden Aluminiumpigmente in Blättchenform eingesetzt, sphärische Pigmentkörner ergeben eine Graueinfärbung. In der Kunststoffverarbeitung werden zum Einfärben meist konzentrierte Pigmentpräparationen sogenannte Flüssigfarben oder Masterbatches verwendet. Füllstoffe Füllstoffe sind klassische Streckmittel, die so die Herstellung des Kunststoffs verbilligen. „Aktive Füllstoffe“ verbessern zusätzlich die mechanischen Eigenschaften des Materials. Wichtige Füllstoffe sind unter anderem: Kreide, Sand, Kieselgur, Glasfasern und -kugeln, Zinkoxid, Quarz, Holzmehl, Stärke, Graphit, Ruße und Talkum. Wichtig sind Füllstoffe auch, um die Entflammbarkeit der Kunststoffe zu minimieren. Ruß kommt dabei eine besondere Bedeutung zu (Autoreifen, Folien, Dachbahnen). Ruß ist chemisch beständig und damit witterungsstabil. Als färbender Stoff ist Ruß lichtstabil und bleicht nicht aus. Durch seine hohe UV-Absorption sorgt er für UV-Schutz des Kunststoffs. Dadurch sind in der Struktur darunterliegende Molekülketten vor Zerstörung durch UV-Licht geschützt. Verstärkungsstoffe Unter Verstärkungsstoffen (reinforcement) werden in Kunststoffen eingesetzte Zusatzstoffe verstanden, die die Kunststoffmatrix verstärken. Folge ist die Verbesserung mechanischer und physikalischer Eigenschaften, wie Elastizität oder Biegefestigkeit. Beispiele sind Glasfasern, Kohlenstofffasern oder Flachs und Jute. Beschichtung Die Beschichtung mit Metallen wird Kunststoffmetallisierung genannt. Einsatz findet sie in Bereichen, in denen Kunststoff als Ersatz für Metalle verwendet wird, aber das hochwertigere Aussehen von Metallglanz beibehalten werden soll. In der Automobilindustrie werden galvanisierte Kunststoffelemente in der Außenverkleidung eingesetzt. In Elektrogeräten erlaubt der metallisierte Kunststoff eine Abschirmung. Im Sanitärbereich werden Elemente für Mischbatterien, Duschköpfe und Wasserhahngriffe verwendet. Kunststoffindustrie Die Kunststoffindustrie ist bis heute eine Wachstumsbranche, wobei die Herstellungskapazitäten in Asien zwischen 2006 und 2008 die führenden und etwa gleich starken Regionen Europa sowie Nord- und Südamerika überholten. Produktion Die weltweite Kunststofferzeugung erfolgt zu großen Teilen bei global agierenden Chemiekonzernen wie beispielsweise Asahi Kasei, Basell, BASF, Bayer, Celanese/Ticona, DuPont de Nemours, DSM, und Solvay. Sie liefern ein begrenztes Sortiment an Kunststoffen in Mengen von teilweise mehreren 100 kt pro Jahr. Die Preise für Kunststoffe variieren sehr stark von einigen Eurocent pro Kilogramm für Massenkunststoffe bis hin zu einigen hundert Euro pro Kilogramm für Hochleistungspolymere. Verarbeitung Die Kunststoffverarbeitung ist Gegenstand eines eigenständigen Industriezweiges. Dabei kommen überwiegend Urformverfahren zum Einsatz, die im Gegensatz zu den metallischen Werkstoffen bei wesentlich geringeren Verarbeitungstemperaturen (bis 430 °C) ablaufen. Außerdem können die Fertigungseinrichtungen (sog. Werkzeuge) mehrfach verwendet werden und erlauben so eine kostengünstige Fertigung. Es kommt eine Vielzahl von Verfahren zum Einsatz, die teilweise ihren Ursprung in der wesentlich älteren Metallbearbeitung haben und auf die Eigenschaften der Kunststoffe abgestimmt und weiterentwickelt wurden. So ist beispielsweise das Spritzgießen für Kunststoffe dem Druckguss für Metalle sehr ähnlich. Das Extrudieren oder Blasformen ist aus der Glasproduktion hervorgegangen. Die Schäumverfahren haben wiederum ihren Ursprung bei den Kunststoffen, werden aber, wie Metallschaum, inzwischen auch für andere Werkstoffklassen verwendet. Sie lassen sich weiter in chemische, physikalische oder mechanische Treibverfahren untergliedern. Für alle diese Verfahren werden spezielle Maschinen vom Kunststoffmaschinenbau entwickelt und hergestellt. Wichtige Massenkunststoffe Etwa 90 % der weltweiten Produktion (jährlich etwa 350 Mio. t) entfallen in der Reihenfolge ihres Anteils auf die folgenden sechs Kunststoffe: Polyethylen (PE) Polyethylen wird hauptsächlich in drei unterschiedlichen Qualitäten hergestellt: HD-PE (High-Density-PE), LLD-PE (Linear-Low-Density-PE), LD-PE (Low-Density-PE). HD-PE wird mittels Ziegler-Natta-Katalysatoren synthetisiert, seine Ketten zeigen einen sehr hohen Ordnungs- und niedrigen Verzweigungsgrad. Diese können sich daher im Festkörper effizient anordnen, so dass ein teilkristallines Material entsteht, dessen Dichte höher ist als die von LD-PE (beide weisen aber eine Dichte auf, die geringer ist als die von Wasser). Es wird zur Fertigung von Flaschen, Getränkekästen, Fässern, Batteriegehäusen, Eimern, Schüsseln etc. verwendet. LD-PE wird unter hohem Druck in der Gasphase polymerisiert, in LLD-PE werden 1-Buten, 1-Hexen und 1-Octen einpolymerisiert, um so einen kontrollierten Verzweigungsgrad zu erzeugen. Beide Varianten weisen so einen geringen kristallinen Anteil und einen hohen oder mittleren Verzweigungsgrad auf. Das Material besitzt hervorragende filmbildende Eigenschaften und wird vor allem zur Herstellung von Verpackungsfolien für Zigarettenpäckchen, CDs, Bücher, Papiertaschentücher etc. sowie Tragetaschen verwendet. Polypropylen (PP) Polypropylen wird fast ausschließlich auf metallkatalytischem Wege hergestellt, da nur das so erhaltene kristalline Material kommerziell verwertbare Eigenschaften aufweist. Es handelt sich um einen sehr harten, festen und mechanisch belastbaren Kunststoff mit der geringsten Dichte aller Massenkunststoffe. Aufgrund dieser Eigenschaften hat es teilweise bereits Metallwerkstoffe verdrängt. Wie bei dem rechts abgebildeten Deckel zeigt es außerdem den sogenannten Filmscharniereffekt, d. h., es kann durch einen dünnen Film Gehäuse und Deckel miteinander verbinden, ohne aufgrund der Biegebelastung zu brechen. Ein erheblicher Teil des weltweit hergestellten Polypropylens wird für Lebensmittelverpackungen aufgewendet. Weitere Anwendungsgebiete sind: Automobilindustrie: als Material für Luftfiltergehäuse, Spoiler, Scheinwerfergehäuse, Sitzbezüge und Gaspedale Bauwesen: Gartenmöbel, Toilettendeckel, Kunstrasen, Möbelscharniere etc. Sonstiges: Brillenetuis, Koffer, Schulranzen, sterilisierbare medizinische Geräte Polyvinylchlorid (PVC) Polyvinylchlorid gilt aufgrund des ungewöhnlich hohen Chloranteils und der damit bei der Verbrennung entstehenden Nebenprodukte, wie Chlorgas und Chlorwasserstoff (Salzsäure), als umweltschädlicher Kunststoff. Außerdem enthält vor allem Weich-PVC viele Weichmacher, die teilweise gesundheitsschädlich sind, zudem ist das zur Herstellung benötigte Vinylchlorid krebserregend. Generell wird zwischen Hart-Polyvinylchlorid und durch Zusatz von Weichmachern hergestelltes Weich-Polyvinylchlorid unterschieden. Hart-PVC ist ein amorpher Thermoplast und besitzt eine hohe Steifigkeit und Härte. Es ist extrem schwer entflammbar, kann in der Hitze eines bestehenden Brandes allerdings Chlorwasserstoff und Dioxine freisetzen. Es zeigt eine sehr gute Beständigkeit gegen Säuren, Basen, Fette, Alkohole und Öle. Aus diesem Grund wird es vor allem zur Herstellung von Abwasserrohren und Fensterprofilen eingesetzt. Ein gravierender Nachteil ist seine sehr geringe Wärmebeständigkeit, es kann dauerhaft nur bis 65 °C und kurzfristig bis 75 °C eingesetzt werden; und seine Neigung zum „Weißbruch“ beim Biegen ist ebenfalls nachteilig. Weich-PVC ist ein gummielastischer, lederähnlicher Thermoplast. Wichtige Anwendungen sind die Herstellung von Bodenbelägen, Dichtungen, Schläuchen, Kunstleder, Tapeten, Dachbahnen, Wood-Plastic-Composite-Produkte etc. Die Technikhistorikerin Andrea Westermann sieht PVC als den “ersten vollsynthetischen thermoplastischen Werkstoff […], der in den 1930er Jahren von der IG Farbenindustrie AG entwickelt wurde [und] in den 1950er Jahren als mengenmäßig wichtigster Kunststoff die massenhafte Ankunft von Plastik in der Gesellschaft einläutete […]”. Polystyrol (PS) Polystyrol wird überwiegend als amorpher Thermoplast hergestellt, durch neuere Entwicklungen gibt es mittlerweile auch kristallines Polystyrol, dieses hat aber geringere Bedeutung. Beide Varianten zeichnen sich durch geringe Feuchtigkeitsaufnahme, gute Verarbeitbarkeit und sehr gute elektrische Eigenschaften aus. Sie unterscheiden sich in ihrer Schlagfestigkeit. Nachteile sind seine Neigung zur Spannungsrissbildung, die geringe Wärmebeständigkeit, Entflammbarkeit und seine Empfindlichkeit gegenüber organischen Lösungsmitteln. Mittels Pentan aufgeschäumtes Polystyrol wird unter anderem als Styropor vertrieben. Anwendungsgebiete: Elektrotechnik: als Isolierung von elektrischen Kabeln, Material für Gehäuse, (als High Impact Polystyrene (HIPS)), Schalter etc. Bauindustrie: als Dämmstoff (Schaumpolystyrol) Verpackungen: Schaumpolystyrol, Verpackungsfolien, Joghurtbecher etc. Polyurethan (PU/PUR) Die Eigenschaften von Polyurethanen können durch Wahl der Isocyanat- oder Urethan-haltigen Monomerkomponenten sehr stark in ihrer Elastizität variiert werden. So werden sehr elastische PUR-Textil-Fasern (Elastan) aus Polyestern und Urethan-haltigen Polyestern hergestellt, ebenso dienen Urethan-haltige Polymere als Zusatz in Lacken und Materialien für Leiterplatten (Bectron). Die bekannteste Anwendung dürften Polyurethanschaumstoffe sein. Sie dienen als Matratzen, in Autositzen, Sitzmöbeln, Dämmmaterial, Schwämmen. Durch Wahl der Einzelkomponenten werden die genauen Materialeigenschaften eingestellt. Die wichtigste Anwendung ist wohl der Rostschutz von Auto-Karosserien. Auf den blanken Eisenkarossen werden Hydroxygruppen-haltige und Urethangruppen-haltige Einzelpolymere abgeschieden. Bei 120–160 °C werden diese dann untereinander vernetzt, es bildet sich eine überall gleichdicke rostverhindernde Polymerschicht auf dem Eisen. Polyethylenterephthalat (PET) Polyethylenterephthalat ist ein Polyester aus Terephthalsäure und Ethylenglycol, bei der Herstellung werden stöchiometrische Mengen eingesetzt und die Veresterung bis zu einem Umsatz von 99 % durchgeführt. Die erstarrte Schmelze kristallisiert sehr langsam, so dass sich hier je nach Anwendungsbereich amorphes und teil-kristallines (C-PET) Material herstellen lässt. C-PET besitzt hohe Steifigkeit, Härte, Abriebfestigkeit und ist beständig gegen verdünnte Säuren, Öle, Fette und Alkohole. PET-Flaschen sind jedoch empfindlich gegenüber heißem Wasser. Anwendungsbeispiele: Elektrotechnik: Teile für Haushalts- und Küchengeräte, Computer etc. Maschinenbau: Zahnräder, Lager, Schrauben, Federn. Fahrzeugtechnik: Sicherheitsgurte, Lkw-Abdeckplanen Medizin: Implantate wie Gefäßprothesen Amorphes PET zeigt eine geringere Steifigkeit und Härte als C-PET, aber bessere Schlagzähigkeit. Da es transparent, aber leichter als Glas ist, wird es als Material für Getränkeflaschen und Verpackungen für Lebensmittel und Kosmetika verwendet. In der Elektrotechnik finden PET-Folien als Trägermaterial für Magnetbänder Verwendung. Sonderkunststoffe Manche Kunststoffe werden in großen Mengen für Massenartikel hergestellt. Andere hingegen werden nur in geringen Mengen eingesetzt, da ihr Preis hoch ist oder sie nur in Spezialanwendungen nützlich sind. Solche Kunststoffe werden als Sonderkunststoffe bezeichnet (englisch: specialty polymers oder auch special purpose plastics). Manche Sonderkunststoffe werden mit der Zeit gebräuchlicher und nehmen eine Rolle als technische Kunststoffe ein, andere bleiben Spezialanwendungen vorbehalten. Beispiele für Sonderkunststoffe sind Hochleistungsthermoplaste (auch Hochtemperaturkunststoffe genannt), Elektroaktive Polymere, Polymer Electrolytes, Flüssigkristallpolymere, Ionic Polymers, Polymer Nanokomposite und weitere. Im Folgenden werden einige Sonderkunststoffe sowie einige speziellere Anwendungen vorgestellt. Kunststoffe für Hochtemperaturanwendungen Thermoplastische Kunststoffe, die eine Dauergebrauchstemperatur von über 150 °C aufweisen, werden als Hochtemperaturkunststoffe bezeichnet. Da Kunststoffe dieser Art auch besondere mechanische Eigenschaften und eine besondere Resistenz gegenüber Chemikalien aufweisen, werden sie auch als Hochleistungskunststoffe bezeichnet. Hochleistungskunststoffe sind teuer und werden nur in geringen Mengen produziert. Aufgrund ihrer guten mechanischen Eigenschaften und einer im Vergleich geringen Dichte werden Hochleistungskunststoffe häufig als Ersatz für Metalle verwendet. Durch die Chemikalienresistenz ergeben sich weitere Einsatzfälle. Sie finden daher Anwendung in der Luft- und Raumfahrt (für Turbinen), in der Automobilindustrie an heißen Stellen im Motorraum oder in der chemischen Industrie bei Kontakt mit aggressiven Chemikalien. Flüssigkristalline Polymere Flüssigkristalline Polymere (engl. liquid crystalline polymers (LCP)) heißen Polymere, deren Ketten in der Schmelze flüssigkristalline Phasen bilden. In Kristallen liegt generell eine feste Ordnung vor, während in Flüssigkeiten und Schmelzen die Verteilung der Moleküle oder Atome in der Regel weitgehend zufällig ist. Insoweit ist der Ausdruck flüssigkristallin eigentlich ein Widerspruch. In LCPs orientieren sich die Polymerketten jedoch aufgrund intramolekularer Wechselwirkungen parallel zu Bündeln an. So bilden beispielsweise aromatische Polyamide in Schwefelsäure in Verbindung mit Calcium- oder Lithiumchlorid derartige Phasen. Wird eine derartige Lösung aus einer Spinndüse durch einen Zwischenraum mit Luft in ein Fällbad (Dry-Jet-Wet-Spinnverfahren) gepresst, entstehen Fasern, in denen die Ketten in Richtung der Längsachse orientiert sind. Derartige Fasern sind in der Lage, eine für Kunststoffe ungewöhnlich hohe Zugbelastung auszuhalten, die vergleichbar mit Metallen oder Kohlenstofffasern ist. Aufgrund ihrer geringen Dichte werden sie, eingebettet in Kunstharze (Composites) im Flugzeug- und Fahrzeugbau eingesetzt. Weitere Anwendungen sind schusssichere Westen, Schutzhelme, Schutzanzüge, Surfbretter und Segelbootbau. Wichtige Marken sind Kevlar, Nomex und Faser B. Elektrisch leitende Polymere Kunststoffe gelten im Allgemeinen als hervorragende Isolatoren. Das liegt daran, dass Polymeren die Grundvoraussetzung für elektrische Leitfähigkeit, quasi freie Elektronen, völlig fehlt. Durch Zugabe von Substanzen (Dotierung), die entweder der Kette Elektronen zuführen (Reduktion) oder durch Entfernung (Oxidation) freie Stellen für die Elektronenbewegung schaffen, ist es möglich elektrisch leitfähige Polymere zu erzeugen. So werden Polyacetylen und Poly(p-phenylen) elektrisch leitend, wenn sie mit Brom, Iod oder Perchlorsäure dotiert sind. Weitere wichtige elektrisch leitende Polymere sind Polyanilin, dotiert mit Salzsäure und Polypyrrol aus anodischer Oxidation. Anwendungen sind Materialien für Elektroden und Batterieelemente, sowie antistatische Beschichtungen. Durch geeignete Dotierung können den bisher genannten Polymeren auch halbleitende Eigenschaften verliehen werden. Aus solchen Materialien bestehen beispielsweise Polymer-Leuchtdioden. Für die Entwicklung leitfähiger Polymere wurde den Wissenschaftlern Alan J. Heeger, Alan G. MacDiarmid und Hideki Shirakawa im Jahr 2000 der Nobelpreis für Chemie verliehen. Kunststoffe in der Medizin Kunststoffe erfüllen in der Medizin vielfältige Aufgaben: Sie dienen als Behälter für Infusionslösungen, Bauteile von medizinischen Geräten, Wegwerfartikel (Spritzen, Pflaster, Katheter, Schläuche etc.) und Implantate (Herzklappen, Knochenersatz, Gelenkpfannen, resorbierbare Knochenschrauben etc.). Für Materialien, die auf direkte oder indirekte Weise im Kontakt mit lebendem Gewebe stehen, gelten naturgemäß besondere Auflagen: Zum einen darf der Kunststoff den Organismus nicht schädigen, zum anderen darf umgekehrt das biologische Milieu die Materialeigenschaften des Kunststoffs nicht beeinträchtigen. Sind diese Bedingungen erfüllt, wird von Biokompatibilität gesprochen. Wichtigstes Argument für den Einsatz von Kunststoffen in der Medizin war und ist die Hygiene, so konnten medizinische Instrumente aus Glas oder Metall durch Wegwerfartikel aus Kunststoff ersetzt werden. Ein bemerkenswertes Beispiel ist Polymilchsäure (auch: Polylactid), ein Polyester der natürlich vorkommenden Milchsäure. Er wird zu Fasern gesponnen, die als resorbierbare chirurgische Nähfäden Verwendung finden. Nach dem Einsatz der Fäden werden diese enzymatisch abgebaut. Die Dauer der Degradation kann dabei über die Stereochemie (Wahl der Ketten aus rechts- oder linksdrehender Milchsäure) des Polymers eingestellt werden. Umweltproblematiken Aus der Produktion von Kunststoffen ergibt sich zwangsläufig das Problem der Entsorgung der aus ihnen erzeugten Produkte (Plastikmüll). Risikopotential einzelner Bestandteile Viele der zur Kunststoffherstellung verwendeten Additive sind nachweislich gesundheitsschädlich. In diversen Kunststoffen enthaltene Bestandteile werden als hormonell wirksam eingestuft (endokrine Disruptoren) und werden über die Haut, durch Einatmen (Aerosole, Abrieb von Gummireifen) und über die menschliche Nahrung aufgenommen: Polymere Die polymeren Bestandteile der Kunststoffe sind zum einen nicht wasserlöslich und zum anderen nicht in der Lage, die Zellmembranen von Mikroorganismen zu passieren, das heißt, eine Wechselwirkung mit lebenden Organismen ist außer bei den biologisch abbaubaren Kunststoffen und bei der Entstehung von Mikroplastik nicht bekannt. Das hat zwar den Vorteil, dass Polymere als gesundheitlich unbedenklich eingestuft werden können, aber eine Umwandlung in der belebten Natur kann nicht völlig ausgeschlossen werden. Konkrete Studien zu den Auswirkungen von Mikroplastik auf den Menschen gibt es bisher nicht. Aus Studien zu Polymeren, die als Träger für Medikamente verwendet werden, ergibt sich, dass Partikel im Nanometerbereich zwar in den Blutkreislauf aufgenommen, aber auch wieder ausgeschieden werden. Bisphenol A Bisphenole wie Bisphenol A (BPA), C (BPC) oder S (BPS) werden als Härtemittel etwa in Beschichtungen von Konservendosen oder in Kunststoffvorrats- oder sonstigen Behältnissen eingesetzt: sie lösen sich vor allem in säurehaltigen Stoffen wie Tomaten- oder Fruchtflüssigkeiten, schneller noch unter Hitzeeinfluss. Statistiken zufolge haben 95 bis 98 % der Menschen BPA in ihrem Urin, wobei die Halbwertszeit des Abbaus im Körper bei ca. einem halben bis einem Tag liegt. Der UNEP/WHO und endokrinologischen Fachgesellschaften zufolge erhöht Bisphenol A beim Menschen das Risiko für Fettleibigkeit, Diabetes mellitus, Unfruchtbarkeit bei Männern und Frauen, Brustkrebs, Endometriose, Prostatakrebs, kindliche Entwicklungsverzögerungen und Hirnschäden. Phthalate Phthalate werden als Weichmacher in Kosmetika, aber auch in Lebensmittelfolien eingesetzt: sie sind jedoch im Sinne eines endokrinen Disruptors hormonell wirksam und erhöhen so laut UNEP/WHO und endokrinologischen Fachgesellschaften beim Menschen das Risiko für Fettleibigkeit, Diabetes mellitus, Unfruchtbarkeit bei Männern und Frauen, Brustkrebs, Endometriose, Prostatakrebs, kindliche Entwicklungsverzögerungen und Hirnschäden. Eintrag und Verbreitung Teilweise gelangen biologisch nicht abbaubare Kunststoffe auch in die Umwelt. Von den weltweit jährlich produzierten mehr als 200 Millionen Tonnen Kunststoffen gelangen nach unterschiedlichen Schätzungen sechs bis 26 Millionen Tonnen in die Meere, 70 % davon sinken auf den Meeresboden. Mehrere Millionen Tonnen Kunststoffmüll treiben in sogenannten Müllstrudeln im Nordpazifik und im Nordatlantik. Jedes Jahr tötet dieser Müll mehrere hunderttausend höhere Meerestiere. Kleine Plastikteile und Mikroplastik gelangt in die Nahrungskette von Meerestieren und führen dazu, dass Tiere mit vollem Magen verhungern oder innere Verletzungen erleiden. Oft verwechseln Tiere Plastikteile mit ihrer Nahrung und verschlucken sie. Größere Plastikteile wie Planen, defekte Fischernetze oder Taue verletzen Meerestiere. Plastikplanen bedecken Korallenstöcke, Schwämme oder Muschelbänke und verhindern so deren Besiedlung. Nach einer Studie der UNEP befinden sich in dem Strudel im Pazifik bis zu 18.000 Kunststoffteile auf jedem Quadratkilometer Meeresfläche. Auf ein Kilogramm Plankton kommen hier sechs Kilogramm Kunststoff. Die Größen der Strudel lassen sich kaum angeben, da sie nicht scharf begrenzt sind. In der Schweiz gelangen jedes Jahr rund 14.000 Tonnen Kunststoffe in die Böden und Gewässer. Der größte Teil davon gelangt in die Böden. Die für die Kunststoffherstellung verwendeten, hormonell aktiven Substanzen (endokrine Disruptoren) sind weltweit mittlerweile derart weit verbreitet, dass in Urin, Blut und Fettgewebe praktisch aller Menschen weltweit endokrine Disruptoren nachgewiesen werden können. Ursprung Aus Europa und Nordamerika stammen zusammen weniger als 5 % des Eintrags. Bei Untersuchungen in 42 Ländern entfiel 2018 das meiste des gefundenen Plastikmülls auf Coca-Cola, Pepsi und Nestlé. In der Manilabucht konnte der meiste Plastikmüll Nestlé, Unilever und Procter & Gamble zugeordnet werden. Laut einem 2021 veröffentlichten Bericht werden 55 % des weltweiten Plastikmülls von 20 Firmen produziert, angeführt von Exxon Mobile. Persistenz Kunststoffe galten lange als biologisch nicht abbaubar, erst in jüngerer Zeit wurden einige Organismen gefunden, die Kunststoffe abbauen können (siehe Abschnitt Biologischer Abbau herkömmlicher Kunststoffe). Chemische und physikalische Prozesse benötigen für Kunststoff-Abbau sehr lange, da auf solchen Wegen Zerfallszeiten von mehrere hundert Jahren errechnet wurden, werden Kunststoffe auch als persistent bezeichnet. Eine Möglichkeit für anorganischen Abbau ist die Einwirkung von UV-Strahlung (Sonnenlicht), dabei „zerbrechen“ die Kunststoffketten stückweise, das äußert sich makroskopisch im Vergilben und/oder Verspröden. Mikroorganismen können Kunststoffe im Grunde nur durch extrazelluläre Enzyme verarbeiten, die das Material in kleinere Bestandteile zerlegen, die dann von der Zelle aufgenommen werden können. Allerdings sind die Enzyme zu groß, um effektiv in das verrottende Material einzudringen, so dass dieser Prozess nur als Oberflächenerosion ablaufen kann. Wenn bei dem Abbau durch biochemischen Prozesse giftige Zwischenstufen entstehen, können diese sich in der Natur anreichern. Zusätzliche Gefahr geht von den Additiven der Kunststoffe, wie Weichmachern, Farbstoffen oder Flammschutzmitteln aus. Dabei sind als Schadstoffquellen insbesondere flüchtige organische Verbindungen zu nennen. Kulturelle Rezeption Die von Kunststoffen verursachten Umweltprobleme werden in den Dokumentarfilmen Plastic Planet (2009) des österreichischen Regisseurs Werner Boote, Plastik über alles (OV: Addicted to plastic) (2008) des kanadischen Regisseurs Ian Connacher sowie Midway (2009–2013) des US-Regisseurs Chris Jordan gezeigt. Abfallmanagement Von den ca. 6,3 Mrd. Tonnen Kunststoff, die bis 2015 zu Abfall wurden, wurden ca. 9 % recycelt und 12 % verbrannt. Etwa 79 % der Kunststoffe wurden auf Müllhalden deponiert bzw. wurden in der Umwelt ausgebracht, wo sie sich nun anreichern. In der Schweiz wird etwa 90 % des Plastikmülls energetisch verwertet. Laut einer wissenschaftlichen Übersichtsarbeit würde eine rationale Antwort auf die „globale Bedrohung“ darin bestehen, den Konsum neuen Plastiks zu reduzieren und das Abfallmanagement international zu koordinieren. Der Export von Kunststoffabfällen, der nicht zu einem besseren Recycling führt, solle verboten werden. Das Exportvolumen an Kunststoffabfällen, die aus Deutschland in andere Länder verbracht wurden, war 2021 im Vergleich zum Vorjahr um 25 Prozent gesunken. Dennoch bleibt Deutschland, nach Angaben des Statistischen Bundesamtes, mit 766.200 Tonnen ausgeführten Kunststoffabfällen (2021) der größter Exporteur innerhalb Europas. Kunststoffrecycling Im Jahr 2012 betrug die weltweite Recyclingquote für Kunststoffabfälle nur etwa 3 % bei einer jährlichen globalen Jahresproduktion an Kunststoffen von rund 280 Millionen Tonnen. Im Jahr 2018 erwähnte ein Artikel in der NZZ eine Zahl von 8 %. Ein Großteil der anfallenden Kunststoffabfälle wird stattdessen auf Müllkippen deponiert oder verbrannt, und geschätzte 20 Millionen Tonnen des nicht-recycelten Plastikmülls landen schließlich in den Ozeanen, wo er ein enormes Umweltproblem darstellt. Dagegen werden in Deutschland und der Schweiz keine Kunststoffe mehr deponiert. In der EU soll dieses Ziel bis zum Jahr 2020 erreicht werden. In der Bundesrepublik lag die Recyclingquote im Jahr 2010 bei 45 %, womit Deutschland Vorreiter im europäischen Vergleich ist. Die restlichen 55 % werden thermisch verwertet (Müllverbrennung). Die Kunststoffindustrie hat zur Unterstützung dieses Vorhabens eine Kampagne Zero Plastics to Landfill by 2020 gestartet. Inzwischen gibt es auch Industrieunternehmen, die sich auf das Recycling von Plastik spezialisiert haben. Grundsätzlich lassen sich drei Möglichkeiten der Weiterverwertung erschließen: Werkstoffliche Verwertung Thermoplaste lassen sich, einmal zu einem Werkstück geformt, wieder einschmelzen und zu einem neuen Produkt formen. Die Abfolge von Wärmebehandlungen führt allerdings bei vielen Verfahren zu einem fortschreitenden Qualitätsverlust des Materials (Downcycling). Größtes Problem bei einer erneuten werkstofflichen Verwertung ist allerdings die Trennung der einzelnen Kunststoffe. Werden verschiedene Polymere in einem Material gemischt, führt das zu einem starken Qualitätsverlust und wesentlich schlechteren mechanischen Eigenschaften. Um die Trennung zu erleichtern, wurde 1988 der Recycling-Code eingeführt. Die Wiederverwertung nicht sortenreiner Abfälle, wie Hausmüll, gestaltet sich dennoch schwierig. Die gängigen Trennverfahren sind sehr personalintensiv und erfordern einen hohen Einsatz an Wasser und Energie, so dass sowohl eine Kosten-Nutzen-Rechnung als auch die Ökobilanz negativ ausfallen. Die werkstoffliche Verwertung wird daher zurzeit fast ausschließlich dort eingesetzt, wo große Mengen eines sortenreinen Materials zur Verfügung stehen. Beispielsweise werden in Deutschland Schaumpolystyrolverpackungen gesammelt, die eine erneute Verwertung als Bodenverbesserer in der Landwirtschaft oder bei der Herstellung von Schaumpolystyrol-Beton oder Ziegelsteinen finden. Die Recyclingquote für Schaumpolystyrol betrug im Jahre 2000 etwa 70 %. Für PVC existiert ebenfalls ein Rücknahmesystem, gesammelt werden vor allem Fußbodenbeläge, Dachbahnen, Fensterprofile und PVC-Rohre. Weitere Anwendungsbereiche für die werkstoffliche Wiederverwertung sind zum Beispiel in der Wiederverwertung von Fahrzeugen oder Getränkeflaschen, oder in Ländern der zweiten oder dritten Welt, wo das Sammeln sortenreiner Kunststoffabfälle zum Einkommen beiträgt. So entstehen aus den Sekundärrohstoffen erneut Verpackungen oder Produkte wie Fensterprofile, Rohre, Blumen- und Getränkekästen, neue Folien, Fensterrahmen oder Gießkannen. Rohstoffliche Verwertung Die rohstoffliche Verwertung von Kunststoffen ist durch chemisches Recycling möglich. Dieses zielt auf die Umwandlung in molekulare, wiederverwertbare Bausteine ab und umfasst Prozesse wie Vergasung, Pyrolyse, Solvolyse und Depolymerisation. Durch Pyrolyse lassen sich Kunststoffe wieder in die jeweiligen Monomere oder weitere petrochemisch verwertbare Stoffe, wie Methanol oder Synthesegas spalten. Für die Gewinnung der Monomere ist aber ebenfalls die Verfügbarkeit sortenreinen Materials Voraussetzung. Beispiele sind das Hamburger Verfahren, das zurzeit von der BP betrieben wird und sowohl zur Gewinnung von Monomeren, als auch petrochemischer Rohstoffe dient und das von Walter Michaeli und anderen entwickelte Verfahren der degradativen Extrusion, das in der Lage ist, vermischte Kunststoffabfälle in rohstofflich verwertbare Gase, Wachse und Öle umzuwandeln. Diese Verfahren werden naturgemäß vor allem für die Verwertung von Mischkunststoffen genutzt, die sich nur unter großem Aufwand trennen lassen würden. Energetische Verwertung Bei der energetischen Verwertung werden die Kunststoffe zur Energiegewinnung genutzt. Das geschieht fast ausschließlich durch Verbrennung. Einsatzgebiete sind vor allem Hochöfen, Zementwerke, Kraftwerke etc. Die dort vorherrschenden hohen Temperaturen sorgen für eine vollständige und schadstoffarme Verbrennung. Der Heizwert von Kunststoffen entspricht ungefähr dem von Steinkohle. Plastiksteuer und Lenkungsabgaben Zur Reduzierung der Menge, Ausbreitung in der Umwelt und Beeinflussung der Produktion über Anreize beim Preis wird eine Steuer mit Lenkungswirkung sowie der Abbau von steuerlichen Begünstigungen gegenüber Kraftstoffen erwogen und kontrovers diskutiert. Die Europäische Union und verschiedene Länder haben die Produktion und Verbreitung von verschiedenen Einwegprodukten aus Plastik verboten. Abbau Herkömmliche Kunststoffe galten bislang als biologisch nicht abbaubar. Ohne biologischen Abbau zersetzen sich Kunststoffe nur sehr langsam durch chemische und physikalische Prozesse (siehe Abschnitt Persistenz). In jüngerer Zeit wurden einige Organismen gefunden, die auch herkömmliche Kunststoffe abbauen können. Bereits seit langem sind biologisch abbaubare Kunststoffe bekannt, meist Polyester. Biologischer Abbau herkömmlicher Kunststoffe Von zwei Insekten, der Dörrobstmotte Plodia interpunctuella und der Großen Wachsmotte Galleria mellonella ist bekannt, dass sie mit Hilfe von Darmbakterien Polyethylen abbauen können. Die Mottenlarve Galleria mellonella kann Polyethylen-Folien innerhalb von wenigen Stunden durchlöchern. Der genaue Mechanismus ist noch unbekannt, vermutlich besteht ein Zusammenhang mit der Fähigkeit der Mottenlarven, Wachs aus Bienenwaben zu verdauen (Wachs und Polyethylen sind sich chemisch ähnlich, in beiden spielen CH2-CH2-Bindungen eine wichtige Rolle). 2016 wurde das Bakterium Ideonella sakaiensis entdeckt, das in der Lage ist, sich von PET-Abfällen zu ernähren. Es benötigte jedoch für den Abbau eines dünnen Kunststofffilms sechs Wochen. Da es PET in seine Ausgangsstoffe Terephthalsäure und Ethylenglycol zersetzt, wäre es prinzipiell zum Recycling einsetzbar. Ebenso können Mehlkäfer (Tenebrio molitor) ausschließlich mit Polystyrol ernährt werden, wobei bei Mehlkäfern der Abbauprozess noch unbekannt ist. Da Insektenlarven mit ihren Kauwerkzeugen Kunststoffe zu feinen Partikeln verarbeiten, kann der Abbau durch bakterielle Enzyme schneller erfolgen. 2017 wurde in einer Publikation gezeigt, dass Tübinger Gießkannenschimmel (Aspergillus tubingensis) Polyester-urethane abbauen kann. Innerhalb von zwei Monaten konnte ein Kunststofffilm vollständig abgebaut werden. Im Jahr 2020 wurde bekannt, dass Enzyme für den Abbau von Plastik zum Einsatz kommen können. Dazu werden spezielle Enzyme verwendet, die so hitzestabil sind, dass sie auch Temperaturen um die 70 Grad aushalten. Ein aktiver Vertreter dieser Methode ist die französische Firma Carbios. Die Flaschen müssen vor dem Erhitzen zuerst verkleinert werden. Trotz dieses Aufwands wird das Verfahren als lohnend bewertet, da die Ausgaben für diesen Prozess sich auf nur etwa 4 % der Kosten belaufen, die für die Produktion neuer Plastikflaschen aus Rohöl anfallen. Die Wirkungsweise des Enzyms, welches die Polyethylenterephthalat (PET) in Polymere zerlegt, wird dabei von Carbios als "bakterieller Katalysator" beschrieben. An der Erforschung und Nutzbarmachung dieses Verfahrens sind inzwischen auch Nestlé, PepsiCo, L'Oreal und der japanische Getränkehersteller Suntory beteiligt. Biologisch abbaubare Kunststoffe Seit etwa 1990 wird intensiv an kompostierbaren, entsorgbaren Kunststoffen geforscht. Definiert wird die Prüfung der Kompostierbarkeit von Kunststoffen seit 1998 unter der DIN-Norm V 54900. Damit ein Kunststoff biologisch abbaubar ist, muss er Angriffsstellen für die Enzyme der Mikroorganismen bieten, die ihn für ihren eigenen Stoffwechsel nutzen sollen. Diese Enzyme verwandeln die langen Polymerketten in handlichere wasserlösliche Bruchstücke. Dazu können bereits natürlich vorkommende Polymere (Biopolymere) oder Einheiten in synthetisch hergestellte Ketten wie Zucker, Bernsteinsäure oder Milchsäure integriert werden. Entscheidend ist die Anwesenheit von Heteroatomen wie Stickstoff oder Sauerstoff im Kunststoff. So sind die meisten der bisher etwa 30 bekannten, vermarktungsfähigen, biologisch abbaubaren Kunststoffe Polyester, Polyamide, Polyesterurethane und Polysaccharide. Bei synthetisch hergestellten Polyestern und -amiden besteht das Problem, dass gerade die Eigenschaften, die die Schlag- und Zugfestigkeit der Materialien ausmachen (intramolekulare H-Brücken in Amiden, aromatische Komponenten in Polyestern), einer Verwertung durch die Natur entgegenstehen. Eine Verbesserung der biologischen Abbaubarkeit bedeutet so auch fast immer eine Verschlechterung der Werkstoffeigenschaften. Die Weltproduktion an biologisch abbaubaren Kunststoffen betrug im Jahr 2007 300.000 Tonnen (im Vergleich zu 240 Mio. Tonnen Standardkunststoff). Polysaccharide Polysaccharide (Stärke, Cellulose) dienen der Natur als Energiespeicher und Gerüstsubstanzen. Unzählige Einfachzucker (wie Glukose oder Fruktose) bilden lange Ketten und stellen somit natürlich vorkommende Polymere dar, die als solche auch von der Natur abgebaut werden können. Sie sind billig und in großen Mengen verfügbar, zeigen allerdings einen gravierenden Nachteil: Sie können nicht durch Aufschmelzen zu Folien, Formteilen oder Fasern verarbeitet werden, d. h., sie sind nicht thermoplastisch formbar. Die thermoplastische Formbarkeit ist jedoch gerade einer der großen Vorzüge von Kunststoffen. Eine Veresterung der freien OH-Gruppen der Zucker verbessert zwar die Materialeigenschaften, setzt aber auch ihre Fähigkeit zur biologischen Abbaubarkeit herab. Werden Polysaccharide als Werkstoff eingesetzt, ist der Kompromiss zwischen Werkstoffeigenschaften und biologischer Abbaubarkeit nötig. Polyhydroxybuttersäure (PHB) Polyhydroxybuttersäure ist ein ebenfalls natürlich vorkommendes Polymer, das von bestimmten Mikroorganismen zur Energiespeicherung gebildet wird. Durch Fermentation können diese dazu angeregt werden, das Polymer bis zu 90 % ihrer eigenen Masse anzureichern. Es ist als Biopolymer biologisch abbaubar und zeigt Materialeigenschaften, die denen von Polyestern ähneln. Gegenwärtig bestehen Bestrebungen, PHB in gentechnisch veränderten Pflanzen zu produzieren („Plastikkartoffeln“). Mögliche Anwendungsgebiete Agrarwirtschaft: verrottende Mulchfolien, Pflanzentöpfe Abfallentsorgung: Entsorgung von besonders verdrecktem, nur schlecht recyclebarem Müll, wie Lebensmittelverpackungen, Windeln etc. Landschaftspflege: Verringerung des Littering Fischerei: verlorene Fischernetze stellen eine latente Gefahr für größere Meereslebewesen dar Kunstdünger: als Hüllsubstanzen für Dünger, so dass dieser langsamer und dosierter wirken kann (Controlled release). Wirtschaftlicher Anteil von Kunststoffen Übersicht Weltweit werden derzeit rund 380 Millionen Tonnen Kunststoff pro Jahr verbraucht (Stand: 2017). Im Durchschnitt wuchs die Produktion von Kunststoffen seit 1950 um ca. 8,4 % pro Jahr und damit 2,5 mal so schnell wie das durchschnittliche Bruttoinlandsprodukt. Die Gründe dafür sind vielfältig (siehe auch Kapitel Eigenschaften): Zunächst ist Erdöl als Rohstoffquelle leicht zugänglich; dabei beträgt der Anteil am weltweiten Erdölverbrauch von Kunststoffen nur 4 %. Das Gewicht von Kunststoff ist, verglichen mit Eisen- und Keramikwerkstoffen, sehr gering. Die Verarbeitung von Kunststoffen (und speziell Thermoplasten) ist bei niedrigen Temperaturen möglich und damit kostengünstig. Schließlich sind Kunststoffe auch noch durch ihre speziellen Eigenschaften als Funktionswerkstoffe (siehe Kapitel Sonderkunststoffe) für Anwendungen verwendbar, für die sich sonst kein anderes Material in dieser Weise eignen würde und die teilweise erst durch Kunststoffe ermöglicht werden. In Wirtschaftsstatistiken werden Chemiefasern, sowie Kunstharze in Lack- und Klebstoffen oft von anderen Kunststoffen getrennt ausgewiesen. Produktionsstatistik von Kunststoffen Gesundheitsgefahren Bereits 1957 wurde eine Kunststoffkommission des Bundesgesundheitsamtes gegründet, um sich mit den vom Kunststoff ausgehenden Gesundheitsgefahren auseinanderzusetzen. Im Gründungsdokument steht der folgende Satz: „Die zunehmende Verwendung von Kunststoffen bei Bearbeitung, Verteilung und Verbrauch von Lebensmitteln, z. B. als Verpackungsmaterial, in Form von Folien sowie als Eßgeschirr, Trinkbecher usw., hat zahlreiche gesundheitliche Probleme aufgeworfen … (… Bulletin der Bundesregierung Nr.156 vom 24. August 1957)“ Polymere (Hauptbestandteile von Kunststoffen) selbst gelten unter physikochemischen Bedingungen des Körpers als unreaktiv (inert) und können von den Zellen lebender Organismen nicht aufgenommen werden. Polymere sind somit voraussichtlich unbedenklich, es gibt jedoch noch viele offene Fragen. Untersucht werden allerdings mögliche Gefahren von Mikroplastik. Gefahren können außerdem von teilweise zugesetzten Additiven ausgehen. Additive können an der Oberfläche des Materials, so bei Bodenbelägen, austreten (Ausschwitzen). Aus diesem Grunde gelten für Lebensmittelverpackungen, Kunststoffe in der Medizin und ähnliche Anwendungen besonders strenge Auflagen hinsichtlich der Verwendung von Additiven. Die in solchen Bereichen eingesetzten Kunststoffe bedürfen einer Zulassung, beispielsweise durch die FDA. In diesem Zusammenhang ist in der Vergangenheit vor allem Weich-PVC in die Kritik geraten, da diesem Kunststoff besonders große Mengen an Weichmachern zugesetzt werden. Es ist daher schon seit langem nicht mehr als Verpackung für Lebensmittel zugelassen. Ebenso ist in der Europäischen Union Herstellung und Vertrieb von Spielzeug für Kinder bis zum Alter von drei Jahren aus Material untersagt, das Phthalat-Weichmacher (vorrangig DEHP) enthält. Allerdings werden bis heute vor allem in Fernost produzierte Spielzeuge aus Weich-PVC verkauft. Die in der EU hergestellten und vertriebenen Bodenbeläge, Trinkflaschen, Lebensmittelverpackungen, Kosmetikbehälter, Babyprodukte, Kunststoffspielzeuge etc. enthalten oftmals allerdings ebenfalls gesundheitsschädliche Additive. Die endokrinologische Fachgesellschaft Endocrine Society, die European Society of Endocrinology, die European Society for Pediatric Endocrinology, die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie, das National Institute of Environmental Health Sciences, die UNEP sowie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sehen es als erwiesen an, dass Weichmacher und andere Kunststoffadditive im menschlichen Körper bereits in geringsten Mengen als endokrine Disruptoren wirken und so schädlichen Einfluss auf das Hormonsystem ausüben. Demnach sind zahlreiche Additive (u. a. Phthalate, Parabene und Phenole) unter anderem an der Entstehung von Brust- und Prostatakrebs, Unfruchtbarkeit, Diabetes mellitus, kardiovaskulären Erkrankungen, Schilddrüsenerkrankungen, kindlichen Entwicklungsstörungen sowie neurologischen, neurodegenerativen und psychischen Erkrankungen beim Menschen ursächlich beteiligt. Zahlreiche medizinische Fachgesellschaften aus verschiedenen Ländern kritisieren, dass die aktuellen Grenzwerte unzureichend seien und deutlich stärkere Regulationsbemühungen nötig wären, um Verbraucher vor den gesundheitsschädlichen Auswirkungen von Kunststoffen zu schützen. Obwohl Wissenschaftler seit über 25 Jahren vor den Gefahren von endokrinen Disruptoren warnen würden, seien kaum politische Maßnahmen ergriffen worden, die Exposition von Verbrauchern gegenüber endokrinen Disruptoren zu reduzieren. Des Weiteren wird kritisiert, dass die kunststoffproduzierende Industrie zu großen Einfluss auf den Zulassungs-, Bewertungs- und Gesetzgebungsprozess habe und durch gezielte Desinformation der Öffentlichkeit und Infiltration wissenschaftlicher Fachzeitschriften versuche, die öffentliche Meinung einseitig zu beeinflussen und den wissenschaftlichen Konsens zur Gefährlichkeit von Kunststoffen zu leugnen. Dabei würden ähnliche Methoden angewendet wie jene, mit denen im zwanzigsten Jahrhundert die Regulation von Asbest und Tabakrauch herausgezögert worden sei. Die größte und älteste endokrinologische Fachgesellschaft der Welt, die Endocrine Society, widerspricht explizit den Beteuerungen von Herstellern und staatlichen Risikobewertungsinstituten, wonach bei Einhaltung der aktuellen Grenzwerte keine Gesundheitsgefahr bestehe, und weist darauf hin, dass es keine Grenze gebe, unterhalb derer von einer gesundheitlichen Unbedenklichkeit ausgegangen werden könne. Sie empfiehlt daher zur Vermeidung ernsthafter gesundheitlicher Konsequenzen unter anderem: die Vermeidung von industriell produzierten Nahrungsmitteln und in Dosen verpackten Nahrungsmitteln die Vermeidung von Aufbewahrungsmitteln aus Kunststoff (insbesondere solche, die mit dem Recycling-Code 3, 6 und 7 gekennzeichnet sind); kein Erhitzen in Kunststoffprodukten (bspw. in der Mikrowelle) die Vermeidung der Verwendung von Kunststoffflaschen die Vermeidung von Spielzeug aus Kunststoff den Verzicht auf Produkte, die endokrine Disruptoren enthalten (Phthalate, Bisphenol A, Parabene) die Benutzung von Kosmetika ohne synthetisch hergestellte Duftstoffe die Vermeidung des Kontakts mit Thermopapier, wie es oft für Kassenzettel o. ä. verwendet wird die Ernährung durch Bio-Lebensmittel, da für deren Produktion keine synthetischen Pestizide verwendet werden dürfen Literatur Bücher Erwin Baur u. a. (Hrsg.): Saechtling Kunststoff-Taschenbuch. 31. Auflage. 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Ausgabe. Carl Hanser Verlag, München/ Wien 1990, ISBN 3-446-15627-5. Jürgen Dispan: Kunststoffverarbeitung in Deutschland. Branchenreport 2013. (= IMU-Informationsdienst Nr. 4–2013). Stuttgart 2013. Link zur Branchenstudie Zeitschriften und Aufsätze Kunststoff in der Umwelt - ein Kompendium. Bertling et al. (2021), doi:10.24406/umsicht-n-624998 Kunststoff-Magazin. Die Kennziffern-Fachzeitschrift der Kunststoff- und Kautschukbranche. Hoppenstedt, Darmstadt ab 1995 Plastverarbeiter (PV). internat. Fachzeitschr. für Verarbeitung, Gestaltung und Anwendung von Kunststoffen. Hüthig, Heidelberg 1.1950,Apr.ff. Kunststoffe, Synthetics. Fachzeitschrift für Herstellung, Verarbeitung und Anwendung von Kunststoffen und neuen Werkstoffen. Vogt-Schild, Solothurn 23.1992,6ff. Kunststoffe (KU). Werkstoffe, Verarbeitung, Anwendung. Organ deutscher Kunststoff-Fachverbände. Fachzeitschrift für Kunststofftechnik. Hanser, München 1.1911ff. (älteste periodische Veröffentlichung zum Thema) KunststoffXtra. 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Institute Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung, (IAP) Potsdam-Golm Kunststoff-Institut Lüdenscheid Institut für Kunststoffverarbeitung (IKV), Aachen Institut für Technische und Makromolekulare Chemie (ITMC) Aachen Lehrstuhl Makromolekulare Chemie I, Uni Bayreuth Institut für Polymere, an der ETH Zürich Institut für Werkstofftechnik und Kunststoffverarbeitung (IWK), an der Fachhochschule Ostschweiz (OST) in Rapperswil Leibniz-Institut für Polymerforschung Dresden e. V. Dresden Lehrstuhl für Kunststofftechnik, Erlangen Institut für Technische und Makromolekulare Chemie, Uni Hamburg Institut für Kunststofftechnik (IKT), Stuttgart Institut für angewandte makromolekulare Chemie, (IAMC) Stuttgart Süddeutsches Kunststoff-Zentrum (SKZ), Forschungsinstitut und Ausbildungsstätte für Kunststofftechnik, Würzburg Institut für Polymerwerkstoffe und Kunststofftechnik, (PuK) Clausthal-Zellerfeld Department für Kunststofftechnik, an der Montanuniversität Leoben Lehrstuhl für Kunststofftechnik, Ilmenau Verbände AVK – Industrievereinigung Verstärkte Kunststoffe e. V. (AVK), Frankfurt am Main GKV Gesamtverband Kunststoffverarbeitende Industrie e. V. (GKV), Berlin Industrievereinigung Kunststoffverpackungen e. V. (IK), Bad Homburg Fachverband Schaumkunststoffe und Polyurethane e. V. (FSK), Frankfurt am Main Weblinks chemie.fu-berlin.de: Kunststoff-Tabelle act.greenpeace.de: Wege aus der Plastikkrise (Über Imagewandel und Bedeutung von Kunststoff) Vereinigung europäischer Kunststoffhersteller: plasticseurope.org visualcapitalist.com, 3. Juli 2019, Iman Ghosh: Mapping the Flow of the World’s Plastic Waste (englisch; „Karte zum Gang des weltweiten Plastikmülls“) Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Star%20Trek%3A%20Der%20erste%20Kontakt
Star Trek: Der erste Kontakt
Star Trek: Der erste Kontakt (Originaltitel: Star Trek: First Contact) ist ein US-amerikanischer Science-Fiction-Film aus dem Jahr 1996. Er ist der achte im fiktiven Star-Trek-Universum spielende Kinofilm und der zweite, in dem die Raumschiffsbesatzung aus Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert im Zentrum der Handlung steht. In dem Film wird die Enterprise im 24. Jahrhundert in einem von den kybernetischen Borg verursachten Zeitstrudel gefangen. Diese sind auf dem Weg zur Erde im 21. Jahrhundert, um die Erde zu assimilieren und das Entstehen der Vereinigten Föderation der Planeten zu vereiteln. Die Geschichte, die sich auch auf Motive des Romans Moby-Dick von Herman Melville stützt, dreht sich zu einem bedeutenden Teil um Rache und Verführung. Sie führt ein neues Enterprise-Raumschiff und mit der Borg-Königin eine Herrscherin über das Borg-Kollektiv in das Star-Trek-Universum ein. Für Jonathan Frakes, Darsteller des Ersten Offiziers Riker, war es das Debüt als Regisseur eines Kinofilms; dabei nutzte er populäre Action- und Science-Fiction-Filme als Vorbilder. Mit einem weltweiten Einspielergebnis von etwa 150 Millionen US-Dollar, wovon circa 19 Millionen auf Deutschland entfallen, wurde der Film zu einem der kommerziell erfolgreichsten Star-Trek-Filme und – bei einem Budget von 45 Millionen US-Dollar – zu der für das Filmstudio Paramount profitabelsten der vier Leinwandadaptionen von Das nächste Jahrhundert. Kritiker lobten den Film vor allem mit Blick auf Tempo und Unterhaltsamkeit der Handlung, auf die Inszenierung und auf das Schauspiel der Hauptdarsteller Patrick Stewart und Alice Krige; manche Kritiker beanstandeten den Film als zu wenig auf die Charakterisierung der Hauptfiguren zentriert. Vor allem hinsichtlich des Vorgehens der Enterprise-Crew gegen die Borg wurde die Handlung als Abkehr von für Star Trek typischen Werten wie Toleranz gedeutet. Einige der Heimkino-Veröffentlichungen tragen auch die Nummer 8 beziehungsweise VIII, die der Film innerhalb der Star-Trek-Filmreihe einnimmt, im Titel. Handlung Vorgeschichte Der Film baut auf der Handlung vorheriger, kanonischer Star-Trek-Produktionen auf – vor allem von Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert –, setzt deren Kenntnis aber nicht zwingend voraus. Anders als in Treffen der Generationen finden sich jedoch auch Verweise auf Star Trek – Deep Space Nine und Star Trek – Voyager, die jedoch nur auffallen, wenn man mit den Serien vertraut ist. Für den Verlauf der Handlung spielen sie keine Rolle. Als Captain der U.S.S. Enterprise NCC 1701-D, des Flaggschiffes der von der Vereinigten Föderation der Planeten betriebenen Sternenflotte, wird Jean-Luc Picard am Ende des Jahres 2366 von den Borg entführt und auf einem ihrer würfelförmigen Raumschiffe gefangengehalten. Die Borg sind eine Spezies, bei deren Vertretern es sich um Hybridwesen aus Humanoiden und Maschinen ohne Individualität handelt und die ein Kollektivbewusstsein besitzen. Ihr Selbstverständnis ist es, sich durch das Assimilieren der Vertreter und der Technologie anderer Kulturen weiterzuentwickeln. Gleiches beabsichtigen die Borg auch mit den Menschen und der Erde; zu diesem Zweck setzen sie den von ihnen assimilierten Picard als Sprecher ein. Zwar wird Picard nach kurzer Zeit von der Mannschaft der Enterprise aus der Gefangenschaft der Borg befreit, er behält jedoch die Erinnerungen an seine Gefangenschaft (→ Das nächste Jahrhundert: In den Händen der Borg, Angriffsziel Erde). Der Androide Data, Führungsoffizier auf der Enterprise, lässt sich 2371 einen Chip zum Erleben von Emotionen einsetzen – ein auch deaktivierbares Bauteil, durch das er seinem Ziel, menschlicher zu werden, wesentlich näher kommt. Unabhängig davon wird im selben Jahr die Antriebssektion der Enterprise zerstört und die Untertassensektion zur Notlandung auf der Oberfläche eines Planeten gezwungen (→ Treffen der Generationen). Filmhandlung Die Handlung setzt im Jahr 2373 ein. Die Borg haben offensichtlich mit der Invasion des Föderationsgebietes begonnen, ein Borg-Würfel nähert sich der Erde. Obwohl es sich bei der neu in Dienst gestellten U.S.S. Enterprise NCC-1701-E um das am weitesten entwickelte Raumschiff der Sternenflotte handelt, befindet sich dieses dem Befehl des Admirals Hayes entsprechend auf Patrouille in einem weitab der Front gelegenen Teil des Alls. Captain Picard, der unter Albträumen an seine einstige Assimilation durch die Borg leidet, ist sich sicher, dass ihn Hayes wegen seiner Assimilationserfahrung als zu unberechenbar beurteilt, um gegen die Borg zu kämpfen. Als Picard davon erfährt, dass eine Flotte aus Sternenflottenraumschiffen beim Kampf gegen den Borg-Würfel schwere Verluste erleidet, widersetzt er sich, vollständig unterstützt von seinen Stabsoffizieren, seinem Befehl. Am Kampfschauplatz in der Nähe der Erde angelangt, rettet die Enterprise-Crew Worf und die restliche Besatzung des durch die Borg schwer beschädigten Raumschiffs Defiant. Picard lässt die Sternenflottenraumschiffe auf bestimmte, ihm aus seiner Assimilationszeit bekannte Koordinaten des Borg-Würfels schießen. Kurz bevor der Würfel aufgrund des gezielten Beschusses explodiert, verlässt ihn ein kugelförmiges, kleineres Borg-Raumschiff, das wenig später in einem Wirbel verschwindet, der ihm für eine Zeitreise dient. Als die Brückenmannschaft plötzlich bemerkt, dass die Erde vollständig von den Borg assimiliert ist und dafür nur das in die Vergangenheit gereiste Borg-Raumschiff verantwortlich sein kann, folgt die Enterprise ihm in den Wirbel. Die Enterprise zerstört das auf eine Raketenbasis in Montana schießende, feindliche Borg-Raumschiff. Untersuchungen ergeben, dass die Enterprise ins Jahr 2063 zurückgereist ist, und zwar an den 4. April, dem Vortag des ersten Kontakts zwischen Menschen und Vulkaniern. Für die Führungsoffiziere steht nun außer Frage, dass die Borg den ersten Kontakt und damit auch das Entstehen der Föderation verhindern wollen. Deshalb fasst Picard den Entschluss, das Vorhaben der Borg zu vereiteln, und dafür zu sorgen, dass dem Erdenbürger Zefram Cochrane dessen erster Flug mit einem Warp-Raumschiff gelingt, durch den der erste Kontakt zustande kommt. In der Abschussrampe von Cochranes Raumschiff Phoenix, das beim Angriff der Borg beschädigt wurde, entdeckt ein Außenteam auf der Suche nach Cochrane dessen Assistentin Lily Sloane. Zur Behandlung ihrer Verletzungen wird sie von Dr. Beverly Crusher mit auf die Enterprise genommen. Nachdem sich auf der Enterprise Probleme mit dem Umweltkontrollsystem zeigen, erkennt Picard, dass die Borg kurz vor der Explosion ihres Mutterschiffes sich selbst auf die Enterprise transferiert haben müssen und nun dabei sind, das Raumschiff zu assimilieren. Data schafft es, den Hauptcomputer der Enterprise zu sperren und so die Borg daran zu hindern, den Computer zu benutzen. Innerhalb kurzer Zeit kontrollieren die Borg mehr als die Hälfte aller Decks. Während mehrere, aus Picard, Data, Worf und anderen bewaffneten Mannschaftsmitgliedern bestehende Stoßtrupps daraufhin die Borg daran zu hindern versuchen, die Enterprise vollständig zu übernehmen, wird Data von den Borg entführt. Zudem begegnet Picard der ausgerissenen, ihm gegenüber zunächst skeptischen Lily, die er alsbald davon überzeugen kann, keiner von ihren Feinden zu sein. Während Picard mit Lily unterwegs durch das Raumschiff ist, erklärt er ihr die Föderation und die Enterprise. Picard kann einige Borg in einen Hinterhalt auf dem Holodeck locken und sich dadurch eines ihrer Neuroprozessoren bemächtigen. Aus diesem gewinnt er die Information, dass die Borg planen, unter Verwendung des Deflektorschildes der Enterprise Verstärkung von ihrem im 21. Jahrhundert lebenden Volk herbeizurufen. Um die Borg daran zu hindern, begeben sich Picard und Worf zusammen mit Schiffsnavigator Lieutenant Hawk in Raumanzügen zu dem an der Außenseite des Raumschiffs angebrachten Deflektorschild, an dessen Sender die Borg noch Konfigurationsarbeiten vornehmen. Es gelingt ihnen, den Schild trotz des Widerstandes der Borg und der Assimilation Hawks abzusprengen und zu zerstören. Zur Verwunderung Datas, der im Maschinenraum auf dem Rücken liegend gefesselt ist, erscheint ein weibliches Borg-Individuum, das sich ihm als die Anführerin der Borg vorstellt, allerdings erst im Abspann als „Borg Queen“ (Deutsch: „Borg-Königin“) bezeichnet wird. Die Borg-Königin beabsichtigt, mit Datas Hilfe die Kontrolle über den Hauptcomputer der Enterprise zu erlangen, und bietet ihm zu diesem Zweck an, ihm bei der Erfüllung seines Traums, menschlicher zu werden, zu unterstützen. Dazu lässt sie ein Stück menschliche Haut auf Datas Endoskelett transplantieren und versetzt ihn so in die Lage, Empfindungen wahrzunehmen. Solche spürt er auch, als die Borg einen Fluchtversuch Datas gewaltsam abbrechen. Anschließend testet die Borg-Königin Datas Empfindungen in Bezug auf Sexualität und gibt ihm dazu einen Kuss auf den Mund, den Data erwidert. Auf dem Gelände der Raketenbasis erklären unterdessen Riker, Troi und La Forge dem Alkoholiker Cochrane die Situation und versuchen ihn davon zu überzeugen, seinen Warp-Flug am nächsten Tag wie geplant durchzuführen, damit der erste Kontakt tatsächlich zustande kommt. Die Begeisterung der Mannschaftsmitglieder von Cochranes, aus dessen Sicht zukünftigen, Leistungen erzeugt bei Cochrane allerdings Verdruss, da er nicht als Held verehrt werden möchte. Er hat das Warp-Triebwerk nur wegen der Hoffnung auf einen möglichst hohen finanziellen Verdienst gebaut. Überwältigt von der Bedeutung, die er für die Zukunft des Planeten hat, flieht er in ein Waldstück. Riker überzeugt ihn mit dem Argument von der Rückkehr, dass er nicht versuchen solle, ein Held zu sein, sondern dass er der Geschichte die Möglichkeit geben solle, sich auf ihre eigene Weise zu entwickeln. Gemeinsam gelingt ihnen anschließend die Reparatur der Phoenix. Die Borg assimilieren das Schiff weiterhin, sodass Worf und andere Brückenoffiziere von Picard fordern, die Selbstzerstörung der Enterprise einzuleiten und somit die auf ihr befindlichen Borg zu vernichten. Zu ihrem Unmut lehnt Picard die Forderung ab, weil er keine weitere Enterprise opfern will. Eine Erklärung für das Vermeiden der Selbstzerstörung fordernd, vergleicht Lily Picards Verhalten mit dem von Kapitän Ahab aus dem Roman Moby-Dick und überzeugt ihn so davon, dass sein Urteilsvermögen durch seine Racheabsichten gegen die Borg getrübt ist. Dadurch stimmt Picard dem Einleiten der Selbstzerstörungssequenz zu und veranlasst die Evakuierung der Crew auf die Erdoberfläche. Während Cochrane, wie vorgesehen und begleitet von Riker und La Forge, mit der Phoenix von der Erde startet, begibt sich Picard in den Maschinenraum, um Data zu befreien. Dort erinnert er sich, der Borg-Königin während seiner einstigen Assimilation begegnet zu sein, und bietet sich ihr als Gegenleistung für Datas Freiheit an. Data, dessen Gesicht mittlerweile ebenfalls teilweise aus menschlicher Haut besteht und der sich emotionaler als zuvor verhält, gibt vor, durch die Borg kontrolliert zu werden. Dazu deaktiviert er die Selbstzerstörungssequenz und übergibt den Borg die Kontrolle über den Hauptcomputer. Als die von Data abgeschossenen Torpedos ihr Ziel – die Phoenix – aber verfehlen, zerstört er einen im Maschinenraum befindlichen Tank mit organische Materialien zersetzendem Plasmakühlmittel. Dieses strömt daraufhin aus und konzentriert sich am Boden. Um sich vor dem Kühlmittel in Sicherheit zu bringen, klettert Picard an herabhängenden Schläuchen empor; dabei klammert sich die Borg-Königin, ebenfalls Rettung suchend, an ihm fest. Data gelingt es, die Borg-Königin nach unten zu ziehen, woraufhin beide in das Kühlmittel stürzen. Nachdem das Kühlmittel abgesaugt ist, zerstört Picard den übrig gebliebenen, anorganischen Teil der Borg-Königin. Durch Cochranes Warp-Flug am 5. April 2063 auf die Erde aufmerksam geworden, stellen einige Vulkanier den Kontakt mit den Menschen auf der Raketenbasis her – ohne aber die Enterprise bemerkt zu haben. Während Cochrane die Neuankömmlinge in einem Restaurant zu unterhalten versucht, kehrt die Enterprise in das 24. Jahrhundert zurück. Entstehungsgeschichte Projektierung und Drehbuchentwurf Rick Berman, der bei Paramount für Star Trek Hauptverantwortliche, beauftragte Anfang des Jahres 1995 Brannon Braga und Ronald D. Moore mit dem Entwickeln eines Drehbuchs für einen neuen Star-Trek-Film. Die beiden hatten bereits das Drehbuch für den Ende 1994 erschienenen Vorgängerfilm Treffen der Generationen verfasst. Sie entwickelten das Drehbuch basierend auf ihrer eigenen Idee, die eine Borg-zentrierte Geschichte vorsah, und der von Berman, der eine Geschichte über das Zeitreisen favorisierte. Ehe sie sich für das 21. Jahrhundert als Haupthandlungszeit entschieden, legten sie den Fokus auch auf andere Epochen, zum Beispiel auf das Zeitalter der Renaissance, und entschieden sich gegen diese Zeiträume, weil sie in den meisten Fällen bereits in früheren Star-Trek-Produktionen thematisiert worden waren. Die Vorbereitungen für die Produktion des Filmes dauerten etwa ein Jahr. Führungskräfte von Paramount kritisierten die Borg in frühen Drehbuchentwürfen als – wie der Buchautor Robb es formulierte – „wenig mehr als Weltraumzombies“. Aus diesem Grund wurde die Entscheidung getroffen, als Repräsentationsfigur eine Borg-Königin einzuführen. Einen vom Kirk-Darsteller William Shatner bei Paramount eingereichten Drehbuchentwurf, der eine Wiederbelebung seiner Figur durch die Borg vorsah, lehnten Berman, Braga und Moore ab; dafür entstand basierend auf dem Manuskript der 1997 erstveröffentlichte Roman The Return (Die Rückkehr). Den ursprünglich vorgesehenen Originaltitel Star Trek: Resurrection für den Film gab man wieder auf, nachdem der Originaltitel Alien: Resurrection des vierten Alien-Films Alien – Die Wiedergeburt bekannt geworden war. Ein zwischenzeitlicher Entwicklungsstand des Drehbuchs sah vor, die von Picard und der Figur Lily handelnde Geschichte auf der Erde anzusiedeln und beide eine Romanze führen zu lassen, während Riker und Worf auf der Enterprise gegen die Borg kämpfen. Dagegen erhob Picard-Darsteller Patrick Stewart, der die Liebesgeschichte als unglaubwürdig beurteilte, allerdings Einspruch. Es entstand auch der Konsens, dass es falsch wäre, Picard aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen nicht mit den Borg zu konfrontieren. Den Entwurf änderte man deshalb in die letztlich zur Filmreife geführte Drehbuchvariante. Braga und Moore stimmten das Drehbuch in hohem Umfang auch mit Data-Darsteller Brent Spiner ab und berücksichtigten überdies die Meinungen der anderen, für den Film ausgesuchten Schauspieler. Weitere, verworfene Titel für den Film waren unter anderem Star Trek – Generations 2, Star Trek: Borg und Star Trek: Regeneration. Da unter anderem David Carson, der Regisseur des siebten Star-Trek-Kinofilms, terminbedingt nicht zur Verfügung stand, fiel die Entscheidung auf Jonathan Frakes als Regisseur. Auch von Stewart befürwortet, entschied sich Berman für Frakes aufgrund dessen verhältnismäßig großer Erfahrung mit Star Trek, die er neben seiner Hauptrolle in Das nächste Jahrhundert auch als Regisseur einiger Episoden sowohl dieser Serie als auch von Deep Space Nine und Raumschiff Voyager gesammelt hatte. Kritiker vermuteten als Motivation für die Entscheidung auch Frakes’, als Regie-Debütant eines Kinofilms, verhältnismäßig geringe Gage. Scherzhaft nannte Frakes als Grund für die Entscheidung die Nichtverfügbarkeit von Ridley Scott und John McTiernan. Besetzung und deutsche Synchronfassung Mitte des Jahres 1995 teilte Stewart dem Studio Paramount mit, dass er für einen weiteren Star-Trek-Film nicht zur Verfügung stehe. Zur gleichen Zeit verdichtete sich das Gerücht, Joel Schumacher wolle Stewart in dem Film Batman & Robin besetzen, bis in die Zeitschrift Variety. Aus Furcht davor, Stewart im Falle eines kommerziellen Erfolges des Batman-Filmes aufgrund gestiegener Gagenforderung nicht mehr für die Rolle des Picard zu gewinnen, unterbreitete das Studio ihm ein Angebot, das ein Honorar von 5 Millionen US-Dollar und ein Mitspracherecht an der Gestaltung des Drehbuches beinhaltete, welches Stewart akzeptierte. Auch für Picards sechs Stabsoffiziere konnten erneut die Darsteller verpflichtet werden, die diese Rollen bereits in der Fernsehserie und in Treffen der Generationen gespielt hatten. Die Rolle der Lily Sloane wurde auf Stewarts Wunsch hin mit einer schwarzen Schauspielerin besetzt. Damit beabsichtigte er, dem Film die Aussage zu verleihen, dass Rassismus weder in der Zukunft noch in der Gegenwart akzeptabel sei. Stewart bereitete sich auf seine Rolle mit einem professionell angeleiteten, zwölfwöchigen Fitnesstraining vor. Obwohl Frakes sagte, dass die Figuren Zefram Cochrane, Lily Sloane und der Borg-Königin mit der ersten Wahl an Schauspielern besetzt worden seien, war für die Rolle des Cochrane ursprünglich Tom Hanks vorgesehen, der aber terminbedingt absagte. Die Rolle des Cochrane, die in der Raumschiff-Enterprise-Episode Metamorphose durch Glenn Corbett († 1993) verkörpert worden war, erhielt James Cromwell, der in Das nächste Jahrhundert und Deep Space Nine bereits in drei anderen Gastrollen mitgewirkt hatte. In Star Trek Enterprise spielte Cromwell später nochmals die Rolle des Cochrane, allerdings in einem Spiegel-Universum, wo der erste Kontakt mit den Vulkaniern anders verläuft. Die deutsche Synchronfassung erstellte, wie schon beim Vorgängerfilm, das Synchronstudio Berliner Synchron. Dialogbuchautor und -regisseur war Lutz Riedel. In der Fernsehserie und im siebten Star-Trek-Film waren die Figur Riker durch Detlef Bierstedt und die Figur La Forge durch Charles Rettinghaus synchronisiert worden. Die Forderungen beider Synchronsprecher an das Synchronstudio, ihre Gage zwecks Beteiligung an den Einnahmen für Hörspiele, die unter anderem mit ihren Stimmen erstellt worden waren, zu vervielfachen, wollten weder das Synchronstudio noch Paramount bezahlen. Daher wurden die deutschen Stimmen beider Figuren mit den Synchronsprechern Tom Vogt beziehungsweise Bernd Vollbrecht neu besetzt. In der Szene, in der ein weibliches Besatzungsmitglied im Maschinenraum von den Borg assimiliert wird und dabei in die Kamera schreit, hört man in der ursprünglichen deutschen Synchronfassung keinen Schrei. Dies korrigierte man für die DVD-Veröffentlichung, in der an dieser Stelle der englische Originalton zu hören ist. Szenenbild Für das Szenenbild war der in diesem Bereich langjährig Star-Trek-erfahrene Herman F. Zimmerman verantwortlich. Die Modellierung aller Außen- und Innensets beanspruchte etwa ein Jahr. Unter anderem die etwa 60 an den Wänden der ebenfalls neu gestalteten Schiffsbrücke angebrachten Bildschirme dienten zum Suggerieren technischen Fortschrittes gegenüber den Vorgängerraumschiffen. Beim Set für die Krankenstation handelt es sich um das für Raumschiff Voyager verwendete, die Beobachtungslounge übernahm man von der Enterprise-D und überarbeitete sie. Als Set für die Abschussrampe von Cochranes Warp-Raumschiff Phoenix verwendete man ein im Titan Missile Museum in Green Valley (Arizona) befindliches Raketensilo. Anstelle des Nuklearsprengkopfes der darin aufbewahrten, etwa 33 Meter langen Titan-II-Interkontinentalrakete wurde zum Schaffen des Raumschiffs Phoenix eine eigens angefertigte Cockpit-Attrappe befestigt, die Zimmerman als ähnlich dem Cockpit einer Boeing 747 beschrieb. Kostüme und Masken Das Drehbuch sah etwa 800 verschiedene Kostüme vor. Frakes engagierte Deborah Everton als Kostümbildnerin, weil er ihre Erfahrung mit der Gestaltung der Kostüme für Science-Fiction-Filme schätzte, zu denen auch Abyss – Abgrund des Todes gehört. Für die Kostümgestaltung der im 21. Jahrhundert lebenden Menschen und der als solche verkleideten Enterprise-Besatzungsmitglieder orientierte sich Everton an den Werken von Charles Dickens. Das Kostüm der Borg-Königin fertigte man als Einteiler. Nachdem erst in Treffen der Generationen die zuvor in Deep Space Nine eingeführte Gestaltung der Sternenflottenuniformen übernommen worden war, führte man in Der erste Kontakt abermals neu gestaltete Uniformen für die Sternenflottenmitglieder ein. Als einen möglichen Grund dafür nannte die Zeitschrift Moviestar die Förderung des Merchandisings. Maskenbildner war der Oscar-Preisträger Michael Westmore, seit dem Produktionsbeginn von Das nächste Jahrhundert in dieser Funktion für die Star-Trek-Fernsehserien tätig. Inspirationsquelle Zimmermans und Westmores für die Neugestaltung der Borg waren auch die Werke des Alien-Erschaffers HR Giger. Neu gegenüber der Darstellung der Borg in der Fernsehserie waren vor allem die nunmehr vollständig sichtbaren Schädel und die vernarbt wirkende und feucht-glänzende Haut. Dreharbeiten Die Dreharbeiten begannen am 8. April 1996. Die ersten drei Wochen dienten den Außenaufnahmen. Man begann mit dem Dreh in dem Raketensilo in Arizona, in dem sich dazu trotz der Enge zeitweise über 100 Stabsmitglieder und Schauspieler aufhielten. Die auf der Erde des 21. Jahrhunderts spielenden Außenszenen drehte man im Angeles National Forest nahe Los Angeles. In der Union Station der Stadt nahm man die Szenen auf, die in einem im Film holografisch erzeugten Nachtclub der 1940er Jahre spielen. Dabei kamen 150 Statisten, 25 Stuntmen und ein 18-köpfiges Tanzorchester zum Einsatz. Während der neun Wochen, die auf die Außenaufnahmen folgten, drehte man ausschließlich in den Paramount-Studios in Los Angeles. Das Anlegen des Kostüms der Borg-Königin an die Darstellerin Alice Krige benötigte pro betreffendem Drehtag zwischen fünf und sieben Stunden. Zur Simulation der Schwerelosigkeit bei der über der Deflektorschüssel stattfindenden Kampfszene wurden die Darsteller mit Seilen an einem Kran befestigt. Matthew F. Leonetti wurde von Frakes aufgrund seiner Leistungen für die Filme Poltergeist, Und wieder 48 Stunden und Strange Days als Kameramann ausgewählt. Ein wesentlicher Teil seiner Arbeit an dem Film war die Schaffung eines speziellen Beleuchtungsschemas für die Innenräume der Enterprise, sowohl während des Normalbetriebs des Schiffes als auch in Situationen, in denen roter Alarm besteht und Notstrom erforderlich ist. Um die Kontrolle der Enterprise durch die Borg visuell zu betonen, beleuchtete man die Korridore des Schiffs mit in Bodennähe angebrachten Lichtquellen. Um während niedriger Kameraführung die Befestigungselemente der Korridordecken zu verbergen, verwendete man statt regulärer Beleuchtung unter anderem fluoreszierende Stoffe und mit Aluminiumfolie versehene Lampen. Bei den Dreharbeiten setzte Leonetti die Steadicam überaus häufig ein. Nach Testvorführungen ließ Rick Berman einige Szenen neu drehen. Spezial- und visuelle Effekte Als Grundlage für die Spezialeffekte, die man teils mit Motion-Control-Fotografie und teils mit Computer Generated Imagery realisierte, schuf man zunächst mehrere Raumschiffmodelle. Für die Modellierung des neuen Enterprise-Raumschiffes waren die Illustratoren John Eaves und Rick Sternbach zuständig. Eaves entwarf das Raumschiff basierend auf einer Kombination von Eigenschaften der vorherigen Enterprise-Raumschiffe. Es ist im Vergleich zur Enterprise-D stromlinienförmiger, mit 600 Metern zwar länger, besitzt aber mit 24 Decks 18 Decks weniger. Sternbach schuf zunächst eine etwa 60 Zentimeter lange Attrappe, die als Grundlage für ein über mehr als fünf Monate hinweg gefertigtes, etwa drei Meter langes Miniaturmodell diente. Dieses kam auch in den beiden folgenden Star-Trek-Kinofilmen zum Einsatz und wurde 2006 im Londoner Auktionshaus Christie’s für 120.000 US-Dollar versteigert. Für die Weltraumschlacht zu Beginn des Filmes wurden Computermodelle von vier neuen Raumschiffsklassen der Sternenflotte geschaffen. Das Design des Borg-Würfels verfeinerte man gegenüber dem in der Fernsehserie gezeigten Würfel. Bei der Gestaltung des im Film auch Sphäre genannten, kugelförmigen Borg-Raumschiffes versuchte man, Ähnlichkeiten mit dem Todesstern aus Star Wars zu vermeiden. Für den Film entstanden mehr als 222 Spezialaufnahmen. Unter der Leitung von John Knoll wurden 135 davon durch Industrial Light & Magic (ILM) angefertigt; mit den restlichen Aufnahmen waren durch Paramount vier Unternehmen im Raum Los Angeles beauftragt worden. Für die Erstellung der Effekte setzte ILM auch eine hauseigene, neu entwickelte Software für das Erschaffen von Partikelsystemen ein. Zum Generieren der Effekte beim Starten der Phoenix verwendete ILM Designs aus dem Film Twister wieder. Zum Beispiel übernahm man die Gestaltung der Schatten des Wirbelsturms für die von der Rakete verursachte Rauchwolke. Die am Filmbeginn gezeigte Einstellung, in der sich die Kamera von Picards Iris entfernt, wurde mit einem Dolly-Zoom realisiert. Dabei führte man die Kamera auf einem etwa 40 Meter langen Gleis. Die Einstellung wurde in drei separaten Teilen gefilmt, die anschließend digital kombiniert wurden. Die Sequenz, in der die Enterprise-E vor einem Weltraumnebel, der dem vom Hubble-Weltraumteleskop fotografierten Adlernebel ähnelt, erstmals im Film in Erscheinung tritt, besteht aus drei Einstellungen, von denen allein eine mehr als 600 CGI-Einzelbilder umfasst. Als wissenschaftlicher Berater kam der bereits seit 1993 für die Star-Trek-Fernsehserien in dieser Funktion tätige André Bormanis zum Einsatz. Zum Beispiel sorgte er dafür, dass sich die Enterprise, wie sie Cochrane von der Erde aus durch ein Teleskop betrachtet, in einer geosynchronen Umlaufbahn befindet. Vertonung Für die Komposition der Filmmusik engagierte man den Oscar-Preisträger Jerry Goldsmith, der bereits die Musik für die Teile 1 und 5 der Star-Trek-Filmreihe komponiert hatte. Um die Arbeit innerhalb der drei Wochen zu schaffen, die er dafür zur Verfügung hatte, holte er sich die Hilfe seines Sohnes Joel Goldsmith. Insgesamt 72 Minuten des komponierten Materials wurden letztlich zur Vertonung des Filmes genutzt. 22 Minuten davon stammen von Joel Goldsmith; dabei handelt es sich hauptsächlich um Musik, die der Charakterisierung der Borg dient. Schnitt Für den Schnitt zuständig war John W. Wheeler. In einer der zur Begrenzung der Filmlänge aus der finalen Schnittfassung entfernten Szenen ist Cochrane, der, vor der Enterprise-Crew ausgerissen, auf einen Felsvorsprung gelangt und damit droht, in den Abgrund zu springen. Als Trois Versuche scheitern, ihn davon abzuhalten, stößt sie ihn – wohlwissend, dass er auf einem von La Forge unterdessen aufgebauten Kraftfeld landet – von der Klippe. Veröffentlichung und kommerzieller Erfolg Kinovorführungen Der Film hatte seine Weltpremiere am 18. November 1996 im TCL Chinese Theatre von Hollywood. Dem Wunsch der Paramount-Führung entsprechend, kam der Film in den Vereinigten Staaten zeitlich passend zum 30-jährigen Star-Trek-Jubiläum in die Kinos. Er startete am 22. November 1996 mit 2812 Kopien. Im Beisein des britischen Prinzen Charles fand am Zehnten des Folgemonats die Premiere im Vereinigten Königreich statt, deren Einnahmen Charles’ gemeinnütziger Organisation The Prince’s Trust gespendet wurden. Bei der deutschen Premiere am 12. Dezember im Kölner Stadtmuseum waren – wie auch bei den vorgenannten Premieren – Darsteller und Vertreter des Stabs anwesend. Offizieller Kinostart in Deutschland war der 19. Dezember 1996. In der ersten Woche nach dem Start zeigten 583 deutsche Kinos den Film; das waren etwa 300 weniger als beim im selben Jahr angelaufenen Blockbuster Independence Day. Kinostart in Österreich war der 20. Dezember 1996. In der Schweiz lief der Film je nach Quelle am 10. beziehungsweise 28. Januar 1997 an. Bis einschließlich August 1997 war der Film in mindestens 30 Ländern weltweit angelaufen. Bei Produktionskosten von 45 Millionen US-Dollar – den bis dahin höchsten für einen Star-Trek-Film – spielte der Film weltweit etwa 150 Millionen US-Dollar ein. Mit dem daraus entstandenen Gewinn von über 100 Millionen US-Dollar war der Film ähnlich profitabel wie die bis dahin kommerziell erfolgreichsten Teile 1 und 4 der Star-Trek-Filmreihe. In den Kinos der Vereinigten Staaten spielte der Film etwa 92 Millionen US-Dollar ein – davon allein 30,7 Millionen am Startwochenende – und belegte in der Rangliste der höchsten Einspielergebnisse der 1996 gestarteten Kinofilme den 17. Rang. Der Film wurde in den Kinos Deutschlands von etwa 2,415 Millionen Menschen gesehen – damit erreichte er den 13. Rang der 1996 gestarteten, meistgesehenen Kinofilme – und spielte dabei etwa 19,1 Millionen US-Dollar ein. Hinsichtlich der Zuschauerzahl in Deutschland lag der Film nahezu gleichauf mit dem Vereinigten Königreich. In Österreich hatte der Film etwa 198.000 Kinobesucher, in der Schweiz circa 85.000. Soundtrack Einen etwa 54 Minuten umfassenden und nicht in chronologischer Reihenfolge enthaltenen Teil des Soundtracks veröffentlichte das Label GNP Crescendo Records noch im Dezember 1996 zusammen mit einigen als Videofilme enthaltenen Interviews auf einer Enhanced CD. Diese war auf manchen Computern, darunter solchen mit System 7 (klassisches Mac OS) und Windows 95 (Windows 9x) als Betriebssystem, nicht korrekt abspielbar. Als ein möglicher Grund dafür, dass Crescendo zu der Zeit nicht den vollständigen Soundtrack veröffentlichte, wurden zu hohe Lizenzkosten genannt. In den Folgejahren gelangten einige Raubkopien des Soundtracks in Umlauf, die auch Stücke beinhalteten, die in der Crescendo-Erstveröffentlichung fehlten. 2012 veröffentlichte Crescendo eine vervollständigte, etwa 79 Minuten umfassende und nunmehr chronologisch aufsteigend sortierte Zusammenstellung des Soundtracks auf einer auf 10.000 Exemplare limitierten Doppel-Audio-CD. Darauf befinden sich 26 im Film enthaltene Stücke sowie drei Titel, bei denen es sich um alternative, nicht im Film enthaltene Versionen handelt. Der Soundtrack wurde zudem auf Musikkassetten und zum Herunterladen im MP3-Format vertrieben. Heimkino-Veröffentlichung und Fernsehausstrahlung Im Rahmen der Heimkino-Veröffentlichung erschien der Film in verschiedenen Formaten – darunter Videokassette, Laser Disc, DVD und Blu-ray – und Ausgaben, das heißt allein oder zusammen mit anderen Star-Trek-Spielfilmen. Der weltweite Erlös aus dem Verleih des Films auf Videodatenträgern beträgt mindestens 115 Millionen US-Dollar. Am 11. September 1999 durch Sat.1 erstausgestrahlt, wurde der Film im deutschen Fernsehen seitdem mehrfach wiederholt. Kritik Von der Webseite Metacritic wird der Film – basierend auf englischsprachigen Kritiken – mit einem Metascore von 71 Prozent bewertet; die durchschnittliche Bewertung durch IMDb-Nutzer beträgt 7,6 von 10 möglichen Punkten (Stand jeweils: 14. September 2016). Drehbuch und Handlung Manche Kritiker würdigten den Film im Vergleich mit Independence Day. Der Autor des Filmmagazins Cinefantastique online zum Beispiel schrieb, dass der Film, obwohl er die Assimilation der Erde nur ansatzweise zeigt, mindestens so effektiv wie die Konkurrenzproduktion sei. Der Kritiker der Oberösterreichischen Nachrichten gab sich zwar rundum zufrieden mit dem Film, grenzte ihn aber ausdrücklich nach oben hin ab von der künstlerischen Bedeutung von 2001: Odyssee im Weltraum und der schöpferischen Vielfalt der erstgedrehten Star-Wars-Trilogie. Der Film wurde überdies als reich an Action gelobt, so etwa durch die Kritiker von All Movie und der Stuttgarter Zeitung. Besonders die britischen Kritiker empfanden den Film aber als zu voll mit Action und in diesem Zusammenhang als zu wenig auf die Charakterisierung der Figuren konzentriert. Der Autor des Filmmagazins Empire zum Beispiel schrieb, dass das Drehbuch den Zuschauern, die die Fernsehserie nicht kennen, nicht genügend Zeit dafür lasse, sich um die Figuren zu sorgen, und bewertete den Film auch deshalb nur mit drei von fünf Sternen. Demgegenüber wurde das Drehbuch von anderen Kritikern wie zum Beispiel dem des US-Magazins Variety aber dafür gelobt, dass der Film nicht nur von Star-Trek-Anhängern, sondern auch von Personen verstanden werden könne, die keine enge Beziehung zu Star Trek hätten. Gelobt wurde das Drehbuch für seine Fülle an Details und die Drehbuchautoren damit einhergehend als einfallsreich. Dies gilt unter anderem für die Einbeziehung des Raumschiffs Defiant aus Deep Space Nine. Während manche Kritiker – darunter auch jener der Berliner Zeitung – das Drehbuch als humorvoll und reich an Pointen lobten, beanstandete zum Beispiel James Berardinelli die Humor-Szenen überwiegend als zu gezwungen und deplatziert wirkend; dazu gehöre auch Trois Betrunkenheit. Claudia Kern kritisierte in der deutschen Ausgabe des Science-Fiction-Magazins SFX, auch auf die Episode Ich bin Hugh anspielend, Picards Rachsucht als nicht völlig nachvollziehbar, da er diese überwunden zu haben schien. In den Kritiken, die beim Kinostart des Filmes erschienen, wurde der Film mehrfach als zu den besten Star-Trek-Filmen gehörend gewürdigt. Berardinelli kam zu dem Schluss, dass der Film der unterhaltsamste der drei in den 1990er Jahren erschienenen Filme sei. Er stellte außerdem fest, dass der Film die Reihe kreativ wiederbelebt habe. Der Film erscheine, so die Kritikerin des Magazins Entertainment Weekly, völlig unabhängig von seinen Vorgängern mit schwungvoller, neuer Energie und einem schnittigen, souveränen Stil. Der Autor des US-Technologiemagazins Wired stellte anerkennend heraus, dass der Film die „müden“, für Star Trek typischen Allegorien auf den Kalten Krieg aufgefrischt habe. Als Schwäche des Films wurde vereinzelt angeführt, dass er sich auf zu viele vertraute Star-Trek-Elemente stütze. Prisma zum Beispiel verwies im Zusammenhang mit der Zeitreise-Geschichte auf die Ähnlichkeit zum vierten Star-Trek-Film. Manche der deutschen Medien brachten im Rahmen ihrer Kritik an dem Film auch ihren Unmut über Star Trek im Allgemeinen zum Ausdruck. Die taz zum Beispiel bezeichnete die Enterprise als „ohnehin schon ewig umhergurkend[e]“. Inszenierung, Schauspiel und deutsche Synchronfassung Die technische Umsetzung des Films wurde überwiegend gelobt. Darin sei er der bislang beste Star-Trek-Film, befand unter anderem Roger Ebert in der Chicago Sun-Times. Der Film profitiere von den neuesten Fortschritten bei den Spezialeffekten, etwa in der den Film eröffnenden Kamerafahrt. Die Filmbewertungsstelle Wiesbaden vergab dem Film das Prädikat „Wertvoll“ und hob in der Urteilsbegründung Bauten und Tricktechnik hervor, die besonders gelungen seien. Der Kritiker des Film-Dienstes lobte den Film als ein „technisch gelungenes und fotografisch brillantes Weltraumabenteuer“. Der Variety-Journalist hob Leonettis Kameraführung und Westmores Make-up als „durch die Bank ausgezeichnet“ hervor. Von vielen Kritikern gelobt wurde Jonathan Frakes als Regisseur; sie beurteilten seine Regie als kompetent und sicher. Sein Verdienst sei es, dass der visuelle Stil „überragend“ (Moviestar) und der Film zum „vielleicht stromlinienförmigsten“ Star-Trek-Film geworden sei (Berardinelli). Es sei ihm gelungen, in der parallel erzählten Geschichte Spannung und Klarheit zu bewahren, meinte der Autor von Variety. Die Kritikerin der britischen BBC beanstandete aber, dass Frakes die Spannung nie auf ein Niveau bringe, das ein Scheitern der Protagonisten vermuten lasse. Kaum Beachtung schenkten die Feuilleton-Kritiken der Filmmusik. Die US-Review-Seite Filmtracks.com beurteilte die Musik als konsistent und herausragend kohäsiv. Eine Handvoll fragwürdiger Merkmale außerhalb des Borg-Materials würde jedoch ihre Ambitionen begrenzen; das Titelthema etwa wirke deplatziert. Unter den Leistungen der Schauspieler wurden vor allem die von Stewart und Krige hervorgehoben. Stewart, so Kern, spiele mit hoher Intensität und trage die Handlung „mühelos und vergnügt“. Martin Scholz bescheinigte Stewart in der Frankfurter Rundschau, „auch mit dem Laser-Gewehr in der Hand nicht zum Space-Rambo“ zu werden. Krige, meinte der Kritiker von Variety, habe die Borg-Königin mit „vorzüglich perverser Wollust“ gespielt. TV Guide hob lobend hervor: „Sie versprüht ordentlich synthetische Böswilligkeit unter einer Decke aus Make-up.“ Manche Kritiker lobten auch die Leistungen von Spiner und Woodard. Die Autorin der Washington Post war mit der Leistung der Schauspieler der Fernsehserie nicht ganz zufrieden, Frakes etwa wirke „oft lästig lächelnd und menschlich“. Die Buchautoren Thomas Höhl und Mike Hillenbrand äußerten sich zufrieden mit der Besetzung der Synchronsprecher für die Gastdarsteller. Die deutsche, „besonders sanfte und erotische Stimme“ der Borg-Königin klinge beinahe besser als Alice Kriges Stimme. Darüber hinaus beanstandeten sie die deutsche Synchronfassung als etwas „lieblos“, was sich unter anderem daran zeige, dass „Vital system“ mit „vitales System“ statt mit „lebenswichtiges System“ übersetzt wurde und – wie auch in anderen Star-Trek-Filmen – „starfleet“ mit „Raumflotte“ statt mit „Sternenflotte“. Auszeichnungen und Nominierungen Der Film wurde mindestens 17-mal für eine Auszeichnung nominiert und 4-mal prämiert. In dieser Hinsicht ist er, bezogen auf die ersten zehn Star-Trek-Filme, am ehesten mit dem ersten und vierten Teil vergleichbar. Bei der Oscarverleihung 1997 blieb der Film in der einzigen Kategorie Bestes Make-up, in der er nominiert worden war, ohne Preis. In zehn Kategorien für einen Saturn Award nominiert, wurden Brent Spiner als bester Nebendarsteller, Alice Krige als beste Nebendarstellerin und Deborah Everton für das beste Kostüm prämiert. Mit dem BMI Film & TV Award wurde Jerry Goldsmith als bester Komponist geehrt. Regisseur Frakes und das Drehbuchautorenteam wurden in der Kategorie Beste dramatische Präsentation für den renommierten Science-Fiction-Preis Hugo Award nominiert. Weitere Nominierungen gab es bei den Blockbuster Entertainment Awards für Patrick Stewart und Jonathan Frakes als Schauspieler, bei den NAACP Image Awards für Alfre Woodard und bei den Satellite Awards für John Knoll in der Kategorie Beste visuelle Effekte. Interpretation und Analyse Form und Stil Der erste Kontakt wurde neben den für Star Trek typischen Filmgenres Science-Fiction, Space Opera, Action und Abenteuer auch dem Horror, den Geistergeschichten, den Märchen und der Schauerliteratur zugeordnet. Als mögliche Inspirationsquellen für die Inszenierung studierte Frakes populäre Action- und Science-Fiction-Filme, darunter Alien – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt, Aliens – Die Rückkehr, Unheimliche Begegnung der dritten Art, Blade Runner und Der weiße Hai. Diesbezüglich wurde Frakes mit den Worten zitiert: „Wenn schon Ideen stehlen, dann nur von den Besten.“ Dramaturgie Der Film stellt eine Fortsetzung der Doppelfolge The Best of Both Worlds – deutsch In den Händen der Borg (Ende von Staffel 3) und Angriffsziel Erde (Anfang von Staffel 4) aus Das nächste Jahrhundert dar. Das wird bereits in der Eröffnungsszene deutlich, die in einem „Traum im Traum“ Picards Aufenthalt auf dem Borg-Raumschiff während seiner Assimilation zitiert. Während Picard als assimilierter „Locutus“ gezeigt wird, ist dieser Name, der ihm einst von den Borg vergeben worden war, von einer weiblichen Stimme aus dem Off zu hören. Dabei handelt es sich – wie der Zuschauer erst im weiteren Verlauf des Films erfährt – um die Stimme der Borg-Königin. Als er gegen Ende des Filmes der Borg-Königin gegenübertritt, werden einige Bilder der am Filmbeginn gezeigten Träume erneut gezeigt, zusammen mit Bildern, auf denen er gemeinsam mit der Borg-Königin zu sehen ist. Diese und andere, über den ganzen Film verteilte Sequenzen, in denen Picard mitunter auch Stimmen aus dem Borg-Kollektiv wahrnimmt, verdeutlichen seine durch seine Assimilation entstandene Verbindung zu den Borg. Als ein Beispiel für die Beeinflussung durch Der weiße Hai nannte Frakes die von ihm als implizite Bedrohung charakterisierte Situation, in der den Crewmitgliedern im Maschinenraum noch nicht klar ist, dass der Temperaturanstieg auf der Enterprise durch die eingedrungenen Borg verursacht worden ist. Es wird gezeigt, wie zwei der Mannschaftsmitglieder bei der Suche nach der Ursache von den Borg angegriffen werden, ohne dass der Zuschauer die Borg zu sehen bekommt. Der Film wird großteils in Parallelmontage erzählt; die Geschehnisse auf der Erde wechseln sich ab mit den im Maschinenraum und den im übrigen Teil des Raumschiffes stattfindenden. Über den Film verteilt sind Szenen mit Humor. Sie dienen unter anderem dazu, nach gefährlichen Zwischenfällen die Spannung abzubauen und beim Zuschauer für Aufheiterung zu sorgen. Ein Beispiel dafür ist der von Dr. Crusher zwecks Zeitgewinn für ihre Flucht vor den Borg aktivierte, holografische Arzt, der den Borg-Drohnen eine schmerzstillende Salbe gegen etwaige, von den Implantaten hervorgerufene Hautreizungen anbietet. Die Aussage „Ich bin ein Doktor, kein Türstopper“ des Doktors stellt zudem eine Anspielung auf den Beginn der häufig von Dr. McCoy geäußerten Antwort dar, mit der er seinen Unmut über eine ihm übertragene, nichtmedizinische Aufgabe zum Ausdruck brachte. Sie ist damit ein Beispiel für die zahlreichen im Film enthaltenen Star-Trek-Insiderwitze. Visueller Stil Der Film wurde als „dicht visualisiert“ und als „optisch ausgefeilt“ charakterisiert. Seine Erzählgeschwindigkeit wurde mit der eines schnellen Videoclips verglichen, seine Schnittfolge als Stakkato-ähnlich charakterisiert. In zahlreichen Einstellungen ist die Kamera gegenüber dem Horizont der gefilmten Objekte und Figuren geneigt. In Szenen, in denen Crewmitglieder in den Korridoren der Enterprise-Decks unterwegs sind, folgen sie der fahrenden, meist in Decken- oder Bodennähe geführten Kamera. In Gesprächssituationen dominieren halbnahe Einstellungsgrößen. In den Szenen, in denen Mannschaftsmitglieder der Enterprise mit den Borg-Drohnen unmittelbar konfrontiert sind, nimmt die Kamera beziehungsweise der Zuschauer mittels Point-of-View-Einstellungen mitunter kurz die Perspektive der Drohnen ein, dabei wird deren Blickfeld stark verzerrt dargestellt. Im Vergleich zur Darstellung in Das nächste Jahrhundert wurden die im Film gezeigten Borg im Hinblick auf ihr äußeres Erscheinungsbild sowohl von den Erschaffern des Films als auch von Kritikern als wesentlich bedrohlicher, furchterregender und abstoßender charakterisiert. Evertons Beitrag zur Gestaltung der Borg im Film bestand darin, die Assimilation von Körpern von innen nach außen erfolgen zu lassen. Bei deren Beginn injizieren die Borg ihrem Opfer durch einen Stich in den Hals Nanoroboter. Die sichtbare Haut des Körpers wird grau, unbehaart und transparent, die Venen werden sichtbar. Bezüglich dieser Darstellung der Assimilation wurden die Borg unter anderem mit Körperfressern, Zombies und Vampiren verglichen. In der mit Dämpfen, Rohren und schwacher Beleuchtung industriell wirkenden Umgebung, in die die Borg das Raumschiffsinnere nach ihrer Ankunft auf der Enterprise verwandeln, sah Dryden (2007) starke Ähnlichkeiten zum Stil der Gothic-Kultur. Andere Rezipienten charakterisierten die Optik der assimilierten Bereiche als düster und verglichen sie mit dem visuellen Stil der Alien-Filme. Leonettis Beleuchtung der Interieurs der Enterprise wurde von Frakes als ähnlich dem Stil von Das Boot beschrieben. Absicht des Kameramanns war es, die in den Korridoren der Enterprise spielenden Szenen klaustrophobisch wirken zu lassen. Die Borg-Königin wird als ein Wesen inszeniert, deren Kopf und Wirbelsäule aus Metall bestehen und bei ihrem ersten, sichtbaren Auftritt in einen bereitstehenden, schwarzen Unterkörper mit ebenfalls schwarzen Beinen und Armen eingefügt werden. Der – oberhalb der Brusthöhe – unbedeckte Teil ihrer als „transluzent, feucht, grünlich-weiß amphibisch“ und alabastern charakterisierten Haut ist daran mit Metallklammern befestigt. In dieser Gestalt wurde die Borg-Königin von Dryden (2007) und Greven (2009) als phallisch charakterisiert. Für Greven repräsentiere sie die Frau als einen in seine Komponenten zerlegten Körper, von denen jede ein ähnlich phallisches Symbol darstelle. Die Borg-Königin sei zum sexuellen Wesen reduziert, ihre Macht werde als in ihrer Weiblichkeit liegend gezeigt, fand Consalvo (2004). Außerdem wurden die Borg-Königin und die Borg-Drohnen aufgrund ihrer äußeren Erscheinung mehrfach mit den Zenobiten aus den Hellraiser-Horrorfilmen verglichen. Musik Eines der für den Film komponierten Themen, das First Contact Theme, erklingt vollständig während der Opening Credits. Es beinhaltet zu einem maßgeblichen Teil Waldhorn-Klänge und wird im weiteren Verlauf des Films mehrfach kurz angedeutet, ehe es beim ersten Kontakt der Vulkanier mit den Erdenbürgern erneut in voller Länge ertönt. Bei einem anderen, zentralen Thema handelt es sich um das Borg-Thema, das vor allem durch mechanische Töne geprägt ist. Seine Instrumentierung ähnelt der Blaster-Beam-Instrumentierung aus dem ersten Star-Trek-Film. Ein anderes Thema ist das Quest Theme, das auch von Synthesizer-Klängen bestimmt wird und das Jerry Goldsmith aus dem fünften Star-Trek-Film entlehnte. Aus diesem und dem ersten Film adaptierte er zudem das Klingonenthema, das der Repräsentation Worfs dient und unter anderem beim Erscheinen der von Worf kommandierten Defiant zu hören ist. Das längste im Film enthaltene Musikstück heißt The Dish und erklingt während des Einsatzes von Picard, Worf und Hawk rund um die Deflektorschüssel. Als die Enterprise zum Filmbeginn aus dem Nebel hervortritt, ist eine Variation des Star-Trek-Marsches zu hören. Die einst von Alexander Courage komponierte Star Trek Fanfare wird im Abspann gespielt, in dem zudem die wesentlichen Stücke der während der Handlung erklungenen Musik wiederholt werden. Bei der Musik, die Picard am Beginn des Filmes in seinem Bereitschaftsraum hört, handelt es sich um Hector Berlioz’ Oper Les Troyens. Als Picard und Sloane im Holodeck sind, erklingt das von Jimmy Van Heusen und Johnny Burke komponierte und von Julie Morgan gesungene Stück Moonlight Becomes You. Als die Phoenix von der Erdoberfläche startet, spielt Cochrane den Song Magic Carpet Ride der Band Steppenwolf. Die auch am Filmende, bei Cochranes Begegnung mit den Außerirdischen, in der Jukebox gespielte Musik beinhaltet den Titel Ooby Dooby des Sängers Roy Orbison. Themen Filmszenario, erster Kontakt Die den Filmtitel gebende Szene ist die Landung des vulkanischen Raumschiffes auf der Erde. Auch andere Elemente des Films stellen einen ersten Kontakt dar. Für die Crew der Enterprise ist es ihr erster Kontakt mit Zefram Cochrane. Für Data ist der Moment, in dem ihm die Borg-Königin auf das neu transplantierte Stück Haut bläst und ihn somit zu seinem ersten, auf diesem Wege wahrgenommenen Gefühl verhilft, ein erster Kontakt. Kritiker verglichen das Filmszenario mit dem anderer Werke der Science-Fiction. Neben Alien wurde dabei vor allem Terminator genannt. Der Kritiker der Washington Post äußerte sich überzeugt davon, dass der Plan der Borg, zur Abwendung eines wichtigen historischen Ereignisses die Erde des 21. Jahrhunderts zu assimilieren, klar durch diesen Film beeinflusst sei. Auch mit Blick auf den sich um Cochrane drehenden Handlungsstrang wurde Der erste Kontakt als ähnlich zu dem Film Der Stoff, aus dem die Helden sind charakterisiert. In Publikationen, die im Rahmen der Veröffentlichung des Films erschienen, stellten ihn seine Erschaffer – wie auch bei den anderen Star-Trek-Produktionen üblich – in die Tradition der einst von Gene Roddenberry beabsichtigten, Star-Trek-typischen Utopie. Braga zum Beispiel sagte, dass es die Absicht der Drehbuchautoren gewesen sei „zu verdeutlichen, dass sich in unserer Gesellschaft niemand Gedanken über die eigene Verantwortung und vor allem die Verantwortung der Welt gegenüber macht.“ Mit der Zeitreise zeige der Film die Selbstlosigkeit der Raumschiffsbesatzung und ihre Bereitschaft, ihr Leben zu riskieren, „um denen zu helfen, die nicht in der Lage sind, über ihre eigenen Probleme hinauszuwachsen.“ Manche Kritiker, zum Beispiel der von der Los Angeles Times, waren ebenfalls davon überzeugt, dass der Film innerhalb Roddenberrys idealistischer Vorstellungen anzusiedeln sei. Die Figur Lily Sloane diente den Drehbuchautoren zum Erforschen der Unterschiede zwischen einer Person aus dem 24. Jahrhundert und einer aus dem 21. Jahrhundert. Hinsichtlich der in das 24. Jahrhundert einführenden Funktion, die die Figur Lily innehat, kann der Film auch als eine Einführung des Zuschauers in die technologische und soziale Utopie von Star Trek charakterisiert werden. Rache, Hass und Verschiedenartigkeit Absicht der Drehbuchautoren – vor allem Rick Bermans – war es, Picard in dem Film zu einem Action-Helden zu machen, ihn als eine starke, harte Figur darzustellen und ihn somit von der grüblerischen, melancholischen und von Ängsten erfüllten Person zu distanzieren, die er noch im Vorgängerfilm war. Auch zu dem Zweck konzipierten sie den Film nach dem Muster von Herman Melvilles Moby-Dick und Picard als Ahab-ähnlichen Antihelden. Ebenso, wie Kapitän Ahab aus Rachsucht für den Verlust seines Beines den weißen Pottwal um jeden Preis zu vernichten beabsichtigt, ist es Picards Motiv, die Borg aus Rache für das Leid zu töten, das diese ihm durch die Assimilation einst zufügten, und dafür auch den Verlust der Enterprise und ihrer Besatzung in Kauf zu nehmen. Bei Picards erlittenem Schmerz handelt es sich, seiner Aussage entsprechend, um den Verlust seiner Individualität. Entsprechend der Deutung der Buchautoren Michèle und Duncan Barrett (2001) werden die Borg, ebenso wie der Wal im Roman, als Naturgewalt präsentiert und als etwas Übernatürliches, das nur der Captain wirklich versteht. Nach Der Zorn des Khan war Moby-Dick damit erneut eine wichtige Inspirationsquelle für einen Star-Trek-Film. Durch die Neucharakterisierung Picards im Vergleich zum Vorgängerfilm wandelte sich sein Charakter auch im Vergleich zur Fernsehserie, in der sein Handeln überwiegend von Vernunft und Humanismus bestimmt war. Bezogen auf die Star-Trek-Fernsehserien und -Filme im Allgemeinen und damit auf die Utopie des Star-Trek-Universums können die Wertvorstellungen der Föderation als liberal verstanden werden, unter anderem mit Blick auf die Toleranz anderen Spezies gegenüber, die sich in Form der – vor allem in Das nächste Jahrhundert zum Tragen kommenden – obersten Direktive ausdrückt. Das Verhalten der Föderationsmitglieder in Der erste Kontakt wurde aber als Widerspruch zu Werten wie etwa Toleranz gedeutet. So legt keines der Crew-Mitglieder Einspruch gegen Picards Anweisung ein, bereits assimilierte Kollegen ohne Zögern zu töten. Davon, meinte der Literaturwissenschaftler Robert Tindol, gehe die Botschaft aus, dass der einzig gute Borg ein toter Borg ist. Der Film lasse jeden möglichen Vorteil außer Acht, der sich aus einer Begegnung mit Außerirdischen wie den Borg ergeben könne. Außerdem lasse er mögliche Alternativen – wie etwa die Rehabilitation von Borg-Drohnen – zu dem Vorgehen, die Borg zu deren Besiegung unbedingt zu töten, unberücksichtigt. Als beispielhaft für den fortschrittlichen Charakter Star Treks können auch Picards Äußerungen gegenüber Sloane gelten, in denen er sie unter anderem darüber informiert, dass es in seinem, dem 24. Jahrhundert, kein Geld mehr gibt, weil die Menschen nicht mehr nach Reichtum streben, sondern stattdessen an der Verbesserung ihrer selbst arbeiten. Zu den Äußerungen gehört außerdem Picards Ankündigung gegenüber der Frau, dass er die Borg nicht aus Rache zu töten beabsichtigt, weil diese in seinem Jahrhundert keine Motivation mehr darstelle. Im weiteren Verlauf des Films bringt Sloane Picard aber dazu, seine Rachegelüste zuzugeben und damit seiner anfänglichen Aussage zu widersprechen. Sloanes Vorwurf gegenüber Picard, sich rachsüchtig zu verhalten, erwidert dieser auch damit, dass die Gesellschaft seines Jahrhunderts eine weiter entwickelte Sensibilität besitze. Der Kunstwissenschaftler Nicholas Mirzoeff interpretierte Picards Antwort vor allem weil Sloane eine Afroamerikanerin ist, als sozialdarwinistisch. Anschließend weigert sich Picard zunächst weiter, das Raumschiff zu zerstören. Dann macht Sloane Picard auf die Geschichte von Ahab aufmerksam, wodurch Picard zu der Überzeugung gelangt, die Selbstzerstörungssequenz einzuleiten. Von manchen Rezipienten wurde diese Handlungswendung als rassistisch verstanden. Der Buchautor David Greven zum Beispiel deutete Sloane als die schwarze Frau, die weiße, männliche Macht ermöglicht, welche hier in Form von Picards Ankündigung deutlich wird, die Borg für ihre Taten bezahlen zu lassen. Der Rechtswissenschaftler Kenneth Anderson begriff Picards Eingeständnis, Racheabsichten zu hegen, als eine Standardszene vom Amerika des späten 20. Jahrhunderts, weil in ihr eine schwarze Frau einen weißen Mann dazu bringt zuzugeben, dass die Freude am Töten und die tiefe Verbundenheit mit Waffen ein Teil seines Inneren sei. Anderson gab sich überzeugt, dass die Borg nicht „absolut böse“ seien in dem Sinne, dass man sie – wie die Nationalsozialisten für deren Verrat an der Menschheit – für ihre selbstgewählte Unmenschlichkeit hassen könne, sondern dass sie „absolut bedrohlich“ im Hinblick auf ihre Andersartigkeit seien, die aber für sich genommen nicht als Makel anzusehen sei. Der Hass, den Sloane in Picard weckt, lasse die Borg jedoch als „absolut böse“ erscheinen; die Borg hätten ihre Menschlichkeit nicht verraten. Anderson diente dieses Problem in der britischen Literaturzeitschrift Times Literary Supplement als Ansatzpunkt für Betrachtungen zu den Themen Multikulturalismus und Kulturrelativismus, den er, bezogen auf Amerika, als endend zu erkennen glaubte. Auch auf die Fernsehserien bezogen, in denen die Borg eine Rolle spielen, ist das Wertesystem der Borg deutlich gegensätzlich zu dem der Föderation. Zum Beispiel lassen sich die Borg mit ihrem kollektiven Bewusstsein, auf dessen Basis ihre Drohnen als „prinzipiell gleichgeschaltete, funktional spezialisierte Agenten“ handeln, als sozialistisch begreifen. Mit der gerade in Der erste Kontakt ausgedrückten Angst vor der Assimilation, so die Essay-Autorin Wertheim, impliziere das Vorgehen der Föderation gegen die Borg, dass man – in der Vorstellung westlicher Zuschauer – kein Teil eines Ganzen oder Größeren, sondern nur etwas Ganzes in sich selbst sein könne und dass die eigene Wichtigkeit oberste Priorität habe. Diese Vorstellung lege nahe, dass per se Gesellschaft abzulehnen und Individualität zu bevorzugen sei. Insofern seien die Borg die „westliche Fantasie“ von Kommunismus, Sozialismus und allen asiatischen Kulturen, vor allem Muslimen. Tindol meinte, dass die Borg, mehr noch als eine „metaphorische Wiederholung von kommunistischer Bedrohung“, die uralte amerikanische Angst von Amerikanern davor widerspiegelten, von anderen gefangen genommen zu werden: Picards Geschichte von seiner Gefangenschaft bei den Borg ähnele der von Mary Rowlandson; die Borg manifestierten das literarische Genre Captivity narrative. Ein weiteres Beispiel für das Thema Verschiedenartigkeit im Film ist eine Kontroverse zwischen Data und der Borg-Königin. Nachdem die Königin gegenüber Data erklärt hat, dass sich die Borg hin zu einem Zustand der Perfektion zu entwickeln beabsichtigen, entgegnet Data, dass die Borg erobern, statt sich weiterzuentwickeln. Mirzoeff verstand dies als Auseinandersetzung um den höheren evolutionären Status; mit Datas Antwort würden die Borg mit menschlichen Imperialisten verglichen. Das Vorgehen der Föderation bei der Erforschung des Weltraums deutete der Buchautor als Neokolonialismus – ein Vergleich, der sich in eine Reihe von ähnlichen, auf die anderen Star-Trek-Produktionen bezogenen Deutungen einordnen lässt. Einführung der Borg-Königin Durch die Einführung einer Borg-Königin, deren Rolle als mütterlich verstanden werden kann, werden die Borg als Lebensform mit sozialen Beziehungen dargestellt. Diese Neuerung interpretierte Wulff (2003) als eine Strukturvereinfachung, mit der die Borg im Film in den „Erklärungsraum klassischen Hollywood-Denkens“ zurückgeholt würden. Durch das Vorhandensein der Königin können die Borg als geistig entmündigt verstanden werden. Da gleichgeschaltete, seelenlose Soldaten einer befehlstragenden Führerin folgten, deutete Höltgen (2010) die Borg-Gesellschaft als eine faschistische. Auch wegen des Vorhandenseins einer Königin ähnelt die Organisationsform der Borg der von staatenbildenden Insekten, beispielsweise von Bienen. Überdies kann das Herrschaftssystem der Borg, bedingt durch die Königin, als monistisch und als aristokratisch gedeutet werden. Menschlichkeit, Verführung und Sexualität Mit Datas Wunsch, menschlicher zu werden, behandelt der Film ein in Das nächste Jahrhundert und Treffen der Generationen wiederkehrendes Thema. Da Data als Androide von den Borg nicht mit herkömmlichen Mitteln assimiliert werden kann, versucht die Borg-Königin, ihn mit verführerischen Mitteln dazu zu bewegen, ihr zu dienen. Ihr Vorgehen kann als sexuelle Entdeckung Datas und als ähnlich zu dem einer Domina verstanden werden. Manche Rezipienten interpretierten es zudem als eine S/M-Behandlung und die Borg-Königin in dem Zusammenhang auch als eine Femme fatale. Zum Vorgehen der Borg-Königin gehört auch das Blasen auf die transplantierte Hautpartie. Datas Reaktion auf seine Wahrnehmung des dadurch entstandenen Gänsehaut-Gefühls wurde von mehreren Kritikern als Orgasmus gedeutet. Im Gegensatz zur Assimilation humanoider Körper, deren Menschlichkeit und Individualität die Borg entfernen, verläuft der Umwandlungsprozess bei Data in umgekehrter Richtung. Dadurch wird er ebenfalls zu einem Cyborg. Wegen der diesbezüglichen, rassischen Gleichheit zwischen Data und der Borg-Königin verstand Mirzoeff deren gemeinsame Beziehung als eine homosexuelle. In Bezug auf seine Rolle in der Fernsehserie wurde Data mit den Eigenschaften eines Kindes assoziiert und damit als jemand, dem es erlaubt ist, aus seinen Fehlern zu lernen. Mit dieser kindlichen Funktion charakterisierte ihn etwa Melinda Snodgrass, Drehbuchautorin einiger Episoden. Zudem wurde er als Pinocchio-ähnlich rezipiert. Vor diesem Hintergrund, und mit der Begründung, dass Data der sexuellen Gewalt der Borg-Königin im Film mit kindsähnlicher Hilflosigkeit ausgeliefert ist, deutete Greven das Interesse der Borg-Königin an Data als Pädophilie. Als Picard der Borg-Königin im Maschinenraum gegenübertritt, erinnert er sich, dass die Borg-Königin ihn einst zu sich geholt hatte, um ihr ein Gleichgestellter zu sein. Zum Beispiel, weil sie sein Gesicht in dieser Szene liebkost, lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass die Borg-Königin sexuelle Avancen auf Picard hat. Weil die Borg-Königin in dieser Beziehung den aktiven Teil einnimmt und Picard in eine passive Rolle rückt, kann die Borg-Königin als eine Prostituierte verstanden werden. Der Film enthält keine Begründung für Datas am Filmende offenbar werdende Entscheidung, seine durch die Borg gewonnene Menschlichkeit aufzugeben. Diesen Umstand auch negativ kritisierend, deutete es Wertheim als wahrscheinlichen Grund, dass Data, hätte er die menschlichen Elemente behalten, durch das Erleben von Emotionen über die humanoiden Individuen erhoben würde, die er konstruktionsbedingt jedoch beschützen müsse und deren Wünschen er sich stets unterzuordnen habe. Damit sei Data wie ein Sklave auf einen lebendigen Toten reduziert, weil er seine Gefühle, seine Empfindungen, sein ganzes Leben aufgeben müsse, obwohl das seinem inneren Verlangen widerspreche. Der Film wurde mit Blick auf die sich um Picard, Data und die Borg-Königin drehende Handlung auch im Kontext Freud’scher Theorien rezipiert. Greven zum Beispiel interpretierte sie in seinem Buch Gender and Sexuality in Star Trek als eine reißerische, idealisierte und sentimentalisierte Variante der männlichen Version des Ödipuskonfliktes. Dabei betrachtete er Data als den von der Mutter – hier der Borg-Königin – bestraften Sohn, der den Ödipus-Konflikt löse, indem er sich mit dem Vater – Picard – identifiziere und dessen Zorn verinnerliche. Der Vater sei, weil er die Mutter vernichte, der Retter des Sohnes. Greven folgerte, dass der „tief ödipale“ Film die Sexualität der Mutter so sehr ablehne, dass er den Gedanken an die Frau als sexuelles Objekt gänzlich vernichte. Die Aussagen Datas („Einem Teil von mir tut es leid, dass sie tot ist.“) und Picards („Sie war einmalig.“) seien ein „Klagelied“ auf die Frau und auf sexuelle Verschiedenheit. In dieser Hinsicht sei der Film so bestimmt darin, ödipale Bünde unter Männern wiederherzustellen, dass er Gefahr laufe, diese Bünde als die einzig vorstellbaren darzustellen. Buchrezensentin Gunnels (2011) urteilte, dass sich Grevens Analysen in dem Buch beinahe ausschließlich auf eine „reduzierende und altmodische Lesart“ von Freud verließen. In ihrem Vergleich des Filmes mit Henry Rider Haggards 1887 erstveröffentlichtem Bestseller-Roman Sie, der zum Genre Schauerliteratur (Englisch auch: Gothic Fiction) zählt, glaubte Dryden (2007) zahlreiche, deutliche Parallelen zu erkennen nicht nur bezogen auf die visuelle Darstellung, sondern auch auf die Handlung. Besonders hinsichtlich der Konzeption der Borg-Königin, von Dryden als das „gothische weibliche Monster“ interpretiert, sei der Film durch Sie, aber auch andere Romane des Genres beeinflusst. Sowohl Ayesha, die Hauptfigur in dem Roman, als auch die Borg-Königin strebten, so Dryden, nach Herrschaft und Unterjochung von Welten und Rassen. Die Sexualität beider Frauen stelle für die männliche Integrität und deren homosoziale Welt eine Gefahr dar; die Frau gefährde den Bund zwischen Vater und Sohn – bezogen auf den Film sind Picard und Data gemeint – und nur die Vernichtung der Frau könne die „‚natürliche‘ Ordnung der patriarchalen Welt“ wiederherstellen. Heldentum In der Raumschiff-Enterprise-Episode Metamorphose war Zefram Cochrane noch ein uneigennütziger Wissenschaftler voller Ideale. In Der erste Kontakt ist er dagegen ein geldgieriger, eigennütziger Alkoholiker. Im Gegensatz zu Picard zeigt Cochrane im Film noch Interesse an Habgier, Fleischeslust und anderen Lastern der Gegenwart. Damit, so Rahayel (1996), repräsentiere er genau die Einstellung, „die zu überwinden ist, um den multikulturellen Kosmos schaffen zu können, den die Föderation darstellt“. Im Bewusstsein der Enterprise-Mannschaft ist er – entsprechend der von Frakes geäußerten Vorstellung – ein brillanter Wissenschaftler, ein gefeierter Held, eine Legende mit beispiellosem Ruhm, weil die Menschheit durch seine Leistung den Weltraum erkunden konnte. Mit diesen Eigenschaften kann Cochrane mit Chuck Yeager verglichen werden, dem ersten Menschen, der die Schallmauer durchbrach. Andererseits jedoch möchte Cochrane keine Legende sein und reagiert – mit den Worten Cromwells – „verängstigt, verwirrt, verblüfft und verstört“ und widerlegt damit die Erwartungen, die die Crew an ihn hat. Damit ist er ein widerwilliger Held. Adaptionen und Einflüsse Merchandising-Artikel Im Rahmen des Merchandisings wurde eine Vielzahl an Lizenzprodukten vertrieben (Siehe auch: Star Trek). Wie auch die anderen Star-Trek-Filme wurde Der erste Kontakt als Roman veröffentlicht. Verfasst von J. M. Dillard, erschien er 1996 auf Englisch im Verlag Pocket Books, unter anderem als Hardcover-, Softcover-, Hörbuch- und Kindle-Ausgabe. Eine von Andreas Brandhorst geschriebene, deutsche Übersetzung veröffentlichte der Heyne Verlag 1996 als Nummer 57 innerhalb der Romanreihe The Next Generation. Pocket Books veröffentlichte 1996 zudem einen von John Vornholt verfassten Jugendroman zum Film sowie 2007 und 2008 die 6-teilige, von verschiedenen Autoren verfasste Romanreihe Slings and Arrows, in der es um die Enterprise-E zwischen ihrer Indienststellung und dem Beginn der Filmhandlung geht. Beim US-Verlag Marvel Comics erschien 1996 auch ein Comic zum Film. Der Publisher MicroProse begann damit, ein offizielles Computerspiel zu dem Film zu entwickeln. Das 1998 wegen finanzieller Schwierigkeiten an Hasbro verkaufte Unternehmen stellte die Entwicklung jedoch im selben Jahr wieder ein, ohne dass das Spiel veröffentlicht wurde. Zwar existiert unter dem Titel Star Trek – First Contact ein Computerspiel; es basiert jedoch auf Raumschiff Enterprise und erschien bereits 1988. Einsatz für Bildungszwecke Der Film diente im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen an Hochschulen zum Anlass für Diskussionen über Zeitreisen und andere wissenschaftlich-technologische Aspekte. Zu den Hochschulen gehören die Universität zu Lübeck, die New Yorker Columbia-Universität und die Universität von Toronto. Als Teilnehmer an der Veranstaltung an der letztgenannten Hochschule war auch der Physiker und Bestseller-Autor Lawrence Krauss angekündigt. Überdies diente der Film als Grundlage für Lehrmaterial im Hinblick auf die Entwicklung des Science-Fiction-Genres, auf die Vermarktung von Filmen und auf andere Aspekte der Filmbildung. Entsprechendes Material empfiehlt zum Beispiel die Website kinofenster.de, die von der Bundeszentrale für politische Bildung mitherausgegeben wird. Nachfolgefilme Auf den Film folgend, entstanden zwei weitere Star-Trek-Kinofilme mit der Raumschiffsbesatzung aus Das nächste Jahrhundert im Mittelpunkt: Der Aufstand und Nemesis, 1998 beziehungsweise 2002 erschienen. Mehrere Publikationen, die vor allem zur Zeit der Erstveröffentlichung von Der erste Kontakt vertrieben wurden, gaben – oft Rick Berman zitierend – an, dass der Kassenerfolg von Der erste Kontakt entscheidend dafür sei, ob ein weiterer Star-Trek-Film produziert wird. Die Aussage des Produktionsdesigners Herman F. Zimmerman, mit der er bereits in der Dezember-Ausgabe der Cinefantastique 1996 zitiert wurde, lässt allerdings auch den Schluss zu, dass sich Paramount für die Produktion zweier Nachfolgefilme bereits zur Entstehungszeit von Der erste Kontakt entschieden hatte: „Wir haben von Paramount eine Vereinbarung über drei Filme und ich denke, dass wir diese Brücke in mindestens zwei weiteren Filmen sehen werden. Die Enterprise wird überleben.“ Der Aufstand wurde erneut mit Frakes als Regisseur und Leonetti als Kameramann gedreht. Da Drehbuchautor Michael Piller und Patrick Stewart Der erste Kontakt als zu düster für einen Star-Trek-Film beurteilten, verfolgten sie die Absicht, Der Aufstand mit einer helleren, freundlicheren Atmosphäre zu gestalten. Stewart setzte sich zudem mit seinem Wunsch durch, dass Picard erneut als ein Action-Held gezeigt wird. Die beiden Folgefilme konnten hinsichtlich der weltweiten und der US-Einspielergebnisse bei weitem nicht an den Erfolg von Der erste Kontakt anknüpfen: Trotz gegenüber dem jeweiligen Vorgängerfilm deutlich gestiegener Produktionskosten fielen die weltweiten Einnahmen aus den Kinovorführungen auf 112 beziehungsweise 67 Millionen US-$. Der Aufstand konnte allerdings in Deutschland das Einspielergebnis des Vorgängerfilms leicht übertreffen. Nemesis wurde, obwohl in manchen Kritiken durchaus gelobt, zum kommerziell erfolglosesten Star-Trek-Film und zu einer finanziell großen Enttäuschung für Paramount, welche zur vorläufigen Einstellung der Star-Trek-Filmreihe führte und das Ende der Leinwandadaptionen der Picard-Mannschaft darstellte. Fernsehserien Aus dem Star-Trek-Universum bekannte Geräte, die für den Film neu gestaltet worden waren, wie etwa Phaser, kamen fortan auch in den Fernsehserien Deep Space Nine und Raumschiff Voyager zum Einsatz. In Deep Space Nine wurden die Uniformen aus dem Film unmittelbar nach dessen Veröffentlichung eingeführt. In Raumschiff Voyager wurden die Borg zu einem der bedeutendsten Handlungselemente. Erstmals in der Serie traten sie beginnend mit der knapp drei Monate nach Erscheinen des Films erstausgestrahlten Episode Die Kooperative auf. Im selben Jahr, 1997, ersetzte man die Hauptfigur Kes mit der einst von den Borg assimilierten, menschlichen Frau Seven of Nine, deren Beziehung zu den Borg ein wesentliches Thema wurde. Dieses umfasste auch ihr Verhältnis zu einer Borg-Königin, die in sechs Episoden auftrat. Eine Erklärung dafür, ob es sich bei dieser Borg-Königin um dieselbe handelt, die im Film vernichtet wurde, gab die Serie nicht. Die Borg-Königin wurde in den beiden Doppelepisoden Das ungewisse Dunkel und Unimatrix Zero durch Susanna Thompson gespielt, ehe Alice Krige die Figur in der finalen Doppelepisode Endspiel verkörperte. Auch die für die Darstellung im Film erneuerte, visuelle Darstellung der Borg adaptierte man für die Fernsehserie. Zumindest für Skorpion, Teil 1 verwendete man visuelle Effekte sowie Matte Paintings aus dem Film wieder. Im Pilotfilm Aufbruch ins Unbekannte der etwa 90 Jahre nach dem ersten Kontakt spielenden Prequel-Serie Star Trek: Enterprise nahm James Cromwell die Rolle des Cochrane für einen Cameo-Auftritt wieder auf. In den Vorspann der Serie integrierte man Aufnahmen des Raumschiffs Phoenix. Vier Episoden handeln von anderen Formen des ersten Kontakts zwischen Menschen und Außerirdischen: Carbon Creek erzählt von dem durch ihre Notlandung verursachten Aufenthalt einiger Vulkanier auf der Erde der 1950er Jahre, bei dem sie ihre Spezieszugehörigkeit allerdings geheim halten und dadurch von den Menschen unentdeckt bleiben; in Regeneration assimilieren Überlebende der im Film durch die Enterprise zerstörten Borg-Sphäre, die durch Mitglieder eines Forschungsteams wieder zum Leben erweckt wurden, dieses Team und nehmen schließlich Kontakt mit den zu dieser Zeit noch im Delta-Quadranten befindlichen Borg auf. In der Doppelepisode Die dunkle Seite des Spiegels, die in einem Paralleluniversum spielt, werden die Vulkanier kurz nach ihrer Landung auf der Erde durch Cochrane und dessen Anhänger getötet und die weitere Geschichte der Menschheit nimmt einen abweichenden, aggressiveren Verlauf. Die erste Hälfte dieses Zweiteilers beginnt mit der am Filmende gezeigten Landung des vulkanischen Raumschiffs. Literatur John Takis: Complete Motion Picture Soundtrack – Limited Edition – Extended Liner Notes (PDF; 28 MB), in: GNP Crescendo Records, 1996, abgerufen am 11. März 2014 Zur Entstehungsgeschichte Lou Anders: The Making of Star Trek: Der erste Kontakt, Heel Verlag, Königswinter 1997, ISBN 3-89365-564-6. Ins Deutsche übersetzt durch Josef Rother von der englischsprachigen Originalausgabe The Making of Star Trek: First Contact, Titan Books, London 1996 Frederick S. Clarke (Hrsg.): Cinefantastique () Nr. 6, Dezember 1996 (28. Jg.), S. 16–31 Stephen Pizzello (Hrsg.): American Cinematographer () Nr. 12, Dezember 1996 (77. Jg.), S. 58–74 Brian J. Robb: A Brief Guide to Star Trek. The Essential Guide to the Classic TV Series and the Movies, Constable & Robinson, London 2012, ISBN 978-1-84901-514-1 Interpretationen und wissenschaftliche Rezeption Linda Dryden: She: Gothic Reverberations in Star Trek: First Contact (Aufsatz online als MS-Word-Dokument auf der Webpräsenz der Edinburgh Napier University, abgerufen am 24. März 2014), in: Benjamin A. Brabon, Stephanie Genz (Hrsg.): Postfeminist Gothic. Critical Interventions in Contemporary Culture, Palgrave MacMillan, Basingstoke 2007, ISBN 978-0-230-00542-6, S. 154–169 David Greven: Gender and Sexuality in Star Trek. Allegories of Desire in the Television Series and Films. McFarland & Company, Jefferson 2009, ISBN 978-0-7864-5458-7, S. 135–164 Buchrezension von Jennifer Gunnels: Of Cigars and Star Trek, in: Science Fiction Studies () Nr. 113, März 2011 (38. Jg./Teil 1), Artikel online auf der Webpräsenz der DePauw University, abgerufen am 24. März 2014 Nina Rogotzki et al. (Hrsg.): Faszinierend! Star Trek und die Wissenschaften (Band 1), 4. Auflage, Ludwig, Kiel 2009, ISBN 978-3-933598-25-7 Nicholas Mirzoeff: An Introduction to Visual Culture. Routledge, London, New York 1999, ISBN 0-415-15876-1, S. 211–222 Robert Tindol: The Star-Trek Borg as an All-American Captivity Narrative, in: Brno Studies in English () Nr. 1/2012 (38. Jg.), S. 151–158. (PDF auf der Webpräsenz der Masaryk-Universität, abgerufen am 15. Februar 2014) Christine Wertheim: Star Trek: First Contact: The Hybrid, the Whore and the Machine, in: Ziauddin Sardar, Sean Cubitt (Hrsg.): Aliens R Us. The Other in Science Fiction Cinema, Pluto Press, London 2002, ISBN 0-7453-1539-9, S. 74–93 ( auf der Webpräsenz des Rhode Island College, abgerufen am 10. März 2014) Weblinks Offizielle Seiten bei StarTrek.de (deutsch) und StarTrek.com (englisch) Transkription der englischen Originalfassung, in: Chakoteya.net Drehbuchentwurf vom 29. September 1995, in: The Daily Script Einzelnachweise Filmtitel 1996 US-amerikanischer Film Weltraum im Film Erste Kontakt #Der Zeitreisen im Film Künstliche Intelligenz im Film
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https://de.wikipedia.org/wiki/Boeing%20B-52
Boeing B-52
Die Boeing B-52 Stratofortress ( für „Stratosphärenfestung“; meist nur B-52) ist ein achtstrahliger Langstreckenbomber der US-Luftwaffe. Der Buchstabe „B“ in der Bezeichnung steht für Bomber. Der US-amerikanische Flugzeughersteller Boeing entwickelte die B-52 Ende der 1940er-Jahre als Nuklearwaffenträger. Ihr Erstflug fand am 15. April 1952 statt. In den 1950er-Jahren übernahm sie im Strategic Air Command die Rolle der B-36 Peacemaker und der B-47 Stratojet als Grundpfeiler der US-amerikanischen nuklearen Abschreckung im Zeichen des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion. In der Folge wurde die B-52 zum vielseitigsten und langlebigsten Bomber der US Air Force entwickelt und ist nach Außerdienststellung der letzten Hawker Hunter das älteste noch aktive Strahlflugzeug der Welt. Anfangs drohte das Projekt mehrmals zu scheitern und Boeing änderte den Entwurf noch kurzfristig. Erprobung und Produktion der B-52 verliefen anschließend nahezu reibungslos. Die B-52 kam in verschiedenen konventionellen Konflikten zum Einsatz: Im Vietnamkrieg wurde sie für Flächenbombardements aus niedriger und großer Höhe eingesetzt. Sie diente im Zweiten Golfkrieg 1991 wie auch im Kosovokrieg 1999 als Startplattform für Marschflugkörper und zum Legen von Seeminen (dies nur im Golfkrieg). Zuletzt wurde sie ab 2015 im Kampf gegen den IS über Syrien und dem Irak eingesetzt. Im Jahr 2006 waren noch 94 der insgesamt 744 gebauten Stratofortress (im Pilotenjargon: BUFF für Big Ugly Fat Fellow/Fucker) in ihrer letzten Version B-52H im Einsatz. Der Bomber soll bis in die 2050er Jahre im Dienst bleiben und wäre damit neben der sowjetischen Tu-95 das Kampfflugzeug mit der längsten Einsatzzeit der Geschichte. Entwicklungsgeschichte Hintergrund Nach den Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg wollten sich die USA zur Durchführung strategischer Luftwaffenoperationen nicht mehr auf Stützpunkte in fremden Ländern verlassen müssen. Angesichts einer drohenden Invasion Großbritanniens durch deutsche Truppen war zwar schon 1941 mit der Entwicklung des Langstreckenbombers Convair B-36 begonnen worden. Jedoch verzögerte sich seine Fertigstellung immer wieder. Am 23. November 1945 veröffentlichte die United States Army Air Forces (USAAF) erstmals Anforderungen für einen Bomber als Ergänzung und Ersatz für die B-36. Erste Entwürfe Der neue schwere Bomber sollte bei einer Geschwindigkeit von rund 480 km/h in 10.500 Metern Höhe mit 4.500 Kilogramm Bombenlast, fünf Besatzungsmitgliedern und einer Reservemannschaft in einem Einsatzradius von 8.000 Kilometern operieren können. Zur Selbstverteidigung waren 20-Millimeter-Geschütze vorgesehen. Am 13. Februar 1946 forderte die Luftwaffe die Luftfahrtindustrie des Landes auf, Angebote abzugeben, woraufhin Boeing, Consolidated Vultee Aircraft Corporation und Martin kurz darauf Entwürfe einreichten. Boeings Vorschlag versprach das beste Preis-Leistungs-Verhältnis und wurde daher am 5. Juni 1946 zum Sieger des Wettbewerbs erklärt. Dieses Modell 462 war im Grunde eine stark vergrößerte Version von Boeings B-29, einem Schulterdecker mit nichtgepfeilten Tragflächen hoher Streckung und einer Spannweite von 67 Metern. Es war etwa 50 Meter lang, hatte ein Rüstgewicht von 163 Tonnen und wurde durch sechs T35-Turboprop-Triebwerke von Wright angetrieben. Es hatte mit dem letztendlich produzierten Modell allerdings nur wenig gemeinsam. Strahltriebwerke machten zu dieser Zeit zwar große Entwicklungsschritte, und sie waren unter anderem für die neuen mittelschweren Bomber B-45 bis B-48 vorgesehen, wegen ihres hohen Treibstoffverbrauchs kamen sie für Langstreckenflugzeuge aber noch nicht in Frage. Mitte Juni 1946 erhielt der Entwurf die Bezeichnung XB-52. Am 28. Juni kam ein erster Vertrag mit Boeing über die Lieferung eines 1:1-Modells und erster Testergebnisse zu Struktur, Triebwerken und defensiver Bewaffnung des Bombers zustande. Neue Anforderungen In den zwei folgenden Jahren änderte die militärische Führung die Anforderungen an die Maschine, sodass Boeing immer wieder die Konstruktion ändern musste. Zuerst kritisierte die USAAF das Modell 462 im Oktober 1946 als zu monströs und nicht langstreckentauglich, woraufhin Boeing eine kleinere Version (Modell 464) mit vier Motoren und 104 Tonnen Abfluggewicht entwarf. Schon zwei Monate später wurden die Anforderungen nochmals erhöht: Die B-52 sollte eine Reichweite von 19.000 Kilometern bei 640 km/h haben und neben konventionellen Bomben auch eine Atombombe transportieren können. Das Gewicht durfte jetzt wieder bis zu 220 Tonnen betragen. Da diese Wünsche technisch zu anspruchsvoll erschienen, präsentierte Boeing zwei Modelle als bestmögliche Annäherung: Eines mit hoher Reichweite und geringer Ladekapazität (Modell 464-16) und ein weiteres mit geringerer Reichweite und dafür höherer Ladekapazität (Modell 464-17), das von der Luftwaffe favorisiert wurde. Beide Seiten setzten auf die Fortentwicklung der Triebwerkstechnik, um die Reichweite im Laufe der Zeit steigern zu können. Mittlerweile war die Serienfertigung der Convair B-36 angelaufen, und da der B-52-Entwurf ähnlich ausgelegt war und nur unwesentlich bessere Leistungen versprach als Convairs Bomber, stand Boeings Projekt Mitte 1947 erstmals vor dem Aus. General Curtis LeMay, damals stellvertretender Leiter einer Entwicklungsabteilung der US-Luftwaffe, setzte sich für einen sechsmonatigen Aufschub der endgültigen Entscheidung ein. Diesem stimmte die Militärführung schließlich zu. Boeing nutzte die Zeit und überarbeitete seinen Entwurf zum Modell 464-29, das erstmals gepfeilte Tragflächen aufwies und bei unverändertem Gewicht mit einer Geschwindigkeit von 730 km/h einen Einsatzradius von 8000 Kilometern versprach. Im September 1947 verlangte die nun eigenständige United States Air Force (USAF) immer stärker nach einem Flugzeug, das im Ernstfall eine Atombombe vom Festland der USA gegen jeden möglichen Gegner einsetzen konnte. Fluggeschwindigkeit und -höhe wurden als wichtigste Anforderungen an einen Nuklearbomber festgelegt. Die zuvor so wichtige Reichweite konnte mittlerweile durch Luftbetankung gesteigert werden. Als Maßstab galten von nun an rund 13.000 Kilometer Reichweite bei einer Marschgeschwindigkeit von 885 km/h, die im Dezember auf realistischere 805 km/h verringert wurde. Boeings jüngster Entwurf war also wenigstens 80 km/h zu langsam. Neue Konkurrenten Für die USAF kam nur der bestmögliche Entwurf in Frage, da der geplante Bomber in einem zukünftigen Konflikt eine zentrale Rolle spielen würde. Daher mehrten sich die Stimmen für einen Stopp des bis dahin rund vier Millionen US-Dollar teuren Boeing-Projekts und für einen komplett neuen Bomberwettbewerb, zumal Studien der Rand Corporation das von Northrop mit der B-35 und B-49 vorangetriebene Nurflügel-Konzept für prinzipiell überlegen erklärten – vor allem bei hoher Geschwindigkeit in großer Höhe. Schließlich entschied sich die USAF am 11. Dezember 1947 zur Auflösung des Vertrags mit Boeing. Noch bevor es dazu kam, protestierte Boeing heftig, konnte aber wiederum nur einen Aufschub erreichen. Die USAF wollte erst alle Möglichkeiten gründlich prüfen, bevor sie sich endgültig für einen Entwurf entschied. Im Frühjahr 1948 sprach sich die USAF für den konventionellen B-52-Entwurf aus, das alternative Nurflügel-Design bot aus ihrer Sicht im Vergleich eine zu geringe Erfolgswahrscheinlichkeit und erforderte eine zu komplizierte Wartung. Die Air Force informierte Boeing im März, dass der ursprüngliche Vertrag weiterhin gelte und nun die Entwicklung, Bau und Tests von zwei XB-52-Prototypen für rund 30 Millionen US-Dollar umfasste. Seit Januar 1948 war Modell 464-35 Boeings neuester Entwurf, kleiner (40 Meter Länge, 56 Meter Spannweite) und leichter (127 Tonnen) als sein Vorgänger, aber nach wie vor mit vier Turboprop-Triebwerken, die nun zur Leistungssteigerung mit gegenläufigen Propellern versehen waren. Entscheidung für Turbinen Im Mai 1948 bat die US-Luftwaffe Boeing erstmals, eine Version der XB-52 mit Strahltriebwerken zu entwerfen. Anders als noch drei Jahre zuvor schien ihr Einsatz auch für Langstreckenbomber durch Fortschritte der Triebwerkstechnik allmählich sinnvoll. Ergebnis war das im Juli vorgestellte Modell 464-40, das sich vom Vorgänger 464-35 nur durch acht paarweise in Gehäusen unter den Tragflächen angebrachte J40-Turbojet-Triebwerke der Westinghouse Electric Corporation unterschied. Das Hauptentwicklungsziel blieb aber weiterhin die Turbopropversion der XB-52. Die Boeing-Ingenieure reisten am 21. Oktober 1948 von Seattle zum Wright Field nach Ohio, um dem dort ansässigen Air Materiel Command (AMC) die 464-35 detailliert vorzustellen. Sein 1:1-Modell (Mock-up) war zu dieser Zeit fast fertiggestellt. Die Militärführung überraschte die Entwickler mit der Forderung nach einem ganz neu konstruierten Flugzeug, zugeschnitten auf die neuen J57-Turbojets von Pratt & Whitney (Herstellerbezeichnung: JT3), deren Entwicklung ebenfalls von der Luftwaffe in Auftrag gegeben worden war. Die bis dahin aktuellen Propellerturbinentriebwerke erschienen der USAF nurmehr als Übergangslösung, die nicht die gewünschte Geschwindigkeit und Zukunftssicherheit bieten könnte. Zeitgenössischen Berichten zufolge quartierten sich die Boeing-Leute im nahen Dayton in einem Hotel ein und arbeiteten das ganze Wochenende an einem neuen Entwurf. Dabei kombinierten sie die Erfahrungen aus den bisherigen B-52-Vorschlägen mit dem eigenen fortschrittlichen Entwurf des schon getesteten mittelschweren Strahlbombers B-47 Stratojet. Am folgenden Montag (25. Oktober) präsentierte Boeing sein neuestes Modell 464-49. Auffälligstes Merkmal waren die für höhere Geschwindigkeiten optimierten Tragflächen, bei einer Spannweite von 56 Metern mit 35° deutlich gepfeilt sowie dünner und tiefer als bei früheren Modellen. Darunter hingen an Pylonen die acht J57-Triebwerke paarweise in Gondeln. Durch diese Anordnung steht die gesamte Tragflügelfläche als aerodynamisch wirksame Fläche zur Verfügung. Bei einem Triebwerksbrand ist durch die räumliche Trennung von den Flügeltanks die Gefahr geringer, außerdem erleichtert sie die Umrüstung auf andere Triebwerksmodelle und die Wartung. Bei einem Gewicht von 150 Tonnen versprach die 464-49 im Idealfall eine Höchstgeschwindigkeit von 920 km/h und eine Reichweite von 12.800 Kilometern bei 835 km/h. Die Führung der Luftwaffe war sehr angetan von diesem Entwurfsvorschlag. Nach einer abschließenden Bewertung entschied sie sich im Januar 1949 für die Fortsetzung des Projekts und teilte dies Boeing am 26. Januar mit. Vom 26. bis 29. April inspizierte die USAF das Mock-up der 464-49 in Seattle ohne größere Beanstandungen. Sorge bereitete die noch zu geringe Triebwerksleistung, was die Geschwindigkeit beziehungsweise Reichweite zu stark eingrenzte. Darauf reagierte Boeing bis November 1949 mit der längeren und schwereren 464-67, um mehr Treibstoff im Rumpf unterbringen zu können. Die Länge wuchs auf 47 Meter, das Abfluggewicht um 27 auf 177 Tonnen. Schon Mitte 1949 schlug Boeing vor, eine der beiden XB-52 mit erweiterter Ausrüstung zum Vorserienmodell auszubauen. Die Air Force stimmte zu und änderte im Juni 1951 die Bezeichnung der zweiten XB-52 in YB-52. Endgültige Entscheidung Mittlerweile arbeiteten auch die anderen Flugzeughersteller an Bomberprojekten mit Strahltriebwerken und machten der XB-52 erneut Konkurrenz. Convair entwickelte die insgesamt enttäuschende B-36 ab August 1950 weiter zur B-36G (ab Mitte 1951 als YB-60 bezeichnet), mit Pfeilflügeln und ebenfalls acht J57-Triebwerken, und auch aus dem eigenen Haus kamen Vorschläge für eine vergrößerte B-47, die B-47Z. Wieder setzte sich General Curtis LeMay – seit Oktober 1948 Kommandeur des Strategic Air Command (SAC) – für die B-52 als aus seiner Sicht bestes Angebot ein und erreichte zunächst, dass die Luftwaffe das Modell 464-67 im März 1950 akzeptierte. Weitere Argumente lieferte die Entwicklung in Südostasien: Der sich ausweitende Koreakrieg beförderte die Entscheidung zugunsten der B-52, wie schon der Zweite Weltkrieg neun Jahre zuvor den Bau der B-36 angestoßen hatte. Schließlich genehmigte die Führung der USAF am 24. Januar 1951 endgültig die Beschaffung der B-52. Ein Vertrag vom 17. Februar verpflichtete Boeing zur Lieferung von 13 B-52A ab April 1953. Währenddessen kamen in der Luftwaffe Diskussionen auf, in welcher Weise der neue Bomber auch für Aufklärungseinsätze genutzt werden sollte, für die er sich wegen seiner Flughöhe, Geschwindigkeit und Reichweite gut eignen würde. Das SAC wollte Bomber, die sich nebenbei auch für elektronische Aufklärung verwenden ließen, die Luftwaffenführung dagegen bevorzugte eine Version für fotografische (nicht-elektronische) Aufklärung, die man zum Bomber umrüsten konnte. Auf dem Papier setzte sich die Führung durch, weil sie die Bestellung im Oktober 1951 von B-52 in RB-52 änderte, de facto aber erfüllte sich die Forderung des SAC, denn im Grunde waren nun Bomber geplant, in deren Waffenschacht bei Bedarf ein bemannter Aufklärungsbehälter montiert werden konnte. Erstflug der Prototypen In beiden Prototypen saßen die Piloten wie bei der B-47 hintereinander unter einer Glashaube. Diese Anordnung hatte LeMay bereits Anfang 1951 bemängelt, weil sie die Zusammenarbeit der beiden Piloten behinderte und weniger Platz für Instrumente ließ. In allen später gebauten B-52 waren die Pilotensitze dann nebeneinander angeordnet, dazu kamen vier Plätze für Navigatoren, Bombenschützen und Heckschützen, einer mehr als ursprünglich gefordert. Da das Tragflächenprofil zu dünn war, um das eingefahrene Hauptfahrwerk des Schulterdeckers aufnehmen zu können, blieb nur die Möglichkeit, es in den Rumpf einzufahren. Vor und hinter dem im Schwerpunkt befindlichen Bombenschacht wurden nebeneinander an den Rumpfseiten mit relativer geringer Spurweite jeweils zwei Fahrwerksbeine mit je zwei Rädern angeordnet, an den Flügelspitzen zusätzlich Stützräder, die aber nur bei gefüllten Flügeltanks den Boden berühren. Die vorderen und hinteren Hauptfahrwerksgruppen haben eine identische Reifengröße. Durch diese Konfiguration kann die B-52 beim Startlauf nicht in Form der üblichen Startrotation die Nase zum Abheben deutlich anheben, um den Anstellwinkel zu erhöhen, sondern hebt mit allen vier Fahrwerksbeinen ohne größere Änderung der Rumpflage nahezu gleichzeitig von der Startbahn ab. Diese Eigenheit macht es notwendig, dass die Tragflächen einen Einstellwinkel von sechs Grad zum Rumpf haben, um ohne größere Rotationsbewegung um die Nickachse genügend Anstellwinkel haben und ausreichend Auftrieb erzeugen zu können. Darüber hinaus können alle Fahrwerksbeine – nicht nur das vordere Paar – um bis zu 20 Grad zu beiden Seiten ausgelenkt werden, um Seitenwind bei Start und Landung ausgleichen zu können. Der Zustand, bei dem dann mit einer von der Start- oder Landebahnachse abweichenden Ausrichtung der Rumpfmittelachse gerollt wird, wird crab walk („Krebsgang“) genannt. Am 29. November 1951 fand der Rollout der XB-52 mit der Seriennummer 49-230 in Seattle statt. Weil deren Flügelstruktur bei Tests am Boden beschädigt worden war und sie aufwändig repariert werden musste, absolvierte das Vorserienmodell YB-52 (Seriennummer 49-231) am 15. April 1952 den Erstflug des neuen Bombers ohne größere Probleme. Nur drei Tage später flog das Konkurrenzmodell YB-60 erstmals, aber es zeigte schlechtere Leistungen und weniger Potenzial als die B-52. Das Projekt wurde daraufhin eingestellt. Am 2. Oktober 1952 führte schließlich auch die XB-52 ihren Erstflug durch. Ende des Jahres war dann der letzte Konkurrent um den Bomber der Zukunft aus dem Rennen: Der B-47Z-Entwurf konnte nicht so viele und vor allem nicht so große Bomben wie die Wasserstoffbombe befördern und kam daher für das SAC nicht länger als Alternative in Frage. Versionen und Modernisierungen Überblick Die insgesamt 744 gebauten Exemplare verteilen sich auf folgende Versionen: XB-52 und YB-52: Die beiden Prototypen; gebaut ab 1951, Tests bis 1958, beide Mitte der 1960er-Jahre verschrottet. B-52A: Drei Exemplare für Testzwecke; gebaut ab 1954, im Einsatz bis 1969. B-52B: 23 Stück, 1954–1966. RB-52B: 27 Stück, 1954–1966. B-52C: 35 Stück, 1956–1971. B-52D: 170 Stück, 1956–1983. B-52E: 100 Stück, 1957–1970. B-52F: 89 Stück, 1958–1978. B-52G: 193 Stück 1958–1994. B-52H: 102 Stück 1960–heute. NB-52: Drei Exemplare als Mothership für die NASA. Serienproduktion/B-52A Die B-52A (Modell 464-201-0) war die erste Serienversion des Bombers. Allerdings reduzierte die Luftwaffe im Juni 1952 die Bestellung von 13 auf drei Exemplare für Tests, die übrigen zehn sollten als B-Version gebaut werden. Gegenüber den Prototypen besaß das A-Modell einige Veränderungen: Boeing konstruierte den Vorderrumpf neu, um mehr Platz für die nun nebeneinander sitzenden Piloten und Ausrüstung zu schaffen. Hinter den beiden Piloten saß der Elektronik-Offizier, ein Deck tiefer der Navigator/Bombenschütze und der Radar-Offizier. Zur Abwehr erhielt die B-52A im Heck ein bemanntes vierläufiges M3-Geschütz, Kaliber 12,7 Millimeter. Im Notfall konnte der Heckschütze es absprengen, um sich anschließend mit dem Fallschirm in Sicherheit zu bringen. Verbesserte Triebwerke (J57-P-1W) nutzten Wassereinspritzung zur kurzzeitigen Leistungssteigerung etwa beim Start, zwei Außentanks für je 3785 Liter erhöhten die Reichweite. Zusätzlich erhielten ab dem A-Modell alle Maschinen eine Betankungsanlage zur Luftbetankung mit starrem Ausleger. Die B-52A (Seriennummer 52-001) flog erstmals am 5. August 1954, im September war das letzte der drei Exemplare fertiggestellt. Sie blieben bis in die 1960er-Jahre für Testzwecke im Dienst. Im August 1953 gab die Luftwaffe Pläne zur Anschaffung von 282 Flugzeugen bekannt, die zwischen Oktober 1956 und Dezember 1958 ausgeliefert werden sollten. Um dieses Ziel erfüllen zu können, eröffnete Boeing zum Bau der B-52 ein zweites Werk in Wichita (Kansas), das ab dem D-Modell in den Produktionsprozess eintrat. Indienststellung der B-52B Die B-52B war die erste einsatzfähige Version. Das Startgewicht stieg auf 190 Tonnen, neue Triebwerksversionen (J57-P-9W, -19W, -29W und -29WA) erhöhten den Schub auf maximal 53,8 Kilonewton. Von den 50 bestellten B-Modellen baute Boeing 27 Stück als RB-52B, die sich mit einem druckbelüfteten Aufklärungsbehälter ausstatten ließen. Er konnte bei Bedarf innerhalb von vier Stunden im Bombenschacht montiert werden, enthielt Radar- und Funkempfänger, Kameras sowie Aufzeichnungsgeräte und war mit zwei Operatoren auf Schleudersitzen besetzt. Zum regulären Einsatz kamen die Aufklärerversionen aber nie, denn noch im Jahr 1955 stufte die Luftwaffe die Aufklärungsmissionen als nachrangig ein und verwendete nur noch die Bezeichnung B-52. Am 29. Juni 1955 stellte die US-Luftwaffe mit einer B-52B erstmals ihren neuen Bomber in Dienst, bei der 93rd Heavy Bomb Wing auf der Castle Air Force Base in Kalifornien. Diese erste Bombereinheit meldete am 12. März 1956 Einsatzbereitschaft. Die Piloten zeigten sich zwar begeistert von dem „ausgezeichneten“ Flugzeug, aber es gab auch technische Probleme. Nach mehreren Zwischenfällen im Jahr 1956 erhielten alle B-52 ein mehrwöchiges Flugverbot, bis defekte Generatoren ausgetauscht und Kraftstoff- und Hydrauliksysteme überarbeitet worden waren. Boeing lieferte die letzte B-52B im August 1956 aus. Im März 1965 begann das Strategic Air Command (SAC) mit der Ausmusterung der B-Modelle, die bis Anfang 1966 abgeschlossen war. B-52C Das C-Modell unterschied sich nur wenig von der Vorgängerversion. Das Startgewicht stieg auf 204 Tonnen, die Außentanks fassten nun je rund 11.360 Liter. Die Wassereinspritzung der Triebwerke wurde verbessert und die Rumpfunterseite erhielt einen weißen Schutzanstrich zur Reflexion von Licht- und Wärmestrahlung bei Atombombenexplosionen. Auch die B-52C konnte eine Aufklärungskapsel im Bombenschacht aufnehmen, sie wurde aber nie in dieser Rolle eingesetzt. 35 Stück wurden produziert, sie standen ab Juni 1956 zur Verfügung und blieben bis September 1971 im Einsatz. Neues Einsatzprofil/B-52D Diese Version war die älteste, die tatsächlich als Bomber zum Einsatz kam (ab April 1966 im Vietnamkrieg), wenn auch nicht die erste (das war das F-Modell). Mit der D-Version begann die B-52-Produktion im großen Stil: 170 Exemplare baute Boeing von 1956 bis November 1957, davon 69 Stück erstmals auch am zweiten Produktionsstandort Wichita. Äußerlich unterschied sich die B-52D nicht vom Vorgängermodell. Die Elektronik wurde modernisiert und die Umrüstmöglichkeit zum Aufklärer entfiel endgültig. Die steigende Anzahl der großen und schweren Bomber erforderte Umbaumaßnahmen auf den Stützpunkten. Zudem verteilte die Luftwaffe die Maschinen auf viele Basen, um das Risiko der Zerstörung der Bomberflotte durch den Gegner zu verringern. Durch die verbesserte Flugabwehr der gegnerischen Streitkräfte waren die hochfliegenden Bomber zunehmend bedroht, sodass das SAC das Einsatzprofil der B-52 änderte. Im Rahmen des Big Four-Programms wurden sie ab November 1959 für Tiefflugeinsätze im feindlichen Luftraum ausgerüstet. Dazu gehörten Tiefflugradar, AGM-28 Hound Dog-Raketen und Geräte für elektronische Gegenmaßnahmen. Die Umrüstung betraf alle eingesetzten Modelle von B-52C bis -H und dauerte bis September 1963. Einsätze im Tiefflug belasteten die Struktur erheblich, daher waren ab 1960 immer wieder zeit- und kostenaufwändige Ausbesserungen nötig. Für den Bombenkrieg in Südostasien konnten die D-Modelle nach dem Umbauprogramm Big Belly (Großer Bauch) ab Ende 1965 rund 30 Prozent mehr Bombenlast befördern, bis zu 27 Tonnen. Die B-52D blieb bis 1983 im Einsatz bei der US-Luftwaffe. B-52E Die einzige wesentliche Neuerung der B-52E (Modell 464-259) bestand in einem verbesserten Bomben-Navigationssystem (AN/ASQ-38), das in der Folge aber für Probleme sorgte und nachgebessert werden musste. Boeing produzierte von Anfang 1957 bis Juni 1958 100 E-Modelle, davon 58 Stück in Wichita. Der Erstflug fand am 3. Oktober 1957 statt, die Indienststellung beim Strategic Air Command erfolgte ab Dezember 1957. Die schrittweise Ausmusterung begann 1967 und dauerte bis Anfang der 1970er-Jahre. Schon im Dezember 1956 hatte die Militärführung eine Aufstockung des B-52-Programms beschlossen. Statt sieben sollten nun elf Geschwader mit je 50 Maschinen ausgerüstet und die Produktion beschleunigt werden. B-52F Den Anstoß zur Entwicklung der B-52F (Modell 464-260) gaben die verbesserten Triebwerke J57-P-43W mit nun je 61,2 Kilonewton maximaler Schubkraft. Insgesamt 89 Maschinen stellte Boeing von Ende 1957 bis November 1958 her, davon 44 letztmals im Stammwerk Seattle und 45 in Wichita, wo von nun an alle weiteren B-52-Exemplare produziert wurden. Das F-Modell flog erstmals am 6. Mai 1958 und nahm seinen Dienst beim SAC einen Monat später auf. Speziell für den Einsatz in Südostasien ließ die US-Luftwaffe von Juni 1964 bis Juli 1965 durch die Programme South Bay und Sun Bath 74 B-52F mit veränderten Unterflügelstationen zur Aufnahme von mehr konventionellen Bomben ausrüsten, wodurch sich die maximale Bombenlast auf 17,3 Tonnen erhöhte. Ab Juni 1965 kamen die F-Modelle dann als erste SAC-Bomber überhaupt im Vietnamkrieg zum Einsatz, wurden aber schon ab April 1966 durch D-Modelle abgelöst, die durch den Big Belly-Umbau bis zu 27 Tonnen Bomben laden konnten. Weitere technische Verbesserungen und Modifikationen für alle aktiven B-52 umfassten Anfang der 1960er-Jahre ein automatisches System zur Fehlererkennung und -speicherung sowie Maßnahmen gegen Treibstofflecks und -vereisung. Die Luftwaffe begann 1971 mit der Außerdienststellung der B-52F, die bis 1978 andauerte. B-52G Eigentlich sollte Convairs neuer überschallschneller Bomber B-58 Hustler in den 1960er-Jahren einige Aufgaben der B-52 übernehmen und diese teilweise ersetzen. Als das B-58-Programm aber Mitte der 1950er-Jahre unter finanziellen und technischen Problemen litt und daher zur Diskussion stand, entschied sich die Luftwaffe im Juni 1956 für die Weiterentwicklung der B-52. Das Ergebnis war die B-52G (Boeing-Modell 464-253), die sich wegen des rund 2,4 Meter kürzeren Seitenleitwerks erstmals auch äußerlich deutlich von den früheren Versionen unterschied. Bei verringertem Leergewicht stieg das Abfluggewicht um rund 17 auf 221 Tonnen. Die Tragflächen wurden neu konstruiert und erhielten Integral- statt Gummitanks, was die Treibstoffkapazität trotz der verkleinerten Außentanks am Flächenende um rund 16 Prozent auf insgesamt 181.600 Liter erhöhte und so die Reichweite ohne Luftbetankung steigerte. Auf Querruder wurde völlig verzichtet und die Steuerung um die Längsachse übernahmen die Rollspoiler. Der Heckschütze saß nun vorn bei der übrigen Besatzung und steuerte das M3-Geschütz fern. Aufgewertet wurden außerdem das Feuerleitsystem, die Ausrüstung für elektronische Gegenmaßnahmen und die Wassereinspritzung der Triebwerke. Als neue Waffe stand dem G-Modell die ADM-20 Quail zur Verfügung – ein strahlgetriebener Flugkörper, der durch seine Flugeigenschaften, Radarquerschnitt und elektromagnetische Abstrahlung dem gegnerischen Radar eine B-52 vortäuschte. Von 1958 bis Februar 1961 produzierte Boeing 193 B-52G, mehr als von jeder anderen Version. Der Erstflug fand am 31. August 1958 statt. Die Indienststellung begann am 13. Februar 1959, einen Tag nach der Ausmusterung des letzten B-36-Bombers. Von nun an bestand die SAC-Bomberflotte ausschließlich aus strahlgetriebenen Flugzeugen. Der größere Unterschied zwischen Leer- und Abfluggewicht sorgte für eine stärkere strukturelle Belastung der Tragflächen, so dass hier von 1961 bis 1964 Nachbesserungen durchgeführt wurden. Die B-52G kam ab Mitte 1972 im Vietnamkrieg zum Einsatz, wobei sieben Maschinen verloren gingen. Im Zweiten Golfkrieg 1991 flogen sie Angriffe gegen irakische Ziele. Bis 1994 waren alle Exemplare ausgemustert. Die B-52G war das letzte Modell mit Turbojet-Triebwerken. B-52H Als 1959 immer noch kein neuer Bombertyp als Ersatz für die B-52 in Sicht war, begann Boeing mit der Arbeit an einer weiteren – letzten – Version, der B-52H (Modell 464-261) – die einzige Version, die heute noch im Einsatz ist. Sie erhielt die neuen Turbofantriebwerke TF33, die Pratt & Whitney aus dem Turbojetmodell J57 entwickelt hatte. Die neue Konstruktion kommt bei höherer Leistung ohne Wassereinspritzung aus und verbraucht weniger Treibstoff. Dadurch erhöhte sich die Reichweite auf bis zu 16.000 Kilometer. Die vier 12,7-mm-M3-Heckgeschütze ließ die US-Luftwaffe durch ein ebenfalls ferngesteuertes sechsläufiges Gatling-Geschütz vom Typ M61 Vulcan ersetzen. Die Schlagkraft sollte durch die AGM-48 Skybolt gesteigert werden, eine zweistufige Feststoffrakete hoher Reichweite mit nuklearem Gefechtskopf, die allerdings nie zur Einsatzreife gelangte. Ein zur YB-52H umgebautes G-Modell mit den neuen Triebwerken flog erstmals am 10. Juli 1960, das erste Produktionsmodell am 6. März 1961. Im Mai desselben Jahres nahmen die ersten B-52H ihren Dienst beim Strategic Air Command auf, die letzte von 102 gebauten Maschinen (Seriennummer 61-0040) und damit letzte B-52 überhaupt wurde von der Luftwaffe am 26. Oktober 1962 übernommen. Die Produktionskosten betrugen laut US-Luftwaffe 9,28 Millionen US-Dollar pro Exemplar der H-Version (unter Berücksichtigung der Inflation entspricht dies einem heutigen Wert von rund Millionen US-Dollar). Davon entfielen 6,08 Millionen auf die Zelle und 1,64 Millionen auf die Triebwerke. Die durchschnittlichen Wartungskosten lagen Mitte der 1970er-Jahre bei 1182 US-Dollar pro Flugstunde. B-52J Der Umbau von 76 Flugzeugen des Typs B-52H auf das Triebwerk Rolls-Royce BR700#F130 sowie die Ausrüstung der Flugzeuge mit einem neuen Radar, dies beginnend schon 2023, führen zu einem veränderten Gesamtsystem, welches nach Usus der Streitkräfte zu einer Umbezeichnung führt. Die letzte Umbezeichnung war (alleine) aufgrund der neuen Triebwerke erfolgt. Laut einem Dokument der Air Force zum Fiskaljahr 2024 wird die Bezeichnung B-52J lauten. Modernisierungen 1971–2023 Von 1971 bis 1976 wurden alle 270 noch aktiven B-52G und B-52H für ihre Tiefflugeinsätze mit einem elektro-optischen Sichtsystem ausgerüstet, bestehend aus einer Infrarotkamera (FLIR) und einer Kameraoptik mit Restlichtverstärker. Die umgerüsteten Flugzeuge waren an zwei Ausbuchtungen unter dem Bug zu erkennen. Die gleichen Maschinen wurden ab 1971 auch zur Verwendung von AGM-69 SRAM ertüchtigt, einer als Ersatz für die AGM-28 Hound Dog beschafften nuklearen Luft-Boden-Rakete geringer Reichweite. In den 1980er Jahren folgten weitere Modernisierungen und neue Waffen. Von 1980 bis 1986 lief ein Programm zur Erneuerung der Avionik. Ab 1982 bis 2005 konnte die B-52 als einziges Flugzeug der US-Streitkräfte Marschflugkörper einsetzen, zunächst die AGM-86 ALCM, ab 1990 die AGM-129 ACM und seit Oktober 2003 die AGM-158 JASSM. Erst seit August 2005 ist die AGM-158 auch von der B-1 Lancer aus einsatzbereit. Schiffsbekämpfung ist seit 1985 mit AGM-84 Harpoon möglich, außerdem stehen nach wie vor freifallende Atombomben des Typs B61 und B83 zur Verfügung. Da Angriffe durch feindliche Jagdflugzeuge immer unwahrscheinlicher erschienen, wurde das Heckgeschütz zwischen 1991 und 1994 bei allen B-52 entfernt, wodurch auch der Heckschütze entfiel. Die Luft-Boden-Rakete AGM-142 Have Nap gehört seit 1992 zum Waffenarsenal. 1994 folgte eine weitere Aufwertung der Elektronik mit GPS-Empfänger, verschlüsselter Kommunikation und Schnittstellen für neue Lenkwaffen wie die AGM-154 Joint Standoff Weapon. Am 21. Mai 2009 startete eine B-52H mit CONECT (Combat Network Communications Technology) zum Erstflug. Durch dieses Technikupdate kann die B-52 auf das digitale Kommunikationsnetzwerk der Air Force zugreifen und so eine Verbindung mit den Air-Force-Kommandozentralen, den Bodentruppen oder anderen herstellen. Dadurch kann die B-52 beispielsweise Informationen oder Missionsupdates während des Fluges empfangen und senden. Dies bedeutet ein Plus an Flexibilität und Sicherheit. Das Radar Modernization Program (RMP) der Air Force hat zum Ziel, ein neues Radar in die verbleibenden 76 Bomber B-52 einzubauen und wurde mit der Ankunft der ersten B-52 am Umbaustandort San Antonio im Juni 2023 aufgenommen. Beim neuen Radar handelt es sich um ein modernes Breitband-AESA-Radar, die Form des Radom soll dadurch aerodynamischer werden. Zwei hochauflösende und großflächige Touchscreen-Displays, sowie zwei Prozessoren für das Display-Sensor-System, welche das Radar mit anderen B-52-Systemen verbinden, gehören zur Modernisierung. Damit sollen die B-52 bis ins Jahr 2027 für 2,8 Milliarden Dollar „jagdflugzeugähnliche“ Fähigkeiten bekommen und mehrere Ziele gleichzeitig bekämpfen können. Umrüstung auf neue Triebwerke – Pläne und Realisierung Mehrfach gab es Pläne, die acht TF33-Triebwerke der B-52H durch modernere zu ersetzen. Boeing schlug im Juni 1996 vier Rolls-Royce RB211 als neue Motorisierung vor und versprach eine Einsparung von sechs Milliarden US-Dollar bei Umrüstung aller 94 Maschinen (später reduziert auf 4,7 Milliarden US-Dollar bei 71 Maschinen). Studien der Luftwaffe und des Instituts für Verteidigungsanalysen ergaben aber Mehrkosten von 1,3 beziehungsweise einer Milliarde US-Dollar gegenüber der Beibehaltung und Wartung der TF33. Demnach hatte Boeing die Inflation, die zu erwartende Preissteigerung des Treibstoffs, die Wartungsanfälligkeit und die Wartungskosten der vorhandenen Motoren jeweils zu hoch angesetzt und war so auf das prognostizierte Einsparpotenzial gekommen. Nachdem seit 1996 durch die USAF insgesamt 13 Studien zur Triebwerksumrüstung durchgeführt wurden, wurde 2019 geplant, die bisherigen TF33 durch acht Triebwerke mit ähnlicher Größe, Gewicht und Schub zu ersetzen. Die Wartungskosten sollen gesenkt und der Triebwerkswirkungsgrad um mindestens 20 % erhöht werden. Die Umstellung auf vier Triebwerke würde die Effizienz weiter verbessern, hätte aber auch neue Triebwerksgondeln und tiefgehende Veränderungen der Flugzeugsysteme erfordert, vor allem an den Tragflächen und dem Treibstoffsystem, und entsprechend höheren Aufwand verursacht. Die Entscheidung für einen Triebwerkstyp sollte ursprünglich Mitte 2020 bekanntgegeben werden und danach zwei B-52H umgerüstet werden, bevor ab 2026 die 74 Triebwerkssätze beschafft werden sollten. Das Umrüstungsprojekt soll 2034 abgeschlossen sein. Konkurrenten in dem Wettbewerb waren Rolls-Royce mit dem F130, das eine Variante des BR725 ist und auch schon bei der C-37A/B und E-11A eingesetzt wird, und General Electric, die das CF34-10 anboten. Pratt & Whitney schlug neben einer Generalüberholung der TF33-Triebwerke auch den Neuentwurf PW800 vor. Am 24. September 2021 gab das Pentagon die Entscheidung bekannt, die Triebwerke durch das Rolls-Royce F130 zu ersetzen. Um die Umbaukosten niedrig zu halten, werden somit weiterhin acht Triebwerke verbaut. Dennoch verringern sich durch niedrigere Wartungskosten und niedrigeren Verbrauch die Betriebskosten erheblich; die vergrößerte Reichweite vermindert auch die Zahl der notwendigen Luftbetankungen. Außerdem gehören auch die charakteristischen schwarzen Rauchwolken der Vergangenheit an. Alternative Treibstoffe Die B-52 wurde das erste Flugzeug, mit dem die US-Luftwaffe die Verwendung alternativen Treibstoffs testete. Am 19. September 2006 startete auf der Edwards Air Force Base eine B-52H zu einem Testflug, bei dem bei zwei Triebwerken ein 50:50-Gemisch aus gewöhnlichem JP-8-Treibstoff und durch das Fischer-Tropsch-Verfahren gewonnenen synthetischen Kraftstoff verwendet wurde. Geplante weitere Modernisierungen Die Luftwaffe plante seit 2004, die B-52 für Einsätze zur elektronischen Kampfführung auszurüsten. Sie sollte dafür Vorrichtungen für je zwei Elektronikbehälter unter den Tragflügeln erhalten, in Form und Größe ähnlich den bisherigen Außentanks. Die vorläufig B-52 SOJ (für Stand-Off Jammer, deutsch: Abstandsstörer) genannte Version sollte die Kommunikation des Gegners aus der Distanz stören. Vorgesehen war die Anschaffung von 36 Behälterpaaren und die Umrüstung von 76 B-52H. Nach den ursprünglichen Planungen sollten die ersten Exemplare bis 2009 umgebaut und 2012 voll einsatzbereit sein. Ende 2005 gab die Luftwaffe das Projekt jedoch auf, da die Kosten von ursprünglich veranschlagten einer Milliarde US-Dollar auf sieben Milliarden gestiegen waren. Daraufhin beantragte das Verteidigungsministerium für das Finanzjahr 2007 keine Mittel mehr für das Programm. Stattdessen hat die Luftwaffe sich vertraglich die Mitarbeit der United States Navy gesichert, die bis zum Jahr 2012 bei Bedarf Einsätze von Luftwaffengeschwadern mit EA-6B Prowler begleitet, die auf elektronische Kampfführung ausgelegt sind. Am 16. Juni 2006 gab die Militärführung bekannt, dass Boeing einen Vertrag über 150 Millionen US-Dollar erhalten hat. In dem Smart Weapons Integration Next Generation (SWING) genannten Programm sollen die Waffenelektronik und -halterungen des Bombers bis Ende 2020 modernisiert werden, um neue Waffensysteme aufnehmen und einsetzen zu können. Dazu gehören unter anderem die kleine Präzisionsbombe Small Diameter Bomb, der Marschflugkörper AGM-158B JASSM-ER mit gesteigerter Reichweite und der Täuschkörper Miniature Air Launched Decoy (MALD). Bis April 2016 sollen sechs B-52 mit dem neuen System namens „1760 Internal Weapons Bay Upgrade (IWBU)“ ausgestattet und getestet werden. Nach erfolgreicher Testung sollen bis Oktober 2017 38 B-52 mit dem neuen System ausgestattet werden. Der 1760 IWBU ermöglicht den Bombern auch intern GPS-gesteuerte Munition aufzunehmen und steigert so signifikant die Leistung und Effizienz der B-52 bei Operationen, bei denen hohe Präzision erforderlich ist. Im Januar 2016 wurde bekannt gegeben, dass die Harris Corporation einen Vertrag erhalten hat, demzufolge sie das elektronische Gegenmaßnahmensystem der B-52 gegen radargelenkte Waffen verbessern soll. Dabei soll das System gleichzeitig vereinfacht, verbessert und leichter werden. Perspektiven für den weiteren Einsatz Seit 1986 stand mit der B-1 Lancer erstmals ein Nachfolgemodell bereit, das im Gegensatz zur Stratofortress auch bei Überschallgeschwindigkeit und in stärker verteidigten Lufträumen im Tiefflug operieren und zudem (zumindest theoretisch) eine beinahe doppelt so große Bombenlast tragen konnte. Der Tarnkappenbomber B-2 Spirit übernahm als weiterer Langstreckenbomber seit 1997 vor allem Einsätze gegen hochverteidigte Ziele. Da keiner der neuen Bomber so viele verschiedene Waffen einsetzen kann wie die B-52 und sie die einzige Startplattform für strategische Marschflugkörper der USAF ist, bleibt sie weiterhin im Dienst. Von den insgesamt 744 gebauten B-52 standen Anfang 2006 noch 94 Exemplare im aktiven Dienst der US-Luftwaffe, sämtlich H-Modelle mit Turbofan-Triebwerken. Davon werden 44 ständig einsatzbereit gehalten. Nach der Auflösung des Strategic Air Command Mitte 1992 sind sie dem Air Combat Command (84 Maschinen) und dem Air Force Reserve Command (neun Maschinen) zugeordnet und auf den Luftwaffenstützpunkten Barksdale, Louisiana und Minot, North Dakota stationiert. Dazu kommt eine B-52H des Air Force Materiel Command für Testzwecke auf dem Stützpunkt Edwards in Kalifornien und das NASA-Mutterschiff NB-52H, ebenfalls in Edwards. Schon Ende der 1990er-Jahre plante das Verteidigungsministerium, die Anzahl der B-52 auf 76 Maschinen zu reduzieren, was der US-Kongress aber ablehnte. Als Kompromiss erhielten 18 der 94 B-52 den Status der „Verschleiß-Reserve“. Die im Februar 2006 im Quadrennial Defense Review Report veröffentlichte Streitkräfteplanung sah für die nächsten Jahre vor, die Anzahl der B-52 auf 56 zu reduzieren und die dadurch eingesparten Mittel in die Modernisierung der B-52-, B-1- und B-2-Bomber zu investieren. Seit Oktober 2006 erlaubt der Kongress unter Auflagen die Außerdienststellung von maximal 18 Maschinen, wobei 44 B-52 ständig einsatzfähig sein sollen. Am 30. Juli 2008 wurde die erste B-52H außer Dienst gestellt, und weitere 17 folgten bis Mitte 2009. Ein Teil der Flotte sollte Stand 2015 technisch so verändert werden, dass er keine Nuklearwaffen tragen kann, um den mit Russland geschlossenen Vertrag New START einzuhalten. Die verbleibenden Maschinen vom Typ B-52H werden mit neuem Radar sowie mit neuen F130-Triebwerken von Rolls-Royce ausgerüstet, um bis in die 2050er-Jahre einsatzbereit zu sein, sie wären dann also rund 100 Jahre alt. Im 2023 wurde für dieses Upgrade, das in der Version B-52J enden wird, eine seit zwanzig Jahren abgestellte B-52 nach Oklahoma überführt, wo sie den Ingenieuren bei der Zusammenführung von Theorie und Praxis dieser Umbauten zur Verfügung steht. NB-52 der NASA Drei verschiedene Exemplare der B-52 wurden im Laufe der Jahre umgebaut, erhielten die Bezeichnung NB-52 und dienten der NASA als mothership (Mutterschiff); sie trugen unter anderem bemannte und unbemannte Experimentalflugzeuge und Raketen in große Höhen, um sie dort für Tests auszuklinken. Die NASA betrieb zwar die Flugzeuge, sie blieben aber Eigentum der US-Luftwaffe mit entsprechender Markierung und Kennzeichen. Die dritte und letzte gebaute B-52A (Seriennummer: 52-003) war die erste Maschine dieser Art: Sie sollte die X-15 zur Erforschung des Überschallfluges tragen und wurde Anfang 1959 zur NB-52A umgewidmet. Die USAF montierte einen Pylon zur Aufnahme der X-15 unter der rechten Tragfläche zwischen Rumpf und erster Motorgondel. Dabei musste ein rund 1,8 × 2,4 Meter großes Stück der Flügelhinterkante entfernt werden, um Platz für das Heckleitwerk der X-15 zu schaffen. Der erste Flug zum Testen dieser Konfiguration fand am 10. März 1959 auf der Edwards Air Force Base in Kalifornien statt, am 8. Juni wurde die X-15 erstmals ausgeklinkt und glitt wie geplant antriebslos zu Boden, der Erstflug der X-15 mit Raketenantrieb folgte am 17. September 1959. Die NB-52A führte 59 der insgesamt 199 X-15-Flüge durch, bevor sie 1968 außer Dienst gestellt wurde. Danach wurde sie dem Pima Air & Space Museum in Tucson, Arizona übergeben. Ebenfalls schon seit 1959 flog die NB-52B (52-008) für die NASA. Sie startete die übrigen 140 Flüge der X-15 und transportierte unter anderem Feststoffraketen des Space Shuttle für Testzwecke. Ihr letzter Einsatz fand im Rahmen des X-43-Programms statt. Als sie am 17. Dezember 2004 an die Luftwaffe rückübertragen wurde, war sie das älteste Flugzeug der NASA, die älteste noch flugfähige B-52, und gleichzeitig die mit den wenigsten Flugstunden. Seither ist die NASA-008 auf der Edwards Air Force Base ausgestellt (). Als Ersatz übernahm die NASA schon am 30. Juli 2001 ihr bisher drittes mothership, die NB-52H (61-0025), ein 1961 gebautes H-Modell, das bis Ende 2004 umgerüstet wurde. Einsatz Strategic Air Command Die B-52 war lange Zeit das Rückgrat des Strategic Air Command (SAC). Die erste Maschine wurde am 29. Juni 1955 an einen Einsatzverband geliefert und löste ihren Vorgänger, die Boeing B-47 Stratojet, ab. Am 21. Mai 1956 erfolgte durch eine B-52 der erste US-amerikanische Testabwurf einer Wasserstoffbombe über dem Bikini-Atoll, wobei die Zielmarkierung durch einen Fehler der Besatzung um vier Meilen verfehlt wurde (Operation Redwing Cherokee). Von Oktober 1957 bis 1991 galt ein verschärftes Alarmkonzept des SAC, nach dem die Bomber 15 Minuten nach der Alarmierung in der Luft sein sollten. Hierzu wurden unter anderem das Minimum Interval Takeoff-Verfahren (MITO) entwickelt, bei dem die Bomber einer Staffel in extrem kurzen Zeitabständen hintereinander starteten. Darüber hinaus gab das SAC Anfang 1961 bekannt, dass ständig B-52 mit Atomwaffen an Bord im Rahmen einer permanenten fliegenden Bereitschaft in der Luft seien. Bei den unter dem Namen Chrome Dome bekannt gewordenen Einsätzen flogen die Bomber täglich zwölf 24-stündige Missionen auf drei Routen, von denen eine von den USA über den Nordatlantik zum Mittelmeer und zurück führte. Am 22. Oktober 1962 erhöhte das SAC wegen der Kubakrise die Zahl der Chrome-Dome-Einsätze auf 66 täglich, bis sie nach dem Ende der Krise wieder auf Normalmaß reduziert wurden. Ende Februar 1968 änderte die Luftwaffe ihre Einsatzdoktrin und beendete die fliegende atomare Bereitschaft ihrer B-52, wozu einige Unfälle mit Kernwaffen (s. unten) beitrugen. Kurz nach dem Beginn der Lieferung der ersten B-52 zeigte sich bereits, dass der hochfliegende Unterschall-Atombomber von einer einfachen Luftabwehrrakete abgeschossen werden konnte. So gab es bereits 1955 erste Untersuchungen durch die Air Force und Boeing, welche die Belastungen durch Böen im Tiefflug untersuchten, aber keine gravierenden Probleme aufwarfen. Aber 1961 zeigten sich bei Maschinen des SAC erste Risse, zum Teil bei Maschinen mit erst 300 Flugstunden. Die Maschinen ab der G-Serie waren strukturell verändert und wurden deswegen vermehrt zu Tiefflugeinsätzen innerhalb der Bereitschaft herangezogen. Daher wurde ein 210 Millionen US-Dollar teures Umbauprogramm initiiert, das teilweise die formale Einsatzbereitschaft des SAC gefährdete. Trotzdem kam es immer wieder zu strukturellem Versagen. So wurde einer B-52H während eines Prüfungsfluges im Tiefflug das Seitenleitwerk abgerissen. Die B-52 galt bereits Anfang der 1960er-Jahre konzeptionell als veraltet und es wurden Bemühungen unternommen, die Maschine durch modernere Konstruktionen wie die B-58 Hustler, die B-70 Valkyrie und die B-1 Lancer zu ersetzen. Letztlich blieb die B-52 aufgrund der Fähigkeit, sehr große Lasten zu tragen und zum Einsatz zu bringen, sowie wegen der aufgrund ihrer Luftbetankung praktisch unbegrenzten Reichweite im Dienst. Die Verwendung von Abstandswaffen ermöglicht bis zum heutigen Tag erfolgversprechende Einsätze trotz der geringen Geschwindigkeit, der geringen Manövrierfähigkeit und der großen Radarsignatur. Rekorde Mit einer B-52H wurden zwei FAI-Absolutrekorde aufgestellt: am 11. Januar 1962 flog eine Maschine ohne Landen und Nachbetanken 20.168,78 km von Okinawa nach Madrid. Für diesen Rekordflug wurde das Startgewicht, das während des regulären Einsatzes auf 221 t begrenzt ist, auf ca. 250 t angehoben, und der Start wurde mit Hilfe des Feststoffboosters durchgeführt. Der zweite Absolutrekord auf einem Rundkurs (18.245,05 km), auch mit extremem Startgewicht, folgte am 7. Juni 1962. Bereits am 14. Dezember 1960 war mit einer B-52G ein Rekord (16.220,36 km) aufgestellt worden. Zwischenfälle Zwischenfälle ohne Kernwaffen Am 24. Juni 1994 stürzte eine B-52H während eines Trainingsfluges für eine Flugschau auf der Fairchild Air Force Base ab, nachdem der Pilot Bud Holland das Flugzeug außerhalb der zulässigen Einsatzparameter geflogen und dabei die Kontrolle verloren hatte. Dabei kamen alle vier Besatzungsmitglieder ums Leben. Am 21. Juli 2008 stürzte eine unbewaffnete B-52H der US-Luftwaffe (20th Expeditionary Bomb Squadron) an der Ostküste der Pazifikinsel Guam ab. Die Maschine hätte zum 64. Jahrestag der Befreiung der Insel von japanischer Besetzung über eine feiernde Menschenmenge fliegen sollen. Alle sechs Besatzungsmitglieder kamen beim Absturz ums Leben. Am 18. Mai 2016 stürzte auf der Andersen Air Force Base auf Guam eine B-52H des 69th Expeditionary Bomb Squadron mit Heimatstützpunkt Minot Air Force Base kurz nach dem Start ab. Bei dem Absturz gab es keine Toten oder Verletzten. Zwischenfälle mit Kernwaffen Laut Recherchen von Eric Schlosser verzeichnete die US-Regierung zwischen 1950 und 1968 mindestens 700 „bedeutende“ Unfälle und Zwischenfälle, in die rund 1250 Atomwaffen verwickelt waren. Am 15. Oktober 1959 kollidierte nahe Hardinsburg (Kentucky) eine mit zwei Atombomben bestückte B-52 während der Luftbetankung mit einer KC-135. Die beiden auf dem Luftwaffenstützpunkt Columbus (Mississippi) stationierten Maschinen stürzten aus rund 7500 m Höhe ab, wobei alle vier Besatzungsmitglieder des Tankers und vier der acht Besatzungsmitglieder des Bombers ums Leben kamen. Die Atombomben konnten nach dem Absturz der B-52 geborgen werden, waren allerdings teilweise verbrannt. Am 24. Januar 1961 zerbrach eine B-52G der 4241st Strategic Wing nach einer Explosion, deren Ursache ein Leck in der Treibstoffversorgung in der rechten Tragfläche war. Zwei Wasserstoffbomben vom Typ MK-39 gelangten ins Freie und stürzten 20 km nördlich des Luftwaffenstützpunkts Seymour bei Goldsboro in North Carolina ab. Eine der Bomben konnte intakt geborgen werden. Die andere Bombe versank im Sumpf von Nahunta nahe Faro. Sie soll noch heute in dem gesicherten Areal in 17 m Tiefe liegen. Beim Absturz kamen drei Besatzungsmitglieder ums Leben. Später ließ die US-Regierung den Vorfall untersuchen. Ein Ergebnis: Bei einer der beiden Bomben versagten drei der vier Sicherheitsmechanismen, die eine ungewollte Explosion verhindern sollten. Nur ein einfacher Sicherheitsschalter hatte demnach die Katastrophe verhindert. Die Auswirkungen durch radioaktiven Fallout bei einer Explosion der Bombe – 260-mal so stark wie die Hiroshima-Bombe – hätten auch Washington und New York betroffen. Am 14. März 1961 musste ein B-52F-Bomber mit Kernwaffen infolge von Druckabfall in der Kabine auf 3000 m Höhe absteigen. Durch den erhöhten Treibstoffverbrauch konnte er sein Ziel nicht mehr erreichen und erlitt bei Yuba City (Kalifornien) eine Bruchlandung, wobei das Flugzeug und die zwei Bomben zerschellten. Die Serie solcher Vorfälle veranlasste Präsident John F. Kennedy, die Sicherheitsverriegelungen der Bomben verbessern zu lassen. Am 13. Januar 1964 zerbrach eine B-52D auf dem Weg vom Luftwaffenstützpunkt Westover in Massachusetts nach Turner in Georgia durch starke Turbulenzen in einer Höhe von 9000 m. Die Trümmer der Maschine gingen südwestlich von Cumberland in Maryland nieder. Drei Besatzungsmitglieder starben. Die beiden transportierten Bomben wurden mit leichten Beschädigungen geborgen. Ein weiterer Absturz mit nuklearer Bombenlast ereignete sich am 17. Januar 1966 bei Palomares in Spanien. Dort kollidierte eine B-52H der 68th Bomb Wing mit einem KC-135-Tankflugzeug. Dabei verloren sieben Besatzungsmitglieder ihr Leben. Von vier an Bord der B-52 befindlichen Wasserstoffbomben vom Typ B28 wurden zwei zerstört. Die letzte konnte am 7. April 1966 in einer sechs Millionen US-Dollar teuren Bergungsoperation durch das U-Boot DSV Alvin aus dem Mittelmeer geborgen werden. Auf Tomatenplantagen im Bereich der Absturzstelle wurden 1500 t radioaktiv kontaminierter Boden abgetragen und in die USA nach Aiken (South Carolina) verschifft. Am 21. Januar 1968 stürzte in Grönland 11 km südlich des Luftwaffenstützpunkts Thule eine B-52 mit den Piloten John Haug und Joe D’Amario auf das Eis. Drei der vier an Bord befindlichen Wasserstoffbomben stürzten ins Eismeer und konnten eingefroren geborgen werden. Erst nach entschiedenen Interventionen der dänischen Regierung unternahmen die USA eine großangelegte, aber erfolglose Suche nach der vierten Bombe. Schließlich wurde 1979 behauptet, diese Bombe sei von der US-Spezialeinheit Navy SEAL mit Unterstützung des Bauregiments (Seabees) der US-Navy in der Baffin Bay sichergestellt worden. Am 10. November 2008 berichtete die BBC auf ihrer Website, dass die am 21. Januar 1968 verlorene Atombombe bis heute nicht aufgefunden wurde. Die Suche war seinerzeit, wie die Tagesschau online am 11. November 2008 berichtete, ohne Erfolg abgebrochen worden. Dies wurde auch durch den amerikanischen Untersuchungsleiter, William H. Chambers, nach 40 Jahren bestätigt. Demnach soll die vierte Bombe mit der Seriennummer 78252 weiterhin vermisst sein. Chambers hat jedoch gegenüber dem öffentlich-rechtlichen dänischen Sender Danmarks Radio (DR) erklärt, dass er von der BBC missverstanden worden sei, und dass er sich zukünftig nicht mehr von Medien in falschem Kontext zitieren lassen wolle.Als Konsequenz der Medienberichte beauftragte der dänische Außenminister im Jahr 2009 das Danish Institute for International Studies (DIIS) mit der Anfertigung eines Berichtes zum Absturz. Dabei sollte das DIIS untersuchen, ob die 348 beschafften Dokumente (rund 2000 Seiten), die der BBC-Reporter Corera für seine Reportage im Jahr 2008 verwendet hatte, Informationen enthielten, die vom Inhalt der seit 1986 von US Department of Energy freigegebenen 317 Dokumente abwichen. Der Bericht mit dem Titel „The Marshal’s Baton – There is no bomb, there was no bomb, they were not looking for a bomb“ („Der Marschallstab – Da ist keine Bombe, da war keine Bombe, sie haben nicht nach einer Bombe gesucht“) kommt zu dem Schluss, dass alle vier Bomben beim Aufprall zerstört wurden. Die von den USA angegebene Menge aufgefundenen Plutoniums stimmt in etwa mit jener aus vier Kernwaffen überein. Ebenso wurden andere Bombenkomponenten von allen vier Waffen geborgen, wie zum Beispiel die Deuterium-Tritium-Tanks sowie die Fallschirmbehälter, sodass der Verlust einer kompletten Waffe auszuschließen sei. Eine wichtige Komponente einer Waffe wurde jedoch nicht gefunden, wobei es sich vermutlich um den stabförmigen Kern aus hochangereichertem Uran der Fusionsstufe („Spark Plug“) handelte. Dieser soll unter Wasser gesucht, aber nicht gefunden worden sein. Bei beiden letztgenannten Unfällen kam es zu starken radioaktiven Kontaminierungen. Sowohl in Spanien als auch in Grönland mussten die USA kontaminierten Erdboden (beziehungsweise Eis) abtragen lassen und auf Deponien ins eigene Land bringen, unter anderem nach South Carolina und Texas. Die Unfälle trugen wesentlich dazu bei, dass die fliegende Bereitschaft mit Atomwaffen am 26. Februar 1968 durch Verteidigungsminister Clark McAdams Clifford (Kabinett Johnson) aufgehoben wurde. Zu dieser Zeit hatten land- und seegestützte Interkontinentalraketen die Hauptlast der nuklearen Abschreckung übernommen. Der von Kritikern als fliegender Anachronismus bezeichnete Atomwaffenträger B-52 wurde zu einem Flugzeug für den begrenzten konventionellen Krieg. Am 30. August 2007 flog ein US-Bomber irrtümlich mit Atomwaffen an Bord über US-Territorium. Die auf dem Luftwaffenstützpunkt Minot in North Dakota gestartete B-52 brachte zwölf Marschflugkörper des Typs AGM-129 ACM in einem dreieinhalbstündigen Flug zum Stützpunkt Barksdale in Louisiana. Sechs der Waffen waren mit nuklearen Sprengköpfen bestückt; dies wurde erst zehn Stunden nach der Landung bemerkt. Vietnamkrieg Zehn Jahre nach ihrer Indienststellung flogen die B-52 ihren ersten Kampfeinsatz. Anfang 1965 begann die Verlegung von B-52F aus den USA nach Südostasien. Unter dem Namen Operation Arc Light begannen am 18. Juni 1965 die Einsätze der B-52 im Vietnamkrieg. Von der Andersen Air Force Base auf Guam aus griffen 27 B-52F Ziele im Süden des Landes an. Bis zum Ende von Arc Light acht Jahre später flogen die Bomber über 126.000 Einsätze, bis zu 3150 pro Monat. Andere Einsätze erfolgten in den Operationen Rolling Thunder (Rollender Donner) und Niagara II. Im Krieg wurden die Varianten D, F und G eingesetzt, wobei umgebaute D-Typen die Hauptlast trugen und auch zur Erdkampfunterstützung eingesetzt wurden. Dabei konnten bis zu 100 konventionelle Bomben zum Einsatz gebracht werden. Neben Guam dienten die Luftwaffenbasen Kadena auf Okinawa und U-Tapao in Thailand als Heimatflughäfen. Die massivsten Bombardements fanden vom 18. bis zum 29. Dezember 1972 im Rahmen der Operation Linebacker II statt, in Vietnam als „Zwölf-Tage-Krieg“ bekannt, in den USA dagegen als „Elf-Tage-Krieg“ – am 25. Dezember herrschte Waffenruhe. Bis zu 130 B-52 flogen gleichzeitig Angriffe auf Hanoi und die wichtigste Hafenstadt Haiphong. Jeder Bomber konnte bis zu 27 Tonnen Bomben tragen, die bei Flächenbombardements ein Areal von rund zwei Quadratkilometern zerstören. Bei diesen vernichtenden Schlägen fielen bei 730 Einsätzen insgesamt rund 15.000 Tonnen Bomben in elf Tagen. 1300 Vietnamesen kamen dabei ums Leben. Die massiven Bombenangriffe auf Städte und Zivilbevölkerung riefen Proteste in aller Welt hervor. Schnell zeigte sich die Verwundbarkeit eines hoch fliegenden Bombers durch Flugabwehrraketen wie die SA-2 Guideline und radargeführte Abfangjäger wie die MiG-21. Die nordvietnamesischen Streitkräfte reklamierten zwei B-52-Abschüsse durch MiG-21 für sich, darunter einer am 27. Dezember 1972 durch Leutnant Nguyen Van Tuan, während die USA Beschuss mit Boden-Luft-Raketen als Absturzursache angaben. Ein weiterer Abschuss wurde Phạm Tuân zugesprochen. Während von 1965 bis 1971 keine B-52 verloren ging, endete die Operation Linebacker II mit dem Verlust von insgesamt 15 B-52. Viele Besatzungsmitglieder abgeschossener B-52 kamen ums Leben, wurden verwundet oder gerieten in Kriegsgefangenschaft. Insgesamt zeigten sich hier die Risiken, bemannte Bomber gegen adäquat verteidigte Bodenziele einzusetzen. Golfkriege Am ersten Tag der Operation Desert Storm, am 17. Januar 1991, griffen sieben B-52G mit insgesamt 39 Marschflugkörpern AGM-86C irakische Ziele an. Davon konnten 35 erfolgreich gestartet werden, von denen 33 ihr Ziel erreichten. Die Bomber waren am Tag zuvor von der Luftwaffenbasis Barksdale in Louisiana gestartet. Die Mission, während der die B-52 mehrmals in der Luft aufgetankt wurden, dauerte 35 Stunden und war die bis dahin längste Kampfmission militärischer Luftfahrzeuge. Gemeinsam mit anderen Flugzeugen der Koalition sollten US-Kampfflugzeuge in der Instant Thunder genannten ersten Phase des Krieges die irakischen Streitkräfte so weit schwächen, dass die Koalitionstruppen von Kuwait aus zügig nach Norden vorrücken konnten. Die Aufgabe der insgesamt 75 eingesetzten B-52 bestand dabei vor allem darin, die gegnerischen Bodentruppen durch andauerndes Flächenbombardement zu zermürben. Der Angriff auf Fixziele, etwa Industrie oder Infrastruktur, spielte eine untergeordnete Rolle. Obwohl die Bomber ihre Einsatzziele erreichten, operierten sie längst nicht so effizient wie von der Militärführung erwartet. Während die B-52 und ihre Mannschaften für autonome Tiefflugeinsätze ausgerüstet und trainiert waren, kamen sie im Irak aus großer Höhe im Verbund mit Kampfflugzeugen und Aufklärern zum Einsatz. Die Folge waren Kommunikationsprobleme und eine relativ geringe Treffergenauigkeit bei der Bombardierung. Insgesamt flogen B-52G-Maschinen etwa 1600 Einsätze während der Operation Desert Storm. Sie unternahmen drei Prozent aller Lufteinsätze dieses Krieges, warfen aber 30 Prozent der gesamten Bombenmasse ab. Es gab keine Verluste durch feindliche Einwirkung. Einige B-52G wurden von Luftabwehrwaffen getroffen. Eine Maschine (59-2593) stürzte nach einem Ausfall der elektrischen Anlage und anschließender Fehlbedienung der Treibstoffversorgung ab, wobei drei Besatzungsmitglieder getötet wurden. Bei der Operation Desert Strike flogen B-52H der 2. Bomberstaffel ihren ersten Kriegseinsatz am 3. September 1996 von Guam startend, als sie 13 AGM-86C auf Ziele im südlichen Irak abfeuerten. 1998 nahmen Stratofortress-Bomber an der vom 16. bis zum 20. Dezember dauernden Operation Desert Fox teil und griffen irakische Ziele mit über 90 Marschflugkörpern an. Die B-52H nahmen mit 28 Maschinen an der im März 2003 gestarteten Operation Iraqi Freedom teil. Neben GPS-gelenkten Bomben verwendeten sie im Verbund mit dem neuen Zielerfassungs- und Markierungssystem Litening II (AN/AAQ-28) erstmals auch lasergelenkte Waffen. Kosovo Ab März 1999 flogen B-52 im Kosovokrieg im Rahmen der NATO-Operation Allied Force etwa 270 Angriffe gegen jugoslawische Ziele, wobei sie 78 Marschflugkörper und über 11.000 Bomben abwarfen. Afghanistan Bei der am 7. Oktober 2001 beginnenden Operation Enduring Freedom kam die Stratofortress erstmals zur Erdkampfunterstützung mit Präzisionsbomben zum Einsatz. Voraussetzung dafür war die neuartige Informationsverarbeitung der US-Streitkräfte in Echtzeit und die Verwendung von GPS-gesteuerten Bomben (JDAM). Typischerweise wurden pro Tag fünf Einsätze vom über 4000 Kilometer entfernten britischen Stützpunkt Diego Garcia im Indischen Ozean aus geflogen. Einen Teil ihrer Bomben warfen sie auf vorher festgelegte Ziele ab, danach kreisten die Bomber in großer Höhe in einer zugewiesenen Kampfzone und warteten auf neue Ziele. Von der Aufklärung eines Zieles durch Bodentruppen bis zur Bombardierung nahe den eigenen Linien vergingen so teilweise nur 20 Minuten. Ab November 2001 verlagerten sich die Einsätze der Bomber zunehmend auf die vermuteten Rückzugsräume der Taliban im Osten Afghanistans. Ein großer Teil der geschätzten über 3000 zivilen Opfer (Oktober 2001 bis März 2002) geht auf die Flächenbombardements durch B-52, abgeworfene Landminen sowie auf durch die Bombardierung der Tora-Bora-Höhlenkomplexe mit Großbomben ausgelöste Bergstürze zurück. Syrien/Irak (Inherent Resolve) Zur Unterstützung der Operation Inherent Resolve, dem Kampf der USA und der Verbündeten gegen den Islamischen Staat, verlegte die USAF Anfang April 2016 eine nicht genau bezifferte Anzahl an B-52 auf die Basis Al-Udeid in Katar. START Als Träger von strategischen Atomwaffen fällt die B-52 unter die seit 1991 geschlossenen START-Abkommen zur Reduzierung der Zahl nuklearer Gefechtsköpfe der USA und der Sowjetunion (beziehungsweise ihrer Nachfolgestaaten Russland, Belarus, Kasachstan und Ukraine). Nach dieser Vereinbarung müssen ausgemusterte B-52 zum Luftwaffenstützpunkt Davis-Monthan in Arizona geflogen und im benachbarten 309th Aerospace Maintenance and Regeneration Group (AMARG) in große Stücke zerteilt werden. Falls ihre Zerstörung nicht durch persönliche Kontrollen der Gegenseite bestätigt wird, müssen die Wrackteile zwecks Erfassung durch russische Aufklärungssatelliten für mindestens 90 Tage unter freiem Himmel geordnet abgelegt werden. Allerdings unterlagen nicht alle dieser Bomber den Abrüstungsverträgen. Auch ihr diesbezüglicher Wert ist für Außenstehende nicht leicht nachvollziehbar. So besaß nach den Regeln des 2001 vollständig umgesetzten START-I-Vertrags jede der 94 B-52H, die je bis zu 20 Marschflugkörper mit nuklearem Gefechtskopf aufnehmen konnten, einen Zählwert von zehn Gefechtsköpfen, während die 91 B-1 und 21 B-2-Langstreckenbomber nur je als ein Gefechtskopf galten, auch wenn sie bis zu 16 freifallende Atombomben laden konnten. Erst unter dem 1993 vereinbarten, aber nie in Kraft getretenen START-II-Vertrag zählten die Bomber mit der tatsächlichen Anzahl ihrer einsetzbaren Atomwaffen. Für die vorgesehenen 76 B-52H waren das 940 Gefechtsköpfe. Die US-Regierung hat zwar mit dem im Mai 2002 unterzeichneten SORT-Abkommen eine weitere Reduzierung ihrer strategischen Nuklearwaffen angekündigt, will bei ihrer Zählung aber nur die unmittelbar einsatzbereiten Waffen erfassen, sodass die B-52-Flotte lediglich mit etwa 500 Gefechtsköpfen gewichtet würde, obwohl sie fast doppelt so viele einsetzen kann. Bedeutung Luftfahrttechnisch Ohne das eigens für die B-52 entwickelte Pratt & Whitney J57-Strahltriebwerk wäre der Erfolg des Bombers nicht möglich gewesen. Zwar verwendeten andere Flugzeuge schon früher Strahlantrieb, gepfeilte Tragflächen oder Luftbetankung zur Reichweitensteigerung, aber erst bei der B-52 wurden 1952 diese neuartigen Technologien erfolgreich mit großen Abmessungen und hohem Gewicht kombiniert. Boeings Entwurf erwies sich von Beginn an als relativ ausgereift, sodass während der Erprobung und der gesamten Produktionsphase bis 1961 nur geringfügige Änderungen an der Konstruktion nötig waren, meist strukturelle Verstärkungen. Kaum ein Bomberprojekt der USA seit den 1930er- und erst recht nicht nach den 1950er-Jahren hatte weniger technische Probleme als die B-52. Boeing war mit der B-17 und B-29 schon während der 1940er-Jahre der führende US-amerikanische Hersteller von Bombern. Mit der Entwicklung und dem Bau der B-47 und erst recht der B-52 festigte Boeing seine Position. Erst als in den 1960er-Jahren Überschallgeschwindigkeit auch für Bomber zu den Anforderungen zählte, konnten Consolidated Vultee Aircraft Corporation und North American Aviation aufgrund ihrer Erfahrung auf diesem Gebiet (unter anderem durch die F-102 und X-15) an Boeing vorbeiziehen und erhielten den Zuschlag für die nächsten Bomberprojekte B-58 und B-70, die aber die Erwartungen nicht erfüllten bzw. abgebrochen wurden. Boeing nutzte seine Erfahrung aus dem Bomberbau und konzentrierte sich fortan auf die Produktion von Passagierjets (B 707) und militärische Transportflugzeuge (C-135), profitiert aber bis heute von Modernisierungsprogrammen für seine B-52. Militärisch In den 1950er und frühen 1960er Jahren spielten die B-52-Bomber eine zentrale Rolle in der Strategie der Abschreckung durch Bereitschaft zu massiver Vergeltung mit Atomwaffen. Nachdem 1964 die Zahl der einsatzbereiten Interkontinentalraketen die der Bomber zu übertreffen begonnen hatte, entwickelte die USAF immer neue Waffen und Einsatzmöglichkeiten für die Stratofortress, sodass sich die B-52 nach und nach zum vielseitigsten Bomber der US-Luftwaffe entwickelte. Dies lag aber nicht nur an der Flexibilität des Bombers, sondern auch an einem Mangel an Alternativen: Die geplanten Nachfolger kamen entweder nicht über das Versuchsstadium hinaus (B-70) oder wurden viel später als vorgesehen beschafft (B-1). Dazu kommt die über Jahre hinweg höhere Verfügbarkeit der B-52, die 2002 etwa 79 Prozent erreichte, im Gegensatz zu lediglich 66 Prozent bei der B-1 und ganzen 42 Prozent bei der B-2. Das in seiner militärischen Bedeutung vergleichbare Gegenstück zur B-52 ist die etwa zeitgleich entwickelte und heute noch geflogene sowjetische/russische Tupolew Tu-95 Bear. Produktion Abnahme der B-52 durch die USAF: Beim Stückpreis handelt es sich um den „Fly-Away-Price“, der die Zelle, die Triebwerke, die Elektronik, die Ausrüstung und die Bewaffnung beinhaltet. Technische Daten Bewaffnung B-52A/B/C/E Rohrbewaffnung zur Selbstverteidigung 1 × Heckstandeinheit Bosch Arma MD-9-Defensive Fire Control System (DFCS) mit einer Vierlingslafette in einer Drehkuppel mit 4 × 12,7-mm-Maschinengewehren Browning M3 mit je 600 Schuss Munition pro MG. Die Heckstandeinheit wird von einem Besatzungsmitglied bedient. Als Zielhilfe sind ein Feuerleitradar und eine Fernsehkamera eingebaut. Die MG können manuell oder automatisch ein vom Radar erfasstes Ziel bekämpfen. Am Ende der Einheit sind in einer beweglichen Kugelblende vier MG und das Zielbeleuchtungsradar eingebaut. Kampfmittel bis zu 31.500 kg im internen Bombenschacht und an zwei Außenlaststationen Im internen Bombenschacht Ungelenkte Bomben 8 × B28IN/RI/FI (Freifallbombe mit nuklearem 1,45-MT-Sprengsatz) 8 × B43 (Freifallbombe mit nuklearem 1,0-MT-Sprengsatz) 2 × B53-Y2 (Freifallbombe mit nuklearem 9-MT-Sprengsatz) 8 × B61 Mod 7 (Freifallbombe mit nuklearem 340-kT-Sprengsatz) 8 × B83 (Freifallbombe mit nuklearem 1,2-MT-Sprengsatz) An den beiden inneren SUU-67/A-Heavy Stores Adapter Beam-Außenlaststationen Marschflugkörper 2 × North American AGM-28 „Hound Dog“ mit nuklearem Sprengsatz (1,1-MT-Sprengkraft) An den beiden äußeren Außenlaststationen 2 × Zusatztank für 3785 Liter (1000 US-Gallonen) Kerosin 2 × Zusatztank für 11.356 Liter (3000 US-Gallonen) Kerosin (ab B-52C) B-52D/F Im internen Bombenschacht Ungelenkte Bomben 8 × B28IN/RI/FI (Freifallbombe mit nuklearem 1,45-MT-Sprengsatz) 8 × B43 (Freifallbombe mit nuklearem 1,0-MT-Sprengsatz) 84 × Mark 82 LDGP (241-kg-/500-lb-Freifallbombe) (B-52F nur 27 Bomben) 42 × M117A1 (372-kg-/820-lb-Freifallbombe) An den beiden inneren SUU-67/A-Heavy Stores Adapter Beam-Außenlaststationen Gelenkte Bomben 2 × Rockwell GBU-15 „Hobos“ (elektro-optisch gelenkte 1140-kg-Gleitbombe) Ungelenkte Bomben 24 × Mark 82 LDGP (241-kg-/500-lb-Freifallbombe) 24 × M117A1 (372-kg-/820-lb-Freifallbombe) 24 × CBU-2/A (Streubombe mit 360 × BLU-3/B „Pineapple“-Bomblets) B-52 G/H Rohrbewaffnung zur Selbstverteidigung 1 × Heckstandeinheit Avco-Crosley AN/ASG-21-System mit einer beweglichen Lafette mit einem sechsläufigen 20-mm-Gatling-Maschinenkanonen-Geschütz General Electric M61A1 „Vulcan“ mit 1180 Schuss Munition. Die Heckstandeinheit wurde von einem auf einem Schleudersitz befindlichen Besatzungsmitglied, das sich in der vorderen Sektion neben dem EW-Officer befand, bedient. Als Zielhilfe waren das Feuerleitradar AN/ASG-15 sowie eine Fernsehkamera eingebaut. Die MK konnten manuell oder automatisch ein vom Radar erfasstes Ziel bekämpfen. Sie wurden 1991 ausgebaut und durch ECM-Systeme ersetzt. Im internen Bombenschacht Ungelenkte Bomben 8 × B43 (Freifallbombe mit nuklearem 1,0-MT-Sprengsatz) 2 × B53-Y2 (Freifallbombe mit nuklearem 9-MT-Sprengsatz) 8 × B61 Mod 11 (Freifallbombe mit nuklearem 10–340-kT-Sprengsatz) 8 × B83 (Freifallbombe mit nuklearem 1,2-MT-Sprengsatz) 27 × CBU-52/B (Streubombe in SUU-30B/B-Bombenhülle mit 220 Bomblets BLU-61A/B) 27 × CBU-58/B (Streubombe in SUU-30H/B-Bombenhülle mit 650 Bomblets BLU-63/B) 27 × CBU-71/B (Streubombe in SUU-30H/B-Bombenhülle mit 650 Bomblets BLU-68/B) 6 × Aerojet General/Honeywell CBU-87/B bzw. CBU-103 (windkorrigierte 430-kg-Streubombe mit je 202 Splitter-/Brandbomblets) 6 × Lockheed-Martin CBU-89/B bzw. CBU-104 Gator (450-kg-Streubombe in SUU-64-Hülle mit 94 Minen) 6 × Textron CBU-97/105 Sensor Fuzed Weapon (450-kg-Streubombe in SU-66/B-Hülle mit 10 × panzerbrechenden BLU-108-Projektilen) 27 × M117 (372-kg-/820-lb-Freifallbombe) 27 × Mark 82 LDGP (241-kg-/500-lb-Freifallbombe) 27 × Mk.62 (227-kg-/500-lb-Quickstrike-Seemine) 8 × Mk.65 (907-kg-/2000-lb-Quickstrike-Seemine) Nur bei der H-Version im internen Bombenschacht (s. geplante Modernisierungen) Gelenkte Bomben 8 × Lockheed-Martin AGM-158 „JASSM-ER“ (450-kg-Marschflugkörper) 8 × GBU-31 „JDAM“ (GPS-gelenkte 907-kg-Bombe) 8 × GBU-32(V)1/B „JDAM“ (GPS-gelenkte 454-kg-Bombe) 8 × GBU-38 „JDAM“ (GPS-gelenkte 227-kg-Bombe) 8 × Raytheon AGM-154D JSOW-ER (475-kg-Gleitbombe) An den beiden Heavy Stores Adapter Beam-Außenlaststationen Seezielflugkörper 8 × Boeing AGM-84D „Harpoon“ Marschflugkörper 2 × North American AGM-28 „Hound Dog“ mit nuklearem Sprengsatz (1,1 MT Sprengkraft) 20 × AGM-69 „SRAM“ (Marschflugkörper mit Kernsprengsatz) 20 × AGM-86B-ALCM-Marschflugkörper mit nuklearem Sprengsatz (12 extern/8 intern) 12 × AGM-129-ACM-Marschflugkörper mit nuklearem Sprengsatz 20 × AGM-86C-CALCM-Marschflugkörper mit konventionellem Sprengsatz (12 extern/8 intern) 3 × AGM-142 „Have Nap“ (Rafael „Popeye“) 12 × Lockheed-Martin AGM-158 „JASSM-ER“ (450-kg-Marschflugkörper) Gelenkte Bomben 12 × GBU-31 „JDAM“ (GPS-gelenkte 907-kg-Bombe) 12 × GBU-32(V)1/B „JDAM“ (GPS-gelenkte 454-kg-Bombe) 12 × GBU-38 „JDAM“ (GPS-gelenkte 227-kg-Bombe) 12 × Raytheon AGM-154D JSOW-ER (475-kg-Gleitbombe) Ungelenkte Bomben 18 × Mark 82 LDGP (241-kg-/500-lb-Freifallbombe) 18 × M117 (372-kg-/820-lb-Freifallbombe) 18 × CBU-52/B (Streubombe in SUU-30B/B-Bombenhülle mit 220 Bomblets BLU-61A/B) 18 × CBU-58/B (Streubombe in SUU-30H/B-Bombenhülle mit 650 Bomblets BLU-63/B) 18 × CBU-71/B (Streubombe in SUU-30H/B-Bombenhülle mit 650 Bomblets BLU-68/B) 18 × Aerojet General/Honeywell CBU-87/B bzw. CBU-103 (windkorrigierte 430-kg-Streubombe mit je 202 Splitter-/Brandbomblets) 18 × Lockheed-Martin CBU-89/B bzw. CBU-104 Gator (450-kg-Streubombe in SUU-64-Hülle mit 94 Minen) 18 × Mk.62 (227-kg-/500-lb-Quikstrike-Seemine) Selbstverteidigung Aktive Maßnahmen 12 × AN/ALE-20-Täuschkörperwerfer mit je 16 × Hitzefackel-Täuschkörpern 8 × AN/ALE-24-Täuschkörperwerfer mit je 140 × Düppel-Täuschkörpern 1 × ITT AN/ALQ-172(V)2 (elektronischer Störsender) 1 × AN/ALQ-122-Mehrfachscheinzielgenerator 1 × AN/ALT-32H-/L-Störsender 4 × ADM-20-„Quail“-Scheinziel, verstaut in Bombenschacht Passive Maßnahmen APR-25/ALR-46-Radarwarnsensor Northrop Grumman (Litton) AN/ALR-20A-Radarwarnsensor AN/ALR-46(V) (digitaler Radarwarnsensor) 8 × Northrop Grumman AN/ALQ-155-Hochfrequenzstörsender 1 × Northrop Grumman AN/ALQ-153-Heck-Radarwarnsensor Sensorik Zusätzlich zum Radar wurde unter der Nase der B-52G ab 1972 das AN/ASQ-151 Electro-Optical Viewing System (EVS) eingebaut. Dieses soll die Annäherung an Ziele im Tiefflug bei jedem Wetter ermöglichen. So beinhaltet das EVS eine Restlichtverstärker-Fernsehkamera sowie ein Forward looking infrared (FLIR oder voraussehendes Infrarotbild)-System. Mit der Einführung der einfach auszutauschenden Zielbeleuchtungs- und Navigationsbehälter konnte das mittlerweile 35-jährige EVS-System mit dem Litening-Behälter ersetzt werden; dieser wird heute durch den nachfolgend eingesetzten Sniper-ATP-Behälter verdrängt. Rezeption in Kunst und Kultur Die B-52 Stratofortress ist eines der bekanntesten Militärflugzeuge überhaupt und spielt in zahlreichen Werken der Literatur, Kunst und im Film eine Rolle. Eines der berühmtesten Werke ist Stanley Kubricks satirischer Film Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (deutscher Titel: Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben). Ein Schauplatz des Films ist das nachgebaute Cockpit einer B-52, die wegen ihrer durch einen russischen Flugabwehrraketenangriff zerstörten Funkanlage nicht zurückbeordert werden kann und schließlich eine Wasserstoffbombe über der Sowjetunion abwirft. 1957 erschien der Film Bombers B-52 (deutscher Titel: Bomber B-52) mit Karl Malden in der Hauptrolle. Ein weiterer Film, in dem sowohl die B-52 als auch das SAC Thema sind, ist Der Kommodore aus dem Jahr 1963 mit Rock Hudson und Rod Taylor. Die aufwändigste deutschsprachige Produktion ist Hartmut Bitomskys Dokumentarfilm B-52 von 2001, der 2004 für den Adolf-Grimme-Preis nominiert war. Nach der knolligen Nasenform der B-52 ist vor allem in den USA ein Frisurenstil der 1960er-Jahre mit hochgesteckten Haaren benannt, der auch als Beehive-Frisur oder Bienenkorbfrisur bekannt ist. Die US-amerikanische Rockband The B-52’s wählte ihren Namen nach ebendieser gleichnamigen Frisur ihrer beiden weiblichen Mitglieder. Es gibt auch einen Cocktail namens B-52, wobei unklar ist, ob sich seine Bezeichnung von dem Bomber ableitet, da er einer von mehreren geschichteten Kurzen in der B-50-Reihe ist. Der US-amerikanische Schriftsteller Dale Brown schrieb mehrere Romane, in denen eine Sondereinheit der Air Force unter anderem modifizierte B-52-Bomber in fiktiven Konflikten einsetzt. In seinen Romanen werden die Flugzeuge unter anderem mit Lenkwaffen, Lasern und hochmodernen Radarsystemen ausgerüstet. Literatur Marcelle Size Knaack: Encyclopedia of U.S. Air Force Aircraft and Missile Systems. Bd. 2. Post-World War II Bombers 1945–1973. Washington, D.C. 1988, S. 203–294, ISBN 0-912799-59-5. Lori S. Hawthorne-Tagg: Development of the B-52 – The Wright Field Story. Aeronautical Systems Center History Office, Wright-Patterson AFB, Ohio 2004. Tony Thornborough, Peter E. Davies: Boeing B-52. Stratofortress. Crowood Press, Marlborough 1998, ISBN 1-86126-113-6. Weblinks FAS B-52 Stratofortress. In: fas.org THE BOEING B-52 / Greg Goebel's AIR VECTORS. In: airvectors.net B-52-Lager beim AMARC. In: amarcexperience.com Einzelnachweise Achtstrahliges Flugzeug B 052 B52 Luftfahrzeug im Vietnamkrieg Wikipedia:Artikel mit Video Erstflug 1952
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https://de.wikipedia.org/wiki/Stuttgarter%20Fernsehturm
Stuttgarter Fernsehturm
Der Stuttgarter Fernsehturm ist ein 216,6 Meter hoher Fernseh- und Aussichtsturm auf dem Gipfel des Hohen Bopsers in der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart. Der 1956 eröffnete Turm wurde zum Wahrzeichen der Stadt und stellt baulich wie architektonisch den Beginn einer neuen Ära im Turmbau dar, da er als erster seiner Art aus Stahlbeton besteht, einen vom Schaft auskragenden Turmkorb unterhalb der Antenne besitzt und in vertikaler Kragarmbauweise errichtet wurde. Neben der baulichen Innovation war die erfolgreiche wirtschaftliche Nutzung eines Restaurationsbetriebes und einer Aussichtsplattform Wegbereiter für eine weltweite Turmbauwelle. Er wurde zum Symbol des Süddeutschen Rundfunks, der sich als Betreiber und Eigentümer verantwortlich zeigte. Aufgrund seiner herausragenden baulichen Bedeutung erhielt er bereits 1959 einen Architekturpreis und 2009 den von der Bundesingenieurkammer verliehenen Titel Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland. Zudem ist er 1986 in die Liste der Kulturdenkmäler aufgenommen worden. Der für die Öffentlichkeit nicht zugängliche Stuttgarter Fernmeldeturm steht etwa 1,5 Kilometer nordöstlich des Fernsehturms auf dem hohen Frauenkopf. Geschichte Hintergrund Zu Beginn des regelmäßigen Fernseh-Sendebetriebs an Weihnachten 1952 (siehe auch: Geschichte des Fernsehens in Deutschland) war die fernsehtechnische Versorgung im Südwesten Deutschlands noch sehr unzureichend. Im Raum Stuttgart konnten die wenigen Fernsehteilnehmer seinerzeit nur den rund 100 km entfernt in Rheinland-Pfalz stehenden und erst 1953 errichteten Sender Weinbiet des Südwestfunks (SWF) empfangen. Wenn überhaupt möglich, war dies speziell außerhalb der Höhenlagen des Stuttgarter Talkessels oft nur mit aufwändigen Spezialantennen zu erreichen, was sich insbesondere bei der ersten internationalen Direktübertragung der Fernsehgeschichte, der Krönung von Elisabeth II. am 2. Juni 1953, negativ bemerkbar machte. Am 11. August 1953 fragte das Heidelberger Tagblatt daher ironisch: „Ist Fernsehen Glückssache?“ Auch der Empfang des auf UKW vom Sender Degerloch ausgestrahlten Hörfunks war in der Umgebung der Landeshauptstadt nicht überall zufriedenstellend. Dieser Missstände war sich der Süddeutsche Rundfunk (SDR) von Anfang an bewusst und stellte daher bereits am 5. Januar 1953 beim Innenministerium Baden-Württembergs einen Antrag, für einen Fernseh-Grundnetzsender auf dem hohen Bopser einen rund 200 m hohen Stahlgittermast errichten zu dürfen. Der 200.000 Mark teure Mast sollte dreiseitig mit Pardunen gesichert werden und bis zur Fußball-WM 1954 fertiggestellt sein. Durch den hohen Standort sollte die breite Abdeckung des Stuttgarter Talkessels gewährleistet werden. Das Genehmigungsverfahren hierzu geriet ins Stocken, da das Hauptquartier der 12. US-Luftflotte befürchtete, dass ihre bei Leonberg stehende UKW-Relaisstation gestört werden könnte. Planung und Projektierung Der als Brücken- und Hochbauingenieur tätige Fritz Leonhardt erfuhr von diesen Plänen und hatte technische und ästhetische Bedenken gegen das Vorhaben. Aus diesem Grund setzte er sich mit Helmut Rupp, dem Technischen Direktor des SDR, in Verbindung und schlug ihm vor, dass man den Zweckbau mit einer Aussichtsplattform nebst Café ergänzen könne. Am 27. Mai 1953 schickte Leonhardt an Rupp verschiedene Planskizzen, die mehrere Möglichkeiten eines nicht abgespannten Turms zeigten. Einige Tage später suchte Leonhardt das Gespräch mit dem Stuttgarter Oberbürgermeister Arnulf Klett, um ihm zusammen mit Rupp sein Vorhaben zu präsentieren und eine mögliche finanzielle Beteiligung der Stadt auszuloten. In einem begleitenden Brief führte er dazu aus, dass: Leonhardts Idee sah ursprünglich einen dreigeschossigen, nach unten abgestuften Turmkorb an einem sich verjüngenden Turmschaft vor, der oberhalb des Turmkorbs einen schmalen Fortsatz findet, in den eine Stahlantenne mündet. Der Entwurf vom 8. Juni 1953 sah eine Turmhöhe von 203,5 Metern und einen Schaftdurchmesser an der Basis von 8 Metern vor. Die Aussichtsplattform sollte einen Durchmesser von 17 Metern aufweisen. Die folgenden Beratungen zwischen dem SDR als Bauherrn, der Stadt Stuttgart und Leonhardt schritten so weit voran, dass das Projekt immer größere Dimensionen erlangte. Um den Energieverlust von bis zu 20 % zu verringern, wollte man den Fernsehsender direkt im Turmkorb unterbringen. Das Restaurant sollte ausreichend bemessen sein, damit es sich finanziell lohne. Neben einem eigenen Sendergeschoss sollte ein drittes Restaurantgeschoss mit Raum für Küche und Toiletten entstehen. Die Stadt ging noch einen Schritt weiter und schlug vor, den Turm auf ein mehrgeschossiges Hotel zu setzen. Am 13. Juni 1953 wurde durch die Stuttgarter Nachrichten die Öffentlichkeit informiert. Das Blatt veröffentlichte eine nicht ganz zutreffende Entwurfsskizze, in der der Turmkorb sich wie ein Kelchglas nach oben hin weitet – eine Form, die Jahrzehnte später, Anfang der 1980er Jahre, im Düsseldorfer Rheinturm verwirklicht wurde. Die öffentlichen Reaktionen auf das Bauvorhaben waren skeptisch bis ablehnend. Der Stuttgarter Gemeinderat befürchtete ein finanzielles Fiasko und Heimatschützer eine Störung des Landschaftsbildes, weshalb sie Einspruch gegen die Schmälerung der Waldfläche erhoben. Nach monatelangen, ergebnislosen Verhandlungen mit der Stadt beschloss der Verwaltungsrat des SDR am 2. Mai 1954, den Turm aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Die Landeshauptstadt kam der Rundfunkgesellschaft allerdings insofern entgegen, als sie das benötigte Baugrundstück als Erbbaurecht zur Verfügung stellte und die notwendigen Straßen und Plätze anlegte. Das Büro von Leonhardt nahm die Ausarbeitung des Projektes auf und legte am 13. Mai 1954 den endgültigen Entwurf vor. Der neue Entwurf berücksichtigte durch einen größeren Turmkorb die entsprechenden Anforderungen. Fritz Leonhardt war nicht nur für den konstruktiven Entwurf und seine Berechnung des Fernsehturms verantwortlich, sondern auch für seine Architektur. In den ersten Jahrzehnten nach der Fertigstellung wurde immer wieder die äußere Gestaltung fälschlicherweise anderen Architekten zugeschrieben. Zum Projekt wurde der Architekt Erwin Heinle hinzugezogen, der neben der Planung der Innenraumgestaltung im Turmkorb und im Gebäude am Turmfuß auch für die künstlerische, technische sowie geschäftliche Oberleitung verantwortlich war. Die innenarchitektonische Gestaltung selbst nahm Herta-Maria Witzemann vor. Für die Bauarbeiten bildeten die Firmen Wayss & Freytag und das Stuttgarter Bauunternehmen Gustav Epple eine Arbeitsgemeinschaft. Bau Nachdem am 9. Juni 1954 der SDR die vorläufige Baugenehmigung erhalten hatte, wurde am nächsten Tag um 15 Uhr der erste Spatenstich durch den damaligen Intendanten Fritz Eberhard vollzogen. In den nächsten Tagen hoben die Bagger eine 8,4 m tiefe und 30 m im Durchmesser große Grube für das Fundament aus. Untersuchungen durch einen Sachverständigen im Vorfeld ergaben, dass der Baugrund aus festem, grau-blauem, von Kalksteinbänken durchsetztem Lias-Schieferton bestand und damit so gute Voraussetzungen für das Fundament bot, dass ein einseitiges Nachgeben des Untergrundes ausgeschlossen werden konnte. Damit erübrigte sich auch der kostspielige Einsatz von Justierungspressen. Allerdings wurde der feste, kalkhaltige Schieferton infolge Wasserzutritts weich, so dass nach dem Aushub Entwässerungsgräben gelegt werden mussten, um das Regenwasser zu sammeln und anschließend abzupumpen. Die letzten 15 Zentimeter der Aushubarbeiten wurden unter einer Zeltabdeckung im Trockenen vollzogen. Nachdem die Sauberkeitsschicht fertiggestellt war, konnte die Bodenplatte etwa 60 bis 70 Zentimeter über dem Grund geschalt werden. Nach den Fundamentarbeiten folgte die Errichtung des Turmschafts mittels Kletterschalung. Nach einer kurzen Einlaufzeit wuchs der Turm täglich um 2,50 m. Der sich verändernde Schaftdurchmesser wurde mit Hilfe von Schraubspindeln eingestellt. Wegen des überaus nassen Wetters im Sommer 1954 geriet der Bau um rund 32 Tage in Rückstand und erreichte erst am 19. Oktober die 35-Meter-Marke. Die rechtzeitige Fertigstellung, zur Eröffnung der Landesausstellung am 1. Juli 1955, bei welcher man den Turm als eine Hauptattraktion anpreisen wollte, schien nicht mehr gesichert zu sein. Der darauf folgende überaus frostreiche Winter brachte zusätzliche Probleme mit sich. Um den frischen Beton vor zu tiefen Temperaturen zu schützen, wurden zusätzliche Glasfaserplatten an die Schalbleche geklebt und der obere Teil des Turmstumpfs in eine Zeltplane gehüllt. Damit im Inneren die Temperatur des Betons vor seiner Erhärtung nicht unter 12 Grad Celsius fiel, wurden zusätzlich Ölbrenner zur Wärmeerzeugung aufgestellt. So erreichte das Bauwerk am 21. Dezember 1954 eine Höhe von 136 Metern. Aufgrund des andauernden widrigen Wetters wurden die Außenarbeiten von Ende Dezember 1954 bis Mitte März 1955 eingestellt und ausschließlich die Innenarbeiten fortgesetzt. Während der Wintermonate reiste Erwin Heinle zusammen mit seinem Berater Linge von der Technischen Hochschule Karlsruhe zum Pariser Eiffelturm und Berliner Funkturm, um sich dort die Restaurants anzuschauen. Sie sollten erörtern, ob die dort eingebauten Klimaanlagen auch für den Stuttgarter Fernsehturm notwendig seien, und entschieden sich schließlich für den Einbau. Mitte März wurde der Turmkorb auf den Schaft aufgesetzt. Dazu wurden 20 Stahlkonsolen um den Schaft montiert, auf die die Ausleger für die Verschalung des Korbbodens gestützt wurde. Auf die Ausleger wurde ein Gerüst aus Kanthölzern aufgesetzt, welche die Schalungsbretter trugen. Diese Phase ließ die Kosten und die Arbeitsgeschwindigkeit aus dem Ruder laufen, da mangels Erfahrung die Auswirkungen der Höhe und die Beeinflussung durch das Wetter nicht einzuschätzen waren. Neben den Wetterverhältnissen kam es zu weiteren Hindernissen. Am 19. April 1955 beschwerte sich Leonhardt schriftlich bei der Arbeitsgemeinschaft Epple und Wayss & Freytag darüber, dass die Erdaufschüttung nicht gleichmäßig betrieben worden sei und sich der Turm dadurch um rund 40 Millimeter nach Südwesten gesetzt habe, und forderte die sofortige Zuschüttung der Baugrube. Heinle stellte mehrfach fest, dass die Baustelle mit nur etwa 70 Mann besetzt war, obwohl 85 Arbeiter vereinbart waren. Ende Juni 1955 waren die Arbeiten am Turmkorb abgeschlossen. Um den im Bau befindlichen Turm nicht unvertretbaren Windbelastungen auszusetzen, durfte entweder der unverkleidete Turmkorb ohne Gittermast oder der verkleidete Turmkorb mit Gittermast Stürmen ausgesetzt werden. Dadurch war man zu einem doppelgleisigen und damit gefährlicheren Bauablauf gezwungen. Die Teile wurden mit einem auf dem Korbdach montierten Derrickkran hochgehievt. Die Einzelteile für den Gittermast wogen bis zu zwei Tonnen; das letzte Stück des Mastes wurde am 17. August hinaufbefördert. Am 23. August 1955 konnte das Richtfest begangen werden. Am 7. September kam es infolge eines herabstürzenden Kabels zu einem Arbeitsunfall. Der verunglückte Arbeiter musste für fünf Tage krankgeschrieben werden. Dies blieb jedoch der einzige nennenswerte Unfall während der Bauphase. Da der Ausbau des Sendergeschosses bereits vollzogen war, konnte am 29. Oktober 1955 mit der Ausstrahlung von Fernsehsendungen begonnen werden (und damit noch vor der offiziellen Eröffnung des Turmbauwerks). Der Einbau der Aufzüge bereitete aufgrund der tagsüber signifikanten Wärmeausdehnung des Turmbauwerks – der Turmkorb bewegte sich bis zu 17 Zentimeter zur Schattenseite hin – Probleme bei der Justierung der Führungsschienen. Aus diesem Grund mussten die Justierungsarbeiten nachts vorgenommen werden, die Befestigungsarbeiten konnten danach wie im Normalfall tagsüber geschehen. Bis zur Fertigstellung der Fahrstühle transportierte ein einfacher Lastenaufzug Bauteile und Personen bis zur Spitze. Am 31. Dezember 1955 ließ sich sogar Oberbürgermeister Klett mit seiner Frau auf diesem Weg den Turm zeigen. Am 27. Januar 1956 legten die Bauarbeiter kurz vor der Fertigstellung für anderthalb Stunden die Arbeit nieder und protestierten dagegen, dass sie für den Weg nach oben die Treppen benutzen mussten, während die „Herren der Sendertechnik“ den bequemen Weg über die Freiluftgondel verwenden durften. Zum Errichtungszeitpunkt hatte der Turm eine Höhe von 211,96 Metern. Damit war er das höchste nicht abgespannte Bauwerk des Landes Baden-Württemberg und ist bis heute der zweithöchste Fernsehturm in Baden-Württemberg und neben dem Mannheimer Fernmeldeturm einer von zwei mit öffentlicher Aussichtsplattform. Kostensituation und Versuche der Vermarktung In der Schlussrechnung kostete der Fernsehturm 4.019.712 DM, das entspricht einem heutigen, inflationsbereinigten Gegenwert von etwa Millionen Euro. Mit den Nebengebäuden eingerechnet waren es 4,29 Millionen, darunter rund 836.000 Mark für die Inneneinrichtung und 109.000 Mark für die technischen Einrichtungen. Damit war der Turm mehr als doppelt so teuer wie zu Beginn geplant, als der Bauherr noch von Gesamtkosten in Höhe von 1,8 Millionen Mark ausgegangen war. Bereits die Rohbaukosten stiegen um 125.000 auf 685.000 Mark, was Fritz Leonhardt Ende 1954 in einem Schreiben an den Direktor des SDR mit dem Mehrverbrauch an Material erklärte: dieser höhere Aufwand sei nach den statischen Berechnungen für die Fundamente und Kegelschalen, welche erst nach der Ausschreibung und Vergabe fertiggestellt werden konnten, notwendig geworden. Zur Senkung der Kosten wurden verschiedene Maßnahmen geprüft. Die Verkleinerung des Besucherbereichs hätte zwangsläufig zu einer geringeren Rentabilität geführt, was sich wiederum auf die mittel- bis langfristigen Kosten negativ ausgewirkt hätte. Man prüfte sogar, ob man den Mast des Turms als Aufsatz für einen zehn Meter im Durchmesser messenden Mercedes-Stern verwenden könne, um damit Werbeeinnahmen zu generieren. Obwohl Ähnliches bereits 1952 am Bahnhofsturm des Stuttgarter Hauptbahnhof erfolgreich umgesetzt wurde, verwarf man die Idee ebenso wie andere Vermarktungsideen. Weitere in Stuttgart ansässige Firmen wie Bosch oder AEG zog man in die Überlegungen mit ein, Teile des Turms mit einer Marken- oder Produktwerbung zu versehen. Ein Vorschlag zur Nutzung als Reklamefläche sah vor, den Turmkorb als Joghurtbecher umzugestalten. Meist sprachen bauliche Gründe gegen die Ideen. Mittlerweile scheitern derartige Vorhaben an ästhetischen oder denkmalschützerischen Gesichtspunkten. Der prominenteste Turm, in den man in seiner baulichen Struktur Werbeelemente integriert hat, ist der Wiener Donauturm. Seit der Eröffnung Eröffnung und Inbetriebnahme Am 5. Februar 1956 eröffnete Intendant Eberhard das Bauwerk feierlich und äußerte den Wunsch, „Möge der Turm […] dazu helfen, die Menschen in der ganzen Welt einander näherzubringen.“ Für den Ingenieur Fritz Leonhardt sah das Protokoll nicht vor, eine Rede zu halten, obwohl er ausdrücklich darum gebeten hatte. Sogar sein zu diesem Anlass reservierter Platz war besetzt, so dass er im unteren Restaurant Platz nehmen musste. Als Wiedergutmachung veranlasste der SDR-Intendant für Leonhardt einen lebenslang gültigen Ausweis zum kostenlosen Besuch des Turms. Für die Öffentlichkeit war der Turm ab dem 7. Februar zugänglich. Der Eintritt kostete damals für Erwachsene 1,50 Mark und für Kinder 70 Pfennig. Der damalige Bundespräsident Theodor Heuss besuchte im Eröffnungsjahr am 5. Mai den Fernsehturm. Nachdem man bereits vor Eröffnung mit der Ausstrahlung des Fernsehprogramms begonnen hatte, nahm der UKW-Sendebetrieb am 25. Mai seinen Betrieb auf. Der damit überflüssig gewordene Sendeturm in Degerloch-Hoffeld wurde abgetragen und verschrottet. Im Eröffnungsjahr besuchten 876.809 Menschen den Fernsehturm Stuttgart; die abgeführte Pacht betrug über 750.000 Mark. Statt eines erwarteten Defizits in den ersten zehn Jahren konnte der SDR in dieser Zeit aufgrund der vergleichsweise auf diesem Niveau sich stabil haltenden Besucherzahlen eine Pachteinnahme von 6,6 Millionen Mark verbuchen. Die kalkulierten Einnahmen der Rundfunkgebühren mussten nicht verwendet werden, wodurch der Turm damit praktisch bezahlt war. Nach mehreren Suiziden durch Stürze von der Aussichtsplattform wurde dort am 20. Dezember 1958 ein zusätzliches Schutzgitter angebracht. Der am 19. November 1959 erstmals durch die Stadt Stuttgart vergebene Paul-Bonatz-Architekturpreis wird in der Kategorie Ingenieurbauten dem Fernsehturm zugesprochen. Zu den herausragenden Persönlichkeiten, die das Bauwerk besuchten, zählen die britische Königin Elisabeth II. und Prinz Philip. Die Stadt lud die Monarchin und ihren Gemahl am 24. Mai 1965 zu einem Empfang im Fernsehturm, wo sie sich ins Goldene Buch der Stadt eintrugen. Das Ereignis wurde in einer mehrstündigen Übertragung vom SDR live gesendet und von rund 500.000 Schaulustigen begleitet. Am 16. Dezember 1965 wurde eine neue leistungsfähigere Fernsehsendeanlage in Betrieb genommen. Damit einher ging die Masterhöhung von 211,96 auf 216,61 Meter. 1967 wurde ein neuer Sender für das Farbfernsehen in den Turm eingebaut, welches offiziell vom damaligen Vizekanzler Willy Brandt auf der 25. Großen Deutschen Funk-Ausstellung in Berlin über einen roten Knopf gestartet wurde. Über Probleme beim Brandschutz und fehlende Rettungswege ist schon im Jahr 1968 diskutiert worden: Am 8. Juli 1968 war im Turmkorb des 217 Meter hohen Turms ein Feuer ausgebrochen, die Löschwasserpumpen versagten. Nur weil der Schwelbrand im Restaurant mangels Sauerstoff erstickte, kam es nicht zur Katastrophe. Renovierungen und Wandel in der Nutzung Seit den 1980er Jahren wurde der Stuttgarter Fernsehturm immer wieder in unterschiedlichen Abschnitten renoviert und saniert. Im Sommer 1983 endete eine neunmonatige Renovierungsarbeit. Am 18. Dezember 1986 wurde der Stuttgarter Fernsehturm zum Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung nach § 12 des Denkmalschutzgesetzes erklärt. 1994 wurde der gesamte Turmschaft saniert und die wetterbedingten Einflüsse behandelt. Der Betonschaft erhielt einen neuen Anstrich. An den Arbeiten beteiligte sich Fritz Leonhardt und er nahm aktiv an der Planung der Sanierung teil. Am 12. Mai 1993 ließ der slowenische Künstler Branko Šmon (* 1955) die Windkunstinstallation Inter-Info am Schaft des Stuttgarter Fernsehturms anbringen. Dazu wurden riesige, leuchtend rote Windhosen am Schaft befestigt, die sich abhängig von Windstärke und -richtung bewegten. 1996 feierte der SDR am Turm das 40-jährige Jubiläum und begrüßte den 22.222.222. Gast zum historischen Aufzugsfahrpreis von 1,50 DM. Im Juni 2001 sowie im Folgejahr sprang der Fallschirmweltmeister Klaus Renz mit einer internationalen Gruppe von Base-Jumpern vom Fernsehturm. Das Spektakel wurde von mehreren Tausend Schaulustigen begleitet. Am 20. Mai 2004 fuhr der Hochseilartist Johann Traber mit einem auf Spezialfelgen umgerüsteten Smart auf einem Stahlseil entlang, welches am Schaft des Turms befestigt war. Auf dem Fahrzeug, welches sich in 53 Meter Höhe bewegte, vollführte er verschiedene artistische Kunststücke. Das Ereignis lockte 6000 Zuschauer an. Zwischen April und November 2005 wurde für 3,4 Millionen Euro die Aluminiumfassade des Turmkorbs saniert. Dies war notwendig geworden, da sie korrosionsbedingte Abnutzungen zeigte. Dazu wurde ein 40 Tonnen schweres Sondergerüst auf 150 Meter Höhe angebracht. In einem Nachbau im Maßstab 1:10 wurde in einem Windkanal getestet, ob der Fernsehturm Jahrhundertstürme wie zum Beispiel den Orkan Lothar Ende der 1990er Jahre schadlos überstehen kann. Im Juli 2006 wurde die Übertragung von Fernsehprogrammen eingestellt; sie wurde durch den nahe gelegenen Stuttgarter Fernmeldeturm sichergestellt. Der SWR verwendet seither den Turm nur noch als Sender für die Radioprogramme sowie für Polizei- und Richtfunkdienste. Seit November 2006 wird der Turm für Theateraufführungen und andere Veranstaltungen genutzt. Die Schauspielbühnen Stuttgart führen als „Theater über den Wolken“ regelmäßig Produktionen auf. Die Veranstaltungsfläche im zweiten Turmgeschoss auf 144 Meter Höhe – dem ehemaligen Restaurantteil – kann für verschiedene Anlässe angemietet werden. Darüber hinaus kann im Turmkorb geheiratet werden. Zum 100. Geburtstag des Erbauers Fritz Leonhardt am 11. Juli 2009 erhielt der Turm den Titel Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland verliehen. Den Preis, der von der Bundesingenieurkammer jährlich einem Bauwerk in Deutschland verliehen wird, erhielt der Erbauer posthum für seine neuartige und zunächst umstrittene Idee des konstruktiv-ästhetischen Ansatzes. Die architektonische Leistung Leonhardts, den Turmkorb gleichsam schweben zu lassen, sei eine herausragende Arbeit und nicht selbstverständlich für ein Ingenieurbauwerk. Zum Festakt wurde am Fuße des Turmschafts eine Gedenktafel eingeweiht. Schließung und Wiedereröffnung Am 28. März 2013 wurde der Fernsehturm aus Brandschutzgründen für Besucher geschlossen. Eine Wiedereröffnung galt zunächst als ungewiss. Während der Schließung betrug der jährliche Verlust 1,2 Mio. Euro. Im Februar 2014 wurde die sicherheitstechnische Nachrüstung beschlossen. Für die Kosten, die der Turmbetreiber SWR Media und die Stadt sich teilten, wurden 1,2 Mio. Euro veranschlagt. Am 29. September 2014 erteilte die Stadt Stuttgart die Baugenehmigung. Dabei wurde bekannt gegeben, dass die geschätzten Kosten auf 1,8 Mio. Euro steigen. Am 29. Januar 2016 wurde der Aussichtsturm neu eröffnet; am darauffolgenden Tag war er für die Öffentlichkeit wieder zugänglich. Am ersten Wochenende nach der Wiedereröffnung besuchten 3815 Menschen den Turm. Maximal 320 Besucher gleichzeitig sind auf der Aussichtsplattform zulässig. Seit Oktober 2016 gibt es die Augmented-Reality-App „Fernsehturm 360 Grad“, welche die Sehenswürdigkeiten und Kommunen anzeigt, in deren Richtung man gerade blickt. Der Stuttgarter Fernsehturm soll in die Tentativliste zur Bewerbung als Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen werden. Architektur und Bautechnik Lage und Umgebung Der Stuttgarter Fernsehturm steht südöstlich der Stuttgarter Innenstadt auf einer bewaldeten Fläche des hohen Bergs Bopser (auch Hoher Bopser genannt), des höchsten Bergs der Hochebene Filder. Sein Standort liegt rund 650 Meter nordöstlich der Bergspitze auf Höhe. Die Linie U15 der Stadtbahn Stuttgart hat eine ihrer Endhaltestellen am Fernsehturm. Zusätzlich halten dort die Linien U7 und U8 der Stadtbahn Stuttgart. Südlich des Fernsehturms befindet sich das Sportzentrum Waldau im gleichnamigen Stadtteil des Bezirks Degerloch. Etwa 1,5 Kilometer nordöstlich des Fernsehturms steht auf dem hohen Frauenkopf der 192,4 Meter hohe Stuttgarter Fernmeldeturm, der aber für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Allgemeiner Aufbau und Materialien Die dreigliedrige Architektur des Stuttgarter Fernsehturms zeichnet sich durch ein Minimum an charakteristischen Linien aus. Der Turmschaft verjüngt sich nach oben – optisch kaum wahrnehmbar – in einem parabelförmig gekrümmten Anlauf. Der Schaft ist bis auf die netzartig ausgebildeten Abdrücke der Kletterschalung nicht weiter strukturiert oder profiliert. Am oberen Ende des Schafts wird der mehrgeschossige Turmkorb getragen, der entgegen der Verlaufsform des Schafts von unten nach oben leicht auseinanderstrebt und damit in den oberen Geschossen breiter wird. Seine vier dunkel erscheinenden Fensterreihen setzen sich von der hellen Aluminiumaußenhaut ab. Oberhalb des Korbs verläuft der Schaft weiter und leitet in einem Kegelstumpf zur rot-weiß lackierten Stahlgitterantenne über. Zum Bau des Fernsehturms wurden folgende Baumaterialien verwendet: 1430 Tonnen Zement, 5250 Kubikmeter Kies und Sand, 340 Tonnen Beton-Spannstahl, 680 Kubikmeter Holz, 55.000 Stück Klinker und 85.000 Ziegelsteine. Ein Kubikmeter eingebauter Beton mit rund 2,4 Tonnen Masse setzte sich aus folgenden Bestandteilen zusammen: Diese Betonqualität wird als ausgezeichnet angesehen. Der Beton konnte aufgrund der breiigen Konsistenz nur mit Stochern und Klopfen verdichtet werden. Die mittlere Druckfestigkeit nach einem, drei, sieben und 28 Tagen betrug 10,5 / 26,8 / 36,2 und 48 N/mm². Fundament Das insgesamt 8,20 Meter hohe Fundament ist in 7,20 m Tiefe gegründet und wird von zwei Kegelstümpfen gebildet. Der innere, kleinere Stumpf steht invers zum äußeren. Er wurde zur Versteifung des Fundaments eingefügt, ist aus statischen Gründen jedoch nicht zwingend erforderlich. Er stellt das Übergangselement zwischen dem eigentlichen Fundament und dem Schaft dar. Die Schalendicke des äußeren Kegels verbreitert sich von 30 Zentimeter unten auf 60 cm oben; die des inneren Kegels verjüngt sich von unten 45 cm auf oben 30 cm. Der äußere Hohlraum zwischen den beiden Kegelschalen ist über eine Treppe für Wartungsarbeiten zugänglich. Er dient überdies als Restaurantlager, beherbergt die Kühlanlage des Turms und ist auch über den Aufzug zugänglich. Eine Plattform im Fundamentkörper dient als Zugang zu den unterirdischen Räumen der Nebengebäude, die sich am Fuße des Turms befinden. Dem 3,25 Meter breiten Ringfundament mit 27 Metern Durchmesser wird durch ein radiales Bündel von vorgespannten Stahldrähten zusätzlich Halt verliehen. Die Drähte sind zum Schutz gegen Korrosion durch Grundwasser in die dünne Bodenplatte einbetoniert. Ohne die Vorspannung würde die Last des Turms das Ringfundament sprengen. Da die Vertikallast bei einer vollen Kreisplatte als Fundament gleichen Durchmessers eine deutlich größere Bodenpressung als bei einer kreisringförmigen erzeugt, kann diese viel stärkeren Winden standhalten. Bei einer Kreisplatte würde eine entsprechend hohe Pressung die Luvseite aufzehren und das Fundament kippen lassen, was den Turm zum Umfallen brächte. Das 1500 Tonnen schwere Fundament trägt neben der Turmmasse von 3000 Tonnen die Erdlast von 3000 Tonnen. Diese Masseverteilung verschafft dem Stuttgarter Fernsehturm genügend Halt, auch seitlichen Druckkräften standzuhalten, die Winden bis zum fünffachen von Windstärke 12 entsprechen. Dass das konische Fundament unter die Erde gelegt wurde, hat allerdings auch ästhetische Gründe, da man das schlanke Erscheinungsbild nicht trüben wollte. Bei anderen Fernsehturmbauwerken wie dem Berliner Fernsehturm, dem Moskauer Fernsehturm Ostankino oder dem Düsseldorfer Rheinturm ist die konische Basis ganz oder teilweise oberirdisch und damit sichtbar. Der Fernsehturm Stuttgart ist der erste Stahlbetonturm. Turmschaft und Basis Der zylindrische Turmschaft verjüngt sich parabolisch nach oben hin. Er weist am Eingang einen Durchmesser von 10,80 Meter und am Korbansatz einen von 5,04 m auf. Der minimale Durchmesser des Schaftes ergab sich aus der Notwendigkeit, im Inneren zwei Aufzüge und eine Nottreppe zu platzieren. Die Wandstärke des Turmschafts vermindert sich von 60 Zentimetern an der Basis bis 19 cm am Ansatz des Turmkorbs. Die geschlossene Röhre beherbergt den Aufzugschacht und die Nottreppe, die von der Basis bis zum Korb 762 Stufen hat. Die Entscheidung für einen zylindrischen Schaft begründet sich zum einen in dem günstigen Widerstandsbeiwert, der zusammen mit einer glatten Oberfläche dem Wind eine geringe Angriffsfläche bietet. Zum anderen verfügt eine Stahlbetonröhre dieser Form über ein hohes Dämpfungsmaß, das eine durch eine Böe angestoßene Schwingung schnell abklingen lässt. Durch die Reibung der Bewehrungsstäbe, die sich an der Luvseite stärker als der Beton dehnen, wird die Energie aufgezehrt. Die Wandung des Schaftes ist in Abständen von 10 Metern durch Querrahmen ausgesteift. Diese Absetzung ist auch an der Außenseite sichtbar. Jeder zweite Querrahmen hält ein Podest für die Nottreppe. Gleichzeitig halten sie die fünf durchgehenden Betonsäulen, an denen die Führungsschiene der Aufzüge und Versorgungsleitungen angebracht sind. Nach Nordosten und Südwesten erstrecken sich am Fuße des Turmes niedrige Anbauten. Neben einem Andenkenladen befindet sich dort ein Restaurant mit angegliedertem Biergarten. Turmkorb und Antennenspitze Der viergeschossige Turmkorb des Stuttgarter Fernsehturms besteht in seinem obersten Stockwerk aus einem Zylinder; die unteren Stockwerke sind kegelförmig abgeschrägt. Der Kopf wird von einer 2,35 Meter hohen Kegelstumpfschale gehalten. Diese vorgespannte Schale stützt sich auf 135,8 m am Schaft, auf welche primär die Normalkräfte abgeleitet werden. Die Rippendecke des Turmkopfs wird von 18 Stahlbetonstützen gehalten, die jeweils einen Querschnitt von 14 auf 18 Zentimeter aufweisen. Die Außenhaut des Turmkorbs ist mit Aluminiumtafeln und -profilen verkleidet, um den Windwiderstandsbeiwert und die Windgeräusche in Grenzen zu halten. Diese Gestaltung kontrastiert zu den dunkel erscheinenden Fensterbändern und dem Grau des Turmschaftes und verstärkt den Eindruck, der Korb würde schweben. Diese Form der Fassadengestaltung, die bereits in den USA ihre Anwendung fand, war für Europa völlig neuartig. Die vier Geschosse des Korbs befinden sich auf 138 m, 141 m, 144 m und 147 m. Das untere, für die Öffentlichkeit nicht zugängliche, ist ein reines Betriebsgeschoss, dort war bis 1974 der Fernsehsender eingebaut. Heute sind hier die Haustechnik, verschiedene Richtfunkstrecken, Anlagen für Mobiltelefone und Sendeanlagen der Polizei untergebracht. In dem darüberliegenden auf 141 m befand sich die Küche, in den beiden oberen Stockwerken auf 144 m und 147 m das Turmrestaurant. Nach der Renovierung der Außenhaut im Jahr 2005 wurde das untere Restaurantgeschoss zu einer Veranstaltungsebene umgebaut, und im obersten Stock ein Café und eine Bar eingerichtet. Das Küchengeschoss befindet sich zurzeit im Rohbauzustand. Die Fassaden der unteren drei Ebenen sind um neun Grad nach außen geneigt, die des vierten Geschosses steht senkrecht. Das Restaurantgeschoss ist dabei nicht drehbar gelagert. Auf 150,25 Meter Höhe – gleichsam auf dem Dach des Turmkorbs im Außenbereich – befindet sich die untere Aussichtsebene. Zusätzlich zur 1,30 Meter hohen Betonbrüstung schützt ein Stahlgitter die Besucher. Seit der Sanierung 2005 sorgt die installierte Fußbodenheizung dafür, dass der Boden der Aussichtsplattform in den Wintermonaten schnee- und eisfrei bleibt. Über eine Wendeltreppe am Turmschaft ist die obere Aussichtsplattform erreichbar. Diese von Leonhardt als Kinderplattform bezeichnete Aussichtsebene wurde vom Erbauer speziell für Kinder drei Meter über der unteren Plattform konstruiert und ist deutlich kleiner, bietet dafür einen freien Blick über die Brüstung hinweg. Aufgrund der exponierten Lage und der Höhe des Turms sind bei guten Witterungsverhältnissen neben der Sicht auf den Stuttgarter Talkessel auch die Fernsicht auf Schwarzwald, Odenwald und Schwäbische Alb möglich. Die von einigen Medien kolportierte Behauptung, man könne sogar die Alpen sehen, trifft nachweislich nicht zu. Der Betonschaft ragt bis in eine Höhe von 160,94 m hinauf. Im Bereich ab 156 m befindet sich der Maschinenraum für die beiden Aufzüge. Darüber gibt es einen Treppenaufstieg zum Antennenmast, der ursprünglich 51 m hoch war und seit den 1960er Jahren 55,6 m hoch ist. Zur Kennzeichnung als Luftfahrthindernis befinden sich oberhalb der Kinderplattform Xenonleuchten für die Hindernisbefeuerung. Darüber hinaus sind die Antennen und der Turmschaft mit entsprechender Hindernisbefeuerung ausgestattet. Aufzüge Die zwei Aufzüge im Fernsehturm wurden 1954 von der Stuttgarter Firma Haushahn gebaut. Die mittels eines Seilzugs arbeitenden Vertikalaufzüge haben eine Tragfähigkeit von je 1,2 Tonnen bzw. 16 Personen und befördern die Besucher mit einer Geschwindigkeit von 5,0 m/s, was einer Fahrzeit von der Basis bis zum Aussichtsgeschoss von rund 36 Sekunden entspricht. Eine Modernisierung der Anlage fand 2003 statt. Bei der Eröffnung gehörte die Aufzuganlage des Fernsehturms in Stuttgart zu den schnellsten der Welt. Eine Besonderheit der Aufzüge ist, dass sie im Notfall als Fluchtweg verwendet werden können. Die Anlage verursacht pro Jahr Stromkosten in Höhe von rund 40.000 Euro. Der Aufzugmaschinenraum befindet sich im obersten Teil des Turmschafts unterhalb des Antennenpodests. Der Aufzug befördert Personen auf alle Ebenen des Turmkorbs und in die unterirdischen Etagen im Fundament. Auf 75 Meter befindet sich eine Wartungsplattform im Inneren des Schaftes, die für den regulären Besucherverkehr nicht angefahren wird. Besucherzahlen Während der ersten zehn Jahre zog der Turm im Schnitt etwa 800.000 Besucher jährlich an, was besonders in den Stoßzeiten an den Wochenenden zu organisatorisch schwer zu bewältigenden Warteschlangen führte. Da die beiden Aufzüge mit vergleichsweise kleinen Kabinen bestückt sind und die Aufnahmekapazität des Aussichtsbereichs verglichen mit anderen Türmen eher gering ist, wäre die Steigerung des Besucherdurchsatzes nicht ohne eine bauliche Veränderung möglich. Bis Ende der 1980er Jahre sank das Jahresmittel der Besucher auf etwa 600.000 – am 24. Oktober 1989 wurde der zwanzigmillionste Besucher begrüßt – und pendelte sich bis Ende der 2000er Jahre auf etwa 300.000 ein. Die niedrigste Besucherzahl hatte der Turm 2005 mit rund 88.000 Besuchern, da das Wahrzeichen von Mai bis November in diesem Jahr wegen Renovierung geschlossen war. Vom 28. März 2013 bis zum 29. Januar 2016 war der Fernsehturm in Stuttgart wegen Brandschutzmängeln geschlossen. Seit den 2010er Jahren hat sich zunächst der Durchschnitt der Besucher in den Jahren, als der Turm offen war, auf etwa 400.000 eingestellt. Aufgrund der weltweiten COVID-19-Pandemie und der damit einhergehenden Schließungen vieler öffentlicher Bauwerke sank 2020 die Besucherzahl auf 80.000, war aber in den Vorgängerjahren auch schon stark rückläufig aufgrund gestiegener Eintrittspreise. Eigentumsverhältnisse Obwohl in der Planungszeit zwischen der Stadt und dem SDR keine Einigung über die Finanzierung erzielt werden konnte, gründeten beide Parteien noch während der Bauphase am 22. August 1955 – einen Tag vor dem Richtfest – eine Fernsehturm-Betriebs-GmbH (FTB), die zu 70 % dem SDR und zu 30 % der städtischen Ausstellungsgesellschaft – später Stuttgarter Messe- und Kongress GmbH – gehörte. Als Minderheitengesellschafterin trug die Ausstellungsgesellschaft damit kein wirtschaftliches Risiko im Falle von Verlusten. Zu dieser vertraglichen Konstellation kam es, da der SDR auf die Erfahrung der Gesellschaft im Fremdenverkehrswesen nicht verzichten wollte. In die Verantwortung der FTB fiel die wirtschaftliche Verwertung des Bauwerks, wozu die Vermietung und Verpachtung der Räume im Gastronomiebereich ebenso gehörten wie der Verkauf von Werbeflächen, der Betrieb von Automaten, der Fernrohre und der Betrieb der Aussichtsplattformen. Davon getrennt waren die Bereiche des Turms, die zur Ausstrahlung der Rundfunk- und Fernsehprogramme diente, wie die Antennenanlage und Technikräume. Diese werden von der Rundfunkanstalt selbst betrieben. Mit Wirkung vom 1. Januar 1984 übertrug der SDR seinen Beteiligungsanteil an die Rundfunkwerbung Stuttgart GmbH, die am 16. Dezember 1991 in eine Holding zusammengefasst wurde. Durch die Fusion des Süddeutschen Rundfunks (SDR) mit dem Südwestfunk (SWF) am 22. September 1998 zur neuen Rundfunkanstalt Südwestrundfunk (SWR) wurde die SWR Holding GmbH Eigentümerin des Stuttgarter Fernsehturms. Von Seiten der Stadt ging der Anteil der FTB am 5. Dezember 2003 auf die Stuttgart Marketing GmbH über. Eigentümer ist mittlerweile der Südwestrundfunk, Betreibergesellschaft ist die SWR Media Services GmbH, eine 100-prozentige SWR-Tochtergesellschaft. Das Eigentumsverhältnis ist eine Besonderheit in Deutschland, da der Stuttgarter Fernsehturm zu den wenigen gehört, die nicht von der Deutschen Funkturm, einer Tochter der Deutschen Telekom, sondern von der Tochtergesellschaft einer Rundfunkanstalt betrieben wird. Rezeption Architektonische Einordnung und Bedeutung Vor dem Stuttgarter Fernsehturm gab es vor allem nur zwei wenig variierte Bauwerkstypen für Sendeantennen: Zum einen die abgespannten Sendemasten, die aufgrund des entsprechenden Flächenbedarfs durch die am Boden befestigen Stahlseile zur Sicherung meist in ländlichen Regionen vorkommen, zum anderen die selbsttragenden Fachwerktürme wie der Eiffelturm oder der Berliner Funkturm. Mit dem Bau des Stuttgarter Stahlbetonturms wurde eine weltweite Turmbauwelle ausgelöst, die ebenfalls auf Stahlbeton als Baustoff setzt und den Turmkopf mit einem Zuschauerbereich versieht. Meist enthalten diese Türme ebenfalls getrennte Restaurant- und Aussichtsebenen. Oft wurde durch eine individuelle Gestaltung des Turmkorbs versucht, dem Turm einen eigenen Charakter zu verleihen. Es gibt Fernsehtürme, die sich sehr stark an der Architektur des Stuttgarter Vorbildes orientieren. Zu den ersten gehört der erste Fernsehturm der DDR, der 1959 fertiggestellte Fernsehturm Dequede. Bereits 1956 hatten DDR-Funktionäre die Baustelle in Stuttgart besichtigt. Der in den Jahren 1958 bis 1962 in Johannesburg erbaute Sentech Tower kopiert die Form des Turmkorbs nahezu. Auch die Stahlgitterantenne hat eine auffällige Ähnlichkeit zur Bauweise in Stuttgart. Da er bei der Verjüngung des Schafts auf den parabolischen Anlauf verzichtet, wirkt er im Gegensatz zum Stuttgarter Fernsehturm an der Basis deutlich dicker und insgesamt weniger filigran als sein Stuttgarter Vorbild. Die mittlerweile angebrachte Werbeaufschrift auf dem Turmkorb kaschiert die starke Ähnlichkeit heutzutage. Deutliche Anleihen beim Stuttgarter Wahrzeichen lässt der Fernsehturm Guishan im chinesischen Wuhan erkennen. Für die Planung des chinesischen Fernsehturms wurde Fritz Leonhardt 1985 beratend hinzugezogen. Beim Turmbau der Space Needle in Seattle zur Weltausstellung 1962 „Century 21 Exposition“ ließen sich die Verantwortlichen ebenfalls durch den Stuttgarter Fernsehturm inspirieren. Zwar ist die expressive und eigenständige Architektur nicht mit der in Stuttgart vergleichbar. Das Konzept eines Turmrestaurants und die Tatsache, dass sich dieses Konzept auch wirtschaftlich auszahlte, spielte als Idee jedoch eine entscheidende Rolle beim Bau des amerikanischen Aussichtsturms, der zum Wahrzeichen der Weltausstellung und der Stadt wurde. Ausgehend von der Formgebung des Stuttgarter Fernsehturms wurden spätere Fernseh- und Aussichtstürme in ihren geometrischen Grundformen variiert, besonders die Turmkörbe und Plattformen ließen den meisten Spielraum für Änderungen zu. Der Stuttgarter Turm wird wegen seiner Eleganz und harmonischen Linienführung als architektonisches Vorbild angesehen. Selbst in der Fachwelt wird er manchmal als „der schönste Fernsehturm der Welt“ beschrieben. Die Publizistin Clara Menck fasste die Ästhetik des Stuttgarter Fernsehturms zusammen: Nach dem von Louis Sullivan begründeten Leitsatz „Form folgt Funktion“ gilt es als schwer, für Fernmelde- oder Fernsehtürme eine grundlegend andere Form als die vom Stuttgarter Fernsehturm begründete zu finden. Die meisten Fernsehtürme in den nachfolgenden Jahrzehnten variierten nur die Form des Turmkorbs. Dabei wurde das sich auf seine Hauptelemente beschränkende Stuttgarter Vorbild vielfach an Höhe, nach Meinung von Fachleuten aber selten an Einfachheit, Klarheit und Eleganz übertroffen. Symbolcharakter in der Gesellschaft Der Fernsehturm in Stuttgart stieg, wie viele andere Türme, zu einem weltweit bekannten Symbol für die Stadt und ihre Region auf. Eine besonders starke Identifikation mit dem Bauwerk zeigte der SDR, der ihn als Bildmarke bereits 1954 aufnahm. Das von Anton Stankowski geschaffene Signet zeigt den Turm als linienabstrahierte Grafik. In einem Kreis unterbrechen drei horizontale, parallele Balken, die für den Turmkorb stehen, den vertikalen Strich, der als Durchmesser des Kreises für den Schaft steht. Das Symbol charakterisiert den Fernsehturm und soll ihn schnell erkennbar werden lassen. Mit der Fusion 1998 zum SWR wurde es als Teil des Sender-Logos aufgegeben. Bis heute verwendet der Sender in seinen Ausgaben der Landesschau den Fernsehturm als Bild und Symbol. Im Jahr 2011 erhielt der Fernsehturm in Anlehnung an das historische SDR-Logo eine leicht abgewandelte Variante des Signets als Bildmarke. Dazu wurde die Wortmarke „Fern-Seh-Turm“ in drei Zeilen abgesetzt geschaffen, die neben dem Bildlogo angeordnet ist. Im Rahmen der Deutschen Funkausstellung in Stuttgart 1965 symbolisierte der Fernsehturm die Veranstaltung auf einer Briefmarke der Deutschen Bundespost. Die am 28. Juli mit einer Auflage von 30 Millionen Stück erschienene Marke (Michel-Nummer 481) mit einem Frankaturwert von 20 Pfennig wurde vom Grafiker Heinz Schillinger gestaltet und zeigt den Stuttgarter Fernsehturm, Wellen in Blautönen aussendend. Frequenzen und Programme Analoges Radio (UKW) Beim Antennendiagramm sind im Falle gerichteter Strahlung die Hauptstrahlrichtungen in Grad angegeben. Im Zuge der Einführung des damaligen Programmes S4 Baden-Württemberg am 1. Januar 1991 kam es zu einem Rechtsstreit zwischen dem Süddeutschen Rundfunk und der Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg. Die Frequenz 90,1 MHz, die zuvor mit dem Programm S2 Kultur belegt war, strahlte seit dem Sendestart von S4 Baden-Württemberg ebendieses Programm aus, während S2 Kultur fortan über die Frequenz 87,9 MHz ausgestrahlt wurde. Diese erheblich leistungsschwächere Frequenz konnte jedoch das Versorgungsgebiet nicht vollständig abdecken und so entstand eine Versorgungslücke von 150.000 Menschen im Raum Stuttgart, die das Programm S2 Kultur nicht mehr empfangen konnten. Daraufhin versuchte der SDR, neben weiteren Frequenzen auch die Frequenz 105,7 MHz, die von der LFK Baden-Württemberg für ein privates Rundfunkprogramm geplant war, einzuklagen und berief sich dabei auf den Grundversorgungsauftrag. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg gab am 30. August 1994 dem Süddeutschen Rundfunk recht; das Urteil wurde vom Bundesverwaltungsgericht am 19. Juli 1995 bestätigt. Die analoge Ausstrahlung von SWRinfo (91,5 MHz, 300 W) erfolgt vom Funkhaus in der Neckarstraße. Die privaten Programme Antenne 1, bigFM und Die Neue 107.7 sowie AFN werden vom Stuttgarter Fernmeldeturm aus abgestrahlt. Digitales Radio (DAB) DAB wird in vertikaler Polarisation und im Gleichwellenbetrieb mit anderen Sendern ausgestrahlt. Fernsehen Seit dem 25. Juli 2006 werden vom Stuttgarter Fernsehturm nur noch UKW- und DAB-Hörfunkprogramme abgestrahlt. Zuvor wurde das Fernsehprogramm Das Erste verbreitet. Da zur Ausstrahlung von Programmen im DVB-T-Standard ein aufwändiger Austausch der Fernsehantenne notwendig gewesen wäre, verzichtete der SWR auf die Ausstrahlung seiner Bouquets vom Fernsehturm und verlagerte diese zum Standort Stuttgart-Frauenkopf der Deutschen Telekom. Daten des zuvor hier abgestrahlten Programms Das Erste (SWR): Literatur Bücher Oliver A. Krimmel: Fernsehturm Stuttgart – Der erste der Welt, Belser Verlag, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-7630-2739-2. Bundesingenieurkammer (Hrsg.), Hans-Peter Andrä, Annette Bögle, Jan Knippers, Jörg Schlaich: Der Fernsehturm Stuttgart. Historische Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland, Band 3. Bundesingenieurkammer, 2. Aufl., Berlin 2009, ISBN 978-3-941867-01-7. Fernsehturm-Betriebs-GmbH (Hrsg.): Vom Wagnis zum Wahrzeichen – 50 Jahre Fernsehturm Stuttgart. SWR Media Services, Stuttgart 2006, ISBN 3-00-018039-7. Jörg Schlaich, Matthias Schüller: Ingenieurbauführer Baden-Württemberg, Bauwerk Verlag, Berlin 1999, ISBN 3-934369-01-4, S. 486–488. Hermann Fünfgeld, Hans Heeg, Jörg Hucklenbroich, Edgar Lersch: Der Stuttgarter Fernsehturm. Der erste seiner Art. Reihe: Südfunk-Hefte (Heft 13, 1986), ISBN 3-922308-12-0. Lieselotte Klett: Die Entstehung des Stuttgarter Fernsehturms. Idee und Konstruktion von Fritz Leonhardt (1909–1999). Diepholz/Berlin 2019, ISBN 978-3-86225-116-2. Fachartikel Ursula Baus: Der zweite Blick: Fernsehturm in Stuttgart. In: DAB – Deutsches Architektenblatt, , Jahrgang 37, Nr. 1, 2005, S. 40–41. D. Greiner-Mai: Der erste und der schönste. In: Bautechnik 73, Heft 3, S. 133, Berlin 1996. H. Jobst: Der Stuttgarter Fernsehturm. In: Schweizer Ingenieur und Architekt, , Jahrgang 74, Nr. 37, 1956, S. 562–563. Fritz Leonhardt: Der neuartige Fernsehturm in Stuttgart. 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Informationen zum Historischen Wahrzeichen Stuttgarter Zeitung: Der Bau des Fernsehturms – Artikel und Bild/ Videomaterial zum Bau des Stuttgarter Fernsehturms Theater „Über den Wolken“ Stuttgarter Fernsehturm (PDF; 741 kB). In: Element + Bau, , Jahrgang 48, Nr. 6, 2011, S. 6–8. Wetterkamera vom Stuttgarter Fernsehturm Historische Bilder Virtuelle Vogelperspektive vom Fernsehturm (alb360.de) Einzelnachweise Sendeturm in Europa Aussichtsturm in Europa Rundturm Sendeanlage des Südwestrundfunks Fernsehturm Fernsehturm Stuttgart Historisches Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland Bauwerk von Fritz Leonhardt Bauwerk der Nachkriegsmoderne in Deutschland
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https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich%20III.%20%28HRR%29
Friedrich III. (HRR)
Friedrich III. (* 21. September 1415 in Innsbruck; † 19. August 1493 in Linz) aus dem Hause Habsburg war als Friedrich V. ab 1424 Herzog der Steiermark, von Kärnten und Krain, ab 1439 Herzog von Österreich, als Friedrich III. ab 1440 römisch-deutscher König und ab 1452 bis zu seinem Tod Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Er war der vorletzte römisch-deutsche Kaiser, der vom Papst gekrönt wurde, und der letzte, bei dem dies in Rom geschah. Friedrichs Herrschaftszeit war die längste aller römisch-deutschen Herrscher. Unter ihm verschob sich der Herrschaftsmittelpunkt von Böhmen in die innerösterreichischen Erblande (Steiermark, Kärnten, Krain) an der südöstlichen Peripherie des Reiches. Friedrich regierte weitgehend reichsfern und war durch innerdynastische Auseinandersetzungen in seinen Erblanden gebunden. Von den 53 Herrschaftsjahren hielt sich Friedrich insgesamt nur neun Jahre außerhalb seiner Erblande auf. Während eines Zeitraums von 27 Jahren (1444–1471) verließ er seine Erblande, abgesehen von zwei Reisen nach Italien 1452 und 1468/69, überhaupt nicht. Seit den 1470er Jahren wandte er sich verstärkt dem Reich im Westen zu. Die neue Aktivität des Kaisers im Reich ging mit einem tiefgreifenden Struktur- und Verfassungswandel einher, der von der Spätmittelalterforschung als „Verdichtung“ des Reiches beschrieben wird. Durch die Anwartschaft Ungarns 1459/63 und insbesondere den Erwerb Burgunds sowie die Sicherung der Nachfolge für seinen Sohn Maximilian I. setzte Friedrich die Grundlage für den großdynastischen Aufstieg der Habsburger. Ihm gelang durch die Beerbung der Albertiner 1457/63 und der Tiroler Linie 1490 die Wiedervereinigung der seit 1379 geteilten Länder des Hauses Österreich. In der älteren Forschung wurde das Reich als durch Friedrichs Untätigkeit und Abwesenheit innerlich zerrissen und nach außen machtlos beschrieben. Friedrich galt als „des Heiligen Römischen Reiches Erzschlafmütze“, jedoch auch infolge einer stark unvollständigen Quellenlage: Bekannt waren nur etwa 8000 der geschätzten 30.000 bis 50.000 Urkunden, die er in seiner langen Herrschaftszeit hinterließ. Die bislang unbekannten Dokumente werden seit 1982 von der „Deutschen Kommission für die Bearbeitung der Regesta Imperii e. V.“ publiziert. Sie trug dazu bei, in der Forschung eine Revision der bis in die jüngste Vergangenheit sehr negativen Beurteilung Friedrichs III. und seiner Regierung einzuleiten. Leben Herkunft Friedrich entstammte der Familie der Habsburger. Durch die Neuberger Teilung von 1379 zwischen Albrecht III. und Leopold III. wurden die gesamten habsburgischen Länder getrennt. Friedrich gehörte der Hauptlinie der habsburgischen Leopoldiner in den innerösterreichischen Herzogtümern an. Er ging als ältester Sohn aus der zweiten Ehe von Herzog Ernst und Cimburgis von Masowien hervor. Von ihren neun Kindern erreichten neben Friedrich nur Albrecht VI., Margarete und Katharina das heiratsfähige Alter. Herzog Ernst starb, als Friedrich neun Jahre alt war. Die folgenden Jahre verbrachte Friedrich bei seiner Mutter in Graz oder Wiener Neustadt. Vormund Friedrichs und seines Bruders Albrecht wurde 1424 ihr Onkel, Herzog Friedrich IV. von Tirol. Während der Vormundschaft erhielt Friedrich eine sehr gute Ausbildung, von der aber kaum Einzelheiten überliefert sind. Friedrichs Mutter verstarb 1429. Familiäre Konflikte 1431 wurde Friedrich zwar für mündig erklärt, doch die Vormundschaft wurde um drei Jahre verlängert. 1435 trat er durch einen Schiedsspruch Herzog Albrechts V. (des späteren römisch-deutschen Königs Albrecht II.) die selbstständige Regierung als Herzog von Innerösterreich an. Nun kam es mit seinem Bruder zum Streit über die Aufteilung der Finanzmittel und über die Herrschaft. Ein am Hausvertrag Rudolfs IV. von 1364 orientierter Schiedsspruch bescheinigte 1436 Albrecht die Mitregierung, räumte aber gleichzeitig dem älteren Bruder Friedrich die Vorrangstellung ein. Der Ausgleich blieb unbefriedigend, da die Aufteilung der Einnahmen offenblieb. In dieser Situation unternahm Herzog Friedrich am 9. August 1436 als Akt christlicher Frömmigkeit von Triest aus eine Pilgerfahrt ins Heilige Land. Auf dieser Reise, von der er im Dezember 1436 zurückkehrte, konnte er eine große Zahl Adliger um sich sammeln. Rund 50 adelige Begleiter wurden zu Rittern des Heiligen Grabes geschlagen. Noch während seiner Herzogszeit ließ er 1437 das Vokal-Symbol „a-e-i-o-u“ zur Kennzeichnung seiner Besitztümer anbringen. In seinem Notizbuch sammelte er verschiedene Möglichkeiten für dessen Auflösung. Die Variante „Alles Erdreich ist Österreich untertan“ ist erst im 17. Jahrhundert aufgekommen. In der älteren Forschung galt die Vokaldevise als „eine buchstabenmagische oder zahlenmystische Spielerei“ ohne politische Bedeutung. In der neueren Forschung wird sie als Herrschaftsdevise Friedrichs gedeutet. Im Jahr 2023 wurde anhand einer Quelle gezeigt, die durch die Zensur der römischen Kanzlei Friedrichs III. ging, dass es sich um das sogenannte En-Amor Distichon handelt. Die Buchstabenfolge steht somit für die Worte: En, amor electis, iniustis ordinor ultor (Die Liebe der Erwählten, erwählt zum Bestrafer der Ungerechten). Lhotskys Ansicht, es handle sich um eine spätere Erfindung, wurde dabei widersprochen. Nach dem Tod Herzog Friedrichs IV. am 24. Juni 1439 musste in Tirol und in den Vorlanden die Vormundschaft über Sigmund, den zwölfjährigen Sohn des Verstorbenen, geregelt werden. In Tirol wurde sie Friedrich von seinem Bruder Albrecht VI. bestritten, doch musste Albrecht seinen Anspruch infolge der Entscheidung der Tiroler Stände vom 28. Juli 1439 aufgeben. Als Vormund konnte Friedrich Einfluss auf Tirol und die habsburgischen Vorlande nehmen. Auch in der Vormundschaft über Ladislaus Postumus, den Sohn seines königlichen Vorgängers Albrecht II., konnte er sich gegen seinen Bruder Albrecht durchsetzen. Der römisch-deutsche König Albrecht II. hatte zwar zu Lebzeiten keinen männlichen Nachfolger hinterlassen, doch als er starb, war seine Frau Elisabeth schwanger; vier Monate nach seinem Tod brachte sie Ladislaus zur Welt. Albrecht hatte kurz vor seinem Tod verfügt, dass, falls das erwartete Kind männlich wäre, die Mutter und der Älteste aus dem Haus Österreich die Vormundschaft führen sollten. Durch den Tod Herzog Friedrichs IV. 1439 nahm Friedrich III. mit vierundzwanzig Jahren diese Rolle des Seniors des Hauses Österreich ein. Der Adel entschied sich auf dieser Grundlage für Friedrich als Vormund, doch musste er den Ständen ein Mitspracherecht einräumen. Die Vormundschaft sollte die Reichsherrschaft in den folgenden Jahren entscheidend belasten. Friedrich wurde wiederholt vorgeworfen, dass er sich des Erbes seines Mündels bemächtigen wolle. Mit diesem Vorwurf wurde er erstmals im März 1444 auf einem Landtag konfrontiert. Königswahl 1440 Friedrich war als Vetter der nächste männliche Verwandte König Albrechts. Am 2. Februar 1440, dem Fest Mariae Lichtmess, wählten die Kurfürsten den 24-jährigen Herzog Friedrich V. von Österreich in Frankfurt am Main einstimmig zum römisch-deutschen König. Ob dynastische Gründe den Ausschlag gaben oder eine Alternative fehlte, ist ungewiss. Als neuer Herrscher regierte Friedrich allerdings nur die Steiermark, Kärnten und die Krain. Weg zur Kaiserkrönung (1440–1452) Eine wichtige Aufgabe für das neue Reichsoberhaupt war die Bewältigung der Reichsreform, also die Behebung gravierender Mängel im Bereich der Gerichts-, Wehr- und Finanzverfassung durch eine Neuverteilung der Herrschaftsgewalt zwischen König und Reichsständen. Neben der Reichsreform zählten die Abwehr der Türken – das Osmanenreich eroberte große Teile des Balkans und bedrohte Konstantinopel – sowie die Beseitigung des Schismas zu den weiteren Herausforderungen. Friedrich musste jedoch zunächst sein Regiment in den Erbländern festigen. Daher konnte er seine Krönung in Aachen erst zwei Jahre später vollziehen. Streit um die Erbfolge im Königreich Ungarn und in Böhmen In Ungarn bot der Adel dem polnischen König Władysław III. die Krone an, da man sich von ihm wirksamere Maßnahmen in der Türkenabwehr versprach. Die Königinwitwe Elisabeth versuchte die Herrschaftsnachfolge ihres Sohnes in Österreich, in Böhmen und vor allem in Ungarn zu sichern. Dadurch drohte Friedrich auch in die Wirren in Ungarn und Böhmen gezogen zu werden. Das am 22. Februar 1440 geborene Kind ließ Elisabeth auf den ungarischen Nationalheiligen Ladislaus taufen. Elisabeth ließ den nach Wien ziehenden Leichenzug Albrechts nach Ungarn umleiten und ihren Gatten in Stuhlweißenburg inmitten seiner ungarischen Vorgänger seit Stephan I. beisetzen. Ihr gelang es außerdem, mit der Stephanskrone das wichtigste Herrschaftssymbol des Landes zu entwenden und ihren Sohn Ladislaus im Mai 1440 in Stuhlweißenburg zum König von Ungarn zu krönen. Als Friedrich nicht für sein Mündel in Ungarn Partei ergriff, wollte Elisabeth die Vormundschaftsregierung an Friedrichs Bruder Albrecht übertragen. Dadurch loderte der Streit zwischen den beiden Brüdern um die Vormundschaft wieder auf. Bedrängt durch die Erfolge Władysławs gegen die Ungarn näherte sich Elisabeth wieder stärker Friedrich an. In Verhandlungen konnte am 23. August 1440 eine Einigung erzielt werden, die die Habsburger einbezog. Die Vormundschaft über Ladislaus blieb bei Friedrich, Albrecht wurden 10.000 Dukaten zugesichert und fünf Städte (Bleiburg, Windischgratz, Fürstenfeld, Völkermarkt und Judenburg) übergeben. Doch erst als Władysław auf einem Feldzug gegen die Türken in der Schlacht von Varna gefallen war, wurde Ladislaus am 7. Mai 1445 auf einem Reichstag in Pest formell als ungarischer König anerkannt. Die eigentliche Regierung blieb jedoch bei dem von den ungarischen Ständen am 6. Juni 1446 gewählten Reichsverweser Johann Hunyadi. Für die Krönung sollte Ladislaus nun persönlich nach Ungarn kommen. Friedrich verweigerte jedoch Ladislaus’ Auslieferung. Hunyadi fiel daraufhin in Österreich ein, doch sah er sich, bedingt durch die verlustreichen Kämpfe gegen die Türken in der Schlacht auf dem Amselfeld vom 18. Oktober 1448, zu einem Ausgleich mit dem Habsburger gezwungen. Der am 22. Oktober 1450 geschlossene Vertrag von Pressburg bestimmte, dass Ladislaus bis zu seinem 18. Lebensjahr bei Friedrich verbleiben und Hunyadi bis dahin für ihn die Regentschaft in Ungarn führen solle. Auch in Böhmen wurde Ladislaus nicht sofort als König anerkannt. Nach einigen Jahren der Anarchie gelang es dem mährischen Adligen Georg von Podiebrad 1448, die Hauptstadt Prag einzunehmen. Mit Georg unterhielt Friedrich gute Beziehungen. 1451 übertrug ihm Friedrich die Reichsverweserschaft. Podiebrad verzichtete dafür auf die Überstellung des Thronerben nach Böhmen. Die Probleme in der Vormundschaftsführung Friedrichs beschränkten sich jedoch nicht auf Böhmen und Ungarn. Im albertinischen Österreich forderten die ehemaligen Söldnerführer Albrechts II. für die Finanzierung des Türkenfeldzuges ihren ausstehenden Sold. Sie begannen das Land zu plündern, wogegen die Adligen in Österreich Maßnahmen forderten. Friedrich war jedoch der Ansicht, dass die Bezahlung der Schulden Aufgabe der Stände in Böhmen, Ungarn und im albertinischen Österreich sei. Auf einem Landtag in der Augustinerkirche in Wien im Juni/Juli 1441 stellte sich Friedrich den Forderungen. Dort eskalierten die Konflikte über wirtschaftlich relevante Fragen der Reichspolitik. Dabei rückte die königliche Judenpolitik in den Mittelpunkt, da Friedrich im Gegensatz zu anderen Fürsten auf Rechtssicherheit für die Juden beharrte. Spätestens seit 1420/21, als in einer der blutigsten Verfolgungen und Austreibungen, der so genannten „Wiener Gesera“, die Gemeinden Niederösterreichs, insbesondere Wiens, fast ausgelöscht worden waren, wurden die Juden als Wucherer und bald als Spione der Türken verdächtigt und verfolgt. Friedrich wurde daher mit Schmährufen wie „Kreuzigt ihn, den König der Juden“ bedacht. Dennoch konnte auf dem Landtag eine Einigung erzielt werden. Friedrich versprach, die ausstehenden Forderungen zu erfüllen. Krönungsreise nach Aachen 1442 Im Frühjahr 1442 verließ Friedrich erstmals seit seiner Wahl die habsburgischen Erblande und reiste nach Aachen. Die Krönungsreise führte ihn von Graz über Innsbruck, Augsburg, Nürnberg und Mainz. Am 17. Juni 1442 wurde er rund zweieinhalb Jahre nach seiner Wahl in Aachen zum König gekrönt. Auf der Rückreise sollten in Frankfurt die Probleme der Reichspolitik beraten werden. Auf dem Frankfurter Reichstag erließ Friedrich am 14. August 1442 einen Landfrieden, der von den Zeitgenossen als Reformatio Friderici bezeichnet wurde. Die Reformatio Friderici war jedoch keine Reform der Reichsverfassung, wie die Bezeichnung suggeriert, vielmehr handelt es sich um Bestimmungen zur Fehdebekämpfung. Armagnakenzug und Kampf mit den Eidgenossen Friedrich versuchte die an die Eidgenossen verlorenen habsburgischen Gebiete wiederzuerlangen, indem er dort deren Gegner unterstützte. 1415 hatten die Habsburger mit dem Aargau ihr Herrschaftszentrum und damit die Traditionsorte wie die Habsburg oder die Klöster Muri und Königsfelden an die Eidgenossen verloren. Im 1439 ausgebrochenen Alten Zürichkrieg kämpfte die Stadt Zürich gegen die übrigen Eidgenossen, Friedrich sah darin eine Gelegenheit einzugreifen. Er schloss mit Zürich am 17. Juni 1442 ein Bündnis. Da er jedoch an der Vormundschaft über den jungen Herzog Sigmund, die am 25. Juli 1443 hätte enden sollen, festhielt, drohten viele einflussreiche Adelige sich auf die Seite der Eidgenossen zu stellen. Dadurch wurde Friedrich in seinem Kampf behindert. Zwar konnte er Sigmund überreden, zunächst weiterhin auf die Herrschaft in Tirol zu verzichten, doch nachdem alle Versuche gescheitert waren, ihn zu einem endgültigen Verzicht zu bewegen, musste ihn Friedrich im Frühjahr 1446 aus der Vormundschaft entlassen. Sigmund erhielt jedoch nur Tirol und die österreichischen Teile Vorarlbergs. Friedrichs Bruder Albrecht wurde für die entgangene Herrschaft in Innerösterreich der Rest der Vorlande mit dem oberrheinischen und elsässischen Besitz zugesprochen. Im Mai 1443 brach der Krieg zwischen den Eidgenossen und Zürich nach einem Waffenstillstand erneut aus. Um die Erfolge der Eidgenossen einzudämmen, sollten im August 1443 auf Friedrichs Bitte an König Karl VII. von Frankreich französische Söldnertruppen, die Armagnaken, an den Oberrhein geholt werden. Ein erstes Hilfeersuchen scheiterte, doch einige Monate später wurde es vom Adel der habsburgischen Vorlande wiederholt, und diesmal hatte es beim französischen König Erfolg. Im August 1444 machten die Armagnaken 1300 Eidgenossen in der Schlacht bei St. Jakob an der Birs nieder. Die französischen Söldner verwüsteten dabei den Sundgau. Als Reichsoberhaupt hatte Friedrich die Armagnaken in das Reichsgebiet gerufen, er überließ jedoch die Abwehr der marodierenden Söldner seinen regionalen Amtsträgern, insbesondere dem Markgrafen Wilhelm von Hachberg. Das Reich und seine Glieder erwiesen sich als zu träge, um auf diese militärische Herausforderung zu reagieren. Erst 1444/45 zogen die gefürchteten Armagnaken wieder aus der Region ab. Friedrich wurde für die fatalen Folgen des Armagnakenfeldzuges von den Zeitgenossen verantwortlich gemacht. 1450 schlossen die Eidgenossen mit Österreich und Zürich Frieden. Friedrich gewann die Städte Rapperswil, Winterthur, Diessenhofen und Rheinfelden zurück. Der Aargau blieb jedoch für immer verloren, und mit Ausnahme Rheinfeldens wurden die genannten Städte in den 1460er Jahren von den Eidgenossen zurückerobert. Antikonziliaristische Kirchenpolitik, Wiener Konkordat 1378 brach nach einer umstrittenen Papstwahl ein jahrzehntelanges Schisma aus. Fortan gab es rivalisierende Päpste, die um die Entscheidungsgewalt in der Kirche stritten. Im Großen abendländischen Schisma, das bis 1417 andauerte, und auch auf den großen Konzilien in Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449) wurde die alleinige Machtvollkommenheit des Papstes in Frage gestellt. Nach der Theorie des Konziliarismus war eine allgemeine Kirchenversammlung dem Papst übergeordnet. Das Basler Konzil setzte sogar am 15. Juni 1439 Papst Eugen IV. als Häretiker ab und wählte Amadeus von Savoyen zum neuen Papst, der sich Felix V. nannte. Eugen beharrte aber auf seinem Anspruch auf die Papstwürde. Die Kurfürsten hatten sich am 17. März 1438 im Streit zwischen Kurie und Papst für neutral erklärt. Den Neutralitätskurs führte König Albrecht II. weiter, auch Friedrich hielt daran zunächst fest. Seine Fahrt zum Konzil nach Basel im Jahr 1442 blieb ohne Ergebnis. Verhandlungen zur Lösung des Schismas auf einem von Friedrich besuchten Reichstag 1444 in Nürnberg scheiterten ebenfalls. Schließlich gab der König 1445 die Neutralität auf und näherte sich Eugen IV. an. Für seine Bereitschaft, den Papst anzuerkennen, forderte Friedrich eine Verbesserung der Kirchenorganisation und die Gründung des Bistums Wien sowie weiterer Diözesen im Osten seines Herrschaftsbereiches. Eugen konnte jedoch den Wünschen Friedrichs nach Errichtung neuer Bistümer nicht nachkommen, da dies den Widerstand der Salzburger und Passauer Kirchenfürsten herausgefordert hätte. Der Papst versprach Friedrich daraufhin zunächst nur die Kaiserkrönung. Den Kurfürsten missfiel die Annäherung Friedrichs an den Papst. Am 24. Januar 1446 ließ dieser daraufhin die Erzbischöfe von Trier und Köln absetzen, doch stärkte er damit nur die Opposition. Die anderen Kurfürsten solidarisierten sich mit ihren abgesetzten Amtskollegen und schlossen sich am 21. März 1446 zum Kurverein zusammen. Nach zahlreichen Verhandlungen erklärte sich der Papst bereit, die Absetzung der beiden Erzbischöfe aufzuheben und die meisten Konzilsdekrete zu erfüllen. In diesem Konflikt hielt sich Friedrich als Reichsoberhaupt weitgehend zurück. Im Februar 1447 erkannte der Großteil der Fürsten in den sogenannten Fürstenkonkordaten Eugen IV. an. Am 17. Februar 1448 schloss Friedrich mit Eugens Nachfolger Nikolaus V. das Wiener Konkordat, das für die Beziehungen der römischen Kurie zum Reich bis zu dessen Ende 1806 gelten sollte. Das Konkordat regelte das Verhältnis der Reichskirche zum Heiligen Stuhl. Dem Papst sprach es Einkünfte im Reich zu, die erheblich umfangreicher waren als in Frankreich, sowie Eingriffsmöglichkeiten bei kirchlichen Ämtern und Pfründen. Damit sollte der Personalbedarf des päpstlichen Hofes gedeckt und der steigende Geldbedarf der Bürokratie verringert werden. Das Basler Konzil dagegen verlor zunehmend an Bedeutung. 1449 zog es sich nach Lausanne zurück, am 25. April 1449 löste es sich auf. Das Bündnis mit dem Papsttum brachte Friedrich wichtige Vorteile ein. Bei der Besetzung der reichsunmittelbaren Bistümer nahm der Papst auf die Interessen des Kaisers Rücksicht. Er ernannte Parteigänger des Kaisers ohne Rücksicht auf das Domkapitel und verweigerte Kandidaten, die Friedrich nicht genehm waren, die päpstliche Bestätigung. Abwesenheit vom Binnenreich, Verlagerung des Herrschaftsschwerpunkts nach Österreich Friedrich legte während seiner gesamten Regierungszeit mindestens eine Distanz von 33.826 Kilometer zurück. Sein Itinerar ist von intensiven Bewegungsphasen bis hin zu absoluter Immobilität über viele Jahre hinweg geprägt. Von 1444 bis 1471 erschien Friedrich nicht mehr im Binnenreich (das Reich außerhalb seiner Erblande). Nur für die Kaiserkrönung 1452 verließ er seine Erblande. Im Rahmen seiner Herrschaftspolitik erlangte das Kommissionswesen besondere Bedeutung. Der aus der Ferne regierende Friedrich brachte seinen Herrschaftsanspruch zur Geltung, indem er sich auf Mandate und Reskripte sowie auf Kommissare stützte, die als seine Stellvertreter unterschiedlichste Funktionen ausübten. Die Politik, die Böhmen einen Vorrang einräumte und für die Luxemburger charakteristisch gewesen war, führte Friedrich nicht mehr fort. In Böhmen hielt er sich in seiner gesamten Regierungszeit nur einmal auf. Seit 1440 verschob sich der Schwerpunkt von Böhmen als Zentrallandschaft des Reiches nach Österreich. In der älteren Forschung meinte man, Friedrich habe gegen seinen Willen auf Ungarn und Böhmen verzichtet. Die politischen Schwerpunkte des Reiches hatten sich jedoch verschoben. Durch die Hussitenkriege war Böhmen zerrüttet und als Zentrallandschaft des Reiches nicht mehr geeignet. Im Westen beanspruchte der Herzog von Burgund und Regent Flanderns, Phillip der Gute, das Herzogtum Luxemburg. Der Zugehörigkeit Burgunds zu Frankreich versuchte sich Philipp zu entziehen, er wollte seinen Machtbereich stattdessen ins Reich einordnen. 1447 versuchte Philipp von Friedrich im Zusammenhang mit seinen Königserhebungsplänen mit den Herzogtümern Brabant und Limburg, den Grafschaften Holland, Seeland, der Herrschaft Friesland, der Grafschaft Hennegau sowie der Freigrafschaft Burgund und Reichsflandern (um Aalst, die Grafschaft selbst blieb französisches Lehen) belehnt zu werden, doch schlugen die Verhandlungen fehl. Friedrich baute seine Residenz in Wiener Neustadt, das etwa 7000 bis 8000 Einwohner zählte, ab 1440 aus, was den Verzicht auf den bisherigen Mittelpunkt Prag verdeutlicht. Mit dem Ausbau der Residenz sollte der Ruhm des Hauses Österreich manifestiert werden. 1444 gründete er Neukloster in Wiener Neustadt. 1484/85 folgte die Heiligsprechung des im Augustiner-Chorherrenstift Klosterneuburg beigesetzten Babenbergers Leopold III. Dadurch brachte Friedrich die etwa einhundertjährigen Bemühungen zum Abschluss, Habsburg und Österreich zu einem Familien- und Landesheiligen zu verhelfen. Ab Sommer 1452 blieb der Kaiser mit Ausnahme von kurzen Reisen nach Graz jahrelang in Wiener Neustadt. Einer älteren Forschungsmeinung zufolge fühlte er sich nur in seiner Lieblingsresidenz sicher. Heinrich Koller meint jedoch, dass für seine langjährige Abwesenheit die Sorge um seine Gattin entscheidend war. Die Geburt eines Nachfolgers sei für ihn ein Anliegen gewesen, das vor allen anderen Zielen Vorrang hatte. In älterer Forschungsliteratur wird spätmittelalterlichen Herrschern oft pauschal Schwäche unterstellt. Doch obwohl Friedrich jahrzehntelang nur von der Peripherie des Reichs aus regierte, blieb sein Königtum ungefährdet. Alle Pläne, ihn zu entmachten, scheiterten. Kaiserkrönung und Eheschließung Vor Friedrichs Romzug zur Kaiserkrönung war es 1451 zum Streit zwischen dem Kaiser und Ulrich von Eyczing gekommen. Beim Kauf der Burg Forchtenstein fühlte sich Ulrich als Kaufinteressent durch Friedrich und seinen Bruder Albrecht betrogen. Die Unzufriedenheit des österreichischen Adels mit der Regentschaftsführung Friedrichs nutzte Ulrich aus. Vermutlich wollte er für sich eine Stellung als Gubernator im Land erreichen. Im Herbst 1451 schlossen sich österreichische Adlige unter Ulrichs Führung zum Mailberger Bund zusammen. Sie forderten die Entlassung Ladislaus’ aus der Vormundschaft und seine Einsetzung als Landesherr. An seinen Plänen zur Kaiserkrönung hielt Friedrich trotz erheblicher Schwierigkeiten im Kernland fest. Im Dezember 1451 trat er mit seinem Bruder Albrecht, der als Marschall den Romzug organisierte, sowie Ladislaus und einem kleinen Aufgebot den Weg in den Süden an. In Italien wurde Friedrich sogleich mit dortigen Problemen konfrontiert. Nach dem Aussterben der Visconti-Dynastie hatte sich 1450 der Söldnerführer Francesco Sforza in Mailand durchsetzen können. Um die reichsrechtliche Legitimation seiner Herzogsherrschaft zu erreichen, war er zu großen Zugeständnissen bereit. Eine solche Anerkennung hätte jedoch für Friedrich zu Problemen mit Venedig und König Alfons V. von Aragon-Sizilien geführt. Die geheim gehaltenen Verhandlungen mit Francesco Sforza über die Belehnung zogen Friedrichs Räte in die Länge, um einen gefahrlosen Romzug zu ermöglichen. An diesen Verhandlungen war Ulrich Riederer maßgeblich beteiligt. In der ersten Regierungshälfte des Habsburgers gehörte er zu den einflussreichsten Ratgebern. Unter Umgehung Mailands zog Friedrich nach Rom. Auf der Italienreise sollte nicht nur die Kaiserkrönung, sondern auch die Trauung mit der fünfzehnjährigen portugiesischen Königstochter Eleonore vollzogen werden. Friedrichs Gründe für die Heirat mit einer Frau aus dem spanisch-portugiesischen Raum sind nicht näher bekannt, doch spielte das hohe Ansehen der Regenten auf der Iberischen Halbinsel sicher eine wesentliche Rolle. Neuere Forschungen gehen davon aus, dass sich Friedrich durch den Pakt mit Alphons von Aragon indirekt die Neutralität Venedigs sicherte, die dringend benötigt wurde, da die Erblande des Kaisers zum damaligen Zeitpunkt im Norden, Westen und Osten von Feinden umzingelt waren. Das Eheprojekt bestand jedenfalls seit etwa 1449. Am 24. Februar 1452 traf Eleonore in Siena mit ihrem künftigen Mann zusammen. Im März traf Friedrich in Rom ein. Seine Ankunft gilt als die am besten dokumentierte Herrschereinholung im gesamten Mittelalter. Am 16. März wurde Friedrich als letzter römisch-deutscher König zum italienischen König und drei Tage später in Rom von Papst Nikolaus V. zum Kaiser gekrönt. Für die römisch-deutschen Herrscher im 16. Jahrhundert sollte die Wahlentscheidung der Kurfürsten unmittelbar zum Kaisertum führen („erwählter römischer Kaiser“). Nur Karl V. ließ sich 1530 vom Papst krönen, allerdings in Bologna. Zugleich mit der Kaiserkrönung wurde die Trauung mit Eleonore zelebriert. Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor. Es überlebten jedoch nur der 1459 geborene Maximilian und die 1465 geborene Kunigunde. Nach seiner Kaiserkrönung knüpfte er an an die beiden Staufer Friedrich I. und Friedrich II. an und nannte sich Friedrich III. Damit überging er in der Nummerierung das habsburgische Gegenkönigtum seines Vorfahren Friedrichs des Schönen. Der Name Friedrich III. kam jedoch nur in wenigen, besonders feierlich ausgeführten Diplomen mit dem äußerst seltenen „Herrschermonogramm“ zum Einsatz. Möglicherweise resultierte diese Zurückhaltung aus den Prophezeiungen, die vor allem nach dem Tod Friedrichs II. 1250 im Reich kursierten. Demnach sollte ein dritter Friedrich als ein Endzeitkaiser die Rolle der Staufer als Verfolger der Kirche übernehmen. Diese Endzeiterwartungen waren zur Lebenszeit Friedrichs noch hoch, wie etwa die Bedenken von Papst Nikolaus V. gegen Friedrichs Kaiserkrönung im Jahr 1452 zeigten. Krisenhafte Entwicklungen (1453–1470) Auslieferung des Ladislaus und Kampf um sein Erbe Während Friedrichs Abwesenheit gewann Ulrich von Eytzing weitere Unterstützung in Ober- und Niederösterreich für die Forderung, Ladislaus aus der Vormundschaft zu entlassen. So konnte etwa Graf Ulrich II. von Cilli, der seit 1437 als Statthalter von Böhmen fungierte, als Bündnispartner gewonnen werden. Doch vergeblich versuchte die Opposition auch die Unterstützung des Papstes zu erhalten. Nikolaus verlangte im Gegenteil die Anerkennung des frisch gekrönten Kaisers Friedrich als Vormund. Als diese verweigert wurde, bannte der Papst die Feinde des Kaisers. Nach seiner Rückkehr am 20. Juni 1452 in Wiener Neustadt musste sich Friedrich mit der ständischen Opposition auseinandersetzen; Ende August 1452 griff Ulrich von Eytzing mit einem Heer sogar Wiener Neustadt an, doch der kaiserliche Heerführer Andreas Baumkircher konnte den Angriff abwehren. Im Waffenstillstand vom 1. September 1452 musste Friedrich dennoch Ladislaus in die Obhut des Grafen von Cilli herausgeben. Dadurch war Friedrich wieder auf die innerösterreichischen Erblande eingegrenzt. Vermutlich als Reaktion auf den Verlust der Vormundschaftsrechte erweiterte er am 6. Januar 1453 die als Privilegium Maius bezeichneten österreichischen Freiheitsbriefe. Er hielt damit an seiner monarchischen Herrschaftsauffassung fest. Die österreichischen Herzöge der innerösterreichischen Linie, also derjenigen, der Friedrich angehörte, wurden zu Erzherzögen erhoben und ihre Vorrechte neu festgelegt. Friedrich nutzte in innerdynastischen Konflikten wiederholt die habsburgischen Hausprivilegien als politische Verhandlungsmasse. Vor allem der Bruder des Kaisers, Herzog Albrecht VI., verbesserte durch den Erzherzogstitel seine Stellung gegenüber den habsburgischen Verwandten Sigmund und Ladislaus. Die Ausstellung des Privilegs fiel in eine Phase der Aussöhnung der beiden Brüder. Die kaiserliche Vormundschaftsregierung war beendet und damit auch das albertinische Erbe verloren. Die tatsächliche Herrschaftsgewalt lag jedoch nicht bei Ladislaus, sondern in Böhmen bei Georg Podiebrad und in Ungarn bei Johann Hunyadi. In Österreich kämpften Ulrich von Eytzing und Ulrich von Cilli um Einfluss beim jungen König. Friedrich entzog sich für die kommenden Jahre weitgehend den Streitigkeiten um die Vormundschaft und konzentrierte sich auf die Herzogtümer Steiermark, Kärnten und Krain. Die meiste Zeit blieb er in Wiener Neustadt. Am 23. November 1457 starb Ladislaus völlig unerwartet. Mit seinem Tod endete die albertinische Linie des Hauses Habsburg, die durch den 1379 geschlossenen Vertrag von Neuberg von Albrecht III. von Österreich begründet worden war. In diesen Jahren verstarben auch die Gegner des Habsburgers: Ulrich von Eytzing geriet in habsburgische Gefangenschaft und starb 1460 entmachtet; Graf Ulrich II. von Cilli, den Ladislaus 1456 zum Statthalter von Ungarn erhoben hatte, wurde noch im selben Jahr in Belgrad ermordet. Mit Ulrichs Tod starb das Grafengeschlecht von Cilli aus. Nach Ladislaus’ Tod ging die ungarische Königswürde durch Wahl der Stände am 24. Januar 1458 an Matthias Hunyadi, der als König den Beinamen Corvinus erhielt, doch eine oppositionelle Gruppe wählte am 17. Februar 1459 Kaiser Friedrich in Güssing zum ungarischen König. Nach langen Verhandlungen konnte am 19. Juli 1463 mit Matthias im Ödenburger Vertrag Friede geschlossen werden. Friedrich erkannte Matthias als König in Ungarn an und übergab ihm die Stephanskrone, durfte aber ebenfalls den ungarischen Königstitel führen und erhielt, was langfristig viel wichtiger war, den Anspruch auf die Nachfolge, falls Matthias ohne Erben sterben sollte. In Böhmen entwickelte sich die Situation ähnlich wie in Ungarn. Die Stände besannen sich auf ihr Wahlrecht und wählten Georg von Podiebrad am 2. März 1458 zum König. Damit übergingen die Stände sowohl in Ungarn als auch in Böhmen die Erbansprüche von König Kasimir von Polen und Herzog Wilhelm von Sachsen, den Ehegatten der beiden Schwestern des verstorbenen Ladislaus. Friedrichs Untätigkeit bei der Türkenabwehr Durch die Niederlage der Kreuzfahrer bei Varna 1444 und die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen am 29. Mai 1453 trat die türkische Expansion wieder stärker in das westeuropäische Bewusstsein. Um die Türkengefahr abzuwehren, rief Papst Nikolaus V. am 30. September 1453 zum Kreuzzug auf. In der Türkenabwehr trat besonders Aeneas Silvius Piccolomini hervor. Doch im Reich wartete man vergeblich auf ein Engagement des Kaisers gegen die Türken. Die wichtigsten Fürsten erschienen deshalb nicht auf den Reichsversammlungen, sondern ließen sich vertreten. Aufgrund der geringen Teilnehmerzahl kam kein Beschluss zustande. Viele Fürsten interessierten sich mehr für die Reichsreform als für den Kampf gegen die Türken. Zu Reichstagen im Mai 1454 in Regensburg, im Oktober 1454 in Frankfurt und Ende Februar bis Anfang April 1455 in Wiener Neustadt wurde zwar einberufen, doch Friedrich erschien weder in Regensburg noch in Frankfurt. Statt des abwesenden Reichsoberhauptes sollte eine Art Reichsvikar dessen Aufgaben übernehmen. Alle Versuche, den untätigen Kaiser daraufhin zu entmachten, scheiterten an der Uneinigkeit der Kurfürsten. Durch die Abwesenheit Friedrichs und aufgrund der schwerfälligen Strukturen des Reiches kam kein Beschluss zur Türkenabwehr zustande. Nach spätmittelalterlicher Auffassung stand die Herrschaft im Reich nicht dem König oder Kaiser allein zu, sondern auch den Fürsten und Ständen. Als organologisches System bestand das Reich aus Haupt (Kaiser) und seinen Gliedern (Kurfürsten), die den politischen Körper bildeten. Kaiser und Kurfürsten konnten nicht ohne einander regieren. In allen wichtigen Angelegenheiten waren sie zum Konsens gezwungen. 1456 fand sich nur in Ungarn ein Kreuzzugsheer zusammen. Ihm gehörten jedoch keine Kontingente der Reichsglieder an. Durch den Sieg dieses Heeres gegen die Türken am 21. und 22. Juli 1456 in der Schlacht bei Belgrad schien die unmittelbare Bedrohung gebannt. Als Aeneas Silvius Piccolomini 1458 als Papst Pius II. Nachfolger von Calixt III. wurde, kam das Thema erneut zur Diskussion. 1460 wurde in Wien abermals über die Türkenabwehr diskutiert. Friedrich war als Reichsoberhaupt zwar anwesend, jedoch blieben die Fürsten fern. Die Gespräche endeten daher ohne Ergebnis, da die Städte die erforderlichen Mittel nicht aufbringen konnten. Konflikte mit dem Bruder um die Erbansprüche (1461–1463), Landfrieden (1467) Nach Ladislaus’ Tod erhoben Friedrich und sein Bruder Herzog Albrecht VI. Erbansprüche auf Ober- und Niederösterreich. Sigmund verzichtete wenig später zu Gunsten Albrechts, doch die Verhandlungen zwischen den Brüdern Friedrich und Albrecht gestalteten sich schwieriger. 1458 konnte ein Teilungsvertrag geschlossen werden. Albrecht erhielt Oberösterreich und eine Entschädigung von 32.000 Pfund Pfennigen, Friedrich behielt Niederösterreich mit Wien. Albrecht nutzte aber die desaströse landesherrliche Finanzsituation Friedrichs für seine Zwecke aus. Plündernde Söldner, Missernten sowie eine Inflation steigerten die wirtschaftliche Not und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Albrecht konnte deshalb eine Mehrheit des österreichischen Adels gegen Friedrich gewinnen und sah darin eine Möglichkeit, die aus seiner Sicht ungerechte Aufteilung des Erbes zu seinem Vorteil zu revidieren. 1461 brach der offene Krieg zwischen den Brüdern aus. Im Herbst 1462 kam es zu der demütigenden Belagerung Friedrichs und seiner Familie in der Wiener Burg. Nur durch das Eingreifen des böhmischen Königs Georg von Podiebrad konnte Friedrich von der Belagerung befreit werden. Im Frieden von Korneuburg vom 2. Dezember 1462 erklärte sich Friedrich bereit, gegen eine jährliche Abgabe von 4000 Dukaten seinem Bruder die Herrschaft in Niederösterreich für acht Jahre zu überlassen, doch eröffnete er sofort die Kampfhandlungen, als Albrecht mit seinen Verpflichtungen in Verzug geriet. Keine Seite konnte sich in der Folgezeit militärisch durchsetzen. Erst mit Albrechts unerwartetem Tod am 2. Dezember 1463 endeten die Feindseligkeiten. Albrecht hinterließ keine erbberechtigten Söhne. Ansprüche auf das albertinische Erbe konnte nur noch Sigmund erheben, der jedoch seit 1457 einen Konflikt mit Nikolaus von Kues, dem Kardinal und Bischof von Brixen, austrug. Papst Pius hatte deshalb Sigmund mit dem Kirchenbann und dem Interdikt belegt. Sigmund hoffte auf die Vermittlung Kaiser Friedrichs und erklärte, auf seine Erbansprüche in Oberösterreich zu verzichten. Mit Ausnahme von Tirol und den Vorlanden, wo Sigmund regierte, konnte Friedrich alle habsburgischen Besitzungen übernehmen. Seine Landesherrschaft versuchte er durch eine Verbesserung der Bistumsorganisation zu stärken. 1461 wurden die Grundlagen für die Anerkennung des Bistums Laibach geschaffen, ein Jahr später bestätigte Papst Pius II. das Bistum. Finanzprobleme und offene Auseinandersetzungen hielten jedoch in den folgenden Jahren an. Die weiterhin desaströsen Finanzen verzögerten die Soldzahlungen endlos. Eine Vielzahl an Fehden veranlasste Friedrich in den kommenden drei Jahren daher erst recht, in Wiener Neustadt zu bleiben. Da Fehden und Territorialkonflikte häufiger stattfanden, wurde ein Verbot dieser Auseinandersetzungen gefordert. Am 20. August 1467 erließ Friedrich in Wiener Neustadt einen Landfrieden mit einem fünfjährigen Fehdeverbot. Es wurde verfügt, dass jeder seine Forderungen vor Gericht erheben müsse. Die Verletzung des Landfriedens wurde als Majestätsverbrechen (crimen laesae maiestatis) behandelt und sollte dementsprechend hart bestraft werden, härter als in jedem anderen Landfrieden zuvor. Unter Friedrich wurde der Tatbestand des Majestätsverbrechens immer weiter ausgedehnt und das Handeln aus kaiserlicher Machtvollkommenheit (plenitudo potestatis) stark vermehrt. Im Landfrieden fehlten jedoch Angaben über die Gerichte, wo die Ansprüche und Klagen vorgetragen werden sollten. Der Beschluss konnte daher für die Sicherung des Friedens nur begrenzte Wirksamkeit entfalten. Erst Friedrichs Sohn Maximilian I. gelang es, 1495 mit dem Ewigen Landfrieden Fehden zu untersagen und gleichzeitig das Gerichtswesen grundlegend zu reformieren. Am 3. September 1467 starb Kaiserin Eleonore von Portugal im Alter von knapp 31 Jahren. Nach dem Tod seiner Frau heiratete Friedrich nicht wieder. Baumkircherfehde und Italienreise, Bistumsgründungen Im November 1468 brach Friedrich zu einer Reise zu Papst Paul II. nach Rom auf, wo er am 24. Dezember eintraf. Am 1. Januar 1469 gründete der Papst, ein Venezianer, der starkes Interesse an einem neuen Kreuzzug hatte, in Anwesenheit des Kaisers den St. Georgs-Orden zur Abwehr der Türken. Außerdem verfügte der Papst die Gründung der Bistümer in Wien und Wiener Neustadt. Die von Friedrich in Rom erreichten Verbesserungen in der Kirchenorganisation seiner Heimat wurden von den Zeitgenossen jedoch kaum wahrgenommen. Bei Friedrichs Abreise am 9. Januar versah er den Stratordienst, indem er das Pferd des Papstes am Zügel führte und damit die Überordnung des Papstes symbolisch anerkannte. Im Februar 1469 besuchte er Venedig, doch musste er die Stadt angesichts des Vormarsches der Osmanen bis zur Laibacher Pforte eilig nach Norden verlassen. Während Friedrichs Abwesenheit löste der kaiserliche Söldnerhauptmann Andreas Baumkircher einen Aufstand in den Erblanden aus. Baumkircher war über Jahre eine wichtige Stütze des Herrschers gewesen und war dafür mit Gütern in Ungarn belohnt worden. Als Friedrich 1463 mit dem ungarischen König Mathias Frieden schloss, wollte sich Baumkircher dem ungarischen König als loyaler Anhänger präsentieren. Dies weckte das Misstrauen Friedrichs. Aufgrund ausstehender Geldzahlungen sagte Baumkircher am 1. Februar 1469 dem Kaiser die Baumkircherfehde an. Baumkircher und seine Anhänger konnten mehrere Schlösser im ungarisch-österreichischen Grenzraum einnehmen. Monatelang zogen sich die Kämpfe ohne Ergebnis hin. In Graz sollte am 23. April 1471 zwischen dem Kaiser und Baumkircher ein Ausgleich gefunden werden. Baumkircher wurde dabei freies Geleit zugesichert. Der Verlauf der Gespräche ist unbekannt. Friedrich nahm Baumkircher in Haft und ließ ihn am selben Tag zusammen mit seinem Mitverschwörer Andreas Greisenegger ohne Gerichtsverfahren enthaupten. Agieren auf Reichsebene, Reformen, territoriale Gewinne im Westen (1471–1493) Seit 1470 agierte Friedrich wieder stärker auf der Reichsebene. In seiner Politik konstatiert Heinrich Koller geradezu einen „Aufbruch“, der sich unter anderem in seinem Einsatz für die Reichs- und Kirchenreform im Rahmen der „Neubelebung der Reichsversammlungen“ zeigt. Insbesondere die Bedrohung durch die Osmanen führte den Kaiser wieder in die Reichspolitik zurück. Bereits Anfang Mai 1469 hatte er Gesandte nach Venedig und nach Böhmen geschickt, um ein Bündnis abzuschließen, während osmanische Truppen bereits in Istrien standen. Folgt man den venezianischen Ratsbeschlüssen, hatte der venezianische Gesandte Giovanni Aymo großen Anteil daran, dass sich Friedrich stärker mit der Bedrohung durch die Osmanen auseinandersetzte, denen es im Juli 1470 gelungen war, eine der wichtigsten Bastionen Venedigs in der Ägäis, die Insel Negroponte zu erobern. Auch soll der Vertreter Venedigs auf die Einberufung des Regensburger Reichstags hingewirkt haben, den Friedrich besuchte. Am 16. Juni 1471 erschien der Kaiser auf dem gut besuchten Regensburger Christentag, dem Conventus christianorum principum, an dem 7000 Gäste teilnahmen und wo eine Türkensteuer beschlossen wurde. Delegationen aus den italienischen Metropolen Mailand, Venedig und Neapel, aber auch aus Ungarn, Polen und Böhmen auf der von Juni bis August tagenden Versammlung zeigten den gewaltigen europäischen Rahmen der Abwehrbemühungen auf, den das Osmanische Reich durch sein jüngstes Ausgreifen bis nach Laibach und Istrien erzeugte. Zum ersten Mal nach 27 Jahren besuchte Friedrich wieder einen Reichstag außerhalb seiner Erblande. Der Regensburger Hoftag brachte darüber hinaus neue Formen der Kommunikation hervor. Sämtliche Vorgänge wurden erstmals schriftlich protokolliert. Auch von den Zeitgenossen wurde Friedrichs Rückkehr in das Binnenreich durchaus registriert, er ritt unter dem Beifall der Bevölkerung in die Stadt ein. Als Reichsoberhaupt wandte er sich nun verstärkt dem Westen und dem Herzogtum Burgund zu. Seinen bisherigen Residenzen Graz und Wiener Neustadt widmete er sich hingegen kaum noch. Die neue Aktivität im Reich hing auch mit Friedrichs Sohn Maximilian zusammen. Der Heranwachsende erlangte als einziger Garant dynastischer Kontinuität zunehmende Bedeutung. Der Regensburger Christentag war das erste politische Großereignis, zu dem der zwölfjährige Maximilian von seinem Vater mitgenommen wurde. Maximilians künftige politische Schwerpunkte lagen im heutigen Belgien und den Niederlanden. Die Rückkehr in die Reichspolitik erbrachte auch den „quantitativen Höhepunkt“ in Friedrichs Beurkundungstätigkeit. Eine ganz wesentliche Rolle in der politischen Wirksamkeit Friedrichs spielte die Ernennung Erzbischof Adolfs von Mainz zum Kanzler und Kammerrichter (1470/71). Vom Zeitpunkt der Übernahme der Kanzleileitung im Juni 1471 bis zu den letzten erhaltenen Eintragungen vom 20. August 1474 sind insgesamt etwa 5000 Urkunden und Briefe überliefert. Die neue Dynamik, die Friedrich und Maximilian im Reich entfalteten, fiel mit einem Struktur- und Verfassungswandel im Reich zusammen. Die Bedrohungen – im Osten durch Türken und Ungarn und im Westen durch Burgunder und Franzosen – schufen neue politische Konstellationen. Hinzu kamen erhebliche Modernisierungs- und Wandlungsprozesse. Es setzte ein Bevölkerungsanstieg und Wirtschaftsaufschwung ein. Außerdem verdichtete und beschleunigte sich die Kommunikation im Reich durch die Erfindung des Buchdrucks und die Verbesserung des Postwesens. Die Beziehungen zwischen den Reichsgliedern und dem König wurden enger. Die Reichsverfassung wandelte sich. Peter Moraw hat dies 1985 als Entwicklung „von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung“ charakterisiert. Inwieweit der Habsburger in diesen Wandlungsprozess eingebunden war, ist teilweise noch ungeklärt. Der Kleriker Andreas Jamometić rief 1482 zur Reform der Kirche und zur Vorbereitung eines Türkenkreuzzugs ein Konzil in Basel aus. Friedrich unterband die Durchführung eines Konzils. Papst Sixtus IV. forderte daraufhin die Überstellung des Konzilsdelinquenten nach Rom, während der Kaiser reichsrechtlich den Vorrang der weltlichen Hoheitsbefugnis vertrat. Nach kaiserlicher Auffassung hatte sich der auf Reichsgebiet verhaftete Jamometić durch die eigenmächtige Konzilseinberufung des Majestätsverbrechens schuldig gemacht. Das zweijährige Ringen um die Jurisdiktionsgewalt interpretierte Jürgen Petersohn als letzten Papst-Kaiser-Konflikt des Mittelalters, der jedoch weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. Grundsätzliche Vorstellungen über die Hoheitskompetenz wurden in dieser Auseinandersetzung mit einer Vehemenz geführt, die es seit der Stauferzeit nicht mehr gegeben hatte. Der Konflikt endete durch den Suizid von Jamometić vor dem 13. November 1484 in seiner Basler Zelle. Die Kontroverse gibt Anlass zu einer Revision verbreiteter Klischees über Friedrichs Persönlichkeit und Selbstverständnis. Die Behauptung seiner Herrscherrechte und die Würde des Reiches verteidigte Friedrich unnachgiebig. Nach den Forschungen Jürgen Petersohns war Friedrich III. „der erste – und zugleich der einzige – deutsche Herrscher, der die Überstellung eines geistlichen Delinquenten an die Papstgewalt begründet und erfolgreich verweigerte“. Hof Der Hof war das Zentrum der Königsherrschaft. Der Metzer Hoftag Karls IV. von 1356 galt durch die Ausübung der Hofdienste der sieben Kurfürsten als ein Höhepunkt spätmittelalterlicher Herrschaftsrepräsentation. Von etwa 1375 bis um 1470 zeichnete sich jedoch eine „Destruktion des Herrscherhofes“ ab. Den königlichen Nachfolgern Karls IV. gelang es nicht mehr, die politische und soziale Elite in den königlichen Hof zu integrieren. Die Großen des Reiches hatten seit dem letzten Drittel des 14. Jahrhunderts das Interesse am Rats- und Hofdienst verloren. Zu Beginn seiner Regierungszeit knüpfte Friedrich an die Tradition seiner königlichen Vorgänger an, indem er das Kanzleipersonal mit dem einflussreichen Kanzler Kaspar Schlick übernahm. Die Phase von 1440 bis 1460 bildete den Tiefpunkt des Herrscherhofes. Die Zusammensetzung des Hofpersonals reduzierte sich derart auf die Erblande, dass es zu einer strukturellen Entfremdung zwischen König und Reich kam. Bis zum Tod seines Bruders Albrecht im Jahr 1463 blieb der Hof auf die Erblande beschränkt. Wien, Wiener Neustadt, Graz und Linz waren dabei die bevorzugten Städte der Hofhaltung. In diesen Städten hielt sich der Hof insgesamt 35 Jahre auf. Nach 1470 rekrutierte Friedrich außerhalb der innerösterreichischen Erblande vor allem aus Schwaben Räte an seinen Hof. Fast zwei Drittel aller weltlichen Räte aus dem außererbländischen Binnenreich wurden in den letzten zwanzig Jahren seiner Regierung ernannt. Allmählich wurden die Kurfürsten und Fürsten wieder in den Hof integriert. Der Hof leistete dadurch einen wichtigen Beitrag zur Intensivierung der Verbindungen zwischen dem Reichsoberhaupt und den Reichsgliedern. Seit 1470 versuchte Friedrich das Reich nochmals als Hofstaat zu organisieren. Die Erfassung des politischen Lebens durch ein einziges Herrschaftszentrum erwies sich jedoch durch neue politische und militärische Herausforderungen sowie neue Entwicklungen in Wirtschaft und Technik als nicht mehr zeitgemäß. Nur zwei Jahre nach Friedrichs Tod wurden mit dem Reichskammergericht und dem Reichstag zwei Institutionen außerhalb der Hofstrukturen geschaffen. Zu den wichtigsten Elementen des Hofes gehörten der Rat, die Kanzlei und das Kammergericht. Der Hofrat war das Gremium am Fürstenhof, in dem die wichtigen Entscheidungen getroffen wurden. Mit 433 Personen waren Friedrich mehr Räte eidlich verpflichtet als allen anderen römisch-deutschen Herrschern. Die Vergabe des Ratstitels nutzte Friedrich intensiver als zuvor zur Integration von Herrschaftsträgern und zur Rekrutierung von Fachleuten. Mit 81 Personen unter den Räten dominierte der niedere Adel der Steiermark (über sechzig Prozent), Kärntens (knapp dreißig Prozent) und Krains (zehn Prozent). Zu den Strukturen, die Friedrichs Hof prägten, gehörte die ab 1441/42 bestehende Aufteilung der Herrscherkanzlei in zwei Kanzleien. Die „römische“ Kanzlei (die spätere Reichshofkanzlei) war für die Reichsangelegenheiten und die „österreichische“ Kanzlei für alle erbländischen Belange zuständig. Eine weitere wesentliche Änderung war die Verpachtung der römischen Kanzlei zwischen 1458/1464 und 1475 gegen eine Jahrespauschale. Von der älteren Forschung wurde dies als Zeichen der Unfähigkeit und Trägheit gedeutet, doch findet es eine Erklärung darin, dass sich die Reichskanzlei zu einer kostspieligen Behörde entwickelt hatte. Im 15. Jahrhundert war zwar der Schriftverkehr angestiegen, aber die Parteien verzichteten auf eindrucksvolle Schriftstücke. Bald nach seinem Regierungsantritt ersetzte Friedrich das veraltete Hofgericht durch das moderne Kammergericht. Zwar registrierten die Historiker des 19. Jahrhunderts dies durchaus, doch die Veränderungen und Verbesserungen der Verfahren wurden nicht weiter beachtet. Die zunehmende Verrechtlichung des Reichs zeigt sich in der Integration gelehrter Juristen in den Hof. Eine herausragende Rolle spielten am Hof die Astrologen, darunter mit Georg von Peuerbach einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler des 15. Jahrhunderts. Friedrich beanspruchte für wichtige politische Entscheidungsfindungen die Astrologie. Wohl für keinen anderen Herrscher des Mittelalters besaß die Astrologie eine so große Bedeutung wie für den Habsburger. Burgundisches Erbe Die Vergrößerung der burgundischen Besitzungen, die Philipp betrieben hatte, setzte seit 1467 sein Sohn Karl der Kühne fort. 1468 konnte er das Fürstbistum Lüttich erobern, ein Jahr später verpfändete Sigmund von Tirol ihm für 50.000 Gulden die habsburgischen Besitzungen im Oberelsass, im Breisgau und Sundgau. Karl verpflichtete sich dafür zur Waffenhilfe gegen die Eidgenossen. Das beachtliche Territorium gehörte zu den Gründen, aus denen sich Friedrich stärker dem Westen des Reiches zuwandte. Zwischen Karl und Friedrich kam es zu einer Annäherung. 1473 verhandelten die beiden in Trier über Karls Erhebung zum König und eine Heirat zwischen Friedrichs Sohn Maximilian und Karls Tochter Maria. Das Heiratsprojekt war für Karl wegen der von ihm gewünschten Erhebung Burgunds zum Königreich von größter Bedeutung. Friedrich ermöglichte es die Anwartschaft auf das burgundische Erbe. Die acht Wochen dauernden Verhandlungen scheiterten jedoch. Friedrich belehnte Karl am 6. November zwar mit dem Herzogtum Geldern, doch durch Regelverletzungen Karls im Krönungszeremoniell und durch die enorme Prachtentfaltung des burgundischen Hofes gegenüber dem im Vergleich bescheidenen Auftreten des kaiserlichen Hofes brüskierte Karl das Reichsoberhaupt. Friedrich brach die Verhandlungen am 25. November 1473 abrupt ab und verließ grußlos die Stadt, wodurch er den stolzen Herzog düpierte. Dieser nahm die Streitigkeiten des Kölner Erzbischofs Ruprecht mit dem Domkapitel im Erzstift Köln in der Kölner Stiftsfehde zum Anlass, sich gegen den Kaiser zu stellen und seine Macht auszudehnen. In seinem Streit mit dem Domkapitel hatte der Kölner Erzbischof Karl um Hilfe gebeten. Ab dem 29. Juli 1474 belagerte Karl die Stadt Neuss, die sich an das Domkapitel anlehnte. Die Belagerung der Stadt zog sich bis zum 27. Juni 1475 hin. Diesmal blieb Friedrich als Reichsoberhaupt nicht untätig. In einem Aufgebotsschreiben rief er den Reichskrieg aus. Dabei wurde erstmals die Formel „deutsche Nation“ verwendet: als ir uns, dem heiligen reich, euch selbst und Deutscher nacion zu tunde schuldig seid. Seit den Hussitenkriegen gelang es zum ersten Mal wieder ein Reichsheer aufzustellen. Im Mai 1475 näherte sich das Reichsheer Neuss und zwang den Burgunderherzog zum Abbruch der Belagerung. Friedrich hatte im Reich stark an Ansehen gewonnen und verlieh der Stadt Neuss zahlreiche Privilegien. Doch trotz der militärischen Auseinandersetzung war er weiterhin an einem Eheprojekt mit dem Burgunderherzog interessiert. Auch Karl der Kühne hatte bei den Verhandlungen zum Abbruch der Belagerung sein Entgegenkommen gegenüber dem Kaiser für ein Heiratsprojekt signalisiert. Im November 1475 schlossen Karl und Friedrich Frieden und vereinbarten die Verlobung von Karls Tochter mit Friedrichs Sohn Maximilian. Bereits während der Neusser Belagerung hatte der Lothringer Herzog René II. Karl den Krieg erklärt. René hatte dabei vergeblich auf die Unterstützung Friedrichs und des französischen Königs gehofft. Am 30. November 1475 zog Karl als Sieger in die lothringische Residenzstadt Nancy ein. 1476 entschloss er sich, die Eidgenossen anzugreifen. Gegen sie erlitt er bei Grandson im März 1476 und erneut bei Murten im Juli 1476 vernichtende Niederlagen. Daraufhin konnte René II. sein Herzogtum wieder einnehmen. Im Herbst 1476 fiel Karl erneut in Lothringen ein. Gegen ihn verbündeten sich die Niedere Vereinigung, die Eidgenossen und René II. Nur Friedrich distanzierte sich nicht von Karl. Am 5. Januar 1477 fiel Karl in der Schlacht bei Nancy. Burgundischer Erbfolgekrieg (1477–1493) Der französische König Ludwig XI. erhob Anspruch auf das Erbe Herzog Karls, das Maria von Burgund zugefallen war. Im Inneren Burgunds, zu dem eine der reichsten Städtelandschaften Europas zählte, tobten besonders in Gent, Brügge und Ypern Aufstände, die sich gegen die äußerst bedrückende zentralistische Herrschaft richteten. Die Stände wollten das alte System mit seinem straffen Zentralismus beseitigen und den ständischen Privilegien wieder Geltung verschaffen. In dieser Bedrängnis wollte Maria den letzten Willen ihres Vaters umsetzen und hoffte außerdem, dass ein Habsburger sich in Burgund durchsetzen würde. Tatsächlich wurde am 21. April 1477 in Brügge die Trauung per Stellvertreter durchgeführt, in Gent heirateten am 19. August 1477 Maximilian und Maria von Burgund. Dadurch fiel dem Habsburger das überaus reiche burgundische Erbe zu. Am 19. April 1478 legitimierte Friedrich die Herrschaft des Ehepaares, indem er ihm die burgundischen Reichslehen übertrug. Die Geburt Philipps 1478 und Margaretes 1480 sicherte zudem die dynastische Kontinuität. Als Fremder hatte Maximilian allerdings erhebliche Schwierigkeiten, in Burgund anerkannt zu werden. Für Friedrich rückte die Türkenabwehr wieder in den Vordergrund. Er zog sich in seine Erblande zurück und blieb für Jahre in Graz und Wien. Zur Festigung der habsburgischen Herrschaften stellten Maria und Maximilian ihre Urkunden gemeinsam aus und nannten sich Herzöge von Österreich und Burgund. 1482 starb Maria überraschend bei einem Jagdunfall, was die Legitimation des habsburgischen Erbes schlagartig wieder in Frage stellte. Ihr früher Tod ermöglichte es Frankreich, erneut Ansprüche auf das Erbe zu erheben. Der französische König ließ den südlichen Machtbereich Karls besetzen. Die Vormundschaft über die Kinder musste Maximilian gegenüber dem Anspruch der niederländischen Stände behaupten. Der französische König bemühte sich um eine Ehe zwischen Margarete und dem Dauphin. Maximilian wurde schließlich von den Generalständen zum Frieden mit Frankreich gezwungen. Nach den Bestimmungen des Friedens von Arras vom 23. Dezember 1482 sollte Margarete mit dem französischen Thronfolger verlobt und zur Erziehung sofort an den französischen Hof gebracht werden. Die Vormundschaft über Philipp sollten die niederländischen Stände übernehmen. Dadurch hätte Maximilian für seine Herrschaft jegliche Rechtsgrundlage verloren. Die Genter hatten Maximilians Kinder in ihre Gewalt gebracht. In dieser angespannten Situation musste Maximilian einlenken und nahm den Vertrag im März 1483 an. Friedrich konnte seinen Sohn nicht unterstützen, da Corvinus seine Expansion auf den Donauraum ausdehnte. Maximilian gelang es bis 1485 zwar, die ständische Opposition in Brügge und Gent zu unterwerfen, doch am 5. Februar 1488 wurde er im Verlaufe einer neuerlichen Aufstandsbewegung in Brügge gefangen genommen. Friedrich erfuhr von der Inhaftierung seines Sohnes erst am 6. März in Innsbruck. Ab Mai rückte der Kaiser mit einem Reichsheer vor, doch bevor Friedrich Brügge erreichte, wurde Maximilian freigelassen. Nach einem erfolgreich verlaufenen Feldzug Maximilians in der Freigrafschaft Burgund signalisierte der französische König Friedensbereitschaft. Im Frieden von Senlis vom 23. Mai 1493 sicherten sich die Habsburger das Erbe Karls des Kühnen mit Ausnahme einiger französischer Grafschaften und des Herzogtums Burgund. Auseinandersetzung mit dem Ungarn Matthias Corvinus Während der schweren Auseinandersetzungen im Westen wurden die Habsburger zugleich im Osten bedroht. Das Verhältnis zu Matthias Corvinus hatte sich rapide verschlechtert. Corvinus wollte eine Revision des Vertrages von 1463, der Friedrich beim Fehlen von Nachkommen des ungarischen Königs die Nachfolge zusicherte. Dies lehnte Friedrich ab. Der Tod des böhmischen Königs Georg von Podiebrad 1471 schuf neue politische Konstellationen. Friedrich ging 1476 ein Bündnis mit dem polnischen Königssohn Wladislaw ein und belehnte ihn 1477 mit dem Königreich Böhmen. Matthias, der Böhmen ebenfalls beanspruchte, musste sich mit der Herrschaft über Mähren abfinden. 1477 fiel Matthias Corvinus mit dem Ziel der Vereinigung von Ungarn, Böhmen und Österreich in die habsburgischen Lande ein. Am 21. Juli 1478 schloss Corvinus mit Wladislaw in Olmütz Frieden. Beide konnten sich fortan als König von Böhmen bezeichnen. Corvinus konzentrierte sich von nun an auf die Auseinandersetzung mit dem Kaiser. Friedrich gelang es nicht, die Kurfürsten und sonstigen Reichsstände für militärische Hilfe zu gewinnen. Seit 1480 blieb Friedrich über Jahre in Wien. Im Frühjahr 1483 wich er nach Wiener Neustadt aus. Nach zehn Jahren Abwesenheit war Friedrich seit 1485 für vier Jahre im Reich unterwegs, um bei den Reichsfürsten und Reichsstädten Hilfe gegen den Ungarn zu finden. 1485 konnte Matthias Wien erobern. Er nahm den Titel „Erzherzog von Österreich“ an. Im August 1487 gelang ihm auch die Einnahme von Wiener Neustadt, der Kaiserresidenz und wichtigsten Stadt im östlichen Niederösterreich. Friedrich musste zunächst nach Graz und zeitweise in das oberösterreichische Linz ausweichen. Durch einen Waffenstillstand mit dem Ungarn verschaffte sich der Kaiser den nötigen Freiraum, um seinen Sohn aus der Brügger Haft zu befreien. Am 6. April 1490 starb Matthias in Wien an einem Schlaganfall und hinterließ keinen legitimen Erben. Dadurch konnte Friedrich die vom Ungarn besetzten Gebiete zurückgewinnen. Friedrich hatte jedoch trotz des Festhaltens am Erbvertrag von 1463 für die Königsnachfolge in Ungarn keinen Erfolg. Die Ungarn wählten am 15. Juli 1490 den böhmischen Herrscher Wladislaw zum ungarischen König. Wegen des Konflikts mit dem französischen König im Westen begann Friedrich Friedensverhandlungen mit Wladislaw. Im Pressburger Friedensvertrag vom 7. November 1491 konnten die Habsburger ihre territoriale Machtbasis im Osten gegenüber Ungarn sichern. Wladislaw wurde als ungarischer König anerkannt, doch sollte sein Reich beim Fehlen von Erben an Maximilian übergehen. Friedrich und Maximilian durften außerdem den ungarischen Königstitel führen. Die Möglichkeit der habsburgischen Erbfolge sollte sich 1526 verwirklichen. Königswahl Maximilians und wittelsbachische Expansionspolitik Nicht nur die ungarische Expansion in den österreichischen Erblanden erschwerte die Herrschaft Friedrichs, sondern auch die wittelsbachische Expansionspolitik im süddeutschen Raum. Albrecht IV. versuchte die Reichsstadt Regensburg gegen den Willen Friedrichs seiner Landesherrschaft einzugliedern. In dieser schwierigen Situation sicherte Friedrich im Jahr 1486 die Nachfolge des Sohnes zu seinen eigenen Lebzeiten; seit der Wahl Wenzels 1376 durch Karl IV. war dies keinem spätmittelalterlichen römisch-deutschen König mehr gelungen. Irrig ist die in der älteren Forschung herrschende Meinung, die Kurfürsten und Maximilian hätten die Königswahl gegen den Willen des alten Kaisers durchgesetzt. Am 16. Februar 1486 wurde Maximilian auf dem Frankfurter Reichstag von den sechs anwesenden Kurfürsten einstimmig zum römisch-deutschen König gewählt. Der Kurfürst von Böhmen wurde nicht eingeladen, da auf das böhmische Kurrecht möglicherweise der ungarische König Corvinus Anspruch erhoben hätte. Die Wahl Maximilians verstieß damit gegen die Vorschriften der Goldenen Bulle. Proteste gegen die unregelmäßige Wahl blieben im Reich aber aus. Aus Angst, die Kurfürsten könnten die politische Unerfahrenheit seines Sohnes ausnutzen, stattete Friedrich Maximilian nicht mit Regierungsbefugnissen aus. Anlässlich der Königswahl Maximilians wurde ein zehnjähriger Landfrieden beschlossen. Zur Sicherung des Landfriedens und gegen die expansive Territorialpolitik der Wittelsbacher schlossen sich 1488 zahlreiche betroffene reichsunmittelbare Stände Schwabens auf Friedrichs Initiative zum Schwäbischen Bund zusammen. Nach der Königswahl begleitete Friedrich seinen Sohn nach Aachen. Am 9. April wurde Maximilian dort zum König gekrönt. Seit 1486/87 verschärften sich die Spannungen zwischen Habsburgern und Wittelsbachern. 1486 unterstellte sich Regensburg der Herrschaft Albrechts IV. Im Januar 1487 heiratete Herzog Albrecht gegen den Willen des Kaisers dessen Tochter Kunigunde. Außerdem gelang es Albrecht 1487, mit seinem Vetter Georg von Bayern-Landshut die österreichischen Vorlande mit Ausnahme Vorarlbergs von Sigmund von Tirol für die geringe Summe von 50.000 Gulden zu kaufen. Mit dem Verkauf fast der gesamten vorderösterreichischen Vorlande erreichte die wittelsbachische Expansion ihren Höhepunkt. 1488 reiste Friedrich deshalb nach Innsbruck. Die Verpfändung des habsburgischen Landes musste Sigmund widerrufen. Die für den Verkauf verantwortlich gemachten Räte wurden wegen Majestätsverbrechen geächtet und mit Güterkonfiskation bestraft. Herzog Georg gab unter Kriegsandrohung des Schwäbischen Bundes seine Ansprüche auf die Markgrafschaft Burgau und Vorlande auf. Auf dem Innsbrucker Landtag am 16. März 1490 setzte Maximilian durch, dass Sigmund zu seinen Gunsten gegen eine Jahresrente von 52.000 Rheinischen Gulden auf die Herrschaft verzichtete. Mit Sigmunds Tod erlosch die Tiroler Linie 1496. Herzog Albrecht setzte seinen Widerstand zunächst fort, musste aber schließlich kapitulieren. Regensburg wurde wieder Reichsstadt. Außerdem musste Albrecht alle möglichen Erbansprüche durch seine mit Kunigunde geschlossene Ehe aufgeben. Erst dann akzeptierte Friedrich ihn als Schwiegersohn. Rückzug ins Kernland, Tod, Beisetzung in Wien ] In seinen letzten Lebensjahren blieb Friedrich in der Region an der Donau, in Wien und in Linz. 1492 wurde er zum Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies gewählt. Seit Februar 1493 verschlechterte sich Friedrichs Gesundheitszustand zunehmend. In der Fastenzeit des Jahres 1493 diagnostizierten Friedrichs Leibärzte beim Kaiser im linken Bein ein in der Forschungsliteratur meist als Altersbrand bezeichnetes Symptom, das gemäß der heutigen medizinischen Terminologie als Folge einer Arteriosklerose angesehen wird. Am 8. Juni 1493 wurde ihm unter Leitung des Wundarztes Hans Seyff in der Linzer Burg der von der Krankheit betroffene Bereich des Beines amputiert. Diese Beinamputation wird zu den berühmtesten und am besten dokumentierten chirurgischen Eingriffen des gesamten Mittelalters gezählt. Zwar überstand Friedrich den Eingriff zunächst gut, doch starb er am 19. August 1493 in Linz. Die Zeitgenossen nannten als Todesursache die Folgen der Beinamputation, Altersschwäche oder ruhrartige Durchfälle durch Melonengenuss. Seine Eingeweide wurden wohl am 24. August 1493 in der Linzer Stadtpfarrkirche getrennt beigesetzt. Durch die Türkeneinfälle in Kärnten und der Krain verzögerte sich die Ankunft Maximilians und damit auch die Beisetzungsfeier. Am 6. und 7. Dezember 1493 fand das Begräbnis im Stephansdom statt. Sein Grabdenkmal im Stephansdom hatte Friedrich bereits 1467 beim Bildhauer Niclas Gerhaert van Leyden in Auftrag gegeben. Das Grabmal wurde 1513 vollendet und ist bis heute im ursprünglichen Zustand erhalten. Es gilt als ein Höhepunkt mittelalterlicher Herrscherikonographie. Wirkung Beurteilung durch die Zeitgenossen Durch die Verwendung von Papier und die sich weiter verbreitende Schreib- und Lesefähigkeit nahm die Schriftlichkeit im 15. Jahrhundert zu. Deutlich wird dies etwa an der hohen Zahl der Urkunden. Für Friedrich III. schätzt man die Gesamtzahl der überlieferten Urkunden auf 30.000 bis 50.000 Exemplare. Ebenso wurden mehr Akten und Stadtchroniken verfasst. Viele Ereignisse in Friedrichs Leben werden von Geschichtsschreibern seines Hofes überliefert. Seine Absicht war es, die Geschichte Österreichs aufzuwerten und ihre Höhepunkte herauszustellen. Von seinen Geschichtsschreibern verlangte er, seine Biografie in die Geschichte des Kaisertums und Österreichs einzubetten. Die Darstellung der österreichischen Geschichte in der Wappenwand von Wiener Neustadt sollte daran erinnern, wie bedeutsam die Vergangenheit des Landes und seiner Fürsten war. Friedrich gab außerdem den Auftrag, die Geschichte Österreichs mit der Chronik („Chronik der 95 Herrschaften“) Leopolds neu zu schreiben. Er gewann dafür den führenden Gelehrten Thomas Ebendorfer von der Wiener Universität. 1440 wurde Ebendorfer Berater Friedrichs. 1451 wurde das Werk dem Herrscher offiziell überreicht. Die Historiographie konzentrierte sich auf die erste Hälfte der Regierungszeit bis 1462/63. Die Historia Austrialis des Eneas Silvius Piccolomini ist eine der wichtigsten erzählenden Quellen zur Reichsgeschichte des 15. Jahrhunderts. Piccolomini trat Ende 1442 in die königliche Kanzlei ein. Bis Mai 1455 gehörte er zum engsten Umfeld Friedrichs und war dadurch an vielen geschilderten Ereignissen persönlich beteiligt. Piccolomini und Ebendorfer starben jedoch bereits 1464 und erlebten so nicht mehr die letzten dreißig Regierungsjahre mit ihren entscheidenden Erfolgen. Erst unter Maximilian lebte die Geschichtsschreibung wieder auf. Zwar wies Maximilian seine Höflinge an, auch die Epoche Friedrichs zu würdigen, doch wünschte er Betonung seiner eigenen Erfolge gegenüber den Verdiensten seines Vaters. So erschien Maximilian als Wegbereiter einer neuen Zeit, während sein Vater in Vergessenheit geriet. Für die zukünftige Beurteilung Friedrichs war neueren Arbeiten zufolge bedeutsam, dass schon zu Lebzeiten Weissagungen über einen „dritten Friedrich“ kursierten, der aus seinem Schlummer erwachen würde und Jerusalem von den Heiden befreien würde. Diese Sage wurde im 15. Jahrhundert dazu benutzt, Friedrich III., der in der Türkenkreuzzugsfrage inaktiv blieb und zahlreiche Feinde unter den Reichsfürsten hatte, persönlich zu diskreditieren. Absicht war es dabei, eine Grundstimmung herbeizuführen, die fürstlichen Absetzungsplänen gelegen kam. Da Friedrich im Unterschied zu Herrschern früherer Jahrhunderte wenig reiste, ein intensives Aktenstudium betrieb, der Geheimniswahrung sowie dem persönlichen Regiment in Regierungsgeschäften den Vorzug gab und seinen Räten aus persönlichem Grundsatz misstraute, taten sich seine Gegner nicht schwer, diesem ein abnormes, zurückgezogenes, „knausriges“ Verhalten zu unterstellen, was umso leichter fiel, als es dem Fürsten lange Zeit aus finanziellen Gründen nicht möglich war, einen Repräsentationsstil zu pflegen, der eines Reichsoberhauptes würdig war. Forschungsgeschichte Die damit einhergehende Vorstellung eines inaktiven Kaisers hat seitdem die Jahrhunderte überdauert und rund 400 Jahre danach aus unterschiedlichen Gründen eine Renaissance erfahren. So titulierte bereits der Aufklärer und Absolutismuskritiker Friedrich Carl von Moser Friedrich als „Schlafmütze“ des Reiches. Bei den österreichischen Historikern stieß er vor allem in der napoleonischen Ära bzw. im Vormärz auf biographisches Interesse. Franz Kurz, Joseph Chmel oder Eduard von Lichnowsky erschien die eigene Zeit als krisenbehaftet und lethargisch. Der „träge“ Friedrich erlangte insofern als Kontrastfigur zu Maximilian I. Aufmerksamkeit, indem er auf eine erfolgreichere Ära hinzuführen schien. Ein weiterer wichtiger Grund für die negative Sichtweise auf Friedrich III. liegt darin, dass das Spätmittelalter in der protestantisch-kleindeutschen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als Epoche des Zerfalls galt, da mit dem Ende der Staufer der Ausbau der Territorien und die Macht der Fürsten gegenüber der Macht des Königs ständig zunahmen. Die spätmittelalterlichen Herrscher galten als schwach und die Fürsten als eigensüchtig. Das 15. Jahrhundert lag zwischen der vermeintlichen Kaiserherrlichkeit im Hochmittelalter und den Einheitsträumen des 19. Jahrhunderts. Es galt als ein Zeitalter kirchlicher und religiöser Missstände und war allenfalls für die Begründung der Reformation von Bedeutung. Nach der älteren Forschung hat Friedrich nicht die Geschicke des Reiches gelenkt, sondern sich im politischen Abseits der Steiermark wie ein Privatmann der Pflanzenzucht gewidmet. Der Habsburger galt als „ein kauziger, unritterlicher, konfliktscheuer und geiziger, von gänzlich armseligen Interessen geprägter und auf seinen häuslichen Palast reduzierter Phlegmatiker“. Durch die Schwäche des Kaisers und den Egoismus der Fürsten sei das Reich innerlich zerrissen und nach außen machtlos gewesen. Die Pervertierung der einst so glorreichen Geschichte der deutschen Kaiserzeit unter den Ottonen, Saliern und Staufern habe mit Friedrich ihre am schlimmsten ausgeartete Form angenommen. Georg Voigt schilderte Friedrich in seiner 1856 veröffentlichten vielbeachteten Biografie des Enea Silvio Piccolomini als dummen und unfähigen Herrscher. Sein Charakter sei von „Verlegenheit, Scheu und Geiz, Passivität, Unentschlossenheit sowie Armseligkeit der Interessen geprägt“ gewesen. Der langjährige Leiter des Wiener Hofkammerarchivs Franz Grillparzer vermerkte über den Habsburger: „Das macht diesen Friedrich so ekelhaft, dass, indes seine Feigheit ihn zu jeder Lösung untüchtig machte, seine Habsucht ihn in immer neue Verwicklungen hineinzog.“ Friedrich wurde durch seine vermeintliche Trägheit und Untätigkeit zur bis heute verbreiteten Bezeichnung „Heiligen Römischen Reiches Erzschlafmütze“ herabgewürdigt. Alle diese negativen Urteile basierten wesentlich auf einer viel zu schmalen Quellenbasis. Nach damaliger Einschätzung verfügte man mit den etwa 8000 Urkunden und den Urteilen der auf die erste Regierungshälfte konzentrierten Historiographie über den gesamten Schriftbestand. Im 20. Jahrhundert widmete der österreichische Historiker Alphons Lhotsky Friedrich größere Aufmerksamkeit. Als einer der besten Kenner dieses Herrschers nahm er eine vorsichtige Rehabilitierung des Habsburgers vor. Lhotsky räumte jedoch dem Zusammenbruch des Konziliarismus, der Hinwendung zu Burgund und der Spätzeit Friedrichs zu wenig Bedeutung ein. Friedrich Baethgen warf 1970 im Handbuch der deutschen Geschichte („Gebhardt“) dem Herrscher „Provinzialisierung“ vor. Durch diese politische Provinzialisierung könne man während der Regierungszeit Friedrichs III. von einer „einheitlichen Reichsgeschichte nicht mehr sprechen“. Seit den 1970er Jahren hat sich die Mediävistik stärker dem Spätmittelalter zugewendet. Kein Jahrhundert wird in jüngster Zeit so intensiv erforscht wie das fünfzehnte. Es wird jetzt weniger als eine Zeit krisenhafter Entwicklungen, vielmehr als eine Epoche der Übergänge, der „offenen“ Verfassungszustände und der Neuansätze begriffen. Dies beeinflusst auch die Beurteilung der langen Herrschaftsperiode Kaiser Friedrichs III. Seit 1982 werden seine Urkunden nach dem Provenienzprinzip, nach Archiven und Bibliotheken geordnet, publiziert. 1993 jährte sich Friedrichs Todestag zum 500. Mal. Zum Jubiläum wurde ein Sammelband herausgegeben. In der breiteren Öffentlichkeit wurde der Todestag allerdings kaum wahrgenommen. Ausstellungen und Gedenkschriften blieben weitgehend aus. Studien zu Friedrichs Regierungspraxis und der seines Hofes von Heinrich Koller und Paul-Joachim Heinig relativieren das Verdikt der älteren Forschung. Auf Grundlage der fortschreitenden Erschließung des Quellenmaterials kamen diese Historiker zu der Schlussfolgerung, dass Friedrich wie kaum einer seiner Vorgänger durch Diplome und Mandate in die Reichspolitik eingegriffen hat. Die Spätzeit Friedrichs III. nimmt somit geradezu eine verfassungsgeschichtliche Scharnierfunktion auf dem Weg des Reiches vom Mittelalter in die Neuzeit ein. Einen ganz wesentlichen Beitrag für den Paradigmenwechsel in der Beurteilung Friedrichs stellt das Monumentalwerk von Paul-Joachim Heinig aus dem Jahr 1997 dar. Sind von beiden Wissenschaftlern wesentliche Impulse ausgegangen, folgen sie insofern der älteren Forschungstradition, als auch für sie das Reich im Zentrum ihrer Studien steht. Neuere Forschungen konzentrieren sich auf die Erblande und die dynastische Politik des Herrschers. Aus ihnen wird ersichtlich, dass die Hausinteressen des Kaisers meist den Vorrang vor denen des Reiches hatten. Sie kommen zu dem Schluss, dass Friedrich III. mit „bemerkenswertem Realismus“ und „großer Elastizität“ inmitten eines sehr problematischen politischen Umfelds agiert habe. Im Unterschied zu seinem Sohn Maximilian I. sei Friedrich bei der Bewertung politischer Verhältnisse umsichtiger gewesen. Dies erkläre auch, wieso er trotz einer viel schwierigeren Ausgangslage letztlich doch erfolgreich gewesen sei. Quellen Historiographie Thomas Ebendorfer: Chronica Austriae. Herausgegeben von Alphons Lhotsky (MGH SS rer. Germ. NS 13), Berlin 1967, ISBN 3-921575-40-0 (online). Joseph Grünpeck: Die Geschichte Friedrichs III. und Maximilians I. (Die Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit, 15. Jahrhundert, Bd. 3. Übersetzung von Theodor Ilgen), Leipzig 1891. Eneas Silvius Piccolomini: Historia Austrialis. Bd. 1: Einleitung von Martin Wagendorfer; 1. Redaktion, herausgegeben von Julia Knödler; Bd. 2: 2. und 3. Redaktion, herausgegeben von Martin Wagendorfer (MGH SS rer. Germ. NS 24.1–2), Hannover 2009, ISBN 978-3-7752-0224-4 (Rezension). Urkunden und Briefe Regesta chronologico-diplomatica Friderici III. Romanorum imperatoris (regis IV.). Bearb. von Joseph Chmel, Wien 1838–1840; (dazu) Registerband, bearbeitet von Dieter Rübsamen und Paul-Joachim Heinig (RI Sonderband 1), Wien/Weimar/Köln 1992, ISBN 3-205-98020-4 (online). Neubearbeitung Regesten Kaiser Friedrichs III. (1440–1493). 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https://de.wikipedia.org/wiki/Titan%20%28Mond%29
Titan (Mond)
Titan (auch Saturn VI) ist mit einem Durchmesser von 5150 Kilometern der größte Mond des Planeten Saturn, weshalb er nach dem Göttergeschlecht der Titanen benannt wurde. Er ist ein Eismond, nach Ganymed der zweitgrößte Mond im Sonnensystem und der einzige mit einer dichten Gashülle. Titan wurde 1655 vom niederländischen Astronomen Christiaan Huygens entdeckt. Beobachtungen von der Erde und vom Weltraumteleskop Hubble aus erweiterten das Wissen über ihn, insbesondere jedoch Vorbeiflüge einiger Raumsonden seit 1979. Die informativsten Bilder und Messdaten sind bei der Landung der Sonde Huygens im Jahre 2005 erfasst worden. Obwohl die Oberflächentemperatur des Titan weitaus niedriger ist als die der Erde, gilt er hinsichtlich der dichten, stickstoffreichen Atmosphäre und des Auftretens von Flüssigkeit als der erdähnlichste Himmelskörper des Sonnensystems. Seine Gashülle ist auf der Oberfläche etwa fünfmal so dicht und der Druck etwa 50 % höher als auf der Erde. Sie besteht überwiegend aus Stickstoff und enthält Kohlenwasserstoffe sowie Spuren anderer organischer Verbindungen. Die Oberfläche und die oberste Schicht des Mantels sind aus Eis und Methanhydrat. Für Leben an der Oberfläche, das auf Wasser basiert, kreist Saturn mit seinen Monden in einer viel zu kalten Gegend um die Sonne (außerhalb der habitablen Zone). Vorstufen von Leben werden jedoch nicht ausgeschlossen. Unterhalb der Oberfläche befindet sich möglicherweise ein Ozean mit flüssigem Wasser, obgleich die Temperaturen dort unter 0 °C liegen. Physikalische Daten Auf Titan entfallen über 95 % der Gesamtmasse aller Saturnmonde. Diese enorme Massekonzentration unter den Saturnsatelliten in einem einzelnen Körper hat zu Fragen über seine Entstehung geführt. Es ist noch ungeklärt, ob Titan in einer Materieansammlung des Sonnennebels, die Saturn formte, als nativer Mond entstand oder ob er sich an einem anderen Ort bildete und später durch Saturns Schwerkraft eingefangen wurde und somit in seine Umlaufbahn gelangte, wie es bei Neptuns Mond Triton der Fall war. Die letztere Hypothese könnte die ungleiche Massenverteilung von Saturns Monden erklären. Titan besitzt mit 1,88 g/cm³ auch die höchste Dichte aller größeren Saturnmonde, obwohl er ähnlich wie diese zusammengesetzt ist. Umlaufbahn Titan umrundet Saturn in einem mittleren Abstand von 1.221.850 Kilometern (20,3 Saturnradien) und somit außerhalb der Saturnringe, die im sichtbaren Teil (E-Ring) bei etwa 480.000 Kilometern enden, aber bis zu einem Radius von etwa 960.000 Kilometer reichen. Die Umlaufbahnen seiner beiden nächsten Nachbarmonde liegen 242.000 Kilometer weiter außen (Hyperion) und 695.000 Kilometer weiter innen (Rhea). Ein resonanznahes Umlaufverhältnis besteht zu Hyperion, der während vier Titanumläufen knapp dreimal (2,998) den Planeten umkreist. Ein Umlauf dauert 15 Tage, 22 Stunden und 41 Minuten bei einer mittleren Bahngeschwindigkeit von 5,57 km/s. Die Umlaufbahn bildet keinen exakten Kreis, sondern weist eine numerische Exzentrizität von 0,029 auf, was für einen großen Mond ein relativ hoher Wert ist. Die Bahnebene von Titan weicht um 0,33° von der Äquatorebene Saturns und seiner Ringe ab. Saturns Rotationsachse ist gegenüber der Ekliptik um 26,73° geneigt (zum Vergleich: Erdachse 23,4°). Dadurch entstehen auf dem Planeten und allen seinen Satelliten auf ihren jeweiligen Nord- und Südhalbkugeln die vier Jahreszeiten, dort jedoch für jeweils 7½ Erdjahre, da ein Saturnjahr (Umlauf um die Sonne) fast 30 Jahre dauert. Der erste Sommer des dritten Jahrtausends ging auf der Südhalbkugel des Titan im August 2009 zu Ende. Das Baryzentrum von Saturn und Titan ist infolge der 4227-fachen Masse des Planeten nur 290 Kilometer vom Saturn-Mittelpunkt entfernt. Ring aus Wasserstoff um die Umlaufbahn Die Umlaufbahn von Titan liegt innerhalb eines ca. 1 Mio. km breiten Ringes aus ungeladenem Wasserstoff; in diesem Ring kommt auch Sauerstoff vor. Der Wasserstoff stammt höchstwahrscheinlich aus der Titanatmosphäre. Rotation Titan hat eine an den Umlauf gebundene Rotation. Das bedeutet, dass immer dieselbe Seite dem Planeten zugewandt ist, wie es auch beim Erdmond und allen anderen großen Trabanten der Fall ist. Er rotiert somit in der gleichen Zeit und mit dem gleichen Drehsinn seines Saturnumlaufs – von West nach Ost – in 15 Tagen, 22 Stunden und 41 Minuten um seine Achse. Am Äquator entspricht das einer Geschwindigkeit von knapp 12 m/s. Seine Rotationsachse weicht von der Achse seiner Bahnebene um 0,3° ab. Größe, Masse und Albedo Mit einem mittleren Durchmesser von 5150 Kilometern ist Titan der zweitgrößte Mond im Sonnensystem und liegt bezüglich Masse, Dichte und Durchmesser zwischen den Jupitermonden Ganymed und Kallisto. Von der Erde aus erschien es lange Zeit so, dass Titan etwa 5550 Kilometer Durchmesser hätte und damit größer sei als Ganymed. Doch die Erkundung durch Voyager 1 offenbarte 1980 die ausgeprägte und undurchsichtige Gashülle, weshalb zuvor der Durchmesser des festen Körpers überschätzt worden war. Titan ist etwa 50 % größer und 80 % massereicher als der Erdmond. Er ist zudem größer als der kleinste Planet Merkur, aber weit weniger massereich als dieser. Die Oberfläche von Titan ist so groß wie die der Kontinente Europa, Asien und Afrika zusammen. An seiner Oberfläche herrscht eine Fallbeschleunigung von 1,35 m/s². Dies ist knapp ein Siebtel der Fallbeschleunigung auf der Erdoberfläche (9,81 m/s²) und etwas weniger als diejenige auf der Oberfläche des Erdmondes (1,62 m/s²). Titan ist groß genug, um seine Entstehungswärme noch nicht verloren zu haben, und besitzt im Inneren Wärmequellen in Form radioaktiver Nuklide in Mineralien (beispielsweise Kalium-40, Uran), so dass seine Temperatur mit zunehmender Tiefe ansteigt (Temperaturgradient). Sehr wahrscheinlich ist das Innere von Titan geologisch aktiv. Die Dunstschicht der Gashülle verleiht ihm eine niedrige geometrische Albedo von 0,22; das heißt, nur 22 % des eingestrahlten Sonnenlichtes werden reflektiert. Die sphärische Albedo beträgt 0,21. Aufbau Der feste Körper von Titan setzt sich etwa zur Hälfte aus einem Mantel von Wassereis und zur anderen Hälfte aus einem Kern von silikatischem Gestein zusammen. Damit dürfte er ähnlich aufgebaut sein wie die Jupitermonde Ganymed und Kallisto und der Neptunmond Triton und möglicherweise auch der Zwergplanet Pluto. Er unterscheidet sich jedoch von ihnen durch seine Gashülle. Atmosphäre Im Sonnensystem ist Titan unter den Planeten und Monden seiner Größenklasse der einzige Himmelskörper mit einer dichten und wolkenreichen Atmosphäre. Der spanische Astronom Josep Comas i Solà äußerte nach seinen teleskopischen Beobachtungen im Jahre 1908 als erster die Vermutung, dass der Mond von einer Gashülle umgeben ist, da die winzige Titanscheibe am Rand dunkler sei als im Zentrum. Der Nachweis dafür wurde jedoch erst im Jahre 1944 von dem US-amerikanischen Astronomen Gerard Kuiper mittels spektroskopischer Untersuchungen erbracht. Dabei wurde der Partialdruck des Kohlenwasserstoffs Methan zu 100 mbar bestimmt. Untersuchungen mittels der Voyager-Sonden haben ergeben, dass der atmosphärische Druck auf Titans Oberfläche circa 1,5 bar betrage und somit um rund 50 % höher sei als der auf der Erdoberfläche. Unter Berücksichtigung der geringen Schwerkraft und Oberflächentemperatur bedeutet dies, dass sich über jedem Quadratmeter Titanoberfläche zehnmal so viel Gas wie auf der Erde befindet und ihre Dichte in Bodennähe fünfmal so groß ist. Die gesamte Masse der Gashülle ist etwa 1,19-mal so groß wie die der – wesentlich größeren – Erde. Interaktion mit dem Sonnenwind Titan wird von Saturns Magnetosphäre vor dem Sonnenwind geschützt. Wenn aber der Sonnenwind besonders stark ist, wird Saturns Magnetosphäre auf der sonnenzugewandten Seite des Planeten unter die Umlaufbahn von Titan zusammengedrückt, so dass Titan dem Sonnenwind ausgesetzt wird, wenn er diese Stelle passiert. Da Titan kein eigenes Magnetfeld hat, kann der ungehindert in die Titanatmosphäre eindringende Sonnenwind deshalb unter anderem kleine Mengen der Titanatmosphäre davonblasen. Ursprung und Materienachschub Die Stickstoffatmosphäre ist aus Ammoniak (NH3) entstanden, das aus dem Mond ausgaste und durch energiereiche UV-Anteile der Sonnenstrahlung unterhalb 260 nm (entsprechend der Bindungsenergie von 460 kJ/mol) in Stickstoff- und Wasserstoffatome aufgespalten wurde, die sich sofort zu Stickstoffmolekülen (N2) und Wasserstoffmolekülen (H2) verbanden. Der schwere Stickstoff sank unter das leichtere Ammoniak, der extrem leichte Wasserstoff entwich in den Weltraum; er kann sich auf Titan wegen der geringen Anziehungskraft nicht ansammeln. Nach einer neuen Theorie entstand die Atmosphäre, als Einschläge des großen Bombardements die Oberfläche aus Ammoniakeis zertrümmerten und daraus Stickstoff freisetzten. Darauf deutet die geringe innere Differenzierung von Titan und die Isotopenzusammensetzung des Argon in der Atmosphäre hin. Die Huygens-Sonde hat zudem Mengenverhältnisse der Isotope von N und C gemessen. Das Isotopenverhältnis von 14N zu 15N legt nahe, dass ursprünglich die fünffache Menge an Stickstoff vorhanden war und das etwas leichtere 14N überwiegend in das Weltall diffundierte. Das Mengenverhältnis von 12C zu 13C lässt darauf schließen, dass Methan in der Gashülle kontinuierlich neu gebildet wird. Schichtenaufbau Titans Atmosphäre reicht etwa zehnmal so weit in den Weltraum hinein wie die der Erde. Die Grenze der Troposphäre liegt in einer Höhe von circa 44 Kilometern. Hier wurde auch das Temperaturminimum der Atmosphäre von −200 °C ermittelt. Danach steigt die Temperatur wieder an und liegt in 500 Kilometern Höhe bei −121 °C. Die Ionosphäre Titans ist komplexer aufgebaut als die der Erde. Die Hauptzone befindet sich in einer Höhe von 1200 Kilometern, allerdings mit einer weiteren Zone aus geladenen Partikeln bei Kilometer 63. Das teilt die Titanatmosphäre zu einem gewissen Maße in zwei Radiowellen zurückwerfende Kammern. Chemie der Atmosphäre Die einzigen Körper im Sonnensystem, deren Atmosphäre hauptsächlich aus Stickstoff besteht, sind Erde und Titan. Bei Letzterem sind es 95 % Stickstoff und etwa 5 % Methan, das in der oberen Atmosphäre aufgrund seiner geringen Dichte (57 % von Stickstoff) vorherrscht. Außerdem finden sich Spuren von mindestens einem Dutzend anderer organischer Verbindungen, unter anderem Ethan, Propan, Ethin und Cyanwasserstoff. Helium, Argon, Kohlenstoffdioxid und Wasser wurden ebenfalls gefunden, jedoch praktisch kein freier Sauerstoff. Da Titan kein nennenswertes Magnetfeld besitzt, ist seine Atmosphäre besonders an ihrem äußeren Rand direkt dem Sonnenwind ausgesetzt. Außerdem unterliegt sie der Einwirkung der kosmischen Strahlung sowie der Sonneneinstrahlung, wovon chemisch der bereits erwähnte UV-Anteil von Bedeutung ist. Von solchen energiereichen Materieteilchen oder Photonen getroffene Stickstoff- und Methanmoleküle werden in Ionen oder sehr reaktive Radikale aufgespalten. Diese Bruchstücke gehen mit anderen Molekülen neue Bindungen ein, wobei sie komplexe organische Stickstoffverbindungen, die oben genannten Kohlenstoffverbindungen und verschiedene polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe bilden. Auf diese Weise entstehen in der oberen Titanatmosphäre auch Polyine mit Dreifachbindungen. Die polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffe können auch Stickstoff enthalten und verklumpen zu den Aerosolen. Tholine Die schwereren Moleküle sinken langsam in tiefere Schichten der Atmosphäre und bilden den orangefarbenen Nebel, welcher den Saturnmond einhüllt. Der Astrophysiker Carl Sagan prägte für dieses Gemisch von Verbindungen mit noch unbekannter Zusammensetzung den Begriff „Tholin“. Er vermutete zudem eine Schicht solcher Moleküle auf der Oberfläche Titans, in der bei Energiezufuhr chemische Reaktionen ablaufen könnten, die jenen in der Urzeit der Erde ähnlich sind und einen Beitrag zur Entstehung des irdischen Lebens geleistet haben. Durch diese Vermutungen wurde der Titan zu einem der interessantesten Schauplätze im Sonnensystem. Während ihres Abstiegs zur Titanoberfläche untersuchten Instrumente der Huygenssonde die Atmosphäre. Mit dem Ionen-Neutral-Massenspektrometer (INMS) konnte nachgewiesen werden, dass der orangefarbene Nebel kleinere und mittelgroße Moleküle enthält. Aufschlussreicher waren die Daten des Cassini-Plasmaspektrometers (CAPS), das eigens für die Untersuchung der Orangefärbung der Atmosphäre mitgeführt wurde und erstmals eine Erklärung für die Bildung von Tholinen lieferte. Es detektierte große, positiv und negativ geladene Ionen. Vor allem die negativ geladenen Ionen spielen vermutlich eine unerwartete Rolle in der Bildung von Tholinen aus kohlenstoff- und stickstoffhaltigen Verbindungen. Leuchten in der Atmosphäre Cassini konnte auf einer 560 Sekunden belichteten Aufnahme von Titan in Saturns Schatten ein schwaches Leuchten in der Atmosphäre feststellen. Das Leuchten im oberen Atmosphärenbereich, 1000 km über der Oberfläche, stammt wahrscheinlich aus der Kollision der Atmosphärenmoleküle mit dem Sonnenwind oder mit Teilchen aus Saturns Magnetosphäre. In nur 300 km Höhe über dem Boden leuchtet die Atmosphäre jedoch stärker. Dieses Leuchten kann nicht so wie in höheren Schichten entstehen, sondern nur durch kosmische Strahlung oder chemische Reaktionen der Atmosphärenbestandteile ausgelöst werden. Meteorologie An der Landestelle des Landers Huygens betrug die vor Ort gemessene Temperatur 93,7 K (−179,45 °C), der Luftdruck betrug 1,47 bar. Aus den Daten von Voyager 1 (November 1980) ließ sich ableiten, dass sich die Temperaturen auf der Oberfläche, täglich und über ein Titan-Jahr (29,5 Erdenjahre) hinweg, nur um wenige Kelvin ändern. Es gibt mehrere recht ähnliche Schätzungen, wobei die maximale Temperatur bei ∼94 K und der Minimalwert bei ∼90 K liegt. Die Temperaturen, die Cassini von 2004 bis 2014 maß, waren am Südpol anfangs 91,7±0,3 K und verringerten sich auf zuletzt 89,7±0,5 K. Am Nordpol hingegen stiegen die Temperaturen im gleichen Zeitraum von 90,7±0,5 K auf 91,5±0,2 K. Bei diesen Temperatur- und Druckverhältnissen sublimiert Wassereis nicht, so dass nur sehr geringe Spuren von Wasser in der Atmosphäre vorhanden sind. Klima In der obersten Atmosphäre führen die Methananteile zu einem Treibhauseffekt, so dass es dort ohne dieses Gas erheblich kälter wäre. Auch der orangefarbene Nebel hat auf die unter ihm liegenden Teile der Atmosphäre klimatische Auswirkungen, die jedoch unterschiedlich gedeutet werden (Paradoxon der schwachen jungen Sonne). So wird in Bezug auf die feste Oberfläche, im Gegensatz zur Erde, von einem Anti-Treibhauseffekt gesprochen. Windsysteme und Superrotation In der oberen Troposphäre rotiert Titans Atmosphäre schneller von Ost nach West als der Mond selbst. Dieses Phänomen wird „Superrotation“ genannt; es ist zum Beispiel ebenso auf der Venus zu beobachten. Im oberen Bereich der bis zu 50 Kilometer hoch reichenden Troposphäre herrschen starke Turbulenzen. Die Windgeschwindigkeit beträgt dort etwa 30 m/s und nimmt nach unten hin stetig ab. Unterhalb von 7 Kilometern ist die Geschwindigkeit der Gasmassen gering. Der Lander Huygens hat während der Durchquerung der Atmosphäre die Luftströmungen gemessen. Eine Simulation auf Basis dieser Winddaten konnte zeigen, dass Titans Atmosphäre in der Stratosphäre in einer einzigen riesigen Hadley-Zelle zirkuliert. Dabei steigt warme Luft in der südlichen Hemisphäre auf und sinkt in der nördlichen wieder ab. Dadurch strömt in großen Höhen der Stratosphäre die Luft von Süden nach Norden und in geringeren Höhen wieder von Norden nach Süden zurück. Im Gegensatz zur Erde, deren Hadley-Zelle und die innertropische Konvergenzzone aufgrund der Ozeane auf das Gebiet zwischen den Wendekreisen beschränkt ist, erstreckt sich das Einflussgebiet beim Titan von Pol zu Pol. Etwa alle 15 Jahre (inklusive einer dreijährigen Übergangszeit), also zweimal je Saturnjahr, kehrt diese Zelle ihre Windrichtung um. Solch eine Hadley-Zelle ist nur auf einem langsam rotierenden Körper wie Titan möglich. Auf Titan gibt es große, kurzlebige Staubstürme, die sich auf Infrarotaufnahmen des Visual and Infrared Mapping Spectrometer (VIMS) der NASA-Raumsonde Cassini als hell aufleuchtende Flecken zeigten. Sie dauern nur wenige Stunden bis Tage. Quelle des Staubes ist der aus Kohlenwasserstoffen bestehende Sand der Titandünen. Alle drei bisher beobachteten Staubstürme lagen über einem der großen Dünenfelder des Titan und hatten eine Ausdehnung von 180.000 bis 420.000 km². Wolken In der Atmosphäre sind Muster von Wolken zu erkennen, die überwiegend aus Methan, aber auch aus Ethan und anderen Kohlenwasserstoffen zusammengesetzt sind und auf die Oberfläche abregnen. Ende 2006 wurde mittels Cassini ein riesiger Wolkenwirbel entdeckt, der mit einem Durchmesser von rund 2400 Kilometern einen Großteil der Nordpolregion überdeckt. Eine Wolke wurde zwar erwartet, jedoch kein Gebilde von dieser Größe und Struktur. Als sich die Sonde zwei Wochen später nochmals Titan näherte, konnte der Wirbel erneut beobachtet werden. Vermutlich bestand er 2006 schon seit einigen Jahren und wird sich erst ein oder zwei Jahrzehnte später auflösen und am Südpol neu entstehen. Nach den Modellen der Forscher unterliegt seine Bildung einem Zyklus, der einem Saturnjahr entspricht, wie es auch bei der Hadley-Zelle der Fall ist. Es handelt sich hierbei unerwartet um polare stratosphärische Wolken aus Methaneis in 30 bis 50 km Höhe. Zuvor ging man davon aus, dass es etwas zu den leuchtenden Nachtwolken der Erde Analoges auf dem Titan nicht gibt. Mitte 2012 wurde von Cassini über Titans Südpol ein neuer Wolkenwirbel aus Aerosolen, ca. 300 km über der Oberfläche, beobachtet. Man nimmt an, dass dessen Entstehung mit dem Beginn des Sommers auf Titans Südhalbkugel zusammenhängt. Ende September 2014 ergaben Analysen von Cassinis Daten, dass sich die Atmosphäre über dem Südpol weit stärker als erwartet abgekühlt hat. Der Wolkenwirbel befindet sich etwa 300 km über der Oberfläche des Mondes, in einer Höhe, von der man bisher dachte, sie sei für die Wolkenbildung zu warm. In dem bereits 2012 beobachteten Wolkenwirbel konnten toxische gefrorene Cyanwasserstoffpartikel (Blausäure) nachgewiesen werden, die sich erst bei Temperaturen unterhalb von −148 °C bilden können, was einer Abweichung von etwa 100 °C gegenüber dem aktuellen theoretischen Modell der oberen Atmosphäre entspricht. Seit dem Wechsel der Jahreszeiten 2009 drücken atmosphärische Zirkulationen große Mengen an Gasen in Richtung Süden und so führt der Anstieg der Cyanwasserstoffkonzentration in der Atmosphäre zu einer deutlichen Abkühlung. Blitze Bis heute ist unklar, ob in der Atmosphäre des Titan Blitze vorkommen, die die Bildung von organischen Molekülen katalysieren könnten. Messungen von Cassini haben keine nennenswerten Signale von Blitzen gemessen. Jedoch schließt das die Existenz von Blitzen nicht aus. Wenn Blitze in der Titanatmosphäre vorkommen, wären sie möglicherweise zu schwach, um ein merkliches Signal zu erzeugen. Neuste Computersimulationen haben jedoch gezeigt, dass sich unter bestimmten Bedingungen Streamerentladungen bilden können, die die Vorstufe zu Blitzentladungen darstellen. Feste Oberfläche Aufgrund der dunstreichen Atmosphäre konnten bei früheren Beobachtungen im sichtbaren Licht und bei den Voyagermissionen keine Einzelheiten auf Titans Oberfläche erkannt werden. Die auf den ersten Radarbildern sichtbaren globalen und regionalen Oberflächenmerkmale werden, nach ersten Auswertungen von den NASA-Wissenschaftlern, für tektonische Strukturen wie Gräben und Krustenstörungen gehalten, was für eine fortdauernde bedeutende geologische Aktivität des Himmelskörpers sprechen würde. Die Oberfläche ist allgemein sehr flach. Höhenunterschiede von mehr als 150 m und gebirgsähnliche Züge kommen selten vor. So fällt eine helle Region 4500 Kilometer entlang des Äquators, mit dem Namen Xanadu, besonders auf. NASA- und ESA-Forscher deuten sie, nach näheren Beobachtungen, als eine Landschaft mit überraschend erdähnlichem Gesamtbild. Xanadu, das flächenmäßig etwa so groß ist wie Australien, wird von bis zu 2000 m hohen Bergrücken durchzogen (Stand: August 2010). Radardaten zufolge bestehen diese aus porösem Wassereis, das von dort vermutetem Methanregen durch Auswaschung gebildet wurde. Dadurch könnten Höhlensysteme geschaffen worden sein. Das entspricht ganz den durch Wind und Wasser geprägten Landschaften der Erde. Der höchste Gipfel auf Titan befindet sich in den Mithrim Montes und erhebt sich in dem südlichsten der drei annähernd parallelen Bergrücken 3337 Meter über dem Nullniveau. Die Mithrim Montes liegen im äquatornahen Norden von Xanadu. Im Gegensatz zur Plattentektonik auf der Erde entstanden die Gebirge Titans aller Wahrscheinlichkeit nach durch Schrumpfung des Mondes und der damit verbundenen Auffaltung und Verkürzung der Kruste. Ein Forscherteam um Giuseppe Mitri am Caltech kam durch Computersimulationen zum Schluss, dass Titan seit seiner Entstehung vor 4,5 Milliarden Jahren kontinuierlich schrumpfte. Dabei gingen sie davon aus, dass der Kern von Titan nie sehr heiß war und daher eine relativ homogene Mischung aus Eis und Gestein darstellt. Die langsame Abkühlung des Mondes sorgt dafür, dass Teile des unter der Eiskruste liegenden Ozeans allmählich gefrieren und dabei die Dicke der äußeren Eiskruste ebenso wächst wie der Mantel eines unter dem Ozean liegenden Hochdruckeises. Dadurch kommt es zum Volumenschwund des Ozeans und die Oberfläche der Eiskruste legt sich in Falten. Laut der Simulation des Teams um Mitri müsste sich der Radius des Mondes innerhalb von 4,5 Milliarden Jahren um sieben Kilometer verringert haben; das sind, bei dem heutigen Radius von 2575 Kilometern, etwa 0,3 Prozent. Die Zusammensetzung der Oberfläche ist komplex. Cassini-Huygens hat dort Wassereis festgestellt, das bei den niedrigen Temperaturen die Konsistenz von Silikatgestein hat und teilweise von Tümpeln oder Seen aus flüssigem Methan bedeckt ist. Es wird angenommen, dass auf der Oberfläche Kohlenwasserstoffe existieren, die bisher noch nicht im Labor hergestellt werden konnten. Cassinis Radar hat auf Titan viel weniger Einschlagkrater gefunden als (auf gleiche Fläche bezogen) auf anderen Monden und Planeten im Sonnensystem. In der dichten Atmosphäre zerbersten und verglühen viele Objekte, so dass die Anzahl der einschlagenden Objekte von vornherein in etwa halbiert wird. Auch werden frische Einschlagkrater sehr bald von dem beständigen Wind mit Partikeln zugeweht, die durch Zusammenlagerung von aus der Atmosphäre ausgefallenen Tholinen entstanden sind. Dieser Effekt und der Methanregen formen die Oberfläche vergleichsweise schnell und führen zu einer geologisch jungen Oberfläche. Menrva, der mit Abstand größte der elf benannten Krater, hat einen Durchmesser von 392 km und liegt im Nordteil der führenden Hemisphäre, nördlich von Xanadu. Dünen Neuere Cassini-Daten zeigen, dass in den dunklen äquatorialen Gebieten, wo zunächst Kohlenwasserstoff-Ozeane vermutet wurden, große Wüstengebiete mit 150 m hohen und hunderte Kilometer langen Dünen existieren, wofür der stetige Wind auf Titan verantwortlich ist. Computergestützten Simulationen zufolge reicht dafür bereits eine Windgeschwindigkeit von zwei Kilometern pro Stunde aus. Neuere Bilder der Cassini-Sonde warfen jedoch einige Fragen auf. So ist anhand der Schatten zu erkennen, dass große, bis zu 300 m hohe Dünen größtenteils durch Westwind erzeugt worden sind, wohingegen der vorherrschende Wind an Titans Äquator der Ostwind ist. Ein möglicher Grund wäre, dass diese Dünen nur in den seltenen Phasen eines Äquinoktiums entstehen, an welchen ein möglicher, genügend starker Westwind weht. Die Dünen bestehen aus bis zu 0,3 mm großen Partikeln, deren Zusammensetzung noch nicht geklärt ist. In Frage kommt Wassereis oder organische Feststoffe. Nach einer Hypothese von Donald Hunten an der Universität von Arizona könnten sie aus Ethan bestehen, das an feinste Staubpartikel gebunden ist. Das würde auch erklären, warum sich hier keine Kohlenwasserstoff-Ozeane gebildet haben. Flüssige Kohlenwasserstoffe In den beiden Polarregionen finden sich auf den Radaraufnahmen größere Methanseen, die von Flüssen gespeist werden. Zahlreiche radardunkle Flecken, die als eindeutiger Nachweis solcher „Gewässer“ angesehen werden, wurden rund um den Nordpol gefunden. In dieser Region herrschte zu der Zeit der Cassini-Mission Polarnacht. Die drei größten Seen Kraken Mare, Ligeia Mare und Punga Mare werden als „Mare“ bezeichnet und erreichen mit Flächen bis über 100.000 Quadratkilometer die Dimensionen großer irdischer Binnenseen und -meere (zum Vergleich: Oberer See 82.100 Quadratkilometer). Bereits zu Beginn der Mission wurde am Südpol der größte „See“ Ontario Lacus als bislang einziger Methansee auf der südlichen Hemisphäre entdeckt und nach dem mit rund 20.000 Quadratkilometern gleich großen Ontariosee benannt. Forscher des DLR gaben am 30. Juli 2008 bekannt, dass in ihm Ethan nachgewiesen wurde und er vermutlich noch andere Alkane enthält. Auswertungen von Radarmessungen zeigten 2009, dass der Ontario Lacus spiegelglatt zu sein scheint. Die Variationen in der Höhe betrugen zum Zeitpunkt der Messung weniger als 3 mm. Das erhärtet den Verdacht, dass der Ontario Lacus tatsächlich aus flüssigen Kohlenwasserstoffen und nicht aus getrocknetem Schlamm besteht. Es zeigte sich damit auch, dass es an der Oberfläche relativ windstill war. Die Tiefe des zum größten Teil mit Methan gefüllten „Ligeia Mare“ wurde mit Hilfe von Cassinis Radar zu 170 m bestimmt. Zu den kleineren Seen zählen der Feia Lacus, der Kivu Lacus, der Koitere Lacus und der Neagh Lacus. Die Flüssigkeiten in den seeähnlichen Gebilden sind relativ durchsichtig, so dass ein Mensch – würde er an einem solchen Ufer stehen – in diese „Gewässer“ wie in einen klaren irdischen See hineinblicken könnte. Nach Berechnungen der NASA übertrifft der Vorrat an flüssigen Kohlenwasserstoffen auf Titan den der Erde um das Hundertfache. Der atmosphärische Kreislauf, das Herabregnen, Sammeln und Fließen von Kohlenwasserstoffen prägte die eisige Oberfläche in überraschend ähnlicher Weise, wie auf der Erde Wasser die Silikatgesteine formt. Schon auf den ersten Blick sind aus einigen Kilometern Höhe ganze Flusssysteme erkennbar, flüssiges Methan schneidet sich erosiv in die Eisoberfläche ein und bildet ein hügelig-bergiges Relief. Auf der Erde würde das eine (tektonische) Hebung der erodierten Gebiete über die durchschnittliche Oberflächenhöhe hinaus implizieren; das dürfte auf Titan nicht anders sein. Ein Rätsel gibt den Wissenschaftlern eine Insel im Ligaeia Mare auf. Das etwa 260 km² große Objekt erschien erstmals auf Cassini Aufnahmen im Juli 2013, war dann aber auf späteren Aufnahmen wieder verschwunden. Während einer Cassini-Passage am 21. August 2014 erschien das Objekt jedoch wieder. Mögliche Erklärungen wären etwa aufsteigende Blasen, Schwebstoffe oder Wellen auf der Oberfläche von Ligeia Mare. Es wird ein Zusammenhang mit dem Jahreszeitenwechsel auf Titan vermutet. Jahreszeitliche Schwankungen Von den Forschern wird vermutet, dass sich die Seen hauptsächlich während des 7,5 Jahre dauernden Titan-Winters bilden und im Sommer größtenteils wieder austrocknen. Diese Entdeckung passte gut zu der des riesigen nordpolaren Wolkenwirbels wenige Wochen später. Beides bestätigt die Vermutung eines Niederschlagkreislaufs von Methan, ähnlich dem Wasserkreislauf auf der Erde – mit Verdunstung, Wolkenbildung und erneutem Niederschlag (Methan ist nur im Temperaturbereich von −182 °C bis −162 °C flüssig, bei höheren Temperaturen gasförmig). Die Seen sind ungleichmäßig verteilt. Nachdem bis 2009 etwa die Hälfte von Titan durch Radar abgetastet worden ist, scheint der Anteil der Seenflächen in der südlichen Hemisphäre nur 0,4 % zu betragen, in der nördlichen etwa 10 %, also über zwanzigmal mehr als auf der südlichen. Das könnte damit zusammenhängen, dass die Umlaufbahn Saturns um die Sonne elliptisch ist und dadurch sein Abstand zur Sonne um rund 11 % schwankt. Daher sind die Sommer auf der südlichen Hemisphäre kürzer und wärmer, die Winter wiederum sind dort länger und kälter. Beim sonnennächsten Punkt, dem Perihel, bewegt sich der Planet gegenüber dem sonnenfernsten Punkt seiner Umlaufbahn, dem Aphel, schneller um die Sonne, und durch die größere Nähe wird auch seine Winkelgeschwindigkeit um die Sonne noch erhöht. Dadurch regnet auf der Nordhalbkugel das Methan ab, das auf der Südhalbkugel im wärmeren Sommer verdunstete. Auch wenn sich der Seestand pro Jahr nur um wenige Dezimeter senkt, führt das im Lauf vieler Jahre dazu, dass in der südlichen Hemisphäre viele Seen austrocknen. Da sich die Ellipse der Saturnbahn langsam um die Sonne dreht, dürfte die Verteilung der Seenbedeckung jedoch alle 45.000 Jahre zwischen Nord- und Südhalbkugel pendeln. Nach weiteren Forschungen soll sich der Flüssigkeitsstand des Ontario Lacus wie in der Etosha-Pfanne mit der Höhe des Spiegels der im Boden vorhandenen Flüssigkeit ändern. Eisberge Die Existenz von Eisbergen an der Oberfläche der Seen ist grundsätzlich möglich, aber bisher nicht nachgewiesen. Weil Mischungen aus festem Methan und Ethan schwerer sind als flüssige Mischungen, kann nur Eis schwimmen, das Einschlüsse von mindestens 5 % Stickstoff aus der Atmosphäre enthält, die sein Volumen vergrößern. Wenn die Temperatur nur geringfügig sinkt, zieht sich der Stickstoff so weit zusammen, dass das Eis zum Grund hinabsinkt. Wenn die Temperatur wieder steigt, kann auch das Grundeis zur Seeoberfläche aufsteigen. Kryovulkane Auf Titan finden sich deutliche Anzeichen vulkanischer Aktivität. Auch wenn die erkannten Vulkane in ihrer Form und Größe denen auf der Erde ähneln, handelt es sich nicht um silikatischen Vulkanismus wie auf den erdähnlichen Planeten Mars oder Venus, sondern vielmehr um sogenannte Kryovulkane, also Eisvulkane. Die zähflüssige Masse, die bei diesem Kryovulkanismus an die Titanoberfläche tritt, könnte aus Wasser und z. B. Ammoniak oder aus Wasser mit anderen kohlenwasserstoffhaltigen Gemischen bestehen, deren Gefrierpunkte weit unter dem von Wasser liegen und die somit kurzzeitig an der Oberfläche fließen könnten. Diese Gebiete mit höheren Temperaturen werden auch „Hotbeds“ genannt. Es wird vermutet, dass der Vulkanismus auf Titan, ähnlich wie auf der Erde, durch die Energiefreisetzung beim Zerfall von radioaktiven Elementen im Mantel von Titan angetrieben wird. Mit Hilfe von Cassini wurden bei einem vermuteten Kryovulkan Methanemissionen entdeckt. Es wird angenommen, dass Kryovulkanismus eine bedeutende Quelle für den Nachschub von Methan in der Atmosphäre ist. Innerer Aufbau Titan besitzt einen großen Kern aus Silikatgestein, der von mehreren Schichten Wassereis umgeben ist. Die äußere Schicht des Mantels besteht aus Eis und Methanhydrat, die innere aus Hochdruckeis (vgl. das Eis-Phasendiagramm). Nach Modellrechnungen von 2005 könnte sich zwischen diesen beiden Schichten ein Ozean aus flüssigem Wasser befinden. Wie bei anderen Monden der Gasplaneten – Jupitermond Io und Saturnmond Enceladus – könnten hier ebenfalls Gezeitenkräfte des Mutterplaneten eine Rolle bei der für tektonische Bewegungen notwendigen Aufheizung und folgenden Mobilisierung des Mondinneren spielen. Durch die relativ hohe Exzentrizität der Titan-Bahn und die daraus folgende Libration in Länge pendelt die Gezeitendeformation des Mondes im Laufe seiner gebundenen Rotation entsprechend und könnte mit diesem Hin-und-her-Walken in Titans Innerem zu tektonischen Verschiebungen führen. Hypothetischer Ozean unter der Eiskruste Radarmessungen der Cassini-Sonde deuten darauf hin, dass unter der Eiskruste ein Ozean aus flüssigem Wasser existiert. Die Dicke der Eiskruste wird auf etwa 80 Kilometer geschätzt. Nach einem Modell, das vom Jupitermond Europa auf Titan übertragen wurde, kann die Wärmeentwicklung durch Gezeitenreibung auch unter seiner Eiskruste zu der Bildung dieser aufgeschmolzenen Schicht geführt haben. Sie müsste sich durch Schwerefeldmessungen nachweisen lassen. Im Wasser zu etwa 10 % enthaltenes Ammoniak würde als Frostschutzmittel (siehe Gefrierpunkterniedrigung) wirken, so dass sich trotz der in dieser Tiefe zu erwartenden Temperatur von −20 °C ein flüssiger Ozean gebildet haben könnte – zumal in Verbindung mit dem dortigen hohen Druck. Die Existenz eines Ozeans in der Tiefe bedeutet geologisch gesehen, dass die darüber liegende Kruste wesentlich beweglicher sein kann als auf Himmelskörpern, die durchgehend fest sind, wie beispielsweise der Erdmond. Die Krustenbeweglichkeit führt zu den beobachteten tektonischen Großstrukturen und ebenso zum Kryovulkanismus, wobei vermutet werden kann, dass auch Wasser aus dem untergründigen Ozean direkt am Eisvulkanismus beteiligt ist, wie es bei der Erde mit Magma aus dem Mantel der Fall ist. Wie auf Enceladus bereits nachgewiesen wurde, können die Krustenbewegungen allein lokal so viel Wärme erzeugen, dass bedeutende Mengen an Eis in den Bewegungszonen verflüssigt werden und Kryovulkanismus erzeugen. Cassini entdeckte, dass über Titanbergen die Anziehung schwächer ist als über flachen Gegenden. Die Forscher vermuten daher, dass das Eis unter Bergen tiefer in den Ozean hineinreicht als unter Ebenen. Die Auswertung von Schwerefeldmessungen von Cassini ergab, dass der vermutete Ozean sehr salzhaltig sein muss. Er ist dabei einzufrieren, weshalb die äußerste Eisschicht über ihm sehr starr sein dürfte. Erforschung Die Beobachtung und Erforschung von Titan war vor dem Raumzeitalter nur sehr eingeschränkt möglich. 1907 gab der spanische Astronom Josep Comas i Solà bekannt, dass er am Rand der Titanscheibe eine Verdunkelung und im Zentrum zwei weiße, runde Flecken beobachtet habe. Die Entdeckung der Atmosphäre durch Gerard Kuiper in den 1940er Jahren war die nächste erwähnenswerte Entdeckung. Als erste Raumsonde erreichte schließlich Pioneer 11 1979 die Monde des Saturn. Entdeckung und Namensgebung Siehe auch: Liste der Entdeckungen der Planeten und ihrer Monde. Der niederländische Mathematiker, Buchautor, Physiker und Astronom Christiaan Huygens entdeckte Titan am 25. März 1655. Dieser erste Fund eines Saturnmondes gelang ihm mit einem selbstgebauten Fernrohr, dessen Linsen er zusammen mit seinem Bruder Constantijn jr. geschliffen hatte; es hatte einen Objektivdurchmesser von 57 mm und vergrößerte 50-fach. Damit beobachtete Huygens zuerst die Planeten Venus, Mars, Jupiter und schließlich Saturn, in dessen Nähe er einen hellen Himmelskörper bemerkte, der im Laufe von 16 Tagen Saturn einmal umkreiste. Nach vier Umdrehungen war er sich im Juni sicher, dass es sich um einen Saturnmond handeln muss. Um diese Zeit war die Neigung der Saturnringe gegenüber der Erde gering und beeinträchtigte die Beobachtungen kaum. Seit der Erfindung des Fernrohrs (1608) war das die zweite Mondentdeckung, 45 Jahre nach den erstmals von Galilei beobachteten vier Jupitermonden. Nahezu zwei Jahrhunderte blieb der Satellit namenlos. Zunächst wurde er unter anderem als der Huygenssche Saturnmond bezeichnet. Huygens selbst nannte ihn lediglich „Saturni Luna“ (oder „Luna Saturni“, lateinisch für „Saturns Mond“). Die im Laufe der Zeit bekannt gewordenen Trabanten eines Planeten wurden zunächst in der Reihenfolge ihrer Bahngrößen nummeriert; so wurde er um 1800 der sechste Saturnmond. Der Astronom John Herschel schlug in der 1847 erschienenen Veröffentlichung Results of Astronomical Observations made at the Cape of Good Hope für die damals bekannten acht Saturnmonde Namen nach den Titanen vor, einem Geschlecht von Riesen aus der griechischen Mythologie. Als größter Saturnmond erhielt er daraufhin den Namen Titan. Hubble Nachdem über 300 Jahre nur Beobachtungen von der Erde aus möglich waren, konnten die ersten groben Details der Oberfläche von Titan in den 1990er Jahren von dem Orbitalteleskop Hubble mit Aufnahmen im Spektralbereich des nahen Infrarot gewonnen werden, das die Methanwolken und den organischen „Smog“ durchdringt. Die darauf sichtbaren auffälligen Kontraste zwischen hellen und dunklen Gebieten der Oberfläche stehen in deutlichem Gegensatz zu den Strukturen, die von Oberflächen anderer Monde dieser Größenordnung bekannt waren. Konzentrische Strukturen wie Krater und Einschlagbecken waren damit zunächst nicht zu erkennen. Es lag nahe, die dunklen Zonen für tiefer gelegen zu halten als die hellen, sowie eine stofflich unterschiedliche Zusammensetzung dieser Oberflächen zu vermuten: bei den hellen Zonen eventuell Wassereis, wie es etwa auf den Jupitermonden häufig ist, und bei den dunklen Bereichen möglicherweise silikatische Gesteine oder organisches Material. Pioneer und Voyager Als erste Raumsonde und einfacher Späher passierte die US-amerikanische Vorbeiflugsonde Pioneer 11 am 1. September 1979 den Planeten Saturn und übermittelte auch fünf Aufnahmen von Titan. Die Sonde kam dabei Titan bis auf 353.950 Kilometer nahe. Die abgelichteten Bilder waren jedoch für etwaige Oberflächendetails zu unscharf. Ausgiebige Untersuchungen des Mondes erfolgten durch Voyager 1, die den Saturn am 12. November 1980 passierte und sich Titan bis auf 4000 Kilometer näherte. Ihre Aufnahmen des Mondes waren jedoch wegen der undurchsichtigen Dunstschicht seiner Atmosphäre nicht viel besser. Voyager 1 konnte deshalb nur die Zusammensetzung der Atmosphäre untersuchen und Basisdaten wie etwa die Größe, die Masse und die Umlaufzeit näher bestimmen. Am 25. August 1981 passierte die Schwestersonde Voyager 2 das Saturnsystem. Da sie am Saturn einen Swing-by in Richtung Uranus absolvieren sollte, konnte ihre Flugbahn nicht in Titans Nähe führen. Cassini-Huygens Am 15. Oktober 1997 wurde von der Cape Canaveral Air Force Station die Doppelsonde Cassini-Huygens, ein Gemeinschaftsprojekt der ESA, der NASA und der Agenzia Spaziale Italiana (ASI), zur Erkundung von Saturn, seiner Satelliten und Titan im Speziellen gestartet. Cassini war der erste Orbiter um den Saturn und sollte als ursprüngliches Missionsziel den Planeten mindestens vier Jahre lang umrunden. Cassini umrundete Saturn seit seiner Ankunft am 1. Juli 2004. Planmäßig flog die Raumsonde erstmals am 26. Oktober 2004 in nur 1200 Kilometern Entfernung an Titan vorbei. Auf den dabei aufgenommenen Radarfotos der Oberfläche zeigen sich komplexe Strukturen. Am 1. Juni 2008 war das Primärziel mit insgesamt 74 Saturnumläufen und 45 vorausberechneten Vorbeiflügen am Titan erreicht. Die darauf folgende Missionsphase trug die Bezeichnung „Cassini Equinox“, die bis zum 30. Juni 2010 noch 21 weitere Titan-Vorbeiflüge vorsah. Letzten Endes wurde Cassinis Mission bis 2017 verlängert. Während der am 27. September 2010 begonnenen „Solstice“ Missionsphase wurden weitere 56 Vorbeiflüge am Titan durchgeführt. Die Mission Cassinis endete mit einem kontrollierten Absturz und Verglühen in der Atmosphäre des Saturn am 15. September 2017. Huygens’ Abstieg und Landung Am 25. Dezember 2004 war Huygens abgekoppelt worden und landete am 14. Januar 2005 auf der Oberfläche des Titan. Die Landestelle befindet sich bei den Koordinaten 10° S, 192° W, im Zentralbereich der saturnabgewandten Seite an der Grenze zwischen dem höher gelegenen Albedo feature Adiri und der tiefer gelegenen Region Shangri-La. Huygens ist der erste Lander auf einem anderen Mond als dem der Erde. Beim Abstieg wurden Bilder der sich nähernden und schließlich erreichten Oberfläche gesendet. Dabei hat die sich unter stürmischen Bedingungen drehende Sonde neben physikalischen, chemischen und meteorologischen Messwerten auch Windgeräusche übertragen. Partikel in der Größenordnung von einem knappen Mikrometer in der Atmosphäre konnten während des Sinkmanövers ebenfalls nachgewiesen werden. Erst 20 Kilometer über der Oberfläche gab der Dunst den Blick auf Titan frei. Auf einigen Fotos vom Landeanflug war eine schwarze Fläche zu erkennen, in die kurze Drainage-Kanäle münden. Sie wurde als möglicher See aus einer teerartigen Flüssigkeit interpretiert. Am Ende des 2,5-stündigen Abstiegs durch die Atmosphäre prallte die Sonde mit einer Geschwindigkeit von 4,5 m/s auf. Danach konnten ihre Signale von Cassini noch für eine Stunde und zehn Minuten empfangen werden. Die Aufnahme der Oberfläche ähnelt auf den ersten Blick früheren Bildern der auf dem Mars gelandeten Viking-Sonden: Auf einer grau-orangefarbenen Ebene liegen bis zum Horizont zahlreiche Brocken unter einem gelb-orangen Himmel. Den ersten Analysen zufolge bestehen sie jedoch nicht aus Gestein, sondern wie der Boden aus Eis und Kohlenwasserstoffen. Die rundlichen Brocken in unmittelbarer Nähe der Kamera sind im Durchmesser bis zu 15 cm groß und gleichen Kieselsteinen. Durch die viel größere Entfernung von der Sonne und den Dunst in der Atmosphäre ist das Tageslicht auf Titan nur ungefähr ein Tausendstel so hell wie das auf der Erde. Kurz vor der Landung schaltete sich deshalb ein Scheinwerfer ein, in dessen Licht das Eis des Titanbodens spektroskopisch identifiziert werden konnte. Der Landeplatz erhielt am 14. März 2007 zu Ehren von Hubert Curien, einem der Gründerväter der europäischen Raumfahrt, den Namen „Hubert-Curien-Gedenkstätte“. Geplante Missionen Im Rahmen der Titan- und Enceladus-Erkundungsmission TandEM ist für Titan ein eigener Orbiter vorgesehen, der zu seiner näheren Erkundung sowohl verschiedene Lander als auch Penetratoren auf ihm absetzen und Funkkontakt zu einem sich frei in der Titanatmosphäre bewegenden Ballon halten soll. Anfang 2009 wurde beim ESA-Ministerratstreffen entschieden, dass die Europa Jupiter System Mission zeitlichen Vorrang genießt. Die EJSM wurde durch den Ausstieg der NASA inzwischen gestrichen. Ihr europäischer Anteil wird jedoch als Raumsonde JUICE verwirklicht. TandEM könnte also erst deutlich nach 2020 starten. Titan Mare Explorer (TiME) war ein geplantes Projekt, das einen Lander erstmals auf ein extraterrestrisches Gewässer, den See Ligeia Mare oder alternativ auf das Kraken-Mare, absetzen sollte. Diese Mission wurde von Proxemy Research ursprünglich als eigenständige Mission vorgeschlagen. Sie hätte aber auch Bestandteil der Titan Saturn System Mission (TandEM) sein können. Diese Low-Cost-Mission sollte auch direkt die organischen Bestandteile auf Titans Oberfläche messen. Ein möglicher Starttermin wäre der Januar 2016 gewesen. Die Mission unterlag im Auswahlverfahren am 20. August 2012 der Marssonde InSight. Die NASA-Sonde Dragonfly soll 2026 im Rahmen des New-Frontiers-Programms starten und 2034 bei Titan ankommen. Ein Quadrocopter soll auf der Oberfläche des Titan landen, sich dort fliegend fortbewegen und so mehrere Orte des Mondes erkunden. Darüber hinaus ist Titan einer von mehreren möglichen Kandidaten für eine künftige Kolonisation im äußeren Sonnensystem. Der amerikanische Raumfahrtingenieur und Autor Robert Zubrin bezeichnet Saturn aufgrund seiner relativen Nähe, geringen Strahlenbelastung und der Verteilung der Monde als den für die Forschung wichtigsten und wertvollsten der Gasplaneten. Spekulationen über (Vorstufen zu) Leben Titan könnte einen Schlüssel zum Verständnis der Entstehung des Lebens auf der Erde enthalten, da angenommen wird, dass auf der Urerde eine ähnliche Atmosphäre vorhanden war und somit ähnliche Bedingungen herrschten. Da Saturn und seine Trabanten weit außerhalb der habitablen Zone kreisen, ist das Entstehen von Leben unwahrscheinlich, Vorstufen werden jedoch nicht ausgeschlossen. Insgesamt sind trotz der niedrigen Temperaturen für die Kosmochemie sehr interessante Vorgänge auf diesem Mond zu vermuten, vielleicht auch Vorstufen für eine Art chemischer Evolution. Aufgrund der dichten Atmosphäre aus Stickstoff und organischen Verbindungen ist er ein bedeutendes Forschungsobjekt der Astrobiologie, da diese Bedingungen denen auf der Urerde gleichen könnten. Eine präbiotische Entwicklung in Richtung kohlenstoffbasierendes Leben, vergleichbar mit dem irdischen, würden die Oberflächentemperaturen jedoch verhindern. Die Raumsonde Cassini entdeckte, dass Wasserstoff in Bodennähe verschwindet und das dort erwartete Acetylen nicht nachgewiesen werden konnte. Dies entspricht dem hypothetischen Modell des Astrobiologen Chris McKay, wonach auf Methan basierendes Leben diesen Effekt hervorrufen könnte. Als nicht-biologische Ursache wären bisher unbekannte chemische Prozesse in der Atmosphäre oder die Bildung von Methan aus Wasserstoff und Acetylen mithilfe eines unbekannten mineralischen Katalysators denkbar. Im Jahre 2010 hatten Forscher von der University of Arizona im Labor die Bedingungen in der titanischen Gashülle simuliert. Dabei mischten sie Stickstoff, Methan und Kohlenmonoxid, die Hauptbestandteile der Atmosphäre von Titan, zusammen. In dieser Umgebung ohne Wasser, ausgesetzt einer starken Radiostrahlung, entstanden die Aminosäuren Glycin und Alanin, die Grundbausteine der irdischen Proteine sind. Zudem bildeten sich alle fünf Basiskomponenten der Nukleinsäuren RNA und DNA – Cytosin, Adenin, Thymin, Guanin und Uracil. Die Reaktionen seien komplett innerhalb einer gasförmigen Umgebung abgelaufen. Sarah Hörst und Roger Yelle von der University of Arizona halten es für möglich, dass sich auch auf der Erde die Grundbausteine nicht zwangsläufig in einer Ursuppe, sondern ebenfalls in der Atmosphäre bilden konnten und dann auf die Oberfläche abgeregnet wurden. Amateurastronomische Beobachtung Mit einer scheinbaren Helligkeit der Magnitude 8,4 und einem maximalen Winkelabstand von circa 3 Bogenminuten zum Saturn reicht bei günstiger Sicht schon ein gutes Fernglas, um den großen Mond Titan zu sehen. Mit relativ kleinen Teleskopen kann er bereits sehr gut beobachtet und sein Umlauf um den Planeten ohne Weiteres verfolgt werden. In einem größeren Teleskop kann Titan als kleines Scheibchen gesehen werden. Seine Umlaufbahn hat den scheinbaren Durchmesser von etwa einem Fünftel der Erdmondscheibe. Titans Oberfläche lässt sich wegen der dichten Gashülle nicht erkennen. Mit einem Spektrometer können die Bestandteile der Atmosphäre und ihre Mengenverhältnisse festgestellt werden. Rezeption in Literatur und Kultur Der erste Teil des Werks Fiasko aus dem Jahr 1986 von Stanisław Lem spielt auf dem Titan, wo Menschen von der Erde Bergbau betreiben. Der 1997 erschienene Roman Titan von Stephen Baxter handelt von einer bemannten Titanmission der NASA, bei der die Mannschaft nach einer unplanmäßigen Landung ums Überleben kämpfen muss. In Philip K. Dicks The Game Players of Titan (1963, dt. Das Globus-Spiel) wird Titan von Wesen bewohnt, die über telepathische Fähigkeiten verfügen und leidenschaftliche Spieler sind. In Kurt Vonneguts satirisch-philosophischem Science-Fiction-Roman Die Sirenen des Titan von 1959 muss eine vom Planeten Tralfamadore gestartete Maschine namens Salo auf ihrer Reise durchs Universum notlanden. Die Tralfamadorier beeinflussen aus einer Entfernung von 150.000 Lichtjahren 200.000 Jahre lang die Geschichte der Menschheit auf der Erde, bis durch einen scheinbaren Zufall das benötigte Ersatzteil als Spielzeug in der Hand eines Kindes auf den Titan gelangt. In dem Roman Die dunklen Wüsten des Titan von Ben Bova aus dem Jahre 1975 ist ein zentraler Spielort der o. g. Saturnmond. Dort finden die Menschen seltsame Maschinen und Gebäudekomplexe nichtirdischen Ursprungs. Die Funktionsweise und Herkunft der Funde bleiben ungeklärt, bis eine Parallelmission, die sich zum fernen Sirius-Doppelsternsystem aufgemacht hat, neue Erkenntnisse schafft und zuletzt zur Klärung des Rätsels um die außerirdischen Artefakte beiträgt. Das Ausmaß dieser Erkenntnisse verändert das Dasein der menschlichen Rasse nachhaltig. Im Film Star Trek von 2009 nutzt die Crew die dichte Atmosphäre Titans, um sich vor den Romulanern zu verstecken. Auch gibt es eine Romanserie zum Schiff U.S.S. Titan, das unter dem Kommando von William T. Riker steht. Der vier Jahre später veröffentlichte Film Oblivion erwähnt den Mond als Zufluchtsort für die Menschen nach einer Alieninvasion. In Gattaca (1997) ist Titan Ziel einer Raummission. In der futuristischen Welt des Horrorspiels Dead Space 2 spielt sich die Haupthandlung in einem großen menschlichen Koloniekomplex ab, der auf dem Saturnmond errichtet wurde. Eine Station ist auch der Handlungsort des Adventures Titan Station, das in einem Retro-Sujet des Jahres 1999 angesiedelt ist. Ebenso dient Titan als einer der Schauplätze des Action-Strategiespiels Battlezone und ist das exklusive Szenario des Aufbauspiels Industries of Titan. Im Shoot ’em up Titan Attacks! und dessen Tower-Defense-Nachfolger Revenge of the Titans versuchen titanische Monster die Erde zu erobern. Im 41. Jahrtausend des Warhammer-40.000-Universums wird Titan mit einem Kern aus superdichter Materie versehen und dient dem Space-Marines-Orden der Grey Knights als Basis. Nach einem vernichtenden Angriff auf die letzte Bastion der Menschheit im Videospiel Destiny 2 stellt der Titan einen Rückzugsort für einen Teil der Flüchtenden. Hier besucht der Spieler ein Areal aus Bohrinsel-ähnlichen Strukturen, die auf einem weitläufigen Meer errichtet wurden. In der Eismondreihe des Autors Brandon Q. Morris wird der Titan als Handlungsort genutzt. Das zweite Buch der insgesamt fünf Bücher umfassenden Reihe trägt sogar explizit den Titel Titan. Durch Zufall wird auf der Erde im Jahr 2045 das Signal der seit 2005 verstummten Huygens-Sonde aufgeschnappt und versetzt die Raumfahrtbehörden nach anfänglichem Zögern in Aufruhr. Da im ersten Teil der Buchreihe eine internationale Mission den Eismond Enceladus besucht hatte, wird die Crew nun auf dem Rückweg zur Erde zum Titan gesandt, um dem unerklärbaren Phänomen auf den Grund zu gehen. Tatsächlich landet ein Teil der Crew auf dem Titan und stellt Nachforschungen an, die etwas zu Tage fördern, mit dem niemand gerechnet hat. Im Film Titan – Evolve or Die spielt der Saturnmond ebenfalls eine tragende Rolle. In dem Science-Fiction-Film aus dem Jahre 2018 wird eine Testgruppe von Freiwilligen unterschiedlichen genmanipulativen Untersuchungen bzw. Veränderungen unterzogen, um den menschlichen Organismus an die atmosphärischen Bedingungen des Titan anzupassen. Der Hauptdarsteller Rick Janssen überlebt alle Eingriffe und wird am Ende des Films auf dem Titan gezeigt, das zweifelhafte Forschungsexperiment somit als geglückt dargestellt. Siehe auch Methan auf dem Titan Literatur Robert H. Brown, Jean-Pierre Lebreton, J. Hunter Waite (Hrsg.): Titan from Cassini-Huygens. Springer, Dordrecht 2009, ISBN 978-1-4020-9214-5. Ralph Lorenz, Jacqueline Mitton: Titan Unveiled: Saturn’s Mysterious Moon Explored. Princeton University Press, 1. April 2008, ISBN 978-0-691-12587-9. Jonathan O’Callaghan: A map of Saturn’s largests moon. (PDF; 3,1 MB) In: Nature, 2019, Vol. 575, S. 426–427. Weblinks Titan im Planetary Photojournal der NASA Überblicksseite zum Titan (Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät der Universität Köln) Titan and the Huygens Mission. (PDF; 914 kB; englisch) ISSI Publikation: Spatium, Nr. 15 Video, Sound, Rundblick ausführliche Zusammenfassung über die Landung der Sonde Huygens auf Titan Keine Blitze auf Titan. astronews.com, Pressemitteilung des Instituts für Weltraumforschung der ÖAW, 12. Mai 2011, 15. Mai 2011 Benjamin Knispel: Saturnmond Titan, Titansee verwandt mit afrikanischer Salzpfanne. sterne und weltraum.de, 20. April 2012, abgerufen am 21. April 2012, als Quelle gibt der Artikel an: „ESA: Far-off cousin of part-time African lake found on Titan. 19. April 2012“ scinexx.de: Titans Seen geben (mal wieder) Rätsel auf 18. Januar 2018 scinexx.de: Karst aus Benzol und Acetylen 17. April 2019 Einzelnachweise Titan Astronomisches Objekt (entdeckt 1655)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Biodiesel
Biodiesel
Biodiesel (seltener Agrodiesel), chemisch Fettsäuremethylester, ist ein Kraftstoff, der in der Verwendung dem mineralischen Dieselkraftstoff gleichkommt. Die chemische Industrie gewinnt Biodiesel durch Umesterung pflanzlicher oder tierischer Fette und Öle mit einwertigen Alkoholen wie Methanol oder Ethanol. Biodiesel mischt sich mit Petrodiesel in jedem Verhältnis. Viele Länder verwenden daher Biodiesel als Blendkomponente für herkömmlichen Dieselkraftstoff. Seit 2009 wird in Deutschland herkömmlichem Diesel bis zu 7 % Biodiesel beigemischt, an Tankstellen als „B7“ gekennzeichnet. Durch den Rückgang der steuerlichen Förderung seit Januar 2013 sank der Absatz von Biodiesel als Reinkraftstoff in Deutschland erheblich. Im Vergleich zu Diesel auf Mineralölbasis verursacht Biodiesel weniger Emissionen, obwohl die Rohemissionen von Stickoxiden höher liegen. Er wird aus nachwachsenden Rohstoffen gewonnen, ist biologisch abbaubar und hat gute Schmiereigenschaften, was bei der Verwendung von schwefelarmem Diesel ein Vorteil ist. Biodiesel ist der Biokraftstoff, der bislang den größten Beitrag zur Versorgung des Verkehrssektors in der Europäischen Union geleistet hat. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts gab es einen breiten gesellschaftlichen Konsens zur Einführung und Ausbau der Biodieselversorgung, da er als nachhaltig und klimaschonend galt. Der wachsende Verbrauch führte im Laufe der Jahre zu einem internationalen Biodieselhandel, der zum Teil verbunden war mit dem Ausbau landwirtschaftlicher Flächen, etwa durch Brandrodung. Die gesellschaftliche Akzeptanz eines flächendeckenden Einsatzes hängt davon ab, ob die eingesetzten Rohstoffe nachhaltig bereitgestellt werden und nicht in Nutzungskonkurrenz mit der Nahrungs- und Futtermittelproduktion geraten oder zum Aussterben von Arten führen. Nomenklatur Biodiesel besteht aus dem Begriff Diesel, einem Deonym nach Rudolf Diesel, und dem Präfix Bio. Dies weist nicht auf eine Herkunft aus ökologischer Landwirtschaft hin, sondern auf den pflanzlichen oder tierischen Ursprung, im Gegensatz zu Mineralöl. Teilweise wird deswegen der Begriff Agrodiesel verwendet, wobei eine Verwechslungsgefahr mit dem Begriff Agrardiesel besteht. Dieser bezeichnet Diesel, der in landwirtschaftlichen Fahrzeugen und Arbeitsmaschinen verwendet und teilweise steuerlich rückvergütet wird. Die Norm EN 14214 beschreibt die Mindestanforderungen an Fettsäuremethylester für die Verwendung dieser Stoffklasse als Biodieselkraftstoff. In der Norm wird zwar kein Rohstoff für die Herstellung der Fettsäuremethylester direkt vorgegeben, im Gegensatz zur US-amerikanischen Norm ASTM D 6751 limitieren jedoch die Grenzwerte für Parameter wie der Oxidationsstabilität, der Iodzahl und dem Anteil mehrfach ungesättigter Fettsäuren indirekt die Rohstoffzusammensetzung. Nach EN 14214 ist FAME nach der englischen Bezeichnung Fatty Acid Methyl Ester die übergreifende Abkürzung aller Methylester auf Basis von Pflanzen- und Tierölen. Je nach Art des verwendeten Pflanzenöls wird unterschieden in Palmölmethylester (PME), wobei Fahrzeughandbücher der 1990er Jahre die Abkürzung PME auch für Pflanzenöl-Methyl-Ester verwenden, Sonnenblumenmethylester, Rapsölmethylester (RME), auch Rapsmethylester oder Rapsdiesel genannt und Sojaölmethylester (SME). Daneben sind Methylester auf Basis von Altfetten und Tierfetten erhältlich, etwa Altfettmethylester (AME), und Tierfettmethylester (FME). Biodiesel gilt als alternativer Kraftstoff der ersten Generation, für die nur das Öl, der Zucker oder die Stärke der Frucht verwendet wird. Bei Kraftstoffen der zweiten Generation wird die vollständige Pflanze verwendet. Blends, also Mischungen von Biodiesel mit mineralischem Diesel, werden mit einem B und einer Zahl von 1 bis 99 bezeichnet, wobei die Zahl den prozentualen Anteil von Biodiesel im Blend angibt. B100 ist nach dieser Nomenklatur die Bezeichnung für reinen Biodiesel. Geschichte Die Herstellung von Biodiesel durch Umesterung von pflanzlichen Ölen mit alkoholischer Kalilauge beschrieb Patrick Duffy bereits im Jahr 1853 – Jahre bevor Rudolf Diesel den Dieselmotor entwickelte. Als Zielprodukt galt das bei der Umesterung freiwerdende Glycerin, das als Grundstoff für die Herstellung von Glycerinseife diente. Über den Einsatz von reinem Pflanzenölkraftstoff für Dieselmotoren berichtete Rudolf Diesel im Rahmen der Weltausstellung im Jahr 1900 in einem Vortrag vor der Institution of Mechanical Engineers of Great Britain: Während des Zweiten Weltkriegs untersuchten viele Nationen den Einsatz reiner Pflanzenöle als Motorkraftstoff. Belgien, Frankreich, Italien, das Vereinigte Königreich, Portugal, Deutschland, Brasilien, Argentinien, Japan und die Republik China testeten und verwendeten Pflanzenöle als Dieselersatz. Brasilien limitierte etwa die Ausfuhr von Rapsöl, China nutzte Tungöl als Kraftstoffersatz. Die japanische Marine betrieb eines ihrer größten Schlachtschiffe, die Yamato, wegen Kraftstoffknappheit teilweise mit raffiniertem Sojaöl. Der Einsatz reiner Pflanzenöle führte aufgrund der gegenüber Diesel höheren Viskosität zu motortechnischen Problemen, da die verminderte Kraftstoffzerstäubung erhöhte Rußablagerungen verursachte. Wissenschaftler und Ingenieure untersuchten verschiedene technische Lösungsansätze zur Reduktion der Viskosität wie das vorherige Erwärmen des Kraftstoffs, die Mischung des Pflanzenöls mit anderen Kraftstoffen, die Pyrolyse, das Emulgieren und die Umesterung, die schließlich zum Biodiesel führte. Die Arbeiten des Belgiers George Chavanne von der Universität Brüssel führten zur erstmaligen Nutzung von Biodiesel als Kraftstoff im Straßenverkehr. Am 31. August 1937 wurde ihm das belgische Patent 422,877 zur Umesterung von Pflanzenölen mit Ethanol und Methanol zur Verbesserung deren Eigenschaften zur Nutzung als Motorkraftstoff erteilt. Belgische Verkehrsbetriebe testeten 1938 erfolgreich einen nach diesem Verfahren erzeugten Biodiesel auf Palmölbasis beim Betrieb einer Buslinie zwischen Brüssel und Leuven. In der Nachkriegszeit geriet aufgrund der leicht erschließbaren Rohölvorkommen und der damit verbunden hohen und preiswerten Verfügbarkeit von mineralischen Kraftstoffen die Anwendung von Biodiesel jedoch in Vergessenheit. Erst im Zuge der Ölkrise der 1970er Jahre geriet die Nutzung von Pflanzenölen als Kraftstoff wieder in den Fokus. Untersuchungen zur Produktion und Verwendung von Biodiesel fanden in den 1970er Jahren in Brasilien und Südafrika statt. Im Jahr 1983 wurde der Prozess für die Produktion von Biodiesel in Kraftstoffqualität international veröffentlicht. Das Unternehmen Gaskoks in Österreich errichtete 1989 die erste kommerzielle Biodieselanlage in Europa mit einer Jahreskapazität von 30.000 Tonnen nach einem südafrikanischen Patent. 1993 erhielt Joosten Connemann der Ölmühle Connemann ein Patent für ein Verfahren, mit dem Biodiesel in einem kontinuierlichen Prozess aus Rapsöl und anderen Pflanzenölen gewonnen werden kann. Im Jahr 2007 arbeiteten die zwölf größten Anlagen weltweit nach diesem Verfahren. Seit den 1990er Jahren bauten Investoren in Europa viele Biodieselanlagen und bereits im Jahr 1998 führten 21 europäische Staaten kommerzielle Biodieselprojekte durch. Als erster Staat in den Vereinigten Staaten führte der US-Bundesstaat Minnesota im September 2005 eine Beimischungspflicht von 2 % Biodiesel zum regulären Diesel ein. Seit Mai 2012 ist dort eine zehnprozentige Beimischung Pflicht; bis 2015 ist die Anhebung auf 20 % geplant. Deutschland regelt den Einsatz von Biodiesel über die Verwendungspflicht laut Biokraftstoffquotengesetz und über Kraftstoffnormen. Ab 2007 galt in Deutschland eine Verwendungspflicht von 4,4 % Biodiesel zu herkömmlichem Diesel, seit 2009 wird gemäß der Kraftstoff-Norm EN 590 herkömmlichem Diesel bis zu 7 % Biodiesel beigemischt. Im Jahr 2010 betrug der Verbrauch in Deutschland 3,255 Millionen Tonnen Biodiesel. Weiterhin kann aber auch reiner Biodiesel (B100) auf die Biokraftstoffquote angerechnet werden. Im Zuge der politischen Bemühungen um die Senkung des Kohlenstoffdioxidausstoßes führten zahlreiche weitere Länder eine Quotenverpflichtung ein oder planen dies. Die Europäische Union verbrauchte im Jahr 2010 insgesamt 11,255 Millionen Tonnen Biodiesel. Die größten Verbraucher waren neben Deutschland Frankreich mit 2,536 Millionen Tonnen und Spanien mit 1,716 Millionen Tonnen. Herstellung Pflanzliche und tierische Fette und Öle sind Ester des Glycerins mit unverzweigten, gesättigten und ungesättigten Monocarbonsäuren, den Fettsäuren. Die Umesterung dieser Triglyceride mit Methanol, also der Ersatz des dreiwertigen Alkohols Glycerins durch den einwertigen Alkohol Methanol, ist der gebräuchlichste Prozess zur Herstellung von Biodiesel. Eins der Unternehmen, die Biodiesel in großen Mengen in Deutschland produzieren, ist die Firma Sasol im Chemiepark Brunsbüttel. Der Einsatz von Methanol erfolgt hauptsächlich aus Kostengründen, technisch eignen sich auch andere einwertige Alkohole wie Ethanol, Propanole und Butanole zur Herstellung von Biodiesel. In Brasilien wird die Umesterung etwa mit dem in großen Mengen verfügbaren Bioethanol vorgenommen. Die Fettsäurebutylester weisen einen tieferen Stockpunkt auf, was besonders beim Einsatz von tierischen Fetten von Vorteil ist. Die Umesterung wird durch Säuren und Basen katalysiert, wobei sich durch Basenkatalyse höhere Reaktionsgeschwindigkeiten erzielen lassen. Nach der Umesterung folgen als weitere Prozessschritte die Abtrennung von Glycerin und überschüssigem Methanol sowie die Aufarbeitung der Nebenprodukte, etwa die Reinigung des Glycerins. Die Wiedergewinnung von Einsatzstoffen erfolgt durch Destillation des überschüssigen Methanols und Rückführung von Restmengen nicht veresterter Fettsäuren. Rohstoffe Als Rohstoff für die Herstellung von Biodiesel eignen sich alle pflanzlichen und tierischen Fette und Öle. Die pflanzlichen Öle werden aus Ölsaaten oder anderen ölhaltigen Teilen von Pflanzen gewonnen. Je nach Klima, Niederschlagsmenge und Sonneneinstrahlung werden verschiedene Öle als Rohstoff bevorzugt. In Europa wird vorwiegend Rapsöl verwendet, das aus dem Samen von Raps (Brassica napus oleifera) gewonnen wird. Dieser Samen hat einen Ölgehalt von 40 bis 45 %. Die im Rapsöl vorliegenden Fettsäuren weisen eine enge Kohlenstoffkettenverteilung sowie einen konstanten Sättigungsgrad auf. Gewonnen wird das Öl in Ölmühlen durch Pressen des Rapssamens, als Koppelprodukte fallen Rapsextraktionsschrot oder Rapskuchen für die Futtermittelindustrie an. In Deutschland betrug die Menge an so gewonnenem eiweißhaltigen Tierfutter im Jahr 2012 etwa 3,2 Millionen Tonnen, womit rund 37,6 % des deutschen Bedarfs gedeckt wurden. In Nordamerika stellt Sojaöl den Hauptrohstoff dar, nur ein geringer Teil des Biodiesels wird dort aus Rapsöl produziert. Palmöl ist der Hauptrohstoff für Biodiesel in Südostasien, ergänzend wird dort Kokosöl verwendet. Hinzu kommen geringe Mengen aufbereiteter Pflanzenölreste und in Mitteleuropa Tierfette. Viele weitere Pflanzenöle wurden untersucht und für die Biodieselproduktion eingesetzt, wie Rizinusöl, Sonnenblumenöl und Jatrophaöl. Der im Jahr 2012 in Deutschland produzierte Biodiesel bestand zu 84,7 % aus Rapsöl, zu 10,7 % aus Altspeise- und Tierfetten und zu 3 % aus Sojaöl. Palmöl wurde in Deutschland nur zu 1,6 % verarbeitet. Die Rohstoffe oder deren Mischungen sind so zu wählen, dass die Spezifikationen nach der europäischen Norm EN 14214 beziehungsweise der amerikanischen ASTM D 6751 Norm eingehalten werden. Im Jahr 2016 betrug der Anteil Palmöl, vor allem aus Indonesien und Malaysia, rund 19 %. Dies kann zur Rodung von Regenwald beitragen. 2018 wurde der Biodiesel in Deutschland zu 57,8 % aus Rapsöl, zu 27,0 % aus Altspeisefetten, zu 8,4 % aus Sojaöl, zu 2,3 % aus Palmöl, zu 2,1 % aus tierischen Fetten und zu 2,0 % aus Fettsäuren hergestellt. Die Altspeisefette stammten 2018 jedoch nur zu rund 20 % aus Deutschland, die meisten Altspeisefette werden aus der Volksrepublik China (17,5 %), den Vereinigten Staaten (6,1 %), Indonesien (4,1 %) und Malaysia (3,2 %) importiert. Das für die Umesterung notwendige Methanol ist eine organische Grundchemikalie und ein großtechnisch hergestellter Alkohol. Die technische Herstellung von Methanol erfolgt ausschließlich in katalytischen Verfahren aus Synthesegas. Das zur Methanolherstellung notwendige Synthesegas kann durch Kohlevergasung aus fossilen Rohstoffen wie Kohle, Braunkohle und Erdölfraktionen oder durch Dampfreformierung oder partielle Oxidation von Erdgas gewonnen werden. Umesterung Im Jahr 2012 wurden weltweit etwa 20 Millionen Tonnen Biodiesel hergestellt, entsprechend einer Deckung von etwa 1 % des jährlichen Kraftstoffverbrauchs. Die Herstellung des Biodiesels erfolgt in Batch- oder kontinuierlichen Reaktoren unter saurer oder basischer Katalyse. Der erste Schritt der Herstellung ist die Umesterung unter Mischung der Methanol-, Katalysator- und Ölphase. Die Lösung wird für mehrere Stunden bei Temperaturen zwischen 50 und 70 °C gehalten, um die Reaktion zu vervollständigen. Nach der Beendigung der Reaktion liegt das Gemisch in zwei Phasen vor. Die leichtere Phase enthält Biodiesel mit Beimengungen von Methanol, die schwerere Phase hauptsächlich Glycerin, überschüssiges Methanol und Nebenprodukte wie freie und neutralisierte Fettsäuren sowie Wasser. Die Biodieselphase wird abgetrennt und in weiteren Schritten gewaschen um Spuren von Lauge sowie das Methanol zu entfernen, und schließlich durch Destillation getrocknet. Die Glycerinphase muss ebenfalls vor einer weiteren Verwendung gereinigt werden, das überschüssige Methanol wird zurückgewonnen. Die neutralisierte Fettsäure bildet eine Seife. Diese erschwert die Phasentrennung durch Bildung einer Emulsion und muss sauer gestellt werden unter Bildung freier Fettsäuren. Die Umesterung kann sauer oder basisch katalysiert werden, wobei die Reaktionsgeschwindigkeit bei basischer Katalyse höher ist als bei der Säurekatalyse. Beim Einsatz von Rohstoffen mit einem geringen Gehalt an freien Fettsäuren werden in der technischen Praxis basische Katalysatoren bevorzugt. Als basischer Katalysator eignen sich besonders Natriummethanolat (NaOCH3) und andere Methanolate, die in Methanol gelöst verwendet werden. Das Methanolat CH3-O− greift an einem der Carbonylkohlenstoffatome des Triglycerids nucleophil unter Bildung eines tetraedrischen Übergangszustands an. Unter Freisetzung des Glycerinats R1-O− bildet sich der Methylester. Das Glycerinat reagiert mit dem im Überschuss vorhandenen Methanol weiter zu Glycerin und Methanolat. Die Reaktionsschritte sind zwar prinzipiell reversibel, durch die Unlöslichkeit des Glycerins in der Methylesterphase wird die Reaktion durch Phasentrennung jedoch auf die Seite des Methylesters verschoben. Kaliumhydroxid oder Natriumhydroxid eignen sich weniger als Katalysator, da bei der Reaktion mit freien Fettsäuren oder Methanol Wasser freigesetzt wird. Das Wasser reagiert mit dem Zielprodukt Fettsäuremethylester zu freier Säure und Methanol, daher sollte auch der Rohstoff nur geringe Mengen an freiem Wasser enthalten. Rohstoffe mit einem hohen Gehalt an freien Fettsäuren, die mit einem basischen Katalysator unter Bildung von Seife reagieren, werden mit sauren Katalysatoren wie Schwefelsäure oder Toluensulfonsäure verestert. Das Methanol wird über das stöchiometrische Verhältnis von Pflanzenöl zu Alkohol hinaus zugegeben, um die Reaktion auf die Seite des Methylesters zu verschieben. In der Praxis hat sich ein etwa zweifacher stöchiometrischer Überschuss von Methanol als geeignet erwiesen. Als Zwischenprodukte bilden sich teilumgeesterte Mono- und Diglyceride, die zum Teil im Biodiesel verbleiben. Moderne Biodieselanlagen haben eine Produktionskapazität von rund 100.000 bis 200.000 Tonnen pro Jahr. Alternative Technologien und Rohstoffe Die Schwerpunkte der Forschung liegen im Bereich Rohmaterialien, Katalyse und Verfahrenstechnik. Da sich alle Fette und Öle als Rohstoffe für die Biodieselherstellung verwenden lassen, wurden zahlreiche neue Fett- und Ölquellen untersucht. So fallen jährlich etwa 10.000 Tonnen Alligatorfett an, die oft als Abfall entsorgt werden. Ein daraus hergestellter Biodiesel erfüllt die amerikanische Biodieselnorm. Auch Abfallfette aus der Hühnerverarbeitung können zu Biodiesel verarbeitet werden. Große Erwartungen knüpfen sich an Pflanzen wie Jatropha, die sich bei hohen Ölanteilen in Gebieten anbauen lassen, die ansonsten landwirtschaftlich schwer nutzbar sind und daher keine Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion darstellen. Auch Algen sind aufgrund der hohen Flächenausbeuten interessant, wobei die Gewinnung der Lipide, etwa durch Extraktion, energieaufwendig ist. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt ist die Veränderung der chemischen Struktur von Biodiesel durch Alkenmetathese, um die Siedekurve von Biodiesel der von Diesel anzupassen. Der im Motoröl enthaltene Biodiesel dampft aufgrund seiner höheren Siedetemperatur nicht ab und kann Polymere bilden, die sich als Ölschlamm ablagern. Durch Metathese kann das Siedeverhalten von Biodiesel so verändert werden, dass dieser leichter aus dem Motoröl ausdampfen kann. Ein Nachteil der derzeitigen Biodieselproduktion durch Umesterung ist die Verwendung homogener Katalysatoren, deren Abtrennung vom Endprodukt aufwendig ist und weitere Produktionsschritte erfordert. Daher wurde der Einsatz heterogener Katalysatoren, die sich leicht vom Endprodukt abtrennen lassen, eingehend untersucht. Der Einsatz von ionischen Flüssigkeiten als Katalysatorsystem wurde ebenfalls untersucht. Eine katalysatorfreie Alternative ohne Einsatz von Kalilauge bietet die Umesterung mit überkritischem Methanol in einem kontinuierlichen Prozess. In diesem Prozess bilden Öl und Methanol eine homogene Phase und reagieren spontan und schnell. Der Prozess ist unempfindlich gegenüber Wasserspuren im Rohmaterial und freie Fettsäuren werden zu Biodiesel verestert. Weiterhin entfällt der Schritt des Auswaschens des Katalysators. Der Prozess erfordert Anlagen für hohe Drücke und Temperaturen, der Gesamtenergieverbrauch ist vergleichbar mit dem herkömmlichen Prozess, da mehrere Prozessschritte entfallen. Ein Vorteil ist unter anderem der geringere Wasserverbrauch. Die Intensivierung des Mischprozesses der schlecht mischbaren Öl- und Methanolphasen durch Einsatz von Ultraschall wurde vielfach untersucht. Dadurch wurde die Reaktionszeit verkürzt und die Reaktionstemperatur herabgesetzt. Um die Mischbarkeit der Öl-, Methanol- und Katalysatorphase zu erhöhen, wurden Lösungsmittel wie Tetrahydrofuran in großen Überschüssen von Methanol eingesetzt. Dadurch gelang es, bei einer Umsetzungsrate von mehr als 98 % die Reaktionszeit signifikant zu verkürzen. Dieses Verfahren erfordert als zusätzlichen Schritt die Abtrennung des leichtentzündlichen Lösungsmittels. Ein weiterer Forschungszweig konzentriert sich auf die mikrobielle Produktion von Biodiesel, wobei Mikroorganismen wie Mikroalgen, Bakterien, Pilze und Hefen verwendet werden. Als Rohstoffe dient etwa Hemizellulose, ein Hauptbestandteil pflanzlicher Biomasse. Genetisch veränderte und metabolisch optimierte Escherichia-coli-Stämme können Biodiesel im technischen Maßstab de novo aus nachhaltigen Rohstoffen produzieren. Das entstehende Produkt enthält neben Biodiesel auch Fettsäuren und Alkohole. Enzyme katalysieren ebenfalls die Umesterung von Ölen mit Methanol. Dieses Verfahren erlaubt die Veresterung freier Fettsäuren neben der Umesterung des Öls. Eigenschaften Biodiesel ist je nach verwendetem Rohmaterial eine gelbe bis dunkelbraune, mit Wasser kaum mischbare Flüssigkeit mit hohem Siedepunkt und niedrigem Dampfdruck. Im Vergleich zu mineralischem Diesel ist er schwefelärmer und enthält weder Benzol noch andere Aromaten. Im Gegensatz zum Dieselkraftstoff ist Biodiesel unter anderem wegen des höheren Flammpunktes kein Gefahrgut und trägt deshalb keine UN-Nummer. Die Schmiereigenschaften von Rapsmethylester sind besser als von mineralischem Diesel, wodurch sich der Verschleiß der Einspritzmechanik vermindert. Das Europäische Komitee für Normung hat im Jahr 2003 für Biodiesel (Fettsäuremethylester – FAME) die Norm EN 14214 festgelegt. Diese wurde im Jahr 2010 in einer neuen Fassung vorgelegt. Damit werden Grenzwerte unter anderem für die chemische Zusammensetzung, den Gehalt an anorganischen Bestandteilen wie Wasser, Phosphor oder Alkalimetallen, die Gesamtverschmutzung sowie physikalische Parameter wie die Dichte oder die Viskosität des Biodiesels definiert. Weiterhin sind über die Norm wichtige motortechnische Parameter wie die Oxidationsstabilität, der Cold Filter Plugging Point, die Cetanzahl und der Cloud Point festgelegt. Biodiesel, der aus reinem Soja- oder Palmöl hergestellt wurde, kann die Norm EN 14214 bislang nicht erfüllen, im Gegensatz zu der in den Vereinigten Staaten von Amerika für Biodiesel gültigen Norm ASTM D 6751. Chemische Zusammensetzung Die EN 14214 legt den Gehalt an Fettsäuremethylestern, einem Maß für den Grad der Umesterung, die Reinheit und die Qualität des Biodiesels auf mindestens 96,5 % (mol/mol) fest. Der Gehalt an Fettsäuremethylestern wird nach EN 14103 mittels Gaschromatographie bestimmt. Mit derselben Methode wird auch der Gehalt an Linolensäure, einer mehrfach ungesättigten Fettsäure, bestimmt. Der Anteil an ungesättigten Fettsäuren wird außerdem über die Iodzahl ermittelt. Nach EN 14214 ist der Anteil an ungesättigten Fettsäuren auf eine Iodzahl von 120 limitiert, was der Addition von 120 Gramm Iod pro 100 Gramm Biodiesel entspricht. Der Anteil an ungesättigten Fettsäuremethylestern und strukturelle Merkmale, wie die Kettenlängenverteilung der Fettsäuremethylester, sind mit Kraftstoffeigenschaften wie der Cetanzahl und der Oxidationsstabilität verbunden. Freie Fettsäuren im Biodiesel verursachen Korrosion und bilden mit basischen Komponenten wie Alkali- oder Erdalkalisalzen Seifen. Diese können zu Verklebung und Verstopfung von Filtern führen. Der Anteil der freien Fettsäuren wird über die Säurezahl nach EN 14104 bestimmt, wobei der obere Grenzwert 0,5 Milligramm Kaliumhydroxid pro Gramm Biodiesel beträgt. Der Anteil an Partial- und Triglyceriden ist ein Maß für den Grad der Umesterung, deren Konzentration durch die Reaktionsführung beeinflusst wird. Der Anteil an Triglyceriden ist gewöhnlich am niedrigsten, gefolgt von Di- und Monoglyceriden. Nach EN 14214 darf Biodiesel maximal 0,80 % (mol/mol) Monoglyceride enthalten, die Konzentration an Di- und Triglyceriden sollte unterhalb von 0,2 % (mol/mol) liegen. Der Gehalt an freiem Glycerin sollte kleiner als 0,02 % (mol/mol) sein. Anorganische Bestandteile Der Schwefelgehalt von Biodiesel darf 10 ppm nicht überschreiten. Kraftstoffe mit einem Schwefelgehalt von weniger als 10 ppm gelten per Definition als schwefelfrei. Der Wassergehalt von Biodiesel wird mittels Karl-Fischer-Titration gemäß EN ISO 12937 bestimmt. Da Biodiesel hygroskopisch ist, steigt der Wassergehalt mit dem Transport und der Lagerdauer an. Biodiesel sollte nicht mehr als 300 ppm Wasser enthalten, denn das Wasser reagiert mit dem Methylestern unter Freisetzung von Methanol und Fettsäuren. Der Gehalt der Alkalimetalle Natrium und Kalium wird nach EN 14538 durch optische Emissionsspektrometrie mit induktiv gekoppeltem Plasma (ICP-OES) bestimmt und sollte in Summe einen Wert von 5 ppm nicht überschreiten. Die Metalle stammen aus dem basischen Katalysator des Herstellungsprozesses. Die Erdalkalimetalle Calcium und Magnesium stammen aus dem für den Waschprozess der Herstellung verwendeten Wasser. Der Grenzwert liegt in Summe ebenfalls bei 5 ppm. Der nach EN 14107 bestimmte Phosphorgehalt darf im Biodiesel laut EN 12214 einen Wert von 4 ppm nicht überschreiten. Der Phosphor stammt hauptsächlich aus natürlich im Pflanzenöl vorkommenden Phospholipiden. Die Gesamtverschmutzung, ein Maß für den Anteil an nicht filtergängigen Partikeln, wird nach EN 12662 bestimmt und muss unterhalb von 24 ppm liegen. Zur Bestimmung wird der Biodiesel filtriert und der Filterkuchen gewogen. Physikalische und anwendungsspezifische Eigenschaften Der Flammpunkt liegt über 130 °C und ist damit signifikant höher als bei regulärem Diesel. Als unterer Grenzwert sind 101 °C festgelegt. Die Dichte, der Quotient aus der Masse und dem Volumen eines Stoffes, liegt für Biodiesel bei 0,88 g/cm³, wobei die Spezifikationsunter- und -obergrenzen bei 0,86 und 0,9 g/cm³ liegen. Die Viskosität ist vergleichbar mit der von Diesel. Sie wird bestimmt nach EN 3104 und muss bei 40 °C zwischen 3,5 und 5 mm²/s liegen. Die Oxidationsstabilität ist eine Kenngröße für die chemische Stabilität des Biodiesels während der Lagerung. Oxidative Abbauprodukte können zu Ablagerungen an den Einspritzpumpen oder zum Filterversatz führen. Die Oxidation des Biodiesels erfolgt durch Luftsauerstoff, der in Radikalreaktionen mit ungesättigten Fettsäuren reagiert und zu Folge- und Abbauprodukten wie Aldehyden, Ketonen, Peroxiden und niedermolekularen Carbonsäuren führt. Die Oxidationsstabilität wird durch die Induktionszeit definiert. Dabei wird eine Biodieselprobe im Luftstrom mehrere Stunden auf einer Temperatur von 110 °C gehalten. Die organischen Bestandteile des Luftstroms werden in Wasser absorbiert, wobei die Leitfähigkeit des Absorbats gemessen wird. Ein auftretender Knickpunkt in der Leitfähigkeitskurve wird als Induktionszeit bezeichnet. Sie muss laut Norm kleiner als 6 h sein. Mit Cloudpoint wird eine Kälteeigenschaft von Dieselkraftstoff und Heizöl bezeichnet. Er ist die Temperatur in Grad Celsius, bei der sich in einem blanken, flüssigen Produkt beim Abkühlen unter definierten Prüfbedingungen die ersten temperaturbedingten Trübungen bilden. Die Grenzwerte der Spezifikation sind abhängig von der Jahreszeit und liegen zwischen −0,6 und 7,4 °C. Der Cloudpoint von Biodiesel hängt vom eingesetzten Rohmaterial ab und kann ohne Zusatz von Additiven zwischen etwa −10 °C für Rapsmethylester und +16 °C bei Tierfettmethylestern liegen. Der Temperaturgrenzwert der Filtrierbarkeit (englisch Cold Filter Plugging Point, CFPP) ist die Temperatur, bei der ein Prüffilter unter definierten Bedingungen durch auskristallisierte Stoffe verstopft und somit ein Maß für die Verwendbarkeit bei Kälte ist. Er wird nach der Methode EN 116 bestimmt. Der Parameter lässt sich durch Zusatz geeigneter Additive beeinflussen. Die Grenzwerte sind jahreszeitabhängig und liegen im Winter bei −20 °C und im Sommer bei 7,9 °C. Ein wichtiger motortechnischer Parameter ist die Cetanzahl von Biodiesel. Sie ist eine dimensionslose Kennzahl zur Beschreibung der Zündwilligkeit. Dabei wird die Zündwilligkeit durch Vergleich mit einem Gemisch von Cetan, einer älteren Bezeichnung für n-Hexadecan, und 1-Methylnaphthalin getestet, wobei der Volumenanteil von Cetan im Vergleichsgemisch der Cetanzahl entspricht. Sowohl die Norm ASTM D 6751 als auch EN 14214 erfordern zur Bestimmung der Cetanzahl einen speziellen Motor oder ein Einzylinder-CFR-Prüfverfahren. Die untere Grenze der Cetanzahl von Biodiesel liegt nach EN 14241 bei 51. Antriebs- und Fahrzeugtechnik Herkömmliche Dieselmotoren nutzen kleine Anteile von Biodiesel als Beimischung in mineralischem Diesel problemlos. Ab dem 1. Januar 2007 galt in Deutschland eine Biokraftstoffquote von 5 %, ab 2009 ist eine Quote von 7 % Biodiesel gesetzlich gefordert und wird von den Mineralölgesellschaften umgesetzt. Eine technische Freigabe der Kraftfahrzeughersteller ist hierfür nicht erforderlich. Für höhere Beimischungen und reinen Biodieselbetrieb muss der Motor biodieselfest sein, belegbar durch technische Freigaben der Fahrzeughersteller. Die mit dem Kraftstoff in Berührung kommenden Kunststoffteile wie Schläuche und Dichtungen müssen beständig gegenüber Biodiesel sein. Diesel neigt zur Sedimentbildung. Die Sedimente lagern sich im Kraftstofftank und den kraftstoffführenden Leitungen ab und sammeln sich dort an. Biodiesel hat gute Lösungsmitteleigenschaften und kann daher im Dieselbetrieb entstandene Ablagerungen aus Tank und Leitungen lösen, die den Kraftstofffilter verstopfen können. Bei grober Verschmutzung kann es zur Beeinträchtigung des Einspritzsystems kommen. In einem nicht biodieseltauglichen Fahrzeug kann er in kurzer Zeit die kraftstoffführenden Schläuche und Dichtungen zersetzen, wobei Dichtungen in der Einspritzanlage und Zylinderkopfdichtungen betroffen sein können. Bei genügend langer Einwirkdauer kann Biodiesel Autolacke angreifen. Biodiesel zeigt, speziell bei hohem Wasseranteil, eine Tendenz zu mikrobiologischer Verunreinigung. Dadurch entstehen unter anderem Proteine, die schleimige Emulsionen bilden und die Kraftstoffqualität beeinflussen. Ein Problem stellt der Biodieseleintrag ins Motoröl dar. Wie bei Normaldieselbetrieb gelangt unverbrannter Biodiesel an die Zylinderwand und damit in den Schmierkreislauf. Reiner Dieselkraftstoff beginnt bei circa 55 °C zu verdampfen. Erreicht das Motoröl im Fahrbetrieb diese Temperatur, verdampft der herkömmliche Diesel aus dem Motoröl und wird über die Kurbelgehäuseentlüftung der Ansaugluft beigemengt und verbrannt. Da Rapsmethylester erst ab etwa 130 °C zu verdampfen beginnt und das Motoröl diese Temperatur nicht erreicht, reichert sich Biodiesel im Motoröl an. Durch höhere örtliche Temperaturen im Schmierkreislauf zersetzt sich der Biodieselanteil allmählich unter Verkokung und Polymerisation, was zu festen oder schleimartigen Rückständen führt. Dies und die Verschlechterungen der Schmiereigenschaften bei hoher Biodieselkonzentration im Motoröl können zu erhöhtem Motorverschleiß führen, weswegen der Ölwechsel bei Biodieselbetrieb in kürzeren Intervallen erforderlich ist. Der Betrieb mit Biodiesel kann für moderne Abgasnachbehandlungssysteme problematisch sein, da die im Biodiesel vorhandenen Spuren von Anorganika zu Ablagerungen führen und diese Systeme schädigen können. Der Energiegehalt von Diesel liegt etwa bei 36 MJ/l, während Biodiesel einen Energiegehalt von 33 MJ/l aufweist. Wegen der geringeren Energiedichte können beim Einsatz von Biodiesel Leistungseinbußen von etwa 5 bis 10 % oder ein ebenso erhöhter Kraftstoffverbrauch auftreten. Für Biodiesel zugelassene Motoren mit Common-Rail-Technologie können die Einspritzzeit und -menge über einen Sensor optimieren, der dem Motormanagement Informationen vermittelt, welcher Kraftstoff oder welches Kraftstoffgemisch eingesetzt wird. So wird es möglich, unabhängig vom verwendeten Kraftstoff und dessen Mischungsverhältnis die Abgasnormen einzuhalten. Es wurden verschiedene Sensorsysteme auf spektroskopischer Basis oder als Leitfähigkeitsdetektor für die Detektion des Biodieselanteils im Kraftstoff erprobt. Eine Untersuchung der Darmstädter Materialprüfungsanstalt hat gezeigt, dass Korrosionsschutzschichten wie Verzinkung von Biodiesel angegriffen werden können. Kritisch war hierbei, dass Biodiesel leicht hygroskopisch wirkt und bei einem eventuellen Wassergehalt durch Esterhydrolyse freie Fettsäuren entstehen, die den pH-Wert senken und korrosiv wirken können. Durch eine Beimischung konventionellen Diesels wird dieser Effekt vollständig verhindert. Verwendung Straßenverkehr Der Verkehrssektor verbrauchte im Jahr 2005 in Deutschland etwa 20 % der Gesamtenergie, wovon wiederum 80 % auf den Straßenverkehr entfielen. Biodiesel hatte mit 70 % im Jahr 2011 den größten Anteil an erneuerbaren Energien im Verkehrssektor. Der Straßenverkehr ist der Bereich, in dem der Einsatz von Biodiesel am weitesten verbreitet ist, Blends wie B5 und B7 sind weltweit Standard. In Deutschland erreichte der Verbrauch an Biodiesel im Straßenverkehrsbereich im Jahr 2007 einen vorläufigen Höhepunkt mit einem Anteil von etwa 7 %. Die Verkehrsleistung stieg von 1992 bis 2013 im Personenverkehr um 24 % und im Güterverkehrsbereich um 60 %, wobei die Energieeffizienz im gleichen Zeitraum deutlich stieg. Für den Güterverkehr mit schweren Nutzfahrzeugen und Personenkraftwagen mit hohen Kilometerleistungen, die weitgehend mit Dieselmotoren angetrieben werden, wird weiterhin ein starkes Wachstum erwartet, einhergehend mit einem weiteren Anstieg des Anteils von Dieselkraftstoff von 66 bis 76 % am Bedarf von Flüssigkraftstoffen für Verbrennungsmotoren. Durch festgelegte Beimischungsquoten wird dementsprechend der Gesamtbedarf an Biodiesel weiter steigen. In den Jahren 2018 und 2019 lag die THG-Quote bei 4 % und stieg 2020 auf 6 %. Die Steigerung konnte vor allem durch die gesteigerte Beimischung von hydriertem Pflanzenöl (HVO) erreicht werden. In etwa auf Vorjahresniveau blieben die Mengen an UCOME (Altspeiseölmethylester) inkl. FAME aus Abfall- und Reststoffen (885.000 t) sowie PME (Pflanzenölmethylester) (1.508.000 t). Schienenverkehr Der Schienenverkehrssektor stützt sich stark auf Erdöl basierende Kraftstoffe. Daher wurde der Einsatz von Biodiesel und dessen Gemischen mit dem Ziel der Reduzierung der Treibhausgase und der Senkung des Erdölverbrauchs in vielen Ländern untersucht. Eine Lok der Virgin Voyager Gesellschaft (Zug-Nr. 220007 Thames Voyager) von Richard Branson wurde zur Verwendung eines 20-prozentigen Biodieselgemisches umgebaut. Ein weiterer Zug, der während der Sommermonate auf einer Mischung mit 25 % Biodiesel auf Rapsölbasis laufen soll, wurde im östlichen Teil des US-Bundesstaates Washington eingesetzt. Die gesamte Flotte der Prignitzer Eisenbahn GmbH fährt seit 2004 mit Biodiesel. Das davor eingesetzte Pflanzenöl konnte für die neuen Triebwagen nicht mehr genutzt werden. In Indien wurde der Einsatz von Biodiesel auf Jatropha-Basis eingehend untersucht, da diese Pflanze am besten geeignet schien, unter einer Vielzahl von klimatischen Bedingungen zu wachsen. Auch in Litauen wurde der Einsatz von Biodieselblends untersucht. Dabei zeigte sich, dass Diesellokomotiven effizient mit einem B40-Blend auf Rapsölmethylesterbasis arbeiten. Schifffahrt Die Verwendung von Biodiesel statt herkömmlichem Diesel für die Berufsschifffahrt oder Wassersportaktivitäten auf Binnengewässern, die als Trinkwasserspeicher dienen, verringert wegen der schnellen biologischen Abbaubarkeit die Gefahr einer Trinkwasserverschmutzung. So wird das Ausflugsschiff Sir Walter Scott auf dem Loch Katrine in Schottland mit Biodiesel betrieben, damit bei einem Unfall die aus diesem See gespeiste Trinkwasserversorgung von Glasgow nicht durch Kontamination mit Kohlenwasserstoffen gefährdet ist, wie dies bei Diesel der Fall wäre. Für den Bodensee soll untersucht werden, ob sich Biodiesel als alternativer Kraftstoff einsetzen lässt. Damit ließe sich ein wesentlicher Beitrag für den Gewässerschutz des Bodensees leisten. Auch das Umweltbundesamt empfiehlt die Verwendung von Biodiesel als Kraftstoff in Sportbooten unter Aspekten des Gewässerschutzes. Um die generelle Einsatzfähigkeit von Biodiesel in der Schifffahrt zu demonstrieren, wurde der Trimaran Earthrace entwickelt. Er wurde ausschließlich von Biodiesel angetrieben und umrundete im Jahr 2008 die Erde in 60 Tagen, 23 Stunden und 49 Minuten. Luftverkehr Der Einsatz von Biodiesel im Luftverkehr befindet sich noch in der Entwicklung, der Betrieb von Verkehrsflugzeugen mit niedrigen Konzentrationen von Biodiesel in Mischungen mit Kerosin scheint ohne wesentliche Änderung am Flugzeug, der Flughafeninfrastruktur oder beim Flugbetrieb technisch machbar zu sein. Die Luftfahrtindustrie verbrauchte im Jahr 2011 etwa 216 Millionen Tonnen Kerosin. Damit könnte die weltweit hergestellte Biodieselmenge etwa 7 % des Verbrauchs ersetzen. Das Unternehmen Green Flight International führte die ersten Flüge durch, bei denen für den Großteil der Strecke reines Biodiesel zum Einsatz kam: 2007 mit dem Kurzstreckenjet Aero L-29 Delfin in Nevada, im folgenden Jahr etwa 4.000 Kilometer quer durch die Vereinigten Staaten. Bisherige Versuche mit Verkehrsmaschinen vom Typ Boeing 747 verwenden Biodiesel in Mischung mit fossilem Kerosin. Mit einer Biokraftstoff-Beimischung von 20 % fand im Februar 2008 ein Testflug der Fluggesellschaft Virgin Atlantic von London Heathrow Airport nach Amsterdam statt, im Dezember 2008 führte Air New Zealand von Auckland aus einen Testflug durch, bei dem ein Triebwerk von einer Mischung aus Kerosin und 50 % Biokraftstoff aus Jatrophaöl angetrieben wurde. Der Einsatz von Biodiesel bei Bodenfahrzeugen und Flugzeugen würde außerdem die Partikelemissionen auf Flughäfen reduzieren. Heizöl Biodiesel kann im Prinzip als Bioheizöl verwendet werden, wobei aufgrund der guten Lösungsmitteleigenschaften hohe Anforderungen an die chemische Beständigkeit der verwendeten Heizanlagenkomponenten gestellt werden. Anders als bisherige Kraftstoffe wird Biodiesel als Heizölersatz nicht durch eine vergleichbare Steuerermäßigung gefördert, da Heizöl ohnehin geringer besteuert wird. Heizöl mit einer Beimischung von 5 bis 20 % Biodiesel ist in Deutschland seit 2008 auf dem Markt und kann aufgrund geeigneter Additive im Heizungsmarkt eingesetzt werden. Politische Vorgaben Die Europäische Union ist, besonders im Verkehrsbereich, abhängig von auf Mineralöl basierenden Kraftstoffen. Bereits seit der Ölkrise in den 1970er Jahren nahm die allgemeine Besorgtheit über die Abhängigkeit von Rohölimporten zu. Die Berichterstattung über die globale Erwärmung, besonders seit der Klimakonferenz in Kyoto, regte zudem vielseitige Diskussionen über den Einfluss von Kohlenstoffdioxidemissionen auf das Klima an. Europäische Union Die Nutzung von Biodiesel in der EU wird über politische Maßnahmen mit dem grundlegenden Ziel des vermehrten Einsatzes erneuerbarer Energiequellen gesteuert. Diese Politik verfolgt die EU aus ökologischen Gründen wie der Reduktion von Treibhausgasen und der Verminderung lokaler Umweltbelastungen durch Abgasemissionen, der Schaffung von Arbeitsplätzen und Einkommen und um einen Beitrag zu einer sicheren Energieversorgung zu leisten. Aus diesen Gründen formulierte die Europäische Kommission im Jahre 1997 in einem Weißbuch das Ziel, den Anteil erneuerbarer Energien am gesamten Primärenergieverbrauch bis zum Jahre 2010 auf 12 % zu verdoppeln. In einem im Jahr 2000 herausgegebenen Grünbuch legte die Kommission weiterhin eine Strategie für die europäische Energieversorgungssicherheit fest. Mit ihrer Biokraftstoffrichtlinie gab die Europäische Union einen Stufenzeitplan für die gesteckten Ziele bei der Deckung des Kraftstoffverbrauchs durch Biokraftstoffe vor. Alle Mitgliedstaaten sollten ihren Kraftstoffverbrauch im Verkehrssektor bis zum Jahr 2005 zu 2 % mit Biokraftstoffen abdecken. Ab 2010 sollten es 5,75 %, bis 2020 sollten es 10 % sein. Dies konnte durch Verwendung von Biotreibstoffen in Reinform, als Beimischung oder durch Einsatz anderer erneuerbarer Energien erfolgen. Diese Richtlinie enthielt eine Ermächtigung der Mitgliedstaaten, die Besteuerung von Biokraftstoffen in Hinblick auf deren Ökobilanz anzupassen. Daraufhin begann eine intensive Diskussion über die Ökobilanzierung von Biodiesel in Deutschland und auf europäischer Ebene. Die Internationale Organisation für Normung publizierte die dazugehörige Methodik in der Norm ISO 14044, die den Standard für eine ISO-konforme Ökobilanzierung darstellt. Des Weiteren wurde am 27. Oktober 2003 die Energiesteuerrichtlinie in Kraft gesetzt. Sie ist die rechtliche Basis für die nationalen Verordnungen und Gesetze in Bezug auf Steuervergünstigungen für Biokraftstoffe. Die Richtlinie war nur sechs Jahre gültig, konnte aber bei Bedarf zeitlich ausgedehnt werden. Den Mitgliedstaaten wurde freie steuerliche Gestaltung zugesichert, solange die umweltpolitischen Ziele erreicht wurden. Die Mitgliedstaaten meldeten den Fortschritt an die Europäische Kommission, die wiederum an das Europäische Parlament berichtete. Im Rahmen einer Politik zur Förderung erneuerbarer Energiequellen legte die Europäische Kommission im Jahr 2005 einen Aktionsplan für Biomasse vor mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit, die nachhaltige Entwicklung und die Versorgungssicherheit zu gewährleisten und die Abhängigkeit Europas von Energieeinfuhren zu verringern. Der Aktionsplan wurde im Jahr 2006 durch eine Strategie der Europäischen Union für Biokraftstoffe ergänzt. Die Strategie diente der Förderung von Biokraftstoffen in der EU und in Entwicklungsländern, wobei die Erforschung von Biokraftstoffen der zweiten Generation einbezogen wurde. Die Erneuerbare-Energien-Richtlinie vom 23. April 2009 ersetzte die Biokraftstoffrichtlinie und hob sie auf. Mit dieser Richtlinie legten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verbindlich den bis zum Jahr 2020 zu erreichenden Anteil von erneuerbaren Energien am Gesamtenergieverbrauch fest. Als Ziel sollte bis zu diesem Jahr der Anteil von erneuerbaren Energien bei mindestens 20 % liegen. Tatsächlich lag der Anteil erneuerbarer Energien in der EU bereits 2019 bei 19,7 % und soll bis 2030 weiter gesteigert werden auf 32 %. Ein kontrovers diskutiertes Thema ist der Einfluss der indirekten Landnutzungsänderung (englisch: indirect Land Use Change (impacts of biofuels), iLUC). Sie bezeichnet den Effekt, dass die Anpflanzung von Biomasse, etwa zur Palmölgewinnung für Biodiesel, die Flächennutzung für die Nahrungs- oder Futtermittelproduktion verdrängt. Im Jahr 2011 forderte eine Studie des International Food Policy Research Institute (IFPRI) eine Verschärfung der Berechnung der Klimabilanz unter Berücksichtigung der indirekten Landnutzungsänderung. Der Modellansatz des IFPRI beruht auf komplexen ökonometrischen Gleichgewichten, andere Modellansätze führen zu anderen Ergebnissen. Bei Biodiesel liegt die Bandbreite der berechneten zusätzlichen Emissionen zwischen 1 und 1434 gCO2/MJ. Die meisten Modelle führen jedoch zu dem Schluss, dass sich bei Einbeziehung der indirekten Landnutzungsänderung in die Ökobilanz gegenüber den bisherigen Berechnungen höhere Emissionen ergeben. Deutschland Deutschland verpflichtete sich bereits im Jahr 1997 im Rahmen des Kyoto-Protokolls seine Emissionen in der ersten Verpflichtungsperiode von 2008 bis 2012 gegenüber 1990 um durchschnittlich 5,2 % zu reduzieren, etwa durch die Förderung von nachwachsenden Rohstoffen für energetische Zwecke. Vor dem Jahr 2003 wurden reine Biokraftstoffe wie Pflanzenöl oder Biodiesel gar nicht oder nur geringfügig durch die Mineralölsteuer belastet. Eine Änderung des Mineralölsteuergesetzes stellte zum 1. Januar 2004 Biodiesel formal dem Petrodiesel gleich, der Steueranteil auf Biodiesel betrug zunächst 0 Cent pro Liter. Ab 2003 führte der Gesetzgeber die Beimischungspflicht ein, der Beimischungsanteil von 5 % wurde ebenfalls steuerbegünstigt. Viele, vor allem gewerbliche Verkehrsteilnehmer, zogen einen wirtschaftlichen Vorteil aus dieser Regelung, der Marktanteil für Biodiesel stieg in der Folge stark an. Die daraus resultierenden Steuerausfälle führten in der Folge zur Reduzierung der steuerlichen Vorteile und zur Formulierung von erweiterten gesetzlichen Beimischungsquoten, um die Ziele bezüglich der Reduktion von Treibhausgasen einzuhalten. Das 2006 vom Bundestag verabschiedete Biokraftstoffquotengesetz schrieb vor, dass der Anteil an Biokraftstoffen bis 2010 auf 6,75 % und bis 2015 auf 8 % steigen sollte. Das Gesetz stellte Anforderungen an eine nachhaltige Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen und zum Schutz natürlicher Lebensräume und forderte bestimmtes Kohlenstoffdioxidverminderungspotenzial.() Durch das Gesetz zur Änderung der Förderung von Biokraftstoffen vom 15. Juli 2009 wurde beschlossen, diese Quote 2009 bei 5,25 % zu belassen und ab 2010 bei 6,25 % einzufrieren. Bereits seit 2004 durfte herkömmlicher Mineralöldiesel mit bis zu 5 % Biodiesel vermischt werden, seit Februar 2009 erlaubte eine neue Dieselnorm die Beimischung von bis zu 7 %. Seit dem 1. Januar 2011 wird der Anteil von Biodiesel, der aus Altspeisefetten und tierische Altfetten hergestellt wurde, gegenüber dem Anteil von Raps-, Soja- oder Palmölmethylester doppelt gewichtet auf die Biokraftstoffquote angerechnet. Der Bundestag verabschiedete am 29. Juni 2006 das Energiesteuergesetz, das die schrittweise Besteuerung von Biodiesel und Pflanzenölkraftstoff vorsah. Für beide Stoffe galt ab 2012 der volle Mineralölsteuersatz. Reiner Biodiesel wurde ab August 2006 mit neun Cent pro Liter besteuert, eine jährliche Erhöhung um sechs Cent war im Energiesteuergesetz verankert. Dies führte zu einem deutlichen Absinken des Biodieselanteils am Diesel-Gesamtbedarfsvolumen. Deswegen wurde im Juni 2009 das Energiesteuergesetz geändert. Es war weiterhin eine jährliche Erhöhung vorgesehen, jedoch griff der volle Steuersatz erst ab 2013. Bereits im Dezember 2009 wurde die Besteuerung von Biodiesel im Zuge des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes erneut geändert. Die jährliche Erhöhung für 2011 und 2012 wurde ausgesetzt, so dass die Steuer auf Biodiesel Anfang 2013 in einem Sprung von 18,6 ct auf 45,03 ct pro Liter stieg. Da der Brennwert von Biodiesel unter dem von Mineralöl liegt, wird der volumenbezogene Steuersatz um zwei Cent unter dem Satz für fossile Kraftstoffe bleiben. Die Steuerermäßigung für reine Biokraftstoffe wird gemäß § 50 Absatz 1 Satz 5 des Energiesteuergesetzes nur für die Mengen Biokraftstoffe gewährt, welche die in § 37a Absatz 3 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes für die Beimischung genannten Mindestanteile, die so genannte „fiktive Quote“, überschreiten. Die am 30. September 2009 erlassene Biokraftstoff-Nachhaltigkeitsverordnung dient der Umsetzung der Vorgaben der Erneuerbare-Energien-Richtlinie. Demnach dürfen Produzenten für die Herstellung von Biodiesel nur Rohstoffe verwenden, die aus einem nachhaltigen Anbau stammen. Die gewonnene Energie wird im Rahmen der Erneuerbare-Energien-Richtlinie nur dann berücksichtigt, wenn sie zu einer Minderung der Treibhausgasemissionen von mindestens 35 % beiträgt. Der Prozentsatz steigt ab 2017 auf 50 %. Akkreditierte Stellen geben Nachhaltigkeitsnachweise () aus, die bestätigen, dass die Anforderungen während des gesamten Herstellungsprozesses eingehalten wurden. Laut der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung sparte Deutschland im Jahr 2011 durch Biokraftstoffe etwa 7 Millionen Tonnen Kohlenstoffdioxidäquivalent ein, entsprechend einer Einsparung von etwa 50 % gegenüber dem fossilen Kraftstoffen. Im Jahr 2012 teilte die EU-Kommission jedoch mit, dass es ein europäisches Zertifikat gebe und der deutsche Nachhaltigkeitsnachweis daher nicht mehr anerkannt werde. Österreich Die Biokraftstoffrichtlinie wurde in Österreich im November 2004 durch eine Novelle der Kraftstoffverordnung in nationales Recht umgesetzt und im Juni 2009 angepasst. Demnach gab es seit Oktober 2005 eine Beimischungspflicht von 2,5 % Biokraftstoffen für alle Otto- und Dieselkraftstoffe. Als Bemessungsgrundlage der Beimischungsquote dient der Energiegehalt der Kraftstoffe. Der Anteil erhöhte sich im Oktober 2007 auf 4,3 % und im Januar 2009 wurde die Beimischungsquote auf maximal 7 % erhöht. Die Umsetzung der Biokraftstoffrichtlinie wurde in Österreich im Wesentlichen durch die Beimischung von Biodiesel erreicht. Österreich verfügte 2011 über 14 Biodieselanlagen mit einer Produktionskapazität von knapp 700.000 Tonnen pro Jahr. Biodiesel und andere Heiz- und Kraftstoffe, die gänzlich oder fast zur Gänze aus biogenen Stoffen hergestellt wurden, sind von der Mineralölsteuer befreit. Schweiz Die Schweiz hat sich im Rahmen des Kyoto-Protokolls zu einer Verringerung des Kohlenstoffdioxidausstoßes verpflichtet. Biodiesel wird in der Schweiz bis sieben Prozent beigemischt, eine gesetzliche Beimischungspflicht für Biodiesel besteht jedoch nicht. Seit dem 1. Juli 2008 ist Biodiesel in der Schweiz von der Mineralölsteuer befreit, sofern er gesetzlich festgelegte ökologische und soziale Kriterien erfüllt. Die damit zusammenhängende Ökologisierung der Mineralölsteuer fördert fiskalisch umweltschonende Treibstoffe. Diese Maßnahmen sind für den Bundeshaushalt ertragsneutral, da eine höhere Besteuerung des Benzins Mindereinnahmen kompensiert. In der Schweiz sind nur erneuerbare Treibstoffe zugelassen, welche weder die Nahrungs- noch die Futtermittelindustrie konkurrenzieren (Teller-Trog-Tank-Prinzip). Markt- und Kapazitätsentwicklung Die Markt- und Kapazitätsentwicklung für Biodiesel geht einher mit den politischen Vorgaben, besonders der steuerlichen Begünstigung sowie dem vorgeschriebenen Beimischungsanteil zum Petrodiesel. Der Anteil von Biodiesel stieg für einige Jahre kontinuierlich und erreichte im Jahr 2007 den Spitzenwert von etwa 12 % am deutschen Dieselkraftstoffmarkt, wobei der Reinkraftstoff besonders von gewerblichen Verbrauchern wie Speditionen genutzt wurde. Im Jahr 2007 kauften Speditionen etwa die Hälfte des Reinbiodiesels, etwa 7 % wurde über Tankstellen verkauft und 3 % an Landwirte. Der Preisvorteil von Biodiesel verringerte sich jedoch bereits seit 2006, teils als Folge der jährlich steigenden Steuerbelastung, teils bedingt durch die Preisentwicklung auf den Pflanzenöl- und Rohölmärkten. Nach mehreren Jahren mit steigenden Absätzen ging der Verkauf von Biodiesel-Reinkraftstoff in Deutschland ab 2008 zurück. Der kraftstoffbedingte Mehrverbrauch, technische Restrisiken und gegebenenfalls Umrüstungskosten waren nur durch einen Preisvorteil für Biodiesel auszugleichen. Im Peakjahr 2007 wurden in Deutschland etwa 2,15 Millionen Tonnen B100 abgesetzt, im Jahr 2012 nur noch 100.000 Tonnen. Die Energiesteuer auf reinen Biodiesel stieg von ursprünglich 9 Cent im Jahr 2006 über 18,6 Cent ab 2010 auf 45 Cent pro Liter zum 1. Januar 2013. Dadurch kam der Verkauf von Biodiesel seit Januar 2013 in Deutschland als Reinkraftstoff praktisch zum Erliegen. Durch die obligatorische Beimischung von Biodiesel zu fossilem Diesel erhöht sich der Absatz in diesem Segment, dies glich die Verluste beim Reinkraftstoff jedoch nicht aus. Die Biokraftstoffrichtlinie von Mai 2003 forderte, dass die EU-Mitgliedstaaten ab 31. Dezember 2005 mindestens 2 % und bis zum 31. Dezember 2010 mindestens 5,75 % der zum Transport bestimmten Kraftstoffe aus erneuerbaren Quellen zu verwenden haben. Erreicht wurde eine Quote von 5,8 %. Österreich setzte die EU-Direktive früh um und ab 1. November 2005 boten Tankstellen nur noch Diesel mit 5 % Biodieselzusatz und seit Februar 2009 nur noch Diesel mit 7 % Biodieselanteil an. Der Anbau von Raps als Rohstoff für die Biodieselherstellung führte zu einer Ausdehnung der Anbauflächen, die in Deutschland zum großen Teil in den ostdeutschen Flächenländer Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Sachsen liegen. Gleichzeitig stieg auch die Herstellungskapazität für Biodiesel, allein zwischen 2004 und 2007 vervierfachte sich die Kapazität von 1,2 auf 4,8 Millionen Tonnen. Im Jahr 2011 standen bereits 22,12 Millionen Tonnen Kapazität zur Verfügung. Im Jahr 2012 produzierten in Deutschland insgesamt 51 Hersteller Biodiesel, davon waren 31 Unternehmen in den neuen Bundesländern ansässig. In der Biodieselbranche waren 2012 insgesamt 17.900 Menschen beschäftigt. Aufgrund der politischen Rahmenbedingungen und der Marktlage werden die Kapazitäten jedoch vielfach nicht ausgelastet. Lag die Anlagenauslastung im Jahr 2006 noch bei etwa 81 %, so sank sie bis 2010 auf etwa 43 %. Die Europäische Union dominierte 2012 als größter Hersteller und Verbraucher den globalen Biodieselmarkt. Dies erklärt sich aus dem Marktanteil der zugelassenen Personenkraftwagen mit Dieselmotor. Er liegt in Westeuropa bei etwa 55 %, verglichen mit einem Anteil von 2,6 % in den Vereinigten Staaten. Im Jahr 2010 stellten Deutschland und Frankreich die größten Mengen Biodiesel her, gefolgt von Spanien und Italien. Mit dem Wegfall der steuerlichen Begünstigung und der Einführung der mengendefinierten Beimischungsquoten ergab sich für die Raffinerien der Anreiz zur Beimischung von preiswerten Importbiodiesel auf Soja- und Palmölbasis. Bis zum Jahr 2009 stammte ein Großteil des importierten Biodiesels aus den Vereinigten Staaten. Der Grund lag in der 2004 vom Kongress der Vereinigten Staaten erlassenen Steuervergünstigung für Biodiesel. Sie ermöglichte es, Biodiesel in die Vereinigten Staaten zu importieren, mit weniger als 1 % Petrodiesel zu B99 zu mischen und nach Inanspruchnahme der Steuervergünstigung von etwa 1 USD pro Gallon dieses in die EU zu exportieren. Die ab März 2009 von der EU auf B99 erhobenen Zölle beendeten diese so genannte Splash-and-Dash-Praxis (‚Splash and Dash‘ bezeichnet einen aus dem Motorsport übernommenen Begriff für einen kurzen Zwischenstopp). Seit März 2009 stieg daraufhin der Importanteil von Biodiesel aus Ländern wie Kanada und Singapur. Dabei handelte es sich um US-Biodiesel, der über diese Drittländer exportiert wurde. Im Jahr 2010 exportierte Argentinien 64 bis 73 % des dort aus Sojaöl hergestellten Biodiesels in die Europäische Union. Argentinien erhebt auf landwirtschaftliche Erzeugnisse einen hohen Exportzoll, während der Zoll auf verarbeitete Produkte wie Biodiesel niedriger ist. Der Preisvorteil liegt bei etwa 140 bis 150 Euro pro Tonne Sojaölmethylester im Vergleich zu Sojaöl. Indonesien exportierte im Jahr 2010 etwa 80 % der heimischen Produktion auf Basis von Palmöl in die EU, vor allem in die Niederlande, nach Italien und Spanien. Das in Deutschland verwendete UCO wird hauptsächlich aus China importiert. Der Anstieg dieser Importe fällt zeitlich mit dem verstärkten Import von Palmöl durch China zusammen. Ökologische Aspekte Da Biodiesel aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt wird, ersetzt sein Gebrauch Kraftstoffe auf Erdölbasis, deren künftige Verfügbarkeit bereits mittelfristig als begrenzt angesehen wird. Zudem mindert Biodiesel als erneuerbarer Energieträger die Importabhängigkeit der deutschen Energieversorgung im Kraftfahrsektor, da momentan kein Alternativantrieb in ausreichender Menge und Effizienz zur Verfügung steht. Biokraftstoffe trugen 2011 mit 120 PJ zum Primärenergieverbrauch in Deutschland bei. Die Senkung der Kohlenstoffdioxidemissionen war das ursprüngliche Ziel des Biodieseleinsatzes. Die Ökobilanz muss neben dem mit Treibhausgasemissionen verbundenen Fremdenergieeinsatz bei der Gewinnung von Biodiesel auch die durch Landnutzungsänderung verursachten Effekte betrachten. Biologische Abbaubarkeit Die Untersuchung der biologischen Abbaubarkeit von Biodiesel und dessen Blends durch die Messung der Kohlenstoffdioxidentwicklung zeigte, dass Biodiesel verschiedener Herkunft leicht biologisch abbaubar und daher bei Leckagen weniger umweltbelastend als herkömmlicher Diesel ist. Letzterer ist als wassergefährdend in die Wassergefährdungsklasse 2 eingestuft, während Biodiesel als schwach wassergefährdend in die Wassergefährdungsklasse 1 eingestuft wurde. Reines Pflanzenöl gilt als nicht wassergefährdend. Es wurden für Biodiesel verschiedener Herkunft Abbauraten zwischen 84 und 89 % innerhalb von 24 Stunden gefunden. Die Werte sind vergleichbar mit dem Abbau von Dextrose. Reines Pflanzenöl wurde langsamer abgebaut, wobei Raten zwischen 76 und 78 % gefunden wurden. Reiner Diesel wurde zu 18 % abgebaut. Gaschromatografische Untersuchungen des Abbaus von B50 zeigten, dass sich die Abbaurate des Dieselanteils gegenüber der von reinem Diesel verdoppelte. Daher wurde Biodiesel für die Reinigung ölverschmutzter Strände in Betracht gezogen. Untersuchungen zeigten, dass sich die mikrobiologischen Gemeinschaften durch den Abbau von Biodiesel und seinen Blends auf den kontaminierten Böden veränderten. Die schnelle biologische Abbaubarkeit des Biodiesels kann sich im praktischen Einsatz in Kraftfahrzeugen als Nachteil auswirken, da sie einhergeht mit einer schlechten Alterungsbeständigkeit. Nach unsachgemäßer und langer Lagerung von Biodiesel oder dessen Blends können mikrobiologischer Befall, Oxidation und Wasseranreicherung die Eigenschaften des Biodiesels verschlechtern und zu einem biologischen Teilabbau führen. Dem kann durch Zufügen kleiner Mengen an Petrodiesel – schon 1 % Petrodiesel reicht aus – entgegengewirkt werden. Abgasemissionen Der geringe Aromaten- und Schwefelgehalt von Biodiesel reduziert den Ausstoß von Schwefeldioxid und Partikeln. Im Vergleich zu Dieselkraftstoff wird eine Reduktion der Emissionen von Kohlenwasserstoffen, Kohlenstoffmonoxid und Feinstaub gefunden. Dies wird vor allem auf den Sauerstoffgehalt von Biodiesel zurückgeführt. So wurde gefunden, dass die Emissionsrate für Kohlenwasserstoffe wie 2,2,4-Trimethylpentan, Toluol, Xylolen sowie für polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe beim Einsatz von Biodiesel und Blends um bis zu 90 % reduziert wird. Die Reduktion bei sauerstoffhaltigen Komponenten wie Formaldehyd oder Acetaldehyd lag bei 23 bis 67 %, wobei die Ergebnisse nicht eindeutig sind. Es wurde eine signifikante Abhängigkeit vom Anteil ungesättigter Fettsäuren im Biodiesel auf die Emissionscharakteristik festgestellt. Die Emission von flüchtigen organischen Verbindungen von Blends wie B20 lag 61 % unter der von Diesel. Demgegenüber wird in den meisten Studien über erhöhte Emissionen von Stickstoffoxiden berichtet. Neben biodieselspezifischen Faktoren wie der verwendeten Rohstoffquelle hängt das Maß der Stickoxidemissionen von motortechnischen Faktoren wie Einspritzzeitpunkt, Zündverzug oder der adiabatischen Flammentemperatur ab. Moderne Motoren mit optimierter Einspritztechnik oder Abgasrückführung sowie fortschrittliche Katalysatorsysteme reduzieren die Stickoxidemissionen erheblich. Moderne Fahrzeuge erfüllen beim Betrieb mit Biodieselblends wie B7 die Emissionsstandards für Dieselmotoren. Verringert werden kann die Rohemission durch NOx-Speicherkatalysatoren oder selektive katalytische Reduktions-Systeme. Kuppelprodukte Bei der Produktion von Biodiesel aus Ölpflanzen fallen kaum Abfälle an, da alle Kuppelprodukte verwertet werden. Rapsstroh wird gehäckselt und in den Boden als organischer Dünger eingearbeitet. Es trägt zum Erhalt des Humuskörpers und damit zur Bodenfruchtbarkeit bei. Die Produktion von Ölpflanzen im Mischfruchtanbau oder im Rahmen der Fruchtfolge kann die Auslaugung von Böden verhindern und den Ertrag an Lebensmitteln auf Dauer steigern, wodurch der Einsatz von Herbiziden verringert werden kann. Entsprechende Versuche wurden bereits in der Praxis durchgeführt und sind positiv verlaufen. Die in Deutschland hauptsächlich verwendete Biodieselquelle Raps wird etwa alle 3 bis 4 Jahre auf demselben Feld angebaut. Rapskuchen und Sojakuchen, die bei der Pressung mit einem Restölgehalt von etwa 10 % anfallen, werden als hochwertige Futtermittel genutzt. Das bei der Umesterung entstehende Glycerin kann in der chemischen Industrie weiterverwertet werden, etwa in der Kosmetik. Monomere wie 1,3-Propandiol, Epichlorhydrin, Acrylsäure und Propen können aus Glycerin hergestellt werden. Die Funktionalisierung von Glycerin führt zu Ethern, Acetalen, Ketalen und Estern, die als Kraftstoffadditiv für Ottokraftstoffe oder Diesel verwendet werden können. Mit genetisch veränderten Escherichia-coli-Stämmen lässt sich 1,2-Propandiol aus dem bei der Biodieselherstellung anfallenden Rohglycerin herstellen. Klimawirkung Die Klimaneutralität von Biodiesel ist umstritten. Der Kohlenstoffdioxidbindung beim Wachstum der Pflanze müssen nicht nur die Kohlenstoffdioxidfreisetzung bei der Verbrennung gegenübergestellt werden, ebenso sind die bei Anbau, Herstellung und Nutzung anfallenden Emissionen klimarelevanter Stoffe zu berücksichtigen. Neben Kohlendioxid spielen hier vor allem die in ihrer Höhe umstrittenen Distickstoffmonoxid-Emissionen eine Rolle, die als eine bedeutende Quelle ozonschädlicher Emissionen gelten. Für den Anbau von Raps wird ein Emissionsfaktor für Distickstoffmonoxid aus der Anwendung von Stickstoffdüngern mit 0,0125 kg N2O/kg pro Kilogramm aufgebrachten Stickstoffäquivalents angenommen. Je nach Studie wird die Klimabilanz von Biodiesel um etwa 20 bis 86 % günstiger eingeschätzt als die von Mineralöldiesel. Die US-amerikanische Umweltbehörde, die Environmental Protection Agency (EPA), veröffentlichte 2010 eine umfangreiche Studie zur Ökobilanz von Biodiesel auf Sojaöl- und Altfettbasis, die auch durch den Ölpflanzenbau verursachte Landnutzungsänderungen betrachtete. In Betracht gezogen wurden unter anderem die für die Biodieselproduktion benötigte Energie, die internationale Landnutzungsänderung, die benötigten Betriebsmittel, der Düngereinsatz, der Verbrauch mineralischer Kraftstoffe für die Distribution, die direkte Landnutzungsänderung sowie Methanemissionen. Dabei wurde eine 57%ige Reduktion der Treibhausgase gegenüber mineralischem Diesel gefunden, wobei in einem Vertrauensintervall von 95 % Werte von 22 bis 86 % ermittelt wurden. Für Biodiesel aus Altfetten wurde eine 86%ige Reduktion ermittelt. Fremdenergiebedarf Die Produktion der 1 kg Dieseläquivalent entsprechenden Menge an Biodiesel erfordert selbst erhebliche Energiemengen für die Herstellung von Methanol, Düngemitteln, Transport und den Verarbeitungsprozess. Für die Energiemengen (Gesamtenergie), (Energiebedarf der Biodieselproduktion selbst) und (tatsächlich verfügbare Energiemenge an Biodiesel) gilt: , wobei das Verhältnis k vergleichbar ist zum Carnot-Wirkungsgrad einer Wärmepumpe. Bei der Gewinnung, einschließlich der Weiterverarbeitung zu Biodiesel (Pflügen, Säen, Behandeln mit Pflanzenschutz, Düngen, Ernten, Verestern), muss eine Energiemenge von 25 MJ/kg aufgewendet werden. Demgegenüber hat Biodiesel einen Heizwert von 37 MJ/kg. Das Verhältnis k (vgl. Erdöl: k etwa 10) beträgt demnach im Gegensatz zu . Bei dieser Darstellung wird nicht berücksichtigt, dass beim herkömmlichen Diesel zusätzlich chemisch gebundene Energie (Rohöl) zugeführt werden muss, die aus einem endlichen Reservoir entnommen wird. Beim Biodiesel wird im Gegenzug die Strahlungsenergie der Sonne vernachlässigt, die sowieso vorhanden und praktisch unerschöpflich ist. Unter der Annahme k = 1,48 verdreifacht sich die benötigte Anbaufläche in etwa; es werden etwa 29,8 m² Anbaufläche für 1 kg bereitgestelltes Dieseläquivalent benötigt. Ein Grund dafür, dass die Energieausbeute verhältnismäßig gering ist, liegt darin, dass nur die Ölfrüchte verwendet werden und der verbleibende Biomassenrest (Rapsstroh und Rapsschrot) nicht energetisch genutzt wird. Bei einer alternativen Form der Kraftstoffgewinnung aus Biomasse zu Sundiesel wird die gesamte Pflanze verwendet, wodurch sich der Bruttokraftstoffertrag in etwa verdoppelt. Bei Untersuchungen des Rapsanbaus für die Biodieselerzeugung in Polen und den Niederlanden wurden für den Erntefaktor (englisch: Energy Return On Energy Invested, EROEI) Werte zwischen 1,73 bis 2,36 in Polen und von 2,18 bis 2,60 in den Niederlanden gefunden. Flächenbedarf Das Umweltbundesamt stellte in einem Bericht vom 1. September 2006 fest: In den USA würde die Verarbeitung der gesamten Sojaernte zu Biodiesel lediglich 6 % der Nachfrage decken. Bezogen auf den Weltbedarf an dieselähnlichen Kraftstoffen könnte Palmölmethylester sowohl von der Ölergiebigkeit der Pflanze als auch von der Größe des potentiellen Anbaugebiets ein wichtiger Kraftstoff werden. Die für die Herstellung von zum Beispiel 1 kg Biodiesel erforderliche Fläche ergibt sich aus folgender Rechnung: Pro Quadratmeter beträgt der Ertrag an Biodiesel etwa 0,12 bis 0,16 l Biodiesel pro Jahr. Bei einer Dichte von 0,88 kg/l sind dies etwa 0,14 kg Biodiesel/m². Im Jahr 2015 wurden in Deutschland rund 37 Millionen Tonnen Dieselkraftstoff verbraucht. Diesel hat einen Heizwert, der um etwa 9 % höher als der von Biodiesel ist. Um 1 kg Dieseläquivalent bereitzustellen, wird also der Ertrag von etwa 7,8 m² Anbaufläche benötigt. Um 37 Millionen Tonnen Dieselkraftstoff durch Biodiesel zu ersetzen würde, da Raps wegen Selbstunverträglichkeit nicht in den zwei bis drei Folgejahren angebaut werden kann, ca. 4 × 7,8 m²/kg × 37.000.000 t = 1.154.400 km² Ackerfläche benötigt. Im Jahr 2006 wurden etwa 50 % der Fläche der Bundesrepublik Deutschland von 357.121 km² für die landwirtschaftliche Produktion genutzt, also wäre mehr als das 6 fache der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche von Deutschland erforderlich, um aus Raps ausreichend Biodiesel zu gewinnen. Schon 2006 überschritt der Bedarf an Pflanzenölen als Biodiesel und Pflanzenölkraftstoff mit 3,4 Millionen Tonnen den inländischen Anbau von Raps von 1,5 Millionen Tonnen, sodass der Rest importiert werden musste. Biodiversität Die Umwandlung von natürlichen Lebensräumen durch die Bevölkerungsentwicklung und die damit verbundene Ausdehnung von Siedlungsflächen und der Versorgungsinfrastruktur ist einer der Hauptfaktoren für die Reduktion der Biodiversität. Um diesen Effekt nicht durch den Anbau von Pflanzen zur Gewinnung von Biodiesel zu verstärken, müssen Flächen mit hoher Artenvielfalt geschützt werden. Eine zentrale Forderung für die nachhaltige Produktion von Biodiesel ist der Erhalt der biologischen Vielfalt (englisch: biological diversity oder biodiversity) beim Anbau von Energiepflanzen. Pflanzenöle für die Produktion von Biodiesel, der gemäß der Erneuerbare-Energien-Richtlinie als nachhaltig produziert gelten soll, dürfen nicht auf Flächen mit großer biologischer Vielfalt gewonnen werden. Dazu zählen alle nach dem Jahr 2008 nicht für Agrarzwecke umgewandelte Flächen wie Primärwälder, Naturschutzgebiete und Gebiete mit bedrohten oder gefährdeten Ökosystemen. Die Anwendung der Regeln für Biodiversität gilt als Kriterium, um gefährdete Flächen vor einer Landnutzungsänderung zu schützen. Biodiversität gilt als Schutzgut mit globaler Wirkungstiefe und kann gemäß den Regeln der Welthandelsorganisation als verbindliche Eigenschaft von Handelsgütern gefordert werden. Dabei sind sowohl in Bezug auf die angebaute Pflanze als auch auf die geografische Lage Unterschiede in Bezug auf die Entwicklung der Biodiversität erkennbar. So wurde festgestellt, dass zwischen 1990 und 2005 über 50 % der Neuölpalmenanpflanzungen in Malaysia und Indonesien in Regenwaldgebieten zu Lasten der Biodiversität erfolgte. Bei der Bepflanzung von Brachflächen mit ölliefernden, xerophytischen Pflanzen wie Jatropha curcas wird erwartet, dass dies zu einer Verbesserung der Biodiversität führt. Landnutzungsänderung Die Mengen an Ölpflanzen aus heimischer Landwirtschaft sind für die Eigenversorgung zu gering, weshalb Importe notwendig würden, um größere Mengen Treibstoff zu ersetzen. Gegen Biodiesel wird oft vorgebracht, dass seine Herstellung Auswirkungen auf Naturlandschaften und hierbei besonders auf Regenwälder habe. Der Begriff der Landnutzungsänderung bezieht sich auf die Nutzung einer Fläche vor dem Anbau von Energiepflanzen. Ein Beispiel für eine direkte Landnutzungsänderung ist die Umwandlung von Grasland in Ackerland für den Anbau von Raps oder Sojabohnen, eine indirekte Landnutzungsänderung ist die Umwandlung von Ackerland für den Anbau von Nahrungspflanzen in Ackerland für den Anbau von Energiepflanzen. Die Änderung der Pflanzenwelt durch Landnutzungsänderung beeinflusst das Kohlenstoffdioxidbindungsvermögen, wobei je nach Bewirtschaftung sowohl mehr Kohlenstoffdioxid gebunden als auch freigesetzt werden kann. Der Einfluss der direkten und indirekten Landnutzungsänderung auf die Ökobilanz wird uneinheitlich bewertet. Aufgrund der Auswirkungen auf die Treibhausbilanz als auch auf soziale Aspekte wird dieses Konzept jedoch in vielen Gesetzeswerken über Biokraftstoffe herangezogen. Die Ansätze zur Berechnung der Auswirkung sind komplex, mit Unsicherheiten behaftet und daher umstritten. Es besteht bei den meisten untersuchten Szenarien jedoch die Übereinkunft, das es von Vorteil ist, Energiepflanzen zu fördern, die geringe Landnutzungsänderungsquoten aufweisen und die Kultivierung von bereits gerodetem und brachliegenden Land zu fördern. Durch Kultivierung und nachhaltige Bewirtschaftung degradierter Flächen könnte Biodiesel eine stabile Einkommensquelle schaffen. Die Größe der in Frage kommenden Flächen wird auf 500 bis 3500 Millionen Hektar geschätzt. Eine potentielle Auswirkung der Landnutzungsänderung ist die Verknappung von Lebensmitteln. Der Anbau von Ölsaaten auf bestehenden Ackerflächen oder die Verwendung von Pflanzenölen zur Herstellung von Biodiesel kann zu einer Verknappung oder Verteuerung von Lebensmitteln führen, wobei die genauen Auswirkungen umstritten sind. In einer Studie des Jahres 2011 konnten auf europäischer und nationaler Ebene keine quantitativen Versorgungsprobleme im Bereich der Nahrungs- und Futtermittelversorgung durch die Energiepflanzenproduktion nachgewiesen werden, wobei diese aber als denkbar bezeichnet wird. Beim Rapsanbau fallen nur 40 %, beim Sojabohnenanbau nur 20 % als Öl an, die restlichen 60 bis 80 % der Pflanzen werden als Raps- und Sojakuchen für die Futtermittelproduktion genutzt. Rapsextraktionsschrot und Rapskuchen werden vermehrt für die Milchviehfütterung eingesetzt, kann aber auch in der Schweine- und Geflügelmast eingesetzt werden. Die Verteuerung von Nahrungsmitteln ist ein zentrales Problem der Biodieselgewinnung, zum Teil als Agflation bezeichnet. Die Erneuerbare-Energien-Richtlinie legte der EU-Kommission die Verpflichtung auf, die Auswirkungen der Erzeugung von Biokraftstoffen sowohl in den Mitgliedstaaten der EU als auch in Drittländern zu bewerten. Toxikologie In Studien zur Toxikologie von Biodiesel konnten keine Todesfälle und nur geringe toxische Wirkungen bei Verabreichungen von bis zu 5000 mg pro Kilogramm Körpergewicht auf Ratten und Kaninchen gefunden werden. Befürchtungen, dass die Aufnahme von Biodiesel im Körper durch Hydrolyse Methanol freisetzen und zur Schädigung von Nervenzellen durch das physiologische Abbauprodukt Ameisensäure führen könnte, wurden nicht bestätigt. Bei Verabreichung von Dosen von 5 bis 500 mg Biodiesel pro kg Körpergewicht im Tierversuch konnte auch nach Wochen kein oder nur ein minimal erhöhter Plasmaspiegel für Methanol oder Ameisensäure bei allen Versuchsgruppen gefunden werden. Literatur Philipp Dera: „Biodiesel“ – Wachstumsmarkt mit Nachhaltigkeitsgarantie? Sozioökonomische Dimensionen der Palmölproduktion in Indonesien. regiospectra, Berlin 2009, ISBN 978-3-940132-10-9. Gerhard Knothe, Jon Harlan Van Gerpen, Jürgen Krahl: The Biodiesel Handbook. AOCS Press, 2005, ISBN 1-893997-79-0. Weblinks Einzelnachweise Biokraftstoff Flüssigbrennstoff Stoffgemisch
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https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich%20Arnold%20Brockhaus
Friedrich Arnold Brockhaus
Friedrich Arnold Brockhaus (* 4. Mai 1772 in Dortmund; † 20. August 1823 in Leipzig) war ein Verleger, Gründer des Verlagshauses „F. A. Brockhaus“ sowie Herausgeber des noch zu seinen Lebzeiten in mehrfachen Auflagen und zahlreichen Neudrucken erschienenen Conversations-Lexicons, der späteren Brockhaus Enzyklopädie. Neben seiner enzyklopädischen Tätigkeit trat Brockhaus vor allem als Verleger politisch-zeitkritischer, aber auch literaturkritischer Journale hervor und geriet dabei mehrmals in Konflikt mit der Zensur. In eigenen Beiträgen fungierte er sowohl als Berichterstatter – etwa von der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 – wie auch als kritischer Kommentator der politischen Zeitumstände. Auf dem Gebiet der Monografien lag sein verlegerischer Schwerpunkt auf Werken zur Zeitgeschichte, Politik und Geschichte sowie auf biografischen Porträts. Darüber hinaus verlegte er 1818 das Hauptwerk des zu jener Zeit noch nahezu unbekannten Philosophen Arthur Schopenhauer und ab 1821 die damals heftig umstrittenen Memoiren (Histoire de ma vie) des venezianischen Abenteurers Giacomo Casanova (1725–1798). Nach seinem Tod wurde der Verlag von seinen beiden Söhnen Friedrich und Heinrich weitergeführt. Leben und Werk Dortmund Herkunft, Jugend und Ausbildung Friedrich Arnold Brockhaus wurde 1772 als der Sohn des Kaufmanns und Ratsherrn Johann Adolf Heinrich Brockhaus (* 21. Mai 1739 in Meyerich, heute zu Welver; † 26. März 1811) in Dortmund geboren. Sein Vater stammte aus einer westfälischen Pastorenfamilie und war darin der erste, der sich nicht dem theologischen, sondern dem kaufmännischen Beruf widmete. Er hatte nach einer Lehre in Hamm einen Detailhandel für „Ellen- und Spezereiwaren“ in Dortmund gegründet, wo er 1767 Katharina Elisabeth Davidis (* 22. März 1736; † 15. August 1789), die Witwe des Arztes Kirchhoff, heiratete. Ebenso wie sein älterer Bruder Gottlieb (* 4. September 1768; † 30. Mai 1828), der später das elterliche Geschäft übernahm, sollte Friedrich Arnold den kaufmännischen Beruf ergreifen. Deshalb beendete er den Besuch des Dortmunder Gymnasiums auf Wunsch seines Vaters im Alter von sechzehn Jahren vorzeitig und begann eine kaufmännische Lehre bei Friedrich Christian Hoffmann in Düsseldorf. Diese Tätigkeit füllte ihn jedoch nicht aus, denn seit frühester Jugend war Brockhaus sehr lesebegeistert – in einer bei Heinrich Eduard Brockhaus abgedruckten biografischen Schrift spricht er selbst von einer „wahren Bücherwuth“ – und hatte schon für Aushilfstätigkeiten im väterlichen Unternehmen nur wenig Interesse aufgebracht. Nach einem Streit mit seinem Prinzipal brach Brockhaus, der zeit seines Lebens für sein aufbrausendes Temperament bekannt war, die Lehre in Düsseldorf ab und kehrte 1793 nach Dortmund zurück. Studienaufenthalt in Leipzig und Beginn der unternehmerischen Tätigkeit Nach seiner Rückkehr in die Heimat setzte er sich schließlich gegenüber seinem Vater durch und begann einen anderthalbjährigen Studienaufenthalt in Leipzig. Ohne Universitätsreife nahm er als Gasthörer an Vorlesungen teil und hörte unter anderem bei Ernst Platner Philosophie, bei Carl Friedrich Hindenburg Physik und Mathematik und bei Christian Gotthold Eschenbach (1753–1831) Chemie. Daneben lernte er auch das rege buchhändlerische und literarische Leben der Messestadt Leipzig kennen. Ende 1794 kehrte er nach Dortmund zurück und gründete am 15. September 1796 zusammen mit zwei Geschäftspartnern ein eigenes, auf den Handel mit englischen Manufakturwaren – insbesondere groben Wollstoffen – spezialisiertes Unternehmen mit dem Namen „Brockhaus, Mallinckrodt und Hiltrop“. Knapp drei Jahre später stand das Geschäft auf so sicherer finanzieller Grundlage, dass er Sophie Wilhelmine Arnoldine Beurhaus, die Tochter des hochangesehenen Dortmunder Senators und Professors Johann Friedrich Beurhaus, heiraten konnte. Im selben Jahr trennten sich Brockhaus und Mallinckrodt von Hiltrop, zahlten ihm seinen Anteil aus und benannten sich in „Brockhaus und Mallinckrodt“ um. Da die beiden Geschäftspartner ihre Einfuhren der zu jener Zeit besonders gefragten Uniformstoffe über die Batavische Republik abwickelten, gründeten sie ein zweites Handelshaus im niederländischen Arnheim, dessen Leitung Mallinckrodt übernahm. Streit mit Hiltrop und Weggang aus Dortmund Nach einem Zerwürfnis mit seinem ehemaligen Dortmunder Geschäftspartner Hiltrop ging Brockhaus im Spätherbst 1801 in die Niederlande. Die Ursache für diese Auseinandersetzung lag in dem Zusammenbruch des Londoner Bankhauses Bethmann im Oktober 1799, mit dem sowohl Brockhaus & Mallinckrodt, als auch Hiltrop Wechselgeschäfte betrieben hatten. Der Streit um gegenseitige Verbindlichkeiten gipfelte schließlich in der Beschlagnahmung des Dortmunder Warenlagers von Brockhaus & Mallinckrodt auf Veranlassung von Hiltrop, der erst durch die Vermittlung von Hiltrops Frau, einer Schwester von Brockhaus’ Frau, zum Einlenken bewegt werden konnte. Als der Streit im Sommer 1801 wieder aufflammte und Brockhaus auf Hiltrops Veranlassung hin kurzzeitig sogar verhaftet wurde, verließ er Dortmund fluchtartig und zog nach Arnheim. Amsterdam Neuanfang in Amsterdam; Krise von 1804 In Arnheim blieb Brockhaus allerdings nicht lange. Die große Handelsmetropole Amsterdam war neben Hamburg das Einfallstor für englische Waren nach Europa und bot Brockhaus damit weitaus größere unternehmerische Gestaltungsmöglichkeiten. So trennte er sich von Mallinckrodt und zog im Winter 1801/1802 an die Amstelmündung. Der dortige Neuanfang gestaltete sich zunächst schwierig, da seine Kreditwürdigkeit durch den Prozess gegen Hiltrop stark gelitten hatte. Aber mit Unterstützung seines Bruders Gottlieb und durch das Kapital mehrerer französischer Emigranten gelang es Brockhaus, erneut in den Engros-Handel mit englischen Manufakturwaren einzusteigen. Doch offensichtlich hatte er sich dabei verspekuliert, denn am 30. September 1804 schrieb er in einem Bittbrief an den Bruder: In dieser Situation entschloss er sich zur Aufgabe seiner ausgedehnten Geschäfte mit englischen Waren und zur Gründung einer Buchhandlung. Gründung der Buchhandlung „Rohloff & Co.“ Im Sommer 1805 nahmen seine Pläne langsam Gestalt an und am 15. Oktober 1805 verschickte Brockhaus sein erstes Geschäftsrundschreiben, in dem er die Gründung seiner Amsterdamer Buchhandlung anzeigte. Dieses Datum gilt heute als Gründungstag des Verlagshauses „F. A. Brockhaus“ (bis 2009: Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus). Da Brockhaus als einem Ausländer die Mitgliedschaft in der Amsterdamer Buchhändlergilde verwehrt war, führte er das Geschäft auf den Namen des niederländischen Buchdruckers J. G. Rohloff als „Rohloff und Compagnie“, wofür Rohloff eine kleine Entschädigung erhielt. Die Firma galt so als niederländisches Unternehmen. Bereits zwei Jahre später ließ Brockhaus den Namen Rohloff ganz verschwinden und nannte sein Unternehmen in „Kunst- und Industrie-Comtoir“ um, laut eigener Aussage, „nicht den Schatten von Besorglichkeit in der Seele des guten Mannes aufkommen zu lassen, die er doch haben musste, da sein Name gebraucht wurde“. Welche genaue Position Brockhaus in der Frühphase des Unternehmens einnahm, lässt sich heute nicht mehr eindeutig feststellen. Auf der einen Seite schrieb er in einem Brief an den Bruder vom 26. August 1805 „Wir haben einen Hauptdirector und ich bin Nebendirector“, auf der anderen Seite behauptet er in einem späteren Schreiben an Gottlieb vom 25. August 1807, er sei der „alleinige Eigenthümer“ der Firma Rohloff & Co. gewesen. Sicher ist, dass seine Tätigkeit als Buchhändler und Verleger mit den Jahren mehr Raum einnahm als sein sonstiges kaufmännisches Geschäft. Die Erschwernisse, die dem europäischen Handel seit 1806 durch die napoleonische Kontinentalsperre auferlegt wurden, werden hierbei einen nicht unerheblichen Anteil gehabt haben. Erste verlegerische Tätigkeit Neben seiner Arbeit als Sortimentsbuchhändler widmete Brockhaus sich von Anfang an auch dem Verlagsgeschäft. Kurz nacheinander gründete er die in niederländischer Sprache erscheinende politisch-literarische Zeitung De Ster (dt. „Der Stern“), die deutsche zeitgeschichtliche Monatsschrift Individualitäten aus und über Paris, für die er mit dem aus der französischen Hauptstadt berichtenden Carl Friedrich Cramer seinen ersten Autor von Rang gewinnen konnte, sowie die französische belletristische Vierteljahrsschrift Le Conservateur. Allen drei Projekten war kein großer Erfolg beschieden. De Ster fiel im August 1806 nach der Errichtung des Königreichs Holland der Zensur zum Opfer, die Individualitäten mussten nach Cramers Tod im Jahr 1807 eingestellt werden und der Conservateur erschien nur anderthalb Jahre von Anfang 1807 bis 1808. Die weitere Verlagstätigkeit umfasste die Herausgabe literarischer Werke wie etwa Cramers Übersetzungen der Schottin Joanna Baillie, des Engländers John Pinkerton und des Franzosen Louis-Sébastien Mercier oder die Gedichte des Dänen Jens Immanuel Baggesen, naturwissenschaftliche Werke wie die Historia rei herbariae und die Institutiones medicae von dem deutschen Arzt und Botaniker Kurt Sprengel oder die Entozoorum sive vermium intestinalium historia naturalis von Karl Asmund Rudolphi. Daneben verlegte er 1807 noch den von Heinrich August Raabe verfassten Itinéraire de l'Allemagne und dehnte das Verlagsprogramm damit auch auf den Bereich der Reiseliteratur aus. Mit dem Historisch-militärischen Handbuch für die Kriegsgeschichte der Jahre 1792 bis 1808 des Freiherrn Albrecht David Gabriel von Groß begründete er 1808 die Verlagstradition der Militaria. Herausgabe des Conversations-Lexikons Den wohl folgenreichsten Schritt in seiner verlegerischen Karriere tat er im Herbst 1808 beim Besuch der Leipziger Buchhändlermesse: Er erwarb für die – nach damaligen Verhältnissen bescheidene – Summe von 1.800 Reichstalern die Rechte an dem 1796 von Renatus Gotthelf Löbel unter dem Titel Conversationslexikon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten begonnenen und zunächst von Friedrich August Leupold in Leipzig unvollendete Werk. Der Begründer des Werks, über dessen Lebensumstände heute wenig bekannt ist, bezeichnete sich selbst in seiner Vorrede zum Conversations-Lexicon als Nachfolger Johann Hübners, unter dessen Namen das 1704 erstmals erschienene Reale Staats- und Zeitungs-Lexicon bekannt geworden war. Löbels Ziel bestand in der Schaffung eines „dem gegenwärtigen Umfange der Conversation angemessenen Wörterbuches“, das dem „allgemeinen Streben nach Geistesbildung, wenigstens nach dem Scheine derselben“ gerecht werden sollte, wie er in seiner Vorrede zum ersten Band ausführte. Zwischen 1796 und 1800 erschienen die ersten vier Bände, doch nach Löbels frühem Tod im Jahr 1799 sah zunächst alles so aus, als würde es unvollendet bleiben. Dann erschienen 1806 aber ein fünfter Band bei Johann Karl Werther in Leipzig und 1808 Teile des sechsten Bandes bei Johann Friedrich Herzog in Leipzig. Am 25. Oktober 1808 schließlich kaufte Brockhaus das zunächst noch unfertige Lexikon dem Leipziger Buchdrucker und Zeitungsverleger Friedrich Richter ab, der das Werk vermutlich in Herzogs Auftrag gedruckt hatte und es bei dessen Insolvenz in Zahlung genommen hatte. Er vollendete das Werk. Im Jahr 1809 veröffentlichte Brockhaus das fertige Werk unter dem Titel Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch für die in der gesellschaftlichen Unterhaltung aus den Wissenschaften und Künsten vorkommenden Gegenstände mit beständiger Rücksicht auf die Ereignisse der älteren und neueren Zeit. Dieses Lexikon wurde ständig erweitert und verbessert. Es ist die Grundlage der späteren Brockhaus Enyklopädie. Brockhaus war also keinesfalls der Erfinder des „Konversationslexikons“, seine Leistung bestand vielmehr darin, die Chancen des unvollendeten Löbelschen Lexikons erkannt zu haben und durch seine Arbeit daran den Grundstein dazu gelegt zu haben, dass es sich später zum „Standardwerk des deutschen Bildungsbürgertums“ entwickelte. Altenburg Rückkehr nach Deutschland Kurz nachdem sie am 24. November von ihrem siebten Kind entbunden worden war, starb Sophie Brockhaus am 8. Dezember 1809 an den Folgen einer Erkältung. Zu diesem Schicksalsschlag gesellte sich Anfang 1810 die Wiederaufnahme des Prozesses mit seinem früheren Geschäftspartner Hiltrop, die Brockhaus schwer zu schaffen machte. Der eigentliche Auslöser für seinen Entschluss, nach Deutschland zurückzukehren, wird aber wohl eher in der Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage in Europa gelegen haben. Die Eingliederung des Königreichs Holland in das französische Kaiserreich – schon allein um die letzten Lücken in der napoleonischen Kontinentalsperre zu schließen – war spätestens Ende 1809 endgültig beschlossen. Mit den politischen Veränderungen ging auch eine Verschärfung der Handelsbestimmungen einher, die Brockhaus zwangen, für jedes seiner in Deutschland gedruckten Bücher zunächst in Paris um eine Einfuhrerlaubnis zu bitten. Doch dies war nicht allein ausschlaggebend, denn ab November 1809 geriet das Unternehmen aus Mangel an Kapital an den Rand des Konkurses. Brockhaus selbst stellte die Situation des Unternehmens in einem Brief an den Bankier Friedrich Christian Richter vom 21. April 1811 rückblickend wie folgt dar: In dieser Situation verließ Brockhaus Amsterdam im Mai 1810 und siedelte – nach einem kurzen Aufenthalt in Leipzig – im September 1810 ins thüringische Altenburg über. Seine Kinder hatte er zuvor in Dortmund untergebracht. Die Beziehung zur Hofrätin Spazier Während seines viermonatigen Aufenthaltes in Leipzig hatte sich zwischen Brockhaus und Johanna Karoline Wilhelmine Spazier, der Witwe des 1805 verstorbenen Leipziger Hofrats und Herausgebers der Zeitung für die elegante Welt Karl Spazier, Schwägerin des Dichters Jean Paul und Herausgeberin des von Brockhaus verlegten Jahreskalenders Urania ein engeres Verhältnis entwickelt. Spätestens seit Anfang August trug Brockhaus sich offensichtlich mit konkreten Heiratsplänen. Nach seiner Ankunft in Altenburg im Monat darauf reifte der Plan heran, sein Amsterdamer Unternehmen an seine zukünftige Braut zu verkaufen, um seine Schulden in den Niederlanden bezahlen zu können. Während es ihm nämlich bei einem Teil seiner Gläubiger gelungen war, einen Zahlungsaufschub zu erreichen, verzichteten die Übrigen nur gegen eine Teilzahlung in bar auf den Rest ihrer Forderungen. So war Brockhaus schließlich gezwungen, sein Sortimentsgeschäft in einem fingierten Geschäft zu verkaufen, um es nach einer Aufhebung des Vertrags zehn Tage später unter dem Namen „Typographisch-litterarisches Institut in Amsterdam und Leipzig“ weiterzuführen. Doch sein Verlöbnis war nur von kurzer Dauer, denn Ende 1810 erkrankte Wilhelmine Spazier schwer. Aus einer zunächst für harmlos erachteten fiebrigen Erkrankung geriet sie in einen Zustand der geistigen Verwirrung, der sich in wiederholten Anfällen äußerte. Als sie Brockhaus im Glauben ihres nahenden Todes alle ihre bisherigen Verhältnisse beichtete, löste dieser die Verlobung auf. In einem Brief an Friedrich Bornträger, zu jener Zeit sein Angestellter und Vertrauter, vom 21. November 1810 schrieb er: „Diese Aufschlüsse machen es mir unmöglich – ihr je meine Hand zu geben. O Gott, aus welchem Himmel bin ich gestürzt.“ und weiter: „Diese Aufschlüsse kann ich Ihnen vielleicht – und nur Ihnen – einst mittheilen, wenn, wie ich wünschen muß, Minna sterben sollte!“ Bis Ende Dezember 1810 hatte sich der Gesundheitszustand der Hofrätin soweit gebessert, dass Brockhaus am 29. an Bornträger schrieb: „Krank ist sie nicht mehr, aber ihr ganzes Wesen ist zerbrochen“. Anfang 1811 brachte Brockhaus sie schließlich in das Haus ihrer Eltern nach Berlin zurück. Die nach diesem Zeitpunkt zwischen Wilhelmine Spazier und Friedrich Arnold Brockhaus gewechselte Korrespondenz ist nicht überliefert. Schon bald nach der Trennung von der Hofrätin heiratete Brockhaus 1812 Jeanette von Zschock, mit der er weitere vier Kinder zeugte. Aufgrund von Spannungen zwischen Jeanette und Brockhaus’ Kindern aus erster Ehe gestaltete sich die Beziehung aber von Anfang an schwierig und so wurde die Ehe schon 1821 wieder geschieden. Verlegerische Tätigkeit in Altenburg Nach der Trennung von der Hofrätin Spazier übernahm Brockhaus selber die Herausgabe der Urania, die in seiner Altenburger Zeit einen der drei Schwerpunkte seines Verlagsprogramms bildete und schon allein aufgrund ihres hochwertigen Drucks und der sorgfältigen Bebilderung mit Kupferstichen namhafter Künstler glänzte. Dabei handelte es sich um eines zu jener Zeit äußerst beliebten „Taschenbücher für Damen“, die aus einer Sammlung zeitgenössischer Prosastücke und Gedichte bestanden und für die Brockhaus Autoren wie Jean Paul, Theodor Körner, Friedrich de la Motte Fouqué, E. T. A. Hoffmann, Gustav Schwab, Willibald Alexis, Ludwig Tieck und Eichendorff gewinnen konnte. Der 1812 unternommene Versuch, Goethe für das Projekt zu begeistern, scheiterte allerdings. Brockhaus selbst trat im Jahrgang 1822 unter dem Pseudonym „Guntram“ mit der Erzählung Die Nebenbuhlerin ihrer selbst als Schriftsteller auf, war damit aber wenig erfolgreich. Die Urania wurde im Zuge der Märzrevolution von 1848 und damit erst fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod eingestellt. Neben der Publikation zeitgenössischer deutscher Literatur engagierte Brockhaus sich stark auf politischem Gebiet. Mit den Deutschen Blättern verlegte er zwischen 1813 und 1816 das offizielle Nachrichtenorgan der Alliierten in den Befreiungskriegen. In eigenen Beiträgen fungierte er sowohl als Berichterstatter – etwa von der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 – wie auch als kritischer Kommentator der politischen Zeitumstände. Mit seinen Äußerungen geriet er jedoch zunehmend in das Blickfeld der Zensur und gab das Unternehmen aufgrund nachlassender Verkaufszahlen schließlich 1816 wieder auf. Aber auch andere Verlagspublikationen der Altenburger Jahre griffen die turbulenten politischen Ereignisse der Zeit kritisch auf. Zwischen 1812 und 1817 erschien eine Reihe von kriegsgeschichtlichen, häufig gegen Napoleon gerichteten Broschüren, wobei sich hinter den darin anonym veröffentlichten Äußerungen nicht selten namhafte Verfasser wie Carl von Clausewitz oder Karl von Müffling verbargen. Aufsehen erregte auch eine anonyme Arbeit des Österreichers Josef von Hormayr über den Tiroler Volkshelden Andreas Hofer, die 1811 erstmals in Altenburg erschien. Aus finanzieller Sicht am erfolgreichsten gestaltete sich die Publikation des zweibändigen Handbuchs der Deutschen Literatur seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis auf die heutige Zeit von Johann Samuel Ersch. Die Initiative zum Verfassen dieses Werkes ging auf Brockhaus selbst zurück; Ersch begründete damit die deutsche wissenschaftliche Bibliografie. Für den Verlag stellte das verkaufsstarke Handbuch neben dem Conversations-Lexikon das zweite wirtschaftliche Standbein in der Altenburger Zeit dar. Die zweite Auflage des Conversations-Lexikons hatte Brockhaus 1812 begonnen. Bis dahin hatte das Lexikon bereits eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Renatus Gotthelf Löbel hatte das Werk begründet und zu seiner Herausgabe gemeinsam mit dem Rechtsanwalt Christian Wilhelm Franke im Februar 1796 eigens einen Verlag in Leipzig gegründet. Nach Löbels frühem Tod und der Übernahme des Lexikons durch Brockhaus hatte Franke sich diesem gegenüber noch zur Vollendung des nur in Teilen erschienenen sechsten Bandes verpflichtet. Brockhaus veröffentlichte das Gesamtwerk 1809 in Amsterdam und ließ in den folgenden Jahren zwei Bände mit Nachträgen folgen, da das Lexikon infolge seiner langen Entstehungszeit zahlreiche Lücken aufwies. Die Redaktion der 1811 in Altenburg begonnenen zweiten Auflage des Lexikons nahm Friedrich Arnold Brockhaus alleine in die Hand, seit Beginn 1812 durch eine wachsende Zahl ausgewählter Mitarbeiter unterstützt. Die erste Umarbeitung des Lexikons war 1818 abgeschlossen und bis zum Ende desselben Jahres waren alle zehn Bände dieser zweiten Auflage erschienen (der zehnte und letzte Band erschien Ende 1818 mit der Jahreszahl 1819). Parallel zu dieser zweiten Auflage hatte Brockhaus auch die dritte und vierte vorbereitet, so dass zum Zeitpunkt des offiziellen Umzugs nach Leipzig auch schon Teile dieser Auflagen mit neuen und überarbeiteten Texten vorlagen. Leipzig „F. A. Brockhaus“ Leipzig Bereits seit der Ostermesse 1817 hielt sich Brockhaus dauerhaft in Leipzig auf. Er hatte seit geraumer Zeit mit dem Gedanken gespielt, neben seinem bereits 1814 in „F. A. Brockhaus“ umbenannten Verlag eine eigene Druckerei zur Herstellung seines Conversations-Lexikons aufzubauen und hatte eigens zu diesem Zweck seinen ältesten Sohn Friedrich in eine Buchdruckerlehre nach Braunschweig geschickt. Neben dem Umstand, dass es in Altenburg bereits eine von seinem Freund Johann Friedrich Pierer geführte Druckerei gab, waren es zum einen die Enge seines dortigen Bekanntenkreises, vor allem aber die Tatsache, dass Leipzig das Zentrum des damaligen Buchhandels war, die Brockhaus zum Umzug dorthin bewogen. Am 21. Januar 1818 erhielt er in Leipzig das Bürgerrecht und im April bezog er gemeinsam mit seiner Familie eine Wohnung am Leipziger Markt. Schon fünf Tage später eröffnete er seine Druckerei und ab 1819 erschienen alle Bücher seines Hauses ausschließlich unter dem neuen Verlagsort Leipzig. Das Conversations-Lexikon stellte auch weiterhin den Mittelpunkt seiner verlegerischen Tätigkeit dar, daneben widmete er sich jedoch erneut unterschiedlichen politisch-literarischen Zeitschriftenprojekten. Zeit- und literaturkritische Journalistik Die von dem Naturforscher Lorenz Oken herausgegebene Isis oder Encyclopädische Zeitung von Oken war eine direkte Fortführung der Deutschen Blätter und sollte – im Gegensatz zu diesen – keine politischen Themen behandeln, sondern sich allein auf Abhandlungen aus dem Gebiet der Naturwissenschaften, Kunst, Geschichte und Literatur beschränken. Da Oken sich jedoch nicht an seine eigene Ankündigung hielt und auch politische Beiträge aufnahm, geriet die Isis mehrfach an den Rand eines Verbots durch die Zensur. Oken selbst stand 1819 vor der Entscheidung, entweder die Herausgabe der Isis einzustellen, oder seine Professur niederzulegen. Er entschied sich schließlich für Letzteres und setzte seine Arbeit an der Zeitschrift unverändert fort. Erst 1824, ein Jahr nach Brockhaus’ Tod, beschränkte er die aufzunehmenden Artikel allein auf wissenschaftliche Themen. Genau wie die Isis war auch die Reihe Zeitgenossen. Biographien und Charakteristiken bereits im Jahr 1816 gegründet worden. Seit 1818 wurde die Reihe von Brockhaus selbst herausgegeben und bildete den Hauptteil seiner journalistischen Verlagstätigkeit in Leipzig. Das Werk stellte die Biografien von damals noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen der Zeitgeschichte vor und übernahm damit ein Konzept, das sich zuvor bereits in England bewährt hatte. Die in den Zeitgenossen veröffentlichten Beiträge wurden unter anderem von Autoren wie Karl August Varnhagen von Ense, Karl Friedrich Reinhard und August Wilhelm von Schlegel verfasst, wobei die Urheber von Biografien noch lebender Personen nicht namhaft kenntlich gemacht wurden. Nach Brockhaus’ Tod wurden die Zeitgenossen noch bis ins Jahr 1841 fortgesetzt und erschienen damit insgesamt 25 Jahre lang ohne Unterbrechung. Neben dem schon früh wieder eingestellten Leipziger Kunstblatt für gebildete Kunstfreunde erweiterten die beiden literarisch-kritischen Journale Hermes oder kritisches Jahrbuch der Literatur und Literarisches Wochenblatt das Verlagsprogramm. Die Entstehung des Hermes ging auf die Aufhebung der Kontinentalsperre nach dem Sturz Napoleons zurück, durch die nicht nur englische Manufakturwaren und außereuropäische Güter aus den englischen Kolonien, sondern auch englische Literatur wieder in größerer Menge auf dem Kontinent verfügbar wurde. So war der Hermes ursprünglich von Brockhaus als ein Journal konzipiert worden, „welches das binnen sieben Jahren in der Kenntniß der englischen Angelegenheiten Versäumte nachholen“ sollte. In den Jahren zwischen ihrem ersten Erscheinen 1819 und ihrer Einstellung 1831 entwickelte sich die Zeitschrift zu einem Rezensionsorgan literarischer Neuerscheinungen, zu dessen Mitarbeitern eine Reihe renommierter deutscher Professoren – unter anderem Wilhelm Grimm, Johann Friedrich Herbart und Friedrich von Raumer – gehörten. Im Gegensatz zum Hermes war das Literarische Wochenblatt auf Unterhaltung ausgelegt und sprach damit ein breiteres Publikum an. Die Zeitschrift war ursprünglich 1818 von August von Kotzebue gegründet worden und wurde nach dessen Ermordung 1819 von Brockhaus gekauft und ein Jahr später unter eigener Regie herausgegeben. Mit seiner Konzeption war das Blatt so erfolgreich, dass es – unter wechselnden Titeln – bis 1898 im Verlagsprogramm blieb. Das übrige Verlagsprogramm Auf dem Gebiet der Monografien lag der Schwerpunkt des Verlags auf Werken der Geschichte, Politik und auf den – nicht selten als Nebenprodukt des Conversations-Lexikons oder Reihen wie den Zeitgenossen entstandenen – Biografien. Eine heftige Reaktion rief das im Jahr 1821 veröffentlichte Werk Aus den Memoiren des Venetianers Jacob Casanova de Seingalt, oder sein Leben, wie er es zu Dux in Böhmen niederschrieb in der Bearbeitung von Wilhelm von Schütz hervor, das nach seinem Erscheinen hart angegriffen wurde. Im Bereich der Geschichtswissenschaft sind Raumers Vorlesungen über die alte Geschichte (1821) sowie dessen sechsbändige Geschichte der Hohen Staufen und ihrer Zeit (1823–1825) hervorzuheben. Auf dem Gebiet der Philosophie verlegte Brockhaus 1818 mit Die Welt als Wille und Vorstellung das Hauptwerk des damals noch nahezu unbekannten Arthur Schopenhauer. Kampf gegen den Macklot’schen Nachdruck Nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahr 1806 wurde das Urheberrecht in den verschiedenen deutschen Territorien unterschiedlich gehandhabt. Diesen Umstand nutzte Karl Erhard, Inhaber der Buchdruckerei Macklot in Stuttgart, zum Nachdruck des Brockhaus’schen Conversations-Lexikons. In Württemberg waren Nachdrucke für nicht im Lande erscheinende Druckwerke erlaubt und so kündigte der Verlag Macklot 1816 eine preiswertere Ausgabe des Lexikons für den süddeutschen Raum an, die „mit Königl. württembergischer allergnädigster Genehmigung“ gedruckt wurde und die „auch unbemittelten Lesern den Erwerb des Werkes erleichtern sollte“. Brockhaus reiste nach Stuttgart und erlangte seinerseits ein königliches Privileg für die zwischen 1817 und 1819 veranstaltete vierte Auflage seines Lexikons, den gegen Macklot geführten Prozess verlor er aber in allen drei Instanzen. Neben dem Streit vor Gericht führte Brockhaus den Kampf zum Schutz seiner Interessen auch auf anderer Ebene mit großer Vehemenz. Anfang Juli 1818 veröffentlichte er ein Flugblatt an das Publikum, in dem er den Nachdruck durch Macklot als Diebstahl anprangerte und legte diese Streitschrift nicht nur in alle Zeitschriften seines Verlags und alle Bände des Conversations-Lexikons ein, sondern verschickte sie darüber hinaus an alle Abgeordneten des Bundestages und an die Presse. Während sein Vorstoß beim Bundestag später im Sande verlief, führte der groß angelegte Feldzug gegen Macklot letztendlich aber doch zum Erfolg. Die öffentliche Meinung stellte sich hinter Brockhaus und der Absatz seines Lexikons stieg beachtlich an. Gleichzeitig musste die zweite Auflage des Macklot’schen Nachdrucks zum größten Teil makuliert werden, woraufhin Erhard sich enttäuscht aus dem Buchhandel zurückzog. Letzte Jahre Im April 1820 war die fünfte Auflage des Conversations-Lexikons vollendet worden. Das Werk verkaufte sich so gut, dass Brockhaus schon im September desselben Jahres den zweiten Neudruck beendete. Da er durch die von ihm geleiteten Journale sehr in Anspruch genommen wurde und einige Käufer des Lexikons sich bereits über das schnelle Veralten ihrer Ausgabe beschwert hatten, hatte er in einem seiner Geschäftsrundschreiben aus dem März des Jahres 1819 angekündigt, vorerst keine weitere Überarbeitung in Form einer sechsten Auflage folgen zu lassen. Im Sommer 1821 erschien ein dritter, weitgehend unveränderter Neudruck der fünften Auflage, dessen Aktualität durch einen für die nächsten Jahre geplanten Supplementband hergestellt werden sollte. Diese Erweiterung wurde auch ab 1822 unter dem Titel Conversations-Lexikon über die neueste Zeit und Literatur ausgeliefert, doch nachdem der dritte Neudruck der fünften Auflage des Conversations-Lexikons bereits im Sommer 1822 vergriffen war, entschloss Brockhaus sich schließlich doch zu einer neuen Überarbeitung. Diese sechste Auflage wurde zwischen dem Sommer 1822 und dem Sommer 1823 hergestellt und war damit gleichzeitig die letzte Ausgabe, die unter der Leitung des Verlagsgründers selbst entstand, deren Erscheinen im Jahr 1824 Brockhaus aber nicht mehr erlebte. Zwei Jahre vor seinem Tod hatte Brockhaus noch einen lange gehegten Plan umgesetzt und im Mai 1821 ein großes Grundstück am Ostrand Leipzigs gekauft, das ihm zugleich als neuer Wohnsitz wie auch als Standort für sein expandierendes Unternehmen diente. Später siedelten sich in der Nähe weitere Buchhändler und verwandte Geschäftszweige an, so dass nach Brockhaus’ Tod ein neues Buchhändlerviertel entstand. Seine Söhne hatten ihn schon seit Ostern 1819 im Unternehmen unterstützt. Friedrich hatte nach einem einjährigen Auslandsaufenthalt in Paris und London im Oktober 1820 die Leitung der Buchdruckerei übernommen und war auch – nachdem der immer noch nicht abgeschlossene Prozess gegen seinen ehemaligen Geschäftspartner Hiltrop im August 1819 in seine letzte Phase eingegangen war – als Besitzer des neuen Grundstücks eingetragen worden. Sein zweiter Sohn Heinrich war bereits als Fünfzehnjähriger in das Unternehmen eingetreten und sollte wie sein älterer Bruder ein Jahr ins Ausland gehen, als Friedrich Arnold Brockhaus Ende 1822 schwer erkrankte und die Reise auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Hermann, der dritte Sohn, ging allerdings 1821 nur kurze Zeit im Leipziger Verlagsgeschäft des Vaters in die Lehre und setzte danach seine Gymnasialstudien fort. Schon im Herbst 1822 hatte Brockhaus sich krank und angegriffen gefühlt. Auf Anraten seines Arztes wollte er eine Erholungsreise nach Paris unternehmen, doch dazu kam es nicht. Von der letzten Novemberwoche an verschlechterte sich sein Zustand rapide und am 3. Dezember setzte er sein Testament auf. Nachdem sein Tod schon fälschlicherweise in den Zeitungen gemeldet wurde, erholte er sich wieder. Die Falschmeldung hatte in der Zwischenzeit unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Während die meisten Stimmen tiefes Bedauern über den vermeintlichen Verlust äußerten, musste Brockhaus auch von vereinzelten Freudenbekundungen erfahren. Auf die Nachricht von seiner Genesung hin drängten viele seiner Freunde ihn zur Einschränkung seiner bisherigen Tätigkeit, was Brockhaus sich auch fest vornahm. Doch die Vorhersage der Dichterin Helmina von Chézy, die ihm geschrieben hatte „Hier in Berlin sind Sie allgemein und bestimmt todtgesagt worden, welches ein langes Leben bedeutet“, sollte sich nicht erfüllen. Im Mai 1823 besuchte Brockhaus ein letztes Mal die Leipziger Ostermesse und schon Ende Juli verschlechterte sich sein Gesundheitszustand erneut. Wenige Wochen später, am 20. August 1823, starb er im Alter von 51 Jahren. Gleichsam als Vorgriff auf die Zukunft schrieb sein Sohn Heinrich kurz nach dem Tode des Vaters in sein Tagebuch: „Was er geschaffen hat, soll fortleben!“ Friedrich Arnold Brockhaus im Urteil seiner Biografen Schon zu Lebzeiten lagen die Einschätzungen Friedrich Arnold Brockhaus’ zum Teil weit auseinander. Diese Kontroverse in der Beurteilung seiner Person und seiner Leistung setzte sich nach seinem Tod unvermindert fort. Sein enger Freund und langjähriger Mitarbeiter am Conversations-Lexikon, der Dresdner Professor Friedrich Christian August Hasse beschrieb ihn mit den Worten: „Als Mensch brav und gutmütig, gleichwohl oft verkannt und bitter angefeindet; als Geschäftsmann geistvoll und freisinnig, gleichwohl im Missgeschick falsch beurteilt und nach spät errungenen günstigen Erfolge viel beneidet, teilte Brockhaus das Schicksal der meisten Männer von Talent, denen die Mittelmäßigkeit kleine Fehler nie verzeihen kann.“ Sein Enkel Heinrich Eduard Brockhaus fällte ein weitaus ausgewogeneres Urteil: „Brockhaus’ sanguinisch-cholerisches Temperament, der lebhafte Widerwille, den er gegen jede Ungerechtigkeit oder Unbilligkeit empfand […] endlich auch das Selbstbewusstsein, das sich immer stärker bei ihm ausbildete, seit er in harten Kämpfen und wesentlich durch eigene Kraft Geltung, Namen und Erfolge errungen hatte: diese verschiedenartigen Momente wirkten zusammen, um ihn, wie mit Collegen und Behörden, auch mit Schriftstellern leicht in Streitigkeiten geraten zu lassen“. Dabei war Heinrich Eduard Brockhaus ein Autodidakt, der die dreibändige Biografie über seinen Großvater in seiner Freizeit schrieb und dazu hunderte Geschäfts- und Privatbriefe auswertete. Seine Arbeit stellt allein deshalb bis heute die Grundlage für jede weitere Untersuchung zu Brockhaus dar, weil viele der in seiner zwischen 1872 und 1881 erschienenen Biografie im Wortlaut abgedruckten Dokumente infolge von Kriegsverlusten nicht mehr im Original zur Verfügung stehen. Die im Oktober 1905 zur Hundertjahrfeier des Verlages erschienene Festschrift aus seiner Hand enthielt lediglich ein überarbeitetes Konzentrat dieser drei Bände und förderte keine neuen Erkenntnisse zu Tage. Unter den jüngeren Darstellungen ist der Lebensabriss von Gertrud Milkereit aus dem Jahr 1983 hervorzuheben. Milkereit stellt Brockhaus als liberalen Demokraten vor, dessen Kräfte am Ende seines Lebens durch sein politisches Engagement aufgezehrt wurden. Die Darstellung seiner Person ist ausgewogen gestaltet und verheimlicht weder Brockhaus’ cholerische Neigung noch spielt sie seine ausgesprochene Prozessfreudigkeit herunter. Verlegerische Fehlurteile werden als solche benannt, ohne dabei jedoch insgesamt die Leistung Brockhaus’ für das deutsche Verlagswesen aus dem Auge zu verlieren. Eine Auswahl der zwischen 1805 und 1823 von Brockhaus verlegten Werke rundet den Beitrag ab. Im Gegensatz dazu beleuchtet die dreizehnseitige biografische Skizze von Anja zum Hingst die Person Friedrich Arnold Brockhaus nur wenig kritisch. Das mehrmalige unternehmerische Scheitern wird als alleinige Folge ungünstiger Zeitumstände dargestellt, denen Brockhaus immer wieder mit „Gespür für den Zeitgeist“, „kaufmännischer Erfahrung“, „strenger Geschäftsführung“ und „Genialität“ entgegentrat. Mit der allein in der Auswahl der präsentierten ereignisgeschichtlichen Fakten durchschimmernden wohlwollenden Sichtweise fällt die Lebensskizze hinter frühere Darstellungen zurück. Literatur Quellen Friedrich Arnold Brockhaus über den Nachdruck des Conversations-Lexikons durch Macklot (1818), als Digitalisat und elektronischer Volltext im Projekt Wikisource. Heinrich Brockhaus: Vollständiges Verzeichnis der von der Firma F. A. Brockhaus in Leipzig seit ihrer Gründung durch Friedrich Arnold Brockhaus im Jahre 1805 bis zu dessen hundertjährigem Geburtstage im Jahre 1872 verlegten Werke, Band 1, Leipzig 1872. Heinrich Lüdeke von Möllendorff: Aus Tiecks Novellenzeit. Briefwechsel zwischen Ludwig Tieck und F. A. Brockhaus, Leipzig 1928. Ludger Lütkehaus (Hrsg.): Das Buch als Wille und Vorstellung. Arthur Schopenhauers Briefwechsel mit Friedrich Arnold Brockhaus. München 1996, ISBN 3-406-40956-3. Darstellungen Heinrich Eduard Brockhaus: Von der Begründung bis zum hundertjährigen Jubiläum 1805–1905, Faksimile der Ausgabe Leipzig 1905, mit einer Einführung von Thomas Keiderling, Mannheim 2005, ISBN 3-7653-0184-1. Ders.: Friedrich Arnold Brockhaus. Sein Leben und Wirken nach Briefen und anderen Aufzeichnungen geschildert, 3 Bände, Leipzig 1872–1881. Friedrich Christian August Hasse: Friedrich Arnold Brockhaus. Lebensabriß, in: Friedrich Arnold Brockhaus. Gedenkblätter zum hundertjährigen Todestag am 20. August 1923, Leipzig 1923. John Hennig: Ein unveröffentlichter Brief von K. A. Varnhagen von Ense an F. A. Brockhaus. in: Archiv für Kulturgeschichte 47, 3 (1965), S. 355–360, . Anja zum Hingst: Die Geschichte des Großen Brockhaus: vom Conversationslexikon zur Enzyklopädie, Wiesbaden 1995, S. 78–91, ISBN 3-447-03740-7 Arthur Hübscher: Hundertfünfzig Jahre F. A. Brockhaus 1805–1955, Wiesbaden 1955. Gertrud Milkereit: Friedrich Arnold Brockhaus (1772–1823), in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien, Band 11, Münster 1983, S. 5–41, ISBN 3-402-05586-4 Jürgen Weiß: B. G. Teubner zum 225. Geburtstag. Adam Ries – Völkerschlacht – F. A. Brockhaus – Augustusplatz – Leipziger Zeitung – Börsenblatt, Leipzig 2009, ISBN 978-3-937219-35-6. Siehe auch Die Datenbank der Buchhändlerischen Geschäftsrundschreiben des Deutschen Buch- und Schriftmuseums mit Daten aus Geschäftsrundschreiben rund um den Buchhandel ab der Mitte des 18. Jahrhunderts Das Online-Findbuch zum Archivgut des Verlages F. A. Brockhaus im Sächsischen Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig Weblinks europeana: Friedrich Arnold Brockhaus Leipziger Kunstblatt für gebildete Kunstfreunde, insbesondere für Theater und Musik, Band 1, Leipzig 1817/18 (Digitalisierung der Bayerischen Staatsbibliothek, München). Leipziger F.-A.-Brockhaus-Gymnasium WDR 5 (Westdeutscher Rundfunk) ZeitZeichen vom 4. Mai 2022: 4. Mai 1772. Der Verleger Friedrich Arnold Brockhaus wird geboren, von Kerstin Hilt Anmerkungen Verleger (19. Jahrhundert) Buchhändler Verleger (Leipzig) Person (Dortmund) Friedrich Arnold Deutscher Geboren 1772 Gestorben 1823 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Roter%20Platz
Roter Platz
Der Rote Platz (, deutsche Transkription Krasnaja ploschtschad, wiss. Transliteration Krasnaja ploščadʹ) ist einer der ältesten und auf Grund seiner Größe, seiner geschichtlichen Bedeutung und der angrenzenden historischen Bauwerke der international berühmteste Platz in Moskau und einer der bekanntesten der Welt. Er befindet sich im Zentrum der historischen Moskauer Altstadt, vor den östlichen Mauern des Kremls, und gilt mit Gebäuden wie der Basilius-Kathedrale, dem Lenin-Mausoleum und dem Warenhaus GUM als Wahrzeichen der Stadt. Zudem gehört er seit 1990 zum UNESCO-Welterbe. Lage Der Rote Platz weist eine annähernd rechteckige Form auf, ist 70 Meter breit und 330 Meter lang. Er erstreckt sich der Länge nach von Nordwesten nach Südosten entlang eines Teilstücks der Mauer des Kremls, das seine Begrenzung an der südwestlichen Seite bildet. Im Nordosten wird der Platz durch das Gebäude des Kaufhauses GUM und das alte Stadtviertel Kitai-Gorod, im Nordwesten durch das Historische Museum und das Auferstehungstor und im Südosten durch die Basilius-Kathedrale begrenzt. Nordwestlich des Platzes beginnt hinter dem Gebäude des Historischen Museums die Twerskaja-Straße, südöstlich schließt sich der sogenannte Basilius-Hang an, der zum nahen Moskwa-Fluss hinab und über eine Brücke in das Stadtviertel Samoskworetschje führt. Nordöstlich zweigen zwei Straßen vom Roten Platz ab: die Nikolskaja-Straße (, benannt nach dem direkt gegenüber stehenden Nikolaus-Turm des Kremls) und die Iljinka (), beide seit dem 14. Jahrhundert bestehend und ehemals wichtige Verkehrsadern des alten Moskau. Heute ist der Platz selbst, mit Ausnahme des durch ihn führenden Zufahrtsweges zum Erlöser-Tor des Kremls, eine Fußgängerzone. Geschichte Etymologie Die Bezeichnung Roter Platz hat weder einen Bezug zur Zeit des Sozialismus in Russland noch zur Farbe der Kremlmauern und -türme, deren Anstrich bis zum 19. Jahrhundert weiß war. Der Name ist schon im 17. Jahrhundert belegt und bedeutet eigentlich „schöner Platz“. Das Adjektiv „“ (krasny) bedeutete in der russischen Sprache ursprünglich sowohl „rot“ als auch „schön“, im Laufe der Zeit hat es jedoch die Bedeutung „schön“ verloren und wird heute in der Alltagssprache nur noch als „rot“ gebraucht. Dies führt zu fälschlichen Annahmen bezüglich der Namensherkunft selbst bei Russen und zur etwas irrtümlichen Übersetzung als Roter Platz im Deutschen und anderen Sprachen. Entstehung und Nutzung als Marktplatz Die Entstehung des heutigen Roten Platzes ist unmittelbar mit der Ausdehnung der alten Zarenhauptstadt Moskau über die Grenzen ihres Kerns, der mittelalterlichen Festungsanlage des Kremls, verbunden. Dieser stellte von der Stadtgründung Moskaus im Jahre 1147 an noch mehrere Jahrhunderte lang die eigentliche Stadt dar, während die Gebiete außerhalb seiner Mauern entweder recht ländlich oder aber gänzlich unbewohnt waren. Erst ab dem 14. Jahrhundert wuchs vor den Kremlmauern die Handwerker- und Händlersiedlung Kitai-Gorod, die dann im 16. Jahrhundert durch den Bau einer Befestigungsmauer vor potenziellen Angriffen von außen geschützt wurde. Zu jener Zeit war der Kreml inzwischen nicht nur Wohnort des Zaren sowie zahlreicher Bojaren und anderer Hochadliger, sondern auch ein belebter Handelsplatz, an dem unter anderem die Handwerker aus Kitai-Gorod ihre Erzeugnisse absetzten. Als gegen Ende des 15. Jahrhunderts die Handelsaktivitäten in zahlreichen, recht chaotisch angeordneten Buden und Ständen das Territorium des Kremls fast zum Überlaufen brachten, beschloss der Moskauer Großfürst Iwan III., den Handel außerhalb des Kremls nach Kitai-Gorod verlagern zu lassen, damit die Einwohner der Festung sich durch die Händler nicht belästigt fühlen und die Verteidigungsfähigkeit der Anlage im Angriffsfall gewahrt bleibt. Den konkreten Anlass zu dieser Verlegung brachte 1493 einer der damals häufigen Großbrände im von Holzbauten dominierten Kitai-Gorod, bei dem eine Vielzahl der Häuser östlich des Kremls zerstört wurde. Kurz danach wurde ein Zarenerlass herausgegeben, nach dem sämtliche Marktreihen vom Territorium des Kremls vor dessen östliche Mauern verlegt werden sollten sowie das vom Feuer verwüstete Gelände unmittelbar an diesen östlichen Mauern nicht mehr mit Häusern zu bebauen war, damit ein eventueller Brand den Kreml nicht gefährden konnte. Daher gilt das Jahr 1493 auch als Entstehungsjahr des Roten Platzes, auch wenn es in diesem Bereich möglicherweise auch schon zuvor einen Platz gegeben haben könnte. Im 16. Jahrhundert hatte der Platz mit einem gewöhnlichen innerstädtischen Platz nur wenig gemeinsam, vielmehr glich der neugeschaffene Freiraum östlich des Moskauer Kremls einem riesigen Basar, in dessen zahlreichen Reihen tagtäglich durchgehend ein geschäftiges Treiben herrschte. Hier wurden allerlei Waren aus ganz Russland sowie dem Ausland angeboten, die meist per Fluss angeliefert kamen – eine Anlegestelle für Handelsschiffe befand sich denn auch nur wenige Hundert Meter entfernt. Seit jener Zeit wurden genau auf diesem belebten Marktplatz auch die Zarenerlasse dem Volk bekanntgegeben. Bis ins 18. Jahrhundert hinein war der Platz nicht befestigt und konnte daher bei Regenwetter sehr matschig werden. Einen offiziellen Namen hatte der Marktplatz im 16. Jahrhundert auch noch nicht. Zwar hatte der ehemalige Hauptmarktplatz innerhalb des Kremls bereits vor seiner Verlegung den Namen Schöner Platz getragen. Es sollte allerdings mehrere Jahrhunderte dauern, bis der Name dem eigentlichen Platz aus dem Kreml hinaus folgte. Im Volksmund war für diesen aufgrund seiner primären Bedeutung zunächst der Name Torg (), wörtlich „Handel“, geläufig. Nachdem im Jahre 1552 genau dort, wo die heutige Basilius-Kathedrale steht, die hölzerne Dreifaltigkeitskirche errichtet wurde, hatte sich für den Platz davor der Name Troizkaja (), also „Platz der Heiligen Dreifaltigkeit“, eingebürgert. Jedoch hat nur drei Jahre später Zar Iwan der Schreckliche die Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit abreißen und an deren Stelle die Basiliuskathedrale errichten lassen. Über Jahrzehnte hinweg unverändert war hingegen der rege Handel auf dem Platz der Heiligen Dreifaltigkeit, der letztlich dazu führte, dass dieser mit immer größer werdenden Marktständen, Handwerkerbuden und -zelten zugebaut wurde. Immer wieder gab es Erlasse der Zaren, bestimmte Bauten abzureißen und die Errichtung von Häusern auf dem Platz im Folgenden zu unterlassen. Doch das nützte wenig, die Bauten entstanden stets von Neuem – und immer wieder gab es Großbrände. Deshalb wurde der Platz seit dem Ende des 16. Jahrhunderts im Volksmund Poschar (, wörtlich „Brand“) genannt. Dieser Zustand sollte noch bis weit ins 17. Jahrhundert hinein andauern. Der „schöne Platz“ Der entscheidende Wandel des Platzes vom reinen Handelsplatz zum wörtlich „schönen Platz“ der Zarenhauptstadt setzte Ende des 17. Jahrhunderts ein. In den 1690er-Jahren ließ die Staatsmacht sämtliche Marktreihen, von denen manche bis unmittelbar an die Kremlmauer heranreichten, einige Hundert Meter tiefer nach Kitai-Gorod verlegen. Folglich entstanden dort die verschiedenen Handelsreihen, die teilweise als Vorläufer des heutigen Kaufhauses GUM an der Ostseite des Roten Platzes gelten. An einige dieser Reihen erinnern bis heute die Namen von Gassen in der näheren Umgebung des Roten Platzes (beispielsweise „Fischgasse“ () oder „Bleikristallgasse“ ()). Auf dem freigewordenen Platz der Dreifaltigkeit entstanden indes im späten 17. sowie im 18. Jahrhundert, zusätzlich zu der bereits 1561 fertiggestellten Basilius-Kathedrale, mehrere architektonisch anspruchsvolle Bauten, darunter die Kasaner Kathedrale und das Gebäude der Gouvernementverwaltung. Zudem erhielt in der Herrschaftszeit Katharina der Großen der zuvor fast gänzlich unbefestigte Platz erstmals einen Belag aus Holzbrettern, der 1804 erstmals durch Kopfsteinpflaster ersetzt wurde. Aus dem späten 17. Jahrhundert, als gerade angefangen wurde, den Platz zu verschönern, stammen auch die ersten historischen Dokumente, in denen dieser erstmals unter seinem heutigen Namen Krasnaja Ploschtschad, also „der Schöne Platz“, geführt wird. Über Jahrhunderte hinweg behielt der Rote Platz im Folgenden unangefochten seine Rolle als zentraler Platz Moskaus. Vor dem Umzug der Hauptstadt des Russischen Zarenreichs in das neugegründete Sankt Petersburg wurden auf dem Roten Platz die Gesetze und Erlasse des Zaren öffentlich proklamiert. Außerdem fanden hier verschiedene Volksfeste und alle offiziellen Feierlichkeiten statt, wie beispielsweise die jährlichen großen Gottesdienste an wichtigen orthodoxen Feiertagen, das erste russische Neujahrsfest nach dem julianischen Kalender im Jahre 1700, die Militärparade im Jahre 1912 zum 100. Jahrestag des russischen Sieges im Krieg gegen Napoleon oder der feierliche Akt zum 300-jährigen Bestehen der Zarendynastie der Romanows im Jahr 1913. Auch nach dem Umzug der Hauptstadt fanden alle Zarenkrönungsfeiern auf dem Roten Platz ihren pompösen Abschluss. Freilich war der Platz in seiner Geschichte auch Schauplatz weniger rühmlicher Ereignisse: So fanden hier unter anderem zu Zeiten Iwan des Schrecklichen Hinrichtungen von in Ungnade geratenen Bojaren durch seine Leibgarde, die sogenannte Opritschnina, statt, und von 1698 bis 1699 wurden auf dem Roten Platz Hunderte von aufständischen Strelizen auf Befehl Peter des Großen hingerichtet. Das heutige architektonische Ensemble des Roten Platzes wurde im Wesentlichen Anfang des 20. Jahrhunderts abgeschlossen, nachdem seine nordöstliche Seite mit dem neuen Gebäude der Oberen Handelsreihen (heute: Warenhaus GUM) sowie rechts davon mit dem sehr ähnlich gestalteten Großhandelsgebäude bebaut wurde. Nach der Fertigstellung dieser Bauten, die vom Stil her an die historische Architektur des Kremls angelehnt wurden, wurde der Belag des Roten Platzes umfassend renoviert sowie bis zum Jahr 1909 eine Straßenbahnlinie mitten durch den Platz entlang der Kremlmauer verlegt. Diese existierte dort noch bis zum Jahr 1930. Noch 1892 erhielt der Platz erstmals eine elektrische Beleuchtung. Der Rote Platz seit dem 20. Jahrhundert Wenige Monate nach dem durch die Oktoberrevolution 1917 vollzogenen politischen Umbruch in Russland wurde Moskau wieder Hauptstadt, zunächst von Sowjetrussland, ab 1922 dann zur Hauptstadt der Sowjetunion. Der Kreml wurde somit wieder zur Residenz des Staatschefs und der Rote Platz zur Haupttribüne der Staatsmacht und zusätzlich zu einem der Symbole des neuen Systems. Nach dem Tod des Revolutionsführers Lenin 1924 kam dies besonders deutlich zum Ausdruck, indem sein Mausoleum direkt auf dem Roten Platz errichtet wurde. Insbesondere wurde der Platz zur Sowjetzeit zum regelmäßigen Austragungsort der Militärparaden und anderen Propaganda-Veranstaltungen: Die erste von ihnen fand bereits am 7. November 1918 statt, zum ersten Jahrestag der Revolution, und wurde von einer symbolischen Verbrennung der Strohpuppe des Zaren gekrönt. In die Geschichte ging auch die Parade am 7. November 1941 ein, mit der der damalige Staats- und Parteichef Josef Stalin die Stärke des Sowjetstaates mitten in der Schlacht um Moskau demonstrieren wollte, sowie die Parade am 24. Juni 1945 anlässlich des Sieges über Deutschland im Zweiten Weltkrieg, bei der in einer symbolischen Geste 200 Fahnen der Wehrmacht vor dem Lenin-Mausoleum niedergeworfen wurden. Seitdem finden auf dem Roten Platz pompös gestaltete Paraden zum Tag des Sieges jährlich am 9. Mai statt; mit Ausnahme der Jahre 1991 bis 1994 wurde diese Tradition bis heute fortgeführt. Zu Sowjetzeiten fanden auf dem Platz außer den Militärparaden auch andere ideologisch motivierte jährliche Feierlichkeiten statt, darunter zentral organisierte Arbeiteraufmärsche zum Tag der Arbeit an jedem 1. Mai sowie zum Jahrestag der Oktoberrevolution jährlich am 7. November. Freilich ereigneten sich auf dem Roten Platz auch zu Sowjetzeiten nicht nur staatlich angeordnete Kundgebungen. So geriet der Platz am 25. August 1968 international in die Schlagzeilen, als dort eine Gruppe von acht Regimekritikern (auch Dissidenten genannt) eine nicht genehmigte Protestaktion gegen den kurz zuvor erfolgten Einmarsch der Truppen der Sowjetunion und anderer Ostblock-Staaten in die Tschechoslowakei veranstalteten, der als Ende des sogenannten Prager Frühlings in die Geschichte einging. Innerhalb weniger Minuten wurden die Demonstranten von der Miliz sowie Wachleuten des KGB verhaftet und abgeführt und die Plakate (u. a. „Hände weg von der ČSSR!“ oder „Freiheit für Dubček!“) beschlagnahmt. Sechs Dissidenten kamen zwei Monate später vor Gericht und erhielten wegen Verbreitung staatsfeindlicher Propaganda verschiedene Gefängnis- und Verbannungsstrafen. Am 28. Mai 1987 zog der Rote Platz erneut die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich, als der deutsche Privatpilot Mathias Rust mit einer Maschine vom Typ Cessna 172 den Platz überflog und anschließend landete, was ihm wenig später eine einjährige Inhaftierung in der Sowjetunion brachte. Allerdings ereignete sich die Landung, anders als in einigen Berichten westlicher Medien beschrieben, nicht auf dem Roten Platz selbst, sondern auf dem Basilius-Hang, der sich südlich der Basilius-Kathedrale erstreckt. Im April 1990 wurde der Rote Platz gemeinsam mit dem Kreml in die Liste der UNESCO-Welterbestätten aufgenommen. Diese Aufnahme erfolgte auf Empfehlung des International Council on Monuments and Sites (ICOMOS), wobei für den Roten Platz insbesondere die Basilius-Kathedrale als „Meisterwerk der menschlichen Schöpferkraft“ (Kriterium 1) gewürdigt wurde. Diese Auszeichnung war eine der ersten, die von der UNESCO an Objekte auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion vergeben wurde. Heute stehen sämtliche Bauwerke am Roten Platz auf der nationalen Liste der Geschichts- und Kulturdenkmäler; ihr Schutz ist im 2002 verabschiedeten Gesetz über Objekte des Kulturerbes der Völker Russlands festgeschrieben. Gegenwärtig gehört der Rote Platz, der unvermindert als zentraler Platz Moskaus gilt, zum Besichtigungsprogramm eines jeden Moskau-Touristen und ist nach wie vor immer wieder Schauplatz von bemerkenswerten Ereignissen: So werden hier neben den alljährlichen Siegesparaden seit den 1990er-Jahren Großveranstaltungen durchgeführt; die spektakulärsten davon waren das Konzert der Band Red Hot Chili Peppers vor etwa 200.000 Zuschauern am 14. August 1999 oder von Paul McCartney am 24. Mai 2003. Bei der Vorbereitung solcher Veranstaltungen wird der ansonsten rund um die Uhr frei zugängliche Platz für mehrere Tage im Voraus gesperrt. Seit Dezember 2006 wird in jedem Winter vor dem Eingang des Kaufhauses GUM eine öffentliche Eisbahn eingerichtet. Bauwerke Nachfolgend sollen alle unmittelbar am Roten Platz liegenden Bauwerke im Uhrzeigersinn, beginnend mit dem Historischen Museum am nordwestlichen Ende des Platzes, vorgestellt werden. Staatliches Historisches Museum Den Abschluss des Roten Platzes von der nordwestlichen Seite her bildet das auffällige dunkelrote Gebäude des Staatlichen Historischen Museums. Es wurde in den Jahren 1875–1883 erbaut und gehört daher zu den jüngeren Bestandteilen des architektonischen Ensembles des Roten Platzes. Vor seiner Errichtung stand an dieser Stelle seit Anfang des 18. Jahrhunderts das erste Apothekengebäude Moskaus, das im Jahr 1755 umgebaut wurde und zwei Jahrzehnte lang als erster Campus der damals neugegründeten Staatlichen Moskauer Universität diente. Das heutige Museumsgebäude wurde extra für das 1872 neu begründete Historische Museum erbaut und im Mai 1883 feierlich seiner Bestimmung übergeben. Sein Architekt war Wladimir Sherwood, der als einer der Hauptvertreter des zu seiner Zeit vielfach verwendeten „russischen Stils“, einer an traditionelle russische Baukunst angelehnten Spielart des Historismus, gilt. Entsprechend „altrussisch“ sieht das Museumsgebäude aus: Die Fassaden zieren an traditionelle russisch-orthodoxe Gotteshäuser erinnernde Bogenfenster und Ornamente, an den Seiten sind mehrere dekorative Türme angebaut, die an einige der Kremltürme erinnern, und die Form des Daches spielt an den Terem-Palast im Kreml an, eine besonders im 16. und 17. Jahrhundert bevorzugte Form des russischen Herrenhauses. Heute ist das Historische Museum das größte und bekannteste Geschichtsmuseum in Russland. Es beherbergt in 16 Fachabteilungen insgesamt rund 4,5 Millionen Exponate zur russischen Geschichte nahezu aller Zeitepochen und veranstaltet mehrmals jährlich auch themenbezogene Sonderausstellungen. Zum Komplex des Historischen Museums gehören außer dem eigentlichen Museumsgebäude unter anderem auch die Basilius-Kathedrale sowie das zum UNESCO-Welterbe zählende Moskauer Neujungfrauen-Kloster. Auferstehungstor Das Auferstehungstor bildet einen der beiden Eingänge zum Roten Platz von der nordwestlichen Seite her. Dieses 1680 erstmals errichtete Bauwerk gehörte anfangs zu der Befestigungsanlage des Kitai-Gorod. Es besteht in seinem Basisteil aus zwei bogenförmigen Portalen, die auf symmetrische Weise von zwei rechteckigen Türmen gekrönt werden, deren Spitzen stark an die Kremltürme erinnern. Ursprünglich stellte das Auferstehungstor einen Teil des architektonischen Ensembles am nördlichen Ende des Roten Platzes dar, das neben dem Tor das angegliederte Gebäude der Gouvernementverwaltung (siehe unten) sowie das nicht mehr erhaltene Apothekengebäude, das Ende des 19. Jahrhunderts dem Historischen Museum weichen musste, beinhaltete. In den Zeiten des Russischen Zarenreichs diente das Tor vor allem bei großen Feierlichkeiten als symbolisches Eingangstor zum Herzen Moskaus: So passierten die Zaren bei ihren Krönungsfeiern stets das Tor, bevor die Krönung auf dem Roten Platz vor dem Volk proklamiert wurde. Im Jahr 1931 ließ die neue Staatsmacht das Tor abbauen, damit es bei großen Militärparaden auf dem Roten Platz die Durchfahrt der Militärtechnik nicht behinderte. Das heutige Tor ist dessen weitgehend originalgetreuer Nachbau und stammt aus dem Jahr 1996. Zwischen den beiden Portalen an der Nordseite des Tores wurde zur gleichen Zeit die ursprünglich 1781 errichtete Kapelle der Gottesmutter-Ikone von Iviron () nachgebaut. Für diese Kapelle wurde auf Athos, wo sich das Kloster Iviron befindet, ein neues Exemplar der Ikone angefertigt. Ehemalige Gouvernementverwaltung Das zwischen dem Auferstehungstor und der Kasaner Kathedrale stehende Gebäude gehört zu den weniger auffälligen Bauten des Roten Platzes. Es wurde in den Jahren 1733 bis 1740 erbaut und diente seitdem längere Zeit als Hauptsitz der Verwaltung der Stadt Moskau sowie des Moskauer Gouvernements (letzterer entspricht räumlich teilweise der heutigen Oblast Moskau). Vom Krieg gegen Napoleon 1812, bei dem große Teile Moskaus zerstört wurden, wurde auch das Gouvernementverwaltungsgebäude nicht verschont. In den 1810er-Jahren wurde es dann unter Leitung des Architekten Joseph Bové wiedererrichtet, der am damaligen Wiederaufbau der Stadt maßgeblich beteiligt war. Im Zuge dieses Wiederaufbaus wurde an das Dach des Hauses ein Turm angebaut, der lange Zeit als Beobachtungsturm für eine Feuerwache diente. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde dieser Turm jedoch wieder abgebaut. Im Innenhof des ehemaligen Gouvernementverwaltungsgebäudes ist bis heute der alte Bau der staatlichen Münzprägeanstalt erhalten geblieben. Dieser wurde 1697 auf Erlass Peter des Großen errichtet und beherbergte seitdem noch knapp ein Vierteljahrhundert lang, bevor das Geldemissionswesen des Zarenreichs im Wesentlichen nach Petersburg verlagert wurde, eine Produktionsstätte für Silbermünzen. Nach dem Ende der Münzprägung wurde das in seinem unteren Teil fensterlose Gebäude im 18. Jahrhundert zeitweise als Schuldturm für zahlungsunfähige Kaufleute genutzt. Heute gehören sowohl das ehemalige Gebäude der Gouvernementverwaltung als auch die alte Münzprägeanstalt zum benachbarten Historischen Museum. Kasaner Kathedrale Die Kasaner Kathedrale steht gleich rechts neben dem ehemaligen Gouvernementverwaltungshaus, an der Ecke des Roten Platzes und der Nikolskaja-Straße. Die heutige Kathedrale ist ein Nachbau aus dem Jahr 1993. Ursprünglich befand sich an dieser Stelle bereits seit den 1620er-Jahren eine Kirche, zunächst eine hölzerne, ab 1636 dann eine steinerne. Ihren Namen verdankt die Kasaner Kathedrale der von russisch-orthodoxen Gläubigen seit Jahrhunderten verehrten Ikone der Gottesmutter von Kasan. Da laut einer Legende genau diese Ikone dem russischen Volksheer, angeführt von den Nationalhelden Kusma Minin und Dmitri Poscharski, im Jahre 1612 den Sieg über die polnisch-litauischen Besatzer Moskaus gebracht haben soll, stiftete der gläubige Fürst Poscharski wenige Jahre nach dem Sieg die auf diese Ikone geweihte Kathedrale. Dies entsprach der damals üblichen russischen Tradition, zum Andenken an historisch wichtige Siege Russlands Kirchen zu bauen – auch die zuvor errichtete Basilius-Kathedrale (siehe unten) wurde beispielsweise seinerzeit als Dank für das Bezwingen der Tataren erbaut. Im 17. und 18. Jahrhundert gehörte die Kasaner Kathedrale am Roten Platz zu den wichtigsten Moskauer Gotteshäusern und war insbesondere an den Jahrestagen des Sieges über Polen-Litauen Schauplatz feierlicher Kreuzprozessionen, die vom Patriarchen und dem Zaren angeführt wurden. Im Jahre 1936 wurde die Kathedrale, genauso wie eine Vielzahl anderer Moskauer Gotteshäuser, auf Geheiß Josef Stalins abgerissen. Erst Anfang der 1990er-Jahre begann der von der Öffentlichkeit mehrfach geforderte Wiederaufbau, der 1993 abgeschlossen wurde. Damit war die Kasaner Kathedrale eines der ersten zu Sowjetzeiten zerstörten Gotteshäuser in Moskau, die in den 1990er-Jahren wiederaufgebaut wurden. Warenhaus GUM Das Gebäude des Warenhauses GUM an der östlichen Platzseite nimmt den gesamten Abschnitt zwischen der Nikolskaja- und der Iljinka-Straße ein. Aufgrund seiner Lage direkt am Roten Platz, seiner beachtlichen Größe – die Verkaufsfläche beträgt rund 35.000 m² – und der markanten Architektur ist das GUM international das wohl bekannteste Einkaufszentrum in Russland. Das GUM-Gebäude wurde im Jahr 1893 erbaut und löste damals ein Gebäude ab, in dem sich seit 1815 die Oberen Handelsreihen () befanden – ein großzügiges Empire-Gebäude, das einen großen Teil der Handelsaktivitäten Kitai-Gorods unter einem Dach vereinte. Nachdem dieses Bauwerk bereits Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend verfiel, gab es immer wieder Planungen für ein Ersatzgebäude. Diese konnten jedoch aufgrund organisatorischer Schwierigkeiten erst in den 1890er-Jahren umgesetzt werden, wofür extra eine Aktiengesellschaft gegründet und ein Ideenwettbewerb unter Architekten ausgeschrieben wurde. Diesen gewann ein Projekt des Sankt Petersburger Architekturprofessors Alexander Pomeranzew sowie des bisweilen wenig bekannten Ingenieurs Wladimir Schuchow. Der Bau der neuen Handelsreihen dauerte von 1890 bis 1893. Als sie am 2. Dezember 1893 feierlich eröffnet wurden, vermochte das neue Bauwerk die russische und auch die ausländische Öffentlichkeit nicht nur mit einem beispiellosen Sortiment an allerlei Konsumgütern zu beeindrucken, sondern auch mit einer für das damalige Russland völlig neuartigen gläsernen Dachkonstruktion der drei Passagen, die von Schuchow entworfen und unter Einsatz von rund 60.000 Glasscheiben errichtet wurde. Äußerlich wurde das Gebäude, wie bereits ein Jahrzehnt zuvor das benachbarte Historische Museum, im russisch-historistischen Stil gehalten, mit einem an typische Bojaren-Paläste des 16. Jahrhunderts angelehnten Dachgiebel, zwei dekorativen Türmen in Anlehnung an den Kreml und einer an altrussische Bauwerke erinnernden Hauptfassade. Während der Sowjetzeit durchlebten die neuen Oberen Handelsreihen eine wechselvolle Geschichte: 1921 erhielten sie ihren heutigen Namen GUM (damals stand diese Abkürzung für Gossudarstwenny Uniwersalny Magasin – „Staatliches Kaufhaus“, heute steht sie für Glawny Uniwersalny Magasin – „Hauptkaufhaus“), Anfang der 1930er-Jahre wurden sie für zwei Jahrzehnte geschlossen und dienten als Büro- und Wohngebäude, und von Ende 1953 bis zum Zusammenbruch des Sowjetstaates galt das GUM als eine Art Vorzeige-Kaufhaus mitten in der realsozialistischen Mangelwirtschaft. In den 1990er-Jahren wurde das GUM privatisiert und gründlich renoviert und präsentiert sich heute den Einheimischen und Touristen als edles Einkaufszentrum, das von Boutiquen der gehobenen Preisklassen geprägt wird. Ehemaliges Großhandelsgebäude Das Gebäude am östlichsten Punkt des Platzes, an der Ecke zur Iljinka-Straße, steht genau dort, wo sich noch im 17. Jahrhundert die sogenannten Mittleren Handelsreihen () befanden. Diese waren – neben den Oberen Handelsreihen, wo das heutige Kaufhaus GUM steht – ein Teil all jener Marktreihen, die das an den Roten Platz angrenzende Kitai-Gorod geprägt hatten. Die massenhafte Ansammlung diverser Marktstände, Buden und selbstgebauter Holzhütten wurde Ende des 18. Jahrhunderts erstmals von einem extra für den Handel errichteten Gebäudekomplex abgelöst, dessen Autorenschaft dem italienischen Baumeister Giacomo Quarenghi zugeschrieben wird. Im Krieg von 1812 brannten diese Bauten jedoch ab und wurden wenige Jahre später von Joseph Bové neu erbaut – das damals entstandene Gebäude der Mittleren Handelsreihen ist bis heute erhalten und steht an der Iljinka-Straße wenige Hundert Meter östlich des Roten Platzes. Das Großhandelsgebäude am Roten Platz entstand indes erst im Jahre 1894, gleichzeitig mit dem Bau des heutigen Kaufhauses GUM. Da es hierbei von Anfang an als Ergänzung zu diesem geplant wurde – während die Oberen Reihen den Einzelhandel beherbergen sollten, war das Haus rechts davon für den Großhandel reserviert – überrascht es nicht, dass beide Gebäude architektonisch sehr ähnlich aussehen, mit einer an altrussische Prunkbauten des 15. und 16. Jahrhunderts angelehnten Fassade. Der Architekt des Gebäudes war Roman Klein, der Ende des 19. Jahrhunderts auch zahlreiche andere bekannte Moskauer Bauwerke erschuf, darunter das Puschkin-Museum. Nach der Machtübernahme durch die Kommunisten diente das Gebäude nicht mehr als Handelshaus, sondern als Sitze verschiedener Behörden. Bis zuletzt gehörte es dem russischen Militär. Anfang 2007 wurden vier Innenbauten der ehemaligen Handelsreihen abgetragen und werden gegenwärtig neu erbaut; geplant ist, das gesamte Gebäude originalgetreu zu rekonstruieren und in ihm ein exklusives Hotel einzurichten. Diese Baumaßnahmen wurden in jüngster Zeit sowohl von russischen als auch von ausländischen Medien als Umgehung des Denkmalschutzes durch geschickte Ausnutzung einer Gesetzeslücke kritisiert. Lobnoje Mesto Bei dem sogenannten Lobnoje Mesto () handelt es sich um ein rundes, tribünenartiges Bauwerk aus weißem Stein im südöstlichen Teil des Platzes vor der Basilius-Kathedrale. Zugleich ist es einer der nachweislich ältesten bis heute erhaltenen Bauten auf dem Platz: Erstmals wurde er im Jahr 1549 erwähnt, als dort der damals 19-jährige Zar Iwan IV. „der Schreckliche“ eine Rede hielt. Somit muss das Lobnoje Mesto von Anfang an als Tribüne gedacht worden sein, von der aus vor allem Zarenerlasse an das Volk verkündet wurden. Der Name Lobnoje Mesto könnte wörtlich als „Stirn-“ oder auch „Schädelstätte“ (und somit als wörtliche Übersetzung von Golgota) verstanden werden, hat jedoch anderen Hypothesen zufolge nichts mit einer Stirn zu tun, sondern mit seiner Lage nahe dem Lob, wie im mittelalterlichen Russland ein steiles Flussufer bezeichnet wurde. Überlieferungen zufolge war die Tribüne am Roten Platz ursprünglich aus Holz gebaut worden; der heutige steinerne Bau mit einem Tor aus Eisengitter stammt aus den späten 1590er-Jahren. Im Laufe der Zeit wurde das Lobnoje Mesto nicht nur als Tribüne für staatliche Ankündigungen und Bekanntmachungen genutzt, sondern auch als Mittelpunkt feierlicher Ereignisse: So hielten hier bei feierlichen Gottesdiensten am Roten Platz Zaren sowie Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche Ansprachen an das Volk. Zugleich wurde das Lobnoje Mesto auch als Schauplatz von Hinrichtungen berüchtigt, wobei diese allerdings nicht direkt auf der Tribüne, sondern einige Meter davon entfernt durchgeführt wurden. Zu den spektakulärsten Exekutionen am Lobnoje Mesto zählen die Vierteilung des aufständischen Bauernführers Stenka Rasin im Jahr 1671 sowie die Massenhinrichtungen aufständischer Strelizen Ende der 1690er-Jahre. 1768 wurde neben dem Lobnoje Mesto die Serienmörderin Darja Saltykowa vor ihrer Inhaftierung öffentlich an den Pranger gestellt. Nach dem Umzug der Zarenhauptstadt nach Sankt Petersburg verlor das Lobnoje Mesto seine Funktion als Tribüne der Zaren und gilt seither als Denkmal. 1786 wurde es nach einem Entwurf des Architekten Matwei Kasakow umgebaut und einige Meter in östliche Richtung verschoben. Minin-und-Poscharski-Denkmal Direkt vor der Basilius-Kathedrale steht das in den Jahren 1812 bis 1818 errichtete Denkmal für die beiden russischen Nationalhelden Kusma Minin und Fürst Dmitri Poscharski. Genauso wie die vom letzteren seinerzeit gestiftete Kasaner Kathedrale im nördlichen Teil des Platzes, erinnert auch dieses Denkmal an die Befreiung Moskaus von den polnisch-litauischen Besatzungstruppen im Jahr 1612, zu der das von Minin und Poscharski angeführte Volksheer einen entscheidenden Beitrag leistete. Bis heute wird an diesen für das russische Zarentum wichtigen Sieg jährlich am 4. November erinnert, seit 2005 ist dieser Tag als Tag der Einheit des Volkes wieder einer der offiziellen Nationalfeiertage in Russland. Das 20 Tonnen wiegende Denkmal aus Bronze, das seinerzeit vollständig aus Spendengeldern finanziert wurde, entstammt einem Entwurf des Bildhauers Iwan Martos. Es wurde, nach einer fast 15-jährigen Planungs- und Bauzeit, im Februar 1818 in einer feierlichen Zeremonie enthüllt. Da zu dieser Zeit der Sieg Russlands im Krieg gegen Napoleon fünf Jahre zurücklag und der Wiederaufbau Moskaus gerade abgeschlossen worden war, wurde das Denkmal bei seiner Aufstellung als ein Symbol für die Unbesiegbarkeit des russischen Staates und das Heldentum seiner Söhne gefeiert. Ursprünglich stand die Skulptur allerdings nicht vor der Basilius-Kathedrale, sondern vor dem heutigen Kaufhaus GUM in Höhe des Haupteingangs. Erst 1930 wurde sie an die heutige Stelle verlegt, um mehr Platz für Militärparaden und Großdemonstrationen zu schaffen. Basilius-Kathedrale Die den Platz an der Südseite begrenzende Basilius-Kathedrale ist zweifellos das berühmteste Bauwerk aus dem Ensemble des Roten Platzes und gilt als eines der Moskauer Wahrzeichen. Ihr voller Name ist eigentlich Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kathedrale am Graben. Einst war sie das Hauptgotteshaus der Zarenhauptstadt, heute ist die Kathedrale in ihrer Hauptfunktion ein Museum, das zum Komplex des gegenüberliegenden Staatlichen Historischen Museums gehört. Seit Anfang der 1990er-Jahre werden in unregelmäßigen Abständen aber auch Gottesdienste in der Basilius-Kathedrale durchgeführt. Mitte des 16. Jahrhunderts stand exakt an der Stelle der Basilius-Kathedrale die hölzerne Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit, die auch dem Platz zeitweise seinen Namen gab. 1555 verfügte der damalige Zar Iwan der Schreckliche, an dieser Stelle ein monumentales Gotteshaus zu errichten, das ein Zeichen des Dankes an die Gottesmutter für den drei Jahre zuvor erlangten Sieg des Zarentums Russland über das Khanat Kasan sein sollte – entsprechend der damaligen Tradition, Gotteshäuser zum Gedenken an militärische Siege bauen zu lassen. Die hölzerne Kirche wurde daraufhin abgetragen und bis 1561 an dieser Stelle die heutige Kathedrale aus Stein errichtet, womit sie auch eines der ältesten Bauten auf dem Platz ist. Ihren bis heute geläufigeren Namen erhielt die Kathedrale in Andenken an Basilius den Seligen, einem damals auch von Zar Iwan sehr verehrten Narren, der um 1552 verstorben war und auch nahe der Kathedrale beigesetzt wurde. Über die Architekten der Kathedrale, Barma und Postnik Jakowlew (laut einigen Hypothesen handelt es sich hierbei in Wirklichkeit um ein und dieselbe Person), ist fast nichts überliefert. Von der Fertigstellung der Kathedrale bis zum Umzug der Zarenhauptstadt aus Moskau nach Petersburg war sie das wichtigste Kirchengebäude der Stadt und zu allen großen orthodoxen Festen Schauplatz feierlicher Gottesdienste. In ihrer Geschichte war die Kathedrale mehrmals von Zerstörung bedroht: So soll einer Legende nach Napoleon Bonaparte beim Rückzug aus Moskau im Jahr 1812 die Sprengung der Kathedrale befohlen haben, jedoch löschte ein plötzlicher Wolkenbruch die bereits gezündeten Lunten. 1918, nach der Oktoberrevolution, wurde die Kathedrale von der neuen Staatsmacht geschlossen und ihr damaliger Vorsteher hingerichtet. Auch damals gab es Abrisspläne für die Kathedrale, nur der persönliche Einsatz des mit der Vorbereitung des Abrisses beauftragten Architekten Pjotr Baranowski gegen die Pläne verhinderte letztlich deren Umsetzung. Auffällig an der Kathedrale ist vor allem ihre asymmetrische Architektur, die sie von den meisten anderen russisch-orthodoxen Kirchenbauten stark unterscheidet. Das zentrale Element des Hauses sind seine neun Kirchtürme mit bunt bemalten zwiebelförmigen Kuppeln, die in der Größe und Farbgebung zum Teil sehr unterschiedlich gestaltet sind. Letzteres hat gleichzeitig den Effekt, dass das Gebäude keine Hauptfassade hat und deshalb dem Betrachter von jeder Seite aus einen ungewöhnlichen Anblick bietet. Ursprünglich aus weißem Stein gebaut, wurde die Kathedrale Mitte des 17. Jahrhunderts bei einem Umbau stellenweise mit roten Ziegeln verziert, was ihr bis heute die auffällige farbliche Heterogenität gibt. Auch innen ist die Kathedrale mit einem labyrinthähnlichen System von Gängen und Galerien sehr imposant gestaltet. Sehenswert sind außerdem die Wandmalereien aus dem 16. und 17. Jahrhundert im Saal unter dem höchsten Turm. Östliche Kremlmauer Der entlang des Roten Platzes verlaufende östliche Abschnitt der Schutzmauer des Kremls hatte von Anfang an die folgende Besonderheit: War der Kreml von seiner südlichen Seite aus nicht nur durch die Mauer, sondern auch durch den Fluss Moskwa und vom Westen bzw. Nordwesten durch die (heute nur noch unterirdisch fließende) Neglinnaja von der Außenwelt abgeschirmt, so war seine Mauer im Bereich ihres östlichen, zu Kitai-Gorod hin gewandten Abschnitts nicht zusätzlich durch natürliche Hindernisse geschützt. Da die Festung folglich von ihrer östlichen Seite als potenziell besonders gefährdet galt, ist die Mauer in diesem Bereich mit bis zu 19 Metern besonders hoch. Um die Verteidigungsfähigkeit des Kremls gegen häufige Angriffe noch zusätzlich zu steigern, wurde Anfang des 16. Jahrhunderts entlang seiner östlichen Mauer ein künstlicher Wassergraben von gut 30 Meter Breite und etwa 12 bis 13 Meter Tiefe erschaffen. Dieser als Alewis-Graben (, nach seinem Erbauer Alewis dem Neuen benannt) bezeichnete Verbindungsgraben zwischen der Neglinnaja und der Moskwa existierte noch bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, als er nicht mehr für nötig befunden und zugeschüttet wurde. Von den drei Kremltürmen, die am Roten Platz stehen, verfügen zwei über Eingangstore, zu denen früher eigens dafür erbaute Brücken über den Alewis-Graben führten. Heute erinnert an der östlichen Kremlmauer nichts mehr an den Graben und diese Brücken. Der nördlichste der drei am Roten Platz stehenden Kremltürme ist der 70 Meter hohe Nikolausturm (), benannt nach dem Heiligen Nikolaus von Myra, dessen Ikone ursprünglich den unteren Teil des Turms zierte. Dieser Turm ist einer der heute vier Türme des Moskauer Kremls, die über ein Eingangstor zum Kreml verfügen. Er wurde ursprünglich im Jahre 1491 nach einem Entwurf des Baumeisters Pietro Antonio Solari errichtet, welcher als einer von mehreren italienischen Architekten, die in Moskau damals tätig waren, am Bau des Kreml-Ensembles maßgeblich beteiligt war. 1806 wurde der Turm wesentlich umgestaltet und erhielt – völlig ungewöhnlich für die Kreml-Bauten – eine gotische Spitze. Nur wenige Jahre später wurde er im Krieg gegen Napoleon von den französischen Truppen zerstört und 1816 schließlich unter Beteiligung von Joseph Bové wiederaufgebaut. Mit seinem gotischen Stil ist der Nikolaus-Turm bis heute der wohl ungewöhnlichste von den insgesamt 20 Kremltürmen. Ebenfalls über ein Eingangstor verfügt der Erlöser-Turm (), der den Roten Platz zusammen mit der benachbarten Basilius-Kathedrale vom Süden her abschließt. Seinen Namen verdankt er einem Erlöser-Bild, das einst über dem Tor hing. Der Erlöser-Turm ist 71 Meter hoch und wurde, genauso wie der Nikolaus-Turm, im Jahre 1491 von Pietro Antonio Solari erbaut. Allerdings war er damals etwa nur halb so hoch wie heute. Die ungefähr der gegenwärtigen entsprechende Gestalt hat der Turm seit einem Umbau in den Jahren 1624–1625, als er um einen Glockenturm mit einer großen Turmuhr aufgestockt wurde. Letztere wurde vom schottischen Architekten und Uhrmacher Christopher Galloway entworfen und ist heute das bekannteste architektonische Element des Erlöser-Turms. Die vier Zifferblätter der Uhr – je eines pro Turmseite – stammen aus dem Jahr 1852; jedes von ihnen weist einen Durchmesser von 6,12 Meter auf. Das hochpräzise Uhrwerk nimmt drei Stockwerke des Turms ein, und für das viertelstündliche Läuten sorgen ein Dutzend Glocken unterhalb der Turmspitze. Sowohl der Nikolaus- als auch der Erlöser-Turm werden jeweils von einem über drei Meter Spannweite messenden roten Stern aus dreischichtigem Rubin- und Achatglas gekrönt. Diese Sterne als Symbol des Kommunismus wurden 1937 an insgesamt fünf Kremltürmen aufgestellt; vorher wurden diese Türme von einem Symbol des Russischen Zarenreichs – dem Doppeladler – geschmückt. Bei dem kleinen Turm in Höhe des Lenin-Mausoleums zwischen dem Nikolaus- und dem Erlöser-Turm handelt es sich um den sogenannten Senatsturm (), der seinen heutigen Namen dem unmittelbar hinter ihm auf der Seite des Kremls stehenden ehemaligen Senatsgebäude verdankt. Dieser Turm wurde zwar zeitgleich mit seinen beiden Nachbarn und ebenfalls von Pietro Antonio Solari errichtet, hatte aber nie ein Eingangstor und ist nur 34 Meter hoch. Lenin-Mausoleum Ein wichtiges Denkmal der Sowjetzeit stellt das Lenin-Mausoleum dar, das sich an der Westseite des Roten Platzes befindet. Es steht an der Kremlmauer in Höhe des Senatsturms, fast genau dort wo bis zum 18. Jahrhundert der Schutzgraben und in den Jahren 1909–1930 eine Straßenbahnlinie verlief. Im Inneren des Mausoleums ruht der aufwändig einbalsamierte Leichnam des russischen Revolutionsführers Lenin in einem panzergläsernen Sarkophag. Bis heute ist das Mausoleum an bestimmten Tagen für Besucher geöffnet. Dem heutigen Bau aus Granit und Labradorstein gingen zwei provisorische Mausoleen aus Eichenholz vor. Das erste davon wurde im Januar 1924, wenige Tage nach Lenins Tod errichtet und hatte eine schlichte Würfelform bei einer Höhe von drei Metern; ein zweites Provisorium wurde im Frühjahr 1924 aufgestellt. Das heutige Gebäude wurde in den Jahren 1929 bis 1930 errichtet. Es weist von außen die Form einer mehrstufigen Pyramide auf, was den Charakter des Mausoleums als monumentale Begräbnisstätte nach antikem Vorbild unterstreichen sollte. Der Autor des Entwurfs war der renommierte Architekt Alexei Schtschussew, der auch die beiden Vorgängermausoleen hatte errichten lassen. Von der Fertigstellung des Mausoleums bis zum Ende der Sowjetunion galt dieses Bauwerk als zentrale Sehenswürdigkeit und Kultstätte der sozialistischen Welt. Während der Militärparaden und Aufmärsche auf dem Roten Platz traten Staatschefs noch bis Mitte der 1990er-Jahre von der zentralen Tribüne auf dem Dach des Mausoleums auf. 1953 wurde auch der Körper des verstorbenen Lenin-Nachfolgers Josef Stalin einbalsamiert und im Mausoleum aufgebahrt. Acht Jahre später wurde er jedoch im Zuge der sogenannten Entstalinisierung aus dem Mausoleum entfernt und an der Kremlmauer (siehe unten) beerdigt. Heute zieht das Mausoleum nach wie vor zahlreiche Touristen an, wenngleich meist nicht mehr vom Personenkult um den Revolutionsführer motiviert. Ungeachtet dessen ist die weitere Aufbahrung der sterblichen Überreste Lenins im Mausoleum umstritten; auch viele Prominente, darunter der letzte sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow, sprachen sich für eine Beerdigung Lenins aus. Nekropole an der Kremlmauer Gleich hinter dem Lenin-Mausoleum, entlang der Kremlmauer, befindet sich ein großer Ehrenfriedhof. Dieser entstand im November 1917; damals fanden rund 250 während der Oktoberrevolution in Moskau gefallene Soldaten in zwei Sammelgräbern nahe dem Senatsturm ihre letzte Ruhe. Die Tradition, Revolutionäre am Roten Platz beizusetzen, dem Symbol der bolschewistischen Revolution schlechthin, setzte sich danach umgehend fort: Bereits im Frühjahr 1919 wurde der führende Lenin-Mitstreiter Jakow Swerdlow an der Kremlmauer begraben, und mit dem im Jahr 1930 fertiggestellten Lenin-Mausoleum erhielt die Begräbnisstätte ihr zentrales Element. Seitdem wird das Mausoleum und der es umgebende Friedhof zusammen auch als Revolutionsnekropole bezeichnet. Von den 1920er- und bis in die 1980er-Jahre wurden auf dem Roten Platz Hunderte von Personen bestattet, die als besonders verdiente Söhne und Töchter des Sowjetstaates galten, das heißt vor allem Revolutionäre, Helden der Sowjetunion, Staatsmänner und Militärs höchsten Ranges. Die Beisetzung in der Kremlmauer-Nekropole galt faktisch als höchste posthume Auszeichnung, die nur den wenigsten vorbehalten war. Insgesamt zwölf Staatsmänner – darunter Swerdlow, Kalinin, Woroschilow, Breschnew sowie der noch bis 1961 im Mausoleum aufgebahrte Stalin – wurden in Einzelgräbern beerdigt, außerdem ruht hier eine Vielzahl der Revolutionäre in insgesamt 15 Sammelgräbern. Bei dem größten Teil der hiesigen Begräbnisse handelt es sich jedoch um Nischen in der Kremlmauer, in die über 100 Urnen mit Überresten von Revolutionären, Helden oder Hauptideologen eingemauert sind. Zu den Personen, deren Urnen sich in der Kremlmauer befinden, gehören unter anderem Lenins Lebens- und Kampfgefährtin Nadeschda Krupskaja, der erste Kosmonaut Juri Gagarin, der revolutionäre Schriftsteller Maxim Gorki, der Atomwaffenentwickler Igor Kurtschatow, aber auch ausländische Politiker Clara Zetkin und Fritz Heckert. Seit 1974 gilt die Nekropole an der Kremlmauer als Denkmal. Nach der 1985 erfolgten Beisetzung des Staatschefs Konstantin Tschernenko wurden dort keine Bestattungen mehr vorgenommen. Die Gräber der Nekropole können heute zu den gleichen Uhrzeiten wie das Mausoleum besichtigt werden. Literatur Igorʹ Bondarenko: Krasnaja ploščadʹ Moskvy. Verlagshaus Veče, Moskau 2006, ISBN 5-9533-1334-9 Andrej Dëmin: Zolotoe kolʹco Moskvy, S. 57–72. Verlagshaus Veče, Moskau 2006, ISBN 5-9533-1454-X Dmitrij Evdokimov: Kremlʹ i Krasnaja ploščadʹ. ITRK Verlag, Moskau 2003, ISBN 5-88010-160-6 A. J. Kiselëv u. a.: Moskva: Kremlʹ i Krasnaja ploščadʹ. AST / Astrelʹ, Moskau 2006, ISBN 5-17-034875-4 Sergej Romanjuk: Kremlʹ. Krasnaja ploščadʹ. ANO IC Moskvovedenie, Moskau 2004, ISBN 5-7853-0434-1 Weblinks Der Rote Platz bei moskau.RU RusslandJournal.de über Moskau und den Roten Platz Virtueller Besuch des freien dreidimensionalen Modells von Roter Platz Einzelnachweise Platz in Moskau Hinrichtungsstätte in Russland Platz in Europa Bestandteil einer Welterbestätte in Russland Bestandteil einer Welterbestätte in Europa Fußgängerzone in Russland
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https://de.wikipedia.org/wiki/Mittelspecht
Mittelspecht
Der Mittelspecht (Leiopicus medius, Syn.: Dendrocoptes medius, Dendrocopos medius) ist eine in Mitteleuropa relativ seltene Vogelart aus der Familie der Spechte (Picidae). Sie ist in einem vergleichsweise kleinen Gebiet der West- und Südwestpaläarktis verbreitet. Die Art benötigt zur Nahrungssuche Baumkronen mit grobrindigen Ästen und Stammbereichen. In weiten Teilen des Verbreitungsgebietes zeigt der Mittelspecht daher eine Bindung an alte Eichenwälder, wurde aber in den letzten Jahren auch in naturnahen Laubmischwäldern ohne wesentlichen Eichenanteil festgestellt. Mittelspechte sind Standvögel, die ihre Jungen in selbst gezimmerten Baumhöhlen großziehen. Sie gehören zu den wenigen Buntspechten, bei denen die Färbungsunterschiede der Geschlechter sehr schwach ausgeprägt sind oder häufig völlig fehlen, sodass feldornithologisch eine Geschlechtsbestimmung problematisch sein kann. In ihrem Verbreitungsgebiet sind sie die einzige Art, bei der beide Geschlechter etwa gleich große rote Kopfkappen aufweisen. L. medius gehört zu den wenigen Vogelarten mit einem Verbreitungsschwerpunkt in Mitteleuropa, etwa 20 % brüten in Deutschland, weshalb Deutschland eine besondere Verantwortung für die Erhaltung dieser Tierart trägt (Verantwortungsart). Der Gesamtbestand scheint leicht zuzunehmen und wird zurzeit als „Nicht gefährdet“ (LC = Least concern) eingestuft. Aussehen Der Mittelspecht ist nur geringfügig kleiner als der Große Buntspecht, aber bedeutend größer als der Kleinspecht. Er ist der einzige europäische Specht, bei dem der Farbdimorphismus zwischen den Geschlechtern nur sehr schwach ausgeprägt ist. Der Mittelspecht ist ein typischer Buntspecht mit kontrastierender schwarz-weißer Gefiederzeichnung. Die schwarzen Gesichtszeichen sind bei dieser Art vergleichsweise schwach ausgeprägt, sodass das Gesicht überwiegend schmutzig weiß erscheint. Insbesondere unterscheidet sich dieser Specht durch das Fehlen eines schwarzen Zügelbandes von allen anderen europäischen Buntspechten. Der Scheitel ist bei beiden Geschlechtern von einer ziegelroten, zum Nacken hin ins Rotorange wechselnden, nicht schwarz gerandeten Gefiederpartie bedeckt; sehr häufig, insbesondere in aggressions- oder sexuell motivierten Situationen werden die Scheitelfedern gesträubt. Der Schnabel ist relativ kurz, hellgrau und nicht sehr kräftig. Rücken und Flügel sind glänzend schwarz, der Schulterbereich ist weiß, die Armdecken sind breit weiß gebändert. Der kräftige Stützschwanz ist schwarz, die äußeren Steuerfedern sind weiß mit einer individuell sehr unterschiedlich ausgeprägten Schwarzzeichnung. Die Flanken sind auffallend dunkelgrau längsgestrichelt. Die Brust dieses Spechtes ist blassgelblich gefärbt, der Bauch weist einen Rosaton auf, der sich zum Steiß hin zum Rötlichen verstärkt. Bei Weibchen ist die rote Scheitelfärbung oft etwas blasser und vor allem an den Rändern ins Rotbräunliche hin ausfärbend. Dieser minimale Färbungsunterschied ist jedoch nicht immer deutlich ausgeprägt. Jungvögel sind etwas blasser, weniger kontrastreich gefärbt. Ihre Scheitelplatte ist nur angedeutet rötlich, die Bauchpartie ist schmutzig weiß. Maße und Körpermasse Die durchschnittliche Körperlänge des Mittelspechtes beträgt 21 Zentimeter. Er ist damit etwa 15 Prozent kleiner als der Große Buntspecht, aber 40 Prozent größer als der Kleinspecht. Die Spannweite liegt bei 34 Zentimetern. Das Gewicht adulter Mittelspechte schwankt zwischen 50 und 85 Gramm. Verwechslungsmöglichkeiten Der Mittelspecht ist eine gut zu bestimmende Buntspechtart, obwohl er bei ungenügenden Beobachtungsverhältnissen leicht mit dem Großen Buntspecht, dem Blutspecht oder dem Weißrückenspecht verwechselt werden kann. Wichtigstes Erkennungszeichen ist die rote Scheitel- und Nackenpartie sowie die nur spärliche Schwarzzeichnung des Gesichtes des Mittelspechts. Bei allen anderen Buntspechten tragen nur die Männchen einen roten Hinterhauptfleck, die Schwarzzeichnungen im Gesicht sind bei ihnen viel großflächiger, vor allem reicht bei allen anderen das schwarze Zügelband bis zur Schnabelwurzel. Schwieriger sind Jungvögel des Buntspechtes und des Blutspechtes von adulten Mittelspechten zu unterscheiden, da auch diese in beiden Geschlechtern eine rote Scheitelplatte tragen. Die sicherste Unterscheidung bieten neben dem Größenunterschied auch hier die Schwarzanteile im Gesicht, die bei Buntspecht und Blutspecht bedeutend ausgeprägter sind als beim Mittelspecht. Insbesondere ist auch bei Jungvögeln auf das Vorhandensein eines schwarzen Zügels, der bis zur Schnabelwurzel reicht, zu achten. Wichtige Unterscheidungsmerkmale zum Buntspecht sind die rosa Unterschwanzdecken, die allmählich in das Weiß des Bauchs übergehen (beim Buntspecht rote Unterschwanzdecken mit scharfer Grenze zum Weiß des Bauchs) und die schwarze Flankenstreifung (beim Buntspecht weiße Flanken ohne Streifung). Stimme Das Stimmrepertoire des Mittelspechtes ist sehr vielfältig. Einige der Rufe dieser Art unterscheiden sich auffällig von denen anderer Buntspechte. Bekanntester Ruf ist das sogenannte Quäken, das etwa mit kwääh…kwääh…kwääh oder ghääh…ghääh…ghääh transkribiert werden kann. Dieser Gesang dient sowohl der territorialen Positionierung als auch als Balzgesang. Er besteht aus mindestens zwei, meist aber aus bedeutend mehr (bis zu dreißig) Einzelelementen und wird vor allem, aber nicht ausschließlich, vom Männchen vorgetragen. Zu Beginn ist die klagende Rufreihe vokalisiert, zum Ende hin wird sie rau und krächzend. Der Ruf trägt sehr weit; entfernt erinnert er an den Warnruf des Eichelhähers (Garrulus glandarius). Der Mittelspecht wird schon sehr früh im Jahr, oft schon im Januar akustisch auffällig; der Gesangsgipfel wird in der Hauptbalzzeit von Mitte März bis Mitte April erreicht. Auch im Spätherbst ist das Quäken gelegentlich wieder zu vernehmen. Neben diesem markantesten Ruf besteht eine Vielzahl von kurzen, oft auch gereihten Lautäußerungen. Am häufigsten ist ein kurzer Gük-Laut zu hören, der in Erregungssituationen zu einer langen Rufreihe werden kann. Auffallend und charakteristisch ist die abfallende Tonreihe und das betonte erste Element. Mittelspechte trommeln äußerst selten. Offenbar wird die revieranzeigende Funktion des Trommelns bei dieser Art vom Quäken übernommen. Die eher leisen Trommelwirbel bestehen aus 18–30 Einzelschlägen und dauern knapp 2 Sekunden. Die Intervalle zwischen den Schlägen bleiben gleich. Verbreitung Das Verbreitungsgebiet des Mittelspechtes beginnt in Westeuropa im Kantabrischen Gebirge, zieht sich über die Pyrenäen und über große Teile Frankreichs und Teile Belgiens nach Mitteleuropa und endet im Westen des europäischen Teils Russlands. In den Niederlanden bewohnt der Mittelspecht nur die südlichen Landesteile, in den westlichen und südwestlichen Bereichen der Norddeutschen Tiefebene fehlt die Art bis auf kleine inselartige Vorkommen weitgehend, erst in der Umgebung von Hamburg erreichen die Brutgebiete wieder küstennähere Regionen. In Skandinavien brütet die Art nicht, nachdem die kleinen Restpopulationen in Dänemark 1959 und auf Gotland 1982 erloschen sind. In Osteuropa sind Polen, Lettland, Litauen und Belarus gut von dieser Spechtart besiedelt, während in Estland nur eine sehr kleine, aber wachsende Population in den südlichen Landesteilen vorkommt. Nach Osten hin erstreckt sich die Verbreitung bis etwa an die Wolga. In Süd- und Südosteuropa ist die Art in kleinen Verbreitungsinseln in Italien vertreten, viel dichter sind die Vorkommen in Ungarn und auf dem Balkan. In der Türkei bestehen gute Vorkommen im Pontischen Gebirge, im ägäischen Küstenland und im Taurus. Schließlich brütet die Art noch im Kaukasus und Transkaukasien sowie im Westiran. Außer auf der Ägäisinsel Lesbos nahe der kleinasiatischen Küste scheint dieser Specht auf keiner anderen Mittelmeerinsel vorzukommen. In Deutschland ist der Mittelspecht weit verbreitet, aber nirgendwo häufig. Die besten Vorkommen liegen in Baden-Württemberg (entlang des gesamten Oberrheins und im Neckarbecken), in Brandenburg (Schorfheide Chorin; Uckermärkische Seen) sowie in Niedersachsen und Bayern, hier vor allem in den Donauauen und im Gerolfinger Eichenwald. In Österreich ist der Mittelspecht in den östlichen und südöstlichen Landesteilen vertreten. So bestehen gute Populationen im Wienerwald und im Wiener Prater und in den Hartholzauen entlang der südsteirischen Mur. In der Schweiz sind nur die nördlichen Landesteile von dieser Spechtart besiedelt. Die größten Vorkommen liegen im Zürcher Weinland, in der Gegend um Basel sowie am Südfuß des Jura. Lebensraum Der Mittelspecht ist eine Charakterart der warmgemäßigten Laubwaldzone Europas und Westasiens. Er folgt auffällig dem Verbreitungsgebiet der Hainbuche (Carpinus betulus), mit deren Verbreitungsgrenzen die Mittelspechtvorkommen nur in Nordspanien (dort kommt die Hainbuche nicht vor) und in Südengland (dort kommt der Mittelspecht nicht vor) nicht übereinstimmen. Bis Ende der 1990er Jahre wurde die enge Bindung des Mittelspechts in Mitteleuropa an alte Eichen betont und die Art daher als Charakterart alter Eichenwälder bezeichnet. Seitdem wurden in Deutschland jedoch auch Vorkommen in Buchenurwäldern, in urwaldartigen Erlenbruchwäldern und im Kaukasus auch Reviere in Weichholzauen mit angrenzenden Buchenwäldern gefunden. Eine neue Untersuchung, die im Landkreis Esslingen in Baden-Württemberg durchgeführt wurde, ergab zudem sehr hohe Bestandsdichten in Obstbaumwiesen, insbesondere dann, wenn diese an geschlossene Laubwaldgebiete grenzten. Ausgedehnte Bestände mit alten, hochstämmigen Obstbäumen spielen vor allem auch als Trittsteinbiotope für dispergierende Jungvögel eine wichtige Rolle. Man geht heute davon aus, dass weniger die Artenzusammensetzung eines Waldgebietes als dessen Alter und die Bewirtschaftungsform für das Vorkommen des Mittelspechts ausschlaggebend sind. Die Art benötigt zur Nahrungssuche Bäume mit grobrissiger Rinde oder stark strukturiertes Totholz. In forstlich bewirtschafteten Wäldern ist die Art daher auf Eichen angewiesen, da nur diese auch bereits in jüngerem Alter ausreichend grobrissig sind. In eichenfreien Wäldern ist außerdem ein ausreichendes Angebot an stehendem Totholz Basis für eine ausreichende Nahrungsgrundlage. Die Art ist demnach weniger an Eichen gebunden als an naturnahe, totholzreiche Wälder und gilt daher heute als Urwaldrelikt. Da Rotbuchen erst im bereits hiebreifen Alter ab etwa 150–200 Jahren eine grobrissige Rinde und für den Mittelspecht nutzbare Totholzpartien entwickeln, wird das großflächige Fehlen der Art in den mitteleuropäischen Buchenwäldern heute als „forstwirtschaftliches Artefakt“ bezeichnet. In Mitteleuropa findet die Art heute geeignete Habitatstrukturen vor allem in Augebieten und in naturbelassenen Hangwäldern. Grenzen Eichenbestände an ausgedehnte alte Obstgärten oder liegen Eichenbestände in großflächigen Parklandschaften, vermag der Mittelspecht auch solche Sekundärhabitate zu besiedeln. Wesentlich ist auch die Größe der Waldgebiete selbst. Stark fragmentierte Wälder oder Gehölze unter 10 Hektar werden kaum besiedelt. Ganz selten brüten Mittelspechte in Nadelwaldgebieten. So kommt die Art in Mittelgriechenland in einem Bergwaldgebiet mit Schwarzföhren und der Griechischen Tanne (Abies cephalonica) vor, auf Lesbos werden große, alte Olivenpflanzungen bewohnt. In Zentral- und Osteuropa kommt der Mittelspecht vor allem in niederen Lagen und im Hügelland vor; Brutplätze über 900 Metern sind in dieser Zone nicht bekannt. In Italien, auf dem Balkan sowie in der Türkei brüten diese Spechte bis in Höhen von 1700 Metern, aus dem Kaukasus und dem Iran sind noch höher gelegene Brutvorkommen bekannt. Die Siedlungsdichten können in Optimalhabitaten sehr hoch sein. So wurden im östlichen Wienerwald fast vier Brutpaare auf 10 Hektar festgestellt, ähnliche Maximalwerte wurden in der Gegend um Schaffhausen in einer Hartholzaue entlang des Hochrheins ermittelt, wo ein Männchenrevier etwa vier Hektar umfasste. Üblicherweise sind Mittelspechtreviere jedoch viel größer; Durchschnittsgrößen der Sommerreviere liegen zwischen 10 und 20 Hektar; Winterreviere sind wesentlich größer, in ihren Grenzstrukturen jedoch sehr variabel. Systematik Der Mittelspecht wurde früher und wird zum Teil noch immer in die umfangreiche Gattung Dendrocopos gestellt; Dendrocopos atratus und Dendrocopos macei galten als die nächsten Verwandten. Neue molekulargenetische Untersuchungen legen eine Abspaltung von drei Arten und ihre taxonomische Einordnung in eine neu definierte Gattung mit dem 1854 von Bonaparte für eine Reihe von Spechten eingeführten Namen Leiopicus (griech. λεῖος – weich, bartlos) nahe. Danach bilden der Mittelspecht und seine Schwesterart Braunstirnspecht (Leiopicus auriceps) gemeinsam mit dem Gelbscheitelspecht (Leiopicus mahrattensis) eine Klade. Diese Vorschläge wurden in der aktualisierten Systematik des HBW umgesetzt, in der letzten Fassung der World Bird List des IOC (Juni 2014) jedoch noch nicht berücksichtigt. Als Ergebnis einer neuen umfangreichen Untersuchung schlugen Jérôme Fuchs und Jean-Marc Pons 2015 vor L. medius zusammen mit L. atratus, L. auriceps und L. macei nach Dendrocoptes zu stellen einer Ansicht, der einige Autoritäten so auch das IOU, nicht aber das HBW gefolgt sind. Wahrscheinlich lag das glaziale Rückzugsgebiet des Mittelspechts auf dem Balkan oder im östlichen Mittelmeerraum, von wo aus die nacheiszeitliche Ausbreitung erfolgte. Zurzeit unterscheiden die meisten Autoren vier Unterarten, die sich jedoch nur geringfügig voneinander unterscheiden. Leiopicus medius medius , 1758): Die Nominatform kommt in Europa und in der Nordwesttürkei vor. Die Vögel aus Spanien sind etwas farbintensiver gezeichnet, vor allem die Rosafärbung des Steißes ist ausgedehnter und intensiver. Die türkischen Spechte weisen eine etwas intensivere Flankenstrichelung auf. Diese Färbungsvarianten führten zur Beschreibung der Unterarten D. m. lilianae und D. m. splendidor, die jedoch zurzeit nicht anerkannt sind. Leiopicus medius caucasicus , 1904): Diese Unterart ist in der Nordtürkei und im Kaukasusgebiet verbreitet. Die Bauchpartie ist heller als bei der Nominatform, die Brust deutlich gelblich gefärbt. Die äußeren Steuerfedern sind stark und regelmäßig schwarz gebändert. Der Steiß ist rötlicher als bei D. m. medius. Leiopicus medius anatoliae , 1912): Eine nicht allgemein anerkannte Unterart aus der Süd- und Südwesttürkei, die von einigen Autoren mit der obigen vereint wird. Die Vögel sind D. m. caucasicus äußerst ähnlich, aber geringfügig kleiner. Leiopicus medius sanctijohannis , 1873): Die Spechte dieser Unterart kommen im Norden des Irans, vielleicht auch im Nordirak vor. Die Rasse zeigt eine auffallend weiße Gesichtszeichnung, auch die Unterseite ist weitgehend weiß bis auf eine sehr ausgedehnte Rotzeichnung, die vom Unterbauch über den Steiß bis zu Unterschwanzdeckfedern reicht. Die Flanken sind sehr eng schwarz gestrichelt. Nahrung Mittelspechte ernähren sich vornehmlich von unterschiedlichen Arthropoden und deren Entwicklungsstadien. Dabei überwiegen stamm- und rindenbewohnende Arten gegenüber jenen, die auf Zweigen oder Blättern leben. Holzbohrende Käferlarven spielen keine oder nur eine sehr untergeordnete Rolle. Nach der Individuenzahl bilden Blattläuse, verschiedene Ameisenarten wie die Glänzendschwarze Holzameise oder die Fremde Wegameise den Nahrungshauptanteil, während Gattungen der Waldameisen eine nur untergeordnete Bedeutung im Nahrungserwerb dieses Spechtes haben. Daneben bilden noch Käfer, Schildläuse, Schnaken, verschiedene Raupen sowie Fliegen, Mücken und Asseln Bestandteile der animalischen Kost. Die meisten Beutetiere sind klein, die mittlere Länge beträgt etwa 8,5 Millimeter. An frisch geschlüpfte Küken werden vor allem Blattläuse verfüttert, mit zunehmendem Alter gleicht die Nestlingsnahrung der der Erwachsenen. Der Mittelspecht nimmt vegetarische Kost zu sich, jedoch bei weitem nicht in dem Ausmaß, wie dies beim Großen Buntspecht, besonders aber beim Blutspecht festzustellen ist. Im Frühjahr ringelt er gelegentlich safttreibende Bäume, vor allem Linden, um Baumsäfte aufnehmen zu können; im Juni und Juli können Kirschen eine wichtige Beikost sein, die auch an die Jungen verfüttert wird. Im Herbst und Winter spielen Nüsse und Koniferensamen eine gewisse, wenn auch untergeordnete Rolle. Verhalten Der Mittelspecht ist ein agiler, unruhig und rastlos wirkender Specht. Er huscht unter andauerndem Stochern gewandt die Stämme auf- und abwärts, wobei er wie ein Kleiber auch kopfüber abwärts klettert. Die Verweildauer auf einem Nahrungsbaum ist oft nur kurz. Auch kleine Ortswechsel legt er fliegend zurück. Der Streckenflug ist ein kräftiger und schneller Bogenflug. Die Aufwärtsbewegung wird durch einige kräftige, schnell aufeinanderfolgende Flügelschläge erreicht, am Bogengipfel werden die Flügel eng an den Körper gelegt. Plötzliche Richtungswechsel sind von einem lauten Geräusch begleitet. Häufig sitzt er wie ein Singvogel quer auf einem Ast und nicht, wie die meisten anderen Spechte, in der Längsrichtung. Aktivität und Komfortverhalten Der Mittelspecht ist wie alle Spechte tagaktiv, seine Aktivitätsphase reicht von Sonnenaufgang zum Sonnenuntergang. Vor Einbruch der Abenddämmerung kann er noch eine gewisse Zeit in der Nähe seiner Schlafhöhle verweilen, bevor er in diese einschlüpft. Die Nacht wird in einer Schlafhöhle verbracht, gelegentlich auch in einem Nistkasten. Ausgesprochenes Schlechtwetter verkürzt die Aktivitätszeit. Während der frühen Nachmittagsstunden werden Ruhepausen eingelegt, die der Specht meist im Kronenbereich verbringt und auch zur Gefiederpflege nutzt. Spezifische Komfortverhaltensweisen wurden selten beobachtet; einige Male wurden Mittelspechte beim Sonnenbaden gesehen, wobei sie den Kopf einziehen und das Gefieder sträuben. Territoriales und antagonistisches Verhalten Mittelspechte sind während des gesamten Jahres territorial und begegnen Artgenossen innerhalb der Reviergrenzen aggressiv. Sie antworten sofort auf Rufattrappen, häufig fliegen sie die Schallquelle auch an. Weibchen werden im Winterrevier geduldet, von besonders ergiebigen Futterquellen aber oft vertrieben. Auf Buntspechtrufe und Lautäußerungen des Stares reagiert der Mittelspecht aggressiv, obwohl strittig ist, ob es zu einer echten Rivalität zwischen diesen Arten kommt, da sie doch verschiedene Lebensbereiche im zuweilen gemeinsamen Nahrungshabitat nutzen. Einige Male wurden besetzte Buntspecht- und Mittelspechthöhlen auf engstem Raum nebeneinander gefunden, ohne dass ein Aggressionsverhalten feststellbar gewesen wäre. Sicher ist aber auch, dass der Buntspecht in der direkten Auseinandersetzung überlegen ist und gelegentlich auch besetzte Mittelspechthöhlen übernimmt und die Nestlinge tötet. Auf Eichhörnchen und Bilche reagiert der Mittelspecht energisch hassend und versucht sie mit direkten Flugattacken zu vertreiben. Vor Flugfeinden, insbesondere dem Sperber, verharrt der Mittelspecht, wenn er nicht in eine Höhle fliehen kann, regungslos eng an den Stamm gedrückt. Diese Einfrierposition ist auch von anderen Buntspechten bekannt. Angriffen von Mardern, dem zweiten wesentlichen Prädator, können sich adulte Vögel meist fliegend entziehen, während eben flügge gewordene und Jungvögel ihnen oft zum Opfer fallen. Nahrungserwerb Der Mittelspecht ist ein ausgesprochener Baumspecht, der nur sehr selten seine Nahrung auf der Erde oder auf liegenden Stämmen oder Ästen sucht. Dabei bevorzugt er während des gesamten Jahres den inneren Kronenbereich grobborkiger, alter Laubbäume, insbesondere von Eichen. Die oberen und mittleren Stammabschnitte werden bedeutend weniger häufig genutzt, die unteren Stammabschnitte vergleichsweise selten. Allerdings variiert die Nutzung der verschiedenen Abschnitte während des Jahres etwas, vor allem im Winter werden die mittleren und oberen Stammabschnitte sowie große Seitenäste häufiger aufgesucht. Der Mittelspecht sammelt seine Beutetiere von der Stammoberfläche auf, indem er mit hastigen Bewegungen in Borkenrissen stochert, Blätter absucht und gelegentlich auch in kurzen Ausfallsflügen Fluginsekten zu erbeuten sucht. Bei der Beutesuche klettert er sehr gewandt, auch kopfüber und seitlich an Ästen; Beeren und Kirschen erntet er oft, indem er sich kopfunter an ein Ästchen klammert. Nach verborgenen Beutetieren hackt diese Spechtart vergleichsweise selten und nicht sehr ausdauernd; nur in der obersten Borkenschicht und unter losen Rindenteilen werden holzbewohnende Insekten und deren Larven erbeutet. Um Nüsse öffnen zu können oder um an Koniferensamen heranzukommen, benutzt der Mittelspecht einfache Schmieden. Echte Schmieden legt diese Art jedoch nicht an. Im Frühjahr ringelt er safttreibende Bäume oder nutzt Saftaustritte aus Rindenverletzungen oder Ringelstellen anderer Spechte. Wanderungen Der Mittelspecht ist in hohem Maße standorttreu. Auch in strengen Wintern verharrt die Art im Brutgebiet, das allerdings während der Wintermonate großräumig erweitert wird. Gelegentlich verstreichen Mittelspechte winters auch in günstigere Nahrungsgebiete und können dann in Parks oder an Futterstellen beobachtet werden. Auch die Jugenddispersion führt meist nur über kurze Distanzen, ein nestjung beringter Vogel wurde allerdings 55 Kilometer entfernt wiedergefunden. Gelegentlich kommt es zu kleinräumigen Wanderbewegungen und ausgedehnteren Dispersionsflügen, wie etwa das regelmäßige Erscheinen von Mittelspechten in den ehemaligen südschwedischen Brutgebieten zeigt, bei denen es sich offenbar um baltische Spechte handelt. Brutbiologie Balz und Paarbildung Mittelspechte werden am Ende des ersten Lebensjahres geschlechtsreif; sie führen eine weitgehend monogame Brutsaisonehe. Die Partnerschaft wird nach der Brutsaison loser, dürfte aber häufig locker auch über den Winter weiter bestehen und zur Hauptbalzzeit erneuert werden. Wie bei allen Spechten ist die innerartliche Aggression sehr groß, sie wird langsam mit dem Aufbau des Brutreviers und mit dem Höhlenbau abgebaut, erlischt aber auch bei verpaarten Mittelspechten nie ganz. Schon Ende Januar, häufiger aber im Februar und verstärkt im März, streift das Männchen mit lauten Quäk-Rufen durch sein Nahrungsrevier. Nähert sich ein Weibchen, intensiviert das Männchen das Quäken und umfliegt es in einem auffälligen Flatterflug. Danach lockt es das Weibchen zu vollendeten oder begonnenen Höhlen, die durch Klopfen angezeigt werden. Dabei sind die Federn der roten Kopfplatte gesträubt. Das Weibchen inspiziert die Höhlen und kann bald durch eine geduckte Körperhaltung zu einer Kopulation auffordern. Die ersten Kopulationen finden schon im Februar statt, häufiger werden sie jedoch erst im März. Niststandort und Höhlenbau Der Mittelspecht zimmert seine Höhlen ausschließlich in Bäumen mit weichen Hölzern wie etwa Pappeln, Weiden oder Erlen, beziehungsweise in solchen, die bereits durch Pilzbefall stark geschädigt sind. Oft werden die Höhlen auch in stehendem Totholz angelegt. Charakteristisch für Mittelspechthöhlen ist ihre häufige Lage in starken, horizontalen Seitenästen, wobei sich das Einflugloch oft auf der Unterseite des Astes befindet, oder die Lage unter der baldachinartigen Abdeckung durch einen Baumpilz, wie etwa einem Zunderschwamm. An der Höhle bauen beide Partner, das Männchen allerdings häufiger und ausdauernder als das Weibchen. Die Höhlentiefe liegt bei einer Breite von etwa 12 Zentimetern zwischen 20 und 35 Zentimetern, das Einschlupfloch ist annähernd rund und misst zumindest 34 Millimeter. Mittelspechthöhlen können sich in Ausnahmefällen in Bodennähe befinden, liegen aber meist in Höhen zwischen 5 und 10 Metern, gelegentlich auch in über 20 Metern Höhe. Die Bauzeit beträgt mindestens eine Woche, meist aber zwei bis 4 Wochen; gelegentlich werden Buntspechthöhlen adaptiert, alte eigene wiederverwendet oder die des Kleinspechtes erweitert. Gelege und Brut Die Eiablage beginnt in Mitteleuropa frühestens Anfang April, auf dem Balkan und in der Türkei etwas früher, in Nordosteuropa etwas später. Die Gelege bestehen aus 5–6 (4–8) ovalen, reinweißen und glänzenden Eiern in einer durchschnittlichen Größe von 23 × 18 Millimetern; ihr Gewicht liegt bei etwas mehr als 4 Gramm. Die feste Brut beginnt nach Ablage des letzten Eies, vorher werden die Eier nur vor dem Auskühlen geschützt. Beide Geschlechter brüten zu etwa gleichen Teilen, wie bei allen Spechten das Männchen während der Nacht. Bei frühem Gelegeverlust kommt es zu einer Ersatzbrut, im Normalfall brüten Mittelspechte nur einmal pro Jahr. Nach frühestens 10 Tagen schlüpfen die Jungen, meist aber erst am 12. oder 13. Tag nach Brutbeginn. Die Nestlingszeit schwankt zwischen 20 und 24 Tagen, in der sie von beiden Eltern etwa zu gleichen Teilen versorgt werden. Den Abtransport der Fäzes scheint allerdings nur das Männchen zu besorgen. Nach dem Ausfliegen werden die Jungvögel schnell von der Bruthöhle weggelockt und oft in zwei Gruppen geteilt noch bis zu zwei Wochen von einem Elternteil betreut, bevor sie weitgehend selbständig sind und in die nähere Umgebung dismigrieren. Zum Bruterfolg gibt es nur wenige größere Untersuchungen. Bei 35 untersuchten Bruten in der Nordschweiz flogen durchschnittlich 2,3 Junge aus; eine bedeutend höhere Ausfliegrate mit 5,2 Jungen wurden bei einer kleinen Untersuchung in Südwestrussland festgestellt. Bestand und Bestandtrends Der Mittelspecht gehört zu den schwer zu kartierenden Spechtarten. Die Art kann praktisch nur über ihre Lautäußerungen festgestellt werden, und diese können bei isoliert lebenden Paaren unauffällig sein. So gesehen könnte es also sein, dass einige kleinere Populationen bislang übersehen wurden. Die Bestandsentwicklungen sind uneinheitlich: die kleinen dänischen und schwedischen Vorkommen sind erloschen, dagegen konnte sich die Art in den Niederlanden mit einer kleinen, aber stabilen Population wieder etablieren. Die Vorkommen in den Schlüsselländern Deutschland, Polen und Griechenland sind stabil, in Belgien und der Tschechischen Republik nehmen die Bestände stark zu. Eine umfangreiche Bestandserhebung in Landkreis Esslingen südöstlich von Stuttgart ergab weitaus höhere Bestände als bislang angenommen, sodass die Autoren dieser Studie den Gesamtbestand dieser Art in Baden-Württemberg auf über 10000 Brutpaare schätzen; Südbeck und Flade gingen 2004 von maximal 2500 Brutpaaren aus. Als Gründe für diese Bestandszunahmen werden vor allem die vorherrschend milden Winter des letzten Jahrzehnts, die Zunahme holzbewohnender und holzbrütender Insekten, sowie die durchschnittlich längere forstwirtschaftliche Umtriebszeit genannt. Starke Abnahmen werden aus Rumänien und Serbien gemeldet, auch in der Schweiz entwickeln sich die Bestände zurzeit trotz intensiver Schutzmaßnahmen negativ. Unklar ist die Bestandsentwicklung in Frankreich, auch aus der Türkei liegen kaum verlässliche Zahlen vor. Zurzeit brüten in Europa mindestens 140.000 Paare, was mehr als 90 Prozent des Gesamtbestandes beträgt. In Deutschland wird die Brutpopulation auf zumindest 10.000 Paare geschätzt, in Österreich auf etwa 3.000 und in der Schweiz auf 250. Die IUCN schätzt die Bestandssituation dieser Spechtart mit least concern ein, Birdlife europe mit secure. Trotz dieser insgesamt nicht unerfreulichen Situation sind die mitteleuropäischen Bestände in näherer Zukunft keineswegs gesichert. Die größte Gefahr für diesen Habitatsspezialisten geht nach wie vor von der Lebensraumzerstörung aus. Viele der jetzigen Vorkommen sind sehr stark fragmentiert und klein, ein Umstand, der die Gefahr der genetischen Isolation in sich birgt, umso mehr, als die Dismigrationsdistanzen bei dieser Art sehr klein sind. Der Mittelspecht ist auf alte, grobborkige Laubbäume, insbesondere auf Eichen angewiesen. Mittelwälder kommen seinen Habitatsansprüchen sehr entgegen, doch wurde diese forstliche Bewirtschaftungsmethode weitgehend aufgegeben. Dort, wo Mittelwaldstrukturen wieder gepflegt werden, zum Beispiel im Niederholz bei Zürich oder im Gerolfinger Eichenwald, können sich gute Mittelspechtvorkommen halten. Eine weitere Gefahr geht davon aus, dass die Edelholzproduktion aus Eichenstämmen in den 1920er-Jahren in Mitteleuropa stark zurückging und kaum Eichen nachgepflanzt wurden. Erst in den letzten 20 Jahren wird wieder intensiver mit Eichen aufgeforstet. Es fehlt also weitflächig eine ganze Eichengeneration; die bestehenden Bestände sind alt, zum Teil geschwächt und so anfälliger für Schädlingsgradationen, wie zum Beispiel die Massenvermehrungen des Eichenwicklers, die vor allem in den letzten Jahren häufig geworden sind. Schutz Der Mittelspecht ist nach Anhang I der EU-Vogelschutzrichtlinie geschützt. Literatur Hans-Günther Bauer, Peter Berthold: Die Brutvögel Mitteleuropas. Bestand und Gefährdung. 2., durchgesehene Auflage. Aula, Wiesbaden 1997, ISBN 3-89104-613-8, S. 290. Mark Beaman, Steve Madge: Handbuch der Vogelbestimmung – Europa und Westpaläarktis. Eugen Ulmer, Stuttgart 1998, S. 534f, ISBN 3-8001-3471-3. Hans-Heiner Bergmann, Hans-Wolfgang Helb: Die Stimmen der Vögel Europas. BLV, München 1982, ISBN 3-405-12277-5. Michael Dvorak u. a. (Hrsg.): Atlas der Brutvögel Österreichs. Umweltbundesamt, Bonn 1993, S. 260f, ISBN 3-85457-121-6. Wulf Gatter und Hermann Mattes: Ändert sich der Mittelspecht Dendrocopos medius oder die Umweltbedingungen? Eine Fallstudie aus Baden-Württemberg. In: Vogelwelt 129: 73–84 (2008). Urs N. Glutz von Blotzheim (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas (HBV). Bearbeitet u. a. von Kurt M. Bauer und Urs N. Glutz von Blotzheim. Columbiformes – Piciformes. Band 9. Aula-Verlag, Wiesbaden 1994, S. 917–942 (2. Aufl.), ISBN 3-89104-562-X. Gerard Gorman: Woodpeckers of Europe. A Study to European Picidae. Bruce Coleman, Chalfont 2004, S. 106–116, 44, 35, ISBN 1-872842-05-4. Hartmut Heckenroth, Volker Laske: Atlas der Brutvögel Niedersachsens und Bremens 1981–1995. Naturschutz und Landschaftspflege in Niedersachsen. Band 37. Hannover 1997, 1–329, ISBN 3-922321-79-8. Jochen Hölzinger, Ulrich Mahler: Die Vögel Baden-Württembergs. Nicht-Singvögel. Band 3. Ulmer, Stuttgart 2001, S. 420–447, ISBN 3-8001-3908-1. Josep del Hoyo u. a.: Handbook of the Birds of the World (HBW). Band 7: Jacamars to Woodpeckers. Lynx Edicions, Barcelona 2002, ISBN 84-87334-37-7. Peter Südbeck u. a.: Methodenstandards zur Erfassung der Brutvögel Deutschlands. Radolfzell 2005, ISBN 3-00-015261-X, S. 456–457. Peter Südbeck und Martin Flade: Bestand und Bestandsentwicklung des Mittelspechts Picoides medius in Deutschland und seine Bedeutung für den Waldnaturschutz. In: Vogelwelt. 125, 2004, S. 319–326. Hans Winkler, David Christie, David Nurney: Woodpeckers. A Guide to Woodpeckers, Piculets and Wrynecks of the World. Pica Press, Robertsbridge 1995, ISBN 0-395-72043-5. Weblinks Factsheet auf BirdLife International Mittelspecht bei der Schweizerischen Vogelwarte Sempach Federn des Mittelspechts Einzelnachweise Spechte Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Notation%20%28Musik%29
Notation (Musik)
Als Notation bezeichnet man in der Musik das grafische Festhalten von musikalischen Parametern wie Tonhöhe, -dauer und -lautstärke in einer dazu entwickelten, im Wesentlichen aus Noten bestehenden Notenschrift. Sie dient einerseits dazu, bereits bekannte Musikstücke schriftlich zu dokumentieren, und ersetzt so zum Teil die Überlieferung durch Vorspielen oder Vorsingen. Als Dokumentation einer Melodie lassen sich auch die Stiftwalzen und -scheiben in Drehorgel und Spieldose ansehen, aber abgesehen davon war Notenschrift bis zur Erfindung der Tonaufnahme die einzige Möglichkeit, gehörte Musik anders als durch Erinnerung festzuhalten. Der zweite große Nutzen von Notenschrift besteht darin, neue Melodien und andere musikalische Einfälle ausschließlich schriftlich auszudrücken. Erst die so erreichte Möglichkeit, eine Idee zu vermitteln, ohne sie selbst ausführen zu müssen, ermöglicht es Einzelpersonen, umfangreiche und komplexe Werke zu schaffen. Die moderne westliche Notenschrift Elemente der Notation Die grafischen Elemente der modernen Notenschrift sind zunächst das Notensystem aus fünf Linien, auf dem neben Informationen über Tempo, Taktart, Dynamik und Instrumentation die zu spielenden Töne in Form von Noten abgebildet sind, die von links nach rechts gelesen werden. Die verschiedenen Tondauern werden dabei durch verschiedene Notenformen (Notenwerte) dargestellt, die Tonhöhen durch die vertikale Position definiert. Zwei Notenlinien repräsentieren den Abstand einer Terz; der Abstand einer zwischen den Linien liegenden Note zu einer auf einer der Nachbarlinien liegenden beträgt eine Sekunde. Der Notenschlüssel am Beginn jedes Systems legt einen Referenzton für eine bestimmte Notenlinie fest, aus der sich die anderen Tonhöhen ableiten lassen: auf der Abbildung der Ton g’ auf der zweiten Linie von unten. Im Bild kann man also nicht nur die relativen Notenabstände (Terz und Sekunde) ablesen, sondern auch aus dem Violinschlüssel schließen, dass die Töne a’–c’’ und a’–h’ gemeint sind. Für Töne, die zu hoch oder tief sind, um auf den Linien Platz zu finden, werden Hilfslinien verwendet. In mehrstimmigen Musikstücken ist es üblich, mehrere Notensysteme untereinanderzusetzen, die jeweils eine Stimme enthalten, so dass die gleichzeitigen musikalischen Ereignisse übereinander angeordnet sind. Man spricht dann von einer Partitur. Dabei erhalten Liniensysteme für tiefere Töne meist einen Bassschlüssel, der im Unterschied zum Violinschlüssel das kleine f als Referenzton auf der zweitoberen Linie markiert. Ein praktisches Beispiel Am folgenden Beispiel einer vereinfachten Darstellung des Anfangs von Johann Strauss’ Klassiker „An der schönen blauen Donau“ () können die Grundlagen der modernen Notenschrift gut erklärt werden: Links oben findet sich meistens die Tempo-Bezeichnung, oft in italienischer Sprache, hier in der Bedeutung „Walzertempo“. Darunter oder daneben kann die konkretere Metronom-Angabe in BPM () stehen, hier 142 Viertelschläge pro Minute. Die Angabe der Taktart legt die Viertel als Grundschlag der Melodie fest: Der Drei-Viertel-Takt hat seinen Schwerpunkt am Taktbeginn, auf den Hauptschlag folgen jeweils zwei weitere Schläge, bevor ein neuer Taktstrich den Beginn des nächsten Taktes anzeigt. Ganz links im System befindet sich der Notenschlüssel, in diesem Fall der Violinschlüssel, der anzeigt, dass die zweitunterste Linie den Ton g’ repräsentiert. Rechts daneben stehen die Vorzeichen: Die beiden Kreuze auf den Linien des f’’ und c’’ zeigen an, dass die beiden Töne f und c in sämtlichen Oktaven um einen Halbton erhöht, also als fis und cis gespielt werden sollen, woraus sich u. a. mit einiger Wahrscheinlichkeit D-Dur oder h-Moll als mögliche Tonarten des Walzers ergeben (tatsächlich ist die Tonart D-Dur, was sich aber erst aus der Betrachtung des weiteren harmonischen und melodischen Verlaufs ergibt, die generellen Vorzeichen sagen genau genommen gar nichts über die tatsächliche Tonart). Diese Vorzeichen gelten für das gesamte System, solange sie nicht durch andere Versetzungszeichen kurzfristig (bis zum Ende des Taktes) überschrieben oder (zumeist in Verbindung mit einem doppelten Taktstrich) durch andere Generalvorzeichen abgelöst werden. Notenschlüssel und Vorzeichen werden am Anfang jedes Systems erneut notiert. Alle bisher aufgezählten Faktoren sollten vom Musiker zunächst gelesen und verarbeitet werden, bevor er die erste Note spielt: Eine Viertelnote auf dem Ton d’, deren Dynamik (Lautstärke) durch das darunterstehende mf () angezeigt wird. In diesem Fall folgt gleich nach der ersten Note ein Taktstrich, noch bevor ein voller Takt aus drei Viertelschlägen beendet ist. Das Stück beginnt also nicht mit dem ersten betonten, sondern mit dem unbetonten dritten Taktteil, einem Auftakt. Die nächste Viertelnote (wieder d’) klingt nun auf dem ersten Schlag des nächsten Taktes. Sie ist durch einen Legato- oder Bindebogen mit den folgenden Noten fis’ und a’ verbunden, die nicht neu artikuliert, sondern mit der vorherigen verbunden gespielt werden sollen. Im nächsten Takt findet sich eine halbe Note a’, die die ersten zwei Schläge andauert und der eine Viertelnote folgt. An dieser Stelle finden sich zwei Notenköpfe übereinander auf den Positionen fis’’ und a’’, was bedeutet, dass diese beiden Töne zugleich erklingen sollen. Außerdem gibt es darüber noch einen Staccato-Punkt, der eine besonders kurze Artikulation anzeigt. Nach erneutem Anspielen dieses Zweiklangs am nächsten Taktbeginn folgt eine Pause in der Länge eines Viertelschlages. Mit dem folgenden Auftakt wird das vorige Motiv eine Terz tiefer wiederholt. Unter den letzten drei Takten ist eine Decrescendo-Gabel, die ein Abnehmen der Lautstärke verlangt; ebenso gut könnte man „decresc.“ oder „dim.“ () schreiben. In der Regel werden unter das System in kursiver Schrift jene Anweisungen geschrieben, die sich auf die Dynamik und den Vortrags-Charakter beziehen, über den Noten finden sich in fetteren Lettern die Informationen über das Tempo, wie „accel.“ () oder „a tempo“. Geschichte Antike und außereuropäische Notenschrift Vieles deutet darauf hin, dass im alten Ägypten seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. eine Art Notenschrift existierte und auch andere Völker versuchten, Musik schriftlich festzuhalten. Die erste voll entwickelte und heute vollständig entzifferte Notation ist die griechische, deren erstes Auftreten unterschiedlichen Quellen zufolge schon im 7. Jahrhundert v. Chr. oder erst um 250 v. Chr. zu datieren ist. Diese Notenschrift verwendete Buchstaben – möglicherweise nach den Saiten der Kithara benannt – für die Tonhöhe und markierte mit darüber geschriebenen Symbolen die Tondauer. Sie ist auf vielen Fragmenten überliefert, allerdings gibt es nur eine einzige Komposition, die auf diese Art durch eine Inschrift vollständig erhalten ist, das Seikilos-Epitaph, das im 2. Jahrhundert n. Chr. in einen Grabstein in der Nähe von Ephesos gemeißelt wurde. In Europa ging die griechische Notation mit dem Fall des Römischen Reiches verloren, ihre spätere Entzifferung war nur mit Hilfe römischer musiktheoretischer Schriften aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten möglich. Wie schnell diese Tradition aber vergessen wurde, zeigt folgendes Zitat des Kirchenvaters und Bischofs Isidor von Sevilla aus seinen Etymologiae (um 625), in dem er behauptet, es sei unmöglich, Musik zu notieren: Außerhalb von Europa entwickelten sich vor allem in China, Japan und Indien Notationssysteme, die häufig neben oder über dem gesungenen Text die Melodie in kleineren Schriftzeichen notierten, rhythmisch aber viele Freiheiten ließen. Abgesehen davon wurden aber auch Tabulatur-Schriften für instrumentale Kompositionen verwendet. Die arabische Notenschrift, die ab dem 13. Jahrhundert in Gebrauch war, wurzelt vor allem in der dort noch überlieferten griechischen Tradition, entwickelte sich aber kaum weiter, da der improvisatorische Charakter der Musik überwog. Überhaupt lässt sich feststellen, dass abgesehen von den Griechen bei den meisten Völkern die Notenschrift eher als eine Erinnerungsstütze für größtenteils improvisierte Musik diente und weniger dazu, Melodien für die Nachwelt zu konservieren. Das genauere Notensystem entwickelte sich in Europa auch deshalb, weil die freiere, improvisierte Musik zugunsten der kirchlichen Tradition der komponierten und rituell wiederholbaren Psalmodien und Choräle in den Hintergrund geriet. Neumen In der Mitte des 9. Jahrhunderts entwickelte sich in europäischen Klöstern eine neue Art der Musikschrift für den gregorianischen Choral, die Neumen als Symbole benutzte, welche man über den Text notierte. Sie stellten die Verbildlichung der Winkbewegungen des Chorleiters oder des Sängers () dar. So stand eine einzelne Neume für eine bestimmte melodische Floskel. In verschiedenen Ländern und Klöstern wurden allerdings unterschiedliche grafische Zeichen verwendet. Die älteste Quelle dieser Notation findet sich in der Musica disciplina von Aurelian von Réôme um 850. Früher datierende Fragmente visigotischer Neumen von der Iberischen Halbinsel konnten noch nicht entziffert werden. Aus dem Ende des 12. Jahrhunderts stammt das nebenstehend abgebildete Lambacher Missale, dessen Original im Stift Melk liegt. Guido von Arezzo Der linienlosen adiastematischen Neumennotation wurden allmählich Linien hinzugefügt, zunächst zwei farbige Notenlinien für die Töne f und c, um die Halbtonschritte e–f und h–c zu markieren. Um auch die Tonschritte zwischen den Linien genau zu erfassen, fügte Guido von Arezzo zu Beginn des 11. Jahrhunderts zwischen die f- und die c-Linie eine dritte Linie ein. Das Terzliniensystem, mit dem sich jeder diatonische Schritt genau bezeichnen lässt, war erfunden. Guido empfahl auch – je nach Gebrauch – über oder unter die drei Linien eine vierte Linie zu setzen. Statt der Farben verwendete Guido nun Buchstaben (c oder f) am Beginn eines Systems, um eine der Halbtonpositionen zu markieren. Damit hatte Guido auch den Notenschlüssel erfunden. Er verwendete vor allem ein kleines c, mit dem das c’ gesetzt wurde. Das f kam seltener vor, hat aber als f- oder Bassschlüssel die Zeiten überdauert. Guido erkannte im praktischen Unterricht, dass diese nunmehr diastematische Notation immer noch eine didaktische Schwäche enthält. Obwohl die modalen Verhältnisse der Tonschritte relativ gleich bleiben, werden sie je nach Tonhöhe anders benannt. Deshalb erfand Guido ergänzend die relative Solmisation, in der sowohl der Halbtonschritt e–f als auch der Halbtonschritt h–c (später auch a–b) mit den immer gleichen Tonsilben „mi–fa“ gesungen wird. Guidos Leistungen sind demnach didaktisch motiviert. Mit dem Terzliniensystem visualisiert er erstmals Tonschritte exakt; mit der relativen Solmisation benennt er funktional die Halbtonschritte, so dass Schüler sie immer gleich artikulieren und singen; mit der Guidonischen Hand schließlich bezieht Guido die „begreifende“ Hand in den Lernprozess ein. Diese Bündelung verschiedener Reize ist so wirkungsvoll, dass Musikpädagogen Guidos Methode bis heute unverändert – zumindest in didaktischer Hinsicht – anwenden. Sinn der Solmisation ist es nicht, die absolute Notation zu ersetzen, sondern bloß die relativen Beziehungen der Töne dem Gedächtnis einzuprägen, ähnlich wie arabische Ziffern verwendet werden, um Melodien (1 = immer Grundton), oder römische Ziffern, um Harmonien zu bezeichnen (I = Tonika). Sinn und Notwendigkeit der diastematischen Notation wird durch diese didaktischen Maßnahmen keineswegs in Frage gestellt. Zur Zeit Guidos und noch lange danach kam man insbesondere für den Gesang meist mit vier Linien aus. Dies lag nicht bloß am geringen Tonumfang der Choräle, sondern auch an den flexiblen Schlüsseln. Sie ermöglichten es, den Tonumfang einer Stimme oder einer Melodie in das Liniensystem einzupassen. Das vierlinige Neumensystem mit C-Schlüssel ist in Verbindung mit den Neumen der Quadratnotation in der Kirchenmusik bis heute in Gebrauch. Für besonders hohe oder tiefe Töne wurden und werden ebenso wie in der modernen Notation Hilfslinien verwendet. Diese Art der Notation mit vier durchgehenden Notenlinien findet sich auch heute noch in Choralbüchern. Für andere Zwecke und unterschiedliche Musikinstrumente wurden bald auch Systeme mit mehr oder weniger Linien verwendet. Das moderne System mit fünf Linien entstand im Frankreich des 16. Jahrhunderts, doch waren bis ins 17. Jahrhundert hinein noch andere Schreibweisen üblich. Der von Guido bevorzugte C-Schlüssel wurde in vielen Bereichen vom F- und G-Schlüssel ersetzt, die praktisch nur noch in der Form als Violin- und Bassschlüssel Verwendung finden. Modalnotation Um auch speziell die Rhythmik in der Notation festhalten zu können, entwickelte sich in Westeuropa während der so genannten Notre-Dame-Epoche im 12. Jahrhundert bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts die Modalnotation. Diese basiert im Gegensatz zu der heute verwendeten Notation nicht auf einzelnen Schlägen im Taktgefüge, sondern auf sechs Elementarrhythmen (Modi), die sich an griechischen Versmaßen orientieren. Jeder Modus wird durch eine Ligatur (Gruppe von 2–4 Noten) in Quadratnotation beschrieben. Mensuralnotation Da die Modalnotation nur eine festgelegte Anzahl an verschiedenen Rhythmen zuließ, ergab sich bald vor allem für die Niederschrift rein instrumentaler Musik die Notwendigkeit einer Reform. Mit der Einführung der (schwarzen) Mensuralnotation im 13. Jahrhundert (Ars Nova) wurde durch die Verwendung verschiedener Notenwerte auch der Rhythmus notierbar. Die damaligen Notenwerte hießen Maxima, Longa, Brevis, Semibrevis, Minima und Semiminima, ihr genaues metrisches Verhältnis hing von der verwendeten Mensur und dem Wert der Nachbarnote(n) ab. Im 15. Jahrhundert wurde durch die Vergrößerung der Handschriften das Ausfüllen der Notenköpfe zu aufwendig, es wurde zu viel kostbare Tinte gebraucht, außerdem war das verwendete Papier dünner und konnte leichter reißen, wenn es zu feucht war: Es entstand die sogenannte weiße Mensuralnotation. Die Schwärzung erfolgte nur noch zur Kennzeichnung besonders kleiner Notenwerte (vgl. die nebenstehenden Seiten einer vermutlich 1472 komponierten Motette von Loyset Compère). Rhythmusnotation 1280 entwickelte Franco von Köln die erste präzise Rhythmusnotation, die in komplexen Werken, die jedoch entgegen dem damaligen Gebrauch improvisationsfeindlich waren, Niederschlag fand. Sie beruht auf der (perfekten) Drei- und (imperfekten) Zweiteilung der Notenlängen. (Sie wurden im Notenbild durch Einklammerung in Punkten auf das Maß der Länge der Brevis bezogen.) Die Ars Nova konnte mit Isoperiodik (des Tenors) und Isorhythmik in den Perioden komplexe (polyrhythmische) Werke schaffen. In der franco-flämischen Renaissance vereinfachte sich wieder die komplizierte Rhythmik der Ars Nova zu einfacheren Proportionen. Weiter bestimmte der Rhythmus in seinem Grundmuster die Form, der man in Tänzen bestimmten Charakter zuschrieb, die man in Suiten zusammenfasste und standardisierte. Mit der Mensuralnotation festigte sich die rhythmisch exakte Notation (bis in die Frühromantik (Triolen und höhere Unterteilungen), je schwieriger die Notation aussieht, umso jünger ist sie.) Die anfänglich ungenaue Punktierung präzisierte Quantz im Barock zum heute üblichen Begriff (der Dreiteilung). Das moderne Taktmaß Im 15. Jahrhundert begann man auch damit, Notensysteme mit Hilfe vertikaler Linien, so genannter Mensurenstriche, in Abschnitte zu teilen. Diese Teile waren aber keine Takte im modernen Sinn, da die Musik jener Zeit sehr unregelmäßige Muster innehatte, sondern wurden zu Hilfe genommen, um in Partituren anzuzeigen, an welchen Stellen die verschiedenen Stimmen zugleich zu spielen oder singen hatten. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde das moderne rhythmische System mit Taktarten und Taktstrichen eingeführt, das als Notenzeichen die kleineren Werte der weißen Mensuralnotation mitnahm. Aus der Geschichte der modernen Notation lässt sich ersehen, dass ihre Entwicklung hauptsächlich aus den Anforderungen für gesungene Musik entstand, und tatsächlich hört man oft, dass sie für die Niederschrift von Instrumentalmusik ungeeignet wäre. Die zahlreichen Versuche in den letzten beiden Jahrhunderten, das System der Notenschrift zu reformieren, schlugen aber sämtlich fehl, sei es aufgrund der konservativen Einstellung der Musiker oder weil die neu entworfenen Systeme doch schlechter geeignet waren als das alte. Für gewisse Spezialgebiete gibt es aber auch alternative Notenschriften, die zum Teil auf uralten Traditionen beruhen. Der Notensatz von der Handschrift zum Computerdruck Kopisten Die Entwicklung des Notensatzes verlief ähnlich wie die Geschichte des geschriebenen Wortes. Nach in Stein gemeißelten oder in Ton geritzten Notentexten entwickelten sich bald Tinte und Papier zum idealen Medium. Die mehr oder weniger leserlichen Handschriften verschiedener Komponisten können viel über ihre Persönlichkeit aussagen, man vergleiche nur Johann Sebastian Bachs einheitliche und kontrollierte Handschrift (ganz oben abgebildet) mit nebenstehendem Ausschnitt von Ludwig van Beethovens E-Dur-Sonate op. 109. Bis heute ist die Entzifferung der Autographe eine schwierige Expertenarbeit, wenn es zu unterscheiden gilt, ob ein Staccato-Punkt oder nur ein Tintenfleck vorliegt, oder wenn – wie häufig bei Franz Schubert der Fall – die grafischen Zwischenstufen von Akzent-Keil zu Diminuendo-Gabel in der Drucklegung adäquat wiedergegeben werden sollen. Wenn der Komponist die Partitur eines neuen Orchesterwerks geschrieben hatte, war es die Aufgabe von Kopisten, die Stimmen der einzelnen Instrumente daraus abzuschreiben, was eine zeitraubende Arbeit war. War das Stück erst im letzten Moment fertigkomponiert, musste es schnell gehen, und aus vielen Zeitzeugnissen sind Schilderungen von „noch feuchten Notenblättern“ bekannt, aus denen die Musiker eine Uraufführung spielten. Buchdruck Nach der Einführung des Buchdrucks begannen auch die Notenschreiber, mit dieser Technik zu experimentieren, und druckten nach gestochenen oder geschnittenen Vorlagen aus Holz und Metall. Später wurde auch das Prinzip der beweglichen Lettern auf den Notendruck übertragen, wie es in der nebenstehenden Abbildung aus Palestrinas Missa Papae Marcelli zu sehen ist. 1498 erfand der Venezianer Ottaviano Petrucci den Notendruck mit beweglichen Lettern, seine Erfindung machte Venedig für die nächsten Jahrzehnte zum europäischen Zentrum des Notendrucks. Für den Notensatz mit beweglichen, frei kombinierbaren Typen war das Publikationsschaffen von Pierre Attaingnant von besonderer Bedeutung. Erstmals konnten musikalische Werke in hohen Auflagen erscheinen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Der weitaus größere Teil der Musik wurde allerdings weiterhin aus handgeschriebenem Material gespielt. Notenstich Im 18. Jahrhundert wurde der Notenstich mit Kupferplatten in Frankreich immer verbreiteter, und durch seine überragende Qualität setzte er sich in den wichtigen Musikverlagshäusern Europas bald durch. Die heikle Aufgabe des Notenstechers besteht darin, die Aufteilung der Systeme und Takte mit all ihren zusätzlichen Beschriftungen und Symbolen am Blatt so anzuordnen, dass sich für den Spieler ein organisch zu lesendes Ganzes mit geeigneten Stellen zum Umblättern ergibt, und dieses Layout auf der Notenstichplatte (Blei-Zinn-Antimon-Legierung) spiegelverkehrt zu skizzieren. Der eigentliche Stechvorgang erfolgt dann mit einem Rastral, mit dem die fünf parallelen Notenlinien auf einmal gezogen werden, verschiedenen Stahlstempeln und anderen Ritz- und Stechwerkzeugen. Als Unterlage dient ein gebrauchter Lithographiestein. Dabei werden Schlüssel, Vorzeichen, Noten, kleine Bögen, Klammern und die vollständige Schrift mit Stahlstempeln eingeschlagen. Notenhälse, Balken, kleine Taktstriche und größere Bögen werden mit Stahlsticheln (entsprechend denen aus dem Kupferstich) gestochen. Crescendi und lange Taktstriche über mehrere Systeme werden mit dem so genannten Ziehhaken gezogen. Vor dem endgültigen Druck wird ein so genannter Grünabzug (Hochdruckverfahren) zur Korrektur gemacht. Bei der Korrektur wird mit Hilfe einer gebogenen Zange die fehlerhafte Stelle auf der Rückseite der Notenstichplatte markiert. Danach wird das Blei der fehlerhaften Stelle mit Hilfe eines Nagelpunktes nach oben getrieben. Nach diversen Glättungs- und Entgratungsvorgängen kann die Korrektur durchgeführt, also das entsprechende Zeichen an die nunmehr richtige Stelle gebracht werden. Die Herstellung einer Notenstichseite dauert je nach Inhalt zwischen 8 und 12 Stunden. Lithographie Zwischen 1796 und 1798 entwickelte Alois Senefelder auf der Basis von Solnhofener Plattenkalk ein Flachdruckverfahren, das sich für die schnelle und kostengünstige Vervielfältigung von Notenblättern eignete. Das Verfahren wurde später unter dem Namen Lithographie oder Steindruck bekannt und von vielen Künstlern aufgegriffen. Haftreibeverfahren Eine Sonderform der Herstellung von Noten bestand darin, dass der Notenstecher die entsprechenden Notenlinien und den Text auf einem Karton markierte. Diese Vorlage wurde dann im Lichtsatzverfahren (Fotosatz) auf eine Folie gebracht. Auf diese Folie wurden dann Schlüssel, Noten, Hälse etc. analog den bekannten Haftreibebuchstaben aufgerieben. Qualitativ war dieses Verfahren dem konventionellen Notenstich unterlegen. Der Zeitaufwand zur Herstellung einer Notenseite entsprach in etwa dem einer Notenstichseite, jedoch fiel hier die Bleibelastung der Notenstecher weg. In der DDR wurde dieses Verfahren seit etwa 1978 genutzt. Notenschreibapparat Um 1900 entwickelte der Wiener Laurenz Kromar den Kromarographen, einen automatischen Notenschreibapparat zur Aufzeichnung von Improvisationen auf dem Klavier. Dieser Entwicklung waren seit dem 18. Jahrhundert ähnliche Versuche vorausgegangen, die aber im Gegensatz zu Kromars Entwicklung nicht zu befriedigenden Ergebnissen geführt hatten. „Der Kromarograph erfüllt nicht bloß zur raschen, getreuen Aufzeichnung von Improvisationen oder Kompositionen seinen Zweck, sondern der benutzte elektrische Strom bringt ein genaues Bild des Spieles, zeichnet die Korrektheit desselben wie jeden unterlaufenen Fehler nachweisbar und unnachsichtlich auf.“ Computernotensatz Die ersten Experimente, Computer für den Notendruck einzusetzen, fanden schon in den 1960er Jahren statt, ernstzunehmende Ergebnisse gibt es seit den 1990er Jahren. Neben Closed-Source-Notensatzprogrammen wie Finale, PriMus, Score, Sibelius oder capella, die handgestochene Noten auch bei renommierten Musikverlagen immer mehr ersetzen, findet man auch Open-Source-Lösungen wie LilyPond, MuseScore, MusiXTeX oder ABC und ABC Plus. Im Bereich der populären Musik werden heute zum Beispiel Programme wie Logic oder Cubase verwendet. Dies sind Sequenzer-Programme, in die auch Notendruckfunktionen integriert worden sind. Dabei können diese Sequenzer-Programme helfen, den Aufwand herabzusetzen, der für den hochwertigen Notensatz erforderlich ist: Es lassen sich MIDI-Dateien exportieren, die in Satzprogramme importiert werden können; die Notendarstellung muss also lediglich noch angepasst, nicht von Grund auf erstellt werden. Es wird in der Regel als angenehmer empfunden, aus Noten zu spielen, die von einem geübten Notensetzer von Hand geschrieben oder gesetzt sind. Als besonders negativer Trend wird empfunden, dass Verlage aus Kostengründen zunehmend auch Noten herausgeben, die nicht von professionellen Notensetzern gesetzt worden sind und daher nicht immer hohen Ansprüchen genügen. Dies ist häufig bei populärer oder pädagogischer Musik der Fall, wenn z. B. der Autor einer Schule sein Werk komplett gesetzt und mit fertigem Layout zum Druck einreicht. Alternative Notationssysteme Tabulatur Tabulaturen (Griffzeichenschrift) wurden früher entwickelt als die moderne Notenschrift und wurden für Zupf-, Streich- und Tasteninstrumente verwendet, seltener auch für Holzblasinstrumente. Vor allem Lautenisten und Gitarristen behielten bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Griffzeichenschrift bei. Gitarrentabulaturen sind im 20. Jahrhundert wieder in Gebrauch gekommen. Rechts ist der Beginn des Liedes „Alle Vöglein sind schon da“ abgebildet. Rhythmuszeichen in Tabulaturen für Lauteninstrumente (siehe Historische Lautentabulaturen) bezeichnet nicht einzelne Notenwerte, sondern die Dauer bis zum Erklingen des nächsten Tones. In moderner Gitarrentabulatur jedoch können die Werte der einzelnen Töne bezeichnet werden (siehe moderne Gitarrentabulatur). Eine besondere Art der Tabulatur ist das 1931 entwickelte Notationssystem Klavarskribo („Tastaturschrift“), eine Notation für Tasteninstrumente, die vom Niederländer Cornelis Pot entwickelt wurde. Klavarskribo wird vertikal von oben nach unten notiert. Gruppen aus jeweils zwei oder drei Linien stehen für die schwarzen Tasten, die Notensymbole werden auf oder zwischen diesen Linien angeordnet. Die Steirische Harmonika wird von Akkordeonschulen neben der üblichen Notation häufig nach Gehör oder mit einer Griffschrift nach Max Rosenzopf (1937–2020) gespielt und gelehrt. Tonnamen In Texten über Musik oder in Ermangelung von Notenpapier werden die Töne einer Melodie oft anhand ihrer Tonnamen beschrieben. Durch Groß- und Kleinschreibung und Strichsetzung bzw. Indizierung lässt sich einem Ton eine eindeutige Oktavbezeichnung zuordnen. Für den Donauwalzer im Beispiel oben könnte das so aussehen: „3/4: d¹ | d¹ fis¹ a¹ | a¹“ usw. Statt fis kann auch f geschrieben werden, ebenso a statt as. Zu beachten sind hier aber auch anderssprachige Tonbezeichnungen, deren Unkenntnis Missverständnisse hervorrufen kann. Besonders in digitalen Textformaten hat sich auch eine alternative Kurznotation entwickelt, die, ausgehend von der 88-Tasten-Standardklaviatur, die Oktaven von unten bis oben durchzählt, angefangen jeweils beim C. Das Kontra-C (‚C) ist das erste C auf der Klaviatur, es heißt deswegen C1. Das fünfgestrichene c (c’’’’’), die höchste Taste, ist das achte C auf der Klaviatur und heißt demnach C8. Die Halbtöne werden unabhängig von ihrem Harmoniezusammenhang mit als erhöht dargestellt (siehe dazu enharmonische Verwechslung), ges’’ würde so zum Beispiel als F5 geschrieben werden. Diese Schreibweise wird beispielsweise in Tracker-Musikprogrammen verwendet. Die Zeitachse verläuft hier vertikal von oben nach unten. Die Wahl der zeitlichen Schrittweite ist dabei ausschließlich Interpretationssache. Oftmals entspricht eine Zeile einer 16tel-Note, mit Tempiwechseln kann aber auch ein komplexes Gebilde wie 30-prozentiger Swing erreicht werden. Die Tonhöhe wird in der beschriebenen Notation eingetragen. Die Kompaktheit dieser quasi eindimensionalen Notenschreibweise ermöglicht eine übersichtliche Notation weiterer musikalischer Parameter wie Länge oder Lautstärke, aber auch spezifisch elektronischer Bearbeitungsmöglichkeiten, die die Klangfarbe beeinflussen. Weitere Möglichkeiten, Töne zu benennen, sind die relative und die absolute Solmisation, die ihre Tonnamen auf Guido von Arezzo zurückführen, und die Tonwort-Methode von Carl Eitz. Ziffernnotation In vielen Kulturen wird die Partitur hauptsächlich über Zahlen, Buchstaben oder einheimische Zeichen dargestellt, die die Notenfolge repräsentieren. Dies ist beispielsweise der Fall bei der chinesischen Musik (jianpu oder gongche), bei der indischen Musik (sargam) und in Indonesien (kepatihan). Diese andersartigen Systeme werden zusammengefasst als Ziffernnotation bezeichnet. Als Beispiel soll hierbei die Zahlennotation angeführt werden, wie sie im jianpu Verwendung findet. Dabei sind beispielsweise die Zahlen 1 bis 7 den Tonstufen der Durskala zugeordnet. Bei einem Stück in C-Dur sind dies: Note: C D E F G A H Solfege: do re mi fa sol la si Notation: 1 2 3 4 5 6 7 Ursprung dieser Notation ist die Ziffernnotation nach Emilé Chevé. Shape Notes Shape Notes sind ein Notationssystem, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten entwickelt wurde, um musikalischen Laien das Singen nach Noten zu erleichtern. Shape-Note-Lieder verwenden die Standardnotation, die Notenköpfe haben aber zusätzlich charakteristische Formen, die den Stufen der Tonleiter zugeordnet sind und mit Solmisationssilben benannt werden. Das erste Shape-Note-Gesangbuch wurde 1801 von William Smith and William Little herausgegeben: The Easy Instruktor. Mit der Singing-School-Bewegung gewannen Shape-Note-Gesangbücher eine hohe Popularität in den USA. Zwei Systeme der Shape-Note-Notation haben sich durchgesetzt und sind heute in Gebrauch: Das 4-Shape-System mit den Solmisationssilben Fa So La Mi, das im Gesangbuch The Sacred Harp verwendet wird, und das 7-Shape-System mit den Solmisationssilben Do Re Mi Fa So La Ti/Si, das z. B. im Gesangbuch The Christian Harmony verwendet wird. Notationscodes Um musikalische Parameter elektronisch „notieren“ und speichern zu können, wurden verschiedene Notationscodes entwickelt. Zu unterscheiden sind Codes für die Wiedergabe von Musik wie MIDI, Codes für die Eingabe oder Speicherung von Musik für den elektronischen Notensatz (wozu prinzipiell alle Dateiformate von Notensatzprogrammen zu rechnen sind) und solche für die musikwissenschaftliche Analyse von Musik wie der Humdrum-Code. MusicXML wurde als Austauschformat konzipiert und vereint Elemente von Humdrum, MuseData und MIDI. MEI ist MusicXML ähnlich, setzt aber auf TEI auf und berücksichtigt stärker musikwissenschaftliche Erfordernisse, insbesondere hinsichtlich der Editionsphilologie. Kurzschriften für Akkorde In der Tradition des Generalbasses wird eine Bassstimme mit Ziffern versehen, aus denen sich der über dem Basston zu spielende Akkord ableiten lässt. Viele Komponisten benutzten die Bezifferung aber auch, um rasch den harmonischen Verlauf eines Werkes skizzieren zu können. So konnte sich Franz Xaver Süßmayr bei seiner Vollendung von Mozarts Requiem auf einige bezifferte Bässe stützen, die Mozart noch selbst notiert hatte. Die Abbildung rechts zeigt einen einfachen Generalbass, im oberen System ist eine mögliche Ausführung der Bezifferung ausgeschrieben. Eine andere Richtung verfolgen die heute vor allem im Jazz und in der Popularmusik üblichen Akkordsymbole, die neben dem Notennamen des Akkord-Grundtons einen Code aus Buchstaben und Ziffern aufweisen, mit dem die Art der Harmonie beschrieben wird. Dieses System, das ganz ohne Notenlinien auskommt, wird in Verbindung mit einem Melodie-Notensystem eingesetzt, es gibt aber auch Sammlungen, in denen lediglich Text und Akkordsymbole eines Liedes abgedruckt sind, weil die Melodie als bekannt vorausgesetzt wird. Braille-Notenschrift Unter Verwendung derselben Zeichen wie in seiner Blindenschrift erfand Louis Braille eine musikalische Notation für Sehbehinderte, die heute weltweit verwendet wird. In seinem ausgeklügelten System von Noten-, Oktav-, Harmonie- und Zusatzsymbolen ist es möglich, auch die vertikalen Abläufe mehrstimmiger Musik in eine für Blinde lesbare lineare Zeichenfolge zu bringen. Die größte Sammlung von Noten in Braille-Musikschrift besitzt die National Library for the Blind in Stockport (GB). Grafische Notation In den 1960er und frühen 1970er Jahren fühlten viele Komponisten den Wunsch, sich vom klassischen Notenbild zu lösen, das ihnen zu ungeeignet und zu konkret für ihre Musik erschien. Sie begannen, mit grafischer Notation zu experimentieren, um der Inspiration und der Kreativität des ausführenden Musikers mehr Platz einzuräumen. Dies war wesentlich beeinflusst von den Künstlern des Fluxus sowie einer von John Cage und Alison Knowles kuratierten Ausstellung von Partituren und dem dazu von ihnen herausgegebenen Katalog Notations. Die meisten europäischen Komponisten kehrten jedoch schnell wieder zu einer präzisen („klassischen“) Notation zurück. Unter den Komponisten, die diese Notationsform für längere Zeit extensiv einsetzten, sind vor allem Roman Haubenstock-Ramati und Anestis Logothetis zu nennen. Eine wichtige Rolle spielte die grafische Notation immer in Musik mit einem elektroakustischen Medium, dessen Part in irgendeiner Form in eine Partitur eingehen sollte, damit sich live Spieler mit ihm koordinieren konnten. Ein frühes und bedeutendes Beispiel ist dazu die Hörpartitur, die Rainer Wehinger 1958 für die elektroakustische Komposition Artikulation von György Ligeti erstellte. Farbnotation Schon Guido von Arezzo verwendete Farben zur Veranschaulichung der Notation, diese verschwanden mit Aufkommen des Notendrucks. Ein neuer Versuch wurde von Arno Peters unternommen. Die Peters-Notation ermöglicht eine räumliche Darstellung der Tonhöhe und der Tondauer. Er ordnete jedem der sieben Töne eine Farbe zu. Er beachtete bei der Zuordnung eine ähnliche Frequenzrelation innerhalb des Lichtspektrums. 6-plus-6-Notenschrift Die von Johannes Beyreuther entwickelte Notenschrift spiegelt die Anordnung der beiden Reihen der 6-plus-6-Instrumente wider. Sie besteht aus weißen und schwarzen Noten. Gleichfarbige Noten sind im Ganztonabstand angeordnet. So haben die Töne 1 bis 3 der diatonischen Tonleiter die gleiche Farbe, die Töne 4 bis 7 die entsprechende andere Farbe. Ein Farbwechsel bedeutet einen Wechsel der zu spielenden Reihe. Ein großer Vorteil ist das Transponieren. Eine Melodie in C-Dur geschrieben lässt sich auf zweireihigen 6-plus-6-Instrumenten durch Verschieben des Anfangstones in fünf anderen Tonarten spielen, auf dreireihigen Instrumenten sogar in allen zwölf Tonarten. Auch bei Instrumenten mit einer verschobenen 6-plus-6-Anordnung wie die Hayden-Duet-Konzertina zeigt die Farbe der Noten die Reihe an, in der sich die Tasten befinden. Schlüssel gibt es nicht. Die 6-plus-6-Notenschrift gehört zum Beyreuther-Musikprinzip. Rhythmusnotation Die Rhythmusnotation gibt lediglich die Zeitpunkte an, wann relativ zu einem Metrum Schallereignisse eintreten sollen. Außer für Schlaginstrumente kann sie auch für Sprechstimmen verwendet werden, etwa im Rap. Ergänzt durch Akkordsymbole, wird sie in Jazz und Popmusik eingesetzt – Schlagmuster und Harmonie geben so das Wesentliche an und überlassen die Details den Musikern wie Rhythmusgitarre, Keyboard oder Bass. Hier ist eine schräge Form der Notenköpfe üblich (). Piano-Roll-Notation In Sequenzer-Programmen zur Bearbeitung von Musik mit dem Computer wird meist eine sehr vereinfachte Notation verwendet. Werden beispielsweise Musikstücke über ein MIDI-Keyboard aufgezeichnet, erhält der Computer nur die Information darüber, welche Taste zu welchem Zeitpunkt gedrückt und wann wieder losgelassen wurde, ähnlich wie bei der Aufzeichnung auf einer Notenrolle. Schlüssel, Tonart, Taktart, Vorzeichen und die genauen Notenwerte stehen dem Computer dagegen nicht zur Verfügung. Eine Darstellung der aufgezeichneten Daten in der klassischen Notation ist daher nur mit sehr aufwendigen Algorithmen und manuellen Anpassungen möglich. Sequenzer-Programme arbeiten aus diesem Grund häufig mit einer Piano-Roll-Notation (Notenrollen-Notation), die dem Abdruck auf einer Notenrolle ähnelt und deren Darstellung sich sehr einfach programmieren lässt. Die Piano-Roll-Notation erlaubt auch eine einfache Eingabe oder Bearbeitung von Musikstücken am Bildschirm (in manchen Programmen Piano-Roll-Editor genannt). Auch zum intuitiven Erlernen von Klavierstücken kann die Piano-Roll-Notation verwendet werden, ohne dass das Lesen von klassischen Noten beherrscht werden muss. Piano-Roll-Notationen existieren in zahlreichen Varianten, zum Teil auch unter Verwendung von Farbe. In einigen Ländern wie den USA können Musik-Notationen patentiert werden. Unter den Patenten finden sich einige Beispiele für Piano-Roll-Notationen, wie zum Beispiel das US-Patent 6987220 (von 2006) einer Piano-Roll-ähnlichen Notation mit Farben. Siehe auch Liste von musikalischen Symbolen Blattspiel Literatur Willi Apel: Die Notation der polyphonen Musik. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1962, ISBN 3-7330-0031-5. Günter Brosche: Musikerhandschriften. Reclam, Ditzingen 2002, ISBN 3-15-010501-3. Gilles Cantagrel: Musikhandschriften −  Musikhandschriften aus 10 Jahrhunderten  −  von Guido von Arezzo bis Karlheinz Stockhausen. Aus dem Französischen von Egbert Baqué. Knesebeck, München 2005, ISBN 3-89660-268-3 (Farbbildband). Max Chop: Die Entwicklung unserer Notenschrift. In: Reclams Universum 28.2 (1912), S. 1250–1254. Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Rowohlt, Hamburg 1958. Martin Gieseking: Code-basierte Generierung interaktiver Notengraphik. epOs-Music, Osnabrück 2001, ISBN 978-3-923486-30-4. Elaine Gould: Hals über Kopf. Das Handbuch des Notensatzes. Aus dem Englischen von Arne Muus und Jens Berger. Faber/Peters, London/Leipzig 2014, ISBN 978-1-84367-048-3. Andreas Jaschinski (Hrsg.): Notation (MGG Prisma). Bärenreiter, Kassel u. a. 2001, ISBN 3-7618-1625-1. Erhard Karkoschka: Das Schriftbild der Neuen Musik. 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The Music Notation Project. Exploring Alternative Music Notation Systems Einzelnachweise Notationssystem
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https://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%BClheim%20an%20der%20Ruhr
Mülheim an der Ruhr
Mülheim an der Ruhr (mölmsch Mölm) ist eine kreisfreie Großstadt im westlichen Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen. Die Stadt ist als Mittelzentrum eingestuft. Sie liegt unmittelbar an der Ruhr zwischen den angrenzenden Oberzentren Duisburg und Essen sowie der nahe gelegenen Landeshauptstadt Düsseldorf und wird auch Ruhrtalstadt Mülheim genannt. Mülheim gehört zudem zur Metropolregion Rhein-Ruhr. Historisch gehört Mülheim zusammen mit Kettwig und Werden zu den nördlichsten Teilen des Bergischen Landes. Im Jahre 1808 wurden ihr die Stadtrechte verliehen. Ein Jahrhundert später überschritt die Einwohnerzahl die Grenze von 100.000 Einwohnern und machte Mülheim an der Ruhr damit zur Großstadt. Mit etwa 172.000 Einwohnern liegt Mülheim an 47. Stelle unter den 82 Großstädten Deutschlands (Stand: 31. Dezember 2022). Die einstige Handels-, Leder- und Montanstadt hat den Wandel zu einem branchenvielfältigen Wirtschaftsstandort mittlerweile erfolgreich vollzogen. Die Stadt besteht zu über 50 Prozent aus Grün- und Waldflächen. Sie ist u. a. Sitz zweier Max-Planck-Institute und der 2009 gegründeten Hochschule Ruhr West. Geografie Geografische Lage Mülheim an der Ruhr liegt am Übergang von niederbergischem Hügelland, Westhellweg und mittlerer Niederrheinebene. Die Innenstadt befindet sich rechtsseitig der Ruhr, die das Stadtgebiet auf einer Länge von 14 Kilometern von Südosten nach Nordwesten durchquert, und etwa 12 Kilometer östlich ihrer Mündung in den Rhein. Zwischen Broich am linken und dem Kirchenhügel am rechten Ufer, der sog. Mülheimer Pforte, verlässt die Ruhr die Ausläufer des rheinischen Schiefergebirges und erreicht das niederrheinische Tiefland. Mit der Lage des Stadtzentrums direkt am Fluss hat Mülheim neben Fröndenberg ein Alleinstellungsmerkmal im Ruhrgebiet. Geologie Hinsichtlich der geologischen Struktur liegt die Stadt ebenfalls in dem dreigeteilten Grenzbereich. Die nordöstlich der Ruhr gelegenen Flächen zählen mit ihren reichen Lössböden zum Naturraum des Westenhellwegs. Der Übergang zur Westfälischen Bucht lässt sich nur schwer anhand der Oberflächenformen abgrenzen, wohingegen die Formationen des Bergischen Landes und das Niederrheinische Tiefland deutlich erkennbar sind. Mit der markanten Felsformation des Kahlenberghanges streichen die im Karbon entstandenen kohleführenden Schichten an den nördlichen Ausläufern des Schiefergebirges aus. Die Ruhr erodierte hier über 50 Meter tief in dieses Mittelgebirge hinein und legte dabei die Steinkohleflöze teilweise frei, was das Schürfen nach Steinkohle in Stollenbetrieb ermöglichte. Nach Norden hin senken sich die kohleführenden Schichten immer tiefer unter die Erdoberfläche, was den Betrieb von Bergwerken zum Steinkohleabbau erfordert. Die breite Styrumer Flussaue zeigt demgegenüber mit ihren Altarmen die charakteristischen Züge der Niederrheinebene. Klima Mülheim weist ein ganzjährig gemäßigtes Klima auf. Insgesamt ist das Klima eher maritim als kontinental geprägt und es zeigen sich typische klimatische Merkmale besonders dicht besiedelter Räume. Der ostwärts steigenden Geländehöhe folgen die kleinklimatischen Verhältnisse, die bei den Niederschlägen von zirka 700 mm/Jahr in der Styrumer Ruhraue auf bis zu 900 mm/Jahr an der Stadtgrenze zu Essen-Fulerum ansteigen, während das Tagesmittel von 9,5 °C auf 8 °C absinkt. Nachbarstädte und Stadtgebiet Die Stadt Mülheim an der Ruhr grenzt im Norden an die kreisfreie Stadt Oberhausen und im Osten an die kreisfreie Stadt Essen. Im Süden liegt der Ballungsraum Düsseldorf mit der Stadt Ratingen im Kreis Mettmann und im Westen die kreisfreie Stadt Duisburg. Die Gesamtlänge der Stadtgrenze zu den Nachbarstädten beträgt 49 Kilometer. Das Stadtgebiet dehnt sich in Nord-Süd-Richtung 13,4 Kilometer sowie in West-Ost-Richtung 10,7 Kilometer aus. Der höchste Punkt im Stadtgebiet liegt auf 152,7 Meter über NHN und in der Nähe des Flughafens Essen-Mülheim. Der mit 26,0 Meter über NHN niedrigste Punkt befindet sich am Übergang der Ruhr nach Duisburg. Die Gesamtfläche des Stadtgebiets umfasst 91,29 Quadratkilometer, die zu etwa gleichen Anteilen versiegelt sind (Gebäude, Freiflächen, Verkehrsflächen) und als Wald- und Grünflächen dienen oder landwirtschaftlich genutzt werden. Insbesondere der Mülheimer Süden bildet entlang der Hänge des Ruhrtals die grüne Lunge der Stadt. Stadtgliederung Aus historischer Sicht werden insgesamt neun Stadtteile unterschieden, die bis zu ihrer Eingemeindung selbständige Ortschaften waren. Seit 1975 ist Mülheim zudem in die drei Stadtbezirke Linksruhr, Rechtsruhr-Nord und Rechtsruhr-Süd gegliedert. 1984 beschloss der Rat der Stadt für die Ausarbeitung langfristiger Entwicklungskonzepte und für statistische Zwecke die Einteilung des Stadtgebietes in sechs Teilräume, die unter Berücksichtigung der historischen und der strukturbedingten Zusammenhänge eingeteilt wurden. Diese Teilräume sind weiter gefasst als die historischen Stadtteile, führen jedoch teilweise deren Namen fort. 1) Stand: 31. Dezember 2014 2) Aus dem Stadtteil Altstadt II wurden Teile (Altstadt II-Nordost und Papenbusch) ausgesondert und dem Teilraum Dümpten im Bezirk Rechtsruhr-Nord zugeordnet. 3) Aus dem Stadtteil Heißen wurden Teile (Winkhausen-Nord) herausgenommen und dem Teilraum Dümpten im Bezirk Rechtsruhr-Nord zugeordnet. 4) Der Teilraum Dümpten besteht aus dem historischen Stadtteil und den oben unter den Punkten 2 und 3 angegebenen Erweiterungen. Geschichte 1093 erfuhr die Stadt als Mulinhem ihre erste urkundliche Erwähnung als Gerichtsstätte innerhalb des Ruhrgaues. In jüngeren Urkunden wurde der Name zu Molenheim und Molnheim abgewandelt, aber die Deutung des Namens Mülheim als Heim der Mühlen weist darauf hin, dass die Bewohner im Mittelalter ihrer Siedlung als besonderes Charakteristikum die Existenz von Mühlen zuwiesen. Ob dies an deren Vielzahl oder der herausragenden Bedeutung einer einzelnen Mühle lag, ist nicht mehr feststellbar. Im Mülheimer Dialekt Mölmsch wird die Stadt Mölm genannt. Mittelalter Die Geschichte der Stadt Mülheim ist eng verbunden mit den beiden historischen Siedlungszentren, dem Schloss Broich auf der linken und dem Kirchenhügel auf der rechten Ruhrseite. Schloss Broich, Sitz der Edelherren von Broich und später ihrer adligen Nachfolger, wurde im letzten Viertel des 9. Jahrhunderts, wahrscheinlich im Winter 883/884, als Wehranlage gegen die Überfälle der Wikinger an der historischen Ruhrfurt des alten Hellwegs errichtet. Der Kirchenhügel war immer der wirtschaftliche und religiöse Kern des Ortes. Um 1200 wurde im Süden des heutigen Mülheimer Stadtgebiets das Zisterzienserinnenkloster Saarn gegründet, doch über seine Gründer und die ersten Nonnen des Klosters ist sehr wenig bekannt. Einige Jahrzehnte später, in einer zweiten Gründungsphase, wurde Erzbischof Engelbert I. von Köln im Rahmen seiner politischen Aktivitäten als Erzbischof, Graf von Berg und zugleich Reichsverweser Erzieher des minderjährigen Königs Heinrichs VII., auf Kloster Saarn aufmerksam. Engelbert sorgte wahrscheinlich für die Aufnahme der Saarner Nonnen in den Zisterzienserorden und die Einführung einer strengen Klausur, außerdem für eine umfangreiche Privilegierung des Klosters durch den Papst und das Reich. In der Folgezeit erhielt das Kloster zahlreiche Schenkungen aus dem Mülheimer und dem benachbarten Raum und auch von den Herren von Broich. König Heinrich wurde – vermutlich auf Veranlassung Engelberts – von den Nonnen in ihrem Memorienbuch als (Gründer) geehrt. Mülheim an der Ruhr gehörte zum Herzogtum Berg (Bergisches Land). Nachdem 1372 die Herren von Broich ausstarben, fiel Schloss Broich zunächst an die Grafen von Isenberg-Limburg. Dem Kölner Erzbischof Dietrich II. von Moers und Herzog Gerhard von Jülich-Berg gelang 1443 gemeinsam die Eroberung und Inbesitznahme Broichs, wobei die Burg stark zerstört wurde. Bereits Anfang des 14. Jahrhunderts spaltete sich das Grafenhaus Isenberg-Limburg in die Stammlinien Limburg-Broich und Limburg-Styrum auf. Nach dem Aussterben der Grafen von Limburg-Broich in männlicher Linie 1511 erbte 1508 Wirich V. von Daun-Falkenstein sowie später seine Nachfolger die Herrschaft. Der Limburg-Styrum Zweig legte den Grundstein des Schlosses Styrum, das zum Zentrum einer reichsunmittelbaren Herrschaft Styrum wurde (bis 1806). Frühe Neuzeit Im 16. Jahrhundert entzogen sich die Landesherren der Herrschaft Broich mit Hilfe der Herzöge von Berg den kurkölnischen Ansprüchen auf Broich. Im 17. und 18. Jahrhundert gelang es dem Herzogtum Berg, Souveränitätsrechte über die Herrschaft Broich geltend zu machen. Während des spanisch-niederländischen Achtzigjährigen Kriegs, der auch den Niederrhein und Westfalen in Mitleidenschaft zog, belagerten im Jahre 1598 spanische Truppen Schloss Broich, das schließlich kapitulierte und besetzt wurde. Nach nur wenigen Tagen töteten die Spanier Graf Wirich VI. von Daun-Falkenstein, den wichtigsten Führer der Protestanten im Niederrheingebiet, an der herrschaftlichen Broicher Mühle. Als die männliche Linie der Grafen zu Daun-Falkenstein im Jahre 1682 mit dem Tod Wilhelm Wirichs erloschen war, fiel das Lehen an die Grafen von Leiningen, welche die Broicher Herrschaft durch einen Rentmeister verwalten ließen. Beginn der Industrialisierung Die Industrialisierung Mülheims begann um 1770 mit dem Ausbau der Ruhr zu einer Schifffahrtsstraße. Während auf dem Unterlauf, zwischen Duisburg und der Mülheimer Innenstadt, seit dem 14. Jahrhundert Schiffsverkehr möglich war und bereits 1716 in Ruhrort der erste Rheinhafen entstand, wurde die Ruhr erst 1780 durch die Errichtung der ersten Schleuse auch oberhalb der Mülheimer Innenstadt schiffbar. Damit erfuhr der Kohlehandel einen massiven Aufschwung, denn die Schleppkähne konnten nun von Hattingen bis zum Duisburger Hafen entlang des Leinpfads getreidelt werden. Mit den Zechen Humboldt und Vereinigte Sellerbeck entstanden in dieser Zeit auch die ersten Zechen mit rentabler Kohleförderung in der Stadt. Die erste Fabrik in Mülheim wurde von Johann Caspar Troost 1791 mit der später zur Textilfabrik J. Caspar Troost ausgebauten Spinnerei im Luisental gegründet. In der Hochzeit der Textilindustrie Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Fabrik mit über 1200 Beschäftigten zum größten Arbeitgeber in Mülheim. Im Zusammenhang mit der Bildung des Rheinbundes und der Errichtung des Großherzogtums Berg wurden 1806 die Herrschaften Broich und Styrum aufgelöst und es entstand vorübergehend das Amt Broich-Styrum, zu dem auch Mülheim gehörte. Nur zwei Jahre später, am 18. Februar 1808, wurde Mülheim von der französisch geprägten Regierung des Großherzogtums Berg zur Munizipalität erklärt und nach französischem Vorbild als unterste staatliche Verwaltungseinheit eingerichtet. Verwaltungstechnisch wurde die Stadt dem neu geschaffenen Rhein-Departement zugeordnet. 1811 eröffnete Mechanikus Johann Dinnendahl eine mechanische Werkstatt und gemeinsam mit seinem Bruder, Franz Dinnendahl, gründete er 1820 eine Eisenschmelze zur Herstellung von gegossenen Maschinenteilen, aus der später die Friedrich-Wilhelms-Hütte hervorging. Nach den Beschlüssen des Wiener Kongresses wurde 1815 das Großherzogtum Berg, damit auch Mülheim, in den preußischen Staat eingegliedert und ab 1816 durch den neu gebildeten Kreis Essen im Regierungsbezirk Düsseldorf verwaltet, der jedoch schon zum 27. September 1823 aufgelöst und, als Teil der Rheinprovinz, mit dem Kreis Dinslaken zum neuen Kreis Duisburg vereinigt wurde. Als Gegengewicht zum Adel wurde 1792 die älteste Mülheimer Bürgergesellschaft, die Casinogesellschaft mit dem Namen Gesellschaft Casino e. V. gegründet, die das gleichnamige Gebäude an der Delle mit Ballsaal, Clubräumen und Weinkeller, das heute noch besteht, im Jahr 1842 errichtete. Hier verkehrten auch alle Entscheider aus der aufstrebenden Industrie und deren Familien. Der wirtschaftliche Aufschwung ermöglichte 1837 die Inbetriebnahme der Sellerbecker Pferdebahn vom Hafen zur Zeche Sellerbeck in Dümpten und 1839 die Fertigstellung der privaten Aktienstraße vom Mülheimer Hafen nach Essen-Borbeck. Zwischen 1842 und 1844 wurde an der Ruhrfurt zwischen Broich und Stadtmitte mit der Kettenbrücke die erste Hängebrücke Deutschlands in Eisenbauweise errichtet, an deren Bau die Friedrich-Wilhelms-Hütte maßgeblich beteiligt war. Die Brücke musste 1909 einer Betonbrücke weichen, weil der zunehmende Verkehr für gefährliche Schwingungen in der Konstruktion verantwortlich war. Vierzig Jahre nach Erteilung der französischen Stadtrechte erhielt die Ruhrtalstadt Mülheim 1846 das Stadtrecht nach preußischem Recht. Höhepunkte der Industrialisierung Zwischen 1850 und 1890 wandelte sich Mülheim von einem Ort der Schifffahrt zu einem Industriestandort. 1849 wurde – erstmals im Ruhrgebiet – in der Friedrich-Wilhelms-Hütte die Stahlproduktion mit Kokskohle aufgenommen und folgerichtig eröffnete an der Zeche Wiesche 1861 die erste Brikettfabrik des Ruhrgebiets. Zur Produktionssteigerung wurden viele der Kleingruben auf Mülheimer Gebiet zu vereinigten Tiefbauzechen zusammengelegt. So förderten Anfang der 1850er Jahre fünf Großschachtanlagen, doch das Ausbautempo der Kohleproduktion in Mülheim war bald darauf nicht mehr steigerungsfähig und im Zuge der Nordwanderung des Bergbaus begannen die Nachbarstädte die Mülheimer Gruben in Bezug auf Betriebsgröße und Förderung zu überrunden. Die Anbindung der Stadt an das Eisenbahnnetz der Bergisch-Märkischen Eisenbahn-Gesellschaft im Jahre 1862 und die Errichtung der Ruhrtal-Bahn (1872–1876) führten zu einem Niedergang der Ruhrschifffahrt und um 1890 fuhren die letzten Ruhraaken als Kohlenschiffe. In dieser Zeit der wirtschaftlichen Umstrukturierung erwarb August Thyssen 1871 den Heckhoffshof in Mülheim-Styrum und gründete dort die Firma Thyssen & Co., die zur Basis eines der größten deutschen Montankonzerne werden sollte. Das durch die Industrialisierung ausgelöste Wachstum des Ruhrgebiets machte Verwaltungsreformen, die teilweise in rascher Abfolge umgesetzt wurden, notwendig. So wurde Mülheim an der Ruhr 1873 der Sitz eines neu geschaffenen gleichnamigen Landkreises Mülheim an der Ruhr, nachdem die Städte Duisburg und Essen kreisfrei geworden waren. Dieser Landkreis wurde 1887 schon wieder geteilt und der westliche Teil dem Landkreis Ruhrort zugeordnet. 1904, also wiederum nur 17 Jahre später, wurde Mülheim gemäß der neuen Rheinischen Provinzialordnung nach Erreichen von mehr als 40.000 Einwohnern zum Stadtkreis. Fortschritt und stetes Wachstum war in den Folgejahren zu beobachten: Im Jahre 1897 fuhr die erste elektrische Straßenbahn in Mülheim und 1899 zog das Infanterie-Regiment 159 in die neue Kaserne an der Kaiserstraße ein und verhalf Mülheim damit zum Status einer Garnisonsstadt. Auf dem Weg zur Großstadt In der Zeit von 1904 bis 1928 formte Paul Lembke als Oberbürgermeister von Mülheim das Antlitz der Stadt maßgeblich nach seinen Vorstellungen. Im Jahr seines Amtsantritts wurde die Stadt mit der Eingemeindung der linksruhrischen Stadtteile flächenmäßig um das Siebenfache vergrößert und die Einwohnerzahl wuchs schlagartig von 40.000 auf über 93.000. Schon vier Jahre später – zum 100-jährigen Bestehen – überschritt Mülheim die 100.000-Einwohner-Grenze und konnte sich unter die Großstädte einreihen. Lembke verfolgte in dieser Zeit nicht die Strategie der Bevölkerungsvermehrung durch Eingemeindung um jeden Preis. So lehnte er die Angliederung von Alstaden und der nördlichen Teile von Dümpten und Styrum ab und überließ sie Oberhausen, weil ihm die Bezirke zu dicht besiedelt und vom Bergbau geprägt waren. Auf der anderen Seite forderte er die Eingemeindung von Heißen, Süd-Dümpten und vor allem von Menden und Raadt. Daran lässt sich das Ziel erkennen, das Lembke verfolgte: ein „grünes Mülheim“ zu schaffen, denn diese Stadtteile rechneten zu den landwirtschaftlich geprägten Landstrichen mit alteingesessener Bevölkerung. Während dieser Zeitspanne legte die Stadt den kleinstädtischen Charakter ab und wandelte sich durch entscheidende Verbesserungen in der Infrastruktur und der Wirtschaft sowie durch wesentliche kulturelle Impulse zu einer modernen Großstadt. Dazu rechnet der Ausbau des Schulsystems, die Ansiedlung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Kohlenforschung (1912), die Eröffnung der Stadthalle (1926), der Bau von drei Ruhrbrücken und der Ausbau des Schifffahrtskanals mit den Hafenanlagen (1927). Nicht zuletzt ist die Schaffung großzügiger Naherholungsgebiete auf Mülheimer Stadtgebiet als bleibende Leistung zu nennen. 1925 wurde in einem rein agrarisch geprägten Gebiet zwischen den Städten Mülheim und Essen ein Verkehrslandeplatz errichtet, der im Jahr 1935 zum zentralen Landeplatz des gesamten rheinisch-westfälischen Industriegebietes ausgebaut wurde. Damit war er in dieser Zeit einer der bedeutendsten deutschen Flughäfen, weit vor dem Flughafen Düsseldorf, der von hier aus verwaltet wurde. Für das Verwaltungs-, Flug- und Wartungspersonal wurde Ende der 1920er Jahre mit der Richthofensiedlung eine sogenannte Fliegersiedlung in unmittelbarer Nähe zum Flugplatz errichtet. Nationalsozialismus Aus der letzten freien Reichstagswahl ging die NSDAP am 6. November 1932 in Mülheim mit 28,3 % der Stimmen als stärkste Partei hervor. Im Vergleich lag die Wählerzustimmung zum Nationalsozialismus in Mülheim damit unter dem deutschlandweiten Gesamtergebnis von 33,1 %. Ähnlich wie in anderen Städten des Ruhrgebiets wurde die NSDAP zwar stärkste Partei; aber die KPD mit 24,27 % und die SPD mit 13,53 % erzielten mit zusammen 37,81 % einen größeren Stimmenanteil. Dennoch brach in Mülheim Begeisterung über die Einsetzung Adolf Hitlers als Reichskanzler aus und seine Anhänger feierten dies mit einem Fackelzug. Ab Mitte Februar 1933 kam es besonders im Stadtteil Dümpten zu ersten Hausdurchsuchungen bei vermuteten Kommunisten und Ende Februar übernahmen 200 SS-, SA- und Stahlhelmangehörige offiziell die Polizeigewalt als Hilfspolizisten in der Stadt und verhafteten zahlreiche politische Gegner. In den ersten Kommunalwahlen nach der Machtergreifung holte die NSDAP 45,1 % der Stimmen. Im ersten Ratsbeschluss wurden Hitler und Hindenburg die Ehrenbürgerwürde der Stadt verliehen. Am 30. September 1938 wurde die jüdische Gemeinde in Mülheim „quasi-enteignet“: Mit Ratsbeschluss wurde die Synagoge am Viktoriaplatz für nur 56.000 Reichsmark an die Stadtsparkasse zwangsverkauft. Nur wenige Wochen später brannte in der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November das jüdische Gotteshaus nieder. Der Brand wurde ausgerechnet von der Mülheimer Feuerwehr gelegt, die sich bei den Löscharbeiten entsprechend nur auf die Verhinderung des Übergreifens des Feuers auf benachbarte Häuser beschränkte. Im Juni 1941 wurde am Flughafen Essen/Mülheim unter Verwaltung der Kölner Gestapo ein Arbeitserziehungslager eingerichtet. Als Wachen fungierten 26 Schutzpolizisten der Essener Polizei, und den Arbeitseinsatz verantwortete die Flughafengesellschaft. Bis März 1945 durchliefen nach Schätzungen 6000 bis 8000 Menschen das Lager, dabei kamen 130 Gefangene ums Leben. Im Verlauf der Jahre 1943 und 1944 wurde die Stadt mehrfach zum Ziel von Luftangriffen. Der schwerste Angriff fand in der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1943 statt. In drei dicht aufeinander folgenden Wellen flogen 242 Lancaster-, 155 Halifax-, 93 Stirling-, 55 Wellington- und 12 Mosquito- Bomber, somit 557 Flugzeuge, die Stadt an. Hauptziele waren die Innenstadt, die Eisenbahnlinien, die Deutschen Röhrenwerke, die Firma Schmitz-Scholl als Provianthersteller für die Wehrmacht, das Reichsbahnausbesserungswerk und der Hafen. Der Angriff forderte 530 Tote unter der Stadtbevölkerung und 1630 Gebäude (64 %) wurden zerstört oder beschädigt. Etwa 40.000 Einwohner mussten daraufhin evakuiert werden. Bei einem weiteren Bombenangriff, der eigentlich der Stadt Oberhausen galt, trafen in der Nacht vom 1. auf den 2. November 1944 einige Bomben den Stadtteil Dümpten. Dort und in umliegenden Stadtteilen kamen 33 Einwohner ums Leben. Am 24. Dezember 1944 fand der letzte schwere Angriff statt: Zur Abwehr der deutschen Ardennenoffensive, die Luftunterstützung durch den Mülheimer Flughafen bekam, griffen 338 britische Bomber den Flughafen Essen-Mülheim an. 74 Einwohner der Stadt verloren ihr Leben, davon allein fünfzig bei einem Volltreffer auf den Bunker in der Windmühlenstraße. Das Ende des Kriegs kam für die Stadt am 11. April 1945. Zur Verteidigung gegen die anrückenden Truppen befanden sich noch 200 Soldaten des 183. Volksgrenadierregiments auf Mülheimer Gebiet, die von etwa 3.000 Angehörigen des Volkssturms unterstützt werden sollten. Am Morgen rückten die ersten Soldaten der 17. US-Luftlandedivision von Essen über den Stadtteil Heißen in die Stadtmitte vor. Im Stadtgebiet kam es nur im Bereich der Kämpchenstraße zu einem kurzen Kampf zwischen einigen Volkssturmleuten und den Amerikanern. Dabei wurden zwei Volkssturmmänner und drei GIs getötet. Oberbürgermeister Edwin Hasenjaeger (1888–1972) übergab um 9:40 Uhr die Stadt den Amerikanern, die einige Monate später von den Briten als Besatzungsmacht abgelöst wurden. Nachkriegszeit Bei Kriegsende lebten nur noch 88.000 Menschen in Mülheim, doch schon Ende 1945 war die Zahl durch Kriegsheimkehrer und Flüchtlinge wieder auf 125.441 angewachsen. Der Wiederaufbau begann zunächst unter dem Eindruck von Demontagen, die vor allem die Eisen- und Stahlindustrie betrafen. Bereits 1950 waren die Mannesmannröhren-Werke wieder Westeuropas größter Röhrenproduzent. Die Beschäftigtenzahl des Werkes stieg von 6000 (1950) auf über 10.500 (1961) und Ähnliches gilt für die Zahl der Gesamtbeschäftigten, die von 49.000 auf 82.000 anwuchs. 1964 begann für die Stadt der lange und schwierige Strukturwandel. Bedingt durch die Stahl- und Kohlekrise wurde an den Hochöfen der Friedrich-Wilhelms-Hütte die letzte Schicht gefahren. Mülheim besaß damit als erste Stadt im Ruhrgebiet keine Stahlproduktion mehr. 1966 musste die Kohleförderung auf der Zeche Rosenblumendelle eingestellt werden. Damit war Mülheim als erste Ruhrgebietsstadt bergbaufrei. Der Umstrukturierungsprozess führte 1973 zur Eröffnung des RheinRuhrZentrums auf dem Gelände der ehemaligen Zeche Humboldt. Deutschlands ehedem größtes überdachtes Einkaufszentrum steht seitdem symbolhaft für die Rückbesinnung auf die traditionsreiche Vergangenheit als Handelsstadt. 1974 folgte die Fertigstellung des City-Centers (heutiger Name: FORUM City Mülheim) als innerstädtisches Einkaufszentrum und die Umgestaltung der Schloßstraße zur Fußgängerzone. Das Projekt einer durchgängigen Stadtbahnverbindung zwischen den Städten des westlichen Ruhrgebiets wurde 1979 mit der U-Stadtbahnstrecke von Mülheim-Hauptbahnhof bis Essen in einer ersten Etappe teilweise verwirklicht. Die 1992 in der Stadt veranstaltete nordrhein-westfälische Landesgartenschau MüGa führte im Mülheimer Ruhrtal zu erheblichen Umgestaltungen. Vor allem im Kernbereich der Ausstellung, um den Ringlokschuppen herum, wurden unansehnliche Industriebrachen in Grünanlagen verwandelt. Mülheims Geschichte als Garnisonsstadt endete 1994, als die Britische Rheinarmee nach 48 Jahren die Wrexham Barracks verließ. Diese zweite Mülheimer Kaserne war Ende der 1930er Jahre für die Wehrmacht errichtet worden, während die alte Kaserne an der Kaiserstraße nach 1945 nicht mehr von Militär weitergenutzt und Mitte der 1970er Jahre abgebrochen wurde. 1998 wurde mit der Eröffnung des Ruhrtunnels der Streckenverlauf der Stadtbahnverbindung vom Hauptbahnhof in Richtung Broich und Duisburg fortgesetzt. Auf einer insgesamt 245.000 Quadratmeter großen ehemaligen Industriebrache an der Mellinghofer Straße entstand seit dem Jahre 2000 der Siemens Technopark. Mit dem Gründerzentrum im Haus der Wirtschaft, das 2005 eröffnet wurde, steht potentiellen Existenzgründern eine zentrale Niederlassungsmöglichkeit zur Verfügung. 2019 wurde ein wesentliches Teilstück des Radschnellweg Ruhr (RS1) mit der Ruhrüberquerung eröffnet. Mundart Mölmsch Platt ist der niederfränkische Dialekt der Stadt Mülheim an der Ruhr. Es handelt sich dabei um eine Varietät des Bergischen. Durch die enge Verwandtschaft des Dialektes mit den Dialekten am linken und rechten Niederrhein und denen in den niederländischen und flämischen Teilen von Limburg, werden die Mundarten gemeinsam zur limburgischen Sprache gerechnet. Eingemeindungen 1878 wurden Eppinghofen und Mellinghofen (beide aus der Bürgermeisterei Mülheim-Land) dem Stadtgebiet – jetzt Stadtteil Altstadt II – angegliedert. 1904 folgte die Bürgermeisterei Broich mit den Gemeinden Broich, Saarn und Speldorf. 1904 kamen auch Holthausen aus der Bürgermeisterei Heißen und die Gemeinde Styrum hinzu. 1910 erreichte Oberbürgermeister Paul Lembke die Angliederung von Oberdümpten und der Gemeinde Heißen mit Winkhausen und einem Teil von Fulerum, während die hoch industrialisierten Gebiete Unterstyrum und Unterdümpten sowie die Gemeinde Alstaden nach Oberhausen eingegliedert wurden. 1920 wurden Menden und Raadt, die bis 1910 zur Bürgermeisterei Heißen und anschließend zum Landkreis Essen gehörten, eingemeindet. 1929 wurde mit dem Gesetz über die kommunale Neugliederung des rheinisch-westfälischen Industriegebiets das Stadtgebiet erheblich nach Süden ausgedehnt: Selbeck (Amt Mintard), Ickten und Teile von Umstand (Amt Kettwig-Land) gingen an Mülheim. Am 1. Januar 1975 folgte durch Düsseldorf- und Ruhrgebiet-Gesetz die letzte Erweiterung: Mintard, seit 1930 Teil der Stadt Kettwig, kam zu Mülheim, während der Hauptteil Kettwigs nach Essen eingemeindet wurde. Ausgliederungen Am 1. Januar 1981 wurde ein Gebiet mit damals mehr als 100 Einwohnern an die Nachbarstadt Ratingen abgetreten. Einwohnerentwicklung Mit über 10.000 Einwohnern war Mülheim bei der Stadtwerdung im Jahre 1808 – nach Düsseldorf, Elberfeld und Barmen (heute beide zu Wuppertal) – die viertgrößte Gemeinde in dem Gebiet, das dem heutigen Regierungsbezirk Düsseldorf entspricht. Die Nachbargemeinden Duisburg (4.500 Einwohner) und Essen (3.700 Einwohner) hatten eine wesentlich geringere Bedeutung. Der Beginn der Industrialisierung hatte eine signifikante Bevölkerungszunahme zur Folge. Im Jahr 1904 verdoppelte sich die Bevölkerung von Mülheim nach der Eingemeindung mehrerer Ortschaften – darunter der Gemeinde Styrum (18.434 Einwohner 1900) – von etwa 40.000 auf über 93.000. Durch anhaltende Zuwanderung überschritt die Einwohnerzahl der Stadt 1908 die Grenze von 100.000, wodurch Mülheim zur Großstadt wurde. 1971 erreichte die Bevölkerungszahl mit 192.915 ihren historischen Höchststand. Am 31. Dezember 2011 lebten in Mülheim nach Fortschreibung des Landesamtes für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen 168.566 Menschen mit Hauptwohnsitz. Abweichend davon betrug die Einwohnerzahl am 19. Mai 2011 lt. Zensus 2011 nur 166.865 Menschen, mithin knapp 2000 weniger. Religionen Konfessionsstatistik Einst war Mülheim protestantisch geprägt. Erst durch die Industrialisierung und die mit ihr verbundene Zuwanderung von Arbeitskräften wuchs der katholische und vor allem der sonstige Bevölkerungsanteil der Stadt. Gemäß dem Zensus 2011 waren 31,3 % der Einwohner evangelisch, 30,7 % katholisch und 38,0 % waren konfessionslos, gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Ende 2022 waren von den Einwohnern 24,2 % katholisch, 23,4 % evangelisch und 52,4 % waren konfessionslos oder gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an. Die Zahl der Protestanten und Katholiken ist demnach im beobachteten Zeitraum gesunken. 1078 Mülheimerinnen und Mülheimer sind im Jahr 2022 aus der katholischen Kirche ausgetreten. Christentum Mülheim an der Ruhr gehörte im Mittelalter zum Bistum Lüttich, später zum Erzbistum Köln. Noch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts führten die Broicher Landesherren durch Bestellung eines geeigneten Pastors die Reformation ein. Zunächst handelte es sich um eine Gemeinde nach lutherischem, im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts, wiederum durch Einsetzung eines entsprechenden Pastors, nach reformiertem Bekenntnis. Ab 1621 waren wieder lutherische Gemeindeglieder vorhanden und diese gründeten 1658 eine eigene Gemeinde. Beide gehörten ab 1817 zur Evangelischen Kirche in Preußen und deren rheinischen Provinzialkirche. Auf der auf königliche Anordnung 1817 gegründeten Kreissynode Düsseldorf schlossen sich einmütig Gemeinden beider Konfessionen zusammen. Eine Vereinigung der beiden Gemeinden in Mülheim kam aber im Gegensatz zu Ratingen (1817), Essen (1819) Düsseldorf (1825) vorerst nicht zustande. Erst 1887 vereinigten sich die reformierte und die lutherische Gemeinde zur Evangelischen Gemeinde Mülheim an der Ruhr (unierte Gemeinde). 1870 trennten sich die Gemeinden an der Ruhr von Düsseldorf und bildeten noch mit Essen (bis 1900, die Ruhrgemeinden Essens bis 1934) und Oberhausen (bis 1954) den Kirchenkreis an der Ruhr innerhalb der Evangelischen Kirche im Rheinland. Zu ihm gehören heute alle sieben evangelischen Kirchengemeinden der Stadt Mülheim an der Ruhr (Vereinte, Lukaskirchengemeinde, Broich, Heißen, Markuskirchengemeinde, Saarn und Speldorf) sowie die Kirchengemeinde Kettwig (Stadt Essen). Die Grafen Limburg-Styrum behielten den römisch-katholischen Glauben bei, was dazu führte, dass auch die Herrschaft Styrum römisch-katholisch blieb und in der Kapelle des Schlosses Styrum weiterhin katholischer Gottesdienst gefeiert wurde. Die seelsorgliche Betreuung der in der Umgebung verbliebenen Katholiken übernahmen zunächst Minoriten aus Duisburg, bis 1752 vom Düsseldorfer Jesuitenkolleg ein ständiger Geistlicher für katholischen Gottesdienst und Unterricht gestellt wurde. Durch eine Stiftung des Grafen Karl Joseph August von Limburg-Styrum vom 13. Januar 1755 konnte ein Haus errichtet werden, das Schule, Gottesdienst und Wohnung des Geistlichen aufnahm. Nach der Aufhebung des Jesuitenordens im Jahr 1780 betreuten Weltgeistliche die Missionsstation. Ihnen gelang es, in Mülheim eine Kirche zu errichten, die am 10. November 1786 durch den Kölner Weihbischof Karl Aloys Reichsgraf von Königsegg-Aulendorf konsekriert wurde. Bereits am 18. Januar 1790 erhob der Kölner Kurfürst und Erzbischof Maximilian Franz von Österreich die Missionsstation zur kanonischen Pfarrei. Für den Bau der Kirche hatte neben anderen der Kölner Nuntius Carlo Antonio Giuseppe Bellisomi im April 1782 eine Spende zur Verfügung gestellt. Im Zuge der Industrialisierung wurden in Mülheim weitere katholische Pfarreien errichtet, die dem Erzbistum Köln angehörten, bis sie 1958 dem neu gegründeten Bistum Essen zugeordnet wurden. Nur die Pfarrgemeinde St. Laurentius des erst 1975 nach Mülheim eingegliederten Ortes Mintard gehört weiterhin zum Erzbistum Köln. Die zum Stadtdekanat Mülheim des Bistums Essen gehörenden 15 Pfarrgemeinden waren Christ König, Heilig Geist, Heilig Kreuz, Herz Jesu, St. Barbara, St. Elisabeth, St. Engelbert, St. Joseph, St. Mariä Geburt, St. Maria Himmelfahrt, St. Mariae Rosenkranz mit der Filialkirche St. Albertus Magnus (Fusion 2000), St. Michael, St. Raphael, St. Theresia von Avila und St. Theresia vom Kinde Jesu. Das Zukunftskonzept des Bistums Essen, das bis 2008 umgesetzt wurde, sah die Reduzierung auf drei Pfarrgemeinden mit neun Kirchen und vier Filialkirchen vor. Die Kirche St. Raphael wurde profaniert und einem anderen Nutzungszweck zugeführt, die Hl.-Kreuz-Kirche wurde zur Auferstehungskirche mit Kolumbarium umgewidmet. Die drei Pfarrgemeinden sind St. Mariae Geburt mit 14.964 Katholiken, St. Barbara mit 15.445 Katholiken und St. Mariä Himmelfahrt mit 15.361 Katholiken (Stand 31. Dezember 2019). Ferner gibt es in Mülheim Gemeinden, die zu Freikirchen gehören: die Siebenten-Tags-Adventisten (STA), drei Evangelisch-Freikirchliche Gemeinden (Baptisten), die Evangelisch-methodistische Kirche und die Freie evangelische Gemeinde (FeG). Eine besondere Bedeutung als Gründungsort hat die Stadt für einen pfingstlerisch geprägten Freikirchenverband: Der 1905 gegründete Mülheimer Verband Freikirchlich-Evangelischer Gemeinden führte Anfang des 20. Jahrhunderts von Mülheim aus zu einer großen nationalen Erweckung, in dessen Zuge sich die Christus Gemeinde Mülheim als erste Pfingstkirche in Deutschland gründete. Daneben sind in Mülheim an der Ruhr auch die Neuapostolische Kirche und weitere christliche Gemeinschaften wie die Zeugen Jehovas oder die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (auch „Mormonen“ genannt) vertreten. Judentum Über 500 Jahre lebten Juden in Mülheim an der Ruhr, oft als geduldete Minderheit, die für ihre Duldung hohe Abgaben zu zahlen hatten und nur zeitweise freie und angesehene Mitbürger waren. Zu Beginn der 1930er-Jahre gehörten rund 650 Mülheimer dem jüdischen Glauben an, die sich in zwei Synagogen zum gemeinsamen Gebet trafen. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten im März 1933 führte zu offenem Antisemitismus. Der Druck, der auf jüdische Geschäftsleute ausgeübt wurde, führte schnell zu ersten Geschäftsschließungen, zur täglichen Bedrohung in der Öffentlichkeit und am Arbeitsplatz, in Schulen und Vereinen und zu ersten Emigrationen. Zwischen 1933 und 1936 wanderten rund 200 jüdische Mitbürger aus, darunter nur wenige der alteingesessenen jüdischen Mülheimer, die sich zu diesem Zeitpunkt trotz aller Schikanen noch sicher fühlten. 1938 war die jüdische Bevölkerung durch erste Deportationen und die Auswanderungen auf die Hälfte geschrumpft. Die große Synagoge am Viktoriaplatz (seit 2009: Synagogenplatz) wurde 1938 zerstört und 1939 abgerissen – das Grundstück musste aus Geldmangel und auf Druck der Stadt veräußert werden. Die Reichspogromnacht führte zu einer weiteren Verschlimmerung der Lage, und in den Folgejahren bis 1943/1944 wurden die in Mülheim noch lebenden Juden in mehreren Häusern gettoisiert und schubweise in die Konzentrations- und Todeslager verbracht. Im Jahr 2009 wurde vor dem Landgericht München II im Prozess gegen John Demjanjuk auch die Ermordung von Mülheimer Juden in Sobibor zur Anklage gebracht. Insgesamt emigrierten 233 Mülheimer Juden, meist nach Palästina oder nach Südamerika. Dem Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 1933–1945 zufolge wurden 255 jüdische Mülheimer ermordet, wobei die exakte Zahl wegen der über fünfzig unbekannten Schicksale höher liegen dürfte. Mehr als achtzig starben in Mülheim; einzelne entzogen sich durch Suizid der Demütigung, Verfolgung und Deportation. Nur 39 jüdische Mülheimer kehrten aus den Konzentrationslagern oder Verstecken zurück und die nach Mülheim zurückgekehrten Überlebenden des Holocaust gründeten zu Beginn des Jahres 1946 die Jüdische Gemeinde Mülheim, deren Vorsitzender bis 1968 Salomon Lifsches war. 1955 schloss sie sich mit der benachbarten Duisburger Gemeinde zusammen, und die Zahl der Mitglieder wuchs auf 83 an. 1960 konnte die Mülheimer Synagoge in der Kampstraße eingeweiht werden. Im Jahre 1968 vereinten sich die jüdischen Gemeinden in Mülheim, Duisburg und Oberhausen zu einer gemeinsamen Kultusgemeinde – der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen. In den 1990er Jahren wuchs die Zahl der Gemeindemitglieder durch die Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion auf über 2800 Mitglieder an und machte den Neubau einer Synagoge erforderlich. Gemeinsam einigten sich die Jüdische Gemeinde und die drei Städte Mülheim, Duisburg und Oberhausen auf den Neubau im Duisburger Innenhafen. Und seit Einweihung des neuen Gemeindezentrums der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen in Duisburg im Jahr 1999 ist dieser Ort mit Leben gefüllt. Es finden dort unter anderem Kulturveranstaltungen statt, so eine jährliche Jüdische Buchmesse sowie die Jüdischen Kulturtage im Rheinland. Auch das Engagement in der Familien- und Jugendarbeit ist im Gemeindezentrum mit dem Kinder- und Jugendzentrum Tikwatejnu beheimatet – Tikwatejnu ist Hebräisch und bedeutet übersetzt „Unsere Hoffnung“. Auch in Mülheim und Oberhausen sind Büros und Räumlichkeiten vorhanden, um auch hier vor Ort Familien- und Jugendarbeit leisten zu können. Islam In Mülheim gibt es mehrere islamische Gemeinden, insgesamt stellt die islamische Bevölkerung zwischen 8 % und 10 % der Gesamtbevölkerung und damit die drittgrößte Religionsgruppe der Stadt. Die türkische Fatih-Camii-Gemeinde verfügt über einen der größten islamischen Gebetsräume Deutschlands. Die arabische Islamische Gemeinde Mülheims sorgte im Jahre 2005 für überregionale Schlagzeilen, als die Pläne des Vereins bekannt wurden, das leerstehende Gebäude der Landeszentralbank zu erwerben. Obwohl der Abriss des bisherigen Gebetsraumes drohte, weil die Stadtverwaltung eine Straßenerweiterung plante, wurden die Umzugspläne in das gut gesicherte Bankgebäude von den Medien und der Politik abgelehnt. Erst nach langen Verhandlungen konnte dem Verein das ehemalige Haus der Wirtschaft zum Kauf angeboten werden. Die rund 280 Mitglieder finden in dem Haus, das im September 2006 eröffnet wurde, einen erheblich größeren Gebetsraum, eine Küche und verschiedene Unterrichtsräume. Politik und Verwaltung Sitz der bestimmenden politischen Institutionen, voran des Rates der Stadt und des Oberbürgermeisters, sowie der meisten Teile der Stadtverwaltung ist das in der Innenstadt gelegene Historische Rathaus. Die erste Verwaltung im modernen Sinne wurde 1808 eingerichtet, als Mülheim die Stadtrechte erhielt und die verwaltungstechnische Verantwortung den drei Munizipalräten und einem Bürgermeister auferlegt wurde. 1846 folgte die revidierte Städteordnung mit einem Magistrat und der Stadtverordnetenversammlung und ab 1851 galt die neue preußische Gemeindeordnung. An der Spitze der Stadt standen der Gemeindevorstand mit dem Bürgermeister und der Gemeinderat, ab 1856 der Magistrat mit dem Bürgermeister und die Stadtverordnetenversammlung (Rheinische Städteordnung). Ab 1895 trug das Stadtoberhaupt Mülheims meist den Titel Oberbürgermeister. Während der Zeit der Nationalsozialisten wurde der Oberbürgermeister von der NSDAP eingesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Militärregierung der Britischen Besatzungszone einen neuen Oberbürgermeister ein und führte 1946 die Kommunalverfassung nach britischem Vorbild ein. Danach gab es einen vom Volk gewählten Rat der Stadt, dessen Mitglieder als Stadtverordnete bezeichnet wurden. Der Rat wählte anfangs aus seiner Mitte den Oberbürgermeister als Vorsitzenden und Repräsentanten der Stadt, der ehrenamtlich tätig war und einen hauptamtlichen Oberstadtdirektor als Leiter der Stadtverwaltung. 1999 wurde diese Doppelspitze in der Stadtverwaltung abgeschafft. Seither ist der hauptamtliche Oberbürgermeister als Vorsitzender des Rates, Leiter der Stadtverwaltung und Repräsentant der Stadt tätig. Er wird – ebenfalls seit 1999 – direkt von der Mülheimer Bevölkerung gewählt. Seit 1975 das Stadtgebiet in die drei Stadtbezirke unterteilt ist, stellen diese je eine Bezirksvertretung mit einem Bezirksbürgermeister. Die Bezirksvertretung hat 19 Mitglieder und wird bei jeder Kommunalwahl (alle fünf Jahre) von der Bevölkerung des Stadtbezirks gewählt. Die Stadt gehört verwaltungstechnisch zum Regierungsbezirk Düsseldorf, Landschaftsverband Rheinland und Regionalverband Ruhr. Schulden Am 31. Dezember 2014 lagen die Verbindlichkeiten der Stadt bei 1.359 Millionen Euro. Unter Anrechnung der Aktiva im Stadthaushalt ergibt sich eine bilanzielle Überschuldung von 209 Millionen Euro. Für die städtische Kasse gilt seit 2010/11 das Haushaltssicherungskonzept. Im Dezember 2020 stieg die Verschuldung auf über 2.100 Millionen Euro. Bürgermeister und Oberbürgermeister seit 1808 Seit der Stadterhebung im Jahre 1808 hatten über zwanzig Personen das Amt des Bürgermeisters und Oberbürgermeisters inne. Die vollständige namentliche Liste mit den Daten zur Amtszeit befindet sich in der Liste von Persönlichkeiten der Stadt Mülheim an der Ruhr. Von herausragender Bedeutung für die Stadt waren die Amtszeiten von Christian Weuste (1822 bis 1847), Wilhelm Oechelhäuser (1852 bis 1856), Karl Obertüschen (1857 bis 1873) und Paul Lembke (1904 bis 1922). In den Jahren 1945 und 1946 wechselten die Bürgermeister an der Stadtspitze häufig. Die Oberbürgermeister wurden in diesen Nachkriegsjahren durch die Alliierten kommissarisch in das Amt eingesetzt. Neben dem früheren Bürgermeister Edwin Renatus Hasenjaeger, der von Oktober 1945 bis April 1946 amtierte, standen die vorherigen Beigeordneten Gustav Langweg und Werner Hoosmann sowie der spätere Stadtdirektor Josef Poell teilweise nur für wenige Tage an der Spitze der Stadt. Mit den ersten freien Kommunalwahlen im Herbst 1946 kam wieder eine gewisse Kontinuität in die Besetzung des Amtes und vor allem Heinrich Thöne prägte in seiner Amtszeit von 1948 bis 1969 das Bild der Stadt im Wiederaufbau. Von 2003 bis 2015 stand Dagmar Mühlenfeld an der Spitze der Stadtverwaltung. Am 21. Oktober 2015 übernahm Ulrich Scholten das Oberbürgermeister-Amt. Seit 7. Oktober 2020 ist Marc Buchholz Oberbürgermeister der Stadt Mülheim an der Ruhr. Oberstadtdirektoren 1946–1999 Stadtdirektor (seit 1999) Seit der Einführung der Eingleisigkeit, das heißt seit der Übertragung der Amtskompetenzen des Oberstadtdirektors auf den Oberbürgermeister, gibt es, wie in ganz Nordrhein-Westfalen, keinen Oberstadtdirektor mehr in Mülheim. Die Mülheimer Hauptsatzung sieht jedoch das Amt des Stadtdirektors vor. Dieser wird vom Rat der Stadt gewählt, ist als Beigeordneter bzw. Dezernent Mitglied des Verwaltungsvorstands und allgemeiner Vertreter des Oberbürgermeisters in dessen Funktion als Verwaltungschef. Von 1999 bis 2022 war Frank Steinfort (CDU) Stadtdirektor; sein Nachfolger ist seit September 2022 David Lüngen (CDU). Wahlergebnisse Nach der Stadtratswahl am 13. September 2020 gibt es im Stadtrat folgende Sitzverteilung (Stand: Oktober 2020). Der Rat der Stadt Mülheims hat seit seiner Konstituierung nach der letzten Kommunalwahl vom 13. September 2020 exklusive des Oberbürgermeisters 54 Mitglieder. Es hat sich ein Bündnis von CDU und Grünen gebildet. Wahlkreise Mülheim ist Teil des Landtagswahlkreises Mülheim I und des Landtagswahlkreises Essen I – Mülheim II. Landtagsabgeordnete für Mülheim sind die Sozialdemokratin Hannelore Kraft und Christian Mangen (FDP). Die Mülheimer Bundestagsabgeordneten sind Sebastian Fiedler (SPD) und wie in der Vorperiode Astrid Timmermann-Fechter (CDU). Wappen, Logo und Flagge Ehrenring und Ehrenspange der Stadt Mülheim tragen das Stadtwappen. Das sehr viel jüngere Logo wurde 1971 von dem Tengelmann-Designer Dieter Schnepper (1941–2020) entworfen und von dem Mülheimer Künstler Peter-Torsten Schulz umgesetzt. Es ziert seitdem alle städtischen Schilder und Briefbögen. Das doppelte M steht als symbolische Brücke, die sich in der Ruhr widerspiegelt. Die Flagge der Stadt Mülheim an der Ruhr ist gelb-rot, was die Farben der Herren von Broich im Mittelalter waren. Der Wahlspruch der Stadt lautet Mölm boven aan! Der aus dem Mölmsch Platt stammende Spruch ist wörtlich mit Mülheim oben an übersetzt und bedeutet sinngemäß eher Mülheim nach vorn! oder Mülheim kommt!. Städtepartnerschaften Mülheim an der Ruhr unterhält Städtepartnerschaften mit folgenden Städten: Eine Patenschaft bestand von 1967 bis 2005 mit dem Schnellboot S70-Kormoran der Bundesmarine; eine solche besteht seit 1998 zum Jumbo-Jet Boeing 747-400 Mülheim an der Ruhr (Registriernummer D-ABVO) der Deutschen Lufthansa. Der Jumbo-Jet ist auf dem Flughafen Frankfurt Main stationiert. Seit dem 30. September 2004 hat die Stadt Mülheim an der Ruhr eine Patenschaft über den gleichnamigen ICE der Deutschen Bahn AG übernommen. Kultur und Sehenswürdigkeiten Neben den bildenden Künsten und Theater gibt es in Mülheim eine lebendige Musikszene. Künstler wie Helge Schneider, Christoph Schlingensief, Dore O. und Bands wie Sondaschule, Bluttat, Die Lokalmatadore, Die Ruhrpottkanaken, Bohren & der Club of Gore sind auch über Mülheim hinaus bekannt. Das Mölmsch Platt als örtlicher Dialekt ist in seiner Bedeutung fast untergegangen. Diese bergische Mundart wird nur noch von wenigen älteren Mülheimern in ihren Heimatgruppen gesprochen. Hingegen ist am Martinstag das mölmsche Heischelied Ssinter Määtes Vöögelsche noch vielfach zu hören. Umgangssprachlich spricht man heute in Mülheim ein Mölmsches Hochdeutsch, das viele niederrheinische Elemente und Worte umfasst, und sich vom Ruhrdeutschen unterscheidet. Erhalten geblieben sind die typisch mölmschen Spezialitäten: Endivien dore-in (Endivien untereinander) mit Panhas, Steelmoos (Stielmus) und Ssuure Kappes mit witte Boahne (Sauerkraut mit weißen Bohnen). Das Echt Mölmsch, eine mit dem Kölsch vergleichbare Mülheimer Bierspezialität, die von 1995 an einige Jahre lang nicht mehr gebraut wurde, wird seit 2008 jedoch wieder hergestellt. Im Debütfilm Pottkinder – ein Heimatfilm des Mülheimer Regisseurs und Drehbuchautors Alexander Waldhelm sind Eigenheiten der Mülheimer in ihrer Umgebung dargestellt. Theater Das Theater an der Ruhr wurde 1980 von Roberto Ciulli, Gralf-Edzard Habben und Helmut Schäfer gegründet. Die Schauspielbühne befindet sich im Gut Raffelberg und zählt durch ihre überregionale Bekanntheit zu den wichtigsten Kultureinrichtungen der Stadt. Das Theater an der Ruhr ist seit seiner Gründung ein Modell, das die strukturellen Schwächen der Staats- und Stadttheater vermieden hat und seiner Flexibilität wegen ein Beispiel für moderne Kultureinrichtungen ist. Stark entwickelt sind die internationalen Beziehungen: So hat das Theater selbst in über dreißig Ländern weltweit gastiert und ähnlich viele Theater aus dem Ausland zu seinen Internationalen Theaterlandschaften eingeladen. 1999 war das Theater an der Ruhr das erste Theater aus dem Westen, das nach 1979 im Rahmen seines Projekts „Seidenstraße“ wieder in Teheran gespielt hat. Das Theater an der Ruhr ist regelmäßig Gastgeber des Theaterjugendclub-Festival Unruhr. Teil des Theater an der Ruhr ist seit 2013 die VolXbühne – Ensemble der Generationen am Theater an der Ruhr als Bürgerbühne für Mülheim und das Ruhrgebiet. Die Stadthalle ist Austragungsort für den jährlich seit 1976 im Mai/Juni stattfindenden Stücke-Wettbewerb. Im Rahmen der Mülheimer Theatertage entscheidet eine Jury über die Vergabe des Mülheimer Dramatikerpreises an neue Stücke in der Theaterwelt, wobei nur die Stücke selbst und nicht die Inszenierungen gewertet werden sollen. Der Wettbewerb trägt dazu bei, dass jedes Jahr mehrere Stücke – meist die Uraufführungen – aus sämtlichen Teilen des deutschsprachigen Theaterraums in Mülheim zu sehen sind. Mülheim verfügt zudem über eine Freilichtbühne, die 1936 eröffnet wurde und lange Zeit in Vergessenheit geriet, bevor im Jahre 2000 ein Förderverein die Wiederbelebung als Open-Air-Zentrum – insbesondere im Kontext der Kulturhauptstadt 2010 – initiierte. Das Kulturzentrum Ringlokschuppen ist ein Ort für Theater, Musik, Tanz, Performance und Lesung. Der Ringlokschuppen ist Spielstätte der großen Festivals im Ruhrgebiet, der RuhrTriennale, der Mülheimer Stücke und der Impulse. Die Theatergruppe für Senioren, Theater Mülheimer Spätlese, hat über dreißig aktive Mitglieder im Alter zwischen fünfzig und über achtzig Jahren. Das Ensemble hat zahlreiche Eigenproduktionen aufzuweisen. Landesweit beteiligt es sich an Festivals und lässt auswärtige Seniorentheater in der eigenen Spielstätte gastieren. Das „Mülheimer Backstein-Theater“ mit über achtzig Mitgliedern auf und hinter der Bühne veranstaltet jährlich mehrere Aufführungen im „Großen Kasino des Evangelischen Krankenhauses“. Museen Das Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr wurde im Jahr 1909 auf Initiative des Mülheimer Mäzens, Heimatforschers und Kunstsammlers Robert Rheinen (1844–1920) gegründet. Im Museum werden auch Kunstwerke aus der Sammlung des Mülheimer Nobelpreisträgers Karl Ziegler präsentiert. Gezeigt werden bedeutende Kunstwerke der Klassischen Moderne und der internationalen zeitgenössischen Kunst in wechselnden Einzel-, Gruppen- und Themenausstellungen. Glanzstücke der Sammlung sind Gemälde der Künstler Max Beckmann, Oskar Kokoschka, Karl Hofer, Hans Purrmann, Heinrich Campendonk, Erich Heckel, Alexej von Jawlensky, Otto Mueller, Karl Schmidt-Rottluff, Franz Marc, August Macke, Emil Nolde, Lyonel Feininger, Wassily Kandinsky, Paul Klee, Oskar Schlemmer und Max Ernst. Regelmäßige Ausstellungen mit dem Grafikbestand Ernst Barlach, Marc Chagall und vor allem Pablo Picasso (Suite Vollard). Im Jahr 2012 wurde das private Kunstmuseum „MMKM Museum Moderne Kunst Mülheim“ an der Ruhrstraße 3 gegründet. Gezeigt werden wechselnde Ausstellungen und die ständige Sammlung zeitgenössischer Kunst. Träger ist der Mülheimer Kunstverein und Kunstförderverein Rhein-Ruhr. Das Aquarius-Wassermuseum am Schloss Styrum rechnet zu den Ankerpunkten der Route der Industriekultur, deren Themenroute 12 die Höhepunkte der Industriekultur und -geschichte der Ruhrlandschaft verbindet. Das Haus Ruhrnatur in der Nähe der Ruhrschleuse wurde 1992 eingeweiht und beherbergt ein Museum, das die Flora und Fauna an und in der Ruhr zeigt. In einem Wasserturm in der Nähe des Ringlokschuppens wurde – ebenfalls 1992 – die größte begehbare Camera obscura der Welt eingerichtet, die an klaren Tagen interessante Aus- und Einblicke in die Stadt gibt. Seit September 2006 ist in den unteren Etagen des Wasserturms das Museum zur Vorgeschichte des Films eingerichtet, das sich mit zahlreichen Ausstellungsstücken der Frage widmet, „wie die Bilder laufen lernten.“ Im Oktober 2008 wurde im Kloster Saarn das Klostermuseum eröffnet, das die Geschichte des Lebens im Kloster und seiner Umgebung über einen Zeitraum von 1200 Jahren mit Fundstücken dokumentiert, die dort durch Ausgrabungen gewonnen wurden. Weitere Museen in Mülheim sind das im Jahr 2012 gegründete ZIMM-Zinnfigurenmuseum-Mülheim im Kulturpalais-Mülheim und das Büromuseum im Turm des Rathauses (geschlossen seit 2013 und im Depot eingelagert), das Leder- und Gerbermuseum angemietet in einer stillgelegten Lederfabrik und die Heimatmuseen im Tersteegenhaus und im Schloss Broich. Kulturzentren Im Kloster Saarn finden neben geistlichen Konzerten jährlich die Saarner Orgeltage mit international bekannten Interpreten statt. Auch als kultureller Treffpunkt mit Mal- und Fotokursen, Tanzveranstaltungen, Kindertheater, Jazz, Klassik und Folkmusik hat das Kloster Saarn eine besondere Bedeutung für die Stadt. Zu erwähnen ist auch der Bürgersaal mit Cafeteria, die umfangreiche Pfarr-Bibliothek und das Klostermuseum (s. u.). In der evangelischen Altstadtgemeinde mit der Petrikirche auf dem Kirchenhügel wirkten Gerhard Tersteegen und Siegfried Reda als Kirchenmusiker. Hier finden geistliche Orgel- und Chorkonzerte statt. Das Autonome Zentrum Mülheim ist ein seit 1998 selbstverwaltetes Jugendkulturzentrum, in dem Partys, Konzerte, Theateraufführungen und Workshops stattfinden. Neben einem Kneipenbetrieb und einem Internetcafé bietet es vielen lokalen und regionalen Gruppen von Antifa bis Zeche23 (CCC) einen Treffpunkt. Das Makroscope (Mülheim) in der Innenstadt ist eine weitere private Kulturinitiative in der Stadt. Nicht zuletzt sind auch in diesem Zusammenhang die Heinrich-Thöne-Volkshochschule, das Schloss Broich und der Ringlokschuppen zu nennen, ein soziokulturelles Zentrum in dem 1995 umgebauten ehemaligen Lokschuppen, in dem regelmäßig Konzerte, Kabarett, Theateraufführungen und andere Kulturveranstaltungen stattfinden und der außerdem eine Gastronomie beherbergt. Die drei Einrichtungen gruppieren sich – zusammen mit dem umgebauten ehemaligen Wasserturm (Camera Obscura) – um den oberen (westlichen) Teil des MüGa-Geländes. In der historischen Villa Artis, auch genannt Villa Schmitz-Scholl unmittelbar bei Ruhranlage und Ruhrpromenade befindet sich die „Galerie an der Ruhr / Kunsthaus Mülheim Ruhrstr. 3“ / Ruhr Gallery mit verschiedenen Ateliers. Einst wirkte hier die Gründerfamilie des Tengelmann-Gründers Wilhelm Schmitz-Scholl in der Ruhrstraße 3, später u. a. auch der Industrielle Carl Nedelmann. Heute befindet sich hier u. a. die Sammlung der Malerin Edith Polland-Dülfer, die Sammlung des flämischen Malers Fernand Luickx neben Werken von weiteren Kunstschaffenden, u. a. der Ruhrpreisträgerinnen und Ruhrpreisträger – Ruhrpreis für Kunst und Wissenschaft – „Bildende Kunst“. Ein weiteres Kunsthaus ist im Stadtteil Styrum geplant, in einem alten Schulgebäude, das demnächst außer Betrieb genommen werden soll. Die Alte Dreherei ist ein 1874 errichtete Industriegebäude, das als Baudenkmal der Industriekultur unter Denkmalschutz steht. Das innenstadtnahe Gebäude soll zu einem „Haus der Vereine“ mit einem Begegnungs- und Bildungszentrum, einer Ausstellungshalle und einem technisches Museum entwickelt werden. Bauwerke Die ältesten erhaltenen Bauwerke sind Schloss Broich und das Kloster Saarn. Nur noch einen Hauch von Beschaulichkeit der alten niederfränkischen Architektur bietet die Mülheimer Altstadt am Kirchenhügel, denn bis auf einige wenige Fachwerkhäuser rund um das Tersteegenhaus und die Petrikirche wurde die alte Bausubstanz zum großen Teil während des Zweiten Weltkriegs zerstört, zum Teil aber auch später abgerissen. Vom Krieg verschont blieb die historische Bebauung dagegen weitgehend in den östlichen Randbezirken der Altstadt und in den nobleren Wohngegenden hin zum Ruhrufer, wo die Häuser aus Gründerzeit und Jugendstil noch immer bildbestimmend sind. Neben der fast durchgängigen Bebauung mit Jugendstilhäusern an der Ruhrstraße, Friedrichstraße und der Kaiserstraße sowie ihren Seitenstraßen sind als Einzelgebäude die Villa Josef Thyssen an der Dohne und Haus Urge am Kahlenberg hervorzuheben. Am nördlichen Rand der Innenstadt befindet sich das Historische Rathaus, dessen Turm ein Wahrzeichen der Stadt ist. Der Wasserbahnhof mit seiner berühmten Blumenuhr liegt in Zentrumsnähe auf einer Insel im Fluss. Von hier fahren in den Sommermonaten die Schiffe der Weißen Flotte ruhraufwärts bis nach Kettwig und zum Baldeneysee in Essen. Das bis 2010 als Jugendherberge genutzte Gebäude am Kahlenberg eröffnete 1890 (Grundsteinlegung 1889) als Restaurant am Kahlenberg und wurde im Jahre 1952 zur Jugendherberge umgebaut. Der Jugendherbergsbetrieb ist seit Ende 2010 eingestellt und in dem denkmalgeschützten Gebäude wurden nach der Privatisierung Büroflächen und Luxuswohnungen errichtet. Weitere interessante Gebäude sind der Altenhof (Mülheim an der Ruhr)|Altenhof, der Bismarckturm, die Fabrikgebäude der Friedrich-Wilhelms-Hütte, die Alte Malzfabrik, die alte Kornbrennerei in Broich, die katholische Kirche St. Mariae Geburt und die Sankt-Laurentius-Kirche im Ortsteil Mintard. Sehenswert ist auch die Speldorfer Kirche und die historische Bebauung im Stadtteil Saarn. Im Ortsteil Heißen befinden sich die unter Denkmalschutz stehende Bergarbeitersiedlung Mausegatt und das RheinRuhrZentrum, bei seiner Errichtung Deutschlands größtes überdachtes Einkaufszentrum. Als technisches Bauwerk besonders zu erwähnen ist die Ruhrtalbrücke, die seit 1966 das Ruhrtal in Mintard überspannt. Mit 1.830 Metern Länge ist sie die längste Stahlbrücke Deutschlands. Denkmäler und Kunst Siehe: Liste von Kunstwerken im öffentlichen Raum in Mülheim an der Ruhr Parks, Grünflächen und Wälder Gemäß Landschaftsplan der Stadt Mülheim waren im Jahr 2001 rund 49,7 % des Stadtgebietes Wasser- und Grünflächen (Wasser 2,5 %, Wald 17,2 %, Grünanlagen 4,8 %, Landwirtschaft 24,2 %, Friedhöfe 1 %). Von den Grünflächen stehen 19 Gebiete mit insgesamt 1191,6 ha unter Naturschutz. Hierzu gehören insbesondere Teile der Saarn-Mendener Ruhraue (darin Kocks Loch) und der Seitentäler der Ruhr mit ihren Nebentälern (Siepen), wie Schmitterbachtal, Rossenbecktal, Forstbachtal, Rumbachtal, aber auch ein Teil des Hexbachtals (Zufluss zur Emscher), Gebiete um den Wambach (Zufluss zum Rhein), sowie das Winkhauser Bachtal. Das Hexbachtal konnte als Naherholungsgebiet und teilweise als Naturschutzgebiet erhalten werden, weil durch den Einsatz von Bürgern (Aktionsgemeinschaft A 31) im Jahre 1980 der Bau der Autobahn A 31 verhindert worden war. Die landwirtschaftlich genutzten Grünflächen sind durch Bauwünsche seitens der Eigentümer, verbunden mit lokalpolitischen Interessen (Einzelinteressen?) regelmäßig reduziert worden und werden es immer noch. Während im Mendener Süden im Jahre 2012 von Bürgern die Bebauung eines ökologisch wertvollen Areals verhindert werden konnte, befinden sich zurzeit (Februar 2013) zwei umstrittene Bebauungspläne oberhalb des Rumbachtals in der Offenlegung. Der Innenstadtpark „Ruhranlage“ wurde am rechten Ruhrufer 1897 vom Mülheimer Verschönerungsverein angelegt und bildet mit der Ruhrpromenade, der Schleuseninsel mit dem Wasserbahnhof und dem als Wasserwanderrastplatz gestalteten Stadthafen und den dort angesiedelten Museen Haus Ruhrnatur und den Baudenkmälern Villa Artis und Stammhaus der Casinogesellschaft einen beliebten Erholungsort. Die Mülheimer Gartenschau (MüGa) erstreckte sich, ausgehend von der Stadtmitte, entlang des linken Ruhrufers der Ruhr einige Kilometer sowohl in nördlicher als auch in südlicher Richtung. Für die Landesgartenschau im Jahr 1992 wurden im Wesentlichen zuvor industriell genutzte Flächen und Brachland umgewandelt. Auch nach dem offiziellen Ende der Gartenschau bildet das ehemalige MüGa-Gelände einen 66 Hektar großen stadtnahen Erholungsraum, der sich als kilometerlanger Grüngürtel entlang der Ruhr ausbreitet. Am rechten Ruhrufer befindet sich der Innenstadtpark „Ruhranlage“, der auch den Mülheimer Wasserbahnhof und die Ruhrpromenade mit einbezieht. An der Stadtgrenze zu Duisburg bildet der Broich-Speldorfer Wald, gemeinsam mit dem Duisburger Stadtwald, ein etwa 30 Quadratkilometer großes zusammenhängendes Waldgebiet im Grenzgebiet zwischen den Städten. Auf Mülheimer Seite umfasst der Wald eine Fläche von 1.627 Hektar, von denen rund 1000 Hektar in kommunalem Eigentum stehen und den Mülheimer Stadtwald bilden. Oberhalb des Kahlenbergs liegt jenseits der B 1 der Witthausbusch. Mülheims größte innerstädtische Parkanlage ist wegen ihrer vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten vor allem bei Sportlern, Familien und Kindern beliebt. In dem 1909 in Speldorf geschaffenen Raffelbergpark befand sich bis 1992 ein Solebad mit Kureinrichtungen. Der denkmalgeschützte Altstadtfriedhof mit seinen Grabmalen einfacher Bürger, städtischer und kirchlicher Oberen und Unternehmerfamilien ist ein wichtiges Zeugnis der Mülheimer Stadtgeschichte und Dokument historischer Begräbniskultur. Südwestlich davon und direkt angrenzend liegt ein Park, dessen Herzstück die Freilichtbühne Mülheim an der Ruhr bildet. Er ist gekennzeichnet durch alten Baumbestand, große Wiesen und kleine, zum Teil versteckt gelegene Gärten. Trotz der stadtnahen Lage hat sich der Park seine naturbelassene Atmosphäre bewahrt. Regelmäßige Veranstaltungen Die größte alljährlich wiederkehrende Veranstaltung ist die Mölmsche Kirmes (früher Saarner Kirmes), die in der ersten Juliwoche stattfindet. Überregionaler Bekanntheit erfreuen sich die Saarner Orgeltage und das Mitte Juni stattfindende Mülheimer Jazzfestival auf mehreren Bühnen in der Innenstadt sowie Burgfolk und Castlerock auf Schloss Broich. Neben den Theaterstücken sind ein weiterer kultureller Höhepunkt die Weißen Nächte im Raffelbergpark. An mehreren Abenden spielt das Theater an der Ruhr kostenlos unter freiem Himmel seine bekanntesten Stücke. Die Mittwochsreihe in der Freilichtbühne Mülheim an der Ruhr hat sich zu einem beliebten Veranstaltungstipp in der Ruhrgebietsszene entwickelt. Unter dem Motto „Kultur aus dem Hut“ veranstaltet der Verein Regler Produktion von Mai bis September an einem jeden Mittwoch akustische Live-Konzerte mit regionalen und internationalen Musikern bei freiem Eintritt. Die Ruhr ist Austragungsort für das jährliche Drachenbootfestival, das mit bis zu 15.000 Besucher zu den größten Funsportregatten Europas zählt und für die seit 1910 stattfindenden Jugendfestspiele Voll die Ruhr. Rund um das Styrumer Freibad und das Ruhrstadion wird seit 2007 der Ruhr Reggae Summer veranstaltet, bei dem über 10.000 Fans für drei Tage in den Ruhrauen zelten und feiern. Einmal im Jahr findet zum Weltkindertag auf dem Gelände der MüGa ein großes Kinderfest statt an dem sich viele freie Träger beteiligen. Am letzten Sonntag in den Sommerferien gibt es im Witthausbusch ein Ferienabschlussfest mit vielen Angeboten für Groß und Klein. Am 6. Dezember findet in Saarn der Nikolausmarkt statt, für den regelmäßig die Haupteinkaufsstraße in diesem Stadtteil in voller Länge gesperrt wird. Sport Die Aktivitäten der Mülheimer Sportvereine bündeln sich im Mülheimer Sportbund a. d. Ruhr e. V., der wiederum dem Landessportbund Nordrhein-Westfalen e. V. angeschlossen ist. Er ist die unabhängige Gemeinschaft der Sportvereine, die ihren Sitz in Mülheim an der Ruhr haben. Sportvereine Der erfolgreichste Sportverein in Mülheim ist der Hockey- und Tennisclub Uhlenhorst e. V. Der Traditionsverein ist einer der bedeutendsten Hockeyclubs in Europa. Seit 1950 wurden 18 deutsche Meisterschaften auf dem Feld und eine Meisterschaft in der Halle errungen. Dazu kamen neun Europapokalsiege der Landesmeister in Folge zwischen 1988 und 1996 – ein Serienerfolg, den vorher noch keine andere Mannschaft in diesem Wettbewerb geschafft hatte. Mit dem Rücktritt von Carsten Fischer verlor der HTCU 1997 seinen wohl bekanntesten Spieler. Er war zu diesem Zeitpunkt mit 259 Länderspielen für Deutschland und 154 Toren Rekordhalter in der deutschen Hockey-Torschützenliste. Eine weitere Mülheimer Traditionssportart ist der Rudersport. Der Wassersportverein Mülheim und die Mülheimer Rudergesellschaft bilden zusammen die Renn-Ruder-Gemeinschaft Mülheim/Ruhr. Die Ruderer haben schon mehrfach international für Aufsehen gesorgt. So konnte der RRGM-Ruderer Tim Wooge drei Mal beim legendären Boat Race zwischen Oxford und Cambridge als Schlagmann brillieren. Mark Kleinschmidt konnte dagegen bei den Olympischen Sommerspielen 1996 in Atlanta Silber im Deutschland-Achter gewinnen. Zudem gehen zahlreiche Titel bei deutschen Meisterschaften, aber auch bei Europameisterschaften und Weltmeisterschaften auf das Konto von RRGM-Ruderern. Der Mülheimer Bundesligaachter rudert zudem in der 1. Ruder-Bundesliga. Im Fußball war der 1. FC Mülheim in der Vergangenheit überregional erfolgreich. Er war in den Jahren 1952, 1953, 1971 und 1972 Niederrheinmeister, spielte von 1972 bis 1974 in der Regionalliga und von 1974 bis 1976 in der Zweiten Bundesliga. Die bekanntesten Spieler waren Holger Osieck, der heute als Trainer arbeitet und Norbert Eilenfeldt, der später bei Arminia Bielefeld, dem FC Schalke 04 und dem 1. FC Kaiserslautern spielte. Im Jahr 1956 stand der VfB Speldorf im Berliner Olympiastadion im Finale um die deutsche Amateurmeisterschaft gegen die Spvgg. 03 Neu-Isenburg. Das Spiel ging 2:3 verloren. Zur damaligen Zeit waren einige Speldorfer Spieler wie Theo Klöckner und Helmut Hirnstein bis weit über die Stadtgrenzen Mülheims hinaus bekannt. Derzeit erfolgreichster Fußballverein der Stadt ist der Mülheimer FC 97, welcher seit der Saison 2023/2024 in der Oberliga Niederrhein spielt. Der Verein trägt seine Spiele im Ruhrstadion aus, in welchem seinerzeit auch der 1. FC Mülheim in der Zweiten Bundesliga seine Heimspiele austrug. Einen einmaligen Mannschaftsrekord brachten die Handballerinnen des Rasensportvereins Mülheim e. V. zwischen 1980 und 2000 zustande. Sie sind die einzige Mannschaft im Deutschen Handballbund, deren Mitglieder zwanzig Jahre von der Jugend bis zu den Senioren ohne Änderung ununterbrochen zusammen in einem Verein spielten. Im Boxsport wurde der BC Ringfrei Mülheim 1979 und 1982 Deutscher Meister. In dieser Zeit boxte der Siegener Schwergewichtler und 16-fache Deutsche Meister Peter Hussing für den Verein. Der Schachverein SV Mülheim-Nord spielt zurzeit (2013/14) seine zehnte Saison in der Schachbundesliga. Im Jahr 2004 war der Aufstieg in die höchste deutsche Spielklasse gelungen. Mülheim ist eine Hochburg des Badminton in NRW und verfügt über einige erfolgreiche Badmintonvereine, wie den TSV-Viktoria Mülheim oder den 1. BV Mülheim, der zwischen 1968 und 1980 dreizehn Mal in Folge deutscher Mannschaftsmeister war. Auch ist der Bundesstützpunkt für die Disziplinen Dameneinzel und Damendoppel hier angesiedelt. In den Jahren 1980 bis 1982 und wieder seit 2005 ist die Stadt Austragungsort der jährlichen German Open. Darüber hinaus hat der Deutsche Badminton-Verband seinen Sitz ebenfalls in Mülheim. Der Post SV Mülheim war mit seiner Tischtennis-Herrenmannschaft mehrere Jahre in der Bundesliga vertreten. Mit Ausnahme der Spielzeiten 1988/89 und 1991/92, in denen das Team in die Zweite Bundesliga abgestiegen war, spielten sie von 1987 bis 1998 in der Ersten Bundesliga. Danach zog sich der Verein aus der Bundesliga zurück. Zu den ältesten Sportvereinen der Stadt gehört der Rad-Club Sturmvogel von 1898 e. V. Mülheim an der Ruhr. 1940 sorgte das Nachwuchstalent Friedel Greiner für Schlagzeilen, als er zusammen mit Willi Schertle Deutscher Meister im Tandemrennen wurde. Sportanlagen Mülheim besitzt eine Vielzahl an Sportanlagen, darunter 127 Tennisplätze, 48 Sportplätze, zehn Sporthallen und 39 Turnhallen. Rennbahn Raffelberg Im Stadtteil Speldorf an der Grenze zu Duisburg in der Nähe des Autobahnkreuzes Duisburg-Kaiserberg liegt die Galopprennbahn Raffelberg des Mülheimer Rennvereins. Sie wurde im Jahr 1910 gegründet und ist damit die älteste Sportstätte Mülheims. Bis zum Jahr 2003 wurde hier der Preis der Diana, das Deutsche Stutenderby, ausgetragen. Der dortige Rennverein wurde 2017 neugegründet und die Anlage daraufhin in dessen Verantwortung übergeben. Ruhrstadion Das Ruhrstadion im Stadtteil Styrum, direkt zwischen der A 40 und den Bahngleisen Richtung Duisburg gelegen, ist Mülheims größter Sportplatz. Das Stadion wurde 1925 erbaut. Es hatte eine Aschenbahn und ein Rasenspielfeld. Im Jahr 1974 wurde an einer Geraden eine überdachte Tribüne mit 2000 Sitzplätzen gebaut. Hier fanden in den siebziger Jahren die Spiele des 1. FC Mülheim in der Regionalliga (1972–1974), später in der zweiten Liga (1974–1976) statt. Das Fassungsvermögen betrug zu dieser Zeit 20.000 Plätze. Ausverkauft war das Stadion allerdings nie. In den 1990er Jahren drohte es zu verfallen und wurde renoviert. Die Stehränge in den Kurven wurden beseitigt und nur auf der Gegengerade einige Stehtraversen gebaut. Es fasst 6000 Zuschauer und war Austragungsort der Heimspiele des Landesligisten Galatasaray Mülheim. Es wurde bis zur Saison 2010/11 modernisiert, die Aschenbahn wurde beseitigt und ein Kunstrasen verlegt. Seitdem finden dort die Heimspiele des Niederrheinligisten VfB Speldorf statt. Direkt daneben befindet sich Mülheims größtes Freibad, das im Jahre 2006 als Naturbad neu eröffnet wurde. Westenergie Sporthalle Die Sporthalle wurde nach einer Bauzeit von 19 Monaten im Februar 2005 als RWE Sporthalle offiziell eröffnet. Sie steht an derselben Stelle wie die alte Sporthalle an der Carl-Diem-Straße (Entwurf: Heinz Goesmann 1969), die Fläche von 31 × 57,50 m kann in vier separate Spielfelder unterteilt werden. Für Publikumsveranstaltungen stehen bis zu 3000 statt zuvor 1100 Plätze zur Verfügung. Die erste Großveranstaltung in der neuen Halle waren die German Open Badminton Championships im März 2005, die auch in den folgenden Jahren hier ausgetragen werden. 2008 und 2009 fand hier der DFB-Futsal-Cup statt. Ab September 2016 firmierte sie unter dem Namen innogy Sporthalle, seit Oktober 2020 als Westenergie Sporthalle. Verkehr und Infrastruktur Nach einer im Jahre 2003 von der Europäischen Kommission im Rahmen des Projektes Urban Audit II (Lebensqualität in den Regionen Europas) erhobenen Studie, die sich mit der Erreichbarkeit von 258 Städten aus den 25 EU-Staaten beschäftigte, belegte Mülheim an der Ruhr nach Frankfurt am Main, Düsseldorf, Darmstadt und Mainz den fünften Platz und liegt damit auf dem gleichen Rang wie Brüssel und Paris. Schienen- und Busverkehr Mülheim wurde 1862 durch die Ruhrgebietsstrecke Witten/Dortmund–Oberhausen/Duisburg der Bergisch-Märkischen Eisenbahn-Gesellschaft an das Bahnnetz angeschlossen. Der heutige Hauptbahnhof ist Regional- und S-Bahnhof, des Weiteren halten einige Fernverkehrszüge. Daneben gibt es mit Mülheim-Styrum und Mülheim West zwei weitere Bahnhöfe, die im S-Bahn-Verkehr bedient werden; in Styrum halten zusätzlich Regionalzüge der Linien RB 33 und RE 49. Im Schienennahverkehr verkehren ab Hauptbahnhof Regional-Express-, Regionalbahn- und S-Bahn-Linien in Richtung der Rheinschiene (Düsseldorf, Köln, Aachen), dem Niederrhein (Krefeld und Mönchengladbach), dem östlichen Ruhrgebiet (Dortmund und Hamm) sowie Westfalen (Münster, Bielefeld, Soest und Paderborn). Auch Osnabrück wird direkt erreicht. Siehe dazu die Liste der SPNV-Linien in Nordrhein-Westfalen. Den Schienenpersonennahverkehr (SPNV) betreiben DB Regio NRW und Abellio RailIm Fernverkehr bestehen umstiegsfreie IC/EC-Verbindungen von/nach Aachen, Berlin, Innsbruck, München, Oberstdorf und Stuttgart. (Stand: 09/2014) Im Straßenpersonennahverkehr verfügt Mülheim über ein Netz von Stadtbahnen, Straßenbahnen und Stadtbuslinien der Ruhrbahn. Die Ruhrbahn entstand 2017 aus der MVG (Mülheimer Verkehrsgesellschaft) und der EVAG (Essener Verkehrs AG). Es bestehen Straßenbahnverbindungen nach Essen, Oberhausen und Duisburg, eine Stadtbahnverbindung nach Essen sowie verschiedene Busverbindungen nach Essen, Oberhausen, Ratingen und Düsseldorf. Für den gesamten Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) gilt der Tarif des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr (VRR) und tarifraumüberschreitend der NRW-Tarif. Siehe auch: Straßenbahn Mülheim/Oberhausen, Ruhrbahn, S-Bahn Rhein-Ruhr, Stadtbahnnetz Rhein-Ruhr Flugverkehr Im Südosten an der Grenze zu Essen liegt der Verkehrslandeplatz Essen/Mülheim. Im Jahre 1935 wurde er als Zentralflughafen für das Ruhrgebiet ausgebaut und es wurden Flüge in viele europäische Großstädte angeboten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Platz als Reparaturflughafen der Alliierten genutzt, da er – im Gegensatz zum Düsseldorfer Flughafen – meist nebelfrei ist. Der Düsseldorfer Flughafen wurde dennoch zum Zentrum der zivilen Luftfahrt in Nordrhein-Westfalen. Bekanntheit erlangte der Flugplatz durch die Prallluftschiffe der WDL Luftschiffgesellschaft, die hier gefertigt und zu Rundflügen und Werbezwecken eingesetzt werden. Daneben werden sie intensiv für Ausbildungsflüge verschiedener Flugschulen wie beispielsweise der Fachschule für Luftfahrzeugführer (FFL) genutzt. Zusätzlich ließ Air Berlin durch die TFC Flugbetrieb und -technik Beratungsgesellschaft mbH ihre angehenden Piloten ausbilden. Straßenverkehr Das Stadtgebiet wird umrahmt von drei Autobahnen. Im Norden verläuft mit der A 40, die von Duisburg nach Dortmund führt, die Schnellstraße mit einem der höchsten Verkehrsaufkommen (>130.000 Kfz/Tag) in Deutschland. Die Anschlussstellen hier sind: Mülheim an der Ruhr, MH-Styrum, MH-Dümpten, MH-Winkhausen, MH-Heißen und MH-Heimaterde Die A 52 von Essen nach Düsseldorf verläuft im Mülheimer Südosten und quert mit der Mintarder Brücke die Ruhr. Im Westen des Stadtgebiets verbindet die A 3 die Autobahnknotenpunkte Kreuz Kaiserberg, im Ruhrgebiet auch „Spaghettiknoten“ genannt, und das Kreuz Breitscheid. Die B 1 durchmisst das gesamte Stadtgebiet von Südwesten nach Nordosten. Südlich der Ruhr hat diese Bundesstraße den Beinamen Caravanstraße erhalten. Mehr als 25 Händler offerieren Wohnmobile, Mobilheime, Gartenhäuser, Caravane und Artverwandtes. Die B 223 zweigt von der B 1 ab und führt unter Durchquerung der Innenstadt nach Oberhausen. Der Radschnellweg Ruhr führt auch durch Mülheim. Schifffahrt Mülheims Rhein-Ruhr-Hafen ist neben dem Dortmunder und Duisburger Hafen einer der leistungsfähigsten Häfen des Ruhrgebietes. Er hat eine Wasserfläche von 86.000 Quadratmetern, eine ausgebaute Uferlänge von 3,1 Kilometern und ist über die untere Ruhr mit den Duisburg-Ruhrorter Häfen, dem Rhein-Herne-Kanal und dem Rhein verbunden. Auf der Ruhr besteht vom Frühling bis zum Herbst ein fahrplanmäßiger Linienverkehr zwischen dem Mülheimer Wasserbahnhof und Essen-Kettwig. Wirtschaft Allgemeines Die Wirtschaft der Stadt war immer gekennzeichnet durch den Schnittpunkt der Ruhr mit dem Hellweg und entsprechend lag und liegt die Ausrichtung der Wirtschaft auf dem Handel und dem Dienstleistungssektor. So verlief die wirtschaftliche Entwicklung Mülheims zu Beginn der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert durch die günstige Verkehrslage völlig anders als in den übrigen Ruhrgebietsstädten. Die Ruhr, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts der meist befahrene deutsche Fluss, war die Grundlage für ersten Wohlstand und rasches Wachstum. Neben der Lederindustrie, die sich mit ihren Gerbereien am linken Flussufer niederließ, folgten im Zuge der erblühenden Ruhrschifffahrt mit ihrem Kohlenhandel die ersten unternehmerisch geführten Zechen im Ruhrgebiet. Doch Mülheim war auch die erste Stadt im Ruhrgebiet, in der Kohleförderung und Stahlproduktion für immer beendet wurden. Die traditionelle Ausrichtung als Handelsstandort und die verkehrsgünstige Lage im Zentrum der Region Rhein-Ruhr, verbunden mit der guten Infrastruktur, führten zu einer breiten und branchenvielfältigen Wirtschaftsstruktur. Im Jahre 2016 erbrachte Mülheim an der Ruhr, innerhalb der Stadtgrenzen, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 5,646 Milliarden €. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 33.188 € (Nordrhein-Westfalen: 37.416 € / Deutschland 38.180 €) In der Stadt gibt es 2017 ca. 81.600 erwerbstätige Personen. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 6,9 % und damit leicht über dem Durchschnitt von Nordrhein-Westfalen mit 6,4 %. Ansässige Unternehmen Mülheim gilt als ein Zentrum des deutschen Lebensmittel-Einzelhandels, denn Aldi Süd hat und die Tengelmann-Holding hatte hier ihren Sitz. Von 1953 bis 2018 hatte eine der größten Energieeinkaufsgenossenschaften Deutschlands, die Gesellschaft für Stromwirtschaft e.G. (GfSt) ihren Verwaltungssitz in dem von ihr errichteten denkmalgeschützten Verwaltungsgebäude an der Delle 50–52. Die Genossenschaft berät heute mit Sitz in Düsseldorf energieintensive Unternehmen bei der Beschaffung von Strom und Erdgas. Die ehemalige Kraftwerk Union (KWU), gegründet durch die Siemens AG und AEG 1969, heute Siemens Energy hat in Mülheim große wirtschaftliche Bedeutung. Nachdem sowohl die KWU als auch die Mannesmannröhren-Werke Schrumpfungsprozessen unterworfen waren, hat sich auf den frei gewordenen Flächen neben dem Siemens Technopark ein Gewerbegebiet mit Ausrichtung auf Logistik angesiedelt. 2021 verlegte ein weiteres Unternehmen des Anlagenbaus seinen Sitz nach Mülheim, die Standardkessel Baumgarte GmbH. Bis zur Übernahme durch die Vodafone AG im Januar 2000 waren die Mannesmannröhren-Werke AG einer der größten Arbeitgeber in Mülheim. Zu Hochzeiten, Anfang der 1970er Jahre, waren hier bis zu 12.000 Menschen beschäftigt. Heute gehören die Mannesmannröhren-Werke zur Salzgitter AG, ebenso wie das Grobblechwerk. Das Großrohrwerk gehört nun der Europipe GmbH, einem Joint Venture von Salzgitter AG und Dillinger Hütte. Das Kontiwalzwerk wird von Vallourec & Mannesmann Tubes betrieben, einer Tochter der Vallourec Gruppe. Weitere Montanunternehmen, die nach umfangreichen Umstrukturierungsmaßnahmen ihren Platz behaupten konnten, sind die Firmen Thyssen Schachtbau, ein Unternehmen des Bergbaus (Bohrungen, Schachtbauten und Betrieb von Bergwerken), die Friedrich-Wilhelms-Hütte, die Pfeiffer Drako GmbH und die Vesuvius GmbH. Die Aon Jauch & Hübener GmbH, Tochter der US-amerikanischen Aon Corporation, hat ihre NRW-Niederlassung in Saarn und die in Mülheim ansässige Rheinisch-Westfälische Wasserwerksgesellschaft (RWW) versorgt seit 1912 ein Gebiet mit über einer Million Kunden, das von der holländischen Grenze im Norden bis ins Bergische Land im Süden reicht. Das zu Thyssen-Krupp gehörende Presta-Werk produziert in Saarn Lenksysteme und hat etwa 300 Mitarbeiter. Weitere mittelständische Industrieunternehmen sind die Wernert-Pumpen GmbH und die Siebtechnik GmbH. 2022 verlagerte die Pitstop Werkstattkette GmbH ihren Sitz nach Mülheim. Gegründet 1965 und erster Sitz im Hause der Mülheimer Gesellschaft für Stromwirtschaft und in der Villa Schmitz-Scholl als Syntana Handelsgesellschaft E. Harke GmbH & Co. KG (Chemikalien für unterschiedlichste Anwendungen) ist die Harke Group heute ein international agierender Vermarkter und Distributor und erschließt globale industrielle Absatz- und Beschaffungsmärkte für ihre Kunden und Lieferanten. Darüber hinaus bietet die Unternehmensgruppe damit verbundene Lohnabfüllung und -produktion sowie umfangreiche Service-Dienstleistungen u. a. auf den Gebieten Biowissenschaften und des Chemikalien-Vertriebs an. Die größte Non-Profit-Organisation Mülheims befindet sich in Selbeck. Die Theodor Fliedner Stiftung errichtete in den Jahren seit 1987 „Das Dorf“ – eine Wohnanlage, in der 600 alte und junge Menschen mit und ohne Behinderung zusammenleben. Forschung und Bildung Das Max-Planck-Institut für Kohlenforschung gehört zu den ältesten Forschungseinrichtungen seiner Art. Die 1912 für die Kohlenforschung gegründete Einrichtung war das erste Kaiser-Wilhelm-Institut außerhalb Berlins. Ihr Direktor war seit 1943 Karl Ziegler, dem 1963 für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Polymere der Nobelpreis für Chemie verliehen wurde. Im Jahr 2021 wurde Benjamin List „für die Entwicklung der asymmetrischen Organokatalyse“ gemeinsam mit David MacMillan der Nobelpreis für Chemie zuerkannt. Benjamin List ist damit der zweite Nobelpreisträger für Chemie am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr. List ist seit 2023 Ehrenbürger der Ruhrtalstadt Mülheim. Das Max-Planck-Institut für bioanorganische Chemie ist jünger. Es wurde 1958 errichtet und trug bis zum 5. Juni 2003 den Namen Max-Planck-Institut für Strahlenchemie. Mitte 2012 wurde es neu ausgerichtet und trägt seitdem den Namen Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion. Die Stadt Mülheim an der Ruhr ist „Korporativ Förderndes Mitglied“ der Max-Planck-Gesellschaft. Das IWW Zentrum Wasser (eigentlich: Rheinisch-Westfälisches Institut für Wasserforschung) ist ein Wasserforschungsinstitut in Mülheim an der Ruhr und ein An-Institut der Universität Duisburg-Essen. Seit 1986 betreibt es interdisziplinäre, nationale und internationale Forschung im Wasserfach. Das Tätigkeitsspektrum reicht von der Grundlagenforschung bis zur praxisnahen Anwendungsentwicklung, wobei die Schwerpunkte auf angewandter Forschung, praxisorientierter Beratung, Weiterbildung und Wissenstransfer liegen. Im Herbst 2008 beschloss die NRW-Landesregierung die Gründung der Hochschule Ruhr West, die ihren Hauptstandort in Mülheim und eine Dependance in Bottrop hat. Im Wintersemester 2009 begannen am Standort Mülheim die ersten 250 Studierenden ihr duales Studium mit ingenieurwissenschaftlicher Ausrichtung – zunächst noch in behelfsmäßigen Interimsgebäuden im Siemens-Technologiepark. Die neu zu errichtenden Gebäude der Fachhochschule entstand auf der westlichen Ruhrseite im Stadtteil Broich. Der Campus wurde am 6. Juni 2016 offiziell eröffnet und dazu wurde am 11. Juni zu diesem Anlass ein großes Campusfest veranstaltet. In Mülheim gibt es 29 Grundschulen, vier Förderschulen, vier Hauptschulen und drei Realschulen (Realschule Broich, Realschule Stadtmitte und die Realschule an der Mellinghofer Straße). Dazu kommen insgesamt elf Schulen der Sekundarstufe II, darunter fünf Gymnasien (Karl-Ziegler-Schule, Otto-Pankok-Schule, Luisenschule, Gymnasium Broich, Gymnasium Heißen), drei Gesamtschulen, zwei Berufskollegs (darunter das Berufskolleg Stadtmitte) sowie die Waldorfschule in Heißen. Die Volkshochschule bietet über 770 Fortbildungskurse an, die von knapp 10.000 Teilnehmern wahrgenommen werden. In der städtischen Musikschule unterrichten fünfzig Voll- und Teilzeitlehrer fast 2.000 Schüler in musikalischer Früherziehung und Instrumentalkursen. Gesundheitswesen Zu den Kliniken zählt das St. Marien-Hospital und das Evangelische Krankenhaus. Inzwischen historisch ist die Augenheilanstalt Mülheim an der Ruhr. Medien Die großen überregionalen Zeitungen Westdeutsche Allgemeine Zeitung und Neue Ruhr Zeitung berichten über ihre jeweiligen Lokalredaktionen vom regionalen Geschehen in Mülheim. Von 1949 bis 1955 gab es das Mülheimer Tageblatt, das ab 1955 unter dem Titel Ruhrnachrichten herausgegeben und 1976 eingestellt wurde. Das Anzeigenblatt Mülheimer Woche, welches ausschließlich regionale Nachrichten bringt, wird kostenlos am Wochenende an alle Haushalte verteilt. Der Regionalsender Antenne Ruhr versorgte die beiden Städte Mülheim an der Ruhr und Oberhausen seit dem 1. September 1990 mit Unterhaltung und regionalen Neuigkeiten. Am 5. August 2007 wurde der Sender aufgeteilt und strahlt jetzt als Radio Mülheim und als Radio Oberhausen aus. Bekannte Söhne und Töchter der Stadt Zu den bekanntesten Mülheimern zählen die weltweit wirkenden Unternehmer und Industriellen Johann Dinnendahl (1780–1849), Mathias Stinnes (1790–1845), Carl Nedelmann (1867–1947), Hugo Stinnes (1870–1924), Fritz Thyssen (1873–1951) und Kurt Conle (1918–1966). Aus dieser Zeit ist auch der in Mülheim lebende und sich politisch engagierende spätere ADAV-Vorsitzende Wilhelm Hasenclever (1837–1889) zu nennen. Auch auf kulturellem und religiösem Gebiet brachte Mülheim eine stattliche Zahl von Persönlichkeiten hervor: den Prediger, geistlichen Dichter und Liederschreiber Gerhard Tersteegen (1697–1769), den Arzt und Schriftsteller Carl Arnold Kortum (1745–1824), den Schriftsteller und Lehrer Hermann Adam von Kamp (1796–1867), den Komponisten August Bungert (1845–1915), den Maler und Karikaturisten Hermann Haber (1885–1942), der im KZ Auschwitz ermordet wurde, den Maler und Bildhauer Otto Pankok (1893–1966) sowie die Maler Werner Gilles (1894–1961), Hermann Prüßmann (* 1899), der Autor und Maler Erwin Bowien (1899–1972), Heinrich Siepmann (1904–2002) und Daniel Traub (1909–1995). Schließlich sind auch die beiden Wissenschaftler und Direktoren des Max-Planck-Institutes für Kohlenforschung Franz Fischer (1877–1947) und der Nobelpreisträger Karl Ziegler (1898–1973) zu erwähnen. Bekanntere Persönlichkeiten der jüngeren Vergangenheit sind der Leiter der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Amsterdam“ Ferdinand aus der Fünten (* 1909), der sich am Holocaust beteiligte, der Kunstmäzen Udo van Meeteren (* 1926), der Bildhauer Ernst Rasche (1926–2018), die Künstlerin Edith Polland-Dülfer (1931–2018), der Showmaster Wim Thoelke (1927–1995), der Theatermacher Roberto Ciulli (* 1934), der Komponist und Kirchenmusiker Wolfgang Hufschmidt (1934–2018), der Jazzmusiker Helmut Schlitt (1934–2005), der Künstler Peter-Torsten Schulz (* 1944), die Autorin und langjährige NDR-Fernsehspielchefin Doris Heinze (* 1949), die sozialdemokratischen Politikerinnen Cornelia Rundt (* 1953) und Monika Griefahn (* 1954), der Lehrer und Verleger Matthias Koch (* 1943), der Entertainer Helge Schneider (* 1955), die ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (* 1961), die Fußballspieler Hans-Günter Bruns (* 1954) und Willi Landgraf (* 1968), der Historiker Alexander C. T. Geppert (* 1970), der Fußball-Torhüter André Lenz (* 1973), der Kabarettist René Steinberg (* 1973), die Hockeyspielerin Tina Bachmann (* 1978), Manuellsen (* 1979) Musiker und Rapper, der Pianist und Komponist Aris Alexander Blettenberg (* 1994) der Fußballspieler Marvin Schulz (* 1995), Medizinerin und Webvideoproduzentin Carola Holzner (* 1982), Rockmusiker und Filmemacher Andy Brings (*1971), sowie Nobelpreisträger für Chemie Benjamin List (*1968). Ehrenbürger Die Stadt Mülheim an der Ruhr hat seit 1880 vierzehn Personen zu Ehrenbürgern ernannt. Es handelt sich um den preußischen Feldpropst Peter Thielen (1880), den Mülheimer Reichstagsabgeordneten Friedrich Hammacher (1888), den Reichskanzler Otto von Bismarck (1895), den Großindustriellen August Thyssen (1912), die Mülheimer Oberbürgermeister Paul Lembke (1928) und Heinrich Thöne (1960), den Kreishandwerksmeister Max Kölges (1962), den Chemiker und Nobelpreisträger Karl Ziegler (1963), den langjährigen Vorsitzenden der örtlichen jüdischen Gemeinde Jacques Marx (2020) und den Chemiker und Nobelpreisträger Benjamin List (2023). Die Ehrenbürgerschaften von Paul von Hindenburg (1933), Adolf Hitler (1933), Emil Kirdorf (1935) und Adolf Wirtz (1941) wurden 1995 durch den Rat der Stadt Mülheim aberkannt. Zwischen 1963 und 2020 erfolgten keine Verleihungen. Stadtansichten Literatur Hermann Adam von Kamp: Das Schloss Broich und die Herrschaft Broich. Eine Sammlung geschichtlicher Merkwürdigkeiten I. Theil. Nebst einer Abbildung vom Schlosse Broich und dessen nächster Umgebung. Mülheim an der Ruhr 1852; Reprint Kessinger Pub. 2010, ISBN 978-1-161-28385-3. Geschichte der bergischen Unterherrschaft Broich sowie der Stadt Mülheim an der Ruhr. Bearbeitet von Oberlehrer a. D. Klanke (Duisburg) und Pfarrer Dr. Richter (Mülheim a. d. Ruhr). Baedeker, Mülheim a. d. Ruhr 1891, Denkschrift zur Hundertjahrfeier der Stadt Mülheim an der Ruhr 1908. Hrsg. vom Geschichtsverein Mülheim an der Ruhr e. V. Mülheim an der Ruhr 1908, Nachdruck ebd. 1983 (). Hans Schubert (Hrsg.): Urkunden und Erläuterungen zur Geschichte der Stadt Mülheim an der Ruhr (796–1508). Hrsg. von Hans Schubert im Auftrage des Mülheimer Geschichtsvereins. Schroeder, Bonn 1926, . Otto R. Redlich: Mülheim a. d. Ruhr. Seine Geschichte von den Anfängen bis zum Übergang an Preußen 1815. Selbstverlag der Stadt, Mülheim an der Ruhr 1939, ; Nachdruck ebd. 1959. Erich Keyser (Hrsg.): Rheinisches Städtebuch. Band III, 3. Teilband aus Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte. Im Auftrage der Arbeitsgemeinschaft der historischen Kommissionen und mit Unterstützung des Deutschen Städtetages, des Deutschen Städtebundes und des Deutschen Gemeindetages. Kohlhammer, Stuttgart 1956. Ilse Barleben: Mülheim a. d. Ruhr. Beiträge zu seiner Geschichte von der Erhebung zur Stadt bis zu den Gründerjahren. Mülheim an der Ruhr 1959, . Geschichtsverein Mülheim an der Ruhr (Hrsg.): 900 Jahre Mülheim an der Ruhr 1093–1993. Jubiläumsschrift zur 900-jährigen Stadtgeschichte, Mülheim an der Ruhr 1993. Barbara Kaufhold: Jüdisches Leben in Mülheim an der Ruhr. Verlag Klartext, Essen 2004, ISBN 3-89861-267-8. Horst A. Wessel (Hrsg.): Mülheimer Unternehmer: Pioniere der Wirtschaft. Hrsg. im Auftrag des Förder- und Trägervereins Gründer- und Unternehmermuseum Mülheim an der Ruhr e. V. Verlag Klartext, Essen 2006, ISBN 3-89861-645-2. Hans-Werner Nierhaus: Die Stadt Mülheim an der Ruhr und der Zweite Weltkrieg 1939–1945. Verlag Klartext, Essen 2007, ISBN 978-3-89861-857-1. Geschichtsverein Mülheim an der Ruhr (Hrsg.): Zeugen der Stadtgeschichte – Baudenkmäler und historische Orte in Mülheim an der Ruhr. Verlag Klartext, Essen 2008, ISBN 978-3-89861-784-0. Barbara Kaufhold: Leben am Fluss. Mülheim an der Ruhr. Klartext Verlag, Essen 2011, ISBN 978-3-8375-0426-2. Hans-Werner Nierhaus: Zwischen Kriegsbegeisterung, Hunger und Umsturz – Mülheim an der Ruhr im Ersten Weltkrieg. Verlag Klartext, Essen 2015, ISBN 978-3-8375-1438-4. Peter Korte: Du mein Mülheim – Die sympathische Stadt am Fluss. Anno-Verlag, Ahlen 2020, ISBN 978-3-939256-96-0. Weblinks Homepage der Stadt Mülheim an der Ruhr Einzelnachweise Ort in Nordrhein-Westfalen Kreisfreie Stadt in Nordrhein-Westfalen Gemeinde in Nordrhein-Westfalen Träger des Europapreises Ort mit Binnenhafen Ort an der Ruhr Ehemalige Kreisstadt in Nordrhein-Westfalen Ort am Westfälischen Hellweg Stadtrechtsverleihung 1808
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https://de.wikipedia.org/wiki/Salzburg
Salzburg
Salzburg (in der Antike , heutige lateinische Bezeichnung Salisburgum, im bairisch-österreichischen Dialekt Soizbuag) ist die Landeshauptstadt des gleichnamigen Landes der Republik Österreich. Sie liegt im Salzburger Becken und ist nach Wien, Graz und Linz die viertgrößte Stadt Österreichs. Prägend für die Stadt sind die Stadtberge, die durch das Stadtgebiet fließende Salzach und die von weitem sichtbare Festung Hohensalzburg. Der Nordwesten der Statutarstadt Salzburg grenzt an Freilassing in der Bundesrepublik Deutschland (Freistaat Bayern, Landkreis Berchtesgadener Land), das übrige Stadtgebiet an den Bezirk Salzburg-Umgebung, landläufig „Flachgau“ genannt. Geographie Lage Die Stadt Salzburg liegt am Nordrand der Alpen, in der Mitte des Salzburger Beckens. Der historische Altstadtkern befindet sich an der Salzach und wird von Festungs- und Mönchsberg sowie dessen westlichem Ausläufer, dem Rainberg, begrenzt. Östlich des Altstadtkerns erheben sich am rechten Salzachufer der Kapuzinerberg und der kleine Bürglstein, im Süden der Stadt der Hellbrunner Berg und der Morzger Hügel, westlich des Stadtteils Altliefering der kleine Lieferinger Hügel. Im Südwesten befindet sich, ein wenig außerhalb der Stadtgrenze, der von einer Seilbahn erschlossene 1973 m hohe Untersberg, der weit in das nördliche Umland die Silhouette prägt. Landschaftlich sind weiters der im Westen liegende Hochstaufen und im Süden die Salzburger Kalkhochalpen mit Göll, Hagengebirge und Tennengebirge dominant. Im Osten bilden der 1288 m hohe Stadtberg Gaisberg und die Osterhorngruppe die Grenze des Salzburger Beckens. Nördlich der Stadt erreicht der Fuß des Plainberges mit der Wallfahrtsbasilika Maria Plain das Stadtgebiet. Nordöstlich schließt sich die Hügellandschaft des Flachgaus zum Alpenvorland an, mit dem Haunsberg als letztem Alpenausläufer. Ein geschlossener Auwaldgürtel entlang von Salzach und Saalach reicht im Norden bis in das Stadtgebiet hinein. Der Auwald westlich der Saalach und das dahinter liegende Hügelland, der Högl, gehören bereits zum Landkreis Berchtesgadener Land in Bayern. Im Nordwesten grenzt das bayerische Freilassing, nur durch die Saalach getrennt, an den Salzburger Stadtteil Liefering. Die Salzburger Altstadt liegt auf 420 bis 426 m Seehöhe. Der höchste Punkt des Stadtgebietes ist die Gaisbergspitze mit 1288 m, die Saalachmündung am Böschungsfuß ist mit 404 m der tiefste Punkt des Salzburger Beckens. Das Gemeindegebiet umfasst  km², davon fallen 2238 Hektar auf Bauland (34,0 %), 503 ha auf Verkehrsfläche (7,7 %), 1080 ha auf Wald (16,5 %) und 342 ha auf Gewässer (5,2 %). Stadtteile Die Stadt gliedert sich – unabhängig der historischen Katastralgemeinden – in 24 Stadtteile und drei angrenzende Landschaftsräume. Den historischen Kern bildet die Altstadt links und rechts der Salzach (Stadtteil Salzburger Altstadt), an die die alten, seit dem Mittelalter bestehenden Vorstädte Mülln und Nonntal anschließen. Um 1900 entstand westlich der Altstadt der Stadtteil Riedenburg. Auf dem Gebiet der geschleiften rechtsufrigen Bastionen und Kasernen entstand im Gebiet um die Andräkirche die sogenannte Neustadt, die von den Salzburgern meist Andräviertel genannt wird, westlich des Hauptbahnhofs der Stadtteil Elisabeth-Vorstadt und nördlich von Mülln der Stadtteil Lehen. Die meiste Architektur der Stadtteile Aigen, Parsch, Itzling und Gneis wurde nach 1900 gebaut. Die einst selbständigen Dörfer, späteren Vororte Maxglan im Westen, Liefering im Nordwesten, Gnigl im Osten und Morzg im Süden wurden in der Zwischenkriegszeit eingemeindet und gehören heute zu den Stadtteilen Salzburgs. In dieser Zeit bildete sich allmählich der durchgehend bebaute Siedlungsstreifen entlang der Moosstraße in Leopoldskron-Moos heraus. Nach 1950 entstand als jüngster Siedlungskern Salzburg-Süd mit den Teilen Josefiau, Herrnau und Alpensiedlung. Als ausgebaute alte Umlanddörfer stammen auch die Stadtteile Langwied, Kasern, Taxham und Schallmoos aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, ebenso im Norden der Stadtteil Itzling Nord als junger Siedlungssplitter, der sich nahtlos an den Siedlungsraum der Gemeinde Bergheim anschließt. Südlich von Gneis liegen die ebenfalls jungen Siedlungen Eichethofsiedlung und Birkensiedlung. Sie wurden unter der Stadtteilbezeichnung Gneis Süd zusammengefasst. Westlich des Flughafens erstreckt sich als schmaler Streifen in Nord-Süd-Richtung der Stadtteil Maxglan-West, zu dem die Kendlersiedlung und die kleinen ehemaligen Weiler Pointing und Loig gehören. Die Kendlersiedlung setzt sich in den schon zur Gemeinde Wals-Siezenheim gehörenden Häusern der Glansiedlung fort. Die Häusergruppen Pointing und Loig schließen an das Walser Siedlungsgebiet Himmelreich an. Außerhalb der Siedlungsräume liegen im Stadtgebiet von Salzburg die geschlossenen Landschaftsräume Hellbrunn sowie Gaisberg am Fuß des Stadtbergs Gaisberg und Heuberg, das die im Stadtgebiet liegenden, teils besiedelten Anhöhen des gleichnamigen Bergs einnimmt. Die Landschaftsräume werden ebenfalls als Stadtteile geführt. Katastralgemeinden Salzburg ist in 14 Katastralgemeinden aufgeteilt (Fläche Stand 31. Dezember 2019): Die Namen der Stadtteile entsprechen großteils den gleichnamigen Katastralgemeinden, deren Grenzen weitestgehend im frühen 19. Jahrhundert (vor 1830) festgelegt wurden. Die Bezeichnung Aigen I besagt, dass die einstige Gemeinde Aigen 1939 zum weitaus größten Teil in die Stadt Salzburg eingemeindet wurde. Der verbleibende Teil wurde unter der Bezeichnung Aigen II als kleine eigene Katastralgemeinde der Nachbargemeinde Elsbethen zugeteilt. Gleich bzw. entsprechend umgekehrt verhält es sich bei den Katastralgemeinden Liefering I, Siezenheim II und Wals II (zur Gemeinde Wals-Siezenheim), Bergheim II (zur Gemeinde Bergheim), Hallwang II (zur Gemeinde Hallwang) und Heuberg II (zur Gemeinde Koppl). Das Größenverhältnis der Katastralgemeinden Gaisberg I in Salzburg und Gaisberg II in Elsbethen ist etwa ausgeglichen. Geschichte Im Jahr 488 begann der Niedergang der römischen Stadt Iuvavum. Salzburg wurde 696 als Bischofssitz neu gegründet und 798 Sitz des Erzbischofs. Die Haupteinnahmequellen Salzburgs bildeten Salzgewinnung, der Handel damit sowie der Handel mit Gold, das seit 1300 in den Tauern abgebaut wurde. Fürsterzbischof Wolf Dietrich von Raitenau und seine Nachfolger bauten Salzburg im 17. Jahrhundert zur Residenzstadt aus. In Folge der barocken Baulust entstanden prunkvolle Schlösser und Kirchen, die bis heute das Stadtbild prägen. Im Süden der Stadt wurde Schloss Hellbrunn mit dem ihn umgebenden Schlosspark und den Alleen gebaut und die Wasserspiele eingerichtet. Als bekanntester Salzburger gilt der 1756 hier geborene Komponist Wolfgang Amadeus Mozart, weshalb die Stadt den Beinamen Mozartstadt und der Flughafen den Namen Salzburg Airport W. A. Mozart trägt. Das historische Zentrum der Stadt steht seit 1996 auf der Liste des Weltkulturerbes der UNESCO. Salzburg ist seit 1920 international für die Festspiele bekannt. Von wirtschaftlicher Bedeutung sind auch Messen und Kongresse sowie die Handels-, Tourismus- und Dienstleistungsbetriebe. Aufgrund ihrer verkehrsgünstigen Lage bildet die Stadt Salzburg den Kern der grenzüberschreitenden EuRegio Salzburg – Berchtesgadener Land – Traunstein. Zudem ist sie Knotenpunkt für wichtige Straßen- und Schienenrouten im West-Ost-Verkehr (Innsbruck–Salzburg–Wien) sowie transalpin bzw. von Norden nach Süden verlaufend (München–Salzburg–Villach). Frühgeschichte und bayerische Zeit Das Gebiet der Stadt ist seit der Jungsteinzeit bis heute durchgehend besiedelt. In der La-Tène-Zeit war es ein Verwaltungszentrum der keltischen Alaunen im Königreich Noricum. Die Bevölkerung auf den Stadtbergen wurde nach dem römischen Einmarsch 15 v. Chr. entsprechend der römischen Stadtplanung in den Raum der Altstadt übersiedelt. Die neue Stadt war seit Kaiser Claudius als Municipium Claudium Iuvavum eine der wichtigsten Städte der nun römischen Provinz Noricum. Nach der Aufgabe der Provinz Noricum 488 zu Beginn der Völkerwanderung verblieb ein Teil der romanokeltischen Bevölkerung im Land. Im 6. Jahrhundert folgte die Landnahme durch die Bajuwaren. Bischof Rupert erhielt um 696 n. Chr. die Reste der Römerstadt von Herzog Theodo II. von Bayern geschenkt, um das Land im Osten und Südosten zu missionieren. Er erneuerte das Kloster St. Peter und gründete Stift Nonnberg der Benediktinerinnen. Das Land Salzburg und seine Grafschaften bekamen durch den aufblühenden Salzbergbau und die weiträumige Missionstätigkeit bald immer mehr Einfluss und Macht innerhalb Bayerns. 996 wurde Salzburg durch Kaiser Otto III. das Markt-, Münz- und Mautrecht verliehen, 1120/30 ist bereits ein Stadtrichter urkundlich erwähnt. Das älteste bekannte Stadtrecht stammt aus dem Jahr 1287. Fürsterzbischöfliche Residenzstadt Seit der Schlacht bei Mühldorf 1322 war das Erzbistum mit dem Mutterland Bayern verfeindet. In der Folge wurde Salzburg ein eigenständiges Fürsterzbistum im römisch-deutschen Reich. Die wirtschaftliche Blüte der Stadt im 15. Jahrhundert führte zu einem selbstbewussten Bürgertum mit zunehmenden Rechten und Pflichten. Erzbischof Leonhard von Keutschach, der wirtschaftlich sehr erfolgreich war, beendete diese Autonomie gewaltsam. Wenige Jahre nach Martin Luthers Thesenanschlag stand die Mehrheit der Stadtbevölkerung dem Protestantismus nahe, die unbeugsamen Protestanten wurden bis 1590 dann alle des Landes verwiesen. Die Kritik an der autoritären Macht des Erzbischofs nahm unter Keutschach weiter zu. 1525 belagerten aufständische Knappen und Bauern die Festung Hohensalzburg, in der sich Erzbischof Matthäus Lang von Wellenburg verschanzt hatte. Erst mit Hilfe von erkauften Truppen des Schwäbischen Bundes konnten die Aufständischen zum Rückzug gezwungen werden. Das Fürsterzbistum zählte um 1600 durch Salz- und Goldbergbau zu den reichsten Fürstentümern im römisch-deutschen Reich. Damals gestaltete Erzbischof Wolf Dietrich von Raitenau den Altstadtkern neu. Der große spätromanische Dom wurde abgerissen und durch Markus Sittikus im frühbarocken Stil wieder aufgebaut. Paris von Lodron gelang es durch eine kluge Neutralitätspolitik, Salzburg aus dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) herauszuhalten. Die Stadt wurde zu einer der am besten befestigten Städte Europas ausgebaut. (Siehe auch Befestigungen der Stadt Salzburg). Salzburg wurde bald zu einem Zentrum der Gegenreformation, in dem Klöster, ein Priesterseminar und zahlreiche Barockkirchen gebaut wurden, ein Großteil der Bewohner war in Laienbruderschaften zusammengeschlossen. Zwischen 1675 und 1690 fanden in Salzburg die Zauberbubenprozesse statt, in deren Folge über 150 Personen wegen angeblicher Hexerei hingerichtet wurden. Ein Großteil von ihnen waren Kinder und Jugendliche. 1732 wurden unter Erzbischof Leopold Anton von Firmian der Großteil der im Land verbliebenen Protestanten zur Emigration gezwungen (Salzburger Exulanten). Unter Erzbischof Hieronymus Franz Josef Colloredo von Wallsee und Mels wurde Salzburg von 1772 bis 1800 zu einem Mittelpunkt der Spätaufklärung, in dem Wissenschaft und Künste eine Blütezeit fanden. Teil Österreichs 1803 wurde Salzburg auf Anordnung von Napoleon Bonaparte ein säkularisiertes Kurfürstentum, 1805 zusammen mit Berchtesgaden dem neuen Kaisertum Österreich zugeschlagen und 1810 wieder an das Königreich Bayern angegliedert. 1800, 1805 und wieder 1809 war Salzburg dabei von napoleonischen Truppen besetzt und geplündert worden. 1816 fiel das Land Salzburg mit dem Vertrag von München zum größten Teil erneut an das Kaisertum Österreich und damit unter die Habsburger Regierung. Salzburg war zuerst eine wenig bedeutende Kreisstadt des Kronlandes Oberösterreich, in die sich neben einigen Kurgästen nur wenige Maler und Literaten verirrten. Diese aber waren von der Schönheit der Stadt verzaubert und ihre Berichte machten Salzburg immer mehr zum Ziel von Touristen. Am 30. April des Jahres 1818 brach ein Brand aus, der vier Tage lang in der Stadt wütete. Rund hundert Häuser wurden zerstört. 1860 begann der Abriss der Stadtbefestigungen, sie dienten vor allem als Baumaterial für die neue Salzachbeschlachtung. Im gleichen Jahr bejubelten die Salzburger die Eröffnung der Bahnlinien Wien – Salzburg und Salzburg – München. Dies sorgte für ein starkes Wachstum der Stadt und ließ Handel und Gewerbe aufblühen. Das Ende des Ersten Weltkriegs brachte auch für Salzburg eine Zeit des Hungers, die Wirtschaft erholte sich nur allmählich. Vom 1935 bis 1939 wurden verschiedene Nachbarorte eingemeindet. In der Zeit des NS-Regimes kam es ab 1938 zu Verhaftungen und Deportationen politischer Gegner sowie von Juden und anderen Minderheiten. Kriegsgefangene erhielten das Wirtschaftsleben aufrecht. 1944/45 beschädigten Fliegerbomben der USA große Teile der Stadt. Oberst Hans Lepperdinger rettete 1945 die Stadt durch Befehlsverweigerung, indem er sie kampflos an die Amerikaner übergab. Salzburg war nach Kriegsende Sitz des US-Oberkommandos. In den ersten Nachkriegsjahren war die Stadt vom Elend der Flüchtlinge geprägt. Nur allmählich konnten die Barackenwohnungen durch den Bau neuer Stadtteile ersetzt werden. 1962 wurde die 1810 aufgelöste Universität wiedergegründet. In der Folgezeit wurde Salzburg zur wirtschaftlich erfolgreichen Handels-, Messe- und Tourismusstadt. Einwohner Bevölkerungsentwicklung Um das Jahr 1550 hatte die Stadt Salzburg etwa 8.000 Einwohner. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts stieg die Bevölkerungszahl nur wenig, in der zweiten Hälfte stark an. Im Jahre 1795, kurz vor dem Ende der Herrschaft der Fürsterzbischöfe, wurden 16.837 Bewohner gezählt. Am Ende der napoleonischen Zeit, die von Besatzung, Plünderung und Erniedrigung geprägt war, war die Einwohnerzahl im Jahre 1817 auf 12.037 gesunken. Nach 1860 und nach Ende des Ersten Weltkriegs stieg sie rasch an. 1934 lebten bereits 40.232 Menschen im damals noch kleinen Stadtgebiet. Mit den Eingemeindungen der Jahre 1935 und 1939 stieg die Einwohnerzahl sprunghaft auf 77.170 an. Der Zweite Weltkrieg verursachte große Verluste unter den aus Salzburg stammenden Soldaten und in der Zivilbevölkerung. Durch die US-amerikanische Besatzung bis 1955 erhöhte sich die Einwohnerzahl nach dem Krieg. Mit etwa 15.000 Flüchtlingen, vor allem Volksdeutschen, die in Salzburg eine neue Heimat suchten, erhöhte sich bis 1947 die Einwohnerzahl auf 99.244. Der folgende Wirtschaftsaufschwung brachte bis 1970 wiederum große Bevölkerungszuwächse. Während zwischen 1979 und 1990 die Einwohnerzahl etwa gleich blieb, wuchs sie in den folgenden 18 Jahren um weitere 12.000 an. Im Ballungsraum Salzburg leben aktuell rund 367.000 Menschen (Stand 2019). Der Einwohnerstand betrug am Einwohner. Bevölkerungsstruktur Die durchschnittliche Kinderzahl der im Jahr 2007 ansässigen 36.396 Familien betrug 0,97. Trotz des erwarteten Zuzugs von Personen aus dem Stadtumfeld und von Migranten ging die Stadtplanung zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass die Bevölkerungszahl mittelfristig stagnieren oder sogar sinken werde. 77 % der Bewohner der Stadt Salzburg im Jahr 2001 wurden in Österreich geboren 4,1 % in Bosnien und Herzegowina 4,0 % in Serbien oder Montenegro 3,9 % in Deutschland 2,9 % in den übrigen EU-Staaten 2,0 % in der Türkei Den höchsten Anteil der außerhalb Österreichs Geborenen hat mit 36,9 % die Elisabeth-Vorstadt, in Schallmoos wurden 35,0 % der Bewohner nicht in Österreich geboren. Einen hoher Anteil an Nichtösterreichern lebt auch in Lehen, im Süden dieses Stadtteils bekennen sich 15 % der Einwohner zum Islam. Den niedrigsten Ausländeranteil hat der Stadtteil Leopoldskron-Moos. Im Jahr 2006 waren 13 % der Bevölkerung der Stadt unter 15 Jahren alt, 69 % zwischen 15 und 64 Jahren, 18 % älter als 64 Jahre. Der Anteil von Kindern und Jugendlichen unter 15 war im Äußeren Maxglan und in Maxglan-West am höchsten (21 %), jener der Senioren in Riedenburg (22 %). Den größten Anteil an Erwachsenen im Erwerbstätigenalter findet man in der Rechten Altstadt (80 %). Religionsbekenntnisse Salzburg ist durch die jahrhundertelange Herrschaft der katholischen Fürsterzbischöfe geprägt, bis heute hat die katholische Kirche die Glaubensmehrheit. Bis zur Auflösung des Fürsterzbistums Salzburg im Jahr 1800 (bzw. 1803) bildeten Kirche und Staat eine Einheit. Die Schwierigkeiten, die die Mitglieder der evangelischen (siehe Salzburger Exulanten) und der jüdischen Gemeinde sowie die der Täufer hatten, zeugen davon. Die Kirchtürme der katholischen Kirchen beherrschen das Bild der Stadt, die bis ins 19. Jahrhundert Das deutsche Rom genannt wurde. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es, bedingt durch Krieg, Vertreibung und Migration, zu einer größeren Vielfalt an Religionen. 2001 waren die Katholiken mit 55,4 % der Stadtbevölkerung die mit Abstand größte kirchliche Gemeinschaft. Seit 2001 hat die Anzahl der Katholiken (wie auch in anderen Teilen Österreich) abgenommen. Die zweitgrößte Gruppe (17,1 %) waren die Bewohner ohne religiöse Bekenntnisse, bei weiteren 6,5 % waren die Bekenntnisse unbekannt. Die Muslime waren mit 6,8 % der Stadtbevölkerung die viertgrößte Gruppe. An fünfter Stelle befanden sich mit 6,7 % die Bekenner der Evangelischen Kirche A.B. (Augsburger Bekenntnis) in Österreich und die der Evangelischen Kirche H.B. (Helvetisches Bekenntnis) in Österreich. Diese Glaubensgemeinschaften sind vor allem in drei Pfarrgemeinden mit den zugehörigen Kirchen in der Neustadt, in Gneis und in Taxham präsent. Zu den Gemeinschaften des orthodoxen Christentums (Serbisch-Orthodoxe Kirche, Rumänisch-Orthodoxe Kirche und Russisch-Orthodoxe Kirche) bekannten sich 5,3 % der Bevölkerung. Die russisch-orthodoxe Kirche Maria Schutz steht in Lehen, die rumänisch-orthodoxe Kirche befindet sich im Osten von Schallmoos. Zu den Glaubensgemeinschaften der Altkatholiken, der Methodisten, der Neuapostolischen Kirche, der Mormonen-Gemeinde, der Zeugen Jehovas, des Bundes evangelikaler Gemeinden, der Christengemeinschaft und der Freien Christengemeinde-Pfingstgemeinde bekannten sich insgesamt 1,6 % der Stadtbevölkerung. Daneben bestehen Gemeinden der Mennoniten (Friedensgemeinde) und der Baptisten. Die katholische Kirche steht mit den orthodoxen Kirchen, der evangelischen Kirche, der altkatholischen Kirche und den Methodisten in ökumenischen Arbeitskreisen im Dialog; regelmäßig werden gemeinsame Gottesdienste gefeiert. Zu weiteren Religionsgemeinschaften, wie der buddhistischen Gemeinde, den Bahai, der hinduistischen Gemeinschaft und der Gemeinschaft der Sikhs bekannten sich insgesamt 0,7 % der Stadtbevölkerung. In der Salzburger Synagoge der Israelitischen Kultusgemeinde finden mehrmals im Jahr Gottesdienste statt. Neben den drei Moscheen der Muslime in Schallmoos, Itzling und der Neustadt gibt es einen Gurdwara der Sikhs in Schallmoos. Buddhistische Gebetsräume befinden sich in der rechten Altstadt, in Lehen und in Liefering. Politik Kommunalpolitik nach 1880 In der Zeit vom Erwachen der politischen Kräfte bis zum Ende der Monarchie war die Stadt mit steigender Tendenz antiliberal geprägt. Sie besaß starke klerikale und deutsch-nationale Kräfte, die vielfach zersplittert und untereinander verfeindet waren. Robert Preußler war 1914 der erste Sozialdemokrat im Salzburger Gemeinderat. Überhöhte Ausgaben führten um 1890 beinahe zum finanziellen Ruin der Stadt. Mit dem Zerfall der Monarchie endete die Abhängigkeit des Gemeinderats von der kaiserlichen Zentralmacht. Die Zahl der Gemeinderatsmitglieder wurde von 30 auf 40 erhöht. Christlichsoziale, Sozialdemokraten und Deutschnationale besaßen in der Folge einen ähnlich hohen Stimmenanteil. Während der autoritären Zeit des Ständestaates und im Nationalsozialismus wurde Salzburg zwar kommunal verwaltet, besaß aber kaum politische Freiheiten und war weisungsgebunden. Kommunalpolitik nach 1945 Die erste Nachkriegszeit war von einer engen Zusammenarbeit der SPÖ (von 1945 bis 1991 Sozialistische Partei Österreichs, seit 1991 Sozialdemokratische Partei Österreichs) mit ihrem Bürgermeister Anton Neumayr, der ÖVP und der KPÖ geprägt. Von 1957 bis 1970 regierte der populäre Bürgermeister Alfred Bäck Salzburg. 1972 traten erstmals Bürgerinitiativen (zunächst erfolglos) zur Wahl an. Auslöser zur Gründung war die geplante Verbauung von Freisaal und von Teilen des Landschaftsgartens der Hellbrunner Allee. In einem Kompromiss wurde der weitgehende Erhalt des Grünraumes und die Errichtung der Universität Freisaal vorgeschlagen. Neue Konflikte zwischen Wohnbau und Landschaftsschutz, die bis heute andauern, brachte die im Jahr 1976 geplante Erweiterung des Straßennetzes und die stete Zunahme des (sozialen) Wohnbaus. „Was jahrelang als Gemeinwohl gefeiert wurde – nämlich Menschen ein Dach über dem Kopf zu schaffen, entartete und wurde zum Krebsgeschwür der Stadtlandschaft“. 1965 hatte der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr auf die Demolierung und Aushöhlung der Altstadt hingewiesen. Der kulturbewusste Landeshauptmann Hans Lechner sorgte 1967, unterstützt durch Mitglieder der Bürgerinitiativen, für einen ersten Ensembleschutz. 1980 erreichten die Bürgerinitiativen mit Schauspieler Herbert Fux an der Spitze, dem Maler Wilhelm Kaufmann und Richard Hörl, ein Mitbegründer der Bürgerliste, dass die Altstadt mit ihren zahlreichen historischen Gebäuden erhalten bleiben muss. Der stark zunehmende innerstädtische Verkehr war und ist ein ewiger Zankapfel innerhalb der Stadtpolitik. Die Innenstadtgenossenschaft bekämpfte ab 1960 die Pläne zur Errichtung einer Fußgängerzone in der Altstadt und die „Abschnürung des Verkehrs“. Im Zug der Neuorientierung, wobei dem öffentlichen Verkehr der Vorrang eingeräumt wurde, was maßgeblich von der Bürgerliste initiiert wurde, errichtete man zwischen 1970 und 1994 in 22 Straßenzügen eigene Busspuren. - Seit 1997 ist Salzburg Teil des Weltkulturerbes der UNESCO. Seit 1999 wird der Bürgermeister der Stadt Salzburg direkt vom Volk gewählt. Bürgermeister war seitdem bis 20. September 2017 Heinz Schaden (SPÖ). Erster Stellvertreter blieb nach der Wahl 2009 Harald Preuner (ÖVP). Martin Panosch wurde zweiter Stellvertreter für die SPÖ, Claudia Schmidt (ÖVP) neue Stadträtin, Johann Padutsch (Bürgerliste) blieb Stadtrat. Am 20. September 2017 übernahm der bisher erste stellvertretende Bürgermeister Harald Preuner das Amt des Bürgermeisters, Neuwahlen wurden für den 26. November 2017 festgelegt. Preuner erreichte bei der Bürgermeisterwahl mit 35,0 % die meisten Stimmen, aber nicht die nötigen 50 Prozent. In der Stichwahl am 10. Dezember 2017 setzte er sich mit 50,32 % (294 Stimmen Vorsprung) gegen Bernhard Auinger (SPÖ) durch. Stadtverwaltung Der Gemeinderat setzt sich aus 40 Mitgliedern zusammen. Neben dem regierenden Bürgermeister besteht die Stadtregierung aus zwei Bürgermeister-Stellvertretern und zwei Stadträten, die gemäß der Stimmenstärke der jeweiligen Parteien (Proporzsystem) ernannt werden. Der Stadtsenat ist als ständiger Ausschuss des Gemeinderates vor allem für Rechts- und Finanzfragen zuständig und besteht aus zwölf Mitgliedern. Innerhalb des Stadtrechts werden Bürgerbegehren und Bürgerbefragungen auf Antrag des Gemeinderates abgehandelt. * „FPÖ“ einschließlich ihrer Vorläuferin „WDU“; ** ABP: Österreichische Autofahrer- und Bürgerinteressenpartei, LM: Liste Masopust, TAZL: Liste Tazl & BZÖ, SALZ: Bürger für Salzburg Städtepartnerschaften Die erste Städtepartnerschaft wurde 1964 mit Reims, der alten Hauptstadt der Champagne, geschlossen. Diese Stadt war und ist wie Salzburg ein wichtiges geistiges und geistliches Zentrum innerhalb Europas. Der Erzbischof von Reims ist der Chef der Bischöfe von Frankreich, so wie der Bischof von Salzburg der Primas Germaniae (der Erste/Hervorragendste) auf deutschsprachigem Gebiet ist. 1967 schloss Salzburg eine Städtepartnerschaft mit Atlanta, die aber nicht mehr besteht. Im Jahr 1973 folgte Verona, das ebenfalls über eine Weltkulturerbe-Altstadt verfügt. Die Städtepartnerschaft Salzburg-León (Nicaragua) besteht seit 1984. Salzburger Entwicklungsprojekte unterstützen diese Stadt ebenso wie seit 1984 die Partnerregion Singida in Tansania. Singida liegt abseits des Tourismus im Zentrum von Tansania und ist besonders auf Hilfe angewiesen. Busseto in Italien ist seit 1988 ein Partner und in seiner musikalischen Tradition Salzburg besonders verbunden. Eine weitere Partnerschaft besteht seit 1989 mit Vilnius in Litauen. Dresden weist seit 1991 auf den kulturellen Austausch Salzburgs mit dem Osten Deutschlands hin. Kawasaki in Japan wurde 1992 als Partnerstadt aufgenommen. Meran in Südtirol ist seit 2000 Partnerstadt. Ebenso existiert seit 2004 eine Städtefreundschaft mit Shanghai. Wappen Das Wappen zeigt auf rotem Hintergrund eine gezinnte silberne Stadtmauer, deren Seitenteile perspektivisch zurücktreten und in deren Mitte sich ein Stadttor mit offenen Torflügeln und hochgezogenem Fallgatter befindet. Hinter der Stadtmauer stehen drei silberne Türme - ein sechseckiger mit goldenem Dach und zwei schmälere, gezinnte Rundtürme mit etwas niedrigeren goldenen Spitzdächern. Die älteste erhaltene Darstellung des Salzburger Stadtwappens stammt aus dem Jahr 1249 und befand sich auf einem Stadtsiegel. Man hat es in dieser Form bis ins 15. Jahrhundert weiterverwendet. Das heutige Stadtwappen ist eine Weiterentwicklung des spätgotischen Typus. Wurde bis vor etlichen Jahren ein kleinteiliges, detailreiches Wappen verwendet, so hat sich später ein stark stilisiertes eingeführt, das bis heute verwendet wird. Bauwerke Überblick Die gesamte bebaute Altstadt, die Neustadt, Mülln, der Mönchs- und der Kapuzinerberg sowie Teile von Nonntal wurden am 5. Dezember 1996 von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Kirchen und Klöster Das älteste bestehende Kloster im deutschen Sprachraum ist das Stift Sankt Peter mit der Stiftskirche. Seit 696 leben, beten und arbeiten hier Mönche. Die Benediktinerinnenabtei Nonnberg mit der der Himmelfahrt Mariens geweihten Stiftskirche Nonnberg ist das weltweit älteste ununterbrochen bestehende Frauenkloster. Es wurde zwischen 712 und 715 von Rupert von Salzburg gegründet. Die Franziskanerkirche Unsere Liebe Frau ist vermutlich die älteste Kirche der Stadt. Sie wurde wahrscheinlich sogar vor dem ersten Domgebäude errichtet. Die Architektur ist romanisch und gotisch, der Altarraum mit dem Hochaltar stammt von Johann Bernhard Fischer von Erlach. Nach seinen Plänen entstanden auch die Dreifaltigkeitskirche und die ehemals den Ursulinen gehörende Markuskirche. Ebenso wurde der Innenraum der gotischen Müllner Pfarrkirche in den 1730er-Jahren barockisiert. Eine Gründung von Admonter Mönchen ist die Bürgerspitalkirche St. Blasius aus dem Jahr 1183. Die dem hl. Georg geweihte Festungskirche ist laut Bauinschrift mit den Jahreszahlen 1501 resp. 1502 bezeichnet. Die erste Barockkirche nördlich der Alpen, der Salzburger Dom, wurde zwischen 1614 und 1628 auf dem Platz eines mittelalterlichen, mehrfach erneuerten und umgebauten Vorgängerbaus errichtet. Zu den zahlreichen barocken Kirchen Salzburgs zählen die dem hl. Maximilian vom Pongau und dem hl. Kajetan geweihte Kajetanerkirche, die dem Stift St. Peter gehörende Michaelskirche nahe der Residenz, die im unteren Teil des Kapuzingerbergs liegende Imberg- oder Johanneskirche, die Johannsspitalkirche, die Erhardkirche im Nonntal und die Kollegienkirche. Festung Hohensalzburg Das Wahrzeichen der Stadt, die auf einem steilen Felskegel gelegene Burg, beherrscht nicht nur das Stadtbild, sondern kann aus vielen Himmelsrichtungen weithin gesehen werden. Die Festung wurde ab dem Jahr 1077 im Investiturstreit vom papsttreuen Fürsterzbischof Gebhard als zentrale und wichtigste landesfürstliche Burg des Erzstiftes Salzburg errichtet. Aus dieser Zeit stammen auch die ältesten erhaltenen Teile der Architektur. Die Ringmauer um die Burg wurde in der Zeit der beginnenden Bauernunruhen und der ersten Bedrohung durch die Türken 1465–1485 verstärkt, die Anlage zwischen 1480 und 1484 am Palas umgebaut. Fürsterzbischof Leonhard von Keutschach ließ die Festung in der Zeit von 1495 bis 1519 wesentlich erweitern und stattete die Räume prunkvoll aus. Unter ihm wurde auch der Reißzug, die weltweit älteste erhaltene Standseilbahn, errichtet. Während der Regierungszeit des Fürsterzbischofs Kardinal Matthäus Lang von Wellenburg fand während der Bauernkriege im Jahr 1525 die einzige Belagerung der Festung statt. Fürsterzbischof Paris Lodron veranlasste den Anbau westlich vorgelagerter Artillerie-Basteien und ließ eine Verbindung zu anderen Wehrbauten auf dem Mönchsberg herstellen. Die letzte Erweiterung fand 1681 mit dem Bau der Kuenburgbastei statt. Die Festung ist mit über 7.000 m², einschließlich der Basteien umfasst sie über 14.000 m² bebaute Fläche, eine der größten Burgen innerhalb Europas. Auf dem Mönchsberg befinden sich noch andere, eigenständige Schlösschen, einige davon in Privatbesitz, wie das Freyschlössl mit dem Roten Turm, aber auch die Edmundsburg, die der Universität Salzburg gehört. Schlösser und bedeutende Profanbauten Zwischen Mittelalter und Barock entstanden in und um die Stadt Salzburg mehrere von den Fürsterzbischöfen errichtete Residenzen. Die älteste ist Schloss Freisaal. Sie wurde unter Administrator Prinz Ernst von Bayern im 16. Jahrhundert als Wasserschloss erbaut. Die Alte Residenz ist eine mehrere Höfe umschließenden Palastanlage im Zentrum der Stadt. Sie diente den reichsunmittelbaren Fürsten und Erzbischöfen als repräsentativer Wohnsitz. Ab dem 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs wohnten dort Mitglieder der Kaiserfamilie. Das bestehende Gebäude wurde unter Einbeziehung mittelalterlichem Mauerwerks vom 16. bis zum 18. Jahrhundert neu errichtet. Die Neue Residenz, auch Neugebäude genannt, ist eine Palastanlage des 17. Jahrhunderts. Fürsterzbischof Wolf Dietrich hatte sie als Gästehaus für durchreisende Fürsten errichtet, möglicherweise wollte er sie sogar als neue ständige Residenz verwenden. In ihr sind das Glockenspiel und das Salzburg Museum untergebracht. Ein anderes bedeutendes Gebäude der Innenstadt ist das Rathaus mit Turm und Rokoko-Fassade. Es wurde zu Beginn des 15. Jahrhunderts von der Stadt erworben, 1616-1618 vollständig umgebaut und erhielt 1772 seine Außengestalt. Die Alte Universität ist ebenfalls ein Baukomplex des 17. Jahrhunderts, das ursprünglich im nordwestlichen Flügel ein von Fürsterzbischof Markus Sittikus gegründetes Gymnasium mit Sacellum, einer dem hl. Karl Borromäus geweihten Hauskapelle, beherbergte. 1620 wurde die Anlage zu einer Benediktiner-Universität umgewandelt, ab 1630 weitläufig umgebaut. Südlich stehen die Festspielhäuser, die früher den Fürsterzbischöfen als Hofmarstall dienten. Sie bestehen aus der ehemaligen Sommer- (Felsenreitschule) und Winterreitschule. Westlich davon befindet sich, durch eine Fahrbahn davon getrennt, die Pferdeschwemme. Diese Straße, die durch das Sigmundstor oder Neutor führt, verbindet die Altstadt mit dem Stadtteil Riedenburg. Es handelt sich dabei um den ältesten Straßentunnel Österreichs, der im 18. Jahrhundert aus dem Fels gehauen wurde. Wolf Dietrich von Raitenau ließ ab 1606 das Gartenschloss Mirabell für Salome Alt errichten, das er ihr zu Ehren Schloss Altenau nannte. Unter Markus Sittikus von Hohenems entstand von 1613 bis 1615 außerhalb der Stadt die Schlossanlage Hellbrunn, die mit ihr durch die Hellbrunner Allee verbunden ist. Der Lustgarten ist eine manieristische Gartenanlage mit dekorativen Architekturen, Teichen, Brunnen, Grotten, Skulpturen und Wasserspielen. Auf dem Hellbrunner Berg stehen das Monatsschlössl und das aus dem Fels herausgehauene Steintheater. Der Park mit Schloss und Nebengebäuden, befinden sich in der Nordwestecke der Anlage, am Fuß des Bergs. Die Anlage ist beinahe vollständig von einer Mauer umgeben. Die ehemalige Sommerresidenz der Fürsterzbischöfe ist über eine Zufahrt in Verlängerung einer von der Salzach herführenden Allee symmetrisch angelegt. Die große Gartenachse ist auf Schloss Goldenstein ausgerichtet. Auch Schloss Anif wurde über eine Landschaftsachse einbezogen. Entlang der Hellbrunner Allee liegen kleine, bald nach der Fertigstellung von Schloss Hellbrunn entstandene Schlösschen, die den Landschaftsgarten gliedern. Die Kayserburg erinnert an den Erbauer Hauptmann Kayser, die Frohnburg an Freifrau von Frohberg. Schloss Herrnau hat seinen Namen von den Wiesen und Wäldern der Herren-Au. Der Name des Lasserhofes leitet sich vom Geschlecht der Lasser ab. Schloss Emslieb und Schloss Emsburg im Süden der Allee erinnern an Fürsterzbischof Markus Sittikus von Hohenems., einer der Miterbauer der Residenzen. Fürsterzbischof Johann Ernst von Thun beauftragte Johann Bernhard Fischer von Erlach mit dem Bau von Schloss Kleßheim (im Nordwesten der Stadt), den Leopold Anton von Firmian weiterführen ließ. Dessen Nachfolger als Fürsterzbischof, Reichsfürst Franz Anton von Harrach, ließ die Arbeiten an Schloss Kleßheim unterbrechen und gab Johann Lucas von Hildebrandt den Auftrag zum Ausbau von Mirabell zu einem stattlichen Barockschloss. Fürsterzbischof Leopold Anton von Firmian ließ Schloss Leopoldskron mit dem großen Schlossweiher für sich und seinen Neffen Laktanz erbauen. Schloss Aigen, seit dem Mittelalter ein Herrensitz am Fuß des Gaisbergs, war im frühen 15. Jahrhundert im Besitz des Domkapitels, danach wechselten die Eigentümer rasch. Kleine Ansitze auf dem Mönchsberg sind das den Pallottinern gehörende Johannesschlössl und das Marketenderschlössl. Zu den schlossartigen Wehrbauten gehören das von Paris Lodron erbaute Franziskischlössl auf dem Kapuzinerberg und Schloss Neuhaus auf dem Kühberg. Plätze und Gassen der Altstadt Obwohl die Römer die Fläche der mittelalterlichen und neuzeitlichen Altstadt unbesiedelt ließen, deckt sich der Verlauf der drei wichtigsten römischen Landstraßen innerhalb der Stadtgrenzen mit denen der Getreidegasse, der Linzer Gasse und der Steingasse. Die zentral gelegene Getreidegasse, die Hauptstraße der Bürgerstadt, spielt seit jeher eine wichtige Rolle für den Handel. In ihr befindet sich auch das Geburtshaus von Wolfgang Amadeus Mozart. Weitere wichtige Straßenzüge und Plätze der Altstadt sind der rechteckige, der Domfassade vorgelagerte Domplatz, der an allen Seiten geschlossen, aber durch Arkaden mit dem Residenzplatz, dem Kapitelplatz und der Franziskanergasse verbunden ist. In seiner Mitte befindet sich die 1766–1771 errichtete Mariensäule. Auf dem Mozartplatz mit dem Mozartdenkmal befindet sich auch das Zaun des Anstoßes genannte Denkmal für die Proteste gegen die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf. Der Alte Markt ist ein rechteckiger Platz, der sich im Süden zur Residenz öffnet. Die heutige Anlage ergab sich aus einem im 13. Jahrhundert angelegten Platz, der später teilweise verbaut wurde. Der in seiner Mitte stehende Markt- oder Florianibrunnen wurde 1488 nach Fertigstellung der ersten städtischen Wasserleitung anstelle eines Ziehbrunnens errichtet. Der kleine sich zum Mozartplatz öffnende Waagplatz ist aus dem Alten Markt hervorgegangen. Er verfügt über fünfgeschossige im Kern mittelalterliche Häuser. Die Sigmund-Haffner-Gasse verbindet den Kranzlmarkt mit der Franziskanerkirche nach Einmündung der Churfürststraße. Sie wurde durch den Umbau der Residenz im 18. Jahrhundert trichterförmig erweitert. Der angrenzende kleine Rathausplatz zwischen Getreidegasse und Kranzlmarkt öffnet sich zur Salzach. Die Platzwände werden von der Seitenfassade des Rathauses und von hohen Bürgerhäusern gebildet. Die Judengasse ist eine enge Gasse zwischen hohen 5- bis 6-stöckigen Häuserfronten in der Verlängerung der Achse Getreidegasse-Kranzlmarkt. Die schmale, leicht gewundene Herrengasse am Fuß des Festungsberges verbindet den Kapitelplatz mit der Kaigasse. Sie ist ausschließlich auf der Bergseite verbaut, wobei die Häuser im ersten Abschnitt frei stehen, ab Nummer 22 bilden sie eine geschlossene Zeile. Die Kaigasse ist der Hauptstraßenzug der Altstadt östlich des Domes. Sie ist aus mehreren in der Anlage mittelalterlichen Gassen zusammengesetzt. Die Krotachgasse verbindet die Kaigasse mit der Chiemseegasse. Sie endet beim Hauptportal des Chiemseehofs, einem Gebäudekomplex, in dem sich bis 1814 die Residenz der Bischöfe zu Chiemsee befand. Die nahe liegende Pfeifergasse ist eine schmale Gasse, die vom Mozartplatz in mehreren Krümmungen zum Kajetanerplatz führt. Wie in den meisten Straßenzügen dieses Viertels stammen die Bürgerhäuser im Kern aus Mittelalter und 16. sowie 17. Jahrhundert. Der Altbestand wurde jedoch durch Bombentreffer während des Zweiten Weltkriegs weitgehend dezimiert. An der österlichen Seite der Altstadt liegt die Griesgasse, eine breite, mit leichtem Knick gerade verlaufende Straße zwischen Staatsbrücke und Gstättengasse. Sie wurde in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts planmäßig außerhalb der Stadtmauer angelegt. Am rechten Salzachufer gehört die Steingasse zu den wichtigsten Straßenzügen. Sie ist eine langgezogene, enge und mehrfach gewundene Gasse entlang des Salzachufers und war ehemals Hauptverkehrsweg und Ausfallstraße in Richtung Süden. Ihren besonderen historischen Charme erhält sie durch die Anlage auf an- und absteigendem Terrain zwischen Kapuzinerberg und Salzach. Die Linzer Gasse, der Hauptstraßenzug in der rechtsufrigen Altstadt und Ausfallstraße in Richtung Nordosten, ist eine langgezogene Gasse, die vom Platzl an ansteigt und sich im äußeren Bereich krümmt. Sie verfügt über einen geschlossenen Bestand an im Baukern mittelalterlichen oder auf das 16. Jahrhundert zurückgehenden Bürgerhäusern. Im Mai 2018 präsentierten die Mitarbeiter des Stadtarchivs eine Liste mit mehr als 60 Straßen und Plätzen mit nationalsozialistisch belasteten Namen. 46 tragen die Namen prominenter NSDAP-Mitglieder. Der Antrag auf Umbenennung ist im September 2021 im Gemeinderat mit einer knappen Mehrheit abgelehnt worden. Friedhöfe Salzburg verfügt über zwei große historische Friedhöfe, die kunst- und kulturhistorisch von großer Bedeutung sind. Der südlich und östlich der St.-Peter-Stiftskirche gelegene Petersfriedhof ist der älteste erhaltene Friedhof der Stadt. Die unregelmäßige Anlage befindet sich auf leicht ansteigendem Gelände und wird im Norden und Nordosten gegen die Mönchsbergwand durch Gruft-Arkaden abgeschlossen. Sie wurden von um 1600 bis gegen die Mitte des 17. Jahrhunderts errichtet. Der zweite historische Friedhof der Stadt ist der Sebastiansfriedhof. Er wurde zwischen 1595 und 1600 im Auftrag Fürsterzbischofs Wolf Dietrich von Raitenau nach dem Vorbild italienischer Campi Santi erbaut. Es handelt sich um eine annähernd quadratische Anlage, die auf allen vier Seiten von Pfeilerarkaden umgeben ist. In der Mitte des Friedhofs befindet sich die Gabrielskapelle (1597-1603), in der sich das Mausoleum Wolf Dietrichs befindet. Der größte Friedhof von Stadt und Land Salzburg ist der 1879 erbaute Kommunalfriedhof in Gneis. Hier befindet sich auch das bislang einzige Krematorium des Landes Salzburg (1931 errichtet). Der später erweiterte große Friedhof in Aigen wurde 1891 an der Stelle des kleinen Kirchhofes geweiht. Mehrmals erweitert wurde der aus dem Mittelalter stammende Friedhof in Maxglan. Etliche kleinere Friedhöfe befinden sich rund um die Vorstadtkirchen. Im idyllisch gelegenen Klosterfriedhof des Benediktinerinnenstifts Nonnberg werden seit Jahrhunderten verstorbene Ordensangehörige beigesetzt. Auf dem Soldatenfriedhof in Nonntal wurden zwischen 1803 und 1879 Salzburger gefallene, aber auch in Ruhestand gegangene verstorbene Soldaten des Erzherzog Rainer-Regiments bestattet. In Aigen befindet sich seit 1893 der Jüdische Friedhof, auf dem verstorbene Mitglieder der jüdischen Glaubensgemeinde beigesetzt werden. Architektur Bauten aus der Zeit der Romanik und der Gotik Die romanischen und gotischen Kirchen, Klosterbauten und Fachwerkhäuser prägten lange Zeit das Bild der mittelalterlichen Stadt, allen voran der Dom, dessen Erstbau im 7./8. Jahrhundert entstand. Nach einem Brand im Jahr 1598 und dem Einsturz des Mittelschiffgewölbes begann Fürsterzbischof Wolf Dietrich von Raitenau einen Neubau zu planen. Der barocke Dom entstand allerdings erst unter seinem Nachfolger; der mittelalterliche Vorgängerbau fiel ihm vollständig zum Opfer. Ein kleines Überbleibsel findet man noch in der Sigmund Haffner-Gasse Nr. 16: Vor der Durchfahrt des sogenannten Langenhofs steht ein romanischer Löwe aus der Mitte des 12. Jahrhunderts, der aus dem mittelalterlichen Dom stammt. Im Unterschied zum Dom ist das romanische Langhaus der Franziskanerkirche noch erhalten. Der spätgotische Chor wurde wahrscheinlich noch im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts unter Meister Hans von Burghausen begonnen. Am Anlauf der Treppenbrüstung zur spätgotischen Kanzel steht ebenfalls ein romanischer Löwe (mit Krieger) aus dem 13. Jahrhundert. - Die Benediktinerinnen-Abtei Nonnberg befindet sich nordöstlich der Festung Hohensalzburg auf einer Terrasse des steil abfallenden Festungsberges. Die der Himmelfahrt Mariens geweihte Kirche stammt aus der Spätgotik. Sie entstand wie das Kloster nach einem Brand im Jahr 1423, wobei beim Neubau der Kirche der Grundriss des romanischen Vorgängerbaus beibehalten wurde. Aus der Romanik ist auch der Westturm erhalten, der in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts gebaut wurde. - Die zum St.-Peter-Stift gehörende Margarethenkapelle inmitten des Petersfriedhofs ist ein einheitlicher spätgotischer Saalbau. Die dem Hl. Georg geweihte Kirche der Festung Hohensalzburg mit steilem Satteldach und Spitzbogenportal wurde um 1500 unter Fürsterzbischof Leonhard von Keutschach errichtet. Auf ihn geht auch die spätgotische Ausstattung der im dritten Obergeschoß des inneren Schlosses befindlichen Fürstenzimmer mit der Goldenen Stube und den angrenzenden Räumen zurück. Renaissance- und Barock-Bauten Fürsterzbischof Wolf Dietrich von Raitenau, der in Rom studiert hatte und mit einem Papst und Bischöfen verwandt war, hatte, nachdem er zum Bischof von Salzburg ernannt wurde, nur ein Ziel: die Stadt architektonisch dem Zentrum der Christenheit anzupassen. Gemeinsam mit dem Architekten und Architekturtheoretiker Vincenzo Scamozzi begann er, diesen Plan zu verwirklichen. Nach einem Brand des alten Doms im Jahr 1598 und dem Einsturz des Mittelschiffgewölbes wurde der italienische Baumeister mit dem Neubau beauftragt. Seine Projekte aus den Jahren 1601–1607 waren allerdings so überdimensioniert, dass sie nicht zur Ausführung kamen. Der Baubeginn an einem kleineren Bau im Jahr 1611 wurde nach dem Sturz Wolf Dietrichs ein Jahr später gestoppt. Im Auftrag des folgenden Fürsterzbischofs Markus Sittikus entwarf Santino Solari Pläne für einen neuen Dom, der unter seiner Leitung zur Ausführung kam und der der erste frühbarocke Kirchenbau nördlich der Alpen war. Die Fürsterzbischöfe Markus Sittikus und Paris Lodron setzten den von Wolf Dietrich geplanten Umbau der Stadt zur fürstlichen Barockresidenz fort. Unter ihnen entstanden das Lustschloss Hellbrunn, die Fürstenresidenz in der Innenstadt, das Universitätsgebäude, der Festungsgürtel und etliche andere Bauwerke. Giovanni Antonio Daria leitete im Auftrag des Fürsterzbischofs Guidobald Graf von Thun vermutlich ab 1656 den Bau des Residenzbrunnens und die Neugestaltung des Domplatzes. Der aus Roveredo stammende Architekt Giovanni Gaspare Zuccalli wurde mit der Errichtung der Erhardkirche und der Kajetanerkirche im Süden der Altstadt betraut. Vollendet wurde die immer barocker werdende Stadt mit Bauten von Johann Bernhard Fischer von Erlach, der im Auftrag Fürsterzbischofs Graf Johann Ernst von Thun tätig war. Von ihm stammen u. a. die Fassade des Hofmarstalls (heute Festspielhaus an der Seite zum Neutor), die Dreifaltigkeitskirche am Makartplatz, die Universitäts- oder Kollegienkirche, die Markus- oder Ursulinenkirche am Rudolfskai, das außerhalb der Stadt liegende Schloss Kleßheim und der Hochaltar der Franziskanerkirche. Danach erlahmte der weitere Ausbau der Stadt, weshalb es in Salzburg keine Rokoko-Kirchen gibt. Erst Fürsterzbischof Siegmund III. Christoph Graf von Schrattenbach setzte mit dem Bau des Sigmunds- oder Neutors und der Marienstatue am Domplatz neue Akzente. Die architektonische Gestaltung des Tors übernahmen Wolfgang Hagenauer und sein Bruder Johann Baptist Hagenauer, der für die Bildhauerarbeiten verantwortlich zeichnete. Gemeinsam schufen sie auch – in Auseinandersetzung mit einem älteren Modell – die Marienstatue am Domplatz. Nachdem das Gebiet des Erzstifts Salzburg zu Beginn des 19. Jahrhunderts zwischen Oberösterreich, Bayern (Rupertigau) und Tirol (Zillertal, Matrei in Osttirol) aufgeteilt worden war, stand die architektonische und künstlerische Entwicklung einige Zeit still. Erst ab der Gründerzeit entstanden neue, hauptsächlich profane Gebäude. Gegen Ende des Jahrhunderts schuf der Architekt Jakob Ceconi u. a. die Bazargebäude, während Carl Freiherr von Schwarz großen Anteil am Ausbau des Bahnnetzes und der Salzach-Regulierung hatte. Zur Architektur um die Zeit nach der Jahrhundertwende siehe auch die Liste der Bauwerke von Paul Geppert dem Älteren. Klassische Moderne und Nachkriegsmoderne Wie in beinahe allen Städten auf deutschsprachigem Gebiet gab es auch in Salzburg während des Zweiten Weltkriegs Bombentreffer. Es folgte eine Zeit des Wiederaufbaues und des architektonischen Neubeginns mit Bauwerken der klassischen Moderne und der Nachkriegsmoderne. Zu den bedeutendsten zählen das 1924–1926 errichtete Druck- und Verlagsgebäude Kiesel in der Elisabeth-Vorstadt, das 1925–1926 gebaute Alte Festspielhaus (seit 2006 Haus für Mozart), das im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigte und 1957 fertiggestellte Hotel Europa (an der Stelle des früheren Grand Hôtel de l´Europe) ebenfalls in der Elisabeth-Vorstadt, das 1960–1962 von Clemens Holzmeister erbaute Große Festspielhaus, sowie einige andere Gebäude (das Freibad in Leopoldskron aus dem Jahr 1964 und das ursprünglich 1957 errichtete Kongresshaus), die mittlerweile neuer Architektur gewichen sind. Zur Architektur seit den 1980er-Jahren siehe den Hauptartikel Liste von Bauwerken der Moderne in Salzburg. Dank einer strengen Bauordnung, gemäß der die einzigartigen historischen Gebäude der Salzburger Innenstadt weder verändert noch niedergerissen werden dürfen und auch der Bau moderner Architektur nicht vorgesehen ist, sollte die Altstadt, die vielen Menschen als eine der schönsten der Welt gilt, den Bewohnern und Touristen in ihrer Gesamtheit erhalten bleiben. Auf der anderen Seite der Salzach wurde das aus 1978 stammende Gebäude des Mozarteums (am barocken Mirabellgarten gelegen) wegen Verdachts krebsauslösender Baustoffe geschlossen, renoviert und entstand nach Plänen Robert Rechenauers neu. Der frühere Makart-Steg, seit 2021 Marko Feingold-Steg, der Ende des 20. Jahrhunderts baufällig geworden war, wurde zwischen 2000 und 2001 vom Salzburger Architekturbüro Halle 1 errichtet. Im Jahr 2011 wurde der Unipark Nonntal eröffnet. Das Architektenteam Storch Ehlers Partner hatte ihn geplant, das Projekt wurde 2012 mit dem Architekturpreis des Landes Salzburg ausgezeichnet. Etwas früher entstand das Wohn- und Atelierhaus des Architektenpaares Christine und Horst Lechner, das in der Priesterhausgasse hinter der Dreifaltigkeitskirche steht. Das Projekt hatte den Architekturpreis 2010 gewonnen. Zu den umstrittenen, aber notwendigen Gebäuden im Innenstadtbereich gehört das Heizkraftwerk Mitte, das sich an der Grenze der Schutzzone befindet. Die östliche, zum Kapuzinerberg gewandte Seite, verfügt über ein an eine Festung erinnerndes Dekor, wodurch das Aussehen eines Geschlechterturms (z. B. in San Gimignano) verstärkt wird. Außerhalb der Altstadt waren um die Jahrtausendwende bedeutende moderne Bauwerke entstanden, etwa das Gebäude der Naturwissenschaftlichen Fakultät, das im Rahmen der Neugestaltung des Universitätsviertels Nonntal in der Akademiestraße errichtet wurde. Architekt war der in Itzling geborene Wilhelm Holzbauer. Als eigenes Stadtteilzentrum entstand die Neue Mitte Lehen. Es wurde wie der Marko Feingold-Steg vom Salzburger Architektur-Büro Halle 1 geplant. In dem stadtteilprägenden Gebäude sind die Stadtbibliothek und ein Seniorenzentrum untergebracht. Der aufwändige Glasbau des Hangar-7, ein Beispiel der Blob-Architektur, befindet sich am Flughafen Salzburg und wurde von Volkmar Burgstaller geplant. Der Europark (Architektur: Massimiliano Fuksas) in Taxham zählt ebenfalls zu den neueren Bauten der Moderne in Salzburg und stellt auch einen der wirtschaftlich wichtigsten Betriebe des Bundeslandes dar. Darüber hinaus gibt es auch experimentelle Ansätze zur zeitgenössischen Architektur an der Bauakademie Salzburg der Gruppe soma. Ein Beispiel zeitgenössischer Technik-Architektur ist das von Max Rieder und Erich Wagner in unmittelbarer Nähe zum Weltkulturerbe-Schutzgebiet in skulpturaler Formensprache errichtete Wasserkraftwerk Sohlstufe Lehen, das 2014 mit dem Europäischen Betonbaupreis ausgezeichnet wurde. Kultur Musikstadt Salzburg Geschichte Schon unter dem am Übergang zum 9. Jahrhundert lebenden Erzbischof Arn von Salzburg bestand eine frühe Musiktradition. Salzburger Komponisten hatten eine enge Verbindung zu Gelehrten, die für Karl den Großen tätig waren. 870 bat Papst Johannes VIII. angesichts des schon damals guten Rufes der Musikstadt Salzburg den Erzbischof um eine Orgel und einen Organisten für den Vatikan. Unter Fürsterzbischof Eberhard II. wirkte der Lyriker und Minnesänger Neidhart von Reuental. Unter Fürsterzbischof Pilgrim II. von Puchheim lebte am Salzburger Hof der anonym gebliebene Mönch von Salzburg, dessen volksliedhaften, geistlichen und weltlichen Lieder bis heute populär sind. 1424 hielt sich der Sänger, Dichter und Komponist Oswald von Wolkenstein in Salzburg auf und war für Fürsterzbischof Eberhard III von Neuhaus tätig. Unter Fürsterzbischof Matthäus Lang von Wellenburg wirkten um 1500 die Komponisten Heinrich Finck, Caspar Clanner und der damalige König der Organisten Paul Hofhaimer. Auch der frühe Reformator und Dichter von Kirchenliedern, Paul Speratus, lebte hier bis zu seiner Vertreibung. 1591 erfolgte unter Fürsterzbischof Wolf Dietrich von Raitenau eine Neugründung der Hofkapelle und der Chormusik mit insgesamt 78 Musikern. Am 27. Jänner 1614 eröffnete Fürsterzbischof Markus Sittikus das neue Hoftheater und wurde so zum Ahnherrn der Musik- und Theaterstadt Salzburg, in der die ersten Opernaufführungen außerhalb Italiens stattfanden. Äußerst glanzvoll war das Einweihungsfest des fertiggestellten Salzburger Doms im Jahr 1628 unter der musikalischen Leitung von Stefano Bernardi, der auch eigene Werke zur Aufführung brachte. Der von Fürsterzbischof Max Gandolf von Kuenburg geförderte Komponist und Star-Musiker Georg(es) Muffat, der aus Megève stammte, war von 1678 bis 1687 Hoforganist. Er zählte zu den bedeutendsten Musikern seiner Zeit, verfasste innovative Werke und trug dazu bei, Salzburg musikalisch auf europäisches Niveau zu heben. Als Hofkapellmeister und Leiter der Sängerknaben, die seit Fürsterzbischof Pilgrim II die Domkapelle verstärkten, wirkte Heinrich Ignaz Franz Biber. Sein Sohn Carl Heinrich Biber, der fürsterzbischöflicher Kapellmeister war, wurde von Leopold Mozart abgelöst. Vor Mozart wirkten außerdem die Komponisten Johann Ernst Eberlin und dessen Schüler Anton Cajetan Adlgasser in der Stadt. Zwei Schüler von Johann Michael Haydn, dem Bruder Joseph Haydns und bekanntesten Salzburger Kirchenmusiker, waren Carl Maria von Weber und Sigismund von Neukomm. Als das selbständige Fürstentum Salzburg 1805 zu existieren aufhörte, endete auch die Tradition der fürstlichen Hofkapelle. Im Jahr 1841 wurde der Dommusikverein und Mozarteum als Konservatorium und zur Sammlung von Mozart-Dokumenten gegründet, im Jahr 1847 die Salzburger Liedertafel, die beide bis an dessen Lebensende unter der Leitung von Alois Taux standen. 1842 wurde das erste Mozart-Denkmal der Stadt mit einem Festakt eingeweiht. Es steht am Beginn einer Ära, die Salzburg mit den Gedenkstätten und Festspielen zur bedeutendsten Mozart-Stadt machen sollte. Die Einweihungsfeier für das Mozart-Denkmal wurde von Joseph Friedrich Hummel und Lilli Lehmann geleitet. 80 Jahre später wurden die Salzburger Festspiele eröffnet, deren musikalische Höhepunkte jeweils neu einstudierte Mozart-Opern darstellen. Der Franziskaner Pater Peter Singer, der ab 1840 in Salzburg lebte, war Organist und Chorleiter in der Franziskanerkirche. Als Komponist schuf er über hundert Messen. 1881 erhielt der damals 21-jährige Komponist Hugo Wolf am Salzburger Hoftheater eine Stelle als Hilfskapellmeister. Franz Xaver Gruber, Enkel des gleichnamigen Komponisten, der Schöpfer der Melodie von Stille Nacht, Heilige Nacht, gründete 1921 den Domchor. Der Sängerzusammenschluss, der ehrenamtlich arbeitete, erreichte unter der Leitung von Joseph Messner große Popularität. Die Internationale Stiftung Mozarteum, die auch ein eigenes Orchester hatte, wurde 1870, die Musikschule Mozarteum zwei Jahre später gegründet. Berühmte Rektoren und Professoren waren Clemens Krauss, Bernhard Paumgartner, Gerhard Wimberger, Klaus Ager sowie die Komponisten Cesar Bresgen und Carl Orff. Nach dem Ersten Weltkrieg löste sich das Mozarteumorchester Salzburg, das älteste Orchester der Stadt, vom Konservatorium. Es war aus dem Zusammenschluss von Lehrern und fortgeschrittenen Studenten der Akademie entstanden. Als Symphonieorchester von Stadt und Land Salzburg widmet es sich bis heute vorrangig der Musik der Wiener Klassik. Das Kammerorchester Camerata Salzburg wurde 1952 von Bernhard Paumgartner gegründet und später über 20 Jahre lang von Sándor Végh geleitet. Das Österreichische Ensemble für Neue Musik mit Sitz in Salzburg wurde 1975 von Klaus Ager und Ferenc Tornai ins Leben gerufen und anfangs von Klaus Ager geleitet.1998 gründete die Dirigentin Elisabeth Fuchs mit jungen Musikern die Junge Philharmonie Salzburg, deren Leitung sie bis heute innehat. Mozart und Salzburg Wolfgang Amadeus Mozart kam 1756 als Sohn des Hofkomponisten und Vizekapellmeisters Leopold Mozart und dessen Frau Anna Maria (geb. Pertl) im Haus Getreidegasse 9 zur Welt. Dort ist ihm zu Ehren ein Museum untergebracht. Mozarts Vater wirkte damals in der fürsterzbischöflichen Hofkapelle unter Siegmund Christoph Graf von Schrattenbach, der ein wichtiger Arbeitgeber und Förderer war. Die Hofkapelle stand in dieser Zeit unter der Leitung Johann Michael Haydns, des Bruders von Joseph Haydn. Wolfgang Amadeus Mozart erhielt ab dem Alter von vier Jahren gemeinsam mit seiner älteren Schwester Maria Anna, Nannerl genannt, Klavier-, Geigen- und allgemeinen Musikunterricht. Von 1761 stammen seine ersten Kompositionen. Ab 1762 – da war Mozart 6 Jahre alt – unternahm die Familie Konzertreisen, die sie an die Höfe der deutschen Fürsten, nach Wien an den Kaiserhof und später auch nach Paris und London führte. In die Zeit dieser Reisen und eines längeren Aufenthalts in Wien fallen auch Mozarts erste Kompositionen von Singspielen und Opern, von denen einige bei der Rückkunft in Salzburg uraufgeführt wurden. Als Mozart 13 Jahre alt war, wurde er zum unbesoldeten Hofkonzertmeister bestellt. Mit 16 Jahren ernannte ihn der neu gewählte Fürsterzbischof Hieronymus von Colloredo 1772 zum Konzertmeister seiner Kapelle. Für den freiheitsliebenden jungen Mann, der vor allem vom Fürsterzbischof künstlerisch und persönlich stark eingeschränkt wurde, war der Aufenthalt in Salzburg bald unerträglich. Es war ihm nur noch ein „Bettelort“, an dem er sein Genie nicht „verschlänzen“ wollte. Colloredo zeigte zudem wenig Verständnis, Mozart ständig für Tourneen zu beurlauben. In Folge kündigte er 1781 den Salzburger Dienst und setzte seine Laufbahn in Wien fort, wo er nur zehn Jahre später im Alter von 35 Jahren starb. Mozart und seine Musik wurden erst lange nach seinem Tod bekannt. Der Schriftsteller Julius Schilling regte im Jahr 1835 als einer der Ersten an, ihm in Salzburg ein Denkmal zu errichten. 1842 wurde auf dem nach dem Komponisten benannten Mozartplatz feierlich eine Statue eingeweiht. Der Name des Komponisten war damals nur wenigen Besuchern ein Begriff. Dennoch zählte die Feierlichkeit lange Zeit zu den größten, die die Stadt je erlebt hatte. Schifffahrten, Fackelzüge und anderen volksfestartige Veranstaltungen waren der Denkmal-Enthüllung vorausgegangen. Die erste Gesamtausgabe der Werke Mozarts wurde 1907 von der Stiftung Mozarteum fertiggestellt. Heute erinnern viele Orte und Institutionen an den Musiker. Die vielen internationalen Musikfeste, die ab 1877 in Salzburg zu Ehren von Mozarts Schaffen stattfanden, führten 1920 u. a. zur Gründung der Salzburger Festspiele. Salzburger Festspiele Die größte künstlerische Veranstaltungsreihe mit Konzerten, Opern, Liederabenden und Schauspielen findet seit 1920 alljährlich im Sommer im Rahmen der Salzburger Festspiele statt. Sie hatten sich aus den seit Ende des 19. Jahrhunderts immer häufiger werdenden Festen Mozart zu Ehren und anderen internationalen Musikveranstaltungen entwickelt. Heinrich Damisch, der schon 1913 die Wiener Akademische Mozartgemeinde gegründet hatte, verfolgte gemeinsam mit Friedrich Gehmacher den Plan für regelmäßig in Salzburg stattfindende Festspiele. Der Verein der Festspielgemeinde wurde 1917 ins Leben gerufen. Die künstlerische Leitung der Festspiele übernahm der Regisseur Max Reinhardt, der dabei von Hugo von Hofmannsthal unterstützt wurde. Die erste Aufführung der Festspiele fand am 22. August 1920 statt. Auf dem Programm stand das – spätmittelalterlichen Mysterienspielen nachempfundene – Theaterstück Jedermann von Hofmannsthal in der Inszenierung von Reinhardt, das schon damals auf dem Platz vor dem Dom gespielt wurde. Heute verfügen die Festspiele zudem über drei Festspielhäuser, in denen unabhängig von Wetterkapriolen Vorstellungen stattfinden können: 1925 wurde das erste Festspielhaus (heute Haus für Mozart) eröffnet, 1926 erstmals die Felsenreitschule bespielt und 1960 das Große Festspielhaus eröffnet. Auch der Große Saal des Mozarteums, das Salzburger Landestheater und seit 1992 die Pernerinsel in Hallein werden als Spielstätten miteinbezogen. Weitere Aufführungsorte der Salzburger Festspiele verteilen sich über das gesamte Stadtgebiet. 1956 wurde auf Veranlassung von Mitgliedern der Internationalen Stiftung Mozarteum die Mozartwoche gegründet, die Ende Jänner/Anfang Februar stattfindet. Zeitlich-ideeller Ausgangspunkt ist Mozarts Geburtstag am 27. Jänner. Herbert von Karajan rief 1967 als Ergänzung zu den Sommerfestspielen die Osterfestspiele ins Leben. Auf ihn gehen auch die 1973 gegründeten Pfingstfestspiele zurück. Letztere sind seit dem Tod Karajans hauptsächlich der Musik des 18. Jahrhunderts gewidmet. Klassische Musik Zu den Salzburger Konzertsälen für klassische Musik gehören der Wiener und der Große Saal des Mozarteums, die Große Aula der Universität, der Yamaha Saal im Orchesterhaus des Mozarteumorchesters sowie der Solitär im Gebäude der Universität Mozarteum, der für Kammermusik-Aufführungen zur Verfügung steht. Im ebenfalls dort befindlichen Großen Studio werden Theaterstücke aufgeführt. Der barocke Marmorsaal von Schloss Mirabell ist seit 1954 Spielstätte der Salzburger Schlosskonzerte. Die über 250 jährlich dort veranstalteten Kammerkonzerte stehen seit 1991 unter der musikalischen Leitung des Solo-Geigers Luz Leskowitz. Außerhalb der Festspielzeit zählen seit 2006 die DIALOGE der Internationalen Stiftung Mozarteum zu den wichtigsten Programmpunkten des Salzburger Kulturjahres. Es handelt sich dabei um ein Festival, das sich zeitgenössischer Musik widmet. Zu den Konzerten der Salzburger Kulturvereinigung gehören neben bekannten Konzertreihen vor allem die Salzburger Kulturtage und einige Opernabende, wie z. B. das Oper im Berg Festival und Ballettvorstellungen im Landestheater. Die Aspekte Salzburg ist ein jedes zweite Jahr stattfindendes Musik-Festival für zeitgenössische Musik. Reich ist das Angebot an Kammermusikveranstaltungen in Salzburg. Regelmäßig finden die Salzburger Festungskonzerte, die Salzburger Schlosskonzerte in Schloss Mirabell und Konzerte der Salzburger Hofmusik statt. Das Salzburger Adventsingen, das Tobi Reiser 1950 gründete, ist weit über Salzburg hinaus bekannt. Volksmusikalische Chor- und Instrumentaldarbietungen sowie ein Hirtenspiel in der Weihnachtszeit kommen alljährlich im Großen Festspielhaus zur Aufführung. Jazzmusik und alternative Musik Der Salzburger Jazz-Herbst war ein jährlich stattfindendes Musik-Festival, das von 1996 bis 2012 stattfand. Dabei wirkten internationale Stars der Jazz-Szene ebenso wie österreichische Musiker mit. Die Veranstaltungsreihe Jazz & The City findet seit 2000 jedes Jahr Ende Oktober/Anfang November an verschiedenen Plätzen, in Sälen, Lokalen und Clubs statt. Der Eintritt ist frei. Aus der 1981 gegründeten Konzertreihe Jazz im Theater entwickelte sich im Jahr 2002 das Jazz-Lokal Jazzit. Der alternative Jazzclub bietet zudem Raum für experimentelle elektronische Musik. Seit 1983 existiert der Jazzclub Life Salzburg, der sich vorrangig traditionellen Formen des Jazz widmet. Die ARGE-Kultur Salzburg ist das größte unabhängige Kulturzentrum der Stadt und ging aus der ARGE Rainberg (November 1981) hervor. Der Name stand im Zusammenhang mit dem erwünschten Einzug in ein Gebäude am Rainberg. Da das nicht möglich war, weil der Platz anderweitig verwendet wurde, wurde der Gruppe der HTL-Lehrbauhof im Nonntal zur Verfügung gestellt, die sich fortan ARGE Nonntal nannte. Sie ist Veranstalterin und Produzentin für zeitgenössische, innovative und gesellschaftskritische Kultur. Das Rockhouse ist ein Veranstaltungsort im Stadtteil Schallmoos. Es wurde 1993 eröffnet und bietet jährlich etwa 200 Veranstaltungen an. Die sechs Proberäume, die bei Salzburger Bands und Musikern sehr begehrt sind, werden einmal pro Jahr in einer Proberaum-Vergabesitzung Interessenten für die Dauer eines Jahres zugeteilt. Kinder zwischen 6 und 10 Jahren können dort an einem Rock- und Pop-Schnupper-Workshop teilnehmen. Seit 2004 besteht die Kultur-Initiative Akkorde-On-Stage Salzburg, die von Mitgliedern des Akkordeon-Orchesters Viel-Harmonie Salzburg gegründet wurde. Sie versteht sich als Gegenpol zur sonst volksmusikbezogenen Tonkunst der Zieh- oder Knöpferlharmonika. Auf dem Programm stehen Werke zeitgenössischer Komponisten, die an verschiedenen Orten Euroopas vorgetragen werden, vorrangig aber im Raum in und um Salzburg. Zwei jährlich stattfindende Großveranstaltungen in Innsbruck und Wien gehören zu den Fixpunkten der Gruppe. Die JIMS – summer academy for Jazz and Improvised Music Salzburg wurde 1997 gegründet, um das Fehlen einer professionellen Ausbildungsstätte für Jazz in Salzburg zu kompensieren. Im Jahr 2008 musste das Festival wegen finanzieller Engpässe eingestellt werden. Sehenswürdigkeiten und Museen Die Festung Hohensalzburg zählt zu den meistbesuchten Sehenswürdigkeiten Österreichs: Sie liegt hinter dem Stephansdom, Schloss Schönbrunn, dem Kunsthistorischen Museum und Schloss Belvedere (alle in Wien) an fünfter Stelle. Die beiden größten und meistbesuchten Museen der Stadt sind das Salzburg Museum und das Haus der Natur Salzburg. Das Salzburg Museum wurde im Jahr 1834 als Provincialmuseum gegründet und 1846 in das Eigentum der Stadt Salzburg übergeführt. 1850 übernahm Kaiserinwitwe Caroline Augusta, die seit dem Tod ihres Mannes Kaiser Franz II./I.1 in Salzburg lebte, die Patronanz, woraufhin es Carolino Augusteum genannt wurde. Diesen Namen behielt es bis in das Jahr 2007, als es in die Neue Residenz übersiedelte. Seit damals heißt es Salzburg Museum. Die Ausstellungen haben die Kunst- und Kulturgeschichte von Stadt und Land Salzburg zum Hauptinhalt. Angeschlossene Museen sind das Panorama Museum für das Sattler-Panorama der Stadt aus dem Jahr 1825, das Volkskunde Museum im Monatsschlössl Hellbrunn, das Spielzeug Museum im ehemaligen Bürgerspital, das Domgrabungsmuseum am Residenzplatz und das Festungsmuseum. Das Haus der Natur ist ein Museum, das sich der Wissenschaft der Naturkunde und der Technik widmet. Es wurde 1924 vom Zoologen Eduard Paul Tratz ins Leben gerufen, der fortan auch dessen Direktor war. Zehn Jahre zuvor hatte er schon das Österreichische Ornithologische Institut gegründet, das damals im Monatsschlössl in Hellbrunn untergebracht war. Heute ist es im Haus der Natur am Museumsplatz beheimatet. Ende 2008 wurden die einstigen Ausstellungsräume des ehemaligen Museums Carolino Augusteum dem Haus der Natur eingegliedert. Das vergrößerte Museum wurde Ende Juni 2009 wiedereröffnet. Das Salzburger Barockmuseum, das sich früher in der Orangerie des Mirabellgartens befand, wurde 2012 geschlossen. Die Sammlung der barocken Artefakte fiel an das Salzburg Museum. Das Dommuseum Salzburg wurde am 16. Mai 2014 eröffnet und ist wie die Ausstellungsräume der Residenz und das Museum der Erzabtei St. Peter Teil des DomQuartier Salzburg. Der gesamte Museumskomplex zählt mit seinen zahlreichen Sammlungen zu den wichtigsten Museen Europas. Es werden ständig wechselnde Sonderschauen gezeigt, die aus der Wunderkammer der Salzburger Fürsterzbischöfe, ihrer Bildersammlung in der Residenzgalerie und der Sammlung der Erzabtei St. Peter stammen. Zudem können die in der Residenz befindlichen ehemaligen fürsterzbischöflichen Prunkräume besichtigt werden. Insgesamt werden in dem 15.000 Quadratmeter umfassenden Museum mehrere Tausend Exponate gezeigt. Auch dem Schaffen Mozarts sind Museen und wechselnde Ausstellungen an verschiedenen Orten gewidmet. Die bekanntesten sind das der Stiftung Mozarteum gehörende Geburtshaus in der Getreidegasse und das ehemalige Tanzmeisterhaus, das Wohnhaus der Familie, am Makartplatz. Im Museum der Moderne Salzburg mit seinen Standorten am Mönchsberg und im Rupertinum werden Werke zeitgenössischer Künstler gezeigt. Im Rupertinum befindet sich auch eine der beiden für die österreichische Fotografie wichtigen Institutionen: die von Otto Breicha 1983 gegründete Sammlung Fotografie und Medien mit der Österreichischen Fotogalerie. Zwei Jahre früher war der Fotohof, eine Galerie und ein Verlag für zeitgenössische künstlerische Fotografie in Salzburg, entstanden, der sich zunächst im Nonntal befand. Seit 2012 ist er in Lehen beheimatet. Literatur Eine der ältesten literarischen Schilderungen Salzburgs ist das Loblied, das der Nürnberger „Meistersinger“ Hans Sachs im Jahr 1549 auf die Stadt schrieb. Nur wenige Jahre später (1594) wurde die Buchhandlung Höllrigl, die älteste Österreichs, gegründet, die vom frühen Interesse der Salzburger an Literatur zeugt. Von den folgenden zwei Jahrhunderten lassen sich keine bekannten Dichter und Schriftsteller ausmachen. Die nächsten Zeugnisse datieren aus dem 19. Jahrhundert. Der aus Oberösterreich stammende Mundartdichter Franz Stelzhamer lebte und wirkte lange Zeit in Salzburg. Auch Sylvester Wagner war ein Mundartdichter, der sich in seinen Werken bevorzugt dem Leben auf dem Land widmete. Er wurde in Henndorf am Wallersee geboren. Dort und in Salzburg wurden Straßenzüge nach ihm benannt. Während seiner Gymnasialzeit und in den späten Jahren der Monarchie hatte Hermann Bahr in Salzburg gelebt. Sein literarisches Werk umfasst mehrere zeitgenössische Strömungen. Als er 1912 im Alter von knapp fünfzig Jahren mit seiner zweiten Frau, der Opernsängerin Anna von Mildenburg, wieder nach Salzburg zog, wohnte er in Schloss Arenberg. Er empfand die Stadt als Stein gewordene Musik. Als Freund Hugo von Hofmannsthals und Max Reinhardts engagierte er sich gemeinsam mit ihnen und mit seiner Frau für die Verwirklichung der Salzburger Festspiele. Der in Pola/Pula in Kroatien (damals Österreich-Ungarn) geborene Novellen- und Romanautor Franz Karl Ginzkey lebte ab 1921 in Salzburg, und auch er war an der Gründung der Salzburger Festspiele beteiligt. Einen noch stärkeren Bezug dazu hatte der Librettist, Lyriker und Dramatiker Hugo von Hofmannsthal, der nicht nur Mitbegründer der Salzburger Festspiele war, sondern dessen Mysterienspiel Jedermann von Beginn an bis heute (mit einigen wenigen Unterbrechungen) auf dem Spielplan steht. Der Schriftsteller Stefan Zweig hatte während des Ersten Weltkriegs das Paschinger Schlössl auf dem Kapuzinerberg gekauft, in das er nach Kriegsende einzog. Hier schrieb er u. a. das Libretto zur Oper Die schweigsame Frau von Richard Strauss. Erik von Wickenburg, der als Journalist und Schriftsteller tätig war, hatte zwar seine Schul- und Studienzeit in Wien verbracht, war aber geborener Salzburger, der hier auch viele Jahre lebte und ebendort kurz vor der Jahrtausendwende verstarb. Der Salzburger Schriftsteller Georg Trakl, ein Vertreter des lyrischen Expressionismus, ist für sein bildhaftes poetisches Werk bekannt. Mit seinen Geschwistern hauptsächlich von einer französischen Gouvernante erzogen, interessierte er sich früh für die großen Lyriker Frankreichs, Charles Baudelaire allen voran. Im Alter von 17 Jahren begann er mit ersten literarischen Versuchen, die fortan hauptsächlich der Dichtkunst gewidmet waren. Es gibt aber aus der künstlerischen Frühzeit auch Theaterstücke und Prosawerke. Dem großen Künstler zu Ehren wurde 1952 der Georg Trakl-Preis für Lyrik geschaffen. Zwanzig Jahre später erwarb das Land Salzburg sein Geburtshaus und richtete dort eine Forschungs- und Gedenkstätte ein. Die Lyrikerin Erna Blaas, die aus Oberösterreich stammte und früh verwitwete, lebte ab 1928 in Salzburg. Sie war eine der Ausgezeichneten, die den Georg Trakl-Preis erhielt. In Salzburg lebte auch die russische Schriftstellerin Alja Rachmanowa, die sich in der bewegten Zeit des Bolschewismus in den österreichischen Kriegsgefangenen Arnulf von Hoyer verliebt hatte. Nach der Heirat und der Geburt des einzigen Sohnes wurde die aus großbürgerlichen Verhältnissen stammende Frau aus der Sowjetunion verwiesen. Mit Mann und Kind verbrachte sie einige Zeit in Wien, bis die kleine Familie 1927 nach Salzburg, in die Heimatstadt Hoyers, zog. Hier gelang es Rachmanowa erste Werke zu veröffentlichen und als Schriftstellerin Fuß zu fassen. Als ihr Leben 1945 durch die anrückende russische Armee neuerlich gefährdet war, floh sie mit ihrem Mann in die Schweiz, wo sie 1991 verstarb. Der aus Henndorf stammende Heimatdichter Johannes Freumbichler, dessen literarisches Werk erst durch seinen Enkel Thomas Bernhard bekannt wurde, lebte ab den 1940er-Jahren mit der Familie in Salzburg. Hier verbrachte Thomas Bernhard seine Schulzeit und seine erste Schaffenszeit als Schriftsteller. Gerhard Amanshauser, der in Salzburg geboren wurde, studierte in Graz, Wien und Innsbruck und kehrte im Jahr 1955 nach Salzburg zurück, wo er fortan als Schriftsteller tätig war. Dort wurde auch sein Sohn Martin Amanshauser geboren, der sich wie sein Vater als Schriftsteller der Lyrik und der Prosa zuwandte. Ab 1972 lebte der Wiener Dichter H. C. Artmann mehr als zwanzig Jahre in Salzburg. Wenig später zog der aus Kärnten stammende Schriftsteller Peter Handke in die Stadt und wohnte acht Jahre auf dem Mönchsberg. Zu den in Salzburg geborenen Autoren gehören unter anderen Bodo Hell, Kathrin Röggla, Karl-Markus Gauß und Walter Kappacher. Die 2021 verstorbene Christine Haidegger lebte ab 1964 als freie Schriftstellerin in Salzburg. Seit 1991 tritt das Literaturhaus Salzburg im Eizenbergerhof in Lehen als Vermittler anspruchsvoller Gegenwartsliteratur auf. Dort finden alljährlich im Frühjahr das Festival Europa der Muttersprachen und im Herbst das Krimifest Salzburg statt. Im Literaturhaus arbeiten neben den Beschäftigten des Trägervereins auch die Mitarbeiter von Erostepost, die jährlich einen Literaturpreis vergeben. 2008 wurde das jährlich im Frühjahr stattfindende Literaturfest gegründet. Unter seiner Ägide finden an verschiedenen Orten der Stadt Lesungen von Werken namhafter zeitgenössischer Autoren statt. Außerdem sind in Salzburg die Grazer Autorenversammlung/Salzburg, prolit & Edition Eizenbergerhof, die Salzburger Autorengruppe und das Literaturforum Leselampe (Herausgeber der Literaturzeitschrift SALZ) beheimatet. Die vom Germanisten Adolf Haslinger ins Leben gerufene Stiftung Salzburger Literaturarchiv wurde aus Anlass des ersten Todestages ihres Gründers in Adolf Haslinger Literaturstiftung umbenannt. Seit 2011 besteht eine enge Kooperation mit dem Literaturarchiv Salzburg, dem Forschungszentrum von Universität, Land und Stadt Salzburg. Theater Das heutige Salzburger Landestheater wurde 1775 von Fürsterzbischof Hieronymus Colloredo als Hoftheater gegründet und war hauptsächlich zur Bildung und Unterhaltung der Salzburger Bürger gedacht. Das Gebäude befand sich ebenfalls am Makartplatz, lag aber dem Salzachufer näher. Mit der Abschaffung des Fürsterzbistums verschwand auch die Institution des Hoftheaters, das unter den wechselnden politischen Gegebenheiten einmal Kurfürstliches Theater, einmal Königliches Nationaltheater und zuletzt Stadttheater hieß. 1892 wurde es wegen Sicherheitsmängeln abgerissen und innerhalb eines Jahres an der jetzigen Stelle neu errichtet. Seit 1940 heißt es Landestheater. Es befindet sich im Eigentum von Land und Stadt Salzburg und ist ein Mehrspartenhaus, in dem Theaterstücke, aber auch Opern, Operetten, Ballett- und Tanzaufführungen sowie Kindertheater gezeigt werden. Mit der Gründung des Salzburger Marionettentheaters erneuerte Anton Aicher 1913 eine alte Salzburger Tradition im Geist der Barockzeit. Es befand sich zunächst im Künstlerhaus, später im Borromäum. Während des Zweiten Weltkriegs und auch noch Jahre später ging man auf Tournee – zunächst innerhalb Europas, später auch nach Amerika und nach Asien. Seit 1971 hat es seinen festen Sitz im Haus in der Schwarzstraße. Am Marionettentheater werden Opern von Mozart und Werke anderer Komponisten sowie Märchenstücke aufgeführt. Es zählt zu den Publikumslieblingen der Stadt. Außer dem Landestheater und der Salzburger Festspiele gibt es auch das Schauspielhaus Salzburg, die ehemalige Elisabethbühne, das regelmäßig bespielt wird. Es handelt sich dabei um das größte freie Ensemble-Theater Österreichs. Jährlich kommen etwa zehn Schauspiele und ein Kinderstück in zwei Theatersälen zur Aufführung. Zudem sind eine Schauspielschule und ein Verlag für Kindermusicals angeschlossen. Auch im Toihaus in der Franz Josef-Straße, im Kleinen Theater in der Schallmooser Hauptstraße und im Republic, dem Veranstaltungsort der Szene Salzburg am Anton Neumayr-Platz, werden regelmäßig Schauspiele aufgeführt. Im Oval, der Bühne im Europark, finden Theater- und Tanzvorstellungen für Erwachsene und Kinder, aber auch (Kino-)Filmvorführungen statt. Auf die Theatertradition des antiken Thespiskarrens bezieht sich das Salzburger Straßentheater, das 1970 gegründet wurde. Jährlich zur Festspielzeit begibt sich ein von Pferden gezogener Wagen mit Theaterbühne durch Stadt und Land Salzburg. Gespielt werden Werke der klassischen Komödienliteratur von Johann Nestroy, Carlo Goldoni, Molière, George Bernard Shaw, mitunter stehen aber auch Stücke zeitgenössischer Autoren, wie von Dario Fo, auf dem Spielplan. Bildende Kunst Malerei Die Malerei des Mittelalters wurde in Salzburg wie an den meisten Orten, in denen es Klöster gab, von Mönchen geprägt. Das Illuminieren von Büchern – das Ausmalen der Seiten mit textbezogenen Illustrationen und die Gestaltung der Ränder mit dekorativen Elementen – war ein Zeichen von gehobener künstlerischer Bildung und förderte das Ansehen des Klosters. Das Antiphonar der Erzabtei von St. Peter, eine mit Feder- und Tintenzeichnungen reich dekorierte Handschrift, gehört zu den wertvollsten Kunstschätzen des Stifts. Es befindet sich heute in der Österreichischen Nationalbibliothek. Auch die meiste andere Malerei dieser Epoche – Tafelbilder, Fresken, Glasfenster – entstand hauptsächlich im Auftrag von Kloster- oder Kirchenherren. Bedeutende Werke befinden sich u. a. in der Stiftskirche Nonnberg. Die Fresken stammen aus der Mitte des 12. Jahrhunderts und zeigen Brustbilder von heiliggesprochenen Päpsten, Bischöfen, Äbten und Märtyrern. Das Glasfenster (bez. 1480) in der Hauptapsis stiftete Augustin Clanner im Jahr 1473. Der Glasmaler Peter Hemmel von Andlau, dessen Werke zu den technisch und künstlerisch ausgefeiltesten der Epoche gehören, schuf es. Der im schwäbischen Raum geborene Conrad Laib führte ab 1445 eine bedeutende Werkstatt in Salzburg. Er gehörte zu den ersten deutschen Malern, die die Neuerungen der niederländischen Kunst in seinem Werk aufnahm. Wandmalereien von ihm befinden sich in der Franziskanerkirche, ein Tafelbild im Salzburg Museum. Der in Salzburg geborene Rueland Frueauf der Ältere wirkte in seinen ersten Lebensjahrzehnten in der Stadt, bis er sich 1478 in Passau niederließ. Etliche seiner Werke – Flügelaltäre und Tafelbilder – befinden sich in der Österreichischen Galerie von Schloss Belvedere in Wien. Die Werke seines Sohnes Rueland Frueauf der Jüngere stehen künstlerisch am Übergang von der Gotik zur Renaissance. Das Werk des aus Mondsee stammenden Hans Bocksberger des Älteren ist in der frühen Neuzeit anzusiedeln. Zu seinen bekanntesten Bildern zählt das Standportrait Kaiser Ferdinands I. Bocksberger lebte lange Zeit in der Stadt Salzburg, wo er eine eigene Werkstatt betrieb und u. a. seinen Sohn und einen Neffen ausbildete. Einer der bedeutendsten Barockmaler des süddeutschen Raums war der Salzburger Johann Michael Rottmayr. Gemälde von ihm finden sich in der Franziskanerkirche und im Franziskanerkloster, in der Erhard- und in der Kajetanerkirche. Für die Dreifaltigkeitskirche, für die Residenz und für die Winterreitschule schuf er Deckenfresken. Seinen künstlerischen Durchbruch in der Kaiserstadt Wien verdankte er Fürst Johann Adam I. Andreas Liechtenstein, der ihn als Erster als Freskenmaler im Sommerpalais (im heutigen 9. Gemeindebezirk) beschäftigte. Später schuf Rottmayr Deckengemälde für Schloss Schönbrunn (nicht mehr erhalten) sowie für die Peters- und für die Karlskirche. Zu den großen Malern der Epoche zählte auch Paul Troger. Er schuf in Salzburg am Beginn seiner Karriere das Hochaltarbild und das Kuppelfresko der Kajetanerkirche. Ein ebenfalls von ihm stammendes Hochaltarbild und ein Deckenfresko in der Sebastianskirche gingen beim großen Stadtbrand im Jahr 1818 verloren. In der Romantik entdeckten Maler und (Reise)Schriftsteller die Schönheit der Stadt (wieder). Ihre Begeisterung, Salzburg in Wort und Bild zu erfassen, verbreitete sich bald in Europa und bildete eine frühe Grundlage für den aufkommenden Fremdenverkehr. Der in Niederösterreich geborene Maler Johann Fischbach ließ sich 1840 in Salzburg nieder, hatte hier eine Werkstatt und eine kleine Akademie, an der er Künstler ausbildete. Seine Ansichten von Salzburg fanden viel Anklang und später als Stahlstiche große Verbreitung. Der aus Bayern stammende Andreas Nesselthaler wirkte in Venedig, Bologna, Florenz, Rom, Neapel und für den russischen Hof, bevor er ab 1789 im Dienst des Fürsterzbischofs Hieronymus Colloredo stand. Etliche seiner Werke befinden sich in der Residenzgalerie und im Salzburg Museum. Von Hubert Sattler stammt die wohl bekannteste und detailreichste Salzburg-Ansicht dieser Epoche - das 26 Meter lange Panoramabild, das im Panorama-Museum zu besichtigen ist. Rudolf von Alt verbrachte viele Jahre die Sommermonate in Salzburg, wo er Ansichten der Stadt und des Landes schuf. Eine Künstlergeneration später wirkte der in Salzburg geborene Hans Makart, der seinen großen Durchbruch in Wien hatte. Sein üppiger Stil, der sich an Tizian und Rubens orientierte, fand in der Ringstraßen-Epoche großen Zuspruch. Der in Radtstadt geborene Landschaftsmaler Franz Kulstrunk, der künstlerisch und thematisch wesentlich konservativer arbeitete, fand seine Berufung als Vedutenmaler. Sein Hauptwerk Die Stadt Salzburg im Jahre 1916, das sich im Rathaus befindet, ist ein monumentales Panorama-Bild und baugeschichtliches Porträt der Stadt dieser Epoche. Nach Ende des Ersten Weltkriegs lebte Anton Faistauer in Salzburg. Er schuf 1922/1923 die Deckengemälde in der Pfarrkirche Morzg mit zahlreichen Bild-Zitaten der Stadt und ihrer Umgebung (Schloss Hellbrunn, Rathaus, Maria Plain, Untersberg, Mönchsberg, Gaisberg usw.). Wenig später erhielt er den Auftrag, Fresken für das Festspielhaus auszuführen. Oskar Kokoschka gründete nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit dem Salzburger Kunsthändler und Verleger Friedrich Welz die Internationale Sommerakademie für Bildende Kunst Salzburg, die bis heute alljährlich auf der Festung Hohensalzburg stattfindet. Der in Salzburg geborene Wilhelm Kaufmann war als junger Mann gemeinsam mit Anton Faistauer an der Ausmalung der Morzger Kirche sowie an der Herstellung der Gobelins für das Festspielhaus beteiligt. Skulptur Die frühesten und größten Auftraggeber für Skulpturen waren im Mittelalter Fürsten und Ordensgemeinschaften. Wie schon in der Malerei dominierten sakrale Themen. Einer der bekanntesten Bildhauer der Spätgotik, Michael Pacher, stammte aus Tirol und verbrachte seine letzten Lebensjahre in Salzburg. Hier schuf er für die Franziskanerkirche und für die St. Michaelskirche Flügelaltäre, von denen nur Einzelfiguren erhalten sind. Wenig ist von der Bildhauerkunst der Renaissance bekannt. Die Epoche war von Fürsterzbischof Wolf Dietrich von Raitenau geprägt, der am Übergang von Renaissance zu Barock wirkte und Auftraggeber etlicher Bauwerke war. Malereien und Skulpturen seiner Ära waren schon stark vom aufkommenden Barock beeinflusst. Der bekannteste Salzburger Bildhauer dieser Ära war Bernhard Michael Mandl. Er wurde in Böhmen geboren, lebte aber ab seinem 30. Lebensjahr in Salzburg, wo er hauptsächlich für Fürsterzbischof Johann Ernst von Thun arbeitete. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören der Rossebändiger der Marstallschwemme, die Statuen der Apostel Peter und Paul vor der Fassade des Domes, Athletenfiguren im Mirabellgarten oder Giebelfiguren an der Markus-/Ursulinenkirche. Vor 1730 schuf Georg Raphael Donner die Marmorstiege im Schloss Mirabell, die ein bedeutendes Werk seiner frühen Schaffenszeit darstellt. Wichtige Künstler des 18. Jahrhunderts waren Sebastian Stumpfegger und Andreas Götzinger, die gemeinsam Portale und Oratorien in der Kollegienkirche schufen. Die Fassade der Pfarrkirche Mülln sowie das Klosterportal sind auf Sebastian Stumpfegger zurückzuführen, der am Umbau mehrerer Kirchen in Salzburg beteiligt war. Von Andreas Götzinger stammen das innere Paar der Borghesischen Fechter sowie Postamente und Balustraden im Mirabellgarten, die Fassade, der Hochaltar und der Brunnen am Sockel der Erhardkirche sowie einige Arbeiten in der Dreifaltigkeitskirche. Johann Georg Hitzl ist für sein zartes Schnitzwerk bekannt, mit dem er Kanzeln (wie die in der Pfarrkirche Mülln) überzog, und er schuf feingliedrige Statuen für die Pfarrkirche in Maxglan und für die Stiftskirche St. Peter. Von Josef Anton Pfaffinger stammen etliche Statuen des damals populären Brückenheiligen Nepomuk, wie die bei den Barmherzigen Schwestern an der Salzach, an der Brücke über die Glan in Maxglan und beim Leopoldskroner Weiher. Johann Baptist Hagenauer schuf die Marienstatue am Domplatz und die künstlerische Ausgestaltung des Sigmundstors. Johann Piger, der Mitte des 19. Jahrhunderts im Oberinntal geboren wurde, lebte und wirkte beinahe sechzig Jahre in Salzburg. Holzstatuen von ihm befinden sich in der Herz-Jesu-Kirche in der Riedenburg, im Kapuzinerkloster und in der Franziskanerkirche. Giacomo Manzù, ein Bildhauer des 20. Jahrhunderts, ist der Schöpfer der Porta dell’Amore („Tor der Liebe“) am Dom und der Figur Kardinal vor den Bögen des Doms. Anselm Kiefer schuf als erster Künstler ein Werk für die Salzburg Foundation, das begehbare Kunstwerk A.E.I.O.U., das im Furtwänglerpark steht. Von Manfred Wakolbinger stammt die Figur Connection für den Walk of Modern Art, ein auf zehn Jahre angelegtes Kunstprojekt der Salzburg Foundation. Für dieses breitgefächerte Kunstprojekt haben auch Mario Merz, Marina Abramović, Markus Lüpertz, James Turrell, Stephan Balkenhol, Anthony Cragg, Christian Boltanski, Jaume Plensa, Brigitte Kowanz und Erwin Wurm Werke beigesteuert. Alle Skulpturen stehen im öffentlichen Raum und können besichtigt werden. Kino und Filmproduktion Salzburg hat eine lange Kino- und Filmtradition. Das Mozartkino in der Kaigasse 33, eines der ältesten Kinos der Welt, wurde im Jahr 1905 eröffnet. Seit 1918 ist es im Altstadthotel Kasererbräu untergebracht. Der bislang größte Umbau zum modernen Kino-Center fand 1987 statt. Es ist heute die letzte privat geführte Institution dieser Art in Salzburg. Das Maxglaner Kino war nach dem in Wien<-- Welchem?? --> das zweitgrößte Österreichs. Am Beginn der Steingasse befindet sich Das Kino, dessen Programmschwerpunkt auf Kulturfilmen und Retrospektiven liegt. Jeden Herbst findet hier ein Bergfilmfestival statt. In Salzburg gab es auch ein Filmstudio. 1921 hatte die Salzburger Stieglbrauerei in Maxglan der neu gegründeten Firma Salzburger-Kunstfilm Gebäude zur Verfügung gestellt. Dort errichtete die Filmproduktionsgesellschaft ein Labor und ein Filmatelier. Der erste Dokumentarfilm hieß Die Festspiele 1921, der erste Spielfilm, Die Tragödie des Carlo Prinetti, wurde 1924 gedreht. Der Vorläufer des Elmo Kinos entstand 1947 im Turnsaal der Volksschule Plain. 1949 errichteten Alfred und Else Morawetz an der Lehener Brücke ein Gebäude mit einem Kinosaal für hundert Besucher. 1977 wurde um einen zweiten Saal erweitert, vier Jahre später um einen dritten und vierten. Nach 1980 fügte man einen fünften Saal hinzu, der größte verfügt über 435 Sitzplätze. Im Jahr 2012 musste das Elmo Kino wegen finanzieller Probleme zusperren. Noch bedeutender waren die Auftritte Salzburgs in heimischen und internationalen Filmproduktionen. An vorderster Stelle seien Der Kleine Grenzverkehr von Erich Kästner (1943) und die spätere Verfilmung desselben Themas unter dem Titel Salzburger Geschichten (1956) genannt. Vier Jahre früher hatte Gene Kelly in Salzburg und am Walserberg für den Thriller The Devil Makes Three gedreht. 1965 entstand der Film The Sound of Music, dessen Beliebtheit im englischsprachigen Raum bis heute ungebrochen ist. 2009 wurde einige Tage für den Hollywood-Actionfilm Knight and Day mit Tom Cruise und Cameron Diaz in Salzburg gedreht. Schauplätze waren die Linzer Gasse, die Steingasse und das Haus für Mozart. Konzerte, Theater- und Literatur-Veranstaltungen Zu den jährlich wiederkehrenden überregionalen Veranstaltungen gehören die Mozartwoche im Jänner, das Aspekte Festival im März, die Osterfestspiele Salzburg, die Begegnungen und das Literaturfest im Mai, die Salzburger Pfingstfestspiele, im Juni/Juli das Internationale Cantus MM Musik & Kultur Festival sowie nur im Juli die Sommerszene und als Höhepunkt des Theaterjahres im Juli und August die Salzburger Festspiele. Im Herbst finden die Salzburger Kulturtage, der Jazz-Herbst, das Krimifest und das Dialoge Festival statt. Brauchtumsveranstaltungen Die Erhaltung und die Pflege der Volkskultur stellen den Salzburgern hohe Werte dar. Darin beinhaltet sind alle Arten der Volksmusik, wie die Blasmusik, das Volkslied, der Volkstanz, das chorische Singen und verschiedene Brauchtumsrituale zu bestimmten Anlässen und Festen. Initiatoren und Ausführende sind die zahlreichen Trachten- und Schützenvereine, Musikkapellen und Chöre. Ihre Mitglieder arbeiten fast alle ehrenamtlich. Ein Höhepunkt bilden für sie die im Sommer während der Festspielzeit stattfindenden Freiluftaufführungen im Heckentheater im Mirabellgarten. Die Bürgergarde hat ihre Anfänge im 13. Jahrhundert. Sie übte damals hauptsächlich eine militärische Funktion zum Schutz der Bürger aus. Ihre Mitglieder widmen sich heute der Traditionspflege und nehmen an etlichen Großveranstaltungen, wie der Georgi-Kirchweih, der Eröffnung der Sommerfestspiele und der Martini-Feier, teil. Das Brauchtums-Kalenderjahr beginnt in Salzburg, einschließlich von Neujahrskonzerten und -veranstaltungen, mit dem am 5. Januar stattfindenden Glöcklerlauf der Lichtperchten. Wer sich auf Palmsonntag, auf die Karwoche und auf Ostern vorbereiten möchte, kann im Salzburger Freilichtmuseum das Palmbuschen-Binden und andere Osterbräuche erlernen. Diese Zeit bildet einen Höhepunkt des katholischen Kirchenjahres, in der zahlreiche Gottesdienste stattfinden (am Karfreitag mit eigener Trauerliturgie), die auf das Hochfest Ostern vorbereiten. Das Österreichische Volksliedwerk unterstützt die Salzburger Straßenmusik, deren verschiedene Gruppen zwischen April und September jeden Samstag auf Plätzen der Innenstadt auftreten. Um den 1. Mai findet wie an den meisten Orten Österreichs das Aufstellen geschmückter Maibäume statt. Meist wird das Fest musikalisch umrahmt. Von Anfang Mai bis Ende August geben die Mitglieder der Blasmusik-Kapellen jeden Mittwoch abends und an Sonn- und Feiertagen vormittags Leuchtbrunnen- und Promenadenkonzerte im Mirabellgarten. Ein beliebtes Volksfest im Jahreskreis ist die Salzburger Dult (aus dem Althochdeutschen: Dult = Feier, Fest) um Pfingsten. Dieser ursprüngliche Jahresmarkt, eine Art Messe, hat seine Wurzeln im 10. Jahrhundert. Am Mittwoch vor Christi Himmelfahrt findet alljährlich die Lange Nacht der Chöre statt. Die Sommerfestspiele im Juli werden traditionell mit einem Fackeltanz begonnen. Daran nehmen rund hundert Tanzpaare der verschiedenen Brauchtumsgruppen Salzburgs teil. Der Erntedank wird am zweiten Sonntag im September gefeiert, und der seit Jahrhunderten existierende Ruperti-Kirtag, das Domkirchweihfest, am Namenstag des Stadtpatrons, des Hl. Rupert, am 24. September. Den meisten Festen gehen Gottesdienste im Dom voraus, der Rest des Tages gehört der Volkskultur und dem Brauchtum mit Auftritten von Blasmusik-Ensembles, Volkstanzgruppen, Heimatvereinen, Schützen und Chören. In der Zeit um den 6. Dezember, dem Namenstag des Hl Nikolaus, beginnen die traditionellen Krampus- und Perchtenläufe. Sie gehören zur Vorweihnachtszeit wie der Christkindlmarkt und das Advent-Singen, das den Beginn des Kirchenjahres darstellt. Nicht zu vergessen sind auch die (Bio-)Bauernmärkte auf dem Kajetaner- und Universitätsplatz sowie die jährlich stattfindenden, vorweihnachtlichen Christkindlmärkte, auf denen u. a. auch Hersteller handwerklicher Erzeugnisse ihre Produkte ausstellen. Die bekanntesten sind die Märkte auf dem Domplatz, auf dem Mirabellplatz, innerhalb des Areals der Festung Hohensalzburg und im Park von Schloss Hellbrunn. Einen musikalischer Höhepunkt des Christkindlmarktes auf dem Dom- und Residenzplatz bildet das historische Turmblasen an Donnerstagen und Samstagen abends. Nach Weihnachten ist eine Krippentour angesagt – die Krippe von St. Michael ist das ganze Jahr über zu besichtigen, die anderen meist nach Weihnachten. Kleine Juwelen der Volkskunst sind die barocke Krippe der Franziskaner und die 1964 von Brigitte Aichhorn-Kosina begonnene AIKO-Krippe mit 309 Figuren und naturgetreu nachgebildeter Landschaftsszenerie. Letztere kann das ganze Jahr über in der Steingasse besichtigt werden. Das Winterfest ist ein Festival für zeitgenössische Zirkuskunst im Volksgarten Salzburg. Dialekt Der Salzburger Dialekt kann der Gruppe der bairisch-österreichischen Dialekte zugeordnet werden, insbesondere dem mittelbairischen Dialekt. Er wird sprachwissenschaftlich auch als ostoberdeutsch bezeichnet und in Nordbairisch, Mittelbairisch und Südbairisch unterteilt. Allgemeines Kennzeichen dieser Sprache ist, dass die harten Laute p, t, k zu den weicheren b, d, g abgeschwächt werden. Lange Silben werden, häufig unter Verwendung mehrerer Vokale, verkürzt. Beispiele: spielen – schbuin, wollen – woin, fahren – foan, heizen – hoazen, daheim – dahoam usw. Obwohl das Salzburgerische von vielen jungen und alten Menschen des Landes verwendet wird, entwickelt sich die Sprache österreichweit in eine völlig andere Richtung. Da Kinder und Jugendliche viele Stunden des Tages weniger mit ihren Familien als vor dem Fernseher verbringen und deutsche oder deutsch synchronisierte Sendungen in bundesdeutschem Hochdeutsch sehen und hören, verwenden sie in der Schule und auch untereinander immer häufiger diese „deutsche Einheitssprache“. Irmgard Kaiser und Hannes Scheutz, zwei Sprachwissenschaftler der Universität Salzburg, haben in ihren Arbeiten festgehalten, dass der Prozentsatz von Dialektsprechern in der Stadt im Laufe der letzten paar Jahre gesunken ist. Umwelt und Ökologie Geologie Salzburg befindet sich unmittelbar am Nordrand der österreichischen Alpen. Seine Stadtberge prägen in hohem Maß das Erscheinungsbild. Kaum eine andere Stadt verfügt über eine ähnliche imposante Kulisse. Die Stadtberge - der Gaisberg mit dem Kühberg, der Kapuzinerberg und der Festungsberg - bilden den ersten rahmenden Hintergrund Salzburgs, die anschließenden Alpen erhöhen aus der Ferne gesehen (z. B. von der Terrasse der Wallfahrtskirche Maria Plain) den dramatischen Eindruck. Sie sind Teile der Kalkvoralpen. Ihre schroffen Nordabhänge bilden den nördlichen Alpenrand, der in ostwestlicher Richtung durch die Stadt verläuft. Obwohl die Wände alljährlich abgeklopft und von losen Steinen gesäubert werden, verursachen dennoch immer wieder Steinschläge Schäden an Gebäuden und Fahrzeugen. Im 15. und 17. Jahrhundert kam es zu mehreren schwerwiegenden Felsstürzen, der schlimmste fand 1669 statt. Ein Teil der Felswand stürzte auf die eng aneinanderstehenden Häuser in der Gstättengasse und begrub 13 bis 14 Häuser. 220 Menschen starben bei dieser Katastrophe. Das sanfte Hügelland im Norden der Stadt gehört zur Flyschzone (der Name Flysch stammt aus dem Schweizerdeutschen – flyschen bedeutet „fließen“). Der Gesteinskörper ist durch den Wechsel von Tonsteinen und grobkörnigen Gesteinen gekennzeichnet. Die Zone bildet zwischen Vorarlberg und Wien den nördlichen Abschluss der Ostalpen. Sie verläuft längs durch das Land und ist ca. 10 bis 15 km breit. In Salzburg gehören der Haunsberg, der Hochgitzen, der Tannberg und der Buchberg zu diesem geologischen Gürtel und damit zum Alpenvorland. Das Salzburger Becken ist eine zwischen zwei Eiszeiten, also in einer Warmzeit, entstandene Landschaft. Während der Warmzeiten wurde das Lockermaterial durch Abschmelzen des Eises ausgeräumt. Einige Strukturen ergaben sich aus Erdbewegungen. Sowohl in Warmzeiten als auch in nachglazialer Zeit erstreckte sich im Becken ein See von etwa 30 km Länge und 10 km Breite, in dem mächtige Bänke – der Kapuzinerberg, der Mönchsberg, der Rainberg und der Hellbrunner Berg – abgelagert wurden. Das Salzburger Becken besteht in der Nähe der Salzach aus einer tiefer liegenden Alluvialebene (Schwemmboden, der an Ufern von Gewässern oder durch Gletscher entsteht). Oberhalb der linksufrig markanten, von Nord nach Süd durchs Stadtgebiet ziehenden Terrassenkante, schließt sich die Friedhofsterrasse an, auf der sich in Liefering und Morzg ertragreiche frische Böden bildeten, während in Schallmoos und im Leopoldskroner Moos einst ausgedehnte Moorgebiete vorhanden waren. Klima Salzburg liegt zwischen 420 und 430 m Seehöhe über dem Meeresspiegel der Adria. Es befindet sich in der Übergangszone zwischen atlantisch-maritimen und kontinentalem Klima, das durch mäßig-kalte Winter und warme Sommer mit ganzjährigen Niederschlägen gekennzeichnet ist. Durch die Lage am nördlichen Alpenrand herrschen in Salzburg höhere Niederschlagsmengen und häufigere Starkwinde als in den anderen Landeshauptstädten Österreichs. Die mittlere Jahrestemperatur betrug im Zeitraum zwischen 1981 und 2010 durchschnittlich 9 °C. Im Jänner liegt die Durchschnittstemperatur bei − 1° (Statistik: Klima für Salzburg, Betrachtungszeitraum bis Jahresmitte 2023), während sie im Juli auf 18,6 °C ansteigt. Die Niederschlagsmenge ist durch die Nord-Staulage vergleichsweise hoch. Sie betrug im genannten Zeitraum durchschnittlich 1184 mm. Der niederschlagsreichste Monat ist der Juli mit durchschnittlich 160 mm, die niederschlagsärmsten Monate sind Jänner, Februar und März mit weniger als 70 mm. In Salzburg herrschen durch die Nähe zum Alpenraum ausgeprägte Föhnlagen mit warmem und trockenem Südwind. Bedingt durch das Salzachtal wehen die Winde in der Stadt überwiegend in südlicher und nördlicher Richtung. Starkwinde kommen vor allem aus dem Nordwesten. Naturdenkmale und Schutzgebiete Im Stadtgebiet finden sich 41 Naturdenkmale, großteils alte, landschaftsprägende oder kulturell bedeutsame Bäume. Zu den geschützten Landschaftsteilen zählt auch die 1615 angelegte Hellbrunner Allee. Sie ist eine der ältesten erhaltenen herrschaftlichen Alleen Europas und der größte Altholzbestand des Landes außerhalb der Gebirgsregion. Für den Artenschutz von holzbewohnenden Käfern, Fledermäusen und Spechten ist sie von besonderer Bedeutung. Die 500 Kopfweiden entlang des Almkanals sind die einzigen erhaltenen ihrer Art im Land Salzburg. Unter Kopfweiden versteht man Weiden, deren Stämme man als Jungbaum auf 1–3 m einkürzt und deren Zweige man dann regelmäßig beschneidet. Die Kopfweiden gehören seit dem frühen Mittelalter zum Baumbestand am alten Werksgerinne. Die Kanoniker des Domkapitels und der Erzabt von St. Peter hatten den Bau des Almkanals befördert und ließen für die bessere Verteilung des Wassers auch den Mönchsberg durchgraben. Der Stiftsstollen existiert seit 1143. Im Bereich der Felsensteppe am südseitigen Rainberg-Abhang hält sich seit Jahrtausenden eine wärmeliebende Pflanzen- und Tierwelt. Er ist ein Relikt der nacheiszeitlichen Wärmezeit, während der hier steppenartiges Klima herrschte. Die Itzlinger Au im Norden der Stadt, mitunter auch Lieferinger Au genannt, ist ein kleines Auwaldgebiet am linken Salzachufer im Mündungsbereich des Glankanals. Sie ist als geschützter Landschaftsteil ausgewiesen. Der Kühberg, eine Erhebung zwischen Gnigl und Parsch, ist in einem weiten Umkreis einer der ältesten und natürlichsten Wälder. Das Naturwaldreservat Gaisberg liegt unmittelbar unter dem schroffen Westabhang des Gaisberggipfels und ist wie die Itzlinger Au ein geschützter Landschaftsteil. Das Samer Mösl im Nordosten Salzburgs ist ein gut erhaltenes Restmoor. Die dort einheimischen Tier- und Pflanzenarten gehören zum Niedermoortyp. Große Teile des Grünraums von Salzburg sind Landschaftsschutzgebiete, wie der Kapuzinerberg, der Mönchsberg, der daran anschließende Rainberg, der Grünraum um Hellbrunn und die Hellbrunner Allee, das Leopoldskroner Moos, der Leopoldskroner Weiher, der Grünraum um die Salzachseen und die Aigner Au. Das größte ist mit einer Fläche von 656,06 ha das Leopoldskroner Moos. Zu den Schutzgebieten, die über die Stadtgrenze hinausreichen, gehören der Plainberg und das Landschaftsschutzgebiet Salzburg Süd, das teils zu Salzburg, teils zu Salzburg-Umgebung und teils zu Hallein gehört. Es hat ein Fläche von 1.147,13 ha. Grünlanddeklaration Im Jahr 1985 erließ die Stadt Salzburg als Antwort auf die fortschreitende Zerstörung wertvoller bestehender Wiesen, Wälder, Seen, Bachverläufe, Kanäle, Moorlandschaften und Alleen eine Grünlanddeklaration. Schon 1970 hatte der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr in seinem Buch Stadt ohne Landschaft das „Ringen um die Erhaltung der Salzburger Stadtlandschaften eingeläutet“. In der Folge schlossen sich Künstler (wie Herbert Fux, Peter Handke), der ehemalige Landeshauptmann und Bundeskanzler Josef Klaus sowie zahlreiche Bürger zusammen, um der Zerstörung der Stadtlandschaften Einhalt zu gebieten. Die größten Erfolge dieses Zusammenschlusses waren der Erhalt der Freisaal-Wiese und die Verhinderung einer Satellitenstadt in Hellbrunn. Das wichtigste Ziel der Grünlanddeklaration ist es, die bedeutenden Stadtlandschaften innerhalb einer unverrückbaren Bauland-Grünland-Grenze für die Zukunft zu erhalten. Zwischen 2005 und 2009 kam es im Zug von Diskussion um die Schaffung von mehr Bauland zur Herausnahme kleinerer Flächen für den sozialen Wohnbau (z. B. der Bär-Gründe in Gneis). Dem Flächenverbrauch für Siedlungsbau soll damit Einhalt geboten und gleichzeitig die bauliche Entwicklung innerhalb der Siedlungsbereichs durch Nachverdichtung und Nutzung unbebauten Baulands gefördert werden. Freizeit Sport Sportstätten In der Stadt Salzburg gibt es an die 60 Turn- und Sporthallen, 40 Fußballplätze und über 20 Tennis- und Squash-Anlagen mit Frei- und Hallenplätzen. Drei Minigolf-Anlagen und sieben Sportschießstätten bereichern das Angebot. Die drei städtischen Freibäder (das Leopoldskroner Bad, das Volksgarten-Bad und das AYA-Freibad) werden jährlich von rund 130.000 Menschen besucht. Im Sommer kann auch der Badesee Liefering für Freizeitaktivitäten genutzt werden. Im Paracelsusbad gibt es neben dem Schwimmbetrieb physio- und elektrotherapeutische Behandlungen, Massagen sowie Unterwassergymnastik. Für den Wintersport in der Stadt stehen Stockbahnen für Eisschützen und die Eisarena im Volksgarten für Schlittschuhläufer zur Verfügung. Eine Sportstätte, die für etliche verschiedene Sportarten und Wettbewerbe genutzt werden kann, ist die Sporthalle Alpenstraße. 2200 Besucher finden darin Platz. Zehn Kilometer östlich vom Zentrum Salzburgs befindet sich der Salzburgring, eine 1969 eröffnete Rennstrecke mit einer Streckenlänge von 4,255 km. Sportvereine Der ASK Salzburg, der im Stadtteil Maxglan beheimatet ist, besteht seit 1922. Der Salzburger AK 1914 aus dem Nonntal wurde im Juni 1914 als Fußballverein gegründet. Der erfolgreichste Fußballverein Salzburgs ist der 1933 gegründete SV Austria Salzburg. Seit 2003 wird im Stadion Wals-Siezenheim gespielt, in dem auch drei Spiele der Fußball-EM 2008 ausgetragen wurden. 2005 wurde der Verein von der Red Bull GmbH übernommen und in FC Red Bull Salzburg umbenannt. Der 1977 als Salzburger EC gegründete Eishockeyverein EC Red Bull Salzburg spielt seit 2004 in der ersten Liga. Die Damenmannschaft Ravens Salzburg gewann in der Saison 2005/06 den Meistertitel. Im American Football gewannen die Salzburg Lions in der im Jahr 1984 erstmals ausgetragenen Austrian Football League den ersten Staatsmeistertitel ihrer Geschichte. Heute spielen sie als Salzburg Bulls in der zweitklassigen Division I Amateursport auf hohem Niveau. Rollstuhltanzen kann man beim Salzburger Rollstuhltanzsportverein WheelChairDancers. Die Leistungstanzpaare des Vereins sind Mitglieder der Nationalmannschaft und repräsentieren Österreich bei internationalen Wettkämpfen. Überregionale Sportveranstaltungen Seit Frühling 2004 findet jährlich der Salzburg-Marathon der AMREF statt. Bei den Lauffestspielen durch die Altstadt und die alten Alleen nehmen Läufer aus über 30 Nationen teil. Die Straßenradsport-Weltmeisterschaften wurde 2006 in Salzburg und Umgebung ausgetragen. Die 5. Special Olympics World Winter Games fanden im März 1993 in Salzburg und Schladming statt. Es waren die ersten Special Olympics World Winter Games, die außerhalb Nordamerikas veranstaltet wurden. An den Spielen beteiligten sich etwa 1.600 Athleten aus 50 Ländern. Öffentliche Gärten und Parkanlagen Zu den weitläufigsten Grünanlagen der Stadt gehört der Renaissancegarten von Schloss Hellbrunn. Einer der international bekanntesten Gärten Salzburgs ist der im Innenstadtbereich liegende barocke Mirabellgarten. An ihn grenzt in der Neustadt der Kurgarten an. Aus alten Gartenanlagen hervorgegangen ist der Baron-Schwarz-Park im Stadtteil Schallmoos. Er wurde anstelle des Gartens des Schallmooshofes und des späteren weitläufigen Gartens der Baron-Schwarz-Villa angelegt. Der Minnesheimpark in Gnigl ist der Rest des einstigen Gartens des Lodronschen Schlosses Minnesheim. Der Preuschenpark in Aigen-Abfalter war früher der Garten der Villa Preuschen, des früheren Abfalterhofes. Der Stölzlpark in Maxglan-Burgfried war im frühen 20. Jahrhundert der Garten des Villenbesitzers und späteren Maxglaner Bürgermeisters Stölzl. Der Volksgarten in Parsch, früher Franz-Josefs-Park genannt, wurde anlässlich des 50. Regierungsjubiläums von Kaiser Franz Joseph I. neu gestaltet. Anstelle der Brothäuslau errichtet ist er bis heute ein Naherholungsraum für die Salzburger. In die gleiche Zeit fiel die Anlage des Kernbereiches des Donnenbergparks in Nonntal. Er entstand, mehrfach erweitert, aus dem Garten des Seniorenheimes Versorgungshaus Nonntal. Das Erholungsgebiet Salzachsee nahe der Salzachseesiedlung ist ein parkartig gestalteter Raum. Er wurde auf einer großen 1967 rekultivierten Mülldeponie angelegt und mit Badeseen der Bevölkerung zur Verfügung gestellt. In Lehen befindet sich stadteinwärts der Lehener Park, ein Rest der einstigen Au. 1996 übergab die Salzburg AG den Dr.-Hans-Lechner-Park in Schallmoos der Salzburger Bevölkerung. Gastronomie In Salzburg stark vertreten ist die traditionelle regionale und österreichische Küche, die sowohl in bodenständiger Variante als auch in gutbürgerlicher Umgebung und in gehobener Atmosphäre anzutreffen ist. In der Altstadt befinden sich auch zahlreiche Szenelokale und Bars mit jugendlichem Publikum, die sich besonders entlang der Salzachkais angesiedelt haben. Ein Aushängeschild angestammter Salzburger Gastronomie ist das 1621 gegründete Augustiner Bräu Kloster Mülln – im Volksmund „Bräustübl“ genannt. Kulinarische Spezialitäten 1890 erfand der Salzburger Konditor Paul Fürst die Mozartkugel, eine Schokoladenkugel mit einem Marzipankern. Sie wurde zum kulinarischen Wahrzeichen der Stadt, Mozartkugeln werden seitdem von verschiedenen Herstellern angeboten. Typisch sind auch die Salzburger Nockerln, eine gebackene Süßspeise aus gezuckerten und aufgeschlagenen Eiern. Beliebt ist auch die Bosna, ein Imbiss, der aus Schweinsbratwürsteln in einem Weißbrotwecken mit gehackten Zwiebeln und Currygewürz besteht und erstmals 1949 angeboten wurde. Wirtschaft und Infrastruktur Überblick Die Stadt Salzburg ist das Wirtschaftszentrum einer Region, die im Norden bis nach Oberösterreich und im Westen bis in die bayerischen Landkreise hineinreicht. Sie ist damit der wirtschaftliche Motor des Bundeslandes. Die Wirtschaftskraft der Stadt liegt, gemessen an der Bruttowertschöpfung des gesamten Landes Salzburg, bei rund 43 %. Im Jahr 2001 hatten 7.838 Betriebe mit zusammen 100.055 Beschäftigten in 10.210 einzelnen Arbeitsstätten hier ihren Standort. 2001 wurden in Salzburg 10.729 mehr Arbeitskräfte beschäftigt als zehn Jahre vorher, das entspricht einer Steigerung von 12 %. Die Zahl der Arbeitsstätten wuchs von 1991 bis 2001 um 24,8 %, von 8.182 auf 10.210. Salzburg besitzt dabei eine ausgeprägt kleinbetriebliche Struktur. Nicht wenige in Salzburg Beschäftigte sind Pendler. 44.082 oder 57 % der nach Salzburg einpendelnden Beschäftigten stammen aus dem Flachgau, 13 % aus dem Tennengau. Aus den restlichen Salzburger Gauen kommen 9 %. Aus Oberösterreich – vor allem aus den Bezirken Braunau und Vöcklabruck – pendeln über 14 % der hier beschäftigten Nichtsalzburger ein, aus den übrigen Bundesländern 7 %. Der Anteil der aus Salzburg auspendelnden Beschäftigten liegt bei 15.027 Personen, die überwiegend in stadtnahen Betrieben im Flachgau arbeiten. Unternehmen (Auswahl) Salzburg ist der Sitz bekannter internationaler Unternehmen. Der größte Wirtschaftsbetrieb in Salzburg ist mit einem Konzernumsatz von 24,2 Milliarden Euro im Jahr 2021 die Porsche Holding. Sie ist im Kraftwagen-Import, -Export -Handel und in der Verwaltung von Grundstücken und Immobilien tätig. An zweiter Stelle folgt mit 17,4 Mrd. Euro (2021) die Spar Österreichische Warenhandels-AG. Das Unternehmen ist im Lebensmitteleinzelhandel und in Entwicklung und Betrieb von Einkaufszentren eines der führenden österreichischen Unternehmen. Die größte und älteste österreichische Bausparkasse ist die in Salzburg-Süd beheimatete Wüstenrot-Gruppe. Bedeutend sind die beiden Kraftwagen-Importfirmen BMW Austria und Mercedes-Benz Österreich. Die größte Spedition Salzburgs ist die Lagermax Lagerhaus und Speditions AG, die neben der Güterbeförderung einen Paketdienst, Fahrzeuglogistik und Expressdienste anbietet. Die größte private Brauerei Österreichs ist die Stieglbrauerei. Sie wurde 1492 in der Altstadt gegründet und befindet sich seit 1863 im Stadtteil Maxglan. Im Jahr 2005 wurde die Stieglbrauerei erweitert und das zu dieser Zeit modernste Sudhaus eingeweiht. Mit der Unito Versand & Dienstleistungen ist die weltweit agierende Otto Group in Salzburg vertreten. Das zweitgrößte Bauunternehmen Österreichs, die Porr, hat eine Niederlassung in Salzburg, in der auch weitere Konzernunternehmen wie die Teerag-Asdag vertreten sind. Einkaufszentren Die beiden überregionalen Einkaufszentren Salzburgs sind die Geschäfte der Altstadt (Umsatz 2005: 206 Mio. Euro) und der Europark in Taxham. Der Europark ist, gerechnet auf den Umsatz pro Quadratmeter, das erfolgreichste Einkaufszentrum Österreichs. Zudem erreichte es 2007 als erstes Shoppingcenter Österreichs die Auszeichnung der ICSC als Bestes Shopping Center der Welt. Regionale Zentren sind die Shopping Arena Alpenstraße, früher Shopping Center Alpenstraße (SCA mit 135 Mio. Euro Umsatz), das Zentrum Im Berg (ZIB) samt Umgebung (66 Mio.) und der Bahnhofsbereich (56 Mio.). Einschließlich der lokalen Einkaufszentren wurde salzburgweit auf 217.514 m² Verkaufsfläche ein Jahresumsatz von 909 Mio. Euro erzielt. Im Jahr 2009 wurde in der Nähe des Salzburger Flughafens das Designer Outlet auf einer Gesamtfläche von 28.000 m² eröffnet. Tourismus Der Tourismus ist für die Stadt ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Mit über drei Millionen Nächtigungen im Jahr 2017 liegt sie nach Wien unter Österreichs Städten an zweiter Stelle. Der wachsende Kongress- und Messetourismus sowie neue Flugverbindungen begünstigen diese Entwicklung. Der Gesamt-Tourismus-Umsatz in der Stadt Salzburg beträgt rund 800 Mio. Euro. Der Anteil des Tourismus am lokalen Bruttosozialprodukt liegt einer Schätzung nach bei rund 20 %. Über 8.000 Arbeitsplätze werden durch den Tourismus in der Stadt gesichert. Im Tourismusbereich selbst arbeiten zwar nur 5,6 % der Salzburger, seine Wirkungen auf andere Dienstleistungsbranchen, vor allem den Handel, sind aber hoch. Die Festspiele haben pro Jahr einen gesamtwirtschaftlichen Nutzen von rund 276 Mio. Euro und einen Beschäftigungseffekt von etwa 5000 Arbeitsplätzen (etwa 220 Mitarbeiter im Jahresschnitt). Neben den Festspielen tragen Mozartwochen, Osterfestspiele, Pfingstfestspiele & Barock und das Salzburger Adventsingen zur Attraktivität Salzburgs bei. Daneben sorgen Besuchermagneten wie die Festung Hohensalzburg (rund 1,14 Mio. Besucher), Mozarts Geburts- und Wohnhaus (rund 500.000 Besucher) und Schloss Hellbrunn (rund 300.000 Besucher) für hervorragende Ergebnisse. Auch das Messe- und Kongresswesen hat für den Tourismus der Stadt Salzburg Bedeutung, es führt zu verbesserten Auslastungen der Beherbergungskapazitäten außerhalb der Hauptsaison. Messen Salzburg erlangt durch das Messezentrum als Messestadt immer mehr Bedeutung. 1973 gründeten die Stadt Salzburg, das Land Salzburg und die Wirtschaftskammer Salzburg die „Salzburger Ausstellungs Zentrum Ges.m.b.H.“, heute Messezentrum Salzburg GmbH. Die Messezentrum Salzburg GmbH steht jeweils zu einem Anteil von 39,3 % im Eigentum des Landes Salzburg und der Stadt Salzburg sowie zu einem Anteil von 21,4 % im Eigentum der Wirtschaftskammer Salzburg. Mit der A1-Anschlussstelle „Messe“ (Exit 291) verfügt das Messegelände über eine eigene Autobahnauffahrt und -abfahrt, die direkt in die Parkareale mit rund 3.300 Parkplätzen leitet. Das Messezentrum Salzburg mit seinen zehn Messehallen und einer Ausstellungsfläche von insgesamt 36.625 m² sowie der 2.545 m² großen Salzburgarena zählte 2011 rund 630.000 Besucher. Dabei werden von der Betreibergesellschaft Messezentrum Salzburg GmbH und den Gastveranstaltern etwa 32 Fach- und Publikumsmessen jährlich angeboten. Im Herbst 2011 wurde der Bau einer neuen Kongressmessehalle mit einer Ausstellungsfläche von 15.163 m² abgeschlossen. Im August 2012 eröffnete zudem ein 4.600 m² großer Tagungsbereich. Verkehr Verkehrsentwicklung Die Verkehrsentwicklung in der Stadt Salzburg ist von der stetigen Zunahme im privaten Kfz-Verkehr gekennzeichnet. Der mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegte Anteil der Wege sank dagegen zwischen 1995 und 2004 von 21 % auf 16 %, ein Wert der im mitteleuropäischen Vergleich unterdurchschnittlich ist. Zugenommen hat aber der Radverkehr zwischen 1995 und 2008 von 12 % auf 20 %. Im Jahr 2017 lag der Motorisierungsgrad (Personenkraftwagen pro 1000 Einwohner) bei 557. Der folgende Graph zeigt einen Vergleich der österreichischen Landeshauptstädte in sieben umweltrelevanten Bereichen, der 2020 von der Umweltorganisation Greenpeace durchgeführt wurde (je mehr Punkte, desto besser): Verkehrsmittelwahl: Anzahl der Wege im Personenverkehr, die umweltfreundlich zu Fuß, per Rad oder mit öffentlichem Verkehr zurückgelegt werden. Luftqualität: Belastung mit Stickstoffdioxid und Feinstaub. Radverkehr: Länge des Radnetzes, Anzahl der City-Bikestationen, Anzahl der Verkehrsunfälle. Öffentlicher Verkehr: Preis, zeitliche und räumliche Abdeckung. Parkraum: Preis für das Parken, Anteil der Kurzparkzonen. Fußgänger: Flächen der Fußgängerzonen und der verkehrsberuhigten Zonen, Anzahl der Verkehrsunfälle. Auto-Alternativen: Anzahl Elektro-Autos, Anzahl der Elektro-Ladestationen, Anzahl der Car-Sharing-Autos. Durchschnitt: Summe der sieben Einzelwertungen geteil durch sieben. Vom frühen Mittelalter bis 1859 war die hölzerne Stadtbrücke, an der Stelle der heutigen Staatsbrücke, die einzige Brücke über die Salzach. Damals lag die nächste Brücke knapp 20 km nördlich in Laufen sowie im Süden in der Stadt Hallein. Zuerst in der Mitte der Stadtbrücke, später am linken Salzachufer, wurde von Mautnern die Brückenmaut eingehoben. 1859 wurde als zweite Brücke in der Stadt die erste Karolinenbrücke eröffnet, ein Jahr später die Eisenbahnbrücke. Nach der Autobahnbrücke sind die Lehener, Karoliner und Staatsbrücke die drei wichtigsten Querungen der Salzach. Verkehrsregulierungsmaßnahmen Ein seit langem bestehendes Problem stellen die Zufahrten von Kraftfahrzeugen in die Fußgängerzone in der Altstadt dar. Aufgrund häufiger Nichtbeachtung von Fahrverboten trat am 21. Juni 2010 die „Pollerregelung“ in Kraft. Diese Regelung sorgte vor allem bei Anrainern zu Beschwerden, da ihre Bedürfnisse nicht berücksichtigt und von den verantwortlichen Politikern nicht angehört wurden. Insgesamt 36 Verkehrspoller sollen illegale Zufahrten in die Altstadt verhindern. Die Poller sind zum Teil fest montiert und an manchen Stellen per Fernbedienung versenkbar. Letztere können auch mit einem Polizeischlüssel, einer Codekonsole und am Mozartplatz mit dem Euroschlüssel versenkt werden. Während der Lade- und Lieferzeit von 6:00 Uhr bis 10:00 Uhr sind die Poller stets versenkt. In der Fußgängerzone wurde die Ladezeit bis 11:00 Uhr ausgedehnt. Aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens im Sommer wurde 2012 eine sogenannte „Mittagsregelung“ eingeführt. Vom 16. Juli bis 17. August wurden die Zufahrten Neutor, Müllner Hügel und Staatsbrücke in den Bereich der linken Altstadt montags bis freitags von 10:00 bis 14:00 Uhr untersagt. Ausnahmen bestanden unter anderem für Anrainer und Hotelgäste. Die Maßnahme wurde höchst unterschiedlich bewertet und öffentlich heftig diskutiert. Seit 2016 wird versucht bei schlechtwetterbedingtem hohem Verkehrsaufkommen den Verkehr mit „Pförtner“-Ampeln mit verlängerten Rot-Phasen in der Linzer Bundesstraße, Innsbrucker Bundesstraße und Münchner Bundesstraße, Umleitung der Autos per Überkopf-Hinweisen auf der Autobahn, verstärkter Beschilderung zu den Park & Ride-Parkplätzen und speziellen Park & Ride Tickets zu regulieren. Fußgänger- und Fahrradverkehr Besonders in der Innenstadt sind viele Ziele zu Fuß oder mit dem Fahrrad schnell erreichbar. Ein Großteil der Altstadt ist als Fußgängerzone ausgewiesen. Eine wichtige Rolle spielt das Fahrrad, dessen Anteil am Gesamtverkehr bei 18 % und damit österreichweit (nach Innsbruck und Bregenz gleichauf mit Graz) im Spitzenfeld liegt. Im Juni 2017 beschloss die Stadt, eine „Radverkehrsstrategie 2025+“ zu erstellen, nach der der Radverkehrsanteil bis 2025 auf 28 % steigen soll und welche die Stadtverwaltung zu Investitionen in die Infrastruktur für den Radverkehr verpflichtet. Seit 1991 arbeitet in der Stadtverwaltung ein eigener Radverkehrskoordinator. Heute sind in der Stadt über 170 km Radwege vorhanden. Besonders die Fahrradwege entlang der Salzach sind stark genutzt. Sie erlauben eine Durchquerung der gesamten Stadt ohne Kreuzung mit dem Kraftfahrverkehr. Brücken werden unterquert, Stege über den Fluss ermöglichen ein problemloses Wechseln der Salzachseiten. Auch das seit Ende 2005 von Gewista betriebene teils kostenlose Fahrradleihsystem Citybike mit einer Verleihstation am Ferdinand-Hanusch-Platz trägt zum hohen Fahrradverkehrsaufkommen bei. Am Hauptbahnhof, am Bahnhof Itzling und anderen Standorten wurden gesicherte Fahrradgaragen errichtet. Öffentlicher Personennahverkehr Die Stadt besitzt seit 1940 ein später oft erweitertes Oberleitungsbus-Netz. Der Oberleitungsbus Salzburg, von der Salzburg AG unter dem Namen Obus betrieben, ist der Hauptträger des öffentlichen Verkehrs in der Stadt Salzburg. Das Netz ist hauptsächlich sternförmig ausgerichtet. Dadurch fehlen einige wichtige Querverbindungen. Die Obusverbindungen werden durch ein Netz an Autobuslinien ergänzt, die nicht ans Obusnetz angebundene Gebiete erschließen und nach einem zuletzt entwickelten Verkehrskonzept vermehrt Tangentialverbindungen und einen Ring um die Altstadt herstellen sollen. Die Salzburg AG betreibt ein Netz mit insgesamt zwölf Obuslinien auf einer Streckenlänge von 124 Kilometern. Mit 120 Obussen werden jährlich 5,3 Mio. Kilometer zurückgelegt und 41,5 Mio. Fahrgäste befördert. Das Autobusnetz der Stadt wird vom Salzburg AG-Tochterunternehmen Albus Salzburg betrieben und umfasst 15 Linien (Stand Mai 2023). Die Umlandgemeinden sind durch ein Regionalbusnetz der Postbus GmbH erreichbar. Die Verkehrsträger sind im Salzburger Verkehrsverbund aufeinander abgestimmt und in einem gemeinsamen Tarifsystem zusammengefasst. Salzburg ist ein wichtiger Bahnknotenpunkt in Österreich. Der Hauptbahnhof Salzburg wird von täglich etwa 28.000 Reisenden frequentiert (Stand 2019). Über die Westbahn gelangt man in den Osten Österreichs und in die Bundeshauptstadt Wien. Die Salzburg-Tiroler-Bahn führt in den Westen des Landes Salzburg bis nach Tirol, und die von ihr abzweigende Tauernbahn erreicht den Süden Österreichs. München und Innsbruck sind über die Bahnstrecke Rosenheim–Salzburg mit Salzburg verbunden, zudem existieren Verbindungen nach Graz. Internationale Verbindungen bestehen mit Zügen der ÖBB im 2-Stunden-Takt nach Budapest, München und Zürich. Deutsche Bahnbetreiber bieten Verbindungen Richtung Landshut und München. Die Deutsche Bahn betreibt außerdem EC-Verbindungen nach Stuttgart und Dortmund. Zusätzlich ist der Bahnhof ein wichtiger Haltepunkt im Nachtzugnetz der ÖBB. So kann man von Salzburg aus Ziele in Italien, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Kroatien und der Schweiz erreichen. Die von Salzburg ausgehenden Bahnstrecken sind im Regionalverkehr für Pendler von Bedeutung. Zu den wichtigsten Nahverkehrsträgern zählt die S-Bahn Salzburg. Auf dem Abschnitt zwischen Salzburg Hauptbahnhof und Freilassing wurde von etwa 2005 bis 2015 ein dreigleisiger Ausbau vorgenommen und neue Haltepunkte (Mülln-Altstadt, Aiglhof, Taxham/Europark, Liefering) kamen hinzu. Auch die Haltestellen entlang der Tauernbahn Richtung Süden (Salzburg-Süd, Aigen, Gnigl, Parsch und Sam) wurden großteils neu gestaltet, ebenso der Halt Kasern Richtung Osten. Die Salzburg AG betreibt auf der Bahnstrecke Salzburg–Lamprechtshausen und der Bahnstrecke Bürmoos–Ostermiething zwei wichtige S-Bahn-Linien im Norden des Landes Salzburg. Die S1 verkehrt vom Lokalbahnhof über Oberndorf und Bürmoos nach Lamprechtshausen, die S11 bedient die Zweigstrecke ins angrenzende Oberösterreich. Von Ende 2008 bis Sommer 2014 wurde der Salzburger Hauptbahnhof neu gestaltet. Durch den Ersatz der bisherigen Kopfbahnsteige durch zusätzliche Durchgangsbahnsteige wurde der Bahnhof zu einem Durchgangsbahnhof, um mehr Züge abfertigen zu können. Besonderes Augenmerk galt neben der Barrierefreiheit der Erhaltung der unter Denkmalschutz stehenden Bausubstanz, wobei auch die historische Dachkonstruktion über dem Mittelbahnsteig erhalten blieb. Seit 2021 wird unter dem Projektnamen S-Link die Regionalstadtbahn Salzburg geplant. Diese wird in der ersten Ausbaustufe den Hauptbahnhof unterirdisch mit dem Mirabellplatz verbinden. Nach Vollendung der Ausbaustufen zwei bis vier soll die Stadt Hallein erreicht werden. Güterverkehr per Bahn Der Güterbeförderung dienen der im Osten des Hauptbahnhofs gelegene Frachtenbahnhof sowie der große Rangierbahnhof zwischen den Stadtteilen Gnigl und Schallmoos. Gleisstränge für den Güterverkehr führen von den Hauptbahnen auch in die Gewerbegebiete von Gnigl, Schallmoos, Itzling sowie nach Maxglan, bei letzterem handelt es sich um die sogenannte Stieglbahn. Dem Hauptbahnhof Salzburg vorgelagert hat sich mit dem Container-Terminal Salzburg eine hochfrequente Anlage des Kombinierten Verkehrs mit einem Jahresumschlag von über 150.000 Ladeeinheiten Container/Auflieger entwickelt. Individualverkehr Die höchsten Verkehrsbelastungen finden sich innerstädtisch im Norden der Vogelweiderstraße (50.000 Kfz je Tag), der Lehener Brücke (43.000 Kfz), der Fürbergstraße (34.000) und der Alpenstraße (33.000). In den wichtigen Radialstraßen der Stadt wuchs der Verkehr zwischen 1961 und 2005 um etwa 300 %. Zum Erhalt der Luftgüte sind in Vollziehung des EU-Rechtes Maßnahmen gegen den zunehmenden Individualverkehr erforderlich. Das tourismusbedingte Spitzenverkehrsaufkommen belastet zusätzlich das Verkehrssystem der Stadt. In der Festspielzeit müssen daher zur Vermeidung eines Zusammenbruchs des Innenstadtverkehrs alle Fahrzeuge ohne Salzburger Kennzeichen auf große Parkplätze an der Peripherie umgeleitet werden. Sowohl im Süden der Alpenstraße als auch im Osten beim Messegelände befinden sich große Park-and-ride-Parkplätze. Die gesamte Innenstadt ist außerhalb der Fußgängerzone eine gebührenpflichtige Kurzparkzone. Von dort ist das Zentrum mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen. Im Knoten Salzburg laufen die Autobahnen A1 und A10 zusammen. Anschlussstellen im Stadtgebiet sind Salzburg Nord, Messezentrum, Salzburg Mitte, Kleßheim, Siezenheim (Halbanschluss), Flughafen, Salzburg West und Salzburg Süd. Im Planungsstadium befindet sich der Autobahn-Halbanschluss Hagenau. Der Abschnitt zwischen Salzburg Nord und Salzburg West ist auch als Stadtautobahn wichtig. Flugverkehr Der Flughafen Salzburg liegt im Stadtteil Maxglan im Westen der Stadt nur 3 km westlich der Salzach und des Stadtzentrums. Im Jahr 2014 wurden 1.819.520 Fluggäste abgefertigt. Die Tendenz ist aufgrund des starken Wintertourismus in der Region weiter steigend. Die Landesstraße B1 unterquert Lande- und Rollbahn und schließt zum westlich davon gelegenen Flughafengebäude an. Schifffahrt, Wassersport Der Fluss Salzach hat den Namen von den in früher Zeit darauf erfolgten Salztransporten. Im Jahr 1891 wurde aufgrund zahlreicher Untiefen und zu schwacher Motore die motorisierte Schifffahrt eingestellt. Seit 2002 befährt die Amadeus Salzburg für stadtnahe Rundfahrten etwa von März bis November den Fluss. Das Jetboot nimmt 80 Passagiere auf und hat nur 38 cm Tiefgang, über 1000 PS Motorisierung lassen es bis zu 50 km/h schnell gleiten. Seit September 2016 bietet derselbe Betreiber Erich Berer einen Amphibienbus an, der über einen Feuerwehrsteg einbootet und 26 Passagiere am Schiffssteg aufnimmt. Die Amadeus Salzach Insel Bar ist ein am linken Flussufer etwas unterhalb des Markartstegs liegender Schiffsrumpf, der fest vertäut an einem Steg liegt und als Gastlokal oder Veranstaltungsraum für 90 bis 140 Personen dient. Bootfahren mit Kanu, Kajak oder Ruderboot ist aufgrund einer Verordnung von 2001 von der Altstadt abwärts bis Lehen wegen zu großer Gefahr verboten. Das Verbot erstreckt sich vom Müllnersteg bis zum Traklsteg, der seit der Eröffnung des Flusskraftwerks Salzburg-Lehen 2013 im Unterwasser des Kraftwerks liegt. Die Salzburg AG als Kraftwerksbetreiber verweisen auf die Gefahr einer Sohlstufe, die bei Absenkung des Aufstaus bei Wartung des Kraftwerks eine gefährliche Wasserwalze bildet. Das Christian-Doppler-Gymnasium in Salzburg-Lehen hat als Anrainer des neuen „Stausees“ für seine Schüler ein Rennruderboot gekauft, darf es aber nicht einsetzen. Zehn Kilometer oberhalb Salzburg-Zentrum liegt das Kraftwerk Urstein der Salzburg AG in Anif (linksufrig) in seinem Staubereich auf Höhe Puch bei Hallein (rechtsufrig) ist seit einigen Jahren ein Ruderclub etabliert, hier ist Bootfahren erlaubt. 7 km südsüdwestlich von Salzburg-Zentrum liegt die Almwelle im Almkanal, eine Stelle mit ausgebauter Wasserwalze für Paddelbootsakrobatik. Energie- und Wasserversorgung Die Versorgung der rund 60.000 Stromkunden erfolgt zum überwiegenden Teil durch die Salzburg AG, ebenso wie die Versorgung mit Trinkwasser. Nur ein sehr geringer Teil der Einwohner, vor allem am Gaisberg, besitzt private Quellfassungen. Zwei große Hochbehälter am Mönchsberg und Kapuzinerberg mit je 25.000 Kubikmeter und verschiedene kleinere Hochbehälter gewährleisten die Versorgung mit Wasser. Der Hauptteil des Trinkwassers stammt aus den Tiefbrunnen von St. Leonhard und Glanegg am Fuß des Untersbergs. Bis vor wenigen Jahrzehnten versorgte noch die Fürstenbrunner Quelle vorrangig die Stadt mit Wasser. Die stets gleichbleibende Qualität von Tiefenwasser sprach jedoch für den Umstieg auf Grundwasser aus sehr tief liegenden Wasserhorizonten. Als Besonderheit existiert mit dem Almkanal ein schon seit dem Mittelalter bestehendes, zusätzliches Kanalsystem, das der Stadt Wasser vom Untersberg zuführt. Abwasserinfrastuktur und Abfallentsorgung Das städtische Kanalnetz wurde ab 1852 stetig erweitert und umfasst heute rund 380 km Netzlänge. 2005 wurde der Ausbau weitgehend abgeschlossen. Nur rund 100 entlegene Gebäude, vor allem am Gaisberg, sind nicht an das Kanalnetz angeschlossen. Die Stadt Salzburg liegt im Einzugsgebiet des Reinhalteverbands (RHV) Großraum Salzburg. Dieser betreibt zur Reinigung der gesammelten Abwässer in Siggerwiesen in der angrenzenden Gemeinde Bergheim eine Abwasserreinigungsanlage (ARA). Die gereinigten Abwässer werden in die Salzach eingeleitet. Die Abfallentsorgung der Stadt wird durch das Abfall-Service des Magistrats vorgenommen. In den Umweltschutzanlagen Siggerwiesen erfolgt die mechanisch-biologische Vorbehandlung von Hausabfällen durch die Salzburger Abfallbeseitigung GmbH (SAG). Seit 1994 wird Biomüll der Stadt getrennt gesammelt. Die Behandlung, bei der Biogas und Kompost gewonnen wird, erfolgt ebenfalls in Siggerwiesen. Gesundheitswesen Die beiden mit Abstand größten Spitäler sind die Christian-Doppler-Klinik (CDK) am Südrand von Liefering und das Landeskrankenhaus, auch: St.-Johanns-Spital, in Mülln. Sie sind seit 2004 mit weiteren Salzburger Krankenhäusern zur Dachgesellschaft Salzburger Landeskliniken (SALK) zusammengefasst. Das St.-Johanns-Spital wurde 1695 durch Fürsterzbischof Johann Ernst von Thun gegründet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es neu gestaltet und ausgebaut. Zuletzt wurde 2001 die Abteilung Chirurgie West errichtet. In über 1.000 Krankenbetten werden jährlich rund 48.000 Patienten in 19 Fachabteilungen und sieben Instituten stationär betreut. Neben den beiden Spitälern bestehen das Unfallkrankenhaus der Unfallversicherungsanstalt am Äußeren Stein, das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder neben der Kajetanerkirche, das Diakonissen-Krankenhaus in Aigen, das Dr.-Pierer-Sanatorium, die Privatklinik Wehrle sowie ein Sonderkrankenhaus und ein Genesungsheim für Alkohol- und Medikamentenabhängige. Polizei Als Sicherheitsbehörde für die Stadt fungiert die Landespolizeidirektion Salzburg. Ihr unterstellt als Dienststelle des Wachkörpers für das Stadtgebiet ist das Stadtpolizeikommando Salzburg. Seniorenbetreuung In Salzburg sind in 13 Seniorenheimen etwa 1600 Personen untergebracht. Gut 1000 von ihnen leben in den fünf größten, den Seniorenheimen Hellbrunn, Itzling, Liefering, Nonntal und Taxham, die alle von der Stadtverwaltung geführt werden. Zudem werden von der Diakonie im Aigner Diakonie-Zentrum und von der Caritas Salzburg je ein Haus für Senioren geleitet. Neben den Heimverwaltungen bietet die Stadt Salzburg viele Seniorenveranstaltungen, Seniorenerholungsaktionen, einen Seniorenmittagstisch sowie Essen auf Rädern an. Bildung und Forschung Kinder- und Jugendbetreuung In der Stadt Salzburg bestehen 30 Krabbelstuben mit mehr als 600 Plätzen und über 200 Tageselternplätzen. Über 65 % der Kinder im Kindergartenalter werden in den 31 Kindergärten der Stadt betreut. Auch die Nachmittagsbetreuung ist in diesen Kindergärten möglich. Sechs Schülerheime mit 350 sowie vier Lehrlingsheime mit 240 Plätzen stehen Salzburger Schülern und Lehrlingen zur Verfügung. Mit 20 Studentenheimen für mehr als 2000 Bewohner bietet Salzburg auch auswärtigen Studenten die Möglichkeit, sich in Salzburg weiterzubilden. Die Schüler- und Studentenheime werden größtenteils von Vereinen wie dem Salzburger Studentenwerk und kirchlichen Organisationen getragen. In der Stadt Salzburg gibt es elf Jugendzentren und das mobile Projekt „Streusalz – mobile Jugendarbeit in der Stadt Salzburg“, bei dem Jugendliche von Streetworkern betreut werden. Schulen In den 24 Salzburger Stadtteilen befinden sich 21 städtische Volksschulen, neun städtische Mittelschulen, vier städtische Sonderschulen  und sieben nicht-städtische Pflichtschulen. Drei der zwölf Gymnasien werden von kirchlichen Institutionen geführt. Mehrere höhere Schulen befinden sich im Stadtteil Nonntal, unter ihnen das Bundesgymnasium Nonntal, das BORG Nonntal, das Bundesrealgymnasium Akademiestraße, das Musik und Sport Realgymnasium und das Wirtschaftskundliche Bundesrealgymnasium. Mit dem Unipark-Nonntal wurde der Stadtteil Nonntal zu einer geschlossenen Einheit und der zentrale Bildungsstandort der Stadt. Weitere Gymnasien sind das Akademische Gymnasium Salzburg in Riedenburg, das Bundesgymnasium Zaunergasse in Maxglan, das Christian-Doppler-Gymnasium am Franz-Josef-Kai in Mülln und das Musische Gymnasium in Itzling. Katholische Privatschulen sind das erzbischöfliche Privatgymnasium Borromäum in Parsch, das Privatgymnasium der Herz-Jesu-Missionare in Liefering und das Gymnasium und Oberstufenrealgymnasium St. Ursula in Aigen. Eine weitere Privatschule ist die Rudolf-Steiner-Schule (Waldorf-Schule) mit mehr als 200 Schülern. Englischsprachige Schulen sind die International Preparatory School an der Moosstraße und das Salzburg Seminar im Schloss Leopoldskron. Neben den allgemeinbildenden Gymnasien befinden sich in Salzburg sechs berufsbildende mittlere und höhere Schulen, die von mehr als 3500 Schülern besucht werden. Dazu zählen die Bundeshandelsakademie und Bundeshandelsschule I und II, die Höhere Bundeslehranstalt für Wirtschaftliche Berufe, genannt Annahof. Seit dem Jahr 1867 ist auch eine Höhere Technische Bundeslehr- und Versuchsanstalt in Salzburg beheimatet, mit circa 2700 Schülern und circa 300 Lehrkräften. Katholische Privatschulen sind die Höhere Lehranstalt für Sozialmanagement, die Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik und die Fachschule für wirtschaftliche Berufe. Akademien Eine künstlerische Akademie ist die Internationale Sommerakademie für Bildende Kunst. Die Pädagogische Hochschule des Bundes bildet Volks- und Hauptschullehrer aus, die Religionspädagogische Akademie katholische Religionslehrer. Die Werbedesign-Akademie Salzburg dient dem Studium des Kommunikationsdesigns. Angehenden Journalisten dient die Österreichische Medienakademie des Kuratoriums für Journalistenausbildung. Im medizinischen Bereich bestehen die Hebammenakademie und die Akademien für ergotherapeutische und orthopädische Dienste. Für medizinisch-technische Laboratoriumsdienste, den radiologisch-technischen Dienst und den physiotherapeutischen Dienst gibt es ebenfalls Ausbildungsmöglichkeiten. Die Nährstoffakademie Salzburg widmet sich wissenschaftlich der angewandten Ernährungsmedizin. Universitäten In Salzburg sind folgende Universitäten bzw. Hochschulen angesiedelt: Die älteste ist die Paris-Lodron-Universität Salzburg. Sie wurde 1622 gegründet, 1810 aufgelassen und 1962 mit den vier klassischen Fakultäten Katholische Theologie, Rechtswissenschaften, Geisteswissenschaften (heute: Kultur- und Gesellschaftswissenschaften) sowie Naturwissenschaften wiedergegründet. Sie ist mit 18.000 Studierenden und 2.700 Mitarbeitern in Forschung, Lehre und Verwaltung die größte Bildungseinrichtung in Stadt und Land Salzburg. Die Salzburg Management Business School wurde 2001 eingerichtet. Angeboten werden ausschließlich Universitätslehrgänge für Wirtschaftsstudenten, die akademischen Grade werden von der Universität Salzburg vergeben. Das bereits in den Jahren 1939 bis 1953 als Hochschule geführte Mozarteum wurde 1970 als Hochschule wiedergegründet. Am Mozarteum werden Konzertfachstudien für Streicher, Bläser und andere Instrumentalisten angeboten. Auch pädagogisch orientierte Fächer sowie Studienmöglichkeiten in Schauspiel, Bühnenbild und Regie sind gegeben. Die Paracelsus Medizinische Privatuniversität (PMU) wurde 2003 zu zwei Drittel mit privaten und einem Drittel mit staatlichen Mitteln errichtet und bietet Studiengänge für Humanmedizin, Pflegewissenschaften sowie ein Postgraduate-Studium der Molekularen Medizin. Die klinische Ausbildung der Studierenden erfolgt an den Universitätskliniken Salzburg. Die PMU kooperiert bei der praktischen Ausbildung auch mit Krankenhäusern in Oberbayern, vor allem mit dem Klinikum Rosenheim. Erwachsenenbildung Einen großen Teil der Erwachsenenbildung vermittelt mit über 1000 Kursen die Salzburger Volkshochschule. Weiters sind das kirchliche Bildungshaus St. Virgil, das Katholische Bildungswerk, das Salzburger Bildungswerk und das Ländliche Fortbildungsinstitut in der Erwachsenenbildung aktiv. In der beruflichen Fortbildung, aber auch in der Erwachsenenbildung sind das Berufsförderungsinstitut der Kammer für Arbeiter und Angestellte und das Wirtschaftsförderungsinstitut der Wirtschaftskammer tätig. Bibliotheken Die Stadtbibliothek Salzburg (früher Stadtbücherei) zählt mit täglich über 1000 Besuchern zu den beliebtesten Serviceeinrichtungen der Stadt. Die früher großteils im Schloss Mirabell untergebrachte Bücherei übersiedelte Anfang 2009 in einen, vom Architekturbüro HALLE1 entworfenen, Neubau in Lehen. Sie gliedert sich in die Abteilungen Hauptbücherei, Kinderbücherei, Mediathek und mobiler Bücherbus. Seit März 2009 ist es auch möglich, digitale Medien auf dem Online-Weg zu entlehnen. Die Universitätsbibliothek, zu der auch die einzelnen Fakultätsbibliotheken und Fachbereichsbibliotheken zählen, ist vorrangig eine Bildungseinrichtung für Studenten, Akademiker, Lehrer und Wissenschaftler, die aber auch der Öffentlichkeit zur Verfügung steht. Die Universität Mozarteum besitzt ebenfalls eine umfangreiche eigene Bibliothek. Eine weitere öffentlich zugängliche Fachbibliothek ist die 1985 von Robert Jungk gegründete Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in der Strubergasse. Hier werden auch regelmäßig Buchvorstellungen, Workshops und Diskussionen organisiert. Daneben bestehen etliche privat geführte Fachbibliotheken, die meist nur beschränkt zugänglich sind, so etwa die Bibliothek der Stiftung Mozarteum mit dem Schwerpunkt Mozart-Forschung, die Wilfried-Haslauer-Bibliothek (politologische Fachbibliothek), die Bibliothek im Stift St. Peter oder die Max-Reinhardt-Bibliothek im Schloss Leopoldskron. Medien Zu den wichtigsten Medien der Stadt Salzburg zählen die Salzburger Nachrichten. Ihr Verbreitungsschwerpunkt liegt in Stadt und Land Salzburg. Die Druckauflage der Zeitung betrug 2008 knapp 100.000 Exemplare. Das Salzburger Fenster (gegründet 1979) und die Stadt-Nachrichten (seit April 2002) sind wöchentlich erscheinende Gratiszeitungen. Die Straßenzeitung Apropos erscheint monatlich und wird von Menschen in sozialer Not verkauft. Die Zeitung – 1997 als Sozialprojekt gegründet und bis zur Umbenennung 2003 als Asfalter veröffentlicht – wird vorwiegend von professionellen Journalisten verfasst. Seit 2005 erscheint monatlich die Nachrichtenillustrierte Echo. Das Stadtmagazin Qwant ist auf ein jüngeres Publikum ausgerichtet, erscheint seit 2017 vierteljährlich und ist gratis erhältlich. Das ORF-Landesstudio Salzburg in Nonntal ist eine Außenstelle des Österreichischen Rundfunks. Das Bauwerk, 1972 vom Wiener Architekten Gustav Peichl entworfen, steht unter Denkmalschutz. Im Studio werden die Sendungen von Ö2 und Radio Salzburg sowie die Fernsehnachrichtensendung Salzburg heute aufgenommen. Der überregionale Sendemast des ORF-Salzburg steht seit 1930 am Gipfel des Gaisberges. Weiters sendet in Salzburg mit Antenne Salzburg das zweitälteste Privatradio Österreichs. 1995 nahm es unter dem Namen Radio Melody seinen Sendebetrieb am Messezentrum auf. Die 1998 gegründete Radiofabrik – Freier Rundfunk Salzburg ist das einzige Community Radio Salzburgs. Das Programm wird von freiwilligen Mitarbeitern gestaltet. Die Radiofabrik ist auch am Community TV FS1 beteiligt, das seit Februar 2012 nach einem ähnlichen Konzept sendet. Ebenfalls 1998 ging das Privatradio Welle 1 auf Sendung. Der ehemalige Regionalsender Salzburg TV mit Sitz außerhalb der Stadt befasste sich vor allem mit übergreifenden Themen aus Stadt und Land Salzburg, heute ist der Sender als Servus TV in Österreich und Deutschland und über Satellit zu empfangen. Ende 2010 bis Anfang 2012 sendete Salzburg Plus. Der aktuelle Regionalsender ist RTS–Regionalfernsehen Salzburg. Seit dem 27. November 2007 ist das News-Portal Salzburg24 online, das vorrangig über regionale Nachrichten aus Salzburg, Oberösterreich und Bayern berichtet. Persönlichkeiten Die Ernennung zum Ehrenbürger ist die höchste von der Stadt Salzburg zu vergebende Auszeichnung. Mit ihr verbunden sind alle Rechte eines Salzburger Bürgers ohne dessen Pflichten. Erstmals vergeben wurde die Ehrenbürgerschaft am 6. Mai 1829 an den Landschaftsmaler Johann Michael Sattler. Nach beinahe 100 Jahren wurde 1920 mit der Kammersängerin Lilli Lehmann die erste Frau zur Ehrenbürgerin der Stadt Salzburg erkoren. Christian Doppler wurde 1803 in Salzburg geboren. Er entdeckte vor allem den heute vielfach angewandten Doppler-Effekt. Auch Paracelsus war ab 1524 zeitweise in Salzburg zu Hause und wurde hier auch beerdigt. Dreizehn Straßen in Salzburg sind bis heute nach Männern benannt, die gravierend in das NS-Regime verstrickt waren: Kuno Brandauer (1895–1980, Volkskundler, seit 1931 NSDAP-Mitglied), Heinrich Damisch, Herbert Karajan, Erich Landgrebe, Hans Pfitzner, Ferdinand Porsche, Tobias Reiser, Gustav Resatz, Franz Sauer, Erich Schenk, Hans Sedlmayr, Josef Thorak und Karl Heinrich Waggerl. 46 Straßen sind nach NSDAP-Mitgliedern benannt. Die Empfehlung einer Historikerkommission, diese Straßen umzubenennen, wurde im Dezember 2021 vom Salzburger Gemeinderat mit Stimmen von ÖVP, FPÖ, SPÖ und Neos abgelehnt. Nach Frauen sind 37 Straßen benannt. Literatur Filme Aufgrund seiner historischen Bausubstanz dient Salzburg häufig als Kulisse für Filmprojekte. Die folgende Liste zeigt eine kleine Auswahl der über 200 in Salzburg gedrehten Filme. 1943: Der kleine Grenzverkehr, Verfilmung des Romans Georg und die Zwischenfälle von Erich Kästner. 1965: The Sound of Music, Verfilmung des Lebens der Familie Trapp. 1993: Heidi, basierend auf einer Novelle von Johanna Spyri. 2004: Jedermann, Verfilmung durch Christian Stückl. 2004: Silentium (Film), Verfilmung des gleichnamigen Romans von Wolf Haas 2005: La traviata, Opernverfilmung mit Anna Netrebko im Großen Festspielhaus. 2006: Mozart – Ich hätte München Ehre gemacht, verfilmte Biographie Wolfgang Amadeus Mozarts. 2006: Le nozze di Figaro, italienischer Musikfilm, gedreht im Kleinen Festspielhaus. 2009: Knight and Day, US-Actionkomödie mit Tom Cruise und Cameron Diaz 2013: Eyjafjallajökull – Der unaussprechliche Vulkanfilm, Filmkomödie mit Dany Boon und Valérie Bonneton 2017: Die beste aller Welten, Spielfilm von Adrian Goiginger. Weblinks stadt-salzburg.at, Website des Magistrats Salzburg Salzburg im Österreich Lexikon Einzelnachweise Bezirk in Österreich Österreichische Landeshauptstadt Hochschul- oder Universitätsort in Österreich Bezirkshauptstadt in Österreich Ehemalige Hauptstadt (Österreich)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Lewis%20Carroll
Lewis Carroll
Lewis Carroll (* 27. Januar 1832 in Daresbury im County Cheshire; † 14. Januar 1898 in Guildford im County Surrey; eigentlich Charles Lutwidge Dodgson) war ein britischer Schriftsteller des viktorianischen Zeitalters, Fotograf, Mathematiker und Diakon. Er ist der Autor der berühmten Kinderbücher Alice im Wunderland, Alice hinter den Spiegeln (oder Alice im Spiegelland) und The Hunting of the Snark. Mit seiner Befähigung für Wortspiel, Logik und Fantasie schaffte er es, weite Leserkreise zu fesseln. Seine Werke, als sogenannte Nonsense-Literatur bezeichnet, sind bis heute populär geblieben und haben nicht nur die Kinderliteratur, sondern ebenso Schriftsteller wie James Joyce, die Surrealisten wie André Breton und den Maler und Bildhauer Max Ernst oder den Kognitionswissenschaftler Douglas R. Hofstadter sowie den Musiker und Komponisten John Lennon beeinflusst. Bekannt wurde Carroll auch als Fotograf: Wie Julia Margaret Cameron und Oscar Gustave Rejlander betrieb er bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Fotografie als Kunst. Biografie Herkunft Dodgson alias Carroll stammte aus einer nordenglischen Familie mit irischen Verbindungen – konservativ, anglikanisch, obere Mittelklasse –, deren Mitglieder die für ihre Klasse typischen Berufe in Armee und Kirche wählten. Sein Urgroßvater, der wie sein Großvater und sein Vater ebenfalls Charles hieß, war in der anglikanischen Gemeinschaft bis zum Bischof aufgestiegen. Sein Großvater starb im Dezember 1803 als Hauptmann der britischen Armee (4. Dragoon Guards) im Einsatz, als seine beiden Söhne noch Kleinkinder waren. Er war in Irland stationiert und wurde aus dem Hinterhalt erschossen, als er sich nachts mit einem irischen Rebellen treffen wollte, der behauptet hatte, sich ergeben zu wollen. Der ältere seiner beiden Söhne, der 1800 geborene Charles Dodgson, der Vater von Lewis Carroll, wandte sich der anderen Familientradition zu und schlug die geistliche Laufbahn ein. Er ging zur Westminster School, danach auf die University of Oxford. Er war hervorragend in Mathematik und in den klassischen Sprachen; er graduierte summa cum laude, wurde Dozent (Lecturer) in Mathematik an der Universität Oxford sowie Fellow seines Colleges und erfuhr die Diakonweihe. Das hätte der Auftakt zu einer herausragenden Karriere sein können; für ein höheres Amt hätte er zölibatär leben müssen. Er heiratete jedoch 1827 seine Cousine Frances Jane Lutwidge (1803–1851), woraufhin er sich in die Unauffälligkeit einer Landpfarrstelle zurückzog. Einer der Lieblingsonkel von Lewis Carroll, Robert Wilfred Skeffington Lutwidge (1802–73), ein Bruder seiner Mutter, war Inspektor der britischen Asyle für Geisteskranke (Lunacy Commissioner) und starb, als ein Patient ihm einen selbst gefertigten Nagel in den Kopf stach. Kindheit und Jugend Charles Lutwidge Dodgson wurde 1832 in dem kleinen Pfarrhaus von Daresbury in Cheshire geboren, er war der älteste Sohn und das dritte Kind. Weitere acht Kinder folgten, und alle (sieben Mädchen und vier Jungen) überlebten bis zum Erwachsenenalter, was für die damalige Zeit ungewöhnlich war. Als Charles elf Jahre alt war, bekam sein Vater die Pfarrstelle in Croft-on-Tees in North Yorkshire, und die ganze Familie zog in das geräumige Pfarrhaus ein, das für die nächsten 25 Jahre ihr Zuhause blieb. Dodgson senior machte unterdessen eine gewisse Karriere innerhalb der Kirche: Er publizierte einige Predigten, übersetzte Tertullian, wurde Erzdiakon der Kathedrale in Ripon und mischte sich, manchmal einflussreich, in die intensiven religiösen Streitigkeiten ein, die die anglikanische Gemeinschaft spalteten. Er gehörte der anglikanischen High Church an, war ein Bewunderer von John Henry Newman und der Oxford-Bewegung und versuchte, diese Ansichten seinen Kindern zu vermitteln. Charles junior ging in den ersten Jahren nicht zur Schule, sondern wurde bis zu seinem elften Lebensjahr zu Hause unterrichtet. Seine Leseliste wurde in der Familie überliefert und ist Beweis für seinen herausragenden Intellekt: Mit sieben Jahren las er beispielsweise The Pilgrim’s Progress von John Bunyan. Sein erster Biograf, der Neffe Stuart Dodgson Collingwood, berichtete, sein Onkel sei schon als Dreikäsehoch mit der Bitte zu seinem Vater gegangen, ihm die Formeln einer Logarithmentafel zu erläutern, und habe nach dem Hinweis, dafür sei er noch zu jung, insistiert: „Aber, bitte erkläre es mir!“ Seine Beziehung zum Vater wurde als nüchtern und sachlich beschrieben, während seine Mutter ihn, der lange Zeit der einzige Sohn war, liebevoll und bevorzugt umsorgt habe. Charles erfand als Elfjähriger ein „Eisenbahnspiel“, inspiriert durch die neue, revolutionäre technische Erfindung der Eisenbahn, die er in seiner Nachbarschaft in Darlington erlebte. Das Spiel mit seinen Geschwistern vollzog sich nach genau festgelegten Regeln, die er mit sarkastischem Humor aufgeschrieben hat und die schon den späteren Lewis Carroll durchblicken lassen. Außerdem verfasste er Theaterstücke für ein Marionettentheater wie die Tragödie von King John oder die Oper La Guida di Bragia, in denen er für sich und seine Geschwister die weite Welt in die Mauern des Pfarrhauses holte. Hier wird bereits die doppelte Welt sichtbar, die sein Leben bestimmen wird: die Inszenierung, die genauen Regeln unterliegt, und die unbeherrschbare Welt draußen. Mit zwölf Jahren wurde er im Jahr 1844 auf eine kleine Privatschule im nahegelegenen Richmond geschickt, wo er bereits durch seine mathematische Begabung auffiel. In dieser Zeit verfasste er in lateinischer Sprache Gedichte, denen sich englischsprachige Erzählungen anschlossen. Der Schulleiter, James Tate, bescheinigte ihm ein außergewöhnliches Maß an Genie, gab dem Vater jedoch den Rat, seinen Sohn diese Überlegenheit nicht wissen zu lassen, er solle sie selber nach und nach erfahren. An dieser mangelnden Bestätigung hat Carroll zeit seines Lebens gelitten, und sie könnte eine Ursache für sein Stottern, sein mangelndes Selbstbewusstsein und seine Identitätskrise sein. Ein Jahr später wechselte Charles jedoch zur Rugby School in Rugby, in eine der bekanntesten Privatschulen Englands, wo er offensichtlich weniger glücklich war. Zehn Jahre später, nachdem er die Schule verlassen hatte, schrieb er über seinen Aufenthalt im Tagebuch: Während der Zeit an der ungeliebten Schule, die bekannt war für ihr auf Disziplinierung bedachtes System, begann Charles, sich intensiv mit Literatur zu beschäftigen, indem er beispielsweise David Copperfield von Charles Dickens las und Geschichtsbücher über die Französische Revolution studierte. Seine mit Zeichnungen versehenen literarischen Versuche veröffentlichte er im Schulmagazin und in verschiedenen Familienmagazinen seiner Familie. Im Dezember 1849 ging er, wiederum mit großem Lob von der Schulleitung versehen, von der Rugby School ab, um sich im Jahr 1850 an der Universität von Oxford zu immatrikulieren. Der junge Erwachsene Charles Dodgson war etwa 1,80 m groß, schlank, hatte lockiges braunes Haar und blaue Augen. Im Alter von 17 Jahren hatte er an einer schwerwiegenden Infektion mit Keuchhusten gelitten, die Folge war eine Schwerhörigkeit des rechten Ohrs. Die einzige ernsthafte Behinderung jedoch war das, was er als seine „Unsicherheit“ bezeichnete, ein Stottern, das ihn bereits seit früher Kindheit belastete und das ihn sein ganzes restliches Leben plagte. Das Stottern war immer ein bedeutender Teil der Mythen, die sich um Lewis Carroll gebildet haben. In diesem Zusammenhang wurde beispielsweise behauptet, dass er nur in der Gesellschaft von Erwachsenen stotterte, in der Gegenwart von Kindern jedoch frei und flüssig sprach. Es gibt keine Belege für diese Behauptung; viele Kinder aus seinem Bekanntenkreis erinnerten sich an sein Stottern, vielen Erwachsenen ist es nicht aufgefallen. Obwohl ihn das Stottern störte, war es nie so schlimm, dass er seine Fähigkeit zum Umgang mit seinen Mitmenschen verloren hätte. Studium – Tutor für Mathematik in Oxford Dodgson besuchte ab Mai 1850 das College seines Vaters, Christ Church, wo er die Fächer Mathematik, Theologie und klassische Literatur belegte. Er war gerade zwei Tage in Oxford, als er nach Hause zurückgerufen wurde. Seine Mutter war im Alter von 47 Jahren an „Hirnentzündung“ (vermutlich einer Meningitis oder einem Schlaganfall) gestorben. Als er nach Oxford zurückkehrte, fiel ihm das Lernen leicht; im folgenden Jahr schloss er das Grundstudium mit Bestnote ab, und ein alter Freund seines Vaters, der Kanoniker Edward Pusey, schlug ihn für ein Stipendium vor, das ihm das Hauptstudium ermöglichte. Dodgsons frühe akademische Laufbahn schwankte zwischen hohen Ambitionen und mangelnder Konzentration. Im Jahr 1854 bereitete er sich außerdem auf die Priesterweihe vor. Ein regionales Blatt, die Whitby Gazette in Yorkshire, veröffentlichte um diese Zeit einige seiner Gedichte. Durch Faulheit verfehlte er ein wichtiges Stipendium, aber aufgrund seiner Brillanz als Mathematiker wurde er nach Abschluss des Studiums 1854 im Jahr 1855 als Tutor für Mathematik im Christ Church eingestellt; diese Position sollte er die nächsten 26 Jahre ausfüllen. Er erzielte als Tutor ein gutes Einkommen, doch die Arbeit langweilte ihn. Viele seiner Schüler waren dumm, älter als er, reicher als er, und vor allem waren sie völlig desinteressiert. Sie wollten von ihm nichts lernen, er wollte sie nichts lehren, beidseitige Apathie bestimmte den täglichen Umgang. Carroll und das neue Medium Fotografie Sein Dichtername Lewis Carroll, der ihn berühmt machen sollte, erschien 1856 erstmals im Zusammenhang mit einem romantischen Gedicht, Solitude, in der Zeitung The Train, in der einige seiner Parodien, einschließlich Upon the Lonely Moor, veröffentlicht wurden. Edmund Yates, der Verleger des Blattes The Train, brachte ihn auf die Idee. Dieses Pseudonym leitet sich von seinem Realnamen her: Lewis ist die anglisierte Form von Ludovicus, der latinisierten Form für Lutwidge, und Carroll ist die anglisierte Form von Carolus, dem lateinischen Namen für Charles. Die Fotografie wurde in den 1830er Jahren erfunden, sie stand aber den Amateurfotografen bis zu den 1850er Jahren nicht zur Verfügung; zu dieser Zeit wurde durch die Entwicklung der Kollodium-Nassplatte das fotografische Verfahren erleichtert. Im März des Jahres 1856 erwarb Carroll in London eine neue Kamera mit den dazugehörigen chemischen Materialien zum Preis von 15 Pfund, damals eine hohe Summe. In den neuen technischen Errungenschaften, für die er stets Interesse zeigte, beeinflussten ihn sein Onkel Skeffington Lutwidge, den er schon in seiner Kindheit besucht hatte, sowie sein Freund aus Oxford, Reginald Southey, mit dem er die ersten fotografischen Versuche unternahm. Trotz der ausdünstenden chemischen Lösungsmittel entwickelte Carroll die Fotos in einer Ecke seines Zimmers. 1868 bekam er ein größeres Studio im Christ Church und errichtete darüber ein eigenes Atelier, das jedoch erst im Jahr 1871 fertiggestellt wurde. Von diesem Zeitpunkt an hatte er eine fotografische Ausstattung, die gemäß der Zeit professionell war. Carrolls bekanntestes Motiv war Alice Liddell, die Tochter des Dekans von Christ Church, Henry George Liddell. Er hatte sie im Jahr 1856 durch das Fenster seines Arbeitsplatzes erblickt, als sie mit ihren Schwestern im Garten des Dekanats spielte. Im April des Jahres machte er den Versuch, von diesem Garten aus die Kirche zu fotografieren, was wegen der ungünstigen Lichtverhältnisse fehlschlug. Carroll lernte bei dieser Gelegenheit die Geschwister kennen und freundete sich mit ihnen an. Im Jahr 1857 erwarb er den Magister-Grad (MA) und lernte Alfred Tennyson, John Ruskin und William Makepeace Thackeray kennen, die er später fotografisch porträtieren sollte. Er hatte Verbindungen zu den Präraffaeliten, so knüpfte er Freundschaft mit Dante Gabriel Rossetti und seiner Familie und traf unter anderem William Holman Hunt, John Everett Millais und Arthur Hughes. Als Carroll auf der Isle of Wight Urlaub machte, begegnete er der Fotografin Julia Margaret Cameron, die ebenfalls bekannt war für Porträts bekannter Persönlichkeiten. Ebenso wie Carroll war sie beeinflusst von den Motiven präraffaelitischer Malerei. 1861 wurde er zum Diakon geweiht, das Priesteramt musste er nicht mehr antreten, was ihm recht war, da er befürchtete, beim Predigen ins Stottern zu geraten; so hat er in seinem Leben nur wenige Predigten gehalten. Carroll wird Schriftsteller Alice im Wunderland Am 4. Juli 1862 unternahm Carroll mit seinem Freund Robinson Duckworth und den drei Schwestern Lorina Charlotte, Alice und Edith Liddell einen Bootsausflug auf der Themse und erzählte eine Geschichte. Als Alice Liddell den Wunsch äußerte, er möge die Geschichte aufschreiben, entstand die Inspiration zu seinem weltberühmt gewordenen Kinderbuch Alice im Wunderland. Im Februar 1863 hatte Carroll das Manuskript von Alice im Wunderland abgeschlossen. Es waren 90 Seiten in seiner peniblen kleinen Handschrift geworden, die zahlreiche Leerstellen aufwiesen, in die Carroll persönlich angefertigte Illustrationen einfügen wollte. Es dauerte noch einmal fast zwei Jahre, bis er die handschriftliche Urfassung mit dem Titel Alice’s Adventures Under Ground fertiggestellt hatte und sie mit der Widmung „Ein Weihnachtsgeschenk für ein liebes Kind in Erinnerung an einen Sommertag“ im November 1864 Alice Pleasance Liddell übergab. Die eigenen Zeichnungen hatten zwar ihren Reiz, doch die laienhafte Ausführung war nicht für eine gedruckte Ausgabe geeignet, die Carroll inzwischen als Möglichkeit nicht ausschließen wollte. Die Freundschaft zwischen der Familie Liddell und Carroll zerbrach im Juni 1863. Über die Ursachen gibt es nur Spekulationen, da die entsprechenden Tagebücher aus dieser Zeit verschollen sind und Carrolls Briefe an Alice von ihrer Mutter vernichtet wurden. Die Spekulationen reichen von seiner angeblichen Verliebtheit in Alice und dem Wunsch, sie zu heiraten, bis hin zu Vermutungen, dass sich eine Liebesbeziehung zu Alice’ ältester Schwester Ina angebahnt habe. Weitere Erklärungen finden sich im Rezeptionsteil zur Geschichte der Tagebücher. In Hastings lernte er den schottischen Schriftsteller George MacDonald kennen – es war die begeisterte Aufnahme seiner Alice durch die jungen MacDonald-Kinder, die ihn von der Publikation des Werkes endgültig überzeugte. Der Verlag Macmillan nahm das inzwischen stark erweiterte Manuskript im Jahr 1863 zur Veröffentlichung an. Das Buch erschien im Jahr 1865, erst unter dem Namen Alice’s Adventures Under Ground und dann nach Erweiterungen als Alice’s Adventures in Wonderland mit Illustrationen des namhaften Zeichners John Tenniel. Das Buch fand gleich nach seinem Erscheinen großen Anklang und viele begeisterte Leser. Dazu gehörten unter anderem der junge Schriftsteller Oscar Wilde und Königin Victoria. Wie bekannt, stotterte Carroll, so dass er sich gelegentlich mit „Do-Do-Dodgson“ vorstellte. Es gibt daher Vermutungen, dass sich Carroll mit der Figur des Vogels Dodo in seinem ersten Werk selbst porträtieren wollte. Der echte Dodo ist ein längst ausgestorbener Vogel, den Alice im Universitätsmuseum von Oxford zum ersten Mal sah und der gegenwärtig dort noch ausgestellt ist. Im Jahr 1886 trat Carroll nach langer Zeit wieder in Kontakt zu Alice Liddell, inzwischen verheiratete Hargreaves, und bat sie um Erlaubnis, von seinem Originalmanuskript eine Faksimile-Ausgabe herstellen zu lassen. Diese erschien Ende des Jahres in einer Auflage von 5000 Exemplaren; in den 1980er Jahren gab es einen erneuten Reprint. 30 Jahre nach dem Tod Carrolls gab Alice Hargreaves im Jahr 1928 das Originalmanuskript mit den eigenhändigen Zeichnungen zum Verkauf frei. Es erzielte hohe Preise und gelangte erst im Jahr 1946 durch eine Initiative der amerikanischen Nationalbibliothek (Library of Congress) und bibliophiler Anhänger wieder nach England. Die Amerikaner sahen die Übergabe „als kleines Zeichen der Anerkennung, dass die Engländer Hitler in Schach gehalten haben, während wir uns erst noch auf den Krieg vorbereiteten“. Es ist im „Manuscript Room“ des Britischen Museums in London ausgestellt. Alice hinter den Spiegeln Von Juni bis September des Jahres 1867 führte ihn eine Reise nach Russland, und er begann, am Manuskript Through the Looking-Glass (Alice hinter den Spiegeln) zu arbeiten, einer Fortsetzung der erfolgreichen Alice im Wunderland. Im selben Jahr wurde Brunos Rache veröffentlicht, später sollte es ein Teil von Sylvie & Bruno werden. 1868 starb Carrolls Vater, die Familie musste daher aus dem Pfarrhaus in Croft ausziehen. Carroll war nun neues Familienoberhaupt und suchte für seine unverheirateten Schwestern eine neue Bleibe. Er fand nach vielen Bemühungen „The Chestnut“, ein Haus in Guildford in der Grafschaft Surrey, das zum neuen Familienwohnsitz werden sollte. Der Tod des Vaters ließ ihn mehrere Jahre in Depressionen verfallen. Es erschien seine erste mathematische Veröffentlichung unter dem Titel The Fifth Book of Euclid. Seine zweite wissenschaftliche Veröffentlichung erschien 1879 als Euclid and his Modern Rivals. Im Jahr 1869 wurde der Titel Phantasmagoria and Other Poems, in dem mehrere Gedichte zusammengefasst worden waren, in kleiner Auflage veröffentlicht. Für Alice hinter den Spiegeln aus dem Jahr 1871 schrieb Carroll einzelne Geschichten, Fabeln oder Gedichte im Gegensatz zu seinem ersten Buch, das aus einer fortlaufenden Erzählung bestand. Trotz einiger Schwierigkeiten, die sich bei der ersten Veröffentlichung ergeben hatten, verpflichtete er wiederum John Tenniel als Illustrator. Den Anstoß für das Buch gab erneut ein Mädchen namens Alice. Carroll traf Alice Raikes im August 1868 im Haus ihres Onkels in London und führte sie beim gemeinsamen Spiel vor einen Spiegel. Er gab ihr eine Apfelsine in die rechte Hand und fragte, in welcher Hand Alice’ Spiegelbild die Apfelsine halte. „In der linken“ war die Antwort. Carrolls Frage nach einer Lösung beantwortete das Mädchen wie folgt: „Wenn ich auf der anderen Seite des Spiegels wäre, wäre dann die Apfelsine nicht immer noch in meiner rechten Hand?“ Diese Episode schmückte Carroll weiter aus und formte sie zu der Geschichte von Alice hinter den Spiegeln. Aus seiner Familienzeitung Mischmasch entnahm er für die Ausgabe das Nonsensgedicht Jabberwocky (in Christian Enzensbergers Übersetzung heißt es Der Zipferlake), das mit dem ersten Vers in Spiegelschrift beginnt; diese Schreibweise war ursprünglich für das gesamte Buch vorgesehen. Der erste Vers von Jabberwocky: Twas brillig, and the slithy toves / Did gyre and gimble in the wabe; / All mimsy were the borogoves, / And the mome raths outgrabe. Verdaustig wars, und glasse Wieben / Rotterten gorkicht im Gemank; / Gar elump war der Pluckerwank, /Und die gabben Schweisel frieben. (Übersetzung Christian Enzensberger) Besonders bekannt in Alice hinter den Spiegeln sind als Figuren ebenfalls das Ei auf der Mauer, genannt Humpty Dumpty, die Zwillinge Tweedledee und Tweedledum und die darin auftretende Rote Königin, die der neugierigen Alice erklärt: „Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.“ The Hunting of the Snark Im Jahr 1876 wurde Carrols drittes großes Werk veröffentlicht, The Hunting of the Snark (Die Jagd nach dem Schnark), eine fantastische Nonsens-Ballade. Die Illustrationen schuf Henry Holiday. Das Gedicht handelt von einer seltsamen Jagdexpedition, die sich mit Sorgfalt, Hoffnung und einer völlig leeren Meereskarte aufmacht, ein mysteriöses Wesen namens Snark zu fangen. Darin wird unter anderem die interessante Ansicht geäußert, etwas stimme, wenn es dreimal gesagt wird. Der Snark vereinigt in sich außergewöhnliche Eigenschaften. So ist er praktisch beim Anzünden von Lichtern, hat die Gewohnheit, erst am Nachmittag aufzustehen, versteht keinen Scherz und liebt Badekarren. Der präraffaelitische Maler Dante Gabriel Rossetti soll geglaubt haben, das Gedicht stehe mit ihm in Verbindung. Im englischen Sprachraum ist es legendär, in Deutschland ist das Gedicht jedoch weniger bekannt. Dennoch gibt es mehrere deutsche Übersetzungen der „Agonie in acht Krämpfen“, so der Untertitel, darunter Die Jagd nach dem Schnark von Klaus Reichert sowie als Reclam-Ausgabe Die Jagd nach dem Schnatz. Die Jagd nach dem Schnark wurde außerdem in etlichen Varianten für die Bühne und als Musical adaptiert, beispielsweise von Mike Batt im Jahr 1987. Michael Ende übersetzte das Gedicht für die darauf basierende Oper des Komponisten Wilfried Hiller, die am 16. Januar 1988 im Prinzregententheater in München unter dem Titel Die Jagd nach dem Schlarg uraufgeführt wurde. Die späteren Jahre Carroll gehörte zu den Schriftstellern, die im Gegensatz zu anderen Kollegen bereits zu Lebzeiten sehr bekannt und wohlhabend wurden. 1880 beendete er allerdings abrupt seine erfolgreiche fotografische Arbeit. Die Hintergründe sind nie ganz geklärt worden. Vermutungen beziehen sich jedoch unter anderem auf zunehmende Probleme mit den Eltern der kleinen Mädchen, die er unbekleidet fotografieren wollte. Carroll war fasziniert von jungen Mädchen, die meistens fünf bis sechs Jahre alt waren, wenn er sie fotografierte; sie mussten in ihrer Ausstrahlung Lebendigkeit, Unschuld und Schönheit ausdrücken. Die englische Malerin Gertrude Thomson, die ihm ab 1878/79 gelegentlich junge weibliche Modelle vermittelte und bei seinen Fototerminen anwesend war, beschrieb die Requisiten wie Kostüme, mechanische Bären und Kaninchen in seinem Studio und erinnerte sich an die gemeinsam vergnüglich verbrachten Stunden. Sie erinnerte sich an die Treffen mit Carroll: „Wie sein Lachen klang – wie das eines Kindes!“ Mit ihm gemeinsam hatte sie die Vorliebe für Feen und Nymphen, die auf ihren Bildern ebenfalls nackt erschienen. Seine Tätigkeit als Tutor führte er bis zum Jahr 1881 am Christ Church College fort; eine Tätigkeit als Kurator schloss sich bis zum Jahr 1892 an. Das Studio im College blieb in der folgenden Zeit weiterhin sein Wohnsitz, da der Lehrkörper des College generell ein Wohnrecht auf Lebenszeit hatte. Sylvie und Bruno Carrolls einziger Roman, Sylvie und Bruno, an dem er zehn Jahre lang gearbeitet hatte, wurde in zwei Bänden in den Jahren 1889 und 1893 veröffentlicht. Die Illustrationen stammen von Harry Furniss. Anders als in den Alice-Büchern treffen hier Kinder und Erwachsene aufeinander, und erstmals in seinem Werk taucht eine männliche Hauptfigur auf. Im Gegensatz zu seinen verspielten ersten Erzählungen ist der Roman von strengen moralischen Regeln bestimmt, und die Ebenen von Realität und Fantasie sind im Gegensatz zu seinen früheren Werken klar erkennbar. Eine Gemeinsamkeit stellt die Suche nach der Identität dar. Verschiedene Interpreten haben die Parallelen zu den Konflikten der Romanfiguren und denen des Autors hervorgehoben. Beispielsweise sind neben der Identitätssuche die Bedeutung des Vaters, der sonst in keinem Werk Carrolls eine Rolle gespielt hat, die Überlegenheit der beiden älteren Schwestern, seine Technikgläubigkeit sowie eine gewisse Wissenschaftskritik ein Thema. Diesem Werk blieb der überragende Erfolg seiner Vorgänger versagt, vermutlich wegen der eklatanten Unterschiede zu seinen früheren fantastischen Werken. Der Anglist Klaus Reichert sieht in Sylvie und Bruno den Wunsch Carrolls, „sich als identisch mit sich selbst zu sehen“. Tod Lewis Carrolls In seinen letzten Lebensjahren dachte Carroll schon oft an den Tod. Kurz vor Weihnachten des Jahres 1897 fuhr er wie jedes Jahr zu seinen Schwestern nach Guildford. Er war erkältet, wie so oft, da er in seinen Räumen am Christ Church College an Heizung sparte. Um die Jahreswende verschlechterte sich sein Gesundheitszustand. Am frühen Nachmittag des 14. Januar 1898 starb Lewis Carroll an den Folgen einer Lungenentzündung im Haus der Schwestern, „The Chestnuts“. Unter den Trauergästen war die Malerin Gertrude Thomson, mit der er zeitweilig zusammengearbeitet hatte. Lewis Carrolls Grabsockel auf dem Mount Cemetery, dem Friedhof von Guildford, trägt neben der Inschrift „Rev. Charles Lutwidge Dodgson“ in Klammern darunter den Zusatz „(Lewis Carroll)“ – ein Zeugnis für sein Doppelleben, das ihn bis in den Tod begleitet hat. Doppelleben als Wissenschaftler und Künstler Der Mathematiker und Geistliche Charles Lutwidge Dodgson Unter seinem Realnamen begann Carroll im Jahr 1855, im Christ Church College zu unterrichten. Als Tutor für Mathematik hatte er eine Gruppe von Studenten zu betreuen, die es ihm nicht leicht machte. Sein Unterricht wurde von den Studenten nicht geschätzt, offensichtlich fehlte es Carroll dort an dem Humor, der seine literarischen Werke würzt. In einem Brief beschrieb er, dass ein Tutor würdevoll zu sein habe und Abstand zu seinen Schülern bewahren müsse: „Sonst ist er nicht demütig genug, wißt Ihr. So sitze ich also in der äußersten Ecke des Zimmers; vor der (geschlossenen) Tür sitzt der Diener; vor der äußeren Tür (ebenfalls geschlossen) sitzt der Unterdiener; eine halbe Treppe tiefer sitzt der Unter-Unter-Diener; und draußen im Hof sitzt der Schüler. Die Fragen werden von einem zum anderen gebrüllt, und die Antworten kommen genauso zurück – es ist ziemlich verwirrend, bis man sich daran gewöhnt hat.“ Es folgte ein absurder Dialog zwischen Schüler und Lehrer, der über die Diener vermittelt wurde und viele Missverständnisse hervorrief. In diesem Brief steckt schon die Satire seines späteren Werks als Schriftsteller, indem er Bezug nimmt auf die konservative Ausrichtung des College, das unter dem Einfluss der Kirche stand. Reformvorschläge zielten darauf hin, den universitären Instanzen mehr Macht zu gewähren. Unter dem Titel Notes by an Oxford Chiel veröffentlichte Carroll eine Sammlung kurzer Satiren zu verschiedenen Angelegenheiten der Universitätspolitik in Oxford. Dem neuen, im Jahr 1855 eingesetzten Dekan Henry George Liddell, Vater der Alice, war der Ruf vorausgeeilt, ein Reformator zu sein, doch in seiner Amtszeit änderte sich nichts Wesentliches. Carroll selbst beteiligte sich an Reformvorschlägen im wissenschaftlichen Sinn, doch war er konservativ in Fragen der theologischen Traditionen. Nachdem er im Jahr 1881 seine Tätigkeit als Tutor aufgegeben hatte, ließ er sich 1882 zum Kurator wählen. Seine Tätigkeit bestand darin, den Gemeinschaftsraum (Common Room) zu beaufsichtigen und Aktivitäten zu organisieren. Dort führte Carroll beispielsweise eine Laterna magica vor und informierte über die neue Welt der technischen Medien. 1892 gab er diese Stellung wieder auf. Neben seiner unterrichtenden Tätigkeit verfasste Carroll unter seinem Realnamen verschiedene mathematische Abhandlungen und Bücher über Algebra, ebene algebraische Kurven, Trigonometrie, zwei Bücher über Euklid, ein zweibändiges Buch Curiosa Matematica (1888, 1893), dessen zweiter Teil der Unterhaltungsmathematik gewidmet ist, sowie 1896 sein letztes Werk mit dem Titel Symbolic Logic. Nach zeitgenössischen Aussagen war Carroll kein bedeutender Mathematiker, da ihm formale und inhaltliche Fehler nachgewiesen wurden, seit den 1970er Jahren sind aber insbesondere seine Beiträge zur Logik durch die Untersuchung seines Nachlasses neu bewertet worden (siehe Rezeption). Was seine Werke auszeichnete, war die Darstellung, so konzipierte er sein mathematisches Hauptwerk Euclid and his Modern Rivals als Theaterstück, die Auseinandersetzung um mathematische Fragen wurde in Dialogform präsentiert, wobei zu seiner Verteidigung der Geist Euklids auftritt. In dem Buch ging es ihm darum, Euklids altes Lehrbuch in seiner ursprünglichen Form für den Gebrauch im Unterricht zu verteidigen. Er verteidigt Euklids Behandlung des Parallelenpostulats, nimmt aber in seinem ersten Band der Curiosa Mathematica von 1888 einen ganz anderen, eigenen Standpunkt ein. In der Debatte um neue Perspektiven in der Naturwissenschaft nahm Carroll eine konservative Haltung ein und betonte, die Wissenschaft dürfe nicht alles, was ihr theoretisch möglich sei, in die Tat umsetzen. Beispielsweise lehnte er Tierversuche (damals: Vivisektion) ab, die er in nur wenigen Fällen für gerechtfertigt hielt. In seiner 1875 verfassten Abhandlung Einige verbreitete Irrtümer über die Vivisektion stellte er 13 Thesen auf, um seinen Standpunkt zu begründen. Besonders in den späteren Jahren erfand er Puzzles, Rätsel und Geschichten, die häufig von Zahlen ausgingen, die im Grunde aber die Frage nach der menschlichen Existenz, der Realität und Inszenierung stellten. Eine Serie von Denksportaufgaben wurde ab 1880 in der Londoner Zeitschrift The Monthly Packet abgedruckt. Es erschienen zehn Folgen, von ihm „Knoten“ genannt, wobei jeweils eine oder mehrere mathematisch-logische Aufgaben in eine kleine Geschichte eingekleidet waren. Später wurden diese Geschichten als A Tangled Tale in Buchform veröffentlicht. Zu den von ihm erdachten Rätseln gehören auch die Wortleitern, von ihm Doublets genannt. Aufgrund seiner Aufnahme im Christ Church College hatte Carroll sich verpflichten müssen, eine Ausbildung zum Priester zu durchlaufen. Auf diese Weise erhielt er ein Stipendium und ein lebenslanges Wohnrecht im College. Im Jahr 1861 wurde er von Samuel Wilberforce, dem Bischof von Oxford, zum Diakon (Deacon) geweiht. Er schlug die von seinem Vater gewünschte Priesterlaufbahn jedoch nicht ein, der diese Familientradition durch den Sohn fortgeführt sehen wollte, da er dazu die von ihm sehr geliebten Theaterbesuche hätte aufgeben müssen und er aufgrund seiner Neigung zum Stottern nicht dazu prädestiniert war, Predigten zu halten. Seine strengen religiösen Überzeugungen prägten jedoch weiterhin sein Leben. Caroll war Mitglied der Society for Psychical Research, einem Verein zur Erforschung parapsychologischer Phänomene. Der Fotograf und die Mädchen – The „Carroll Myth“ Als Carroll mit der Fotografie begann, wollte er seine eigenen Vorstellungen mit den Idealen von Freiheit und Schönheit zu der Unschuld des Paradieses kombinieren, in dem der menschliche Körper und der menschliche Kontakt ohne falsche Scham genossen werden konnten. Über 24 Jahre hatte er sich mit dem Medium Fotografie beschäftigt und um die 3000 Bilder geschaffen. Weniger als 1000 haben Zeit und Zerstörung überlebt. Ein im Jahr 2002 erschienener Bildband von Roger Taylor und Edward Wakeling zeigt jedes Foto, das die Zeit überdauert hat, und Wakeling schätzt, dass über 50 Prozent junge Mädchen darstellen, während Erwachsene und Familien 30 Prozent einnehmen, Fotografien der eigenen Familie 6 Prozent, topografische Aufnahmen 4 Prozent und andere wie beispielsweise Selbstporträts, Stillleben und Skelette 10 Prozent. Alexandra Kitchin, bekannt als Xie, war sein Lieblingsmodell mit über 50 Aufnahmen ab 1869 bis zum Jahr 1880, als er das Fotografieren beendete. Da stand sie kurz vor ihrem 16. Geburtstag. Seine Fotos nackter Kinder schienen lange Zeit verloren, doch sind vier erhalten geblieben. Sie waren die Ursache von Vermutungen über Carrolls pädophile Neigungen; in diesem Sinn äußerte sich unter anderen Morton N. Cohen in seiner Biografie über Carroll aus dem Jahr 1995. In Carrolls Briefsammlung Briefe an kleine Mädchen sowie auch in seinen Tagebüchern wird offensichtlich, dass er ein überdurchschnittliches Interesse an kleinen Mädchen hatte. Dass die Basis für dieses Interesse ein pädophiler Hintergrund Carrolls wäre, ist nicht bewiesen. Eine kontroverse Sichtweise hat die englische Schriftstellerin Karoline Leach: Sie will in ihrem 1999 erschienenen Buch In the Shadow of the Dreamchild beweisen, dass Carroll für die damalige Zeit unkonventionelle Beziehungen zu mehreren erwachsenen Frauen geführt habe, beispielsweise zu der Künstlerin Gertrude Thomson und der Schriftstellerin Anne Thackeray Ritchie. Mit „Dreamchild“ ist Alice Liddell gemeint. Der französische Literaturwissenschaftler Hugues Lebailly von der Sorbonne ergänzte, dass die Biografen Carrolls aus früherer Zeit aufgrund der nicht mehr vollständigen Tagebuchaufzeichnungen die falschen Schlüsse gezogen und sozialhistorische Zusammenhänge vernachlässigt hätten. Die viktorianischen Ansichten gegenüber kindlicher Nacktheit seien nicht berücksichtigt worden. In jener Zeit hätten viele Künstler und Fotografen unbekleidete Kinder porträtiert. Solche Bilder drückten Unschuld aus und waren sehr beliebt. Das Motiv erschien auf Weihnachts- und Urlaubskarten, und Carroll hätte die entsprechenden Fotos aus zeitgemäßen künstlerischen und kommerziellen Gründen wie seine Berufskollegen geschaffen. Leachs Schlagwort vom „Carroll Myth“ bestimmt noch in der Gegenwart die literaturkritischen Auseinandersetzungen um Lewis Carrolls Persönlichkeit. Carrolls fantastische Literatur Die Entstehungsgeschichte der Alice im Wunderland verweist darauf, dass viele Einzelheiten der Fantasie und dem Unbewussten des Autors entstammen. Alice wirkt wie ein Traum, ein Erzählelement reiht sich an das andere; es entsteht daher kein durchgehender Erzählstrang. Carroll hat zu seinem methodischen Vorgehen entsprechende Angaben gemacht, notierte stets beim Schreiben die Assoziationen, die ihm in den Sinn kamen und ergänzte danach den Text: „Um anzufangen, schickte ich meine Heldin in den Kaninchenbau, ohne die leiseste Ahnung, was danach passieren würde. […] Beim Aufschreiben fügte ich immer neue Ideen hinzu, die aus sich selbst erwuchsen und auf dem ursprünglichen Text aufbauten.“ Anders als in den Kunstmärchen des 19. Jahrhunderts wie die von Dickens, Thackeray und Oscar Wilde treten bei Carroll poetische und ästhetische Konstruktionen gegenüber seinen Assoziationsketten zurück. Wie sein Biograf Thomas Kleinspehn betont, sind Bezüge einzelner Passagen auf Autoren der Weltliteratur wie Cervantes und E. T. A. Hoffmann wenig hilfreich. Obwohl Carroll keinen direkten Bezug auf die zeitgenössischen Texte nimmt, war er ein guter Kenner der viktorianischen Literatur, wie seine umfangreiche Bibliothek beweist, deren darin enthaltene Werke gut dokumentiert sind. Dies ist erkennbar an den Parodien, die in seine Werke eingebaut sind und deren Herkunft gelegentlich in Carrolls Tagebüchern erwähnt wird. Viele sind jedoch so stark verschlüsselt, dass sie erst durch akribische literaturwissenschaftliche Arbeit entdeckt wurden oder noch der Aufdeckung harren. Eine Einordnung von Carrolls ungewöhnlichem Werk ist eher in die Nonsens-Literatur möglich, die mit ihren Gegenwelten auf die viktorianische Enge der Gesellschaft und ihren Rationalismus reagierte. Ihr wichtigster Vertreter war der um zwanzig Jahre ältere Edward Lear, der vor allem bekannt ist durch seine grotesken Limericks in Kinderspielen und Abzählversen, die einen Gegensatz bildeten zu der belehrenden viktorianischen Kinderliteratur. Ob Carroll Lear persönlich gekannt hat, ist umstritten. Von Charles Dickens war Carroll seit seiner Jugendzeit fasziniert. Dickens Figuren scheinen in seinem Werk in einigen Tieren wieder aufzutauchen. Neben dem Einfluss von Tennyson und Thackeray waren es die Vertreter der Präraffaeliten wie der von Carroll porträtierte Dante Gabriel Rossetti, die in ihren verklärten Bildern eine Gegenwelt zu schaffen versuchten zum viktorianischen konventionellen und rationalen Alltag. Eine Abkehr von der realen Welt bestimmen auch Carrolls Werke und bilden durch ihre satirischen und parodistischen Formen eine Art der Sozialkritik. Rezeption Wirkung zu Lebzeiten Die Schauspielerin Isa Bowman beschreibt ihre Eindrücke, die der Künstler auf sie machte, in der 1899 herausgegebenen Schrift The Story of Lewis Carroll; sein silbrig graues Haar, das er weit länger trug, als es zu jener Zeit modern war, seine tief blauen Augen, die glatte Rasur und den etwas wackligen Gang, und sie bemerkte, dass er in Oxford eine ziemlich bekannte Persönlichkeit gewesen sei. Seine Kleidung sei ein wenig exzentrisch, da er selbst bei kältestem Wetter niemals einen Mantel anzog, und er habe „die kuriose Angewohnheit, zu jeder Jahreszeit ein Paar graue Wollhandschuhe zu tragen“. Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain erzählt in seiner Autobiografie von einem Treffen mit Carroll, „dem Autor der unsterblichen Alice“, dass dieser einer der stillsten und schüchternsten erwachsenen Männer sei, die er je getroffen habe. Carroll habe die ganze Zeit still dagesessen und nur gelegentlich knapp auf eine Frage geantwortet. „Ich kann mich nicht erinnern, daß er irgendwann weiter ausgeholt hätte.“ Carrolls Wirkung auf die Surrealisten Die Surrealisten ließen sich durch das Tiefgründige und die Funktion des Traums in Carrolls Werk faszinieren, und besonders das assoziative Schreiben fand als écriture automatique in der surrealistischen Literatur Aufnahme. Der surrealistische Maler und Grafiker Max Ernst schuf ab 1950 Illustrationen zu Carrolls Werken. Louis Aragon vermerkt in seiner Schrift Le surréalisme au service de la revolution im Jahr 1931, Nr. 3, dass The Hunting of the Snark zur gleichen Zeit erschienen sei wie die Chants de Maldoror von Lautréamont und Arthur Rimbauds Une saison en enfer. Er führt die Massaker in Irland, die Unterdrückung in den Fabriken, den Manchester-Kapitalismus an, der die Menschen bedrängte und resümiert: „Was war aus der Freiheit des Menschen geworden? Sie lag ganz in den zarten Händen Alices, in die dieser seltsame Mann sie gelegt hatte.“ Carrolls Text Hummer-Quadrille wurde in André Bretons Anthologie des Schwarzen Humors aus dem Jahr 1940 aufgenommen. Der Surrealist resümiert, Carrolls Nonsensliteratur erhalte seine Bedeutung einerseits durch die Lösung des Widerspruchs zwischen der Akzeptanz des Glaubens und der Praktik der Vernunft sowie andererseits zwischen dem poetischen Bewusstsein und den beruflichen Pflichten. „Der Geist kann bei jedweder Schwierigkeit einen Ausweg im Absurden finden. Die Bereitschaft, das Absurde zu bejahen, erschließt dem Menschen wieder das geheimnisvolle Reich, in dem die Kinder leben. […] Es scheint nicht minder maßlos übertrieben, wenn man Lewis Carroll als einen ‚politischen Aufsässigen‘ hinstellt und seinem Werk direkte satirische Absichten unterschiebt. […] Alle jene, die sich den Sinn für Auflehnung bewahren, werden in Lewis Carroll ihren ersten Lehrer im Schuleschwänzen sehen.“ Die vielseitige Alice Alice im Wunderland wird als kulturelle Ikone gesehen. Das Buch gilt als Klassiker der Kinderliteratur, wird aber auch assoziiert mit Naturwissenschaften, besonders Mathematik, Astronomie, Physik und Informatik, mit Erotik und der Kanonliteratur. Nicht nur in Kinderbüchern wurden Lewis Carrolls Erzählungen kopiert. Die viktorianische Dichterin Christina Georgina Rossetti (1830–1894) und Modernisten wie T. S. Eliot (1888–1965), Virginia Woolf (1882–1941) und James Joyce (1882–1941) in seinem Roman Finnegans Wake ließen sich von den Alice-Büchern inspirieren. Weitere Schriftsteller und Kritiker, die auf Carrolls Texte Bezug nahmen, waren Sir William Empson (1906–1984), Robert Graves (1895–1985) und Evelyn Waugh (1903–1966), in jüngerer Zeit Julian Barnes, Stephen King und die postmodernen Kritiker Gilles Deleuze und Jean-Jacques Lecercle. Auch der Komponist Paul McCartney wurde bei seinen Textideen durch Carroll beeinflusst. Hofstadters Gödel, Escher, Bach In Douglas R. Hofstadters Buch Gödel, Escher, Bach – ein Endloses Geflochtenes Band beschreibt der Autor unter der Überschrift Bedeutung und Form der Mathematik den Zusammenhang zwischen seinem und Carrolls Werk: „DIESER Zweistimmigen Invention verdanken meine beiden Protagonisten ihre Existenz. So wie Lewis Carroll sich mit Zenos Schildkröte und Achilles gewisse Freiheiten herausnahm, so habe ich mir mit Lewis Carrolls Schildkröte und Achilles gewisse Freiheiten erlaubt. In Carrolls Dialog finden die gleichen Ereignisse immer und immer wieder statt, nur jedes Mal auf einer höheren Ebene. Er bildet eine wunderbare Analogie zu Bachs endlos redupliziertem Kanon. Wenn man aus dem Dialog Carrolls den Witz herausnimmt, bleibt noch immer ein tiefes philosophisches Problem: Richten sich Wörter und Gedanken nach formalen Regeln oder nicht? Dies ist das zentrale Problem unseres Buches.“ Carrolls mathematische Arbeiten aus heutiger Sicht In der Logik behandelte Carroll Sätze der Logik in der Form von Spielen in Diagrammen, die den späteren Venn-Diagrammen ähnelten, und benutzte Wahrheitstabellen, wie die unveröffentlichten Manuskripte der Fortsetzung seiner Symbolic Logic (1896) zeigen. Deren zu Lebzeiten unveröffentlichter zweiter Teil mit dem Titel Advanced wurde 1977 veröffentlicht. Der dritte Teil („Transcendental“) ist nicht erhalten; wahrscheinlich wurde er wie so vieles aus seinem Nachlass verbrannt. Einem dem dritten Teil zugeordneten Inhaltsverzeichnis entsprechend behandelt er darin unter anderem die Regeln logischer Ableitung, „The Theory of Inference“. Mit seiner „Method of Trees“ gab er im Nachlass ein Verfahren an, die Beweisbarkeit von Sätzen des einstelligen Prädikatenkalküls zu zeigen. Damit nahm er teilweise Arbeiten von Leopold Löwenheim vorweg, der 1915 bewies, dass dieses Problem entscheidbar ist (siehe auch Satz von Löwenheim-Skolem). Der veröffentlichte Teil seiner Symbolischen Logik war dagegen als elementares Lehrbuch der klassischen syllogistischen (das heißt elementaren) Logik gedacht, illustriert durch Diagramme. Als solches wird es noch heute von Logikern im Unterricht benutzt. Aufgrund anderer Arbeiten wurde er ab den 1970er Jahren als Mathematiker ebenfalls positiver eingeschätzt als das früher der Fall war, zum Beispiel in seiner Behandlung von Wahlsystemen (1884), in der er Ideen der Spieltheorie vorwegnimmt. Seine Arbeiten über mathematische Rätsel wurden schon immer vom Nestor der US-amerikanischen Unterhaltungsmathematik Martin Gardner geschätzt, der einige Bücher von Carroll kommentiert neu herausgab. Im Jahr 1995 wurden im Nachlass neu entdeckte Caroll-„Puzzles“ veröffentlicht. Die Frage nach dem Drogenkonsum Manche Kritiker haben die irrealen Schilderungen in den Alice-Büchern als Halluzinationen des Autors empfunden. Die Vorstellung, Carroll habe Drogen konsumiert, machte ihn sehr populär in der Untergrundkultur der 1960er Jahre, die sich darauf berief, dass einer der berühmtesten Schriftsteller verbotene Substanzen eingenommen hätte. Innerhalb der LSD-Bewegung wurden Passagen aus Alice im Wunderland als Beschreibung von LSD-Trips oder Trips anderer halluzinogener Drogen (Psilocybin, Meskalin) interpretiert. Es gibt Anspielungen im Buch, die auf Drogenerlebnisse hindeuten. So verändert sich etwa die Größe der Protagonistin Alice durch den Konsum von Pilzen, Keksen oder Flüssigkeiten. Das in den 1960er Jahren konsumierte Rauschmittel LSD gab es zu Carrolls Zeit allerdings noch nicht; dessen halluzinogene Wirkung ist erst 1943 vom Schweizer Chemiker Albert Hofmann entdeckt worden. Es ist niemals belegt worden, dass Carroll Drogen konsumiert hätte. Zu Carrolls Lebzeiten war als oft benutztes Schmerzmittel Laudanum verfügbar, das als opiumhaltige Tinktur in einer genügend hohen Dosis in der Lage war, einen Rauschzustand herbeizuführen. Carroll könnte es möglicherweise von Zeit zu Zeit gegen seine Migräneanfälle, die 1880 in seinem Tagebuch dokumentiert sind, eingenommen haben. Es gibt auch Vermutungen, dass die fantastischen Abenteuer von Alice durch die gelegentlich auftretende Aura vor Migräneanfällen beeinflusst sein können. In diesem Kontext ist zu erwähnen, dass ein anfallsartiger Zustand, in dem Menschen sich selbst oder ihre Umgebung auf halluzinatorische Weise verändert wahrnehmen, als Alice-im-Wunderland-Syndrom bezeichnet wird. Die fehlenden Tagebücher Vier Bände und etwa sieben Seiten fehlen von Carrolls 13 Tagebüchern. Der Verlust der Bände und der Seiten ist letztlich ungeklärt. Viele Carroll-Experten glauben, dass die Tagebücher von Familienmitgliedern entfernt wurden, um den Familiennamen zu schützen, doch ist diese Vermutung nicht durch Belege gestützt. Das fehlende Material, mit Ausnahme einer fehlenden Einzelseite, wird der Periode zwischen den Jahren 1853 (Carroll war damals 22 Jahre alt) und 1862 zugeschrieben. Eine populäre Theorie unter vielen für die fehlende Seite vom 27. Juni 1863 ist die Vermutung, dass die Seite herausgerissen wurde, um den Heiratsantrag Carrolls an die elfjährige Alice an diesem Tag zu verschleiern. Ein Blatt mit Notizen, das 1996 im Dodgson Familienarchiv in Woking auftauchte, behauptet das Gegenteil. Dieses Papier, bekannt als cut pages in diary document, wurde von Familienmitgliedern nach Carrolls Tod zusammengestellt. Es fasst kurz den Inhalt zweier Tagebuchseiten zusammen, die fehlen, das Blatt vom 27. Juni 1863 eingeschlossen. Die Zusammenfassung ergibt, dass Mrs. Liddell Carroll erklärte, es seien Klatschgeschichten über ihn, die Familie Liddell und über Ina, vermutlich Alice’ ältere Schwester Lorina, im Umlauf; der Bruch mit der Familie ergab sich vermutlich aus diesem Grund. Eine andere Interpretation lautete, Ina sei ebenfalls der verkürzte Name von Alice’ Mutter. Daraus ergibt sich die Interpretation, dass der Bruch Carrolls mit der Familie Liddell in keinem Zusammenhang mit Alice stand. Die noch vorhandenen Tagebücher Lewis Carrolls wurden im Jahr 1969 aus dem C. L. Dodgson Estate von der British Library in London erworben und werden dort aufbewahrt. Auf den Spuren Carrolls in England Christ Church und das Museum of Oxford Reverend Dodgons Arbeitsstätte als Mathematiker und Geistlicher in Christ Church in Oxford, wo er im nordwestlichen Turm ein Studio bewohnte, war auch der Ort, wo er als Lewis Carroll seine Geschichten schrieb. Er lernte die Kinder seines Dekans, Henry George Liddell, kennen, darunter Alice, seine Inspiration für sein berühmtestes Buch Alice im Wunderland. Die „Great Hall“, wo er seine Mahlzeiten zu sich nahm, enthält viele Geheimnisse des Wunderlands, so ist vermutlich das „rabbit hole“, („Kaninchenloch“) die Tür, durch die Dekan Liddell den „senior common room“, den Gemeinschaftsraum, betrat. Liddell selbst könnte das „Weiße Kaninchen“ sein, weil er immer zu spät kam. Für den Besucher gibt es geführte Touren, auf denen er beispielsweise den „Jabberwocky“, die „Cheshire Katze“ und Alice’ Geheimtür zum Wunderland besichtigen kann. Im Museum of Oxford, das die Stadt und seine Einwohner aus prähistorischer Zeit bis zum heutigen Tag beschreibt, gibt es eine spezielle Ausstellung mit dem Namen „Looking for Alice“, in der unter anderem Alice Liddells Kleidung und persönliche Habseligkeiten gezeigt werden. Surrey History Centre, Guildford Museum Kurz nach Carrolls Tod hatte sein Bruder Wilfred zugestimmt, dass viele gebündelte Papiersäcke aus den Räumen in Christ Church verbrannt wurden; andere Papiere verkauften die Dodgsons auf Auktionen. Im Jahr 1965 übergab die jüngere Familiengeneration viele ihrer noch vorhandenen Erinnerungsstücke an das Surrey History Centre und an das Guildford Museum. Das Surrey History Centre in Woking besitzt daher ein bedeutendes Archiv zu Carrolls Leben, bestehend aus Dokumenten, seine Kindheit betreffend, Briefe sowie Originalfotografien seiner Brüder, Schwestern und Tanten. Unter diesen Papieren sind Erinnerungen an 'child friends', eine Seite mit Anmerkungen zu den cut pages of the diary sowie der dazu passende Brief aus dem Jahr 1932, der sich auf die von Familienmitgliedern geäußerten Vermutungen zu den fehlenden Tagebuchseiten bezieht. Schenkungen aus anderen Quellen aus den 1950er bis zu den 1990er Jahren ergänzen die Sammlung. In Guildford, dem Familiensitz der Dodgsons nach dem Tod des Vaters, wird im Guildford Museum eine Ausstellung über viktorianische Kindheiten gezeigt. Sie enthält unter anderem Spielzeug von Carroll und seinen Geschwistern, so eine Kuh auf Rädern, ein Puppenhaus und eine Puppe aus Papier mit Kleidung, die von seinen Schwestern hergestellt worden war. Sonstiges Themen aus Carrolls Alice-Büchern sind unter anderem in Literatur, Film, Popmusik und Computerspielen aufgenommen worden. Im Jahr 2007 wurde die Oper Alice in Wonderland an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt. Eine Auflistung dieser Adaptionen findet sich unter dem Lemma Alice im Wunderland. Der Lewis Carroll Shelf Award wurde von 1958 bis 1979 an Bücher vergeben, denen die gleiche Qualität wie Carrolls Alice im Wunderland zugeschrieben wird. Beispiele sind im Jahr 1962 Inch by Inch von Leo Lionni, 1964 Maurice Sendaks Wo die wilden Kerle wohnen, 1970 Astrid Lindgrens Weihnachten im Stall und 1973 Schneewittchen und die sieben Zwerge von den Gebrüdern Grimm. In Alice im Wunderland wurde ein zusammengesetztes Wort mit einem Handkoffer verglichen – und der Begriff „Kofferwort“ entstand. Ein Synonym ist „Portmanteau-Wort“, das englische Wort für Handkoffer ist portmanteau, abgeleitet vom französischen portemanteau. In einem Koffer versammelt man unterschiedliche Gegenstände, in einem Kofferwort dementsprechend Teile von Wörtern – und fügt mit ihnen ihre Bedeutungen zusammen. Etwa 70 Jahre nach Lewis Carroll schuf James Joyce in seinem Spätwerk Finnegans Wake Tausende von Portmanteaus. In dem Titel seines Romans Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch übersteigerte Michael Ende 1989 ein Kofferwort. Die Cheshire Cat ist eine Katze, die in Alice im Wunderland auftritt; als sie verschwindet, bleibt trotzdem noch ihr Grinsen übrig. Danach wurde ein Konzept der theoretischen Elementarteilchenphysik benannt, das in Bag-Modellen verwendet wird und unter anderem von Holger Bech Nielsen stammt, es heißt „Cheshire Cat Principle“ (CCP). Snarks sind ein Begriff der Graphentheorie (die eine Rolle im Vierfarbenproblem spielen) und von Martin Gardner nach dem Gedicht von Carroll benannt. Die Figur der Roten Königin aus Alice hinter den Spiegeln ist Namensgeberin für die Red-Queen-Hypothese zur Evolution. Die Hypothese wurde 1973 von Leigh Van Valen aufgestellt. Sie besagt, dass eine Art in der Natur ständig leistungsfähiger werden muss, um ihre aktuelle Stellung aufrechtzuerhalten. In New York führt der „Library Way“ seit den späten 1990er Jahren auf der East 41st Street zwischen Fifth Avenue and Park Avenue zum Stephen A. Schwarzman Building, dem größten Gebäude der New York Public Library (NYPL). In die Pflasterung des Fußgängerwegs sind 96 rechteckige Bronzeplaketten eingebettet, die bedeutenden Schriftstellern gewidmet sind und Zitate aus ihren Werken zum Inhalt haben. Lewis Carroll ist mit einer Plakette und einem Zitat aus Through the Looking Glass: And What Alice Found There vertreten. In der fiktiven Biographie von William S. Baring-Gould über Sherlock Holmes wird erwähnt, dass Lewis Carroll der Dozent von Sherlock Holmes war und bei ihm seine besondere Kombinationsgabe erkannte. Werke (Auswahl) Alice’s Adventures in Wonderland. (1865). dt. Alice im Wunderland. In: Die Alice-Romane. Reclam, Stuttgart 1999, ISBN 3-15-059746-3. Phantasmagoria and Other Poems. (1869) dt. Phantasmagorie. Through the Looking-Glass, and What Alice Found There. (1871). dt. Alice im Spiegelland. Deutsch von Helene Scheu-Riesz, Ausstattung von Uriel Birnbaum, Wien/Leipzig/New York, Sesam-Verlag 1923 dt. Alice hinter den Spiegeln. In: Die Alice-Romane. Reclam, Stuttgart 1999, ISBN 3-15-059746-3. The Hunting of the Snark. (1876) dt. Die Jagd nach dem Schnatz. Eine Agonie in acht Krämpfen. (Englisch–Deutsch). Reclam, Ditzingen 1996, ISBN 3-15-009433-X (in anderen Ausgaben auch Die Jagd nach dem Schnark oder Die Jagd nach dem Schnai) Sylvie and Bruno. (1889). Sylvie and Bruno Concluded. (1893). dt. Sylvie und Bruno. dtv, München 2006, ISBN 3-423-13289-2. Rhyme? And Reason? (1898) The Diaries of Lewis Carroll. New first edited and supplemented by Roger Lancelyn Green. Zwei Bände, London 1953, Westport, 1971. The Letters of Lewis Carroll. Edited by Morton N. Cohen. Zwei Bände. New York 1979. Das literarische Gesamtwerk. Hrsg. von Jürgen Häusser und Heinz-Juergen Häusser, neu übersetzt von Dieter H. Stündel. Darmstadt. 1. Band: Sylvie und Bruno. Die Geschichte einer Liebe. 1994, ISBN 3-89552-000-4. 2. Band: Misch und Masch. Erzählungen und Gedichte. 1996, ISBN 3-89552-014-4. Photographien/Photographs. Edition Stemmle, Schaffhausen 1991, ISBN 3-7231-0407-X. (deutsch/englisch) Briefe an kleine Mädchen. Herausgegeben und übersetzt von Klaus Reichert. Mit zahlreichen Fotografien des Autors. Insel Verlag, Frankfurt am Main/ Leipzig. (Erweiterte Neuausgabe: 1. Auflage. 1994, ISBN 3-458-33254-5; Komet, Leipzig 1994, ISBN 3-89836-300-7) Tagebuch einer Reise nach Russland im Jahre 1867. Herausgegeben von Felix Philipp Ingold. Insel, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-458-34289-3. Illustrationen von Max Ernst für Werke Lewis Carrolls: La chasse au snark (1950, 8 Illustrationen), Logique sans peine (1966), beide Paris. The Hunting of the Snark (Die Jagd nach dem Snark) (Stuttgart 1968, 32 Farblithographien) und Lewis Carrolls Wunderhorn (Stuttgart 1970, eine Anthologie, ausgewählt von Max Ernst und Werner Spies mit 36 Farblithographien) Mathematische Werke The Fifth Book of Euclid treated algebraically. (1858 und 1868) A Syllabus of Plane Algebraical Geometry. Oxford 1860. An Elementary Treatise on Determinants. Macmillan 1867. Euclid and his Modern Rivals. 1879, 2. Auflage. Macmillan 1885, Reprint Dover 1973, 2004 Herausgeber Euclid. Books I, II. London, MacMillan 1882. The Game of Logic. Macmillan 1886 (Neuausgabe The Mathematical Recreations of Lewis Carroll: Symbolic Logic and The Game of Logic, Dover 1958) dt. Das Spiel der Logik. herausgegeben von Paul Good, Frommann Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, ISBN 3-7728-1998-2. What the Tortoise Said to Achilles. In: Mind. 4, 1895, S. 278–280. A Tangled Tale. (1885). dt. Geschichten mit Knoten. Insel, Frankfurt 1995, ISBN 3-458-32002-4. Curiosa Mathematica. Band 1: A new theory of parallels. London, Macmillan 1890. Curiosa Mathematica. Band 2: Pillow Problems. 1893 (Neuausgabe The Mathematical recreations of Lewis Carroll: Pillow problems and A tangled tale. Dover 1958) Francine Abeles (Hrsg.): The mathematical pamphlets of Charles Dodgson and related pieces. Lewis Carroll Society of North America, New York 1994. William Warren Bartley (Hrsg.): Lewis Carroll´s Symbolic Logic. Potter, New York 1977, 1986 (Band 1 von 1896 und der unveröffentlichte zweite Teil) Werke im Web The Complete Works (PDF 38,19 MB) Reprint in der Arno-Schmidt-Referenzbibliothek der GASL (Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser) Alice’s Adventures in Wonderland. (PDF 11,33 MB) Farbige Ausgabe in der Arno-Schmidt-Referenzbibliothek der GASL Alice’s Abenteuer im Wunderland. Aus dem Englischen von Antonie Zimmermann. (PDF 2,84 MB) Farbige Ausgabe in der Arno-Schmidt-Referenzbibliothek der GASL Stuart Dodgson Collingwood: The Life and Letters of Lewis Carroll beim Project Gutenberg – Die erste Biografie 1899 Ausstellungen (Auswahl) 1977: documenta 6, Kassel 2003: Lewis Carroll Museum of Fine Arts, Houston 2003: Art Institute Chicago 2003: „Dreaming in Pictures“: Lewis Carroll International Center of Photography, New York 2003: Lewis Carroll, Art Institute Chicago 2005/2006: „nützlich – süß – museal. Das fotografierte Tier“, Museum Folkwang, Essen 2011/2012: Alice in Wonderland, Tate Liverpool, anschließend unter dem Titel Alice im Wunderland der Kunst, Hamburger Kunsthalle Sekundärliteratur Morton N. Cohen: Lewis Carroll. A Biography. Reprint, Vintage Books, New York 1996, ISBN 0-679-74562-9. Stuart Dodgson Collingwood: The Life and Letters of Lewis Carroll. T. Fisher Unwin, London 1899. Robert Douglas-Fairhurst: The story of Alice : Lewis Carroll and the Secret History of Wonderland. London: Vintage, 2015, ISBN 978-1-84655-862-7. Martin Gardner: Lewis Carroll – Alles über Alice. Europa Verlag, Hamburg / Wien 2002, ISBN 3-203-75950-0 (Originaltitel Annotated Alice. Kommentierte Ausgabe mit den Illustrationen John Tenniels), Albert Schindehütte: Album für Alice. Eine Huldigung an Lewis Carroll. Hoffmann und Campe, Hamburg 1993, ISBN 3-455-06499-X. Phyllis Greenacre: Swift and Carroll. A Psychoanalytic Study of Two Lives. New York 1955. Thomas Kleinspehn: Lewis Carroll. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1997, ISBN 3-499-50478-2. Karoline Leach: In the Shadow of the Dreamchild. Peter Owen Publishers. London 1999, ISBN 0-7206-1044-3. Robert Taylor, Edward Wakeling: Lewis Carroll, Photographer. Princeton University Press, 2002, ISBN 0-691-07443-7. Jenny Woolf: The mystery of Lewis Carroll: Understanding the Author of Alice’s adventures in Wonderland. Haus Books, London 2010, ISBN 978-1-906598-68-6. Edward Wakeling: Lewis Carroll : The Man and his Circle. London; New York, NY: Tauris, 2015, ISBN 978-1-78076-820-5. Mathematisches The Mathematical Recreations of Lewis Carroll: Pillow Problems and a Tangled Tale. Dover Publications, 1958, Neuauflage, ISBN 0-486-20493-6. Robin Wilson: Lewis Carroll in Numberland. His Fantastical Mathematical Logical Life. Allan Lane, London 2008, ISBN 978-0-7139-9757-6. Amirouche Moktefi, Artikel Lewis Carroll in Dictionary of Scientific Biography, 2008, Online Belletristik Katie Roiphe: Rätselhafte Alice. Die Geschichte von Lewis Carroll und der kleinen Alice, aus dem Amerikanischen übersetzt von Friedhelm Rathjen; Originaltitel: Still She Haunts Me. Europa, Hamburg, Wien 2002, ISBN 3-203-81561-3. Guillermo Martínez: Der Fall Alice im Wunderland. Kriminalroman, aus dem Spanischen übersetzt von Angelica Ammar. Originaltitel: Los crímenes de Alicia. Eichborn, Köln 2020, ISBN 978-3-8479-0046-7. Weblinks Lewis Carroll bei Google Arts & Culture Webseite der Lewis Carroll Society of North America mit Biografie, Texten und Fotoauswahl Biografie im Victorianweb Peter Sager: Alice im Marketingland. In: Die Zeit, Nr. 23/1998 (anlässlich des 100. Todestags) Diplomarbeit über Lewis Carroll 2008 (PDF; 4,29 MB) Informationen über Lewis Carroll auf KinderundJugendmedien.de Einzelnachweise Sachbuchautor Fotograf (Vereinigtes Königreich) Fotopionier Mathematiker (19. Jahrhundert) Fachdidaktiker (Mathematik) Logiker Literatur (19. Jahrhundert) Literatur (Englisch) Literatur (Vereinigtes Königreich) Phantastische Literatur Kinder- und Jugendliteratur Alice (Lewis Carroll) Roman, Epik Kurzgeschichte Erzählung Essay Künstler (documenta) Person als Namensgeber für einen Asteroiden Pseudonym Brite Engländer Geboren 1832 Gestorben 1898 Mann
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Champagner
Der Champagner () ist ein Schaumwein, der aus Trauben hergestellt wird, die nach streng festgelegten Regeln in dem Weinbaugebiet Champagne (frz. ) in Frankreich gelesen werden. Er gilt in vielen Teilen der Welt als das festlichste aller Getränke. Die im Wein gelöste Kohlensäure (→ Kohlendioxid) entsteht bei einer zweiten Gärung in der Flasche (méthode traditionnelle oder méthode champenoise). Champagner genießt den Status einer Appellation d’Origine Protegée, auch wenn dies nicht auf dem Etikett vermerkt wird. Abgrenzung zu Sekt Die französische Bezeichnung „Champagne“ ist seit dem 29. Juni 1936 in Frankreich als Appellation d’Origine Contrôlée durch die INAO geschützt. Andere Schaumweine müssen nach deutschem Lebensmittelrecht, je nach Herstellung und Herkunftsland, als Sekt bezeichnet werden. Durch Flaschengärung hergestellte Schaumweine heißen in Frankreich und in Luxemburg Vin Mousseux oder Crémant, in Spanien Cava, in Italien Spumante Metodo Classico, in Deutschland Winzersekt und in Österreich Hauersekt, sofern die Grundweine aus einem einzigen Winzerbetrieb stammen und von diesem selbst oder in einer Erzeugergemeinschaft hergestellt worden sind. In der früheren Sowjetunion wurde jeder Schaumwein als „Schampanskoje“ bezeichnet. Obwohl schon seit vielen Jahren russischer oder ukrainischer Schaumwein als „Igristoje“ (igristoje wino = „Schaumwein“) gehandelt wird, ist das ursprüngliche Wort immer noch weit verbreitet. Champagner unterliegt Herstellungsvorschriften, deren Einhaltung durch unabhängige Stellen kontrolliert wird. Hierzu zählen: Herstellung von Champagner Anbaugebiet Das Gebiet, in dem Trauben für den Champagner angebaut werden dürfen, wurde am 22. Juli 1927 festgelegt. Es umfasst rd. 33.500 Hektar Fläche, die inzwischen fast vollständig bestockt ist. Eine Ausweitung wurde inzwischen beschlossen. Aufgrund seiner Ausdehnung von rund 150 km ist das Gebiet nicht homogen. Im sogenannten Terroir sind nicht nur die Mikroklimate, sondern auch die Bodentypen unterschiedlich. Es wird daher in verschiedene Weinbauregionen eingeteilt, deren wichtigste Montagne de Reims, Vallée de la Marne, Côte des Blancs und Côte des Bar sind. Details siehe unter Champagne (Weinbaugebiet). Rebsorten Für Champagner werden nahezu ausschließlich drei Rebsorten verwendet: Die roten Rebsorten Pinot Noir (Spätburgunder) und Pinot Meunier (Müllerrebe oder Schwarzriesling) sowie die weiße Rebsorte Chardonnay. Zugelassen, aber seit der Reblauskrise fast verschwunden, sind die Sorten Arbane, Petit Meslier sowie Pinot Gris Vrai (Grauburgunder) und Pinot Blanc (Weißburgunder), der sich besonders in Celles-sur-Ource (Aube) hält. Neu zugelassen wurde Ende 2022 die pilzwiderstandsfähige Sorte Voltis. Die Mischung der Sorten bestimmt den Charakter des jeweiligen Champagners. In einem Teil der Champagne, der Côte des Blancs, werden vorzugsweise sortenreine Chardonnay-Cuvées hergestellt, die Blanc de Blancs. Pinot Noir macht 38,4 % der Rebfläche der Champagne aus, Pinot Meunier 33,3 % und Chardonnay 28,3 %. Pinot Noir gibt dem Wein die Fülle, Chardonnay die Finesse, Pinot Meunier die Fruchtigkeit. Auch der Begriff Blanc de Noirs für weißen Wein aus dunklen Trauben wurde ursprünglich in der Champagne geprägt. Blanc-de-Noirs-Champagner sind selten zu finden (z. B. von Bollinger, Bruno Paillard oder etwa Mailly) und stammen meist aus Gegenden um Aÿ, Bouzy, Mailly, Hautvillers und Verzenay. Anbau, Lese und Pressung Für Anbau der Trauben und Herstellung von Champagner gelten strenge Qualitätsmaßstäbe. Die Pflanzdichte ist mit 7.000 bis 8.000 Rebstöcken je Hektar wesentlich dichter als in den meisten anderen Weinbaugebieten. Der Höchstertrag ist in jedem Falle auf 15.500 kg Trauben je Hektar begrenzt. In schwierigen Jahren kann er deutlich darunter festgesetzt werden. Die Lese muss von Hand erfolgen, damit die Trauben unversehrt bleiben. Gelesen wird in die Mannequins, das sind Körbe oder Kleinbehälter, die im Gegensatz zu den deutschen Traubenbütten nicht für die Rückhaltung von Saft gebaut sind. Die Trauben der roten Grundweinsorten Pinot Noir und Pinot Meunier werden schnell abgepresst, damit möglichst wenig rote Farbstoffe in den Grundwein gelangen. Eine Maischegärung zur Gewinnung von Rosé-Champagnern ist die Ausnahme. In der Regel wird in diesem Falle dem weißen Grundwein 10–20 % roter zugesetzt. Seit 1983 müssen 160 kg Traubengut für die Gewinnung von 102 Liter Most verwendet werden; bis dahin waren es nur 150 kg. Aber nur die auch Cuvée genannten ersten 82 Liter sind qualitativ wirklich hochwertig. Der Rest, der noch zweimal gepresst und als Première und Deuxième Taille bezeichnet wird, ist weniger gut, da durch das Pressen mehr Bitterstoffe in den Most gelangen. Beste Champagner werden daher nur aus der Cuvée hergestellt, während die Tailles bei den Standardqualitäten mitverwendet werden. Aufgrund der Verluste beim Weinausbau sowie beim Dégorgieren erhält man insgesamt zirka 100 L Champagner, also 133 Flaschen à 0,75 L. Assemblage (Zusammenstellung) Zunächst wird aus dem Most durch alkoholische Gärung der Grundwein hergestellt. Ein Teil der Erzeuger lässt anschließend eine malolaktische Gärung, also einen biologischen Säureabbau zu. Ist dieser Prozess abgeschlossen, kann der Grundwein für die Flaschengärung zusammengestellt werden. Etwa 80 % aller Champagner werden aus Grundweinen verschiedener Jahrgänge zu einer Assemblage verschnitten und kommen ohne Jahrgangsangabe auf den Markt (BSA = brut sans année). Diese Assemblage ist ein wichtiger Teil der Champagnerherstellung. Bis zu hundert verschiedene Weine können für einen Champagner vereinigt werden. Der Grundwein eines typischen jahrgangslosen Champagners besteht zu rund 70 % aus dem aktuellen Jahrgang. Der Rest sind ältere Jahrgänge, die sogenannten Reserveweine. Mithilfe der Reserveweine ist es den Champagnerhäusern möglich, jedes Jahr einen gleichwertigen und beinahe gleich schmeckenden Champagner zu erzeugen. Heute gibt es etwa 20.000 Champagner-Produkte. Flaschengärung Um die zweite Gärung zu ermöglichen, müssen dem Wein Rohr- oder Rübenzucker und etwas Hefe, Liqueur de tirage genannt, zugegeben werden. Die Flaschen werden dann meist mit einem Kronkorken verschlossen, der innen eine Plastikkapsel (Bidule) trägt, die zum Auffangen des Depots, also des Bodensatzes, der sich bei längerer Lagerung in der Flasche bildet, dient. Die Zweitgärung findet üblicherweise zwischen März und Mai des auf die Lese folgenden Jahres statt und dauert ungefähr drei Wochen. Der Alkoholgehalt des Champagners steigt dann um rund 1,2 Volumenprozent gegenüber dem Grundwein. Nur in der Champagne darf dieses Verfahren „méthode champenoise“ genannt werden. Der Champagner verbessert sich nach abgeschlossener Gärung auf der Hefe und kann über viele Jahre gelagert werden. Die abgestorbene Hefe vollzieht einen enzymatischen Zersetzungsprozess (Autolyse), der dem Champagner seine Aromen verleiht. Ferner sorgt die Autolyse für eine feine Lösung der Kohlensäure im Wein, die später im Glas für die feine, lang anhaltende Perlage sorgt. Vorgeschrieben sind mindestens 15 Monate Reifezeit sur lattes („auf Latten“) für jahrgangslose und drei Jahre für Jahrgangs-Champagner. Rütteln Vor dem Versand muss die Hefe aus der Flasche entfernt werden. Dazu werden die Flaschen zunächst gewaschen und die abgelagerte Hefe von der Flaschenwand entfernt. Die vorbereiteten Flaschen werden in pupitres de remuage (Rüttelpulte) aufgesteckt, oder in Gyropaletten gelegt. Am ersten Tag liegen die Flaschen fast waagerecht, leicht zum Kronkorken hin geneigt. Über einen Zeitraum von 21 Tagen werden die Flaschen dann gerüttelt. Dabei werden sie in den ersten zwei Wochen im gleichen Winkel belassen, aber täglich um eine zehntel Umdrehung gedreht. Ein erfahrener Rüttler, der „remueur“, schafft täglich etwa 40.000 bis 50.000 Flaschen. In der letzten Woche werden sie dann Tag für Tag immer weiter auf den Kopf gestellt. Handgerüttelt wird heute nur noch selten, bei Moët & Chandon zum Beispiel nur 9 Millionen von jährlich insgesamt etwa 35 Millionen Flaschen. Vielmehr übernehmen meistens Roboter das maschinengesteuerte Rütteln. Mehrere Dutzend Flaschen werden dafür auf Kopfstoß in große würfelförmige Drahtkäfige (gyropalettes) sortiert, die elektrisch angetrieben und elektronisch gesteuert werden. Der Vorgang wird als remuage mécanique bezeichnet. Die Ergebnisse sind bei Handarbeit und mechanischer Rüttelung gleichwertig. Wenn die Flaschen senkrecht stehen, hat sich die Hefe im Flaschenhals gesammelt. Degorgieren (Abschlämmen) Um die abgesetzte Hefe aus der Flasche zu bekommen, wird der Flaschenhals heutzutage durch eine Kühlsole (Eisbad) geführt, so dass die Hefe als Pfropfen gefriert. Dann wird der Kronkorken geöffnet und der Eispfropfen schießt durch den Überdruck aus der Flasche. Früher wurde der abgesetzte Hefepfropfen ohne Einfrieren aus der Flasche entfernt (dégorgement à la volée = Degorgieren im Flug). Diese Methode wird heute kaum noch angewandt, da sie besonders ausgebildetes Personal erfordert und größere Verluste verursacht als die moderne Methode. Ein Umfüllen in andere Flaschengrößen darf nur für Flaschengrößen unterhalb der Halben (also bis 0,375 L), und oberhalb der Jeroboam oder Doppelmagnum (also ab 3,0 L) angewendet werden. Ebenfalls ist, mit Ausnahme von Jahrgangschampagner, nach der zweiten Gärung ein Umfüllen in halbe Flaschen (also von 0,375 L) erlaubt, und zwar jährlich für bis zu 20 % der im vorherigen Kalenderjahr produzierten Menge an halben Flaschen. Dosage Bevor die Flaschen mit einem Champagner-Korken endgültig verschlossen werden, muss der Flüssigkeitsverlust durch Auffüllen ausgeglichen werden. Hierbei wird die Versanddosage zugeführt. Diese Dosage ist ein Geheimnis der Champagnerhersteller. Sie gibt dem Champagner eine prägende Note und bestimmt vor allem die Geschmacksrichtung von extrem trocken bis hin zu süß. Die Dosage kann z. B. aus Süßweinen oder auch aus Süßreserve des Champagnergrundweins bestehen. In der Regel wird auch Zuckerlösung zugesetzt. Bei einigen Häusern ist es bis heute üblich, einen Esprit de Cognac zu verwenden, dadurch wird vor allem bei sehr süßen Champagnern der sonst eintretende Alkoholverlust ausgeglichen. Zur Dosage süßer Champagner muss Flüssigkeit aus der Flasche entfernt werden. In den Geschmacksrichtungen sind folgende Abstufungen üblich: Ultra Brut, Brut Nature oder Brut integral, non dosé oder zero dosage: keine Dosage, 0 bis 3 g/L Restzucker Extra Brut: Dosage mit 0 bis 6 g/L Restzucker Brut: Dosage mit 0 bis 12 g/L Restzucker Extra Sec oder Extra Dry: Dosage mit 12 bis 17 g/L Restzucker Sec: Dosage mit 17 bis 32 g/L Restzucker Demi Sec: Dosage mit 32 bis 50 g/L Restzucker Doux: Dosage mit mehr als 50 g/L Restzucker (selten bei Champagnern) Außer Champagner werden auch viele internationale Schaumweine nach dieser Methode hergestellt. Champagner in der Flasche Für Schaumweine wie Champagner muss die Flasche besondere Bedingungen erfüllen, da sie dem bei der zweiten Gärung entstehenden Druck standhalten muss. Praktisch alle Champagnerflaschen haben im Boden eine konische Vertiefung, die die Druckbeständigkeit der Flasche verbessert. Die einzige Ausnahme mit flachem Boden ist die klare Flasche von Roederer Cristal, deren Boden dafür besonders dick ist. Champagnerflaschen lassen sich mit einem Champagnersäbel öffnen, dieser Vorgang wird auch als Sabrieren bezeichnet. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts sind Sektflaschenöffner erhältlich. Flaschengrößen Champagner wird in verschiedenen Flaschengrößen angeboten. Die Standardgröße ist die 0,75 l oder 1/1-Flasche. Für die anderen Flaschengrößen haben sich eigene Bezeichnungen etabliert, zumeist biblische Namen. Piccolo ist die Bezeichnung für Sektflaschen mit 0,2 Liter. Diese Flaschengröße war bereits um 1900 verbreitet und diente vor allem zur Vermarktung der über Apotheken und Spitäler vermarkteten Medicinal-Sects. Seit 1935 ist die Wort-Bild-Marke Piccolo rsp. Pikkolo von den Firmen Kessler Sekt und Henkell & Co. Sektkellerei KG als Warenzeichen geschützt. Die Herstellung von Flaschen jenseits der Jeroboam ist aufwändig und daher teuer. Dementsprechend sind Champagner in solchen Flaschengrößen nur selten erhältlich. Eine Primat-Flasche – und seit 2002 auch die Melchisedech-Flasche – wird nur vom Hause Drappier angeboten; der vom Haus Cattier hergestellte Champagner Armand de Brignac wird seit 2011 ebenfalls in einer 30 Liter fassenden Flasche angeboten, die den Namen Midas trägt und nur auf Anfrage hergestellt wird; das Haus Taittinger ließ 1987 einmalig acht Sovereign-Flaschen mit je 26,25 Liter Fassungsvermögen herstellen und eine davon abfüllen. Diese wurde exklusiv zur Schiffstaufe der MS Sovereign verwendet. Die Flaschengröße hat einen klaren Einfluss auf die geschmackliche Qualität des Inhaltes. Die gleiche Cuvée schmeckt aus der Magnumflasche in der Regel deutlich harmonischer als aus der -Flasche und reift auch besser. Noch größere Formate bieten hingegen keinen Vorteil mehr, da sie nicht unbedingt in derselben Flasche vergoren wurden. Champagnerkorken Der Korken einer Champagnerflasche hat, wie bei allen Korken, ursprünglich eine längliche zylindrische Form. Die bekannte Pilzform mit konischem Fuß entsteht erst später. Der Korken wird stark komprimiert und nur zu etwa zwei Drittel seiner Länge in den Flaschenhals eingebracht und mit einer Muselet (Drahtgeflecht) oder Agraffe (Metallbügel) am Flaschenhals gesichert. Der Korken passt sich dem Flaschenhals an und verliert während der Lagerung seine Elastizität. Nur der untere Teil des Korkens, der mit der Flüssigkeit in Berührung kommt, behält noch länger seine ursprüngliche Elastizität. Daher weitet sich der untere Teil des Korkens nach dem Öffnen der Flasche bis auf seinen ursprünglichen Durchmesser, während das obere Fußstück aufgrund seiner Sprödigkeit den Durchmesser des Flaschenhalses behält. Die Rückstellkraft dieses Pilzes wird umso kleiner, je länger der Korken in der Flasche war. Aus Kostengründen ist der Champagnerkorken zweigeteilt. Während der obere Teil des Korkens (der Kopf) aus Presskorken besteht, werden unten zwei Scheiben aus Naturkorken angeklebt. Dieser Teil steht in unmittelbarem Kontakt zum Schaumwein. Nach dem Verkleben wird der Korken geschliffen. Nach einer Qualitätsselektion wird die Oberfläche häufig mit Paraffin versiegelt. Diese Versiegelung erhöht die Dichtheit des Korkens und erleichtert den Vorgang des Verkorkens. Damit der Korken trotz des hohen Drucks in der Flasche bleibt, wird er durch Muselet (Drahtgeflecht) oder eine Agraffe (Metallbügel) und einen Champagnerdeckel gehalten. Bei den größeren Flaschenformaten bestehen die Korken vollständig aus Naturkork, jedoch gibt es auch hier verschieden miteinander verklebte Schichten von unterschiedlicher Korkqualität. Meist sind unten zwei bis drei Scheiben von guter Qualität, worauf ein großes Stück von geringerer Qualität folgt, das den Hauptteil des Korkens ausmacht. Oft wird dann oben auf den Korken noch eine Scheibe von guter Qualität aufgesetzt, auf die auch der Name des Champagners aufgedruckt wird. Durch Verwendung von Naturkork als Flaschenverschluss kann es auch bei hochwertigem Champagner zu geschmacklichen Fehltönen (umgangssprachlich: „Korkton“) kommen. Haltbarkeit von Champagner Wer am Champagner vor allem die Frische schätzt, wird ihn nach dem Degorgieren möglichst schnell öffnen. Champagner entwickelt sich in der Flasche aber auch nach dem Degorgieren weiter. Der Kohlensäuredruck nimmt zwar langsam ab, der Geschmack wird jedoch harmonischer und die Aromen intensiver. Einfache Champagner ohne Jahrgang erreichen ihren Höhepunkt in der Regel innerhalb von zwei Jahren. Gute Jahrgangs-Champagner können dagegen zehn Jahre und länger ausbauen. Hier gilt die Regel, dass sich ein Champagner in der Flasche umso langsamer negativ entwickelt, je länger er zuvor auf der Hefe gelegen hat. Um dem Verbraucher eine bessere Kontrolle zu geben, sind einige Erzeuger (vor allem unabhängige Winzer) dazu übergegangen, den Degorgierungszeitpunkt auf der Flasche zu vermerken. Ansonsten lässt lediglich die Form des Korkens nach dem Öffnen gewisse Schlüsse über die seit dem Degorgieren verstrichene Zeit zu. Wie andere Schaumweine auch reagiert Champagner besonders empfindlich auf Lichteinfluss, vor allem auf Leuchtstofflampen. Er entwickelt einen sogenannten „Lichtgeschmack“, der auf der Freisetzung von Schwefelverbindungen, insbesondere Schwefelwasserstoff, beruht. Die Strahlungsenergie wird dabei vermutlich von dem im Champagner enthaltenen Riboflavin absorbiert, das dann die Abbauprozesse in Gang setzt. Bei organoleptischen Untersuchungen an Flaschen, die zwei Wochen lang in unterschiedlicher Entfernung von Leuchtstofflampen gelagert wurden, konnten Önologen die Unterschiede eindeutig feststellen. Eine offene Champagnerflasche sollte so bald wie möglich getrunken werden. Mit einem speziellen Druckverschluss ist eine halbvolle Flasche gekühlt ca. 24 Stunden ohne große Qualitätseinbußen haltbar. Geschichte Die Römer bauten als erste Weinreben in der Champagne an. Der Wein, den sie daraus herstellten, war still. Aufgrund seiner Nähe zu Paris und der Aktivitäten der Klöster in Reims und Châlons-en-Champagne blieb der Weinbau erhalten, ohne wirklich große Popularität zu erreichen. 1114 stellte der Bischof von Châlons-en-Champagne Wilhelm von Champeaux dem Abt des Benediktinerklosters Saint-Pierre-aux-Monts in Châlons eine Eigentumsurkunde über den gesamten Klostergrundbesitz aus („grande charte champenoise“), wozu auch Rebland des heutigen Anbaugebiets gehörte, u. a. Hautvillers, Cumières, Aÿ und Oger. Diese Urkunde gilt als Gründungsakte des Weinbaugebietes Champagne. Während der Herrschaft Heinrichs IV. setzte sich in der Hauptstadt Paris der Name Vin de Champagne durch, nachdem er vorher in der anonymen Masse der Weine aus der Region rund um Paris untergegangen war. Die Bezeichnung wurde im Herkunftsgebiet anfangs nicht gern gesehen, da der Begriff Champagne (von lateinisch campania = Feld, offene Landschaft) einen unfruchtbaren Boden bezeichnet, der nur noch als Weidegrund für Schafe dient. Ungeachtet dessen gewann der Wein in der Folgezeit immer mehr Freunde an den Königshöfen Frankreichs und Englands. Erst 1670 wurden die Weichen für den jetzt bekannten Champagner gestellt: Aus dem ursprünglich stillen Weißwein wurde ein Schaumwein. Im 17. Jahrhundert hatte man begonnen, den Wein schon im Anbaugebiet in Flaschen zu füllen, um seine Frische zu erhalten, da der Wein den Transport im Fass nicht gut überstand. Aufgrund des frühen Abfüllens gärte der Wein unbeabsichtigt in den Flaschen weiter. Hätten die Engländer diesen sprudelnden Wein nicht sehr gemocht, wäre die Flaschenabfüllung vermutlich wieder abgeschafft worden. Die Winzer jedenfalls waren von den herausspringenden Korken nicht begeistert, weil dies nennenswerte Verluste verursachte. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein waren Einkellerung und Vertrieb von Champagner gefahren- und verlustträchtig. Infolge unterschiedlicher Glasqualitäten und je nach Mischung unterschiedlich ablaufender Gärungsprozesse in den Flaschen explodierte ein Teil schon im Keller oder während des Transportes durch den Kohlensäureüberdruck. Die Kellermeister trugen zur Arbeitssicherheit Eisenmasken, welche sie wie mittelalterliche Folterschergen aussehen ließen. Daher war die Bezeichnung Wein des Teufels naheliegend. Erst die Entwicklung der kontrollierten Flaschengärung machte es möglich, diesen Prozess zu beherrschen. Bereits am 17. Dezember 1662 erwähnte der englische Arzt und Gelehrte Christopher Merret in einem bei der Royal Society eingereichten Aufsatz mit dem Titel Some Observations Concerning the Ordering of Wines den gezielten Zuckerzusatz, welcher zum Ziel hatte, den Weinen Frische und Perlage zu verleihen. Wesentlich weiterentwickelt wurde die Methode vom Benediktinermönch Dom Pérignon (1638–1715), damals Cellarius der Benediktinerabtei Hautvillers. Auf ihn geht auch die Kunst des Verschnitts und des Weißkelterns roter Traubensorten zurück. Er verschloss seine Flaschen mit einem Korken, der mit Kordeln am Flaschenhals gesichert wurde. Er arbeitete damals mit dem Kellermeister Frère Jean Oudart in Saint-Pierre-aux-Monts zusammen, der als Erster eine Fülldosage eingesetzt haben soll. Die Qualität des entstehenden Weines unterlag jedoch immer noch dem Zufall. Erst durch die Untersuchungen von Louis Pasteur verstand man schließlich die Grundlagen der Gärung. 1728 wurde der Transport des Weins in Flaschen offiziell erlaubt, ein Jahr später gründete Nicolas Ruinart das älteste heute noch bestehende Champagnerhaus. Für die Familie Gosset ist zwar bereits 1584 der Handel mit Wein belegt, die Kontinuität aber nicht gesichert. Durch die Handelshäuser (z. B.: Heidsieck, Moët, Perrier-Jouët und Bollinger) kam es zu einer internationalen Vermarktung. Der Wein gewann damit den Ruf, den er heute hat. Im Gegensatz zu vielen anderen Berufszweigen haben Frauen in der Entwicklung des Champagner eine wichtige Rolle gespielt. Bekannt sind heute noch die Namen der Damen Pommery, Perrier und Clicquot. Im Rückblick, notiert von Arno Widmann: 25. Mai 1728: Champagner: Ein königlicher Erlass Ludwigs XV. gestattet den Franzosen, Wein nicht mehr nur in Fässern, sondern auch in Flaschen zu transportieren. Dieser Erlass ist der Startschuss für einen der größten, jetzt fast dreihundert Jahre anhaltenden Exporterfolge Frankreichs. Den Winzern waren die Flaschen zunächst nicht so lieb, aber da der Wein in ihnen weitergärte und die Kundschaft – zunächst vor allem die Engländer – so begeistert von dem sprudelnden Getränk waren, war der Champagner von dem Moment an, da man lernte, die Flaschen sicher zu verschließen, ein Bombengeschäft. Das heute noch existierende Haus Ruinart wurde gleich nach dem Erlass im Jahre 1729 gegründet. Der Gründer, ein Tuchhändler, witterte eine europaweite Chance für den französischen Schaumwein. Bis ins 19. Jahrhundert war Champagner trübe, weil die Hefe der zweiten Gärung in der Flasche verblieb. Dann erfand 1806 Madame Clicquot („Veuve Clicquot“, heute eine Marke des Konzerns Moët Hennessy Louis Vuitton [LVMH]) zusammen mit ihrem deutschstämmigen Kellermeister Antoine Müller und mit Alfred Werlé das Rütteln und Degorgieren. Das erste Rüttelpult soll ein Küchentisch gewesen sein. 1813 wurde diese Technik in André Julliens Manuel du Sommelier erstmals erwähnt. 1884 erfand Raymond Abelé die mit einem Eisbad arbeitende Degorgiermaschine. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich der Champagner zu einem weltweit verbreiteten Luxusgetränk. 1804 brachte Veuve Clicquot den ersten Rosé-Champagner heraus. Um 1870 wurden die ersten Jahrgangschampagner abgefüllt. Zur Markenbildung trugen die Flaschenetiketten bei, die ab 1830 aufkamen. 1882 wurden 36 Millionen Flaschen erzeugt, von denen drei Viertel exportiert wurden. Nach Großbritannien waren die USA der größte Markt. Dem Aufschwung des 19. Jahrhunderts bereitete jedoch die Reblausinvasion ein Ende. Die Champagne wurde erst relativ spät, um 1895, von ihr erfasst. In der Folge wurden zahlreiche Weinberge aufgelassen. Auch der Rebsortenspiegel veränderte sich zugunsten der heute vorherrschenden Sorten Pinot Noir, Pinot Meunier und Chardonnay. 1908 wurde der Gebrauch des Namens Champagne per Gesetz auf Weine aus den Départements Marne und Aisne beschränkt. Nach heftigen Protesten erhielten die Winzer des Départements Aube im Jahr 1911 ihre Rechte zurück, was wiederum in der Marne zu Unruhen führte. Als Kompromiss wurde schließlich die Bezeichnung Champagne auf die Marne beschränkt, während die übrigen Gebiete bis 1927 als Champagne Deuxième Zone klassifiziert wurden. Ferner wurden 1911 alle Gemeinden auf einer Prozent-Skala (échelle des crus) eingestuft, auf deren Grundlage fortan die Traubenpreise ermittelt wurden. Kurios ist die Tatsache, dass außerhalb der Champagne auch in der Hauptstadt Luxemburgs echter Champagner hergestellt wurde. „Es ist wohl kein Zufall, daß es gerade zu Beginn der legendären Belle Epoque war, als die Compagnie des Grands Vins de Champagne E. Mercier & Cie 1885 beschloß, einen Teil ihrer Champagnerproduktion nach Luxemburg zu verlagern. Dies aus der marktwirtschaftlichen Überlegung heraus, ihrer internationalen Kundschaft im Absatzgebiet des Deutschen Zollvereins jenen Preisvorteil zu verschaffen, der sich aus dem erheblichen Unterschied zwischen den Zollsätzen von Champagner in Fässern und jenen in Flaschen ergab.“ Wohl in Erinnerung an die luxemburgische Champagnerproduktion ist die Luxemburger Mosel das einzige Weingebiet außerhalb Frankreichs, das die Appellation „Crémant“ für Qualitätssekt mit Flaschengärung benutzen darf. Im Jahr 1902 kam es aufgrund des heimlichen Austausches einer deutschen Schaumweinflasche gegen eine Champagnerflasche bei einer Schiffstaufe in New York zum sogenannten Champagnerkrieg, bei dem deutsche und französische Emotionen in einem Millionenprozess gipfelten. Unter dem Ersten Weltkrieg litt die Champagne besonders stark, da sie häufig Schauplatz von Kampfhandlungen war. Dem Champagner brachen zudem mit der Russischen Revolution und der Prohibition in Amerika wichtige Exportmärkte weg. Dem besiegten Deutschland wurde im Friedensvertrag von Versailles der Schutz der Herkunftsbezeichnung Champagner auferlegt (Champagnerparagraph). Von der zugelassenen Rebfläche waren 1927 gerade 9.000 Hektar bestockt. Die Not zwang damals viele Winzer dazu, sich von den großen Häusern zu lösen und eigene Absatzwege zu suchen. So entstanden viele kleine Familienbetriebe, die noch heute existieren. Aus dieser Zeit dürfte auch der traditionell hohe gewerkschaftliche Organisationsgrad der Arbeiter in den Kellereien herrühren – die Champagne ist noch heute eine Bastion der CGT. Erst in den 1930er Jahren brachte ein steigender Absatz im Inland eine wirtschaftliche Erholung. Seit 1936 wird in der Champagne regelmäßig am 22. Januar das Fest des hl. Vinzenz von Valencia, des Patrons der Winzer, gefeiert. Die Verehrung dieses Märtyrers der diokletianischen Christenverfolgung von 304 lässt sich bis in die Epoche der Merowinger zurückverfolgen, damals gefördert durch Childerich I. Seine Eigenschaft als Schutzpatron vieler Kirchen und als Stadtpatron von Gemeinden vor allem in den Weinbaugebieten Burgund und Champagne könnte volksetymologisch zu erklären sein aus der französischen Schreibweise des Namens Vin-cent. Auch heute noch begeht man am 22. Januar den Mittwinter und beginnt mit dem Rebschnitt. Unter der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg wurde das Comité Interprofessionnel du Vin de Champagne gegründet, das heute als Dachverband die Produktion beaufsichtigt und die Interessen der Erzeuger vertritt. Der zunehmende Wohlstand seit 1945 brachte dem Champagner schließlich einen neuen Aufschwung, der die Produktion auf nie erreichte Höhen führte. 1999 wurde das feste Verfahren zur Ermittlung der Traubenpreise auf Grundlage der Prozent-Einstufung aller Gemeinden außer Kraft gesetzt. Der Übergang in ein neues Jahrtausend brachte 1999 einen Rekordabsatz von 327 Mio. Flaschen Champagner, der erst 2007 mit 338,7 Mio. Flaschen übertroffen wurde. Zur Erweiterung der Anbaufläche wurden in den letzten Jahren auch die nach der Reblauskrise aufgelassenen Weinberge der Côte de Sézanne und bei Vitry-le-François wieder bestockt. Eine Ausweitung des Anbaugebietes auf 357 Gemeinden ist inzwischen beschlossen. 2017 sollen dort die ersten Champagnertrauben gelesen werden. Die Folgen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise bekam auch die Champagne zu spüren: 2008 sank der Absatz um 4,8 % auf 322,5 Millionen Flaschen, 2009 fiel er um weitere 9,1 % auf 293,3 Mio. Flaschen. Als Reaktion auf den Nachfrageeinbruch wurde die zulässige Erntemenge für 2009 auf 9700 kg Trauben je Hektar reduziert. Das Comité Interprofessionnel du Vin de Champagne hat bei den zuständigen Ministerien in Paris beantragt, die Weinlandschaft des Champagners (Paysages du Champagne) in die Liste des UNESCO-Welterbes aufzunehmen; dadurch soll das einmalige Ensemble verschiedenartiger Weinbauflächen und der in Kreidefels gegrabenen Keller gewürdigt und in seinem Bestand geschützt werden. Im Juli 2010 wurde von schwedischen Tauchern in der Ostsee ein Schiffswrack gefunden, das ungefähr 30 Flaschen Champagner an Bord hatte. Erste Hinweise deuteten auf das Haus Veuve Cliquot und die 1780er Jahre, weitere Untersuchungen führten aber in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts und zum nicht mehr existierenden Hause Juglar. Wirtschaft Champagnerproduktion heute Pro Jahr werden ungefähr 2,7 Millionen hl Wein, also etwa 385 Millionen Flaschen hergestellt. Aufgrund der langen Gärzeit in der Flasche lagert Schätzungen zufolge das Äquivalent von 1,5 Milliarden Flaschen in den Kellern der Hersteller und Handelshäuser. Der jährliche Umsatz der Branche beträgt etwa 4 Mrd. € und wuchs bis 2007 mit einer Jahresrate von 4 bis 5 %. Den größten Anteil des Champagners verkaufen die Handelshäuser mit 67,4 %, gefolgt von selbstvermarktenden Winzern (23,5 %) und Winzergenossenschaften (Coopératives) (9,1 %). Größter Einzelerzeuger ist mit 62,2 Millionen Flaschen der LVMH-Konzern mit den Marken Moët & Chandon, Veuve Clicquot, Krug, Ruinart, Dom Pérignon und Mercier. Kleinere börsennotierte Handelshäuser mit Umsätzen zwischen 240 und 360 Millionen € sind Laurent-Perrier, Boizel Chanoine und Vranken-Pommery Monopole. Mit ungefähr 55 % der Abnahmemenge blieb Frankreich auch im Boomjahr 2007 der größte Abnehmer. 25 % gingen in die übrigen EU-Länder, und 15 % wurden in den Rest der Welt ausgeführt. Die größten Abnehmerländer waren Großbritannien (39,0 Millionen Flaschen), die USA (21,7 Millionen), Deutschland (12,9 Millionen), Italien (10,3 Millionen), Belgien (9,9 Millionen) und Japan (9,2 Millionen). Wachsende Bedeutung genießen Russland und China. Überraschen mögen die 980.000 in die Vereinigten Arabischen Emirate exportierten Flaschen, diese werden jedoch in das übrige Afrika weiterexportiert oder in den Luftfahrtgesellschaften und Luxushotels ausgeschenkt. Der Einbruch 2008 bis 2009 betraf vor allem die Exportmärkte. Der Anteil Frankreichs stieg wieder auf 61,7 %. In die Europäische Union gingen 24,1 %, in die übrige Welt 14,2 %. Champagner in Zeiten des Klimawandels Durch den Klimawandel haben sich die Anbaugrenzen für Weine deutlich gen Norden verschoben. War die Champagne vor Beginn des menschgemachten Klimawandels noch ideal für die Herstellung von Champagner geeignet, so liegt diese nun deutlich zu weit südlich, ist zu warm und zu trocken. Die Pflanzen wachsen und reifen dadurch allzu früh, so dass sie nicht mehr gut vor dem Frühlingsfrost geschützt sind. Auch die Ernte beginnt nun früher. Folgen dieser Veränderung sind ein sinkender Säuregehalt und eine verminderte Frische des Grundweins. Da aufgrund der geschützten Herkunftsbezeichnung ein Umzug in nun geeignetere Anbaugebiete, etwa ins Vereinigte Königreich oder nach Skandinavien ausscheidet, sind Anpassungen bei der Herstellung nötig. So haben Produzenten begonnen, Champagner in Magnumflaschen mit Naturkorken zu lagern, Böden mit Stroh zu bedecken, mit anderen Wein- und Hefesorten zu experimentieren oder auf malolaktische Gärung umzusteigen. Dennoch ist davon auszugehen, dass aufgrund des Klimawandels um 2070 kein Champagneranbau in der Champagne mehr möglich sein wird. Champagnertrauben als Handelsgut Die großen Champagnerhäuser besitzen nur etwa 10 % der Anbaufläche des Champagners, stellen aber zwei Drittel der Absatzmenge. Den größten Teil ihrer Trauben müssen sie daher zukaufen. Diese kommen von den über 14.000 Winzern der Champagne, die teilweise weniger als einen Hektar Rebfläche besitzen und die Traubenerzeugung teilweise nur im Nebenberuf ausüben. Während der Ernte Anfang Oktober kaufen die Champagnerhäuser oder eine der Winzergenossenschaften die Trauben der Kleinwinzer. Bis 1999 wurden die Traubenpreise nach einem festen Schema ermittelt: Von den Courtiers wurde ein Richtpreis pro Kilogramm ausgehandelt, der ungefähr bei 30 % des Preises einer Flasche Champagner lag. Je nach Qualitätspotenzial seiner Rebflächen bekam der Winzer für die Trauben einen festen Prozentsatz des Richtpreises. Diese Einstufung der Lagen folgte Erfahrungswerten und wurde nach den Unruhen von 1911 zum ersten Mal schriftlich fixiert. 100 % wurden nur für Trauben aus den am höchsten eingestuften Gemeinden, den sogenannten Grands Crus, gezahlt. Die Skala begann ursprünglich bei 22,5 %, der Eingangswert wurde mehrmals angehoben auf schließlich 80 %. 1999 wurde dieses Verfahren jedoch außer Kraft gesetzt, was einen weiteren Anstieg der Traubenpreise zur Folge hatte. 2006 kostete ein Kilogramm Trauben von Grand Crus 6,20 € gegenüber 4 € im Jahr 2000. Trauben aus durchschnittlichen Lagen wurden 2006 zwischen 4,50 und 5,– € pro kg gehandelt. Aufgrund der hohen Nachfrage nach Champagner sitzen die Weinbauern zurzeit am längeren Hebel. Die großen Champagnerhäuser reagieren darauf, indem sie zunehmend Weinberge aufkaufen. Inzwischen hat der Preis für einen Hektar Grand-Cru-Lage die Marke von einer Million Euro überschritten. Markenschutz Aufgrund des EU-Markenrechts darf in Deutschland hergestellter Sekt in Flaschengärung nicht Champagner genannt werden, da dies mit der Herkunft der Trauben verbunden ist. Gleiches gilt auch für alle Schaumweine weltweit. War bis Anfang der 1990er Jahre zumindest noch der Ausdruck méthode champenoise auf dem Etikett eines Schaumweins mit Flaschengärung erlaubt, ist seitdem jeglicher Ausdruck, der an Champagner erinnert, verboten. In Frankreich wurde daher die Kategorie des Crémant eingeführt. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg (EuGH) hatte sich kürzlich damit zu befassen, ob dies auch für Stillweine aus dem Schweizer Ort Champagne gelten soll (Rechtssache T-212/02 des EuGH). Ein Qualitätsurteil ist damit nicht verbunden. Die dortigen Winzer benannten bisher ihren Stillwein Vin de Champagne. Der Wein musste aufgrund des Urteils in Libre-Champ umbenannt werden. Aus demselben Grund hat nun auch eine Bäckerei im gleichen Ort Rechtsstreitigkeiten mit den französischen Weinbauern bekommen. Das Aperitif-Gebäck „Flûte de Champagne“, welches seit 1934 unter diesem Namen produziert und in Frankreich unter dem Namen „Recette de Champagne“ (=  Rezept aus der Champagne). vertrieben wird, würde die Ursprungsbezeichnung des Weines verwässern. Auch der Sekthersteller Schlumberger aus Österreich darf nicht mehr damit werben, dass sein Sekt nach der Champagner-Methode produziert wird, und muss die Etiketten jetzt mit „Méthode traditionnelle“ beschriften. Im Jahr 2002 hat der Bundesgerichtshof klargestellt, dass selbst die bloße Bezugnahme auf die dem Champagner allgemein zugeschriebene Qualität zur Bewerbung völlig anderer Artikel das Markenrecht der Champagnerhersteller verletzt. Ein Elektronik-Großmarkt hatte seine Waren mit dem Werbespruch „Champagner bekommen, Sekt bezahlen“ angepriesen. „Schampus“ ist die umgangssprachliche Bezeichnung für Schaumweine im Allgemeinen, also für Sekt und Champagner. Champagner in Deutschland Im Jahr 2018 wurden nach Angaben des Deutschen Weininstituts 9,2 Mio. l Champagner aus Frankreich eingeführt. Dies ist ein Rückgang um 4,1 % gegenüber dem Vorjahr. Die Nachfrage nach Champagner ist heute deutlich geringer als in den 1990er Jahren. Die Einfuhren von Champagner erreichten im Jahr 1997 mit 13,6 Millionen l ihren Höchststand. Champagnermarken Größere Winzer, Genossenschaften oder Champagner-Häuser bieten in der Regel mehrere Sorten an, meist als Brut oder Demi Sec dosiert und in verschiedenen Flaschenformaten abgefüllt. Viele kleine Winzer überlassen zwar den Genossenschaften ihre Trauben für die Champagnerherstellung, wollen aber nicht auf die eigene Champagnermarke verzichten. Die Genossenschaften stellen unterschiedliche Champagner her, die auf einer Verkostung von allen Traubenlieferanten probiert werden. Die Winzer kaufen dann der Genossenschaft einen Champagner ihrer Wahl ab und vermarkten diesen unter eigenem Namen. Daher stehen nur wenige Großbetriebe hinter den mehr als 15.000 verschiedenen Champagnersorten. Auf dem Etikett finden sich Kürzel, die auf die jeweilige Herkunft aufmerksam machen: NM: Négociant manipulant. Handelshaus, das den Champagner ausbaut und selbst vermarktet. In der Regel besitzen die Handelshäuser eigene Weinberge, kaufen jedoch in erheblichen Umfang Traubenmaterial zu. RM: Récoltant manipulant. Auf diese Weise werden die kleinen Winzerbetriebe benannt, die den Champagner (also das eigene Traubenmaterial) selbst ausbauen und vermarkten. CM: Coopérative de manipulation. Genossenschaft, die das Traubenmaterial ihrer Mitglieder ausbaut und vermarktet. RC: Récoltant coopérateur. Ein Weinbauer, der sein Traubenmaterial einer Genossenschaft zum Ausbau überlässt und die eigenen Flaschen zwecks Vermarktung seiner eigenen Champagnermarke zurückerhält. ND: Négociant distributeur. Handelshaus, das fertig ausgebauten Champagner aufkauft und unter eigener Marke vertreibt. MA: Marque d’acheteur. Großabnehmer, der ein Handelshaus bittet, den Champagner mit dem Etikett seiner eigenen Marke zu versehen. Es handelt sich in der Regel nicht um einfache Qualitäten, sondern die Zweitmarke des Handelshauses. MA wird auch oft mit maison auxilliar bezeichnet. Das Etikett eines Champagners Das Etikett der Champagnerflasche (étiquette) enthält die wichtigsten, zum größten Teil gesetzlich vorgeschriebenen und regelmäßig kontrollierten Mindestangaben, insbesondere: „Champagne“: auch diese Kurzbezeichnung genießt den gesetzlichen Markenschutz der AOC, Markenname und Adresse des Herstellers (Winzer, Genossenschaft oder Champagnerhaus), Flascheninhalt (volume nominal), z. B. 0,75 L sowie Alkoholgehalt (titre alcoométrique volumique) in der Regel 12 Vol.-%. Außerdem kann auf dem Etikett vermerkt werden: Zuckergehalt durch die Bezeichnungen brut (wirklich trocken), dry oder sec sowie demi-sec (eher lieblich) und so weiter, tradition: häufig verwendete Bezeichnung für Champagner der Standardqualität, cuvée: nur aus Weinen der ersten Pressung hergestellt, réserve: Champagner, der mit älteren Jahrgängen derselben Lage vermischt worden ist, in der Regel Bezeichnung für eine gehobene Qualitätsstufe cuvée prestige oder cuvée spéciale: Spitzenerzeugnis dieses Herstellers, millésime: mit der Angabe des Erntejahrgangs, blanc de blancs: ausschließlich aus weißen Chardonnay-Trauben hergestellt, blanc de noirs: nur aus roten Trauben (Pinot Noir oder Pinot Meunier) hergestellt, rosé: aus Rosé-Grundweinen hergestellter Champagner, Grand Cru oder Premier Cru, sofern die Voraussetzungen vorliegen. Einige Hersteller versehen die Champagnerflaschen zusätzlich mit einem Rückenetikett (contre-étiquette), um darauf hinzuweisen, welche Rebsorten verwendet worden sind, an welchem Tag degorgiert worden ist oder zu welchen Speisen dieser Champagner gut passt. Die wichtigsten Champagnerhäuser und ihre Prestige-Champagner Literatur Peter von Becker: A votre santé! In: Der Tagesspiegel. 29. Dezember 2007, S. 27. Michael Brückner: Pocket Guide Champagner. Gentlemen’s Digest, Berlin 2005. Frederique Crestin-Billet, Dominique Pascal: Champagner. Moewig, Rastatt 2001, ISBN 3-8118-1708-6. Gerhard Eichelmann: Champagne 456. Mondo, Heidelberg 2023, ISBN 9783938839409. Don und Petie Kladstrup: Champagner. Die dramatische Geschichte des edelsten aller Getränke. Klett-Cotta, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-608-94446-4. Klaus Rädle: Champagner: Fakten, Daten, Hintergründe. Pro Business, Berlin 2009, ISBN 978-3-86805-327-2. Tom Stevenson: Champagner. Gräfe und Unzer, München 1988, ISBN 3-7742-5044-8. Serena Sutcliffe: Große Champagner. Hallwag, Bern/ Stuttgart 1989, ISBN 3-444-10359-X. Weblinks Offizielle Website des Comité Interprofessionnel du Vin de Champagne (französisch) Website der Union des Maisons de Champagne in Reims (französisch) Website des Syndicat Général des Vignerons de la Champagne in Epernay (französisch) Champagnerwelt – große Datenbank zu den Champagnerhäusern Einzelnachweise Schaumwein (Frankreich) Kultur (Grand Est)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dareios%20I.
Dareios I.
Dareios I. (neu, Dārayavauš, babylonisch Dariamuš, elamisch Dariyamauiš, aramäisch Dryhwš beziehungsweise biblisches Aramäisch , , ; * 549 v. Chr.; † 486 v. Chr.), oft auch Dareios der Große genannt, war ein persischer Herrscher. Er war ab 522 v. Chr. dritter Großkönig des persischen Achämenidenreichs und nahm für sich in Anspruch, der insgesamt neunte König aus der Dynastie der Achämeniden zu sein. Sein persischer Name bedeutet „das Gute aufrechterhaltend“. Dareios I. gilt neben dem Reichsgründer Kyros dem Großen als der bedeutendste Großkönig des altpersischen Reichs. Zu den Leistungen, die zu dieser Einschätzung beitragen, gehört die Erneuerung der Reichsstrukturen. Seine Verwaltungsreformen wurden noch lange nach dem Ende des Achämenidenreiches als vorbildhaft erachtet; vielleicht beeinflussten sie sogar die Organisation des Römischen Reiches. Außerdem förderte er die Künste, insbesondere die Architektur. Davon zeugen die Gründung von Persepolis und die Bautätigkeit in anderen Residenzstädten, vor allem in Susa. In der Geschichte des Achämenidenreichs stellt die Regierungszeit des Dareios die Phase der größten Ausdehnung des Imperiums dar. Quellenlage Primärquellen Für die Regierungszeit des Dareios stellten Monumentalskulpturen wie die Behistun-Inschrift und zahlreiche andere Felsreliefs aus dem ganzen Reich für lange Zeit die einzigen Quellen aus dem Inneren des Reichs dar. Die Verwaltungsarchive von Persepolis, die erst in den 1930er Jahren in Persepolis gefunden wurden, revolutionierten die Erkenntnisse der Wissenschaft und zeigen viele neue Aspekte des achämenidischen Königshofs zur Zeit von Dareios I. Das Besondere der Tontafeln von Persepolis ist die Erhaltung des archäologischen Kontexts von schriftlichen und ikonographischen Quellen am selben Standort. Neben archäologischen Zeugnissen gelten heute die Inschriften und die Tontafeln als Primärquelle für die Achämeniden. Griechische Quellen Die griechischen und römischen Quellen haben lange Zeit durch ihre Detailliertheit und literarische Qualität das Bild von den Achämeniden und im Besonderen von Dareios I. geprägt. Heute werden sie als unvollständig, von außen kommend und als anekdotisch eingestuft. In einigen Fällen sind sie sogar falsch. Die Historien des Herodot decken die gesamte Regierungszeit des Dareios ab. Daneben wird Dareios in dem Drama Die Perser von Aischylos beschrieben. Es gibt das zeitgenössische griechische Dareiosbild wieder; hier zeigen sich auch Dareios’ vermutliche Beweggründe für seine Eroberungskriege. Bei anderen altgriechischen Autoren wird er ebenfalls vereinzelt erwähnt. Bibel In des Tanach werden der Erlass und genaue Anweisungen zum Neubau des Jerusalemer Tempels beschrieben. Seine Vollendung und Einweihung im sechsten Herrschaftsjahr des Dareios (März 515 v. Chr.) werden erwähnt. () Es wird ein Schriftwechsel Kyros’ und Dareios’ mit König Ahasveros (Artaxerxes – Dareios’ Enkel) beschrieben (), in dessen Regierungszeit Esra und Nehemia nach Jerusalem kamen. Die großzügige Finanzierung des Tempelbaues bescherte Dareios und seinen Nachfolgern die Unterstützung der jüdischen Priesterschaft. Dareios I. ist nicht zu verwechseln mit dem in erwähnten Dareios dem Meder, der nach der Eroberung Babylons durch Kyros II. anstelle von Belšazar König der Chaldäer wurde; zum angegebenen Zeitpunkt war Dareios I. noch nicht an der Macht. Zudem war Dareios I. als Abkömmling der Achämeniden von seiner Abstammung her ein Perser. Dareios der Meder war, wie sein Name sagt, ein Meder. Leben und Herrschaft Abstammung und Jugend Dareios I., genannt auch Dareios Hystaspis, wurde etwa 549 v. Chr. als Sohn des Hystaspes geboren. Hystaspes, unter den persischen Königen Kyros II. und Kambyses II. Statthalter von Parthien, entstammte dem persischen Achämenidengeschlecht. Dareios I. erhielt wohl wie alle Fürstensöhne eine höfische Ausbildung. Der Aufstieg Von Kambyses II. wurde er zu dessen persönlichem Lanzenträger erhoben. In dieser Funktion begleitete Dareios ihn 522 v. Chr. auf seinem Feldzug gegen Ägypten. Dort soll Kambyses erfahren haben, dass sich im persischen Kernland, in der Hauptstadt Ekbatana, sein Bruder Bardiya (griechisch: Smerdis) gegen ihn erhoben habe. Kambyses bezweifelte den Verrat des Bruders und hatte Anlass, dessen Ermordung zu vermuten. Er brach unverzüglich auf, um den Aufstand niederzuschlagen, starb jedoch noch während des Rückzugs, vermutlich durch einen Unfall; Herodot deutet auch die Möglichkeit eines Mordanschlags an. Für die darauf folgenden Ereignisse gibt es zwei Versionen: Die offizielle Version, die auf Dareios’ eigener, in drei Sprachen verfassten Darstellung in der Felsinschrift von Bisutun/Behistun beruht, und die auch von Herodot übernommen wurde, ist die folgende: Um Kambyses zu rächen, kehrte Dareios nach Persien zurück und konnte sechs Jugendfreunde für den Sturz des „falschen Bardiya“ gewinnen, ein gewisser Gaumata, Bruder des Statthalters Oropastes. In der nahe Ekbatana gelegenen Festung Sikayawautish traf er auf Gaumata und tötete ihn. Als angeblich letzter direkter männlicher Abkömmling der Achämenidenlinie neben seinem Vater Hystaspes und seinem Großvater Arschama I., die beide auf die Königswürde verzichteten, sah sich Dareios als rechtmäßigen Nachfolger des Kambyses. Mit dieser Begründung ließ er sich in Pasargadae, der zeremoniellen Hauptstadt des Reiches, trotz Widerständen zum Großkönig krönen. Zur weiteren Legitimierung seiner Herrschaft heiratete er Atossa, eine Tochter des Kyros, die ihm einen würdigen Thronfolger gebären würde. Diese Geschichte des „falschen Bardiya“, die bereits in der Antike bezweifelt wurde, hält allerdings der Skepsis der Althistoriker Pierre Briant, Fritz Gschnitzer, Robert Rollinger, Alexander Demandt, Maria Brosius und Josef Wiesehöfer nicht mehr stand. So geht man heute davon aus, dass Dareios die Geschichte verbreiten ließ, um als Reichsretter seine Thronbesteigung nachträglich zu legitimieren. Besonders auffällig ist, dass zu der Zeit niemand den Tod des echten Bardiya erwähnt, obwohl ihm von Kyros die Herrschaft über den gesamten Osten des persischen Reiches übertragen worden war. Dareios behauptet in der Behistun-Inschrift, Gaumata habe monatelang auch das nächste Umfeld Bardiyas, einschließlich der Gattin, täuschen können; dies erscheint aber so gut wie ausgeschlossen: Wahrscheinlich handelte es sich bei dem angeblichen Hochstapler daher um den echten Bardiya. Ob Dareios selbst diesen getötet hat, ist nicht klar. Die Forschung ist sich heute weitgehend einig, dass Dareios nur weitläufig mit Kyros II. und Kambyses II. verwandt war. Kyros II. sah sich selbst als Abkömmling von Teispes und bezeichnete sich entsprechend als Teispide. Die später von Dareios I. vorgenommene Änderung seines Stammbaums mit Achaimenes als Dynastiegründer diente wohl eher der Untermauerung seiner Thronansprüche. Die einzige erhaltene Inschrift, in der sich Kyros selbst als Achämenide bezeichnete, wurde mittlerweile als Fälschung aus der Zeit des Dareios identifiziert. Letztlich wirkte sich die Änderung der Genealogie zwar nicht entscheidend aus, ohne Achaimenes bestand für Dareios jedoch der Makel, auf keinen königlichen Vorfahren in direkter Linie verweisen zu können. Ein Vorfahr, Ariaramna I., war wohl von Kyaxares II. abgesetzt und seine Herrschaft an Kyros I. übergeben worden. Die genauen Vorgänge dieser Frühzeit liegen aufgrund der schlechten Quellenlage allerdings im Dunkeln. Frühe Herrschaft Nach der Krönung in Pasargadae zog Dareios nach Ekbatana, wo er von Aufständen seiner Widersacher in Elam und Babylonien erfuhr. Der elamische Aufstand konnte im Keim erstickt werden, indem der Anführer Aschina in Susa gefangen genommen und hingerichtet wurde. In Babylonien hatte sich Nidintu-Bel, der angeblich von Nebukadnezar und Nabonid abstammte, unter dem Namen Nebukadnezar III. zum König erhoben. Er wurde nach drei Monaten von Dareios, der mit einer Streitmacht nach Babylon gezogen war, abgesetzt und getötet. Während Dareios noch in Babylon war, wurde in Baktrien ein neuer Aufstand durch einen Mann namens Frada entfacht. Der eigentliche Satrap von Baktrien stand jedoch loyal zu Dareios und konnte Frada in die Wüste des heutigen Turkestan vertreiben, wo er später ergriffen und hingerichtet wurde. Zur gleichen Zeit erhob sich in der Persis, dem Stammland der Perser, ein Mann, der ebenfalls behauptete, Bardiya zu sein; in Elam gab es erneute Unruhen. Auch in Medien, Parthien, Assyrien, Ägypten, bei den Sattagyden und abermals in Babylonien kam es zu schweren Unruhen und Kämpfen. Gegen Ende des Jahres 522 v. Chr. befand sich damit beinahe das gesamte Perserreich in Aufruhr. Dareios konnte sich jedoch auf eine loyale Streitmacht verlassen, die von engen Vertrauten angeführt wurde, so dass nach seinen Angaben binnen eines Jahres die Aufstände nacheinander niedergeschlagen wurden. Im September 522 v. Chr. folgten erste Aufstände in Babylon, die, von einer kurzen Unterbrechung abgesehen, bis Dezember 521 v. Chr. andauerten. Im Mai 521 v. Chr. hatte sich Nebukadnezar IV. zum neuen König von Babylon ausgerufen und wurde knapp sieben Monate später von Dareios wie vorher Nebukadnezar III. getötet. Insofern bezieht sich Dareios Aussage auf den Zeitraum von seiner ersten bis zur letzten Kampfhandlung. Nach der Ermordung des Gaumata hatte Dareios so nach eigener Aussage insgesamt acht „Lügenkönige“ besiegt. Ende 521 v. Chr. herrschte im Reich wieder Frieden, nur die Grenze im Norden war noch stark bedroht. 517 v. Chr. war auch dieses Gebiet befriedet und die hier ansässigen Saken tributpflichtig gemacht. Die Niederwerfung dieser Aufstände beschreibt Dareios ausführlich in der Behistun-Inschrift. Außenpolitik siehe auch Liste der Herrscher im 6. Jahrhundert v. Chr. und Liste der Herrscher im 5. Jahrhundert v. Chr. für einen Überblick Indien Nachdem die Herrschaft im Reichsinneren gefestigt war, galt es, möglichen Bedrohungen, die von der Ostgrenze ausgehen konnten, zuvorzukommen. So wurde das Gebiet der Sattagyden endgültig dem Perserreich einverleibt, und persische Truppen stießen bis ins Industal vor, das ebenfalls vollständig unterworfen werden konnte. Als besonders wertvoll für diesen Eroberungsfeldzug erwiesen sich die schon seit längerem unter persischer Herrschaft stehenden Gandharer, die als der tapferste indische Volksstamm galten. Das Industal war nicht nur sicherheitspolitisch interessant. In der fruchtbaren Ebene gab es viele reiche Städte, im Indus selbst wurde Goldstaub gewonnen. Ferner erlaubte die Eroberung nun endlich den unbeschränkten Handel mit dem indischen Subkontinent. Bereits früher hatten Reisen des Skylax von Karyanda sowie des Nearchos entlang der Küste des persischen Golfes diesem Zweck gedient. Libyen und Ägypten Ägypten war zu Beginn der Herrschaft des Dareios von dem Reich abgefallen und nur mit Mühe wieder zurückerobert worden. Eine bedeutende Rolle spielte hier der bereits von Kambyses eingesetzte Satrap Aryandes. Dareios besuchte 518 v. Chr. persönlich das Land. Dieser Akt wird allgemein als endgültige Niederschlagung des Aufstandes und Einverleibung Ägyptens in das Perserreich angesehen. Die Kyrenaika hatte sich im Laufe des Ägyptenfeldzuges des Kambyses den Persern bereits unterworfen, konnte in den Wirren der Jahre 522/21 ihre Unabhängigkeit jedoch zurückerlangen. Aryandes eroberte in einem angeblich äußerst hinterlistigen und brutalen Feldzug die Städte Kyrene und Barke und dehnte das Gebiet seiner Satrapie bis an die Große Syrte aus. Wie persische Inschriften belegen, standen auch die nichtgriechischen Bewohner des östlichen Libyens unter persischer Herrschaft. Thraker und Skythen Es ist anzunehmen, dass Dareios auch die Saken trotz ihres Vasallenstatus als eine Bedrohung für die Nordgrenze des Reiches ansah. Sie besiedelten das Gebiet vom Aralsee bis in die heutige Ukraine. Offenbar sollten die Saken von deren Westgrenze aus angegriffen und umzingelt werden. So wurde 513 v. Chr. ein Feldzug auf das europäische Festland vorbereitet. Bei Byzantion wurde, wie eine dort gefundene Inschrift belegt, eine Schiffbrücke über den Bosporus geschlagen. Das Heer setzte nach Thrakien über und brachte es unter persische Herrschaft. Im Mündungsgebiet der Donau trafen sie auf die Saken, die die Perser jedoch zum Rückzug zwangen. An der daraufhin befestigten Donaugrenze blieben die Saken dann weiterhin eine Bedrohung für das Perserreich. Griechenland Mit dem Feldzug der Jahre 513/12 v. Chr. kamen die Perser zum ersten Mal seit dem Kleinasien-Feldzug des Kyros enger in Kontakt mit den Griechen. Zwar standen viele von Griechen besiedelte Gebiete des östlichen Mittelmeerraumes unter persischer Herrschaft, aber die Perser interessierten sich recht wenig für dieses Land. Als im Zuge der Unterwerfung Thrakiens auch Makedonien zu einem Vasallen Persiens wurde, glaubten die unabhängigen Griechen, bald selber in das Blickfeld des Großkönigs zu geraten. Athen versuchte dem vorzubeugen, indem es 506 v. Chr. ein Bündnis mit dem Perserreich abschloss. Auf persischer Seite wurde dies als formelle Unterwerfung verstanden. Obwohl die an der kleinasiatischen Küste lebenden ionischen Griechen zahlreiche Privilegien unter den Persern genossen – ihnen wurde unter anderem sogar eine eigene Satrapie zugestanden – erhoben sie sich 500 v. Chr. Die Athener brachen den Bündnisvertrag und sandten militärische Unterstützung. 499 v. Chr. wurde die Hauptstadt der Satrapie Lydien, Sardes, eingenommen und zerstört. Die Perser reagierten mit massiven Gegenschlägen. Auch auf Zypern kam es zu Militäraktionen. Als Endpunkt dieses „Ionischen Aufstandes“ gilt die Einnahme und Zerstörung der Stadt Milet 494 v. Chr., die als Anführerin in der Revolte galt. Um späteren Unruhen vorzubeugen, wurde 492 v. Chr. eine von Mardonios geführte Strafexpedition nach Griechenland ausgesandt, die jedoch scheiterte. Thrakien und Makedonien, die im Zuge des Ionischen Aufstandes vom Reich abgefallen waren, wurden wiedergewonnen, doch die Expedition gegen Athen scheiterte daran, dass die persische Flotte am Berg Athos in einem Sturm zerschellte. Zwei Jahre später verlief ein erneuter Feldzug unter Datis und Artaphernes zunächst erfolgreich. In der Ägäis konnte die persische Vormachtstellung ausgebaut werden, und Eretria wurde zerstört. Das persische Heer landete kurz darauf bei der Ebene von Marathon, wo es eine offene Feldschlacht gegen die Athener herbeiführen wollte. Die Strategie wurde nach mehreren Tagen geändert und Athen sollte mit der Flotte direkt angegriffen werden; als das Heer wieder auf die Schiffe verladen wurde, griffen die Athener unter Führung des Miltiades an und vernichteten einen Teil der persischen Armee. Dann zogen sie im Eilmarsch nach Athen, womit eine Kapitulation der Stadt verhindert werden konnte. Die Perser zogen sich darauf hin zurück. Man hat dieser Schlacht von Marathon eine welthistorische Bedeutung zugewiesen und sie als Erfolg in der Vereinigung des freien Abendlandes gegen die orientalische Despotie dargestellt. Inzwischen haben Historiker jedoch argumentiert, dass die Absicht der Perser nur eine Bestrafung der Athener als untreue Verbündete gewesen sei, und nicht die Unterwerfung Griechenlands. Erst Dareios’ Sohn Xerxes I. unternahm eine großangelegte Invasion des griechischen Festlandes. Trotz des Fehlschlages vor Athen galt die Westgrenze wohl als befriedet, da sich die ionische Küste wieder fest in persischer Hand befand. Innenpolitik Verwaltung und Militär In den frühen Jahren seiner Herrschaft führte Dareios eine großangelegte Verwaltungsreform durch, deren Hauptbestandteil die Einrichtung einheitlicher Provinzen, der Satrapien, war. Umfang und Lokalisierung der einzelnen Satrapien sowie die Form und Höhe ihrer Abgaben ist unsicher, da die Quellen, die Satrapienliste des Herodot und persische Königsinschriften, weit voneinander abweichen. Ein großer bürokratischer Apparat, der vor allem aus ägyptischen Aufzeichnungen bekannt ist, stand den Satrapen zur Seite. Kanzleisprache war bis in die Regierungszeit des Artaxerxes I. Elamitisch und wurde dann vom Aramäischen abgelöst. Die Ernennung des Satrapen durch den Großkönig und die Tatsache, dass ein solcher Satrap – von wenigen bekannten Ausnahmen abgesehen – das Amt bis zu seinem Tode bekleidete, lässt darauf schließen, dass sein Posten dem eines Unter- oder gar Vasallenkönigs glich. Die Vollmachten eines Satrapen in seiner Provinz waren enorm, und er hatte sich nur vor dem Großkönig zu rechtfertigen, musste diesem aber Heeresfolge und Tributzahlungen leisten. Der Satrap Aryandes führte Herodot zufolge auf eigene Faust Kriegszüge durch und soll auch eigene Münzen geprägt haben. Dieses Verhältnis ist dennoch nicht unmittelbar mit dem Lehnsfürstentum des Mittelalters zu vergleichen, da der Großkönig die unbestrittene zentrale Macht ausübte. So hatte der Großkönig beispielsweise die Möglichkeit, mit einem Reichsaufgebot ein Heer unter seiner persönlichen – oder von ihm persönlich übertragenen – Führung auszuheben. Schon der Name dieses Reichsaufgebotes deutet darauf hin, dass hier Truppenkontingente aus dem gesamten Reichsgebiet – nach einzelnen Ethnien geordnet – ausgehoben wurden. Daneben führte Dareios ein stehendes Heer ein, das die Miliztruppen seiner Vorgänger ablöste. Dieses Heer hatte unter anderem die Aufgabe, die innere Sicherheit – ähnlich wie moderne Polizeitruppen – zu wahren, und in allen größeren Städten gab es Garnisonen. Überdies gab es Verbände, die für Grenzsicherheit zuständig waren. Aus Ägypten sind sie als Söldnerverbände bekannt, die in Grenzstädten stationiert waren. Die königliche Leibwache, unter dem Namen Unsterbliche bekannt, wurde auch im Krieg eingesetzt. Wirtschaft und Gesellschaft Des Weiteren wurde ein Straßennetz angelegt, das alle wichtigen Gebiete des Reiches miteinander verband. Von diesen „Königsstraßen“ ist diejenige, die von Ephesos beziehungsweise Sardes nach Susa, eigentlich sogar bis nach Persepolis, führte, die bekannteste, weil Herodot sie in seinen Historien ausführlich beschreibt. Handel und Verkehr wurden auch durch den Brückenschlag über den Bosporus sowie die Vollendung eines Kanals vom Roten Meer zum Nil, den bereits der ägyptische Pharao Necho II. begonnen hatte, erleichtert. Unter Dareios wurde erstmals eine für das ganze Reich einheitliche Währung auf Basis von Münzen eingeführt, die aus einer Goldmünze, dem Dareikos, und einer Silbermünze, dem Siglos bestand. Dies erwies sich vor allem für den Binnenhandel als förderlich. Allen Völkern des Reiches wurde die Ausübung ihrer eigenen Sitten und Religionen zugestanden. Einige fühlten sich dennoch benachteiligt, weil sie entweder – wie Ägypten – mit der persischen Oberhoheit nicht zufrieden waren, oder weil die Illusion des Fortbestehens ihrer alten Reiche wie Medien, Lydien und Babylonien durch die Zersplitterung ihrer ehemaligen Reichsgebiete in mehrere Satrapien zerstört war. Die Ionier, die unter den Lydern zahlreiche Privilegien genossen und schließlich auch das lydische Königtum „hellenisieren“, also griechisch prägen konnten, hatten diese Macht über den Großkönig nicht. Aus dieser Unzufriedenheit heraus ist vielleicht auch der ionische Aufstand zu verstehen. Dennoch wurde nicht mit allen Traditionen gebrochen. Die Personalunion des Großkönigs mit dem König von Medien und Babylonien bestand weiter. Dareios ernannte wie schon Kyros und Kambyses seinen Sohn und Kronprinzen Xerxes I. zum König von Babylon. Er selbst führte außerdem weiterhin den Titel eines ägyptischen Pharaos. Unter Dareios entstand eine Pax Persica, ein „Persischer Frieden“, ein Zustand des inneren Friedens, der durch eine vorsichtige Angleichung der Reichsstrukturen geprägt wurde und in dem das Reich eine sichere, geordnete Einheit besaß. Dies fand Ausdruck darin, dass Dareios sich nicht mehr als „König der Perser“, sondern als „König der Länder und Völker“ stilisierte und auf Reliefs der königlichen Paläste die repräsentativen Völkerschaften des Reiches als gleichberechtigt darstellen ließ. Einzig in den Abgaben besaßen die Perser Privilegien. Es gab für sie weder einen Satrapen noch mussten sie Tribute an den König zahlen. Bedrohungen für den inneren Frieden Fast die gesamte Herrschaft des Dareios hindurch herrschte im Reich Frieden. Allein Ägypten war eine unsichere Provinz. Hier hatte der Satrap Aryandes seine Macht beträchtlich ausgeweitet und soll Herodot zufolge sogar eigenes Münzgeld nach Vorbild des Dareikos geprägt haben. Ob dies als Aufstand gegen Dareios zu betrachten ist, darf bezweifelt werden, da die Satrapen im Allgemeinen sehr viel Macht besaßen und zu späteren Zeiten vermehrt auch in den Provinzen Münzen geprägt wurden. Im Jahr 486 v. Chr. allerdings kam es zu einem offenen Aufstand, der wohl von ägyptischen Kräften gefördert wurde; Aryandes war bereits um 500 v. Chr. gestorben. Diesen Aufstand musste Xerxes I., der Nachfolger des Dareios, niederschlagen; Herodot zufolge soll dies der Grund gewesen sein, weshalb er zunächst von einer geplanten Invasion in Griechenland absah. Sieht man von den im nördlichen Grenzbereich des Reiches lebenden Saken, deren Aktivitäten zur Zeit des Dareios nicht bekannt sind, ab, so war der einzige andere Unruheherd zur Zeit des Dareios die ionische Westgrenze. Hier kam es 499 v. Chr. zu dem Aufstand, der als Beginn der Perserkriege gesehen werden kann. Ansonsten war die Lage im Reich jedoch stabil. Bautätigkeit Dareios wollte das Reichszentrum vom medischen Ekbatana und mesopotamischen Babylon in das Stammland, die Persis, verlegen. In deren unmittelbaren Nachbarschaft lag Elam mit seiner alten Königsstadt Susa, die Dareios zu seiner Hauptresidenz ausbaute und die diese Funktion bis zum Ende des Reiches behielt. In der Persis selbst ließ er bei einer älteren Stadt, die Verwaltungszentrum gewesen war, eine Residenz errichten. Die Stadt wurde nach der Sitte, der Hauptstadt eines Landes denselben Namen zu geben wie dem Land, Parsa genannt. Die Griechen nannten sie Persepolis. Susa In Susa wurde ein neuer Palastkomplex im Norden der Stadt geschaffen. Eine Terrasse wurde angelegt, auf der ein Apadana (Audienzhalle) und ein Palast errichtet wurden. Unter Artaxerxes I. wurde der Apadana durch ein Feuer zerstört und unter Artaxerxes II. wieder aufgebaut (siehe dazu die Inschrift A2Sa). Es sind nur Reliefs aus glasierten Ziegeln erhalten geblieben, die heute zum größten Teil im Musée du Louvre in Paris stehen. Persepolis Die Baumaßnahmen in Persepolis ähnelten denen in Susa. Auch hier wurde ein Apadana auf einer Terrasse errichtet. Daneben wurde ein kleiner Palast, vermutlich zu privaten Zwecken, errichtet. Dieses Bauwerk war jedoch um einiges kleiner als das in Susa. Als drittes Gebäude auf der Terrasse entstand ein Schatzhaus, das noch während der Regierungszeit des Dareios erweitert werden musste. Unterhalb der Terrasse wurden Verwaltungsgebäude errichtet; diese sind bisher jedoch kaum archäologisch erschlossen. Sowohl in Persepolis als auch in Susa wurden die Gebäude von Handwerkern aus dem ganzen Reich errichtet und aus Materialien aus verschiedensten Ländern gebaut. Auf Reliefs an den Treppenaufgängen sind die verschiedenen Völkerschaften des Reiches mit Gaben und Trachten, die typisch für ihre Länder waren, abgebildet. Pasargadae Vermutlich noch während der Herrschaft des Kyros verlor Pasargadae die Rolle als Regierungssitz und wurde zur zeremoniellen und wahrscheinlich auch religiösen Hauptstadt des Reiches. Bauten, die vermutlich von Kyros begonnen wurden, wurden von Dareios beendet; zusätzlich wurde ein neuer Palast angelegt. Die Bauweise erinnert an die von Susa und Persepolis. Ägypten Auch in Ägypten ist eine rege Bautätigkeit des Dareios bezeugt, hauptsächlich im religiösen Bereich. Zahlreiche Tempel wurden während seiner Regierungszeit gebaut beziehungsweise restauriert, darunter die Tempel von Hibis und Qasr el-Ghueda in der Oase Charga, der Ptah-Tempel in Memphis, der Nechbet-Tempel in El-Kab und der Tempel von Busiris. Baumaßnahmen Dareios’ lassen sich des Weiteren in Karnak, im Fayyum und in Sais nachweisen. Baumaterial wurde teilweise aus den Steinbrüchen des Wadi Hammamat gewonnen, wo sich Felsinschriften des Dareios finden. Eine bedeutende Leistung ist auch die Fertigstellung eines bereits unter Pharao Necho II. begonnenen, 84 Kilometer langen Kanals, der vom östlichen Nilarm über das Wadi Tumilat zum Roten Meer führte und so Persien mit Ägypten verband. Entlang des Kanals wurden Stelen gefunden, die auf Ägyptisch, Altpersisch, Elamisch und Akkadisch beschriftet waren. Künstlerische und architektonische Entwicklung unter Dareios Unter Dareios fand auf dem Gebiet der Kunst und der Architektur eine Zäsur statt: Zwar gibt es aus der Zeit des Kyros und insbesondere des Kambyses nur wenige archäologische Quellen; diese wenigen vorhandenen lassen jedoch auf Fortführung örtlicher Traditionen schließen. Ein bekanntes Relief aus der Zeit des Kyros in Pasargadae deutet elamischen Einfluss an. Nur das Grab des Kyros sticht in seiner Form heraus, und es sind keine direkten Vorbilder für diesen Bau bekannt. Unter Dareios wurden bewusst die verschiedensten künstlerischen und architektonischen Stilelemente aus dem ganzen Reich zusammengetragen. Die monumentalen, mit Kannelierungen versehenen Säulen der Paläste und öffentlichen Gebäude muten, vom Baumaterial und der Dimension abgesehen, im Schaft griechisch an, sind allerdings vermutlich nach mesopotamischem Vorbild geschaffen. Die Kapitelle weisen vor allem ägyptische Einflüsse auf. Wie mehrere Wissenschaftler aus dem Bereich der Altorientalistik und auch der Ägyptologie vermuten, sind die Grundrisse der Paläste in Persepolis ägyptischen Ursprungs. So fühlten sich bereits die Ausgräber von Amarna bei der Betrachtung der Palastgrundrisse an Persepolis erinnert (Gerd Gropp). Dagegen wirkten die Paläste von Persepolis nach Ansicht von Indologen und vermehrt auch von Althistorikern als Vorbild für Paläste in Indien und Bauten in Griechenland. Wie in der gesamten Geschichte des alten Orient ist auch unter den Achämeniden das Relief die vorherrschende Kunstform. Es erscheint in Kombination mit Inschriften, an Palastwänden und Treppenaufgängen. Unter den Vorgängern des Dareios war die Reliefkunst vor allem von elamischen Vorbildern geprägt. Unter Dareios zeigen sich deutliche mesopotamische (vor allem assyrische) Einflüsse. Die Reliefs waren bemalt und häufig mit wertvollen Materialien eingefasst; so waren beispielsweise manche Bärte auf den Reliefs in Persepolis aus Lapislazuli. Babylonische Einflüsse zeigen sich vor allem in Reliefs in Susa, die zumindest teilweise, aus der Zeit des Dareios stammen. Die Reliefs in Susa bestehen aus bunten, glasierten Ziegeln, die an die Prozessionsstraße und das Ischtar-Tor in Babylon denken lassen. Unter Dareios erlebte auch die Skulptur eine Blüte. Kleine und größere Statuetten und Figuren bestanden aus wertvollen Materialien wie Lapislazuli und Elfenbein. Daneben ist eine Kolossalstatue des Dareios selbst aus Ägypten erhalten, die wohl noch unter dem Herrscher nach Susa gebracht wurde und dort gefunden wurde. Die Statue zeigt den Herrscher in elamitischer Tracht und persischen Herrschaftsinsignien, aber Inschriften in ägyptischen Hieroglyphen und Keilschrift aufweist. Kleinere Kunstwerke und kunstvolle Gebrauchsgegenstände bestehen aus Edelmetall, vor allem Gold und Silber. Eine Menge solcher Gegenstände wurden im Oxus-Schatz gefunden. Es wurden außerdem wenige Stoffreste und ein größerer Teppich gefunden, die auch auf diesem Gebiet eine hohe Fertigkeit andeuten. Herrschaftsinstrumente Inschriften Von Dareios I. sind mehrere Inschriften auf Felsreliefs, Palastwänden, Skulpturen und kleineren Objekten erhalten. Die meisten befinden sich in der Persis (Persepolis, Naqsch-e Rostam, Pasargadae), in Elam (Susa) und in Medien (Behistun, Gandschnāme). Von außerhalb der zentralen Gebiete der Achämeniden sind drei Inschriften vom Suezkanal (Inschriften auf Suezkanalstelen mit Bildern) überliefert. Auf den Inschriften präsentiert sich Dareios I. mit seiner königlichen Abstammung als Stellvertreter einer göttlichen Ordnung und beansprucht die Herrschaft über sein Reich. Die Formel, die seinen Herrschaftsanspruch legitimieren soll, erscheint nahezu unverändert in sämtlichen von ihm in Auftrag gegebenen Inschriften: Die Inschrift von Behistun, wie auch die auf seinem Grab in Naqsch-e Rostam, stellt Dareios als ideales Vorbild für alle seine Untertanen dar. Besonders hervorgehoben werden sein Gerechtigkeitssinn und seine Selbstbeherrschung, eine Einschätzung, die man auch bei Herodot und Xenophon wiederfindet. Ferner bezeichnet sich Dareios als Meister in allen von einem guten Mann geforderten Künsten: Reiten, Bogenschießen und Speerkampf. Nicht zuletzt zeigt er sich als Feind der Lügner und der Lüge; die zu Beginn seiner Herrschaft von ihm besiegten Konkurrenten bezeichnet er als „Lügenkönige“. Die Selbstdarstellung von Dareios I. fußt auf wesentlichen Elementen der Herrschaftskultur des neuassyrischen Großreichs. Die Herrscherkultur der Assyrer hatte im Vergleich zu anderen Traditionen des Vorderen Orients charakteristische Eigenschaften. Die Könige bezeichneten ihre Kriegsgegner als „Sünder“ gegen die göttliche Ordnung und behandelten ihre Expansionspolitik als göttliches Projekt. Sie erschufen in den eroberten Gebieten Felsreliefs mit Inschriften, die ihre ruhmreichen Taten und ihre universelle Dominanz gegenüber den Völkern bezeugten. Dareios I. übernahm viele Elemente als Vorlage und passte sie an die iranischen Verhältnisse an. So übernahm er in der Behistun-Inschrift die chronologische Aufzählung der militärischen Erfolge, ein Muster, das sich in vielen assyrischen Inschriften wiederfindet und sich bis auf akkadische und altbabylonische Zeit zurückverfolgen lässt. Das Aufzählen von physischen Vorzügen ist ein Ebenbild von Inschriften des assyrischen Königs Assurpanipal. Königliche Siegel Von Dareios I. sind acht verschiedene Siegel überliefert, die seinen Namen tragen. Der bekannte Londoner Dareius Zylinder befindet sich im British Museum und ist das einzige überlieferte Rollsiegel. Die restlichen sieben Siegel wurden in 440 Abdrücken auf Tontafeln in den Verwaltungsarchiven von Persepolis gefunden. Königliche Siegel waren in Vorderasien über einen großen Raum und eine große Zeitspanne verbreitet. Sie sind aus der III. Dynastie von Ur und Girsu überliefert, tragen die Namen von Naram-Sin oder Šar-kali-šarri aus Akkad und der Sukkalmah von Elam. Königliche Siegel wurden ebenso in Syrien und bei den hethitischen Königen gefunden. Man hat dabei festgestellt, dass sich königliche Siegel in vielen Fällen nicht im Besitz der Könige befanden. Das war auch bei Dareios I. der Fall. Da der archäologische Kontext bei den Siegeln aus den Verwaltungsarchiven erhalten ist, konnte nachgewiesen werden, dass in allen Fällen der Besitzer des königlichen Siegels eine Amtsstelle oder eine hochrangige Person aus der Verwaltung war. Es wird angenommen, dass die Siegel die Funktion hatten, hochrangige Persönlichkeiten, die nicht der königlichen Familie oder dem Adel angehörten, an den König zu binden. Die Siegel legitimierten die Autorität des Königs durch den bloßen Akt der Ausstellung als auch die Autorität der Beamten und deren sozialen Status. Eine ähnliche Praxis ist auch aus akkadischer Zeit, der III. Dynastie von Ur und von den Šimaški-Königen aus Elam bekannt. Von den acht Siegeln des Dareios I. stellen sechs den Königlichen Helden im Kampf gegen mythische Stiere und Löwen dar. Auf den meisten Darstellungen schwebt das Geflügelte Symbol mit einer Figur, die die achämenidische gezackte Krone trägt und in persischer Hoftracht gekleidet ist. Die Wahl der Szene sticht unter den hunderten überlieferten Siegeln aus Persepolis nicht hervor. Das Besondere sind die dreisprachigen Inschriften in altpersischer, elamischer und babylonischer Sprache, die Größe, die Ikonographie und der Stil der Siegel. Religion Dareios führte die Politik des Kyros fort, die jedem Einwohner die freie Religionsausübung gestattete. Positive Erwähnung dieser Praxis findet sich im Esra-Nehemia-Buch des Tanach, in dem die angebliche Unterstützung des Neubaus des Tempels in Jerusalem erwähnt wird. Zweifel an der Darstellung sind jedoch angebracht, da der Grieche Xenophon diese Politik erst in der Erziehung des Kyros (Titel auch: Kyrupädie/Cyropädie) um 362 v. Chr. erwähnte. Das Werk stellt keine tatsächlichen historischen Begebenheiten dar. Inschriften von Dareios selbst über die Unterstützung des Neubaus fehlen. Für seine Herrschaftsideologie, die in den zahlreichen Inschriften zum Vorschein kommt, hat Dareios I. assyrische Elemente verwendet und als seinen obersten Gott Auramazdā gewählt. Die Gründe für die Wahl eines bis dahin unbekannten Gottes sind nach wie vor umstritten, ebenso wie der Ursprung, der Charakter und die Bedeutung dieses Gottes. Im Besonderen wird das Verhältnis der Achämeniden zum Avesta in der Forschung immer noch intensiv diskutiert und es wird nach neuen Ansätzen gesucht. Neuere Untersuchungen, die die achämenidischen Quellen mit denjenigen anderer mesopotamischen Staaten verbinden, zeigen, dass es einen intensiven Austausch mit dem assyrischen, babylonischen und elamischen Erbe gegeben und eine Akkulturation in Bezug auf die Religion stattgefunden hat. Die Verwaltungsarchive von Persepolis dokumentieren, dass der Hof von Dareios I. ein breites Spektrum von elamischen und iranischen Göttern unterstützte. Tod des Dareios Nach Herodot begann Dareios sofort nach seiner Niederlage in der Schlacht von Marathon damit, eine neue Expedition gegen Griechenland vorzubereiten. Dabei wurde er jedoch im Jahr 486 v. Chr. von einem Aufstand in Ägypten unterbrochen. Während dieser Zeit starb Dareios gegen Ende des Jahres 486 v. Chr., vermutlich im Monat Oktober oder November, doch ist weder das genaue Datum noch die Todesursache bekannt (Ktesias von Knidos erwähnt nur allgemein eine Erkrankung). Im Dezember des Jahres 486 v. Chr. herrschte bereits sein Sohn Xerxes I. als neuer Großkönig. Dareios wurde in dem zu seinen Lebzeiten für ihn erbauten kreuzförmigen Felsengrab mit den Inschriften DNa und DNb in Naqsch-e Rostam, sechs Kilometer nördlich von Persepolis, beigesetzt. Persönliches Umfeld Familie Dareios war der Sohn des Hystaspes, eines Satrapen von Parthien, ein Sohn des Arschama I. – beide Männer waren bei der Thronbesteigung des Dareios noch am Leben. Seine Mutter hieß Rhodogune. Dareios führt in der Inschrift von Behistun seinen Stammbaum auf den Stammvater Achaimenes zurück. Schon bei dessen Enkel gibt Dareios jedoch eine Trennung von der Linie an, der Kyros und Kambyses angehören. Dies lässt darauf schließen, dass Dareios zwar zum persischen Hochadel zählte, mit den Großkönigen Kyros und Kambyses aber nur entfernt verwandt war. Aus diesen Gründen heiratete Dareios bei seiner Thronbesteigung Atossa, eine Tochter des Kyros. Mit ihr hatte er vier Söhne, Xerxes, Achaimenes, Masistes und Hystaspes. Mit einer weiteren Tochter des Kyros, Artystone, hatte er zwei Söhne, Arsames und Gobryas. Aus dem unmittelbaren königlichen Umfeld nahm Dareios noch Parmys, die Tochter des Bardiya zur Frau, mit der er einen Sohn, Ariomardos, hatte. Zusätzlich heiratete Dareios eine weitere Frau aus dem persischen Hochadel, Phaidime, die Tochter seines Mitverschworenen Otanes. Ob und wie viele Kinder aus dieser Ehe stammen, ist nicht bekannt. Schließlich ehelichte Dareios seine Nichte Phratagone. Aus dieser Ehe stammen zwei Söhne, Abrokomas und Hyperanthes. Vor der Thronbesteigung hatte Dareios die Tochter seines späteren Mitverschworenen Gobryas geheiratet. Dieser Ehe entstammten drei Söhne, Artobazanes, der erstgeborene Sohn des Dareios, Ariabignes und Ariamenes. Töchter sind keine bekannt. Obwohl Artobarzanes als Erstgeborener die Nachfolge für sich beanspruchte, war Xerxes als der erstgeborene Enkel des Kyros der gegebene Thronfolger. Seine Mutter Atossa hatte den größten Einfluss auf die Staatsgeschäfte und auf Dareios selbst. Deshalb lässt Aischylos in seinem Drama Die Perser Atossa als einzige Frau aus dem Königshof auftreten. Herodot behauptet, dass Dareios Artystone am meisten liebte, und ihr zu Ehren ein Standbild anfertigen ließ. Die „Sieben Perser“ Als Dareios aus Ägypten zurückkehrte, konnte er sich auf die Unterstützung von sechs Adligen verlassen, die später zu den privilegiertesten Männern des Reiches wurden. Dareios muss sie schon von seiner Jugend auf gekannt haben, zum Teil mögen sie auch Verwandte gewesen sein. Otanes (altpersisch Hutana) gehörte zum Hoch-Adel und hatte möglicherweise Zugang zum Königshof des Gaumata. Er war Meder und wurde von den Griechen als Stiefbruder des Kyros I. angesehen, was jedoch durch die Behistun-Inschrift, die den Namen seines Vaters als Tukra angibt, widerlegt wird. Daneben gehörten zu den Verschworenen Gobryas (altpersisch Gaubaruwa), der vermutlich einer alten elamischen Adelsfamilie angehörte, Intaphrenes (Windafarna), Ardumaniš, Hydarnes (Widarna) und Megabyzos I. (Bagabuchša). Diese Verschworenen bildeten später mit ihren Familien die Elite des Reiches. Sie bekleideten Ämter, die sonst Verwandten des Großkönigs vorbehalten waren. Bis in das Sassanidenreich ist die Vormachtstellung von sieben Adelsfamilien nachweisbar. Dareios ehrte die sechs Mitverschworenen auch durch Abbildungen auf königlichen Reliefs. Es sind nicht immer alle abgebildet, doch stets tauchen zumindest einige in der Funktion königlicher Würdenträger auf. Intaphrenes, der von Dareios als erster unter den Mitverschworenen namentlich genannt wurde, fiel bald in Ungnade, da er den König störte, als dieser mit einer Frau schlief. Während Intaphrenes hingerichtet wurde, blieb seine Familie verschont und behielt ihre privilegierte Stellung. Diese von Herodot erzählte Episode lässt sich durch sorgfältiges Studium der Königsinschriften bestätigen. Rezeption Für die Griechen war Dareios ein Gegner; mit seiner Invasion Griechenlands, die 490 v. Chr. in der Schlacht von Marathon scheiterte, begannen die Perserkriege. Dennoch hat ihn der zeitgenössische griechische Dramatiker Aischylos positiv dargestellt. In seinem Drama Die Perser ist Dareios ein weiser König, der den Feldzug seines Sohnes Xerxes aufs schärfste verurteilt. Das Bild des Dareios ist vor allem durch sein Wirken als Reichserneuerer und Gegner der Griechen in den Perserkriegen geprägt. Dabei ist auffällig, dass er selbst bei den Griechen nicht in einem schlechten Licht erscheint; die Darstellung des Herodot bleibt vergleichsweise objektiv und neutral. Ereignisse, die Dareios diffamieren könnten, wie der Libyenfeldzug, werden dort anderen Personen zugeschrieben, oder, wie die Invasion Griechenlands, verkürzt dargestellt. Manches wird gleich ganz ausgelassen, wie die Kämpfe um die Herrschaft in den Jahren 522/21 v. Chr. Die moderne Forschung und Erkenntnisse aus der Archäologie zeichnen Dareios vorwiegend positiv. Heidemarie Koch stellt ihn als toleranten, auf das Wohlergehen seiner Untertanen bedachten Herrscher dar. Andere, wie Josef Wiesehöfer und Pierre Briant, sind mit ihrem Urteil kritischer, gestehen Dareios aber ebenfalls eine herausragende Bedeutung zu. Chronologie 549 v. Chr. Geburt des Dareios. 525 v. Chr. Dareios begleitet Kambyses II. als königlicher Lanzenträger nach Ägypten. 522 v. Chr. Usurpation des Gaumata. Tod des Kambyses. Dareios kehrt nach Persien zurück und lässt sich zum König krönen. 522 v. Chr. Dareios wird von Nebukadnezar III. für drei Monate als König von Babylon abgesetzt (Usurpation). 521 v. Chr. Dareios wird von Nebukadnezar IV. für sieben Monate als König von Babylon abgesetzt (Usurpation). 521 v. Chr. Ende der Aufstände gegen Dareios. 519 v. Chr. Sieg über den Sakenherrscher Skunxa. Etwa um 519 Eingliederung von Samos und anderen Ägäisinseln 518 v. Chr. Dareios reist nach Ägypten. 515 v. Chr. Gründung von Persepolis. Geburt Xerxes I. 513 v. Chr. Eroberung und Eingliederung der Kyrenaika. Erfolgloser Feldzug gegen die europäischen Skythen. Eroberung und Eingliederung Thrakiens. 512 v. Chr. Einführung des Dareikos. 507 v. Chr. Bündnis mit Athen. 500 v. Chr. Einweihung des Bubastis-Kanals, des ersten Suezkanals. 499 v. Chr. Ionischer Aufstand. Zerstörung von Sardes. 494 v. Chr. Eroberung von Milet. Ende des Ionischen Aufstandes. 492 v. Chr. Gescheiterte Griechenlandinvasion des Mardonios. 490 v. Chr. Gescheiterte Griechenlandinvasion des Datis und des Artaphernes. 486 v. Chr. Aufstand in Ägypten. Tod des Dareios. Literatur Jürgen von Beckerath: Handbuch der ägyptischen Königsnamen. (= Münchner Ägyptologische Studien. Band 49). 2. Auflage. von Zabern, Mainz 1999, ISBN 3-8053-2591-6, S. 220–221. Erika Bleibtreu: Achaimenidische Kunst. In: Wilfried Seipel (Hrsg.): 7000 Jahre persische Kunst. Meisterwerke aus dem Iranischen Nationalmuseum in Teheran: Eine Ausstellung des Kunsthistorischen Museums Wien und des Iranischen Nationalmuseums in Teheran. Kunsthistorisches Museum, Wien 2001, ISBN 3-85497-018-8, S. 186–219, hier: S. 188–195. Pierre Briant: Darius. Les Perses et l’Empire. Decouvertes Gallimard, Paris 1992, ISBN 2-07-053166-X (Grundlegendes Werk über das Leben des Dareios und den Aufbau seines Reiches. Aufwändig illustriert, auch für Leser mit geringen Französischkenntnissen empfehlenswert). Maria Brosius: The Persians. An introduction. Routledge, London 2006, ISBN 0-415-32089-5. Alexander Demandt: Darius und der „falsche Smerdis“. In: Alexander Demandt (Hrsg.): Das Attentat in der Geschichte. Böhlau, Köln 1996, ISBN 3-412-16795-9, S. 1 ff. Leo Depuydt: Saite and Persian Egypt, 664 BC–332 BC (Dyns. 26–31, Psammetichus I to Alexander’s Conquest of Egypt). In: Erik Hornung, Rolf Krauss, David A. Warburton (Hrsg.): Ancient Egyptian Chronology (= Handbook of Oriental studies. Section One. The Near and Middle East. Band 83). Brill, Leiden/ Boston 2006, ISBN 90-04-11385-1, S. 265–283 (online) Dietz-Otto Edzard: Reallexikon der Assyriologie und Vorderasiatischen Archäologie. Band 9. de Gruyter, Berlin 2001, ISBN 3-11-017296-8, S. 206. Gerd Gropp: Beobachtungen in Persepolis. In: Archäologische Mitteilungen aus Iran. Hrsg. v. Deutschen Archäologischen Institut Abteilung Teheran. Sonderdruck, Berlin 4. 1971, (Forschungsanstöße zu der Bedeutung von Persepolis, insbesondere der vermutl. ägyptischen Einflüsse in der Architektur). Fritz Gschnitzer: Die Sieben Perser und das Königtum des Dareios. Ein Beitrag zur Achaimenidengeschichte und zur Herodotanalyse. Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1977, ISBN 3-533-02598-5 (Vortragsschrift über die Anfänge der Herrschaft des Dareios und die Analyse der hierzu zur Verfügung stehenden Quellen). Walther Hinz: Darius und die Perser. Eine Kulturgeschichte der Achämeniden. 2 Bände. Holle, Baden-Baden 1976, (Standardwerk. Grundlage für die neuere Achaimenidenforschung, insbesondere durch die Auswertung der elamitischen Tontafeln). Heidemarie Koch: Es kündet Dareios der König. Vom Leben im persischen Großreich. von Zabern, Mainz 1992, ISBN 3-8053-1347-0 (Umfassende, aber nicht unumstrittene Darstellung zum achaimenidischen Perserreich mit Hauptaugenmerk auf die Zeit Dareios’ I. und zahlreichen Illustrationen.). Robert Rollinger: Der Stammbaum des achaimenidischen Königshauses, oder: die Frage der Legitimität der Herrschaft des Dareios. In: Archäologische Mitteilungen aus Iran und Turan. Band 30, 1998, S. 155–209. Thomas Schneider: Lexikon der Pharaonen. Albatros, Düsseldorf 2002, ISBN 3-491-96053-3, S. 107–108. Leo Trümpelmann: Zwischen Persepolis und Firuzabad. (Sonderband zur Antiken Welt) von Zabern, Mainz 1992, ISBN 3-8053-1414-0. Josef Wiesehöfer: Der Aufstand Gaumātas und die Anfänge Dareios’ I. Dissertation, Universität Bonn, Bonn 1978. Josef Wiesehöfer: Die Geschichte Irans von den Achaimeniden bis in frühislamische Zeit. In: Wilfried Seipel (Hrsg.): 7000 Jahre persische Kunst. Meisterwerke aus dem Iranischen Nationalmuseum in Teheran: Eine Ausstellung des Kunsthistorischen Museums Wien und des Iranischen Nationalmuseums in Teheran. Kunsthistorisches Museum, Wien 2001, ISBN 3-85497-018-8, S. 54–74, hier: S. 58–63. Josef Wiesehöfer: Das antike Persien. Von 550 v. Chr. bis 650 n. Chr. Albatros, Düsseldorf 2005, ISBN 3-491-96151-3 (Gut geschriebenes Standardwerk zur Geschichte des alten Persien). Weblinks Bildergalerie von Persepolis Auf: Nirupars.com; zuletzt abgerufen am 18. Dezember 2020. Anmerkungen König (Achämenidenreich) König (Babylonien) Altägyptischer König (Perser) Person als Namensgeber für einen Asteroiden Geboren 549 v. Chr. Gestorben 486 v. Chr. Mann Person im Buch Esra
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https://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagsgeb%C3%A4ude
Reichstagsgebäude
Das Reichstagsgebäude (umgangssprachlich kurz: Reichstag; offiziell: Plenarbereich Reichstagsgebäude; inoffiziell auch Bundestag oder Wallot-Bau) am Platz der Republik in Berlin ist seit 1999 Sitz des Deutschen Bundestages. Seit 1994 tritt hier auch die Bundesversammlung zur Wahl des deutschen Bundespräsidenten zusammen. Der Bau wurde nach Plänen des Architekten Paul Wallot zwischen 1884 und 1894 im Stil der Neorenaissance im Stadtteil Tiergarten am linken Ufer der Spree errichtet. Er beherbergte sowohl den Reichstag des Deutschen Kaiserreiches als auch den der Weimarer Republik. Zunächst tagte dort auch der Bundesrat des Kaiserreichs. Nach schweren Beschädigungen durch den Reichstagsbrand von 1933 und den Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude in den 1960er Jahren in modernisierter Form wiederhergestellt und diente Ausstellungen und Sonderveranstaltungen. Von 1995 bis 1999 wurde der Reichstag für die 1991 beschlossene dauerhafte Nutzung als Parlamentsgebäude von Norman Foster grundlegend umgestaltet. Am 19. April 1999 fand die Schlüsselübergabe an Bundestagspräsident Wolfgang Thierse statt. Seither tagt dort der Deutsche Bundestag. Eine Landmarke im Stadtbild ist die begehbare Glaskuppel über dem Plenarsaal nach einer Idee von Gottfried Böhm. Zur Vorgeschichte Provisorien Erster Sitz eines Reichstages in Berlin war das Gebäude des Preußischen Herrenhauses in der Leipziger Straße 3. Hier tagte ab 1867 der Reichstag des von Preußen dominierten Norddeutschen Bundes. Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 kamen die Abgeordneten der süddeutschen Staaten hinzu, sodass ein größeres Gebäude benötigt wurde. Man zog zunächst in das Preußische Abgeordnetenhaus (Leipziger Straße 75). Bald erwies sich auch dieses als zu klein. Der Reichstag verabschiedete am 19. April 1871 einen Antrag, in dem es hieß: „Die Errichtung eines den Aufgaben des deutschen Reichstags entsprechenden und der Vertretung des deutschen Volkes würdigen Parlamentshauses ist ein dringendes Bedürfnis.“ Ein anderer, mit Blick auf den kurz zuvor errungenen Sieg über Frankreich und die Reichsgründung stark nationalistisch formulierter Antrag für den Neubau fand auch keine Mehrheit. Eine Reichstagsbaucommission sollte die Vorbereitungen für einen „würdigen“ Neubau treffen. Es galt, den Bauplatz festzulegen, das Bauprogramm zu entwickeln, einen Architektenwettbewerb auszuschreiben und für eine geeignete Übergangslösung zu sorgen. Ein Provisorium war schnell gefunden: In nur 70 Tagen wurde das Gebäude Leipziger Straße 4, zuvor Sitz der Königlichen Porzellanmanufaktur, für den Parlamentsbetrieb tauglich gemacht. Man rechnete mit einer Übergangszeit von fünf bis sechs Jahren. Tatsächlich wurden es 23 Jahre. Grundstück Die Probleme begannen mit der Wahl eines passenden Grundstücks für den Neubau. Nach kurzer Suche bestimmte die Kommission einen Bauplatz auf der Ostseite des damaligen Königsplatzes (heute: Platz der Republik). Allerdings stand dort noch das Palais des polnischen Grafen Athanasius Raczynski, eines preußischen Diplomaten und Kunstsammlers. Die Kommissionsmitglieder glaubten jedoch, mit der Unterstützung des Kaisers Wilhelm I. und damit letztlich auch mit der Zustimmung des Grafen rechnen zu können, und schrieben einen internationalen Wettbewerb für dieses Grundstück aus. Den Wettbewerb, an dem über hundert Architekten teilnahmen, entschied im Juni 1872 Ludwig Bohnstedt aus Gotha für sich. Sein Entwurf fand große öffentliche Zustimmung, konnte aber nicht realisiert werden, weil sich Graf Raczyński weigerte, sein Grundstück zur Verfügung zu stellen. Und Wilhelm I. zeigte wenig Neigung, ein Enteignungsverfahren zu betreiben, obwohl auch er den Standort passend fand. Nach und nach verständigte sich die Kommission auf einen alternativen Standort weiter östlich näher zur Stadtmitte. Bismarck, Wilhelm I. und die konservativen Abgeordneten lehnten diesen Bauplatz allerdings vehement ab, da der Reichstag damit in die Nähe des Stadtschlosses rückte, was als politische Aufwertung des Parlamentes gedeutet wurde. Im Jahr 1881 konnte auf die erste Standort-Wahl zurückgegriffen werden, da der Graf 1874 verstorben war. Sein Sohn hatte das Raczyński-Palais noch im selben Jahr an den Preußischen Staat verkauft. Planung Im Dezember 1881 beschloss der Reichstag, das Baugelände zu erwerben. Eine lebhafte öffentliche Diskussion entstand um die Frage, ob Ludwig Bohnstedt außer Konkurrenz beauftragt werden sollte, seinen siegreichen Entwurf von 1872 umzuarbeiten und auszuführen. Im Februar 1882 wurde dann aber ein neuer Wettbewerb ausgeschrieben, zu dem diesmal nur Architekten „deutscher Zunge“ zugelassen waren – eine Forderung des Verbandes deutscher Architekten- und Ingenieurvereine. Hohe Preisgelder luden zur Teilnahme ein. Auch Bohnstedt beteiligte sich wieder, blieb aber ebenso chancenlos wie auch zum Beispiel Heinrich von Ferstel. Aus 189 anonymen Einsendungen gingen die Entwürfe von Paul Wallot aus Frankfurt am Main und Friedrich von Thiersch aus München als Sieger hervor; beide erhielten am 24. Juni 1882 erste Preise. Da aber Wallot eindeutig mehr Stimmen auf seiner Seite hatte (19 von 21), bekam er den begehrten Auftrag. Am 9. Juni 1883 wurde der dazugehörige Haushalt genehmigt. Vorangegangen war ein Rededuell von August Reichensperger, der einen neugotischen Entwurf (als „germanische Architektur“) Wallots Renaissancebau vorzog, und dessen Befürworter Robert Gerwig. Für den Architekten begann ein langwieriger und mühevoller Arbeitsprozess, eine ständige Auseinandersetzung mit mehreren zuständigen Instanzen. Nach einem Beschluss von 1880 sollte die Akademie des Bauwesens beim zukünftigen Neubau eines Reichstagsgebäudes unbedingt als Berater eingeschaltet werden – eine unglückliche Regelung, weil viele Akademiemitglieder am vorhergehenden Wettbewerb mit eigenen Entwürfen beteiligt waren. Unkorrektes Verhalten ließ sich der Akademie nicht nachweisen, aber ihre häufige, ungewöhnlich pedantische Kritik an Wallots Arbeit rief Zweifel an ihrer Objektivität hervor, die in der Öffentlichkeit auch geäußert wurden. Die Bauabteilung im preußischen Ministerium der öffentlichen Arbeiten als zweite Gutachterinstanz verlangte ebenfalls weitreichende Änderungen. Wallot selbst blieb nach außen hin geduldig und beklagte sich nur in persönlichen Briefen. Er musste in Abständen von wenigen Monaten immer neue Entwürfe für die Anordnung der Innenräume und die Gestaltung der Fassaden liefern. Unabhängige Beobachter glaubten am Ende, den prämierten Entwurf nicht mehr wiederzuerkennen. Schließlich konnte am 9. Juni 1884 der Grundstein gelegt werden. Viel Militär und nur wenige Parlamentarier nahmen an der verregneten Zeremonie teil. Drei Hohenzollern hatten die Hauptrollen: Kaiser Wilhelm I. sowie sein Sohn und sein Enkel – die späteren Kaiser Friedrich III. und Wilhelm II. Beim Hammerschlag Wilhelms I. zersprang das symbolische Werkzeug. Architektur Außengestalt Während der Bauarbeiten entwickelte sich die Kuppel zum besonderen Problem. Verschiedene Einsprüche hatten Wallot gezwungen, sie von ihrer zentralen Position über dem Plenarsaal zur westlichen Eingangshalle zu verlegen. Nach diesem Plan wurde das Bauwerk nun von der Berliner Steinmetzfirma Zeidler & Wimmel errichtet. Der plastische Schmuck stammte vom Bildhauer Friedrich Volke. Je weiter der Bau vorankam, desto mehr kam der Architekt zu der Überzeugung, dass die erzwungene Änderung rückgängig gemacht werden müsse. In zähen Verhandlungen erreichte er die Zustimmung dafür. Inzwischen waren die tragenden Wände um das Plenum schon errichtet; Berechnungen ergaben aber, dass sie für die geplante steinerne Kuppel zu schwach waren: Der aus einzelnen gemauerten Wänden gebildete Tambour, auf dem das Widerlager der Kuppel ruhen sollte, konnte die rechtwinklig zu den Wänden wirkende horizontale Schubkomponente nicht aufnehmen. Im Jahr 1889 fand der im Berliner Reichseisenbahnamt beschäftigte Bauingenieur Hermann Zimmermann außerhalb seiner dienstlichen Tätigkeit eine Lösung: Er reduzierte die Kuppelhöhe von 85 m auf knapp 75 m und schlug eine relativ leichte, technisch anspruchsvolle Konstruktion aus Stahl und Glas vor. Zimmermann entwarf ein stählernes Raumfachwerk, dessen unterer achteckiger Ring durch ein raffiniertes Auflagersystem so konstruiert wurde, dass die vier Wände nur in ihren Ebenen belastet wurden, d. h. jede Wand statisch als Scheibe wirkte. Zimmermanns Raumfachwerk war äußerlich und innerlich statisch bestimmt und konnte somit allein mit Hilfe der Gleichgewichtsbedingungen berechnet werden. Dies ergab, dass die Lagerung (äußere statische Bestimmtheit) der Kuppel ein zwangsfreies Ausdehnen bzw. Zusammenziehen z. B. infolge Temperaturänderung erlaubte. Dieses Kuppelsystem ging als Zimmermann-Kuppel – als „geniale Tragwerksmaschine“ – in die Geschichte der Bautechnik ein. Zimmermann selbst publizierte die baustatische Analyse seiner Kuppel in verallgemeinerter Form erst 1901. Die Zimmermann-Kuppel versorgte den Plenarsaal mit natürlichem Licht und gab dem Parlamentsgebäude den gewünschten würdigen Abschluss. Darüber hinaus galt sie als Wahrzeichen für die Innovationskraft und Leistungsfähigkeit deutscher Bauingenieure auf Basis der Baustatik in ihrer Vollendungsphase (1875–1900). So ist Zimmermanns Reichstagskuppel auch ein Triumph der klassischen Baustatik. Wilhelm II., seit 1888 als Kaiser im Amt, hatte anfangs noch eine recht positive Einstellung zum Reichstagsgebäude. Er unterstützte Wallot auch in der Frage, wo die Kuppel zu platzieren sei, obwohl er sie prinzipiell als Ärgernis empfand – weil er darin ein Symbol für die Ansprüche des ungeliebten Parlaments sah und weil sie höher war als die Kuppel des Berliner Stadtschlosses mit ihren 67 Metern. Seit etwa 1892 wurde eine zunehmende Abneigung des Kaisers gegenüber dem Gebäude deutlich; er bezeichnete es als „Gipfel der Geschmacklosigkeit“ und „völlig verunglückte Schöpfung“ und schmähte es inoffiziell als „Reichsaffenhaus“. Gegen Wallot entwickelte er eine deutliche persönliche Aversion, vermutlich weil der seinen Änderungswunsch spontan abgelehnt hatte. Er verweigerte dem Architekten mehrere Auszeichnungen, für die er vorgesehen war. Seinem Vertrauten Philipp zu Eulenburg teilte er brieflich mit, es sei ihm gelungen, Wallot im persönlichen Gespräch mehrfach zu beleidigen. Paul Wallot entwickelte den Bau in dem für Regierungsbauten üblichen zeitgenössischen Stil des Historismus: Für die Außenform verwendete er hauptsächlich Formen der italienischen Hochrenaissance (Neorenaissance) und verband sie mit einigen Elementen der deutschen Renaissance, mit etwas Neobarock und einer damals hochmodernen Stahl- und Glaskonstruktion der Kuppel. Das Ergebnis empfanden viele Zeitgenossen nicht als gelungene Synthese, sondern als wenig überzeugendes Neben- und Durcheinander. Traditionalisten lehnten die technische Modernität der Kuppel ab; jüngere Kritiker konnten sich nicht mit dem massiven Quaderbau im Stil der Renaissance anfreunden. Besonders drastisch urteilte der einflussreiche Berliner Stadtbaurat und erfolgreiche Architekt Ludwig Hoffmann: Er nannte das Gebäude einen „Leichenwagen erster Klasse“. Andere Quellen wird berichten aber, dass die Mehrheit der deutschen Architekten den Bau nachdrücklich gelobt habe. Am 5. Dezember 1894 fand die Schlussstein-Setzung statt. Wieder war es eine vorwiegend militärische Veranstaltung. Wallot führte den Kaiser durch das Gebäude; Wilhelm II. ließ öffentlich nur anerkennende Worte hören. In seiner Thronrede zur Reichstagseröffnung sagte der Kaiser: Die Baukosten betrugen 24 Millionen Goldmark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund  Millionen Euro). Sie wurden aus den Reparationen beglichen, die Frankreich nach dem verlorenen Krieg von 1870/1871 zu zahlen hatte. Innenausstattung Das Reichstagsgebäude war für seine Aufgaben im Allgemeinen gut vorbereitet. Die Haustechnik war ganz auf der Höhe der Zeit. Ein eigenes Kraftwerk versorgte das Gebäude mit elektrischem Strom. Es gab eine zentrale Heizungssteuerung mit Temperaturfühlern, elektrische Ventilatoren, Doppelfenster, Telefone, Toiletten mit Wasserspülung und dergleichen. Außer den Sitzungssälen für Reichstag und Bundesrat waren vorhanden: ein Lesesaal, diverse Sprechzimmer, ein Erfrischungsraum, Garderoben, Wasch- und Umkleideräume usw. Die Bibliothek umfasste 90.000 Bände, als sie eingerichtet wurde, und war auf 320.000 Bände ausgelegt. Das Reichstagsarchiv enthielt schon bald Millionen von Schriftstücken, die mit einem sinnreichen pneumatischen Aufzugssystem in den Lesesaal geschickt werden konnten. Ein Mangel allerdings war bald zu erkennen – es fehlte an ausreichenden Arbeitsräumen für alle Abgeordneten. Im Vergleich zu anderen europäischen Parlamentsbauten war das Gebäude mit seiner Grundfläche von 138 m × 96 m relativ klein. Die Nöte eines fiktiven Abgeordneten wurden so beschrieben: „Was nützten ihm […] die feingeschnitzten Holzpaneele, die einzig schöne Aussicht auf den Königsplatz […], wenn er keinen leeren Stuhl fand und keinen freien Arbeitstisch zum ruhigen Lesen und Schreiben?“ Auch Umbauten in den folgenden Jahren konnten das Problem nicht beseitigen. Das Verhältniswahlrecht der Weimarer Republik ließ die Zahl der Abgeordneten dann sogar von 397 auf über 600 ansteigen. Gegen Ende der 1920er Jahre wurden Erweiterungsbauten nördlich des Reichstags geplant, für die ein Architektenwettbewerb veranstaltet wurde. Die Planungen wurden allerdings nicht mehr ausgeführt. Für die Innenräume wurde ein beschränkter Wettbewerb ausgeschrieben, zu dem u. a. Gustav Schönleber, Eugen Bracht und Franz Stuck eingeladen wurden. Schmuckformen – Giebel mit Fächerrosetten über den Türen, Obelisken, gedrechselte Säulen, Girlanden und allegorische Figuren – waren in repräsentativen Renaissancegebäuden, zum Beispiel in den Rathäusern wohlhabender Städte, oft in großer Fülle angebracht und schmückten nun ganz ähnlich auch das Reichstagsgebäude. Diese aufwendige Gestaltung wurde von Betrachtern als typisch deutsch aufgefasst und war auch so gemeint – als Gegengewicht und Ergänzung zu einer Außenansicht, die trotz anderer Zutaten vor allem den Eindruck der damals weitverbreiteten „internationalen Neorenaissance“ vermittelte. Die meisten Räume, auch der große Sitzungssaal, waren in gängiger historistischer Formensprache mit Holz ausgekleidet – mit Eiche, Esche, gebeizter Kiefer und Tropenhölzern. Zum Teil sprachen raumakustische Gründe dafür; jedenfalls war Holz preiswerter als Stein. Ganz wesentlich ging es aber auch um Stilfragen; denn Wallot entwarf die Innenräume, einschließlich des Mobiliars, großenteils im Stil der deutschen Renaissance des 16. und 17. Jahrhunderts. Zahlreiche Glasfenster entwarf und produzierte der Frankfurter Glasmaler Alexander Linnemann, der mit Wallot befreundet war. Weitere Verzierungen Die künstlerische Ausgestaltung war mit der Schlusssteinlegung 1894 noch nicht abgeschlossen. Sie war vor allem darauf angelegt, die 1871 hergestellte Einheit des Reiches auszudrücken. Das Reichswappen im Giebel über dem Haupteingang und die Kaiserkrone auf der Kuppelspitze symbolisierten das erreichte Ziel, ebenso eine Germaniagruppe von Reinhold Begas über der Spitze des Hauptportals. Andererseits wurde an vielen Stellen darauf Bezug genommen, dass das Deutsche Reich sich aus mehreren Staaten zusammensetzte – etwa mit den Wappen der deutschen Staaten (einschließlich der Hansestädte) und mit den personifizierten Flüssen Rhein und Weichsel, die links und rechts des Hauptportals zu sehen sind, sowie weiteren (heute nicht mehr vorhandenen) deutschen Städtewappen und Flusssymbolen in den Fenstern der Westfassade. Dazu kamen zeitgemäß bevorzugte Motive wie die 16 Figuren an den Ecktürmen. Sie stehen teils in Bezug zu den damaligen Räumen im Inneren (Bibliothek unter dem Nordostturm, Erfrischungsraum unter dem Südwestturm), lassen aber auch Bezüge zu den Himmelsrichtungen erkennen (Schifffahrt und Großindustrie im Nordwesten Deutschlands, Weinbau im Südwesten u. a.). Dabei standen die vier Ecktürme zugleich für die vier Königreiche innerhalb des Kaiserreiches, Bayern, Preußen, Sachsen und Württemberg. Um auch selbst dem Gedanken der Reichseinheit Rechnung zu tragen – und um regionale Eifersüchteleien möglichst zu vermeiden –, war der Architekt bei der Auswahl der Künstler für das Dekorationsprogramm darauf bedacht, Mitarbeiter aus allen Landesteilen Deutschlands heranzuziehen. Im Frühjahr 1896 wurden an der Ostseite des Gebäudes zwei von dem Münchener Bildhauer Rudolf Maison aus Kupfer geschaffene Reiterstatuen von Reichsherolden aufgestellt. Wallot, von den ständigen, oft unsachlichen Auseinandersetzungen nun doch zermürbt, nahm 1899 eine Professur in Dresden an, wurde aber bis zu seinem Tode im Jahr 1912 wegen der künstlerischen Ausschmückung des Reichstags immer wieder konsultiert. Widmungsinschrift Wallot hatte als Widmung des Gebäudes bestimmt, dass der Architrav des Westportals die Inschrift „Dem deutschen Volke“ erhalten solle – was auf eine lebhafte publizistische Debatte, mutmaßliche Ablehnung beim Kaiser und eine Reihe von Gegenvorschlägen stieß. Deshalb blieb die vorgesehene Stelle über 20 Jahre lang leer. Während des Ersten Weltkriegs gab der Unterstaatssekretär im Reichskanzleramt, Arnold Wahnschaffe, den Anstoß, die Inschrift jetzt anzubringen, um dem Ansehensverlust des Kaisers in der Bevölkerung entgegenzuwirken. Der Kaiser ließ mitteilen, eine ausdrückliche Genehmigung der Inschrift werde er nicht erteilen; er habe aber keine Bedenken, wenn die Reichstagsausschmückungs-Kommission eine solche beschließe. Einen Tag später gab der Präsident des Reichstags, Johannes Kaempf, bekannt, dass die Inschrift nun angebracht werden solle. Architekt und Industriedesigner Peter Behrens legte im Herbst 1915 den Gestaltungsentwurf des Schriftzuges vor. Er wurde aus zwei erbeuteten und eingeschmolzenen Geschützrohren aus den Befreiungskriegen 1813–1815 mit 60 cm hohen Buchstaben in der Gießerei S. A. Loevy hergestellt und zwischen dem 20. und dem 24. Dezember 1916 angebracht. Nach dem Totalumbau des Gebäudes im beginnenden 21. Jahrhundert wurde in der Öffentlichkeit noch einmal um das Zitat gestritten: Kritiker brachten zum Ausdruck, dass mit „Dem deutschen Volke“ lediglich die deutsche (Ur-)Bevölkerung angesprochen würde. Die inzwischen zahlreichen Zuwanderer aus anderen Ländern seien ausgeschlossen. So entstand im Rahmen der Kunst am Bau eine Art Gegenprojekt: In einem der Innenhöfe des Gebäudes legte der Konzeptkünstler Hans Haacke einen längsrechteckigen Garten an, in den die aus allen Teilen Deutschlands kommenden Abgeordneten Erde und Pflanzen aus ihrem Herkunftsgebiet mitbrachten und einpflanzten. Dieser Garten trägt die aus großen weißen Versalien gebildete und von oben deutlich sichtbare Inschrift „Der Bevölkerung“. Wettbewerbe um die Erweiterung des Reichstags am Ende der 1920er Jahre Um architektonisch und städtebaulich geeignete Möglichkeiten zur Erweiterung der Bürokapazitäten für Abgeordnete und Reichstagsverwaltung zu sondieren, wurde die Hochbauabteilung des preußischen Finanzministeriums unter Leitung Martin Kießlings Ende der 1920er Jahre damit beauftragt, Architektenwettbewerbe durchzuführen. Diese knüpften an einen 1912 durchgeführten Wettbewerb zur Neugestaltung des Königsplatzes an, den der Architekt Otto March gewonnen hatte. Die Aufgabenstellung der Wettbewerbe und die abgegebenen Entwürfe wurden 1930 in der Zeitschrift Städtebau von ihrem Herausgeber Werner Hegemann leidenschaftlich kommentiert. Hegemann übte an dem bestehenden Reichstagsgebäude, dessen Abriss er wegen seiner „maßstabslosen“, „plumpen“ und „zuchtlosen Bauformen“ befürwortete, massive Kritik und sprach sich für einen Büroturm nördlich des Reichstages als vorzugswürdige Lösung aus. Unter den 17 Wettbewerbsteilnehmern befanden sich Karl Wach aus Düsseldorf, Georg Holzhauer und Franz Stamm aus München, Hans Heinrich Grotjahn aus Leipzig, Wilhelm Kreis aus Dresden, Heinrich Straumer aus Berlin, Paul Meißner aus Dresden, German Bestelmeyer aus München, Adolf Abel aus Köln, Gottlob Schaupp aus Frankfurt am Main sowie Rudolf Klophaus, August Schoch und Erich zu Putlitz aus Hamburg. Wegen Geldmangels – Deutschland war von der Weltwirtschaftskrise stark betroffen – kam keiner der Entwürfe zur Ausführung. Allein die im Rahmen der Wettbewerbe angeregte Versetzung der Berliner Siegessäule wurde 1938/1939 verwirklicht. Reichstagsbrand und Zeit des Nationalsozialismus Am 30. Januar 1933 ernannte der Reichspräsident Paul von Hindenburg den NSDAP-Führer Adolf Hitler zum Reichskanzler; am 1. Februar löste er den Reichstag auf. In der Nacht zum 28. Februar 1933 schlugen Flammen aus der Kuppel des Reichstagsgebäudes. Der Plenarsaal und einige umliegende Räume brannten aus. Es handelte sich eindeutig um Brandstiftung; die Schuldfrage ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt. Die Nationalsozialisten waren Nutznießer des Brandes. Noch in derselben Nacht gingen sie mit massivem Terror gegen politische Gegner vor. Sie veranlassten den Reichspräsidenten, am folgenden Tag die Reichstagsbrandverordnung zum Schutz von Volk und Staat zu unterzeichnen. § 1 setzte die wesentlichen Grundrechte zeitweilig außer Kraft, § 5 ermöglichte die Todesstrafe für das politische Delikt „Hochverrat“. Die konstituierende Sitzung des neuen Parlaments am 21. März 1933, dem „Tag von Potsdam“, fand nach dem Reichstagsbrand statt. Entgegen einer weitverbreiteten Meinung hat Hitler niemals eine Rede im Reichstagsgebäude gehalten. Hitler hielt alle seine Reichstagsreden in der zum Parlamentsgebäude umfunktionierten Krolloper. Im Mai 1933 wurde der niederländische Kommunist Marinus van der Lubbe zusammen mit prominenten Mitgliedern der kommunistischen Partei, unter ihnen der Bulgare Georgi Dimitroff, vor dem Reichsgericht in Leipzig wegen der Brandstiftung angeklagt. Die Anklage versuchte, den Brand als Signal für einen bewaffneten Staatsstreich darzustellen. In dem politischen Schauprozess erhielt van der Lubbe aufgrund eines zweifelhaften Geständnisses und zuvor hastig geänderter Rechtsvorschriften die Todesstrafe und wurde im Januar 1934 hingerichtet. Die Mitangeklagten mussten aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden. Als Propagandaveranstaltung war der Prozess für die Veranstalter ein Desaster, vor allem wegen der rhetorischen Überlegenheit Dimitroffs in seinen Rededuellen mit Joseph Goebbels und Hermann Göring. Während der Reichstag, in dem seit Juli 1933 nur noch nationalsozialistische Abgeordnete saßen, gegenüber in der Krolloper tagte, wurde die Kuppel des Reichstagsgebäudes notdürftig instand gesetzt, der zerstörte Plenarbereich jedoch nicht. Im Haus wurden Propaganda-Ausstellungen wie „Der ewige Jude“ und „Bolschewismus ohne Maske“ gezeigt. Zeitweilig waren hier auch Modelle der geplanten „Welthauptstadt Germania“ untergebracht, einer städtebaulichen Großmachtphantasie, die Albert Speer in engem Kontakt mit Hitler entworfen hatte. Die „Halle des Volkes“ mit ihrer Kuppelhöhe von 290 Metern, die unmittelbar neben dem Reichstagsgebäude entstehen sollte, hätte dieses nach dem Urteil eines heutigen Autors „auf die relative Größe einer Außentoilette“ schrumpfen lassen. Im Jahre 1938 wurde im Rahmen der Planung für die Nord-Süd-Achse entschieden, das Gebäude zu erhalten und durch Woldemar Brinkmann umbauen zu lassen, wobei der Plenarsaal vergrößert werden sollte. Man beabsichtigte, das Reichstagsgebäude nach dem Umbau „wieder seiner Bestimmung als Versammlungsstätte des Reichstages“ zuzuführen. Im Zweiten Weltkrieg diente das Gebäude mit vermauerten Fenstern als Luftschutzbunker. Die AEG produzierte dort Elektronenröhren, ein Lazarett wurde eingerichtet, und von 1943 bis 1945 war hier die gynäkologische Station der nahegelegenen Charité untergebracht. Etwa 60–100 Kinder wurden im Reichstagsgebäude geboren. Außerdem wurden auf zwei Plattformen neben der Kuppel gemäß einer Festlegung des Führungsstabes beim Reichsminister der Luftfahrt vom September 1940 Flakbatterien installiert. Die Rote Armee sah im Reichstagsgebäude eines der Schlüsselsymbole des nationalsozialistischen Deutschlands. Während der Schlacht um Berlin wurde der Reichstag nach heftigen Kämpfen, die vom 28. April bis zum späten Abend des 1. Mai 1945 andauerten, von der 150., 171. und 207. Infanteriedivision des 79. Infanteriekorps der 3. Stoßarmee der 1. Weißrussischen Front und anderen Kampfverbänden eingenommen. Neun rote Sowjetfahnen waren aus Moskau eingeflogen worden. Am 30. April 1945 wurde die Fahne der 150. Schützendivision als „Banner des Sieges“ zunächst über dem Eingangsportal und dann gegen 22:40 Uhr auf dem Dach des Gebäudes aufgepflanzt. Politoffiziere verbreiteten später, die Fahne habe bereits gegen 14:25 Uhr über Berlin geweht. Gegen 15 Uhr hatte der Befehlshaber der 3. Stoßarmee, General Kusnezow, im Gefechtsstand bei Marschall Schukow angerufen und diesem gemeldet: „Unser rotes Banner weht auf dem Reichstag!“ Er teilte Schukow aber auch mit: „An einigen Stellen der oberen Stockwerke und in den Kellern wird immer noch gekämpft.“ Das später zur Medienikone gewordene Foto Auf dem Berliner Reichstag, 2. Mai 1945 des Militärfotografen Jewgeni Chaldej zu diesem Ereignis musste wegen der damals anhaltenden Kämpfe kurz danach nachgestellt werden; erst am Abend des 1. Mai kapitulierten die letzten Verteidiger im Keller des Hauses. Das Foto symbolisiert das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, gleichzeitig das Ende von Hitler-Deutschland und damit den Sieg über den deutschen Faschismus. Zeit der deutschen Teilung Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs stand das zuletzt heftig umkämpfte Reichstagsgebäude als Teilruine in einer von Trümmern geprägten Umgebung. Die Freiflächen ringsherum dienten der hungernden Bevölkerung zum Anbau von Kartoffeln und Gemüse. Am 22. November 1954 wurde die Kuppel gesprengt – wegen angeblicher statischer Unsicherheit und um das beschädigte Gebäude zu entlasten. Diese Begründung wird in kritischen Texten als „fragwürdig“ bezeichnet. In den folgenden Jahren beschränkte sich die neu gegründete Bundesbauverwaltung darauf, das Bauwerk zu sichern. Im Jahr 1955 beschloss der Bundestag die völlige Wiederherstellung. Allerdings war die Art der Nutzung im geteilten Deutschland noch ungewiss. Der Architekt Paul Baumgarten erhielt 1961 als Gewinner eines zulassungsbeschränkten Wettbewerbs den Auftrag für Planung und Leitung des Wiederaufbaus, der 1973 beendet war. Zahlreiche Schmuckelemente der Fassade fielen weg, die Ecktürme wurden in der Höhe reduziert, auf eine neue Kuppel verzichtete man. Die beschädigte, aber in großen Teilen erhaltene, aufwendige Innenarchitektur wurde fast vollständig entfernt. Die Überreste verschwanden hinter Abdeckplatten; neue Zwischengeschosse vergrößerten die Nutzfläche und veränderten dabei weitgehend die ursprüngliche Raumstruktur. Der Plenarsaal wurde gut doppelt so groß und hätte alle Abgeordneten eines wiedervereinigten Deutschland aufnehmen können. Seit dem Viermächte-Abkommen von 1971 durften keine Plenarsitzungen des Bundestages in Berlin abgehalten werden. Nur Ausschuss- oder Fraktionssitzungen waren in den neu eingerichteten Räumen möglich. Baumgartens Eingriffe (deren Kosten 110 Millionen Mark betrugen) – von der Bundesbaudirektion unterstützt oder vorgeschrieben – erscheinen heute allzu rigoros, erklären sich aber aus der historischen Situation. Er verwendete die Formensprache seiner Zeit, der Moderne der 1960er Jahre. Dekorative Gestaltung war tabu. Gerade Linien und glatte Flächen dominierten. Insbesondere die repräsentativen Bauten des ausgehenden 19. Jahrhunderts galten als schwülstig, überladen, wenig erhaltenswert. Denkmalpflegerische Gesichtspunkte hatten kaum Gewicht. Dazu kam im Falle des Reichstagsgebäudes ein spezielles Motiv, jenseits ästhetischer Erwägungen: das Haus war ursprünglich, trotz seiner parlamentarischen Bestimmung, das Symbol einer vordemokratischen Staatsform gewesen. Darauf folgten eine schwache Demokratie und eine brutale Diktatur. Gerade hatten die Deutschen zu einer noch jungen Demokratie zurückgefunden. Es schien also nur folgerichtig, sich mit deutlichen Einschnitten, mit einer strikt zeitgenössischen Ästhetik erkennbar von der Vergangenheit abzusetzen. Während der Teilung Berlins lag das Reichstagsgebäude im Britischen Sektor, aber die Berliner Mauer verlief unmittelbar an der Ostseite des Gebäudes. Der „einsame, zerschossene Reichstag“ wurde zum Symbol – als „Sandsteinkoloß im Niemandsland zwischen den feindlichen Weltsystemen“. Im Gebäude war ein Museum über den Bundestag und die Geschichte des Reichstagsgebäudes eingerichtet. Für ausländische Staatsgäste gehörte der Besuch der Außenterrassen mit Blick über die Berliner Mauer zum üblichen Programm. Seit 1971 wurde im Gebäude die Ausstellung „Fragen an die Deutsche Geschichte“ gezeigt und von mehreren Millionen Interessenten besucht. Auf Initiative von Bundeskanzler Helmut Kohl und seinem Bundesbauminister Oscar Schneider wurde 1985 ein Gutachten bei Gottfried Böhm von der RWTH Aachen eingeholt, wie das Gebäude künftig – insbesondere im Fall einer Wiedervereinigung – genutzt werden könnte und welche Umbauten dafür erforderlich wären. Das Gutachten wurde vertraulich behandelt. Böhm entwarf bis 1988 eine für Besucher begehbare Glaskuppel, die Offenheit und demokratische Teilhabe symbolisieren sollte. Nach der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 fand am 4. Oktober die erste Sitzung des Deutschen Bundestags im wiedervereinigten Deutschland im Reichstagsgebäude statt; erstmals mit den 144 Abgeordneten, die von der frei gewählten Volkskammer für die Zeit bis zur ersten gesamtdeutschen Wahl in den Bundestag entsandt wurden. In der Sitzung wurden die neuen Bundesminister vereidigt und Bundeskanzler Helmut Kohl gab seine Regierungserklärung ab. Umbau nach der Wiedervereinigung Grundsatzbeschluss und seine Umsetzung „Sitz des Deutschen Bundestages ist Berlin“ – dies bestimmte der Bundestag nach einer intensiven und kontrovers geführten Debatte im Hauptstadtbeschluss am 20. Juni 1991 in Bonn mit einer knappen Mehrheit von 338 zu 320 Stimmen. Der Ort für die Plenarsitzungen sollte das Reichstagsgebäude sein. Die Umsetzung dieses Beschlusses erforderte einen Umbau zu einem modernen Parlamentsgebäude. Dieser dauerte bis 1999. Der 14. Deutsche Bundestag verabschiedete sich in Bonn in die parlamentarische Sommerpause und trat am 8. September 1999 erstmals im neuen Plenarsaal des Reichstagsgebäudes zusammen. Wettbewerb Für den Umbau des Reichstagsgebäudes wurde 1993 ein Realisierungswettbewerb ausgeschrieben. Die wesentlichen Planungskriterien waren Transparenz, Übersichtlichkeit und eine vorbildliche Energietechnik. Aus 80 eingereichten Entwürfen wurden drei Preisträger gleichrangig ausgewählt: Foster + Partners (England), Pi de Bruijn (Niederlande) und Santiago Calatrava (Spanien). Norman Foster hatte ein freistehendes, transparentes Dach über dem eigentlichen Gebäude und Teilen der Umgebung geplant – ein Vorschlag, der aus ästhetischen Erwägungen („Deutschlands größte Tankstelle“), aber auch wegen der zu erwartenden Kosten von 1,3 Milliarden Mark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund  Millionen Euro) keine ausreichende öffentliche Zustimmung fand. In einer Überarbeitungsphase setzte er sich dann mit einem völlig neuen Entwurf gegen seine beiden Mitwettbewerber durch. Auch in dem neuen Entwurf hatte Foster für das Dach des Reichstags keine Kuppel vorgesehen. In seinen Erläuterungen distanzierte er sich sogar ausdrücklich von jeder Erhebung auf dem Dach, die „aus rein symbolischen Gründen“ gebaut würde; weder einen Schirm (ähnlich dem ursprünglichen Entwurf) noch eine Kuppel könne er empfehlen. Diese Position ließ sich nicht halten. In den Jahren 1994/1995 mussten auf Druck der politischen Entscheidungsträger die Vorschläge für die Gestaltung des Daches mehrfach überarbeitet werden. Am 8. Mai 1995 wurde Fosters endgültiger Entwurf für eine gläserne, begehbare Kuppel vorgestellt, dem die Abgeordneten zustimmten. Der Architekt Calatrava erhob daraufhin den Vorwurf, dies sei ein Plagiat seines eigenen Wettbewerbsbeitrags, der eine transparente Kuppel ähnlicher Form vorsah. Nach Gutachten und Gegengutachten setzte sich die Ansicht der meisten Fachleute durch, wonach für ein traditionelles architektonisches Gestaltungselement wie eine Kuppel kein besonderer Rechtsschutz beansprucht werden könne. Außerdem hatte schon anlässlich der Ausrichtung des Wettbewerbs 1992 Gottfried Böhm seinen Entwurf für eine Kuppel veröffentlicht, die er 1988 im Auftrag des Bundeskanzlers Helmut Kohl entworfen hatte. Dieser Entwurf zeigt bereits eine Glaskonstruktion mit spiralförmig aufsteigenden Gehwegen für Besucher und ist offensichtlich die Grundlage für die schließlich von Norman Foster widerwillig realisierte Kuppel. Der Auftrag an Foster für den Umbau des Parlamentssitzes war mit der strikten Auflage verbunden, dass die Gesamtkosten 600 Millionen Mark nicht übersteigen durften, einschließlich aller Aufwendungen für die Kuppel sowie der Nebenkosten und Honorare. Verhüllter Reichstag Das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude hatte sein Projekt „Verhüllter Reichstag“ () seit 1971 propagiert. Im Januar 1994 fand im Bonner Bundestag eine abschließende Plenardebatte darüber statt, ob ein nationales Symbol von der Bedeutung des Reichstags Objekt einer solchen Kunstaktion werden sollte. Die Mehrheit stimmte dafür. Vom 24. Juni bis zum 7. Juli 1995 war das Gebäude vollständig mit silberglänzendem, feuerfestem Gewebe verhüllt und mit blauen, gut drei Zentimeter starken Seilen verschnürt. Die sommerliche Aktion nahm rasch den Charakter eines Volksfestes an. Fünf Millionen Besucher waren in den zwei Wochen anwesend. Die Resonanz in den internationalen Medien machte das Reichstagsgebäude weltweit bekannt. Innenausbau Die letzte Veranstaltung im Reichstagsgebäude vor dem Umbau fand am 2. Dezember 1994 statt. Ende Mai 1995 waren die Vorbereitungen für die Bauarbeiten abgeschlossen – die Asbestsanierung und die Freilegung ursprünglicher Gebäudestrukturen. Zahlreiche Originalbestandteile wurden geborgen und später in den fertigen Bau einbezogen. Respekt vor der historischen Gebäudesubstanz war eine der Forderungen, die an die Architekten gestellt worden waren. Spuren der Geschichte sollten auch nach dem Umbau sichtbar bleiben. Dazu gehören auch Graffiti sowjetischer Soldaten in kyrillischer Schrift aus den Maitagen 1945, die nach der Eroberung Berlins angebracht wurden („Hitler kaputt“, „Kaukasus-Berlin“). Texte mit rassistischen oder sexistischen Aussagen wurden in Abstimmung mit russischen Diplomaten entfernt, die Übrigen werden im umgebauten Reichstag gezeigt. Ende Juli 1995 – unmittelbar nach dem „Verhüllten Reichstag“ – begannen die eigentlichen Umbauarbeiten. Zunächst wurden die Um- und Einbauten Baumgartens aus den 1960er Jahren beseitigt; 45.000 Tonnen Schutt waren abzutransportieren. Um die Stabilität des geänderten Gebäudes zu garantieren, kamen zu den 2300 Stützpfählen, die Paul Wallot einst im Untergrund des Gebäudes hatte versenken lassen, 90 neue hinzu. Mit dem Rohbau konnte im Juni 1996 begonnen werden. Im Zentrum des Gebäudes entstand ein Neubau im Altbau. Er umfasst hauptsächlich den Plenarsaal, der sich über alle drei Hauptgeschosse erstreckt. Er ist 1200 m² groß (bei Wallot waren es 640 m², bei Baumgarten 1375 m²) und wurde so verändert, dass das Präsidium jetzt wieder auf der Ostseite platziert ist wie in der Anfangszeit des Gebäudes. Der Plenarsaal wird zusätzlich durch ein Spiegelsystem erhellt, das Tageslicht von der Kuppel in den Saal umleitet. Besucher erreichen die Tribünen im Plenum über ein eigens eingebautes Zwischengeschoss. Im zweiten Stock befinden sich Büro- und Empfangsräume des Bundestagspräsidenten und der Sitzungssaal des Ältestenrates; im dritten Obergeschoss sind die Büroräume der Abgeordneten und der Fraktionen sowie die zentrale Presselobby untergebracht. Eine Dachterrasse mit Restaurant für die Abgeordneten ist nach vorheriger Sicherheitsüberprüfung auch für die Öffentlichkeit zugänglich. Haustechnik, Küche und Garderobe befinden sich im Erdgeschoss und im Keller. Die Nord- und Südflügel, etwa zwei Drittel des Gebäudes, verblieben als historischer Bestand und wurden lediglich saniert. Im Neubau kamen zeitgemäße Materialien wie Sichtbeton, Glas und Stahl zum Einsatz, im Altbaubereich vorwiegend Kalk- und Sandstein in hellen, warmen Farbtönen. Ein neu entwickeltes Farbkonzept soll zur Übersichtlichkeit im Gebäude beitragen. Insgesamt neun, zum Teil sehr kräftige Farben kennzeichnen verschiedene Bereiche. Die Räume erhielten umlaufende starkfarbige Holzpaneele – was in Bezug auf die dort gezeigten Kunstwerke zum Teil als problematisch empfunden wurde. Bestuhlung Für die Bestuhlung war zunächst Hellgrau vorgesehen, doch die Abgeordneten des Bundestages wehrten sich dagegen. Daraufhin beauftragte Foster den dänischen Designer Per Arnoldi, einen anderen Farbton zu finden; heraus kam Reichstag-Blue. Die Form der Bestuhlung, auf der die Abgeordneten und Regierungsmitglieder Platz nehmen, heißt Figura. Kuppel Die nachträglich konzipierte Kuppel, ohne Anlehnung an ihr historisches Vorbild, hat sich zur vielbesuchten Attraktion und zu einem Wahrzeichen Berlins entwickelt. Angemeldete Besucher können das Gebäude durch das Westportal betreten. Nach einer Sicherheitskontrolle können sie mittels eines Aufzuges zunächst auf das 24 Meter hoch gelegene begehbare Dach (im hinteren Bereich der Dachterrasse befindet sich das kleine Restaurant Käfer) gelangen. Die dort aufgelagerte Kuppel hat die Gestalt eines halben Rotationsellipsoids mit einem Durchmesser von 38 m und einer Höhe von 23,5 m. Ihr Stahlskelett besteht aus 24 senkrechten Rippen in Abständen von 15° und 17 waagerechten Ringen in Abständen von 1,65 m mit einer Masse von rund 800 Tonnen, verkleidet mit 3000 m² Glas mit einer Masse von etwa 240 Tonnen. An der Innenseite winden sich zwei rund 1,8 m breite und um 180° versetzte spiralförmige Rampen von jeweils 230 m Länge zu einer Aussichtsplattform hinauf – 40 m über Bodenniveau – beziehungsweise entgegengesetzt wieder hinunter zur Dachterrasse. Die Scheitelhöhe der Kuppel liegt bei 47 m über dem Boden – deutlich niedriger als bei Paul Wallot. Bis November 2010, solange die Kuppel frei zugänglich war, wurden täglich im Durchschnitt 8000 Besucher gezählt. Die Zahl fiel stark, als der Zugang aus Sicherheitsgründen beschränkt wurde, liegt aber inzwischen bei durchschnittlich drei Millionen Besuchern pro Jahr. Zwischen 2002 und 2019 hat der Besucherdienst des Bundestages 42,3 Millionen Gäste betreut, die das Gebäude samt Kuppel besichtigt haben. Die Besucher konnten auch Debatten verfolgen oder sich durch das Haus führen lassen. Aufgrund von Terrorwarnungen (die Berliner Morgenpost sprach von einer „Gefahr islamistischer Anschläge“) war die Kuppel vom 22. November bis zum 4. Dezember 2010 für Besucher geschlossen. Danach war sie für Einzelpersonen und Gruppen wieder geöffnet, allerdings nur nach vorheriger Online-Anmeldung. Seit Juli 2012 ist eine Anmeldung vor Ort mit einem Vorlauf von zwei Stunden möglich. Integriertes Energiekonzept Beim Umbau des Reichstagsgebäudes in den 1990er Jahren entstand ein Bauwerk, das in seiner Berücksichtigung ökologischer Faktoren für Planer und Ingenieure vorbildlich sein sollte. Das Heiz- und Energiesystem besteht aus einer Kombination von Solartechnik und mechanischer Belüftung, der Nutzung des Untergrundes als saisonaler Kälte- und Wärmespeicher (Geothermie), Blockheizkrafttechnik, Kraft-Wärme-Kopplung und der Verwertung nachwachsender Rohstoffe. Spezielle Verglasungen und Dämmungen verringern Wärmeverluste. Eine Solarstromanlage von mehr als 300 m² auf dem Dach des Reichstagsgebäudes und zwei Blockheizkraftwerke, die mit Bio-Dieselkraftstoff aus Mecklenburg-Vorpommern betrieben werden, können zusammen 82 Prozent des Strombedarfs des Reichstags und der umliegenden Parlamentsgebäude liefern. Im Sommer nutzen Absorptionskältemaschinen einen Teil der Abwärme der Motoren, um die Gebäude zu kühlen. Ein anderer Teil wird dazu verwendet, salzhaltiges Wasser, das aus einem Reservoir in rund 300 Metern Tiefe unter dem Gebäude hochgepumpt wird, auf etwa 70 °C zu erhitzen. Danach wird es wieder in den Untergrund geleitet und dort gespeichert; im Winter steht es zur Beheizung der Gebäude zur Verfügung. Ein anderes Wasservorkommen in 60 Metern Tiefe kann die winterliche Kälte speichern und bei besonders hohen Sommertemperaturen zur Klimatisierung der Bauwerke beitragen. Durch diese und einige weitere Faktoren werden die jährlichen CO2-Emissionen des Reichstagsgebäudes von rund 7000 auf 400 bis 1000 Tonnen reduziert. Bei einer Nettogrundfläche von 40.047 m² liegt der Energiebedarf bei 270,9 kWh/(m² × a), was deutlich unter dem EnEV-Anforderungswert für modernisierte Altbauten und sogar für Neubauten liegt. Auch die Kuppel, die vor allem als prägnantes architektonisches Element wahrgenommen wird, ist in das Energiekonzept einbezogen. Sie dient zugleich der Belichtung und der Entlüftung des darunter gelegenen Plenarsaals. Tageslicht wird über 360 trichterförmig angeordnete Spiegel in den Saal geleitet. Um blendfreies Licht zu gewährleisten und bei starker Sonneneinstrahlung eine zu große Aufheizung zu verhindern, kann ein Teil der Spiegel durch einen beweglichen, computergesteuerten, je nach Sonnenstand wirksamen Schirm abgedeckt werden. Im Inneren des Spiegeltrichters wird verbrauchte Luft über eine Abluftdüse zum höchsten Punkt des Gebäudes geleitet und entweicht durch eine kreisrunde Öffnung in der Kuppelmitte; auf diesem Weg passiert sie noch eine Wärmerückgewinnungsanlage, die ihr verwertbare Restenergie entziehen kann. Eine Vorrichtung unmittelbar unter der Kuppelöffnung fängt Regenwasser ab. Für die Versorgung des Reichstags mit Frischluft hatte Wallot Belüftungsschächte einbauen lassen. Diese Schächte wurden jetzt wieder freigelegt und nutzbar gemacht. Fertigstellung Am 19. April 1999 fand die symbolische Schlüsselübergabe an den Präsidenten des Deutschen Bundestages Wolfgang Thierse sowie eine erste Plenarsitzung statt. Der Umbau war nach rund vier Jahren Bauzeit termin- und kostengerecht abgeschlossen. Der eigentliche Umzug des Bundestages erfolgte in der Sommerpause; mit der Sitzung vom 8. September 1999 nahm das Parlament die reguläre Arbeit im Reichstagsgebäude auf. Besucherzentrum Provisorium Bedingt durch Sicherheitsmaßnahmen stehen seit 2011 Container südwestlich des Reichstagsgebäudes, durch die angemeldete Besucher des Bundestages zu Führungen gelangen. Bund und Land Berlin prüften im Lauf des Jahres 2012, ob es sinnvoll wäre, ein unterirdisches Besucherzentrum nach dem Vorbild das Besucherzentrum des US-Parlaments in Washington zu errichten. Allerdings entschloss sich die Bau- und Raumkommission des Ältestenrates des Bundestages Ende 2015, an der Scheidemannstraße gegenüber dem Reichstagsgebäude ein „Besucher- und Informationszentrum“ (BIZ) zu planen. Von dieser zentralen Anlaufstelle sollen Besucher durch einen Tunnel den Reichstag betreten können. Dazu wurde ein Architektenwettbewerb ausgeschrieben, der im Januar 2017 von einem Schweizer Architektenbüro gewonnen wurde. Trotz einer geplanten Fertigstellung im Jahr 2023 wurde allerdings kein Termin zum Baubeginn festgelegt, weshalb Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki im Juli 2018 erklärte, das Vorhaben voranbringen zu wollen. Obwohl Kubicki im September 2018 das geplante 6600 m² große Gebäude mit Verweis auf das zehnmal größere Besucherzentrum des Kapitols in Washington als zu klein kritisierte, möchte man u. a. aus Kostengründen an dem Schweizer Siegerentwurf festhalten. Sicherheitsgraben Nach einem Beschluss der Bau- und Raumkommission vom 6. Juli 2018 soll vor dem Westportal zusätzlich quer über den Platz der Republik ein 2,5 m tiefer und bis zu 10 m breiter Aha!-Graben sowie an den Seiten zur Rampe ein Sicherheitszaun mit Toren errichtet werden. Im Februar 2020 wurde das Vorhaben vom Bundestag mehrheitlich befürwortet; eine Genehmigung des Finanzministeriums steht noch aus. Dauerhafte Lösung Der Hauptausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses schuf mit der Zustimmung zum Grundstückskaufvertrag mit dem Bund nach langem Streit im März 2021 die Basis für nächste Schritte zu einem dauerhaften Besucherzentrum. Im Dezember 2021 schloss das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung die Entwurfs- und Genehmigungsplanung ab und übergab die Projektverantwortung an die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Mit Stand vom Januar 2022 war laut Internetseite des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung eine Kostenobergrenze von 192 Millionen Euro festgelegt, aber kein Baubeginn für das Projekt. Im April 2022 wurde bekannt, dass aufgrund von Sicherheitsbedenken weitere Umplanungen am Besucherzentrum nötig sind und ein Baubeginn erst im Jahr 2025 erfolgen könne. Die Fertigstellung ist für 2029 vorgesehen bei gesteigerten Baukosten von nun rund 250 Millionen Euro. Kunst im Reichstag Das Reichstagsgebäude ist der wichtigste Komplex im Gesamtkonzept für die künstlerische Ausgestaltung der Bauten des Deutschen Bundestages im Berliner Spreebogen. Der Kunstbeirat des Parlaments entschied über Vorschläge, die von externen Sachverständigen erarbeitet worden waren. Eine auf das Gebäude bezogene Arbeit war schon vorhanden und sollte nach dem Umbau übernommen werden. 18 weitere Künstler wurden eingeladen, neue Werke für den Reichstag zu schaffen, unter ihnen, in Hinblick auf den ehemaligen Viermächtestatus Berlins, Kunstschaffende aus England (Norman Foster als Architekt), Frankreich (Christian Boltanski), Russland (Grisha Bruskin) und den USA (Jenny Holzer). Ebenso wie die deutschen Künstler von internationalem Rang waren sie aufgefordert, mit ihren Werken zu dem geschichtsbeladenen Ort Stellung zu nehmen. Zusammen mit einer Reihe von Ankäufen und Leihgaben entstand so im Reichstag eine bedeutende Sammlung zeitgenössischer Kunst. Insgesamt sind nahezu 30 Künstler mit ihren Arbeiten vertreten. Einige Arbeiten seien hier kurz erwähnt: Katharina Sieverding gestaltete 1992 eine Erinnerungsstätte für jene Abgeordneten, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden. Ihre Rauminstallation in der Abgeordneten-Lobby zeigt ein großformatiges, fünfteiliges Fotogemälde zu den Themen Zerstörung und Wiedergeburt sowie drei Gedenkbücher, die auf Holztischen angeordnet sind. Sigmar Polke und Gerhard Richter sahen sich in der westlichen Eingangshalle vor der Aufgabe, ihre Arbeiten auf 30 Meter hohen Wänden zu platzieren. Richter entwickelte mit hintermalten Glastafeln von insgesamt 21 Meter Höhe in den Farben Schwarz, Rot und Gelb eine mehrdeutige Variation zu den deutschen Landesfarben. Polke ließ fünf Leuchtkästen mit spielerischen Bildcollagen aus Politik und Geschichte anbringen. Jenny Holzer installierte in der nördlichen Eingangshalle eine Stele, auf der senkrechte Leuchtschriftbänder ablaufen. Sie geben Reden und Zwischenrufe von Abgeordneten aus der Zeit zwischen 1871 und 1992 wieder, die auf Wunsch der Künstlerin fortlaufend aktualisiert werden sollen. In der südlichen Eingangshalle sind große Leinwände von Georg Baselitz angebracht, Gemälde mit Motiven nach Caspar David Friedrich. Diese Motive hat Baselitz, wie bei ihm seit Ende der 1960er Jahre üblich, auf den Kopf gestellt, um die Bedeutung der formalen Elemente zu verstärken. Bernhard Heisig lieferte das Gemälde Zeit und Leben. Mit Anklängen an den deutschen Expressionismus wird in einer Fülle von Einzelbildern ein Überblick über bedeutsame Motive deutscher Geschichte gegeben. Als Dauerleihgabe wurde der Tisch mit Aggregat von Joseph Beuys aufgestellt: ein aus Bronze gegossener Tisch, darauf ein Kästchen, davor am Boden zwei Kugeln, zwischen oben und unten Verbindungskabel. Eine Reflexion über den Fluss natürlicher und technischer Energien. Hans Haacke entwarf eine Installation für den nördlichen Innenhof. Ein schmaler rechteckiger Holztrog sollte von den Abgeordneten mit Erde aus ihren Wahlkreisen gefüllt werden (was nur sehr zögernd geschah). Sichtbar blieb eine Inschrift in Leuchtbuchstaben: „Der Bevölkerung“. Eventueller spontaner Pflanzenwuchs sollte sich selbst überlassen bleiben. Das Kunstprogramm wurde schon während der Auswahlphase sehr kontrovers diskutiert. Die Beteiligung Heisigs etwa rief energische Proteste hervor unter dem Vorwurf, als einst „staatsnaher“ Maler in der DDR sei er nicht berufen zu repräsentativer künstlerischer Arbeit im Parlamentsgebäude einer Demokratie. Noch heftiger verlief die Debatte um den Entwurf von Haacke. Der hatte mit seiner Leuchtschrift die zentrale Inschrift im Westgiebel („Dem Deutschen Volke“) variiert und damit den Verdacht ausgelöst, er wolle sich von deren Aussage distanzieren. Der Künstler selbst ließ wissen, er halte zwar den Volksbegriff für belastet durch die jüngere deutsche Geschichte, sehe aber in seiner Arbeit nur einen Denkanstoß, kein grundsätzlich negatives Urteil. Nach drei Sitzungen des Kunstbeirats und einer Plenardebatte wurde auch diese Arbeit akzeptiert. Die Gesamtausgaben für Kunstwerke im Reichstagsgebäude betrugen acht Millionen Mark, dies entsprach der damals rechtlich vorgegebenen Quote für Kunstprojekte bei öffentlichen Gebäuden (→ Kunst am Bau). Die Anschaffungspreise der einzelnen Kunstwerke wurden nicht veröffentlicht. Die parlamentarischen Kontroversen erinnern an eine Auseinandersetzung von 1899. Während die malerische Ausgestaltung des Reichstages bis dahin vornehmlich von Historien- und Dekorationsmalern ohne nennenswerten künstlerischen Anspruch ausgeführt worden war, erhielt nun der Münchner Maler Franz von Stuck auf Veranlassung Wallots den Auftrag, Gemälde für das Foyer des Reichstagspräsidenten zu schaffen. Er stellte zwei schmale Bilder vor, jeweils 22 Meter lang, die unterhalb der Decke montiert werden sollten. Die Zustimmung von Kollegen und Kunstsachverständigen war einhellig, die Ablehnung durch die Abgeordneten auch. Die Bilder wurden nicht angebracht. Vor der Südwestecke des Gebäudes befindet sich seit 1992 das Denkmal für die 96 von den Nationalsozialisten ermordeten Reichstagsabgeordneten. Sonstiges Ausrufung der Republik Vom zweiten Westbalkon links neben dem Hauptportal rief am Nachmittag des 9. November 1918 der SPD-Fraktionsvorsitzende Philipp Scheidemann die „Republik in Deutschland“ aus. An dieser Stelle ist heute eine Gedenktafel angebracht. Scheidemanns Rede ist in unterschiedlichen Versionen überliefert, die häufig in Dokumentationen zu hörende Tonaufnahme entstand erst nachträglich. 1928 zitierte er sich selbst in seinen Memoiren: Einige Stunden später proklamierte Karl Liebknecht vom Berliner Stadtschloss aus die „Freie Sozialistische Republik“ (Räterepublik). 1920: Blutbad vor dem Reichstag Ein Versuch der USPD und der KPD, notleidende Berliner Arbeitermassen für einen neuen Anlauf zur Errichtung einer Räteherrschaft zu mobilisieren, endete am 13. Januar 1920 in dem Blutbad am Reichstagsgebäude. Unterirdischer Gang Bei den Umbaumaßnahmen nach der Wiedervereinigung wurde ein Gang mit Heizungsrohren entdeckt. Er verband einst das Reichstagsgebäude mit dem Reichstagspräsidentenpalais, das heute Sitz der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft ist. Ein Teil des Heizungsganges ist während der Umbauarbeiten herausgetrennt worden und steht nun als isoliertes Objekt in der Fußgängerunterführung vom Reichstag zum Jakob-Kaiser-Haus. Bundesadler In zahlreichen Entwürfen schlug Norman Foster neue Lösungen für die Gestaltung des Bundesadlers im Plenarsaal vor, den er sich vor allem schlanker wünschte. Die Abgeordneten entschieden sich jedoch für eine vergrößerte Kopie der rundlichen Form, die der Bildhauer Ludwig Gies einst für das Bonner Parlament entworfen hatte (ironische Bezeichnung: „Fette Henne“). Foster übernahm aber die Gestaltung der Rückseite des Adlers, der in Berlin vor einer Glaswand hängt und deshalb anders als vorher in Bonn von beiden Seiten zu sehen ist. Der neue Adler, von Foster auf der Rückseite signiert, ist mit 58 m² um etwa ein Drittel größer als der alte und wiegt 2,5 Tonnen. Beflaggung der Türme Drei Türme des Reichstagsgebäudes werden jeweils mit der Bundesflagge und ein Turm mit der Europaflagge beflaggt. Die Flaggen messen fünf mal sieben Meter, sind ständig aufgezogen und werden nachts angestrahlt. Im April 2022 genehmigte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) auf Gebäuden des Bundes das Hissen der Regenbogenflagge für besondere Anlässe wie den Christopher Street Day 2022. Im Juni kündigte auch Bundestagspräsidentin Bärbel Bas an, die Beflaggung am Tag des Christopher Street Day zu ändern. Die Flagge mit den sechs bunten Streifen wehte auf dem Südwestturm des Reichstagsgebäudes. Zwei weitere Flaggen wurden vor dem Ost- und Westportal aufgezogen. Flagge der Einheit In der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 um Mitternacht wurde anlässlich der Deutschen Einheit auf dem Platz der Republik die „Flagge der Einheit“ gehisst, die bis heute Tag und Nacht weht (nachts wird sie angestrahlt) und sechs mal zehn Meter misst. Andachtsraum Im ersten Obergeschoss befindet sich ein Andachtsraum, der den Abgeordneten als Ort der Besinnung dient. Siehe auch Nationale Symbole für Deutschland Palast der Republik (1976–2008), u. a. Parlamentsgebäude der DDR Krolloper Literatur Das Reichstagsgebäude (Vorderseite), Der Deutsche Bundestag (Rückseite). Referat Öffentlichkeitsarbeit des Deutschen Bundestags (Hrsg.), Faltblatt. Berlin 2010. Reichstags- und Landtagsgebäude. Das Haus des Deutschen Reichtages. In: Berlin und seine Bauten. Band II. 1896. Die preisgekrönten Entwürfe zu dem neuen Reichstagsgebäude. Reichsdruckerei, Berlin 1882. . In: Provinzial-Correspondenz, 5. Juni 1884. Götz Adriani u. a. (Hrsg.): Kunst im Reichstagsgebäude. DuMont, Köln 2002, ISBN 3-7701-5517-3. Michael S. Cullen: Der Reichstag. Im Spannungsfeld deutscher Geschichte. 2., vollständig überarbeitete Auflage, be.bra, Berlin 2004, ISBN 3-89809-058-2. Michael S. Cullen: Der Reichstag – Symbol deutscher Geschichte. be.bra verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3-89809-114-5. Norman Foster, David Jenkins (Hrsg.): Der neue Reichstag. Deutsche Bearbeitung von Jochen Gaile. Brockhaus, Leipzig / Mannheim 2000, ISBN 3-7653-2061-7. Stephanie Grüger: Der Reichstag als Symbol. Untersuchung seiner Bedeutungen von 1990 bis 1999. WiKu, Stuttgart / Berlin 2003, ISBN 3-936749-48-5. Godehard Hoffmann: Architektur für die Nation? Der Reichstag und die Staatsbauten des Deutschen Kaiserreichs 1871–1918. DuMont, Köln 2000, ISBN 3-7701-4834-7. Carl-Christian Kaiser: Das Reichstagsgebäude. In: Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.): Einblicke. Ein Rundgang durchs Parlamentsviertel. Deutscher Bundestag, Berlin 2005, , OBV, S. 4–45. Maximilian Rapsilber: Das Reichstags-Gebäude. Seine Baugeschichte und künstlerische Gestaltung sowie ein Lebensabriss seines Erbauers Paul Wallot. Cosmos, Verlag für Kunst und Wissenschaft, Berlin SW 1895. Mit 18 Lichtdrucken nach Originalaufnahmen. Digitalisat vom Deutschen Textarchiv, Abbildungen ab S. 53. Oscar Schneider: Kampf um die Kuppel. Baukunst in der Demokratie. Bouvier, Bonn 2006, ISBN 3-416-03076-1. Bernhard Schulz: Der Reichstag. Die Architektur von Norman Foster. Vorwort von Wolfgang Thierse, Einführung von Norman Foster. Prestel, München 2000, ISBN 3-7913-2184-6 (deutsch), ISBN 3-7913-2153-6 (englisch). Paul Wallot: Das Reichstagsgebäude in Berlin. Komet, Köln 2009, ISBN 978-3-89836-930-5. Nachdruck der Originalausgabe: Cosmos, Verlag für Kunst und Wissenschaft, Leipzig 1897. Filme (Auswahl) Der Reichstag – Eine deutsche Geschichte. (Alternativtitel: Geheimnisvolle Orte: Der Reichstag.) Dokumentarfilm, Deutschland, 2010, 44 min, Buch und Regie: Ute Bönnen und Gerald Endres, Produktion: rbb, Erstsendung: 3. Oktober 2010 in Das Erste, Inhaltsangabe von ARD. Hinter den Kulissen: Der Reichstag. Fernseh-Reportage, Deutschland, 2013, 43:30 min, Buch und Regie: Sandra Maischberger und Jan Kerhart, Produktion: Vincent TV, rbb, Erstsendung: 23. Dezember 2013 im rbb Fernsehen, Dem Deutschen Volke. Paul Wallot, Architekt des Reichstags. Dokumentarfilm mit Archivaufnahmen, Deutschland, 2016, 29:35 min, Buch und Regie: Ute Kastenholz, Produktion: SWR, Reihe: Bekannt im Land, Erstsendung: 5. Juni 2016 im SWR Fernsehen, Inhaltsangabe von ARD, u. a. mit Michael S. Cullen und der Historikerin Susanne Bräckelmann. Der Reichstag – Geschichte eines deutschen Hauses. Dokumentarfilm mit Spielszenen und Archivaufnahmen, Deutschland, 2017, 80:34 min, Buch und Regie: Christoph Weinert, Produktion: C-Films, NDR, rbb, arte, Erstsendung: 21. Mai 2017 bei arte, Inhaltsangabe von ARD, Video des gesamten Films. U. a. mit Wolfram Pyta, Ernst Bittcher, Hans Werner Bepler (FDP), Norman Foster, Michael S. Cullen. Kurzfassung: Geheimnisvolle Orte: Der Reichstag – Geschichte eines deutschen Hauses. Dokumentarfilm, Deutschland, 2019, 43:30 min, Buch und Regie: Christoph Weinert, Produktion: C-Films, NDR, rbb, Erstsendung: 25. Februar 2019 in Das Erste, Inhaltsangabe von ARD. Superbauten der Geschichte – Der Reichstag. Dokumentarfilm mit Spielszenen, Archivaufnahmen und Computeranimationen, Deutschland, 2018, 43:46 min, Buch: Friedrich Scherer, Regie: Saskia Weisheit, Produktion: ZDF, Reihen: Superbauten der Geschichte, ZDFzeit, Erstsendung: 27. Februar 2018 im ZDF, Inhaltsangabe und online-Video aufrufbar bis zum 21. September 2021. U. a. mit Norman Foster, Andreas Roedder (Historiker), Rita Süssmuth, Wolfgang Schäuble, Edzard Reuter, Christo. Weblinks Bau und Geschichte Kristin Lenz (klz): Vor 125 Jahren: Wilhelm II. setzt Schlussstein zum Reichstagsgebäude. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, 28. November 2019. Architektur Architektur des Reichstagsgebäudes. bundestag.de 691 Blätter mit Plänen, Grundrissen, perspektivischen Ansichten aus den ersten beiden Wettbewerben (1872, 1882) sowie der Erweiterungsplanung (1927–1929). In: Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin Das ökologisch orientierte Energiekonzept des Reichstagsgebäudes. bundestag.de Michael Plote für: Der andere Reichstag: Geprellter Thüringer Gewinner. insuedthueringen.de, 29. Oktober 2022. Artikel; mit Bilderreihe über Ludwig Bohnstedts Entwürfe für den Reichstag. Historisches Dossier zur Geschichte des Reichstagsgebäudes. deutschegeschichten.de Historische Aufnahmen. akg-images.com Reichstag: Eine Kuppel für die Hauptstadt In: Orte der Einheit (Haus der Geschichte) Einzelnachweise Politik (Berlin) Parlamentsgebäude in Deutschland Bundestagsgebäude in Berlin Nationales Symbol (Deutschland) Schlacht um Berlin Reichstag Architektur von Foster + Partners Berlin-Tiergarten Baudenkmal in Berlin Ehemaliges Museum in Berlin Kuppelbauwerk Wikipedia:Artikel mit Video 1884 Erbaut in den 1890er Jahren